Atem des Lebens. Band 2: Die Seele: Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Band III/4/2 9783843603881

Mit dem Erich-Fromm-Preis werden Personen ausgezeichnet, die mit ihrem wissenschaftlichen, sozialen, gesellschaftspoliti

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German Pages 1072 [1067] Year 2014

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Widmung
Inhalt
Vorwort
C Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird
1. Psychosomatische Erkrankungen
a) Vorläufiges zur Psychosomatik
b) Adrenalin, Hypertonie und Herzfunktion
a) Wie Angst und Ärger ans Herz gehen oder: Von Herzneurose, essentieller Hypertonie und Hypotonie
b) Psychologische, pharmazeutische und religiöse Komponenten
c) Psyche und Immunsystem
a) Ein wenig über Streßhormone und Immunabwehr
b) Überschießende Reaktionen des Immunsystems – Autoimmunerkrankungen und Allergien
c) Immunschwäche und einige Folgen: Krebs und Infektionskrankheiten
d) DieWechselwirkung von Gehirn und Immunsystem oder: Ein wenig Poesie und Religion
2. Psychoneurotische und psychotische Erkrankungen
a) Schwierigkeiten in der Unterscheidung
b) Affektive Störungen: Depression und Manie
a) Streß und Depression
b) Neuronale Abläufe bei Depression und die Wirkung von Psychopharmaka
c) Bipolare Störungen – Depression und Manie oder: Die Suche nach einem umfassenden Erklärungsmodell
d) Der subjektive Faktor oder: Psychoanalytische Zugänge
Biopsychologische Gemeinsamkeiten
Sigmund Freud
oder: Depression und Trauer
Karl Abraham oder: Depression und Oralität
Melanie Klein oder: Das Wechselspiel von Introjektion und Projektion
Otto Fenichel oder: Melancholie zwischen Ich und Überich
Margaret S. Mahler oder: Symbiose und Individuation
Otto F. Kernberg und James F. Masterson oder: Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation
Gaetano Benedetti und Stavros Mentzos oder: Eine schematische Zusammenfassung
Das Umschlagen in die Manie
e) Weltanschauungsfragen oder: Daseinsanalytische Überlegungen
c) Schizophrene Störungen
a) Das Erscheinungsbild
b) Psychoanalytische Betrachtungen
Sigmund Freud und die Paranoia
Carl Gustav Jung und das abaissement du niveau mental
Paul Federn und die Ichpsychologie der Schizophrenie
Heinz Kohut und die Psychologie des Selbst
Gregory Bateson und die Theorie vom double bind
c) Neurologische Befunde und Hypothesen
d) Der ganz alltägliche Wahnsinn oder: Die Schizophrenie der Gesellschaft
e) Zersplitterungen oder: Bemerkungen zur multiplen Persönlichkeit
3. Neurologische Erkrankungen
a) Autismus oder: Mängel im neuronalen Netz
b) Morbus Parkinson oder: Der Mangel eines einzigen Neurotransmitters
D Was ist der Mensch? Oder: Von Bewußtsein, Geist, Person, Unsterblichkeit und Freiheit
1. Bewußtsein
a) Das Bewußtsein von Tieren
b) Kriterien und Formen von Bewußtsein bei Wirbeltieren
c) Neuronale Grundlagen des Bewußtseins
a) Bilder, die das Bewußtsein selbst erzeugt oder: Von PET und fMRT
b) Was passiert im Koma oder: Die Anatomie des Bewußtseins
c) Wie es funktioniert oder: Die physiologische Seite des Bewußtseins
d) Wie real ist, was man sieht? Oder: Von Wahrnehmungssteuerung, Blindsehen, Synästhesie und Präsenz im Cyberraum
e) Komponenten des Bewußtseins oder: Das Erwachen des Spiegels
f) Die Zeitlichkeit des Bewußtseins – ein philosophisches wie neurologisches Problem
d) Die philosophisch-theologische Frage oder: Zur Herkunft des Geistes
a) Variationen der Neuzeit
b) Von Systemtheorie und Informatik sowie von einer nicht zu schließenden Erklärungslücke
c) Die Infragestellung durch das Bewußtsein oder: Von der Möglichkeit einer buddhistischen Antwort
2. Subjektivität und Selbstbewußtsein
a) Subjektivität und Selbstbewußtsein bei Tieren
b) Wie ein Kind zu Selbstbewußtsein kommt oder: Die Kommunikative Entwicklungstheorie von Daniel N. Stern
a) Die Stufe der Empfindung des auftauchenden Selbst
b) Die Stufe der Empfindung des Kern-Selbst
c) Die Stufe der Empfindung des subjektiven Selbst
d) Die Stufe der Empfindung eines verbalen Selbst
c) Neurologische Zugangswege zum Selbstbewußtsein
a) Wie Babys zu sich selbst erwachen und was die Neurologie dazu zu sagen hat
b) Die Theorien von Joseph E. Ledoux und
Gerald M. Edelman
I. Joseph E. Ledoux’ Konvergenzmodell
II. Gerald M. Edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion
d) Subjekt, Selbst, Ich, Person
a) Subjektivität und Selbstsein – begriffliche Klärungsversuche
b) Ich und Person – was ist damit gemeint?
e) Was ist der Mensch? Oder: Von den Bedingtheiten des Personalen
a) Die Person als kulturelles Konstrukt oder: Person im Schnittpunkt von Psychologie, Soziologie und Ethnologie
b) Von Jean-Paul Sartre zu Jacques Lacan oder: Ich als Symbol
I. Jean-Paul Sartre oder: Die Konstitution des Ego durch das Bewußtsein
II. Jacques Lacan und der Strukturalismus bei Claude Lévi-Strauss oder: Von einer radikal symbolischen Ordnung
f ) Was sagt die Religion zur Personalität des Menschen? Oder: Zwischen Buddhismus und Christentum
a) Die buddhistische Lösung oder: Der gereinigte Spiegel
b) Die christliche Lösung oder: Das absolute Du. Dostojewski und Luther zum Beispiel
g) Gott als das unbedingte Ja
a) Von dem Vertrauen eines Kindes
b) Biblischer Personalismus und buddhistisches Verlöschen – Versuch einer Synthese
c) Entsteht Gott im Gehirn? Oder: Einige Bemerkungen zur Neurotheologie und zum Begriff des Religiösen
I. Was sollte man als religiös bezeichnen? Von Drogen, Neurosen und dem Postulat der Individualität
II. Neurologische Erklärungsansätze oder: Von schizophrenen, epileptiformen und meditativen Bewußtseinszuständen und ihrer möglichen Wahrheit
III. Gibt es einen Gott der Gene?
3. Der Glaube an die Seele oder: Hoffnung auf Unsterblichkeit
a) Abschließende Bemerkungen zum Leib-Seele-Problem
a) Kritik und Rechtfertigung des dualistischen Konzepts oder: John C. Eccles zum Beispiel
b) Spielarten monistischer Deutungen
b) Seele als Symbol oder: Einsichten aus Ethnologie und Religionsgeschichte
a) Facetten der Ethnologie oder: Die Seele und ihr Gott
b) Facetten der Mythologie oder: Die Ewigkeitsverheißung der Liebe
c) Nahtoderfahrungen
d) Von Präexistenz und Reinkarnation der Seele
e) Die Hoffnung auf Vollendung oder:Wir werden uns wiedersehen
4. Die Gedanken sind frei oder: Warum Sokrates im Gefängnis sitzt
a) Das Problem der Willensfreiheit: philosophisch
b) Das Problem der Willensfreiheit: psychologisch und neurologisch
c) Das Problem der Willensfreiheit: eine dialektische Vermittlung
d) Das Problem der Willensfreiheit: theologisch
e) Neuroethische und theologische Konsequenzen
a) Eine Verhältnisbestimmung
b) Von Tieren und Menschen oder: Das Postulat einer neuen Ethik
c) Von Verbrechen und Verbrechern oder: Eine religiöse Vermahnung
Anhang
Bibliographie
Bildnachweis
Register
Personen
Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte
Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte
Bibelstellen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
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Atem des Lebens. Band 2: Die Seele: Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Band III/4/2
 9783843603881

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EUGEN DREWERMANN

Atem des Lebens Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott Band 2: Die Seele

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Über den Autor Über das Buch Impressum Hinweise des Verlags

Inhalt

Eugen Drewermann

Atem des Lebens Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott 2. Die Seele. Zwischen Angst und Vertrauen Glauben in Freiheit Band III, 4/2

Patmos Verlag

3

Inhalt

«Statt auf der bequemen Glaubensforderung zu insistieren, sollten sich die Theologen, wie mir scheint, eher darum bemühen, wie man diesen Glauben möglich machen kann. Dazu müßte aber eine neue Grundlegung der symbolischen Wahrheit geschaffen werden, und zwar eine Grundlegung, welche nicht nur zum Sentiment, sondern auch zum Verstande spricht. Dies kann aber nur geschehen, wenn man sich zurückbesinnt, wieso es überhaupt kam, daß die Menschheit ein Bedürfnis nach der Unwahrscheinlichkeit religiöser Aussagen hatte, und was es bedeuten wollte, wenn dem sinnlich wahrnehmbaren und tastbaren Sosein der Welt eine andere, so ganz anders geartete geistige Wirklichkeit übergeordnet wurde.» carl gustav jung: Symbole der Wandlung, in: Gesammelte Werke, V 290

5

6

Inhalt

Für Dr. Bernd Deininger

Inhalt

7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Psychosomatische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorläufiges zur Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Adrenalin, Hypertonie und Herzfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Wie Angst und Ärger ans Herz gehen oder: Von Herzneurose, essentieller Hypertonie und Hypotonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Psychologische, pharmazeutische und religiöse Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Psyche und Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Ein wenig über Streßhormone und Immunabwehr . . . . . . . . β) Überschießende Reaktionen des Immunsystems – Autoimmunerkrankungen und Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . γ) Immunschwäche und einige Folgen: Krebs und Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . δ) Die Wechselwirkung von Gehirn und Immunsystem oder: Ein wenig Poesie und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Psychoneurotische und psychotische Erkrankungen . . . . . . . . . . . a) Schwierigkeiten in der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Affektive Störungen: Depression und Manie . . . . . . . . . . . . . . . . α) Streß und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Neuronale Abläufe bei Depression und die Wirkung von Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ) Bipolare Störungen – Depression und Manie oder: Die Suche nach einem umfassenden Erklärungsmodell . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

δ) Der subjektive Faktor oder: Psychoanalytische Zugänge . . Biopsychologische Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . sigmund freud oder: Depression und Trauer . . . . . . . . . . karl abraham oder: Depression und Oralität . . . . . . . . . . melanie klein oder: Das Wechselspiel von Introjektion und Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . otto fenichel oder: Melancholie zwischen Ich und Überich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . margaret s. mahler oder: Symbiose und Individuation otto f. kernberg und james f. masterson: oder: Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation . . . . . . . . gaetano benedetti und stavros mentzos oder: Eine schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . Das Umschlagen in die Manie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ε) Weltanschauungsfragen oder: Daseinsanalytische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Das Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Psychoanalytische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . sigmund freud und die Paranoia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . carl gustav jung und das abaissement du niveau mental paul federn und die Ichpsychologie der Schizophrenie . . heinz kohut und die Psychologie des Selbst . . . . . . . . . . . gregory bateson und die Theorie vom double bind . . . . γ) Neurologische Befunde und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . δ) Der ganz alltägliche Wahnsinn oder: Die Schizophrenie der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ε) Zersplitterungen oder: Bemerkungen zur multiplen Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neurologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Autismus oder: Mängel im neuronalen Netz . . . . . . . . . . . . . . . b) Morbus parkinson oder: Der Mangel eines einzigen Neurotransmitters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Was ist der Mensch? Oder: Von Bewußtsein, Geist, Person, Unsterblichkeit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Bewußtsein von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

b) Kriterien und Formen des Bewußtseins bei Wirbeltieren . . . . . . c) Neuronale Grundlagen des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Bilder, die das Bewußtsein selbst erzeugt oder: Von PET und fMRT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Was passiert im Koma oder: Die Anatomie des Bewußtseins γ) Wie es funktioniert oder: Die physiologische Seite des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . δ) Wie real ist, was man sieht? Oder: Von Wahrnehmungssteuerung, Blindsehen, Synästhesie und Präsenz im Cyberraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ε) Komponenten des Bewußtseins oder: Das Erwachen des Spiegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ζ) Die Zeitlichkeit des Bewußtseins – ein philosophisches wie neurologisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die philosophisch-theologische Frage oder: Zur Herkunft des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Variationen der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Von Systemtheorie und Informatik sowie von einer nicht zu schließenden Erklärungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ) Die Infragestellung durch das Bewußtsein oder: Von der Möglichkeit einer buddhistischen Antwort . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektivität und Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektivität und Selbstbewußtsein bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . b) Wie ein Kind zu Selbstbewußtsein kommt oder: Die Kommunikative Entwicklungstheorie von daniel stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Die Stufe der Empfindung des auftauchenden Selbst . . . . . . β) Die Stufe der Empfindung des Kern-Selbst . . . . . . . . . . . . . . γ) Die Stufe der Empfindung des subjektiven Selbst . . . . . . . . . δ) Die Stufe der Empfindung eines verbalen Selbst . . . . . . . . . . c) Neurologische Zugangswege zum Selbstbewußtsein . . . . . . . . . α) Wie Babys zu sich selbst erwachen und was die Neurologie dazu zu sagen hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Die Theorien von joseph e. ledoux und gerald m. edelman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. joseph e. ledoux’ Konvergenzmodell . . . . . . . . . . . . . II. gerald m. edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

d) Subjekt, Selbst, Ich, Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Subjektivität und Selbstsein – begriffliche Klärungsversuche β) Ich und Person – was ist damit gemeint? . . . . . . . . . . . . . . . . e) Was ist der Mensch? Oder: Von den Bedingtheiten des Personalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Die Person als kulturelles Konstrukt oder: Person im Schnittpunkt von Psychologie, Soziologie und Ethnologie β) Von jean-paul sartre zu jacques lacan oder: Ich als Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. jean-paul sartre oder: Die Konstitution des Ego durch das Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. jacques lacan und der Strukturalismus bei claude lévi-strauss oder: Von einer radikal symbolischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Was sagt die Religion zur Personalität des Menschen? Oder: Zwischen Buddhismus und Christentum . . . . . . . . . . . . α) Die buddhistische Lösung oder: Der gereinigte Spiegel . . . . β) Die christliche Lösung oder: Das absolute Du. dostojewski und luther zum Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . g) Gott als das unbedingte Ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α) Von dem Vertrauen eines Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Biblischer Personalismus und buddhistisches Verlöschen – Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ) Entsteht Gott im Gehirn? Oder: Einige Bemerkungen zur Neurotheologie und zum Begriff des Religiösen . . . . . . . . . I. Was sollte man als religiös bezeichnen? Von Drogen, Neurosen und dem Postulat der Individualität . . . . . . II. Neurologische Erklärungsansätze oder: Von schizophrenen, epileptiformen und meditativen Bewußtseinszuständen und ihrer möglichen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gibt es einen Gott der Gene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Glaube an die Seele oder: Hoffnung auf Unsterblichkeit . . . . a) Abschließende Bemerkungen zum Leib-Seele-Problem . . . . . . α) Kritik und Rechtfertigung des dualistischen Konzepts oder: john c. eccles zum Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Spielarten monistischer Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Seele als Symbol oder: Einsichten aus Ethnologie und Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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α) Facetten der Ethnologie oder: Die Seele und ihr Gott . . . . . . β) Facetten der Mythologie oder: Die Ewigkeitsverheißung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Von Präexistenz und Reinkarnation der Seele . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Hoffnung auf Vollendung oder: Wir werden uns wiedersehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Die Gedanken sind frei oder: Warum Sokrates im Gefängnis sitzt a) Das Problem der Willensfreiheit: philosophisch . . . . . . . . . . . . . b) Das Problem der Willensfreiheit: psychologisch und neurologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Problem der Willensfreiheit: eine dialektische Vermittlung d) Das Problem der Willensfreiheit: theologisch . . . . . . . . . . . . . . . e) Neuroethische und theologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . α) Eine Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β) Von Tieren und Menschen oder: Das Postulat einer neuen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ) Von Verbrechen und Verbrechern oder: Eine religiöse Vermahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Vorwort

Nur wer des Menschen Angst versteht, begreift den Menschen ganz – in seiner Größe wie in den Facetten seiner ständigen Gefährdung. Der 1. Bd. von «Atem des Lebens» endete mit diesem Thema, der 2. Bd. beginnt damit: Wie, wenn die Angst uns an die Nieren geht, wenn sie uns ans Herz greift, wenn sie das Immunsystem durchlöchert? Was Psychoanalytiker jahrzehntelang nur ahnten, ist mit den Mitteln von Neurologie und psychosomatischer Medizin heute in strengem Sinne beweisbar. Doch wie erst, wenn Menschen unter dem ständigen Streß von Krankheit, Schmerz und Angst in Depressionen fallen oder wenn die Widersprüche der Welt, in der sie aufzuwachsen hatten, ihre Seele zu schizophrenen Bewußtseinszuständen zu zersplittern drohen? Angst ist nur möglich, wo Bewußtsein ist; was aber ist Bewußtsein, was Selbstbewußtsein, was Subjekt, was Ich, Person und Seele? Längs durch die ganze abendländische Philosophiegeschichte zieht sich die schier unlösbare Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist, von Leib und Seele, von «Realität» und «Idealität». Die modernen Naturwissenschaften (Kybernetik, Informatik, Genetik, Biopsychologie, Neurologie u. a.) erarbeiten derzeit eine Reihe von Modellen, um zu erklären, wie im Verlauf der Evolution die Gehirne von Wirbeltieren zu all den phantastischen Leistungen ihrer Sinneswahrnehmungen, ihrer Gefühle, ihres Erinnerungsvermögens, ihres biographischen Gedächtnisses befähigt wurden. Wo Theologen bis in die Gegenwart hinein das «Eingreifen» eines «Schöpfergottes» postulieren und an die Existenz einer substantiellen Geistseele zu glauben vorschreiben, erklären sich die komplexen Phänomene «geistigen« Lebens methodisch offensichtlich einfacher durch die hierarchische Zusammenschaltung parallel verarbeitender neuronaler Module bzw. durch das Auftreten emergenter Eigenschaften von einer bestimmten Organisationshöhe neuronaler Netzwerke an. Doch keine Erklärung vermag die Angst zu beseitigen, die dazu gehört, inmitten dieser Welt sich seiner selbst bewußt zu werden. Ursprünglich eingerichtet, um im Überlebenskampf flexibler reagieren zu können, wird das Bewußtsein zu einer schweren Hypothek des Daseins; daraus entstanden, in einer sozialen Gruppe die eigene Rolle erkennen und einnehmen zu können, taucht mit dem Selbst-

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Vorwort

bewußtsein auch der Kampf um Macht und Selbstdurchsetzung auf. Nur um so mehr stellt fortan sich die Frage, was oder wer wir selber sind. Nicht weil sie falsch wären, sondern weil sie an dieser entscheidenden Stelle versagen, sind die Antworten der Naturwissenschaften ergänzungsbedürftig der Religion. Die wohl wichtigsten Fragen der Gegenwart stellen sich nicht in den Auseinandersetzungen der – machtpolitisch, nicht eigentlich religiös – miteinander konkurrierenden monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam), sondern in dem längst überfälligen Dialog zwischen der Weisheitslehre des Buddhismus und der Frömmigkeitshaltung des Westens: wie erlöst man den Menschen von der Egozentrik seiner Angst, die dazu gehört, sich seiner Lage in der Welt bewußt zu werden? Sind Selbstbewußtsein und Person nur Täuschungen, die das Gehirn sich selbst erzeugt, oder bilden sie Erfahrungsräume von etwas Absolutem, das in sich selbst personhaft ist? Indem die moderne Neurologie die uralten Menschheitsfragen nach der «Seele» mit empirischen Mitteln zu beantworten versucht, macht sie die Religion nicht überflüssig, sie weist ihr allerdings den Raum zu, der ihr, recht verstanden, zukommt: den Raum der Daseinsdeutung, nicht der Welterklärung. Immer wieder wurden in der Religionsgeschichte bestimmte Bewußtseinszustände, hervorgerufen durch Drogen, epileptoide Halluzinationen, mangelnde Versorgung spezifischer Hirnareale mit Sauerstoff oder durch elektromagnetische Felder, als Manifestationen göttlicher Mächte und Gestalten gedeutet; an all diesen Stellen kann und muß die Neurologie heute das Werk der Aufklärung vollenden: Gott, Seele, Freiheit und Unsterblichkeit sind keine Begriffe naturwissenschaftlichen Denkens; die Religion darf Gott nicht vergegenständlichen, will sie nicht Glauben in Aberglauben, Mystik in Magie und Frömmigkeit in Fetischdienst verwandeln. Jenseits der Erklärungen der Naturwissenschaften aber werden die Inhalte des Religiösen nur desto dringlicher, um die Trostlosigkeit des menschlichen Daseins inmitten einer Welt zu heilen, die den Wert des Individuellen nicht zu kennen scheint, in der Gerechtigkeit nicht vorkommt und für die Mitleid gar erscheinen muß als Hindernis in der brutalen Strategie der Durchsetzung der Fittesten. Offenbar muß man die Personalität Gottes glauben, um die Person des Menschen nicht dem Zynismus des Kosmos und der menschlich-unmenschlichen Geschichte auszuliefern, muß man das kleine Leben von Menschen und Tieren ins Unendliche setzen, damit es mehr sei als eine Verrechnungsstelle im Energiehaushalt des Ganzen, muß man die Liebe für wirklicher nehmen als die Aggressionsreflexe archaischer Angst. Was also folgt aus den (bisherigen) Ergebnissen der modernen Biopsychologie und Neurologie? Beläßt man den Menschen in dem Erfahrungsraum, aus

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dem diese Erkenntnisse stammen, so droht er, als Teil der Natur, zum Gegenstand beliebiger Manipulationsversuche zu werden, in gesellschaftlicher Vermittlung vorangetrieben von den gleichen Mechanismen, denen die Evolution des Lebens selber sich verdankt. Der, biblisch gesprochen, «alte Mensch» wird dann die Gefangenschaft seiner Angst, die Rücksichtslosigkeit wechselseitiger Konkurrenz und die Unbewußtheit seiner selbst inmitten eines ausufernden Herrschaftswissens ohne Weisheit bis dahin treiben, daß ein wirklich Neues nicht entstehen kann. Oder es tragen Neurologie und Theologie gemeinsam zu einer wirklichen Kulturrevolution bei: Noch niemals waren uns die Angst und der Schmerz schon der Tiere so sichtbar wie in unseren Tagen; noch niemals traten die Hilflosigkeit und die Ausgesetztheit des Menschen, seine Unfreiheit und seine Armseligkeit so eindrucksvoll ins Blickfeld, wie es derzeit geschieht. Und jetzt: nur einen Schritt weiter noch in die Zukunft – und wir könnten am Schnittpunkt der psychoanalytischen Neurosenlehre, der neurologischen Theorien von Gehirn und Geist sowie der Lehre von Fall und Erlösung des Menschen in der (christlichen) Theologie uns befinden: an einem Ort, da alles Erklären sich öffnet zu einer tieferen Form des Verstehens, da unser aller kreatürliche Armut sich weitet zu einem universellen Erbarmen und da die empörende Aufdringlichkeit des Leids ihre Antwort findet in der Empathie eines Mitgefühls ohne Grenzen. In der Reihe «Glauben in Freiheit» stellt der vorliegende Band einen Abschluß dar; er entspricht thematisch denn auch am ehesten dem, was in der klassischen Dogmatik als «Eschatologie» bezeichnet wurde. Ausgehend von einer Art psychologischer Fundamentaltheologie in Bd. 1 (Tiefenpsychologie und Dogmatik. Dogma, Angst und Symbolismus) über die «Christologie» (Bd. 2: Jesus von Nazareth – Befreiung zum Frieden) waren die nächsten drei Bände der «Schöpfungslehre» gewidmet: Bd. 3,1 (Der sechste Tag) beschäftigte sich mit der Herkunft des Menschen, Bd. 3,2 (. . . und es geschah so) mit der Entstehung und dem Aufstieg des Lebens und Bd. 3,3 (Im Anfang . . .) mit dem Ursprung der Entfaltung des Universums. Alle theologisch relevanten Gebiete der modernen Naturwissenschaften: Paläontologie, Biologie und Kosmologie treten somit vor dem Hintergrund der Erlösungssehnsucht des Menschen und der befreienden Botschaft des Mannes aus Nazareth in einen ebenso wichtigen wie spannenden Dialog ein, der in die Frage der beiden Bände von «Atem des Lebens» mündet: Was dürfen wir hoffen? Besonderer Dank sei Frau Beate Wienand gesagt für die überaus engagierte und sorgfältige Abschrift des Manuskriptes und dem Setzer für eine Leistung, die mir als Autor immer neu als bewundernswert erscheint.

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1. Psychosomatische Erkrankungen

Die Art und Weise, wie wir mit Angst umgehen, wirft nicht nur ein Licht auf die Form unserer Kultur und unseres Selbstverständnisses, sie definiert zugleich die Grenze der Behandelbarkeit einer Vielzahl von Erkrankungen, deren Ursache wesentlich in chronifizierten Ängsten und chronischem Streß gelegen ist. Wenn es die Seele ist, die krank macht, so kommt es darauf an, sie selbst zu heilen; und gerade mit dieser Aufgabe sind – durch die Fortschritte der Neurologie in den letzten drei Jahrzehnten – überraschend neue Herausforderungen an unser medizinisches und philosophisch-theologisches Menschenbild verbunden. Wir müssen umdenken.

a) Vorläufiges zur Psychosomatik Daß Krankheiten geistigen Ursprungs sind, drückte sich in den frühen Stammeskulturen in einem handfesten, religiös-gebundenen Geisterglauben aus. Beschwörung und Magie standen wohl am Anfang aller «ärztlichen» Kunst. (Vgl. huldrych m. koelbing: Arzt und Patient in der antiken Welt, 9– 26: Ärztliche Tätigkeit bei primitiven Völkern.) In der Geschichte des Abendlandes war es die «Aufklärung» der griechischen Naturphilosophie, die den Weg für einen «rationalen» Umgang mit dem vielfältigen Phänomen der Krankheit bereitete (vgl. huldrych m. koelbing: A. a. O., 65–77: Hippokratische Wissenschaft: Krankheit als Naturvorgang); doch ging das Wissen um die seelische bzw. geistige Herkunft der Krankheit in der Antike niemals ganz verloren. Hören wir nur, wie platon seinen Lehrer sokrates (um 470 – um 399) von einem thrakischen Schamanen und Priesterarzt berichten läßt: «Aber Zamolxis, unser König, sprach er (sc. der Priesterarzt, d.V.), der ein Gott ist, sagt, so wie man nicht unternehmen dürfe, die Augen zu heilen ohne den Kopf noch den Kopf ohne den ganzen Leib, so auch nicht den Leib ohne die Seele . . . Denn alles, sagte er, entspränge aus der Seele, das Böse und das Gute dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu, wie aus dem Kopfe den Augen . . . Die Seele aber, . . . sagte er, werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden.» (Charmides, Kap. 5,

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156 d – 157a, Werke I 132) Diese Worte sollten wohl, bereits im 5. Jh. v. Chr., wie eine Warnung vor einem Denken wirken, das in Krankheit und Leid nichts weiter zu sehen gewillt ist als einen organischen Schaden oder als einen (mechanischen) Fehler von Organfunktionen; anscheinend wollten sie eine Art Gesprächstherapie anempfehlen. Auch das Wissen um die heilende Kraft der Träume blieb den Priesterärzten des Gottes Asklepios im Heiligtum von Epidauros stets eigen. (Vgl. karl kerényi: Der göttliche Arzt, 17– 48: Die Heilungen in Epidauros.) Eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen vertrat vor allem der Religionsgründer und Weise pythagoras (um 582– 497/496), der zwar keine Schriften hinterließ, doch dessen Lehren sich in den Kreisen seiner Schüler über lange Zeit hin verbreiteten. (Vgl. karl kerényi: Pythagoras und Orpheus, in: Humanistische Seelenforschung, 15– 51.) «Ins Gleichgewicht bringend und heilend», heißt es in Die Goldenen Verse, «wirst du die Psyche vor Leiden bewahren» (Vers 66, S. 22); und sein Biograph jamblichus (283 – 330) spricht davon, daß pythagoras «Freundschaft aller mit allen und noch dazu mit manchen vernunftlosen Lebewesen durch Gerechtigkeit» lehrte, «durch das Bewußtsein der natürlichen Verflochtenheit und Solidarität. Freundschaft des sterblichen Leibes in sich selbst, Befriedung und Versöhnung der einander entgegenwirkenden Kräfte, die in ihm verborgen sind, durch Gesundheit, entsprechende Lebensführung und durch Besonnenheit nach dem Vorbilde des Gedeihen schaffenden Zusammenwirkens unter den kosmischen Elementen.» (Pythagoras, XXXIII; 229; S. 183) Da galt die Harmonie des Menschen mit der ihn umgebenden Natur und mit sich selbst als die eigentliche Quelle von Glück und Gesundheit. (Zu den Heilverfahren der Schamanen und der göttlichen Ärzte in der Antike vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 74–114; 141–188; zu dem Kult des Heilgottes Asklepios vgl. antje krug: Heilkunst und Heilkult, 120 – 187.) Noch der römische Philosoph seneca (um 4v. Chr. – 65 n. Chr.) wußte, daß «bei jeder Krankheit am gewichtigsten» seien: «Furcht vor dem Tod, körperlicher Schmerz, Unterbrechung der Genüsse» (An Lucilius, IX 78,6, in: Philosophische Schriften, IV 131), und er berichtete davon, daß «zu guter Gesundheit beigetragen meine Freunde, durch deren Zuspruch, Nachtwachen, Gespräche ich Erleichterung empfand». (A. a. O., IX 78,4, S.129) Leider hat das Christentum über die «naturwissenschaftlichen» Forschungsansätze der Alten Griechen und Römer eine 1500 Jahre währende Stagnation gebreitet, so daß alle methodisch wie inhaltlich bereits gewonnenen Einsichten in der Renaissance-Zeit buchstäblich «wiedergeboren» werden mußten. Und ebenso, ja, mehr noch sorgte es dafür, daß auch die «psychotherapeutischen»

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Heilverfahren der Griechen dem «Vergessen» anheimfielen. Vom 16. Jh. an entwickelte sich die Medizin deshalb auf merkwürdige Weise seelenlos, indem die Linie, welche von hippokrates (460 – 377) über claudius galen (129 –199) vermittels der byzantinischen und arabischen Heilkunde ins Mittelalter geführt hatte, sich nun mit der Entwicklung einer «naturwissenschaftlichen» Vorgehensweise auf der Basis der alten Säftelehre verband. (Zur Person, zum Werk und zu den Schülern des hippokrates vgl. antje krug: Heilkunst und Heilkult, 39 –69, davon S. 64 –69 zu galen; huldrych m. koelbing: Arzt und Patient in der antiken Welt, 78 –95: Hippokratische Praxis; heinz goerke: Arzt und Heilkunde, 19– 22: Die Medizin im Römischen Reich und die Schriften des Galen.) Die « platonische» beziehungsweise «asklepische» Linie der Medizingeschichte indes fand im 16. Jh. insbesondere in paracelsus (Philipp Aureolus Theophrast Bombast von Hohenheim, 1493 –1541) ihren Vertreter und Verkünder, jedoch in einer Weise, die unter Verzicht auf eine methodisch kohärente Argumentationsform sich bereits in ihrer Zeit schwertat, verständlich zu bleiben. In seinen sieben Verteidigungsreden von 1538 (posthum 1564 in Köln; Septem Defensiones: Die Selbstverteidigung eines Außenseiters, Basel 2003) schreibt dieser Hauptvertreter einer «alternativen» Medizin allerdings den Ärzten aller Zeiten die nachdenkenswerten Sätze ins Stammbuch: «Der Arzt . . . muss . . . aus Gott empfangen, was er vermag. So wie die Medizin nicht vom Arzt kommt, sondern von Gott . . .» (A. a. O., 49) Und er hebt hervor: «Man muss sehen, dass es zweierlei Ärzte gibt – solche, die aus der Liebe handeln, und solche, die aus Eigennutz handeln.» (A. a. O., 79) Ja, er beklagt vor nun schon fast 470 Jahren: «Es ist Brauch bei den Doktoren geworden . . ., dass ein Krankenbesuch einen Gulden kosten soll, auch wenn man ihn gar nicht verdient, und dass die Harnuntersuchung und anderes mit festen Sätzen abgerechnet wird. Dass einer mit dem andern Mitleid hat und dem Gebot der Liebe folgt, wird weder Brauch noch Usus. Es soll kein Gesetz gelten ausser: Nimm! Nimm! . . . So kommen sie zu goldenen Ketten . . . (Aber, d.V.:) Wie ein Götzenbild geschmückt herumzulaufen ist ein Greuel vor Gott.» (A. a. O., 83) Zu Recht versteht paracelsus die ärztliche Behandlung als ein dialogisches Geschehen und stellt von daher die Frage nach der inneren Läuterung des Arztes; aber er tut dies im Rahmen alchimistischer Vorstellungen von Mensch und Welt, die allenfalls in symbolistischer Deutung uns Heutigen noch etwas zu sagen haben. Ansonsten bleibt paracelsus so etwas wie das schlechte Gewissen in der Entwicklung neuzeitlicher Medizin, nicht unähnlich dreihundert Jahre später samuel hahnemann (1755 –1843), dessen Homöopathie bis heute um ihre Anerkennung durch die «Schulmedizin» ringt.

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Es dauerte bis in die Zeit der Romantik im 19. Jh., daß das «psychosomatische» Wissen der hellenistischen Antike neu entdeckt und gehoben werden konnte. Der Name «psychosomatisch» geht wohl auf johann christian august heinroths (1773 –1843) Lehrbuch der Anthropologie von 1822 zurück, dessen theologisch-romantische Auslegung in der Krankheit eine Folge der Sünde erblickte. (Vgl. werner leibbrand: Romantische Medizin, 1937.) Diese metaphysisch-moralistische Einstellung der Krankheit gegenüber war zweifellos geeignet, dem Leid der Patienten noch das Schuldgefühl hinzuzufügen, und doch versuchte sie zumindest, den Menschen als Subjekt der Krankheit zu reklamieren – gegenüber der wachsenden Neigung, den Körper des Menschen als ein bloßes Automaton zu betrachten. Seltsame Auffassungen entstanden aus diesem Ansatz. In seiner Monographie Heilung durch den Geist hat stefan zweig (1881- 1942) die eigentümlichen Praktiken eines franz anton mesmer (1734 –1815) mit seinem «animalischen Magnetismus» ebenso zu würdigen versucht wie die «Psychologie des Wunders» in dem Heil-Imperium der mary baker-eddy (1821–1910), um so erst, als Krönung und Synthese, auf seinen Freund und Lehrmeister sigmund freud (1856 –1939) zu sprechen zu kommen. Suggestion, Glaube und Selbsterkenntnis traten im 19 Jh. zusammen, um die Gestalten von Arzt und Priester, um Beruf und Berufung wieder aufeinander zuzuführen und so die «Entpersönlichung und vollkommene Entseelung der Heilkunde» (stefan zweig: Heilung durch den Geist, 13) durch «ein uns noch geheimes Gesetz höherer Zusammenhänge zwischen Körper und Seele» zu überwinden; «genug schon dies für unsere Zeit», meinte, bescheiden geworden, dieser große Psychologe unter den Dichtern des 20. Jhs. mit Blick auf seine Gegenwart, «daß sie (sc. die Medizin, d.V.) die Möglichkeit der Kuren auf rein seelischem Wege nicht länger leugnet». (stefan zweig: A. a. O., S.17) sigmund freud selber, der «als Begründer einer psychoanalytischen Psychosomatik angesehen werden» darf (vgl. ulrich schultz-venrath: Probleme der Wiederentdeckung – Zum verlorenen Erbe einer psychoanalytischen Psychosomatik, in: Bernhard Strauß – Adolf-Ernst Meyer: Psychoanalytische Psychosomatik, 19– 26), begründete seine Sichtveränderung von einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Krankheit zu einer «verstehenden» Durcharbeitung seelischer Konflikte mit einer gewissermaßen «dichterischen» Form der Wahrnehmung und Darstellung des Krankheitsgeschehens. Zum Abschluß seiner Studien über Hysterie von 1895, die er zusammen mit josef breuer herausgab, notierte er: «Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen

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worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.» (Gesammelte Werke, I 227) Im Rückblick von jetzt mehr als 100 Jahren enthalten diese Worte ein bis heute uneingelöstes Programm: ein Arzt, um heilend und hilfreich zu sein, müsse etwas von einem Dichter an sich haben, oder anders ausgedrückt: es sei das Dichterische ein so zentraler Teil des Menschlichen, daß sich anders ein heilender Einfluß auf einen Patienten nicht ausüben lasse. (Vgl. dazu e. drewermann: Jesus von Nazareth, 259 –270: Von Dichtung und Therapie.) Es wird sich gleich noch zeigen, wie sehr psychosomatische Erkrankungen mit einer Unfähigkeit zu tun haben, eigene Erlebnisse und Gefühle in Worte zu fassen beziehungsweise «dichterisch» darzustellen; die entscheidende Hilfestellung besteht von daher wohl wirklich in der Wiederentdeckung des «Dichterischen» in der eigenen Existenz. Was aber wird dann zur Sprache kommen und welche Probleme werden dabei als krankheitverursachend in Erscheinung treten? Wie sonderbar die Anfänge einer «psychosomatischen» Medizin zu Beginn des 20. Jhs. noch wirken konnten und zweifellos manchmal auch waren, schildert (in der ihm eigenen Mischung aus interessierter Aufgeschlossenheit und ironischer Distanz) ein anderer großer Dichter – thomas mann (1875 –1955) in seinem Arzt-Roman Der Zauberberg, in dem er die Lehre freuds durch den Mund eines gewissen Dr. Krokowski zu Wort kommen läßt, der «das Wort ‹Liebe› beständig in einem leise schwankenden Sinn» verwandte, «so daß man niemals recht wußte, woran man damit war und ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches bedeute». (4. Kap., Analyse, S.134) Eben dieses Zweideutige bildet den Kern der psychoanalytischen Krankheitslehre; denn, wie Dr. Krokowski erläutert, sei die Liebe unter «allen Naturtrieben . . . der schwankendste und gefährdetste, von Grund aus zur Verwirrung und heillosen Ver-

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kehrtheit geneigt, und das dürfe nicht wundernehmen. Denn dieser mächtige Impuls sei nichts Einfaches, er sei seiner Natur nach vielfach zusammengesetzt, und zwar, so rechtmäßig wie er als Ganzes auch immer sei, – zusammengesetzt sei er aus lauter Verkehrtheiten. Da man nun aber . . . richtigerweise ablehne, aus der Verkehrtheit der Bestandteile auf die Verkehrtheit des Ganzen zu schließen, so sei man unweigerlich genötigt, einen Teil der Rechtmäßigkeit des Ganzen, wenn nicht seine ganze Rechtmäßigkeit, auch für die einzelne Verkehrtheit in Anspruch zu nehmen . . . Seelische Widerstände und Korrektive seien es, anständige und ordnende Instinkte . . ., unter deren ausgleichender und einschränkender Wirkung die verkehrten Bestandteile zum regelrechten und nützlichen Ganzen verschmölzen, – ein immerhin häufiger und begrüßenswerter Prozeß . . . In einem anderen Falle dagegen gelinge er nicht . . . In diesem Falle nämlich eigne beiden Kräftegruppen, dem Liebesdrange sowohl wie jenen gegnerischen Impulsen, unter denen Scham und Ekel besonders zu nennen seien, eine außerordentliche . . . Anspannung und Leidenschaft . . . Dieser Widerstreit zwischen den Mächten der Keuschheit und der Liebe . . . endige scheinbar mit dem Siege der Keuschheit. Furcht, Wohlanstand, züchtiger Abscheu, zitterndes Reinheitsbedürfnis, sie unterdrückten die Liebe, hielten sie in Dunkelheiten gefesselt, ließen ihre wirren Forderungen höchstens teilweise, aber bei weitem nicht nach ihrer ganzen Vielfalt und Kraft ins Bewußtsein und zur Betätigung zu. Allein dieser Sieg der Keuschheit sei nur ein Schein- und Pyrrhussieg, denn der Liebesbefehl lasse sich nicht knebeln, nicht vergewaltigen, die unterdrückte Liebe sei nicht tot, sie lebe, sie trachte im Dunklen und Tiefgeheimen auch ferner sich zu erfüllen, sie durchbreche den Keuschheitsbann und erscheine wieder, wenn auch in verwandelter, unkenntlicher Gestalt . . .: In Gestalt der Krankheit! Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.» (thomas mann: A. a. O., 134 –136) Ganz in diesem Sinne lehrte in jenen Tagen der Baden-Badener Arzt georg groddeck (1866 –1934), der als erster die Bedeutung der freudschen Theorien für die organischen Erkrankungen erkannte. In Das Buch vom Es aus dem Jahre 1923 schrieb er: «Die Erkrankung hat einen Zweck, sie soll den Konflikt lösen, verdrängen oder das Verdrängte am Bewußtwerden verhindern; sie soll für die Übertretung des Verbots bestrafen, und das geht so weit, daß man aus der Art und dem Ort und der Zeit der Erkrankung auf Art, Ort und Zeit der strafbaren Sünde Rückschlüsse machen kann. Wer den Arm bricht, hat mit dem Arm gesündigt oder wollte damit sündigen, vielleicht morden, vielleicht stehlen oder onanieren; wer blind wird, will nicht mehr sehen, hat mit den Augen gesündigt oder will mit ihnen sündigen; wer heiser ist, der hat ein Geheim-

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nis und wagt es nicht laut zu erzählen. Die Erkrankung ist aber auch das Symbol, eine Darstellung eines inneren Vorgangs, ein Theaterspiel des Es, mit dem es verkündet, was es mit der Zunge nicht auszusprechen vermag. Mit anderen Worten, die Erkrankung, jede Erkrankung, mag sie nervös oder organisch genannt werden, und auch der Tod, sind ebenso sinnvoll wie das Klavierspiel oder das Anzünden eines Streichholzes oder das Übereinanderschlagen der Beine. Sie sagen etwas vom Es aus, deutlicher, eindringlicher als die Sprache es vermag, ja als das ganze bewußte Leben es kann. Tat tvam asi (sc. sanskrit: das bist du, d.V.).» (georg groddeck: A. a. O., 118 –119) Man hat gewiß schon damals und wird auch heute den Einwand geltend machen mögen, es handle sich in diesen Worten um gleich zwei Maßlosigkeiten im Behaupten: «jede» Krankheit? Das muß falsch sein. Und: «ist . . . das Symbol . . . eines inneren Vorgangs»? Kopfschmerz, Lungenentzündung, Krebs – sie sollten alle gleichermaßen nichts als «ein Theaterspiel des Es» aufführen? Leuten wie groddeck (und zahlreichen hier nicht weiter genannten Psychoanalytikern; vgl. ulrich schultz-venrath: Probleme der Wiederentdekkung – Zum verlorenen Erbe einer psychoanalytischen Psychosomatik, in: B. Strauß – A.-E. Meyer: Psychoanalytische Psychosomatik, 15–18: Die zwanziger Jahre als Höhepunkt der psychoanalytischen Psychosomatik) gebührt zweifellos das Verdienst, der subjektiven Seite des Krankheitsgeschehens (dem «Sündhaften» der Seele) wieder einen angemessenen Stellenwert eingeräumt zu haben; – Krankheiten können eine Bedeutung, eine «Botschaft» besitzen, die eine hermeneutische (griech.: herme¯neúein – auslegen, übersetzen) Behandlungsweise erfordert; in Zeiten einer rein naturwissenschaftlich bestimmten Pathologie wurde für zahllose Patienten mit dieser These überhaupt erst (wieder) ein Raum geschaffen, in dem sie sich in ihren Gefühlen und Gedanken verstanden, statt als biomechanische «Objekte» betrachtet finden konnten. Andererseits beging die frühe Psychoanalyse – und ihre ärztlichen Propagandisten – den Fehler, einen begrenzt richtigen Erklärungsansatz zu überdehnen. In dem, was er als Konversionshysterie beschrieb, hatte sigmund freud eine Reihe von Symptomen (Schmerz, Schwindel, Erbrechen, Lähmungen usw.) auf den «Mechanismus einer Konversion zum Zwecke der Abwehr» unliebsamer Triebregungen zurückgeführt (Studien über Hysterie, in: Gesammelte Werke, I 210) und in derlei Symptomen den Ausdruck einer Kompromißbildung zwischen Wunsch und Widerstand erblickt, ganz wie er wenig später das Traumsymbol aus den gegensätzlichen Strebungen von Überich und Es hervorgehen sah. Was im Traum das Symbol, war in der Hysterie das Symptom, – doch eben nur in der Hysterie, der klassischerweise der ganze Körper, soweit willkürlich steu-

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erbar, als Bühne für psychische Veranstaltungen aller Art zur Verfügung steht. Wie aber, wenn – zum Beispiel in der Zwangsneurose – eine solche darstellende Verschiebung des Seelischen ins Somatische nicht möglich ist? Die psychischen Konflikte hören dann nicht einfach auf zu existieren, sie wirken sich nur anders aus, indem sie Dauererregungen schaffen, die das vegetative Nervensystem zu weitreichenden Fehlregulationen treiben können. Angst und Ärger, Gehemmtheit und Frustration, aber auch deren Reaktionsbildungen: überhöhte Erwartungen an sich selbst und an die Umgebung nebst deren chronische Enttäuschbarkeiten, gehören zu den bevorzugten «Motoren» von Krankheiten, in denen die ungelösten Widersprüche des Psychischen sich im Somatischen nicht einfach symbolisch darstellen, wohl aber symptomatisch niederschlagen. Und eben dies ist der Fall in den «psychosomatischen» Erkrankungen. Man kann hier nicht mehr sagen, wie franz alexander (1891–1964) es noch in seinen Vorlesungen über Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit von 1924/25 tat: «Der eigentliche Krankheitsprozeß besteht . . . in der Wendung des Todestriebes gegen das eigene Selbst.» (A. a. O., 208) So richtig und wichtig es ist und bleibt, das seelische Erleben eines Patienten im Hintergrund einer (auch) somatisch imponierenden Krankheit zu sehen und zu verstehen, so notwendig ist es gleichermaßen, das körperliche Geschehen in seiner Eigengesetzlichkeit (in seinen neuronalen, hormonalen, immunologischen und funktionalen Abläufen) zu würdigen. Insofern konnten die ersten Ansätze einer psychoanalytisch orientierten Psychosomatik, die in den 20er Jahren des 20. Jhs. ihren Höhepunkt erreichten (vgl. ulrich schultz-venrath: Probleme der Wiederentdeckung – Zum verlorenen Erbe einer psychoanalytischen Psychosomatik, in: B. Strauß – A.-E. Meyer: Psychoanalytische Psychosomatik, 14–18), mit ihrer Gleichsetzung von Symptom und Symbol nicht viel mehr sein als ein alternativisch formulierter Kontrapunkt zu dem exklusiv organischen Denken der Zeit, – als eine Erinnerung daran, daß es eine «Seele» überhaupt gibt. Weiterentwickelt und zusammengeführt werden aber konnten die beiden in sich vereinseitigten Standpunkte auf dem Boden der Wissenschaft wirklich wohl erst durch eine verbesserte Kenntnis des Hirnorgans, in dem alle seelischen und ein Großteil der somatischen Leiden ihren Ursprung haben. Soweit allerdings war man damals nicht; man darf nie vergessen, daß freud auf seine «Psychoanalyse» überhaupt nur verfiel, weil ihm deutlich wurde, daß er als bloßer Nervenarzt es niemals erleben werde, einem seiner Patienten mit den verfügbaren Methoden seiner Zeit wirklich zu helfen. (Zur «Vorgeschichte» der Psychosomatik vgl. kaspar weber: Einführung in die psychosomatische Medizin, 11–17; johan-

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nes cremerius: Zur Theorie und Praxis der Psychosomatischen Medizin, 33 –45: Freud als Begründer der psychosomatischen Medizin.) Auf die äußerst spekulative symbolische (Einleitungs-)Phase psychosomatischer Medizin folgte eine Epoche, die man als eine psychophysiologische bezeichnen kann, indem man sich bemühte, die Psychoanalyse «irgendwie» in die internistische Medizin einzugliedern. (Vgl. thure von uexküll: Was ist und was will «Integrierte Psychosomatische Medizin»?, in: Uexküll Integrierte Psychosomatische Medizin in Praxis und Klinik, 17– 34.) Dabei war beiden Parteien klar: «Die Psychosomatiker haben recht, wenn sie darauf bestehen, man müsse in Gesundheit und Krankheit nach den Sinnzusammenhängen des Lebens fragen. Sie haben jedoch unrecht, wenn sie glauben, diesen Sinn schon in allen Fällen durch Symboldeutung aufdecken zu können, und sie haben weiter unrecht, wenn sie meinen, eine Analyse der Sinnzusammenhänge mache eine Untersuchung der Kausalzusammenhänge überflüssig. Die naturwissenschaftlich eingestellten Ärzte haben daher recht, wenn sie auf der Notwendigkeit exakter experimenteller Methoden bestehen; sie haben jedoch unrecht, wenn sie behaupten, die Kausalanalyse mache die Frage nach dem Sinn überflüssig.» (thure von uexküll: Grundfragen der psychosomatischen Medizin, 26) Tatsächlich tat man sich schwer, von beiden Uferseiten aus eine Brücke zu bauen. felix deutsch (1884 –1964) etwa versuchte, Das Anwendungsgebiet der Psychotherapie in der inneren Medizin genauer zu bestimmen (in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 72. Jg., 19/1922, 809 –816); andere, wie gustav richard heyer (1890 –1967), griffen auf die Hypnosetechnik zurück, um den Einfluß des Psychischen auf eine ganze Reihe von Körperfunktionen nachzuweisen: Das körperlich-seelische Zusammenwirken in den Lebensvorgängen, an Hand klinischer und experimenteller Tatsachen dargestellt hieß denn auch bereits der Titel von heyers Hauptwerk aus dem Jahre 1925; die Frage blieb freilich bestehen, was ein Mensch unter Suggestion eigentlich erlebt – die Wirkung bestimmter Hypnoseinhalte hängt natürlich von einer Reihe subjektiver Voraussetzungen ab –, und vor allem wußte vor 80 Jahren außerhalb der Psychoanalyse kein Mensch zu sagen, warum eine Hypnosebehandlung körperliche Abläufe zu verändern vermag. Als nach der verheerenden Unterbrechung der «jüdischen» Psychoanalyse im sogenannten Dritten Reich die Arbeit in Deutschland im Grunde noch einmal ganz von vorn aufgenommen werden mußte (vgl. adolf-ernst meyer: Eine kurze Geschichte der Psychosomatik. Der Sonderweg der ehemaligen Bundesrepublik, in: Uexküll Integrierte Psychosomatische Medizin in Praxis und Klinik, 35– 42), war immerhin das Aufgabengebiet einer «psychosomati-

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schen Medizin» in etwa abgesteckt: Im Mittelpunkt des ärztlichen Bemühens sollte der Patient mit seiner je eigenen Biographie stehen, aus der sich seine Persönlichkeitsstruktur ergibt, seine Veranlagung, bestimmte Konflikte «mitzubringen» oder auszulösen, sowie seine bisher verfolgten Lösungsstrategien; die persönliche Sicht des Kranken auf sich selbst, auf die Menschen zur Seite, auf die umgebende Welt sollte sich als Leitfaden zu Leben und Erleben eines Patienten erweisen und zugleich die Spezifität bestimmter Konflikte im emotionalen und dann auch im somatischen Bereich offenbar machen. Nachdem helen flanders dunbar (1902 –1959) im Jahre 1935 bereits in ihrem berühmten Buch Emotions and Bodily Changes (Gefühle und körperliche Veränderungen) den Zusammenhang zwischen (biographisch bedingtem) Persönlichkeitstyp und bestimmten Krankheitsformen herausgestellt hatte, erschien 1951 nun auch in Deutschland franz alexanders (1891–1964) damals bahnbrechendes Werk Psychosomatic Medicine von 1950, in dem er die «Korrelation zwischen Persönlichkeit und Krankheit» in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte. (Vgl. franz alexander: Psychosomatische Medizin, 50.) Er schrieb: «Eine mysteriöse und unbestimmte Korrelation zwischen Persönlichkeit und Krankheit existiert nicht; immer handelt es sich um eine fest umrissene Korrelation zwischen bestimmten emotionalen Konstellationen und gewissen vegetativen Innervationen.» (A. a. O., 50) Dabei ging es ihm nicht so sehr um das stets nur ungenau zu erhebende Persönlichkeitsbild des jeweiligen Patienten, als vielmehr um eine genaue Erfassung der spezifischen Konfliktsituation, die in die Krankheit geführt hat; die spezifische Konfliktsituation galt ihm nicht einfach als «typisch» für eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, sondern es mußte im Wesen einer Persönlichkeit einen besonderen «Persönlichkeitsfaktor», einen Wesenszug geben, der die betreffende Person für gerade diesen Konflikt bereit machte. (Zur «Spezifitätshypothese» vgl. hubert speidel: Konzepte und Störungsbilder in der psychosomatisch-psychotherapeutischen Medizin, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 52– 53.) Denn in der Tat: Was jemand als «Belastung», als «Überforderung», als «ärgerlich», als «unerträglich» oder als «ganz furchtbar» erlebt, hängt natürlich weitgehend von seiner eigenen Reaktions- und Verarbeitungsweise ab. thure von uexküll sprach deshalb zu Recht von der Psychosomatik als von der «Einführung des Subjekts in die Medizin» (Grundfragen der psychosomatischen Medizin, 71–77) und, verbunden damit, als von der «Einführung tiefenpsychologischer Forschungsmethoden»; «das bedeutet», schrieb er, «die Ereignisse, mit denen der Patient konfrontiert ist, nicht so zu sehen, wie der Arzt sie sieht und beurteilt, sondern wie der Patient sie sieht und erlebt.» (A. a. O., 79) Empathie, Sen-

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sibilität, einfühlendes Verstehen wurden damit die Hauptarbeitsmittel einer psychosomatischen Heilkunde. Im einzelnen implizierte die «Einführung des Subjekts in die Medizin» eine ganze Reihe von Aussagen; hans schaefer (Das Prinzip Psychosomatik, 91) zählt u. a. auf: «Keine Krankheit ist vollständig beschreibbar, ohne daß der Krankheitsträger, der Patient, in diesem Beschreibungsversuch vorkommt. – . . . Weder die Pathogenese der Krankheit ist ohne Beachtung seelischer Wirkungsflüsse vollständig noch ist eine Therapie ohne die seelischen Kontakte vollständig (d. h. erfolgreich) denkbar . . . – . . . Mit der von außen (genetisch, durch Umwelteinflüsse) erzwungenen Krankheit muß der Patient ‹fertig› werden. Er tut das mit wechselndem Erfolg, und es treten viele Rückkopplungen auf; derart, daß der Patient auf die von außen erzwungene Krankheit emotional und damit wiederum pathogen – das heißt: Krankheitssymptome produzierend – reagieren kann. Durch Emotionen kann . . . somatische Krankheit entstehen, die dann erneut an den Kranken die Anforderung stellt, mit eigener Leistung, die von ihm erzeugten Symptome zu begrenzen, zu ändern oder zu ertragen. – . . . Der zur Analyse der psychosomatischen Phänomene . . . benutzte methodische Dualismus setzt keinerlei Annahme über Monismus oder Dualismus im Sinne der Ontologie voraus.» Auf die philosophische Seite der Leib-Seele-Problematik werden wir im zweiten Teil dieses Buches noch ausführlich zu sprechen kommen. Eine Frage blieb es freilich, wie sich die Eigenart einer Persönlichkeit, die zu «Somatisierungen» neigt, genauer beschreiben lasse; infrage kam dabei vor allem eine Unfähigkeit, innere Konflikte nach außen zu tragen und in der Realität aufzulösen. So entwickelte sich – erstaunlich spät – in den 70er Jahren des 20. Jhs. das Alexithymie-Konzept. (Vgl. friedhelm lamprecht: Allgemeine Psychosomatik und Modellvorstellungen, in: Wielant Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 121–129, S. 124; siegfried zepf – l. tschirch: Zur empirischen Überprüfung der Alexithymie mit dem semantischen Differential, in: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 37/1981, 15 –22.) Der Name Alexithymie besagt soviel wie «nicht in der Seele beziehungsweise in den Emotionen lesen können» (von griech.: a – nicht; die le¯xis – Anteil, Lesen; der thymós – Lebenskraft, Wille, Gemüt, Mut, Gefühl). Man fand, daß Patienten mit psychosomatischen Symptomen sich offenbar schwertun, von ihren «wirklichen» Gefühlen zu reden. Neben einem auch gestisch und mimisch reduzierten Ausdrucksvermögen und einer insgesamt starren Körperhaltung sah man die wesentlichen Charakteristika der Alexithymie vor allem in «Schwierigkeiten im Beschreiben und Identifizieren von Ge-

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fühlen, – Schwierigkeiten, zwischen Gefühlen und den körperlichen Anzeichen emotionaler Aktivierung zu unterscheiden, – einer unzureichend entwickelten Vorstellungskraft, die sich beispielsweise in einem Fehlen von Phantasietätigkeit äußert, – einem nach außen orientierten Denkstil.» (susanne altmeyer: Psychosomatische Medizin, in: Alexander Trost – Wolfgang Schwarzer: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie für psycho-soziale und pädagogische Berufe, 292– 293) In gewissem Sinne sind Alexithymie-Patienten gefühlsblind, und zwar nicht, weil sie etwa keine Gefühle hätten, sondern weil sie zeit ihres Lebens erfahren mußten, daß es auf ihr «Innenleben» nicht ankam; sie hatten ihre Gefühle in freudschem Sinne zu «verdrängen» zu Gunsten eines eher rationalen, technisch-praktischen Denkstils und eines funktional korrekten Verhaltens. Man kann sich daher gut vorstellen, daß der nicht zugelassene verbale (bewußte) Ausdruck sich in die Ersatzsprache körperlicher Symptombildungen verlagert. Unter diesen Voraussetzungen lag (und liegt) es am nächsten, eine Verbindung von Psychoanalyse und Schulmedizin durch eine Neuinterpretation des freudschen Begriffs der Konversion anzustreben, «in dem», wie thure von uexküll meinte, «sich eine Möglichkeit andeutet, die dualistische Trennung (sc. von Seele und Körper, d.V.) zu überwinden.» (Grundfragen der psychosomatischen Medizin, 82) «Es war . . . nur . . . nötig, die Motive, die sich Körperliches (als Gelegenheitsapparat) dienstbar machen, nicht nur im bewußten, sondern auch im unbewußten Bereich zu suchen.» (A. a. O., 89) Diese Annahme knüpfte fugenlos an freuds Grundidee an, und sie «erklärte . . . die bis dahin völlig rätselhafte Tatsache, daß sich die körperlichen Symptome der sogenannten Konversionshysterie fast ausschließlich auf die Organe beschränken, die normalerweise unserem bewußten Willen unterstehen. Das sind einmal die Muskeln unserer Gliedmaßen, die wir willkürlich bewegen können. Sie werden bei der Konversionshysterie von Konvulsionen, Zittern (Kriegszitterer!) oder von Lähmungen befallen. Und das sind zum anderen unsere Sinnesorgane, die uns bei unseren Bewegungen orientieren und denen wir ja auch befehlen können, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten sollen. Hier gibt es hysterische Blindheit, Taubheit, hysterische Störungen des Tastsinnes usw.» (A. a. O., 89 –90) «Diese Grenzziehung ist . . . so ausgesprochen, daß auch Muskeln und Sinnesorgane nur soweit von Störungen befallen werden, als sie dem animalischen, also dem willkürlichen Nervensystem unterstehen. Alle anderen Funktionen, z. B. die Ernährung, die Regeneration, die Durchblutung dieser Organe, unterstehen dem vegetativen (sc. dem autonomen, d.V.) Nervensystem und werden nicht betroffen. Das erklärt auch, warum die befallenen Organe selbst

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nach jahrelang anhaltender Blockierung ihrer Funktion weitgehend intakt bleiben. Sie können nach Beseitigung der seelischen Störung ihre normale Tätigkeit sofort wieder aufnehmen. Darauf beruht der verblüffende Effekt der meisten ‹Wunderheilungen›, z. B. wenn nach jahrelanger Erblindung oder Taubheit der Kranke plötzlich wieder sehen oder hören kann, wenn ein Gelähmter sich erhebt und umhergeht. Bei einem Organ, dessen vegetative Funktionen gestört sind, kommt es dagegen früher oder später zu tiefgreifenden Schädigungen. Hier braucht eine Heilung, wenn sie überhaupt noch möglich ist, immer längere Zeit. Diese Krankheiten eignen sich daher nicht für ‹Wunderheilungen›.» (A. a. O., 90; zum autonomen Nervensystem vgl. Bd. I 249 –251.) So verstanden ist «Konversion» nicht einfach ein symbolistisch zu lesender Ausdruck eines seelischen Konfliktes; vielmehr verhindert eine unbewußte Motivation die an sich im Bewußtsein mögliche, willkürliche Steuerung von Teilen des Sensoriums oder Motoriums: – es kommt zu einer Abwehr des Triebimpulses oder es ergreift umgekehrt ein unbewußter (weil verdrängter) Triebwunsch von dem Sensorium oder Motorium Besitz und erzwingt am Bewußtsein vorbei eine Art «Ersatzbefriedigung», in der tatsächlich etwas Vorgestelltes und Verstelltes symbolisch zum Ausdruck kommen kann. «Die Symptome», schreibt martin hambrecht (Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, 83), «drücken den aktuell auslösenden Konflikt oft sehr prägnant symbolisch aus: Eine . . . Mutter kann plötzlich nicht mehr sprechen, weil Mann und Kinder ohnehin nicht auf sie hören. Das Symptom entlastet die Patientin vom eigenen inneren Druck, etwas unternehmen zu müssen (‹primärer Krankheitsgewinn›). Außerdem erhält sie Zuwendung und Entlastung durch Familie und Ärzte (‹sekundärer Krankheitsgewinn›). Nehmen konversionsneurotische Störungen einen chronischen Verlauf, dann ist dieser sekundäre Krankheitsgewinn in der Regel hoch (z. B. Rente und ständige Anwesenheit des Partners aufgrund von ‹Anfällen›).» – Um sich in die Lage dieser Frau hineinzuversetzen, müßte man allerdings wohl sagen, sie schweige, weil sie all die Wut und den Ärger darüber verdrängen muß, daß sie in ihrer Familie «nichts zu sagen» hat; würde sie anfangen zu reden, so müßte sie Vorwürfe artikulieren, die ihre Ehe und Familie wie eine Explosion zu zerreißen drohten; – zudem entlüden ihre Äußerungen sich womöglich so anfallartig und jähzornig nach all den aufgestauten Enttäuschungen und Verbitterungen, daß sie zu Recht als «unangemessen» zurückgewiesen würden; die «Flucht» in das Symptom des Mutismus, des Verstummens (von lat.: mutus – stumm, sprachlos), ist daher vor allem ein Weg, die bestehenden Verhältnisse nicht zu gefährden – ein Kompromiß mit den Gegebenheiten; nicht

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um eine rein konversionshysterische Symptombildung geht es, sondern um einen inneren Ausgleich zwischen aggressivem Protest und innerer Bindung an die Familienmitglieder um den Preis schwerer Verdrängungen und Icheinschränkungen. All das betrifft freilich zunächst «nur» das willkürliche Nervensystem. Der eigentliche Übergang zur Psychosomatik hingegen erfolgt erst, wenn sich zeigen läßt, wie seelische Vorgänge das autonome (vegetative) Nervensystem auf eine Weise beeinflussen, daß es zu Funktionsstörungen und Veränderungen (Schädigungen) bestimmter Körperorgane kommt: Wo bleibt zum Beispiel in dem genannten Fall die Erregungssumme der verdrängten Aggressionen? Zur Beschreibung dieses «Grenzübergangs» von seelischem Erleben zu körperlicher Erkrankung steht einerseits die immer genauere Kenntnis der Zusammenhänge von Neurologie, Endokrinologie und Immunologie, andererseits das psychodynamische Konzept der Spezifität eines Konfliktes für eine bestimmte Persönlichkeit zur Verfügung. Die Verbindung zwischen beiden Gedankenreihen indessen weist notwendigerweise einen eigenartigen logischen Riß auf: Es ist nicht möglich, das Episodische einer individuellen Biographie zu verallgemeinern, – also zu behaupten: Weil dieser mein Magenulcus-Patient ehrgeizig, fleißig und gewissenhaft ist, ohne die in seinen Augen gerechte Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren, muß Magenulcus als Resultat unerfüllter Geltungssucht betrachtet werden. Selbst wenn sich in beliebig vielen Fällen vergleichbare Züge in der Patientenpsychologie beobachten ließen, wäre damit doch nicht ausgeschlossen, daß es noch ganz andere, möglicherweise wichtigere Komponenten der Krankheitsgenese gibt. So fand man heraus, daß ein bestimmter säureresistenter Bazillus – der sogenannte Helicobacter pylori – die Magenschleimhaut (vor)schädigt, ehe sich unter psychischem Streß ein Magengeschwür bildet. (Vgl. d. a. drossman: Presidential address: gastrointestinal illness and the biopsychosocial model, in: Psychosomatic Medicine, 60/1998, 258 –267.) Somatische und psychische Ursachen bilden eine Ergänzungsreihe, deren gemeinsames Zusammenwirken allererst die Krankheit herbeiführt. (Vgl. georg l. engel: The need for a new medical model: a challenge for biomedicine, in: Science, 196/1977, 129 –136.) «Generell gilt», schreibt siegfried zepf (Klinik der psychosomatischen Erkrankungen, in: K. P. Kisker u. a.: Psychiatrie der Gegenwart, I 67), «. . ., daß es sich bei den psychosomatischen Erkrankungen um ein multifaktorielles Geschehen handelt, in dem zwischen somatischen, psychischen und sozialen Prozessen eine wechselseitige Interdependenz besteht.» Das psychische Geschehen (der spezifische Konflikt) findet in diesem Falle nicht einen (symbolischen) Ausdruck in einem somatischen Geschehen

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(der Krankheit), vielmehr beeinflußt die Seele den Körper in einer Weise, die an sich nicht schädigend sein müßte, die aber, einen körperlichen «Schwachpunkt» vorausgesetzt, denn doch als mitursächlich für die Entstehung der Krankheit gelten muß. Die entscheidende Frage in diesem «psychosomatischen Modell» lautet jetzt natürlich, wie eine solche pathogene Beeinflussung des Körpers durch die Seele möglich sein soll. Zum Glück leben wir nicht mehr in den Tagen des rené descartes, daß wir das Problem der «Einwirkung» von Körperlichem auf Seelisches mit den Mitteln von Metaphysik und Theologie zu lösen hätten. Es war viktor von weizsäcker (1886 –1957), der 1940 in seinem Buch Der Gestaltkreis ein erstes Modell für die Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt entwarf, in dem er am Beispiel der «Einheit von Wahrnehmen und Bewegen» ein Grundprinzip der Psychosomatik entwickelte: das Erleben der eigenen Leiblichkeit. Es ist möglich, daß wir den Befehl zu einer Bewegung geben, ohne irgendeine Angabe der Details der Muskelbewegung zu machen, und doch führt diese Bewegung sehr genau zum Ziel. hans schaefer (Das Prinzip Psychosomatik, 58) meinte im Rückblick dazu: «Für die Lehre von der Krankheitsentstehung ist das Modell der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen ein echtes Modell: an einem einsehbaren Phänomen, dem der Bewegung, wird ein nicht einsehbarer Prozeß (sc. die Auslösung einer Krankheit, d.V.) analogiter verständlich gemacht . . . Dieses Modell der Analogie von Bewegung und Krankheit führt uns ja nur zu einer einzigen Einsicht: daß die psychische Auslösung von Krankheit keine grundsätzlich größeren hypothetischen Schwierigkeiten bietet als das uns anscheinend so wohl bekannte Phänomen der Bewegung.» Dann aber folgt: «Es muß . . . der Mechanismus der Krankheitsentstehung, wenn eine psychosomatische Krankheit erklärt werden soll, ein grundsätzlich zweckmäßiger Mechanismus sein, der nur aus Gründen, die jetzt gefunden werden müssen, entartet ist und das Gegenteil von dem bewirkt, was evolutiv entstandene, zweckmäßige Mechanismen sonst zu bewirken pflegen.» (A. a. O., 58–59) Schauen wir also nach, wie die Seele den Körper krank macht, wenn wir zu lange in Angst sind, Ärger haben oder uns niedergeschlagen fühlen; dabei kann sogar schon das allgemein verbreitete intuitive Wissen den rechten Weg weisen. «Unsere Kenntnisse über die Zusammengehörigkeit von seelischen Erregungen und bestimmten vegetativ gesteuerten Körperfunktionen, z. B. von Schmerz und Tränenabsonderung, oder Furcht und Herzklopfen, sind sicher schon so alt, vielleicht sogar älter als die Medizin», meinte thure von uexküll (Grundfragen der psychosomatischen Medizin, 158) und verwies auf den Arzt und Philosophen carl gustav carus (1789 –1869), der bereits in seiner

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Hauptschrift von 1846: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Gedanken nicht nur zur Schädellehre, sondern auch zum Unbewußten vortrug. Das Merkwürdige besteht allerdings in der Tatsache, daß Neurologie und Psychologie wissenschaftlich «verantwortbar» anscheinend erst zueinander finden konnten, als die Psychologie selbst «mechanistisch» genug geworden war, um der mechanistisch denkenden Medizin schließlich denn doch seit der Mitte des 20. Jhs. «kongenial» zu sein. Selbst dann aber dauerte es immer noch schier unglaublich lange, ehe man die pawlowsche Psychologie der bedingten und unbedingten Reflexe zu einem experimentum crucis (lat.: zu einem KreuzwegExperiment, das nur eine Interpretation im Ergebnis zuläßt) des psychosomatischen Denkens nutzte. Was es mit pawlow und seinen Hundeversuchen auf sich hat, mußte uns bereits beschäftigen, als wir die Grundformen assoziativen Lernens erörterten (vgl. Bd. I 300 –301). Die beiden Forscher nun, die – in Kenntnis der Untersuchungen von cannon, papez u. a. – mit Hilfe der alten pawlowschen Konditionierungstechnik den Einfluß der Psyche auf die Auslösung möglicher Krankheiten unzweideutig bewiesen, waren die amerikanischen Psychiater robert ader und nicholas cohen; sie demonstrierten an Ratten die Wirkung des Zentralnervensystems (des Gehirns) auf die Immunabwehr. ader und cohen injizierten Ratten Erythrocyten (rote Blutkörperchen) von Schafen und lasen die Stärke der Immunabwehr an der Anzahl der produzierten Antikörper im Blut der Tiere ab. Im eigentlichen Experiment «konditionierten» sie ganz einfach das Immunsystem: im ersten Versuchsabschnitt reduzierten sie mit einem bestimmten «Medikament» (Cyclophosphamid) die Immunantwort. In einer nachfolgenden Testreihe verabreichten sie vor Injektion der artfremden Blutkörperchen das Cyclophosphamid stets in Verbindung mit Saccharin, so daß die Immunreaktion auf diesen künstlichen Süßstoff konditioniert wurde. In einer dritten Stufe ihrer Versuchsserie injizierten sie den Ratten dann erneut die roten Blutkörperchen von Schafen, gaben aber nur noch Saccharin, mit dem Ergebnis, daß auch ohne die immununterdrückende Chemikalie die Immunreaktion geschwächt wurde. Kontrollversuche mit nicht-konditionierten Ratten zeigten, daß das Saccharin selbst, wie zu erwarten war, an sich gar keine Wirkung auf die Immunreaktion der Tiere ausübte. Damit war unstreitig bewiesen, daß das Gehirn (das Zentralnervensystem) Immunreaktionen beeinflußt. (Vgl. robert ader – nicholas cohen: Behaviorally conditioned immunosuppression, in: Psychosomatic Medicine, 37/1975, 333 –340.) Anders ausgedrückt: Immunschwäche ist erlernbar! Natürlich fragten sich die Forscher im folgenden, inwieweit diese Erkenntnis

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sich auch therapeutisch nutzen ließ, zum Beispiel bei Autoimmunreaktionen, in denen das Immunsystem in einer Überreaktion sich gegen körpereigenes Eiweiß richtet. Ein solcher Fall ist gegeben beim Lupus erythemathodes (lat.: der lupus – Wolf, eine meist chronisch verlaufende tuberkulöse Hautflechte mit entstellender Narbenbildung; griech.: das erýthe¯ma – Röte, eide¯s – ähnlich), der unbehandelt nicht nur äußerlich sichtbar zu schweren Verunstaltungen an Haut und Gesicht führen kann, sondern auch die Lymphknoten betrifft, die Nieren, die Lunge sowie das Zentralnervensystem. ader und cohen nun versuchten erneut, Mäuse, die an systemischem Lupus erkrankt waren, auf den Süßstoff Saccharin bei gleichzeitiger Gabe des Medikaments Cyclophosphamid zu konditionieren und damit die krankhafte Immunreaktion zu unterdrücken – mit Erfolg: die konditionierten Tiere lebten bei Einnahme von bloßem Saccharin deutlich länger als nicht-konditionierte Tiere. (Vgl. robert ader – nicholas cohen: Behaviorally conditioned immunosuppression and murine systemic lupus erythematosus, in: Science, 215/1982, 1534–1536.) Das Saccharin besaß in all diesen Versuchen mit Ratten und Mäusen erkennbar den Wert und die Wirkung eines reinen Placebos; und so machten zehn Jahre später karen olness und robert ader sich daran, nach dem gleichen Konditionierungsverfahren eine klinische Studie auch an einem menschlichen Lupus-Patienten vorzunehmen, nur daß sie jetzt zu dem Chemopharmakon Cyclophosphamid Lebertran verabreichten. Jeder, der als Kind einmal Lebertran einnehmen mußte – der Extrakt wurde besonders häufig in der Nachkriegszeit als eine Art Allheilmittel gegen Mangelernährung verordnet –, wird den widerwärtigen Geschmack nie mehr vergessen haben: für Assoziationsexperimente empfiehlt Lebertran sich also als einen hervorragend geeigneten Stoff. Und in der Tat: Die Cyclophosphamid-Dosis konnte bei dem Patienten, nachdem er erst einmal auf Lebertran konditioniert worden war, ohne Schaden um die Hälfte gesenkt werden. (Vgl. karen olness – robert ader: Conditioning as an adjunct in the pharmacotherapy of lupus-erythematosus, in: Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics, 13/1992, 124 –125.) Die Konsequenzen aus solchen Versuchen sind schwer abzuschätzen. Wenn sich Autoimmunreaktionen durch Placebokonditionierungen abschwächen lassen, so liegt es nahe, zum Beispiel auch bei Organtransplantationen die körpereigene Immunabwehr zu unterlaufen; bei Laborratten zeigten Experimente dieser Art tatsächlich einen (bescheidenen) Erfolg. Es wurde dabei zugleich deutlich, daß die Immunkonditionierung wesentlich den Teil des Sympathicus, der zur Milz führt, betrifft. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 95.)

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Können, so lautet eine weitere therapeutisch interessante Frage, etwa auch Allergien wie Heuschnupfen oder Bronchialasthma mit Hilfe von Placebos behandelt werden? Beim Heuschnupfen ist es die Freisetzung von Histamin aus den Mastzellen der Nasenschleimhaut, welche die peinigenden Symptome: tränende, lichtüberempfindliche Augen, Anschwellen der Nasenschleimhaut u. a., hervorruft; ausgelöst wird diese Reaktion, wenn Allergene mit den Immunglobulinen auf den Mastzellen reagieren. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 311– 312.) Solche Allergene können zum Beispiel Blütenpollen oder auch Hausstaubmilben sein. Und nun zeigten Versuche von m. gauci und seinen Mitarbeitern, daß durch bloße Konditionierung auf ein seltsam schmekkendes Getränk, das zusammen mit dem spezifischen Allergen dargeboten wurde, sich die allergische Reaktion – sogar in verstärktem Ausmaß – schließlich allein durch die Einnahme des Getränks auslösen ließ, meßbar an der Menge bestimmter Enzyme (der Tryptasen). (Vgl. m. gauci u. a.: Pavlovian conditioning of nasal tryptase release in human subjects with allergic rhinitis, in: Physiology and Behavior, 55/1994, 823 –825.) Auch Allergiereaktionen sind demnach erlernbar, und so sollten sie eigentlich auch durch umgekehrte Lerneffekte im Rahmen einer gezielten Placebotherapie behandelbar sein. Diese Feststellung besitzt ein besonderes Gewicht, weil vor allem beim Asthma bronchiale, aber auch bei allergischen Hautreaktionen eine schier verzweifelt anmutende Suche nach allen möglichen Allergenen eingesetzt hat: Katzenhaare, Wellensittichfedern, Nickel, Chrom – was eigentlich nicht – können Allergien auslösen; dabei spricht vieles für eine psychogene Verursachung mancher Formen von allergischen Reaktionen. Speziell bei Asthmatikern ist deutlich, daß es oft psychische Konflikte und unverarbeitete Emotionen sind, die zu einer Verkrampfung der Atemmuskulatur führen; die einsetzende Angst, keine Luft zu bekommen, verstärkt dann noch die Einnahme einer Körperhaltung, die ein ruhiges Ein- und besonders Ausatmen zusätzlich erschwert. (Vgl. friedhelm lamprecht: Spezielle Psychosomatik, in: Wielant Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 137–138; walter bräutigam – paul christian: Atmung bei Asthma bronchiale, in: Viktor E. Frankl u. a.: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, II 531–544; rainer richter: Asthma, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 228 –238; max o. bruker: Allergien müssen nicht sein, 66 –94.) «Unter diesem Aspekt erscheint es . . . gar nicht so abwegig, von suggestiv verabreichten Plazebos, ähnlich wie von antiallergischen Mitteln, eine symptomatische Besserung allergischer Überreaktionen zu erhoffen, immer voraus-

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gesetzt, dass die Patienten selbst an die Wirksamkeit der Therapie glauben. Und tatsächlich erwiesen sich Plazebos bei der symptomatischen Behandlung von allergischen Erkrankungen wie Asthma, Nesselfieber (Urtikaria) und Heuschnupfen als hilfreich.» (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 96) Wenn es also feststeht, daß das Immunsystem vom Zentralnervensystem beeinflußt wird, so läßt sich nicht leugnen, daß es Krankheiten gibt, die durch eine psychische Disposition allererst zustande kommen. Zudem läßt sich nach allem Gesagten bereits vermuten, daß seelische Einflüsse, wie chronischer Streß, bestimmte Organe (wie Herz, Leber, Magen, Darm) auch direkt schädigen können. Als die beiden wichtigsten Botenstoffe von Streß haben wir bereits bei der Erörterung der Angst das Adrenalin (und Noradrenalin) des Nebennierenmarks sowie das Cortisol der Nebennierenrinde kennengelernt. (Vgl. Bd. I 680 –682.) Fragen wir also, wie diese beiden Streßhormone das Körpergeschehen zum Krankhaften hin beeinflussen, und konzentrieren wir uns dabei vor allem auf die Herzfunktionen. (Zur Psychosomatik anderer Erkrankungen wie des Diabetes vgl. reinhard liedtke: Diabetes mellitus, in: Jores Praktische Psychosomatik, 387–392; johannes cremerius: Zur Theorie und Praxis psychosomatischer Medizin, 107–225; oder zum Ulcus vgl. johannes cremerius: A. a. O., 252– 265: Zur Dynamik des Krankenhausaufenthaltes von Ulkuskranken; friedhelm lamprecht: Spezielle Psychosomatik der MagenDarm-Erkrankungen und Eßstörungen, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 140 –148; hellmuth freyberger – harald j. freyberger: Ulcus duodeni, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 249 –258; hans bosseckert: Magenbeschwerden. Rat und Hilfe bei Reizmagen, Gastritis, Geschwüren, Magenkrebs.)

b) Adrenalin, Hypertonie und Herzfunktion α) Wie Angst und Ärger ans Herz gehen oder: Von Herzneurose, essentieller Hypertonie und Hypotonie Älteren Lesern wird noch die HB-(Haus Bergmann-)Zigaretten-Reklame aus den 50er Jahren in Erinnerung sein: Das HB-Männchen war eine Person, die bei relativ nichtigen Anlässen «in die Luft» gehen konnte und der man deshalb zur Beruhigung die Inhalation just jener Zigaretten-Marke empfahl. Nun übt

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Saugen schon bei kleinen Kindern zweifellos einen sedierenden Effekt aus, doch warum sollte man übererregten Erwachsenen dann nicht gleich einen Schnuller verschreiben, statt sie durch Nicotinabhängigkeit mit Folgeschäden für Lunge, Herz und Kreislauf zu belasten? Außer Frage steht, daß eine «cholerische» Reaktion, hochschießender Ärger also, den Blutdruck auf Höchstwerte treibt und, als chronischer Zustand, psychosomatisch nicht unbedenklich ist. (Vgl. kaspar weber: Einführung in die psychosomatische Medizin, 80– 84: Wut. Narzißtische Kränkung. Narzißtische Wut.) «Schuld» daran trägt der Ausstoß von Adrenalin mit den an sich durchaus sinnvollen Anpassungsleistungen des Organismus an eine gegebene Streßsituation; doch wie stets: ein Zuviel des «Guten» ist schädlich, vor allem, wenn – wie wir bereits hörten (vgl. Bd. I 699–700) – aus einem biochemischen Regelkreis ein Teufelskreis wird. Wie Adrenalin und Noradrenalin «sinnvoll» wirken, haben wir bereits anläßlich von cannons «Notfallreaktion» gehört (vgl. Bd. I 679 –681): In Gefahrenaugenblicken – bei Angst oder Wut – wird die Sympathicusaktivität gesteigert. Das bedeutet zweierlei. Zum einen wirken die postganglionären Sympathicusneuronen im Rückenmark über den Neurotransmitter Noradrenalin exzitatorisch auf eine ganze Reihe von Zielorganen ein (vgl. Bd. I 249– 252), zum anderen aktivieren die präganglionären Sympathicusneuronen die chromaffinen Zellen im Nebennierenmark; diese Zellen sind mit den postganglionären Sympathicusneuronen verwandt (sie sind griech.: homolog – gleichartig), und sie reagieren deshalb wie diese: sie sondern Adrenalin und (zu etwa 20 %) Noradrenalin ab, diesmal aber nicht als Neurotransmitter, sondern als Angstoder Wuthormon. (Vgl. alfred benninghoff – detlev drenckhahn: Anatomie, II 213 –214; 212.) Eine Folge der Adrenalinausschüttung kennen wir bereits: der Blutzuckerspiegel steigt, weil Adrenalin die Glykogendepots in der Leber öffnet; auch die Umwandlung von Proteinen und Fetten in Glucose durch Glucocorticoide erhöht den Blutzuckerspiegel; beides zusammen trägt dazu bei, zusätzliche Energiereserven für besondere körperliche Anstrengungen (in Flucht oder Angriff – beim Laufen oder beim Heben von Lasten, in Sport oder Arbeit) bereitzustellen. (Vgl. Bd. I 680 –682.) Nun wissen wir bereits, daß für Noradrenalin (NA) und Adrenalin zwei verschiedene Rezeptortypen zur Verfügung stehen, die auch die Wirkung der beiden Catecholamine unterschiedlich gestalten (vgl. Bd. I 705–706): NA bindet bevorzugt an die Alpha-Rezeptoren (genauer: an die Alpha-1-Rezeptoren) der glatten Muskeln und wirkt dort gefäßverengend, Adrenalin hingegen wirkt an den BetaRezeptoren gefäßerweiternd. Die Verteilung der beiden Rezeptortypen ist so eingerichtet, daß die Ausschüttung von NA und Adrenalin sich in «normalen»

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Belastungssituationen optimal auswirken kann: Die Bronchien, die Herzkranzgefäße und die Blutadern der Muskeln weisen eine große Zahl von BetaRezeptoren auf, und so versteht man, warum in Krisensituationen durch den Ausstoß von Adrenalin die Atemwege erweitert, die Herzleistung erhöht und die Muskelkraft gesteigert wird. In den Blutgefäßen von Milz, Darm, Nieren und Haut sowie in allen Venen befinden sich vornehmlich Alpha-Rezeptoren, – bei ihnen bewirkt die Ausschüttung von NA eine Kontraktion. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 61– 62.) «Diese so unterschiedlichen Reaktionen verschiedener Zielorgane des vegetativen Nervensystems sind biologisch durchaus zweckmäßig, denn sie bewirken bei starker körperlicher Anstrengung und Aktivierung des Sympathikus einen synergistischen (sc. sich wechselseitig verstärkenden, zusammenwirkenden, von griech.: syn – mit, das érgon – Werk, d.V.) Effekt: Die Blutreservoirs in der Milz, in den übrigen Eingeweiden, in den Venen und anderswo ziehen sich zusammen und stellen der systemischen Zirkulation mehr Blut zur Verfügung, wohingegen die Durchblutung des Herzmuskels, der Skelettmuskulatur und, infolge der Erweiterung der Luftwege, auch die Durchlüftung der Lungen erleichtert wird. Dies alles ermöglicht eine sinnvolle Umverteilung in der Blutversorgung der Organe.» (johann caspar rüegg: A. a. O., 62) Wie aber geschieht es, daß dieser an sich äußerst hilfreiche Anpassungsmechanismus für «Notfälle» durch chronische Überbelastung zu ständigem Bluthochdruck (zur Hypertonie, von griech.: hypér – über, der tónos – Spannung) und zu einer Schädigung der Herzkranzgefäße führt? Daß dies der Fall sein kann, ergibt sich wie von selbst aus der Art und Weise, wie das, was wir «Blutdruck» nennen, zustande kommt. Wie schnell – in welchem Rhythmus – unser Herz schlägt, wird durch einen natürlichen «Herzschrittmacher» bestimmt, der vom sogenannten Sinusknoten des rechten Herzvorhofes aus elektrische Impulse an die Herzkammern – die Ventrikel – sendet, so daß die Herzmuskelzellen sich im «Sinusrhythmus» anspannen und entspannen. (Zum Erregungsleitungssystem des Herzens vgl. jochen fanghänel u. a.: Waldeyer – Anatomie des Menschen, 868– 873.) Normalerweise schlägt das Herz eines Erwachsenen in Ruhe mit einer Frequenz von 60 –80 Schlägen pro Minute. (Frequenzen unter 60/min werden als Bradykardie bezeichnet, von griech.: bradýs – langsam, die kardía – Herz; Frequenzen über 100/min heißen Tachykardie, von griech.: tachýs – schnell.) In der Systole (der Kontraktion der Ventrikel, der Anspannungsphase, von griech.: die systole¯ – Zusammenziehung) steigt der Blutdruck auf einen Wert, der dem Druck einer 120 mm hohen Quecksilbersäule entspricht (etwa 120 mm

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Hg), bei der Diastole (griech.: der Ausdehnung, also während der Entspannungsphase) sinkt der Blutdruck auf etwa 80 mm Hg. Aus der Differenz von systolischem und diastolischem Blutdruck ergibt sich der Pulsdruck, den wir selber am oberen Rand der Unterseite des Handgelenks in der Nähe des Daumens fühlen können. Die Blutmenge, die das Herz pro Minute durch den Kreislauf fördert, nennt man das Herzzeitvolumen; bei einer Förderleistung in relativer Ruhe pumpt das Herz mit täglich über 100 000 Schlägen etwa 70 Hektoliter (1 Hektoliter = 100l). Der Blutdruck selbst hängt jedoch nicht allein von dem Herzzeitvolumen (der Förderleistung des Herzens) ab, sondern natürlich ebenso von der Weite der Blutgefäße. Und damit ist klar, was ein Adrenalinund NA-Ausstoß in Streßsituationen bewirken muß: Indem das Adrenalin den Herzschrittmacher zur Beschleunigung antreibt, erhöht sich die Schlagfrequenz und damit automatisch auch der Blutdruck; bei einer vermehrten Ausschüttung von NA werden gleichzeitig die Blutgefäße verengt; und das bewirkt einen zusätzlichen Anstieg des Blutdrucks. Von einem ausgesprochenen Bluthochdruck, von einer Hypertonie, muß man sprechen, wenn bei wiederholten Messungen der systolische Druck 160 mm Hg und mehr beträgt und der diastolische Druck bei über 95 mm Hg liegt. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 60– 61.) In dieser Situation ist es nicht selten, daß Patienten über kardiovaskuläre Beschwerden klagen, obwohl ihr Herz, rein organisch betrachtet, vollkommen gesund ist. Man spricht in diesem Falle von Herzneurose oder Herzangstneurose, in deren Mittelpunkt die Befürchtung steht, das Herz könnte plötzlich stehenbleiben beziehungsweise es drohte ein Herzinfarkt. Tatsächlich leiden die Patienten an Schmerzen in der Herzgegend, die mitunter in den linken Arm ausstrahlen (wie es auch objektiv bei Gefahr eines Herzinfarktes der Fall zu sein pflegt); besorgt registrieren sie Extrasystolen (vorzeitige Kontraktionen des Herzens innerhalb der normalen Herzschlagfolge auf einen ungewöhnlichen Reiz hin) und anfallartige Tachykardien; mit Hilfe eigens gekaufter Meßgeräte stellen sie zu ihrem Schrecken Blutdruckanstiege bis 200/100 mm Hg bei sich fest; Schweißausbrüche und Schwindelgefühle suchen sie heim; kurz: sie haben subjektiv tatsächlich allen Grund, einen Arzt um Hilfe anzugehen. Bei näherer Untersuchung allerdings läßt sich am ehesten eine psychophysiologische Selbstverstärkung der Angst beobachten: die genannten Körpersymptome werden als bedrohlich interpretiert, und diese Bewertung erzeugt eine Angst, welche wiederum die Symptome verstärkt. Als Grund für diesen Mechanismus haben horst-eberhard richter und dieter beckmann in einer Monographie unter dem Titel Herzneurose bereits 1973 auf die tiefe Selbstunsicherheit

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der betroffenen Patienten hingewiesen, doch liegt darin allein noch kein Spezifikum für eine Herzneurose. In der Anamnese lassen sich in aller Regel Hinweise auf Störungen in der Entwicklung zu einer persönlichen Autonomie, mithin zu einem tragfesten Vertrauen in den Wert und in die Fähigkeiten der eigenen Person finden. Wenn auch das Beziehungsmuster bei der Entstehung einer Herzneurose nicht einheitlich ist, beschreibt friedrich-wilhelm deneke (Herzneurose, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 187) die frühen Beziehungskonstellationen, die «klassischerweise» zu einer Herzneurose führen, folgendermaßen: Nicht selten sind die Patienten «von beiden Elternteilen emotional grob vernachlässigt, ausgebeutet, mißachtet, also nicht geliebt worden. – Andere sind bis in die Gegenwart unaufgelöst an einen sehr idealisierten Elternteil gebunden. – Häufig beobachtbar ist ein Beziehungsmuster der folgenden Art: Die Patienten hatten eine übermächtig starke, dabei aber emotional distanziert-kalte Mutter, bei einem Vater, der sich gegen diese Mutter niemals wirkungsvoll durchsetzen konnte, also als schwach erlebt wurde oder überhaupt (infolge frühen Todes oder Trennung) fehlte. Damit war der Vater als Beziehungsobjekt, das die Defizite der Mutter hätte kompensieren können, und – was speziell für Jungen gilt – als männliches Identifikationsobjekt ausgefallen. – Wieder andere Patienten haben ihren Vater als äußerst aggressiv-bedrohlich erlebt, was zur Folge hatte, daß sie immer wieder die beschützende Nähe einer stark bindenden Mutter gesucht haben.» Eine weitere Variante ergibt sich dadurch, daß Kinder als «narzißtisch besetzte Objekte ihrer Eltern» aufwachsen mußten. Sowohl die «emotionale Vernachlässigung» als auch die «Überfürsorge» führen dazu, «daß die Patienten unbewußt auf die Realpräsenz beschützender, stützender, Sicherheit vermittelnder Beziehungsobjekte angewiesen sind. Dieser zentrale Komplex aus tiefem Selbstzweifel, Abhängigkeit und demzufolge erhöhter Angstbereitschaft» kann durch drei entsprechende alternative Strategien beantwortet werden: Es ist zum einen möglich, sich an Ersatzobjekte zu klammern und die innere Leere in Beziehungen zu anderen Menschen zu kompensieren; bezeichnenderweise ist bei akutem Auftreten einer Herzneurose diese «rettende» Verbindung durch Überforderung oder Enttäuschung zumeist recht brüchig geworden, und sie wird nur noch durch einen Teufelskreis aus wechselseitigen Vorwürfen oder durch die pure «Angst vor dem Alleinsein aufrechterhalten». (friedrich-wilhelm deneke: Herzneurose, in: A. a. O., 187–188) Umgekehrt kann die latente Abhängigkeit «durch ein forciertes AutonomieStreben, durch ausgeprägtes Leistungsverhalten und demonstrative Pseudounabhängigkeit» überkompensiert werden. «Bricht diese Abwehr zusammen,

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werden die Patienten häufig in einer sie selbst und ihre Angehörigen erschrekkenden Weise abhängig und anklammernd.» (friedrich-wilhelm deneke: Herzneurose, in: A. a. O., 188) Ein dritter Weg ergibt sich aus dem Versuch, die hohen (narzißtischen) Erwartungen der Eltern, so gut es geht, zu verinnerlichen und die Rolle von etwas Besonderem zu übernehmen; die Selbstzweifel gegenüber den gestellten Forderungen sowie die ständige Angst, zu versagen und dann mit vollkommener Verachtung bestraft zu werden, treibt die Anpassungsleistung nach außen immer höher, ohne daß im Hintergrund sich ein ruhiges Selbstvertrauen oder gar ein Gefühl der Geborgenheit bilden könnte. In Beruf wie Familie wird der Versuch, die alten Erwartungen bedingungslos weiterzuerfüllen, sich fortsetzen; die krankheitverursachende Krise droht, sobald die Möglichkeit eines Scheiterns sich ankündigt und die «Größenselbstvorstellungen» zusammenbrechen. (Vgl. friedrich-wilhelm deneke: Herzneurose, in: A. a. O., 188 –190; ders. u. a.: Die diagnostische Beurteilung von Patienten mit einer Herzphobie, in: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 34/1984, 273– 286; vgl. auch horst-eberhard richter: Eltern, Kind und Neurose, 87– 93.) In all diesen drei Fällen gilt: «Die Herzneurose ist als eine spezifische Form der Verarbeitung einer Angstneurose zu verstehen.» (friedrich-wilhelm deneke: Herzneurose, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 190) Was aber passiert, wenn Ängste, die in einer spezifischen Verarbeitung zu einer Herzneurose führen können, sich chronifizieren und die Überzeugung sich durchsetzt, die gestellten Aufgaben und Konflikte definitiv nicht bewältigen zu können? Es kommt dann leicht zu einer sogenannten essentiellen (auch primären oder genuinen oder idiopathischen) Hypertonie, bei der organische Ursachen ebenfalls nicht erkennbar sind. Die essentielle Hypertonie ist das «logische» Resultat, wenn der Zustand von Furcht über längere Zeit anhält und dadurch besonders Adrenalin (als «Fluchthormon») permanent und in erhöhtem Maße freigesetzt wird oder wenn Wut und Ärger sich zu einem Dauerzustand verfestigen und vermehrt NA (als «Angriffshormon») ausgeschüttet wird. «So ist», schreibt johann caspar rüegg (Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 61) «. . . leicht vorstellbar, wie eine lang andauernde emotionale Anspannung infolge des erhöhten Blutspiegels von Adrenalin und Noradrenalin einerseits und der neurogenen (sc. von den noradrenergen, postganglionären Sympathicusneuronen des peripheren Nervensystems veranlaßten, d.V.) Sympathikusaktivierung andererseits Aufgeregtheit, Nervosität, Herzklopfen, hohen Blutdruck und andere Stress-Symptome verursacht.» (Zur essentiellen Hypertonie vgl. auch friedhelm lamprecht: Spezielle Psychosomatik, in:

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Wielant Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 133 – 134: Essentielle Hypertonie.) Dabei dürfen wir nicht vergessen, wie stark der subjektive Faktor (die Biographie, die «erlernte Hilflosigkeit», die Angstbereitschaft, die leichte Erregbarkeit, die charakterbedingte Interpretation und Verarbeitung bestimmter Konflikte) bei allem Erleben von Streß zu Buche schlägt. Es ist keinesfalls erfordert, daß eine «objektiv» gefährliche Situation (wie ein Krieg) oder eine für jeden ärgerliche Lebensbedingung (wie bei manchen beruflichen Gegebenheiten oder die Dauerfrustration der Arbeitslosigkeit) sich auf unabsehbar lange Zeit hinzieht; die eigene Persönlichkeit kann vollkommen ausreichend sein, um an sich als «normal» erscheinende Umstände mit übersteigertem Angst- und Ärgererleben auszustatten und sie entsprechend ungünstig für das seelische wie körperliche Befinden zu beantworten. franz alexander (Emotional factors in essential hypertension: Presentation of a tentative hypothesis, in: Psychosomatic Medicine, 1/1939, 173 –179) erblickte den zentralen Konflikt von Hypertonikern in aggressiven Gefühlsregungen gegenüber Personen, zu denen gleichzeitig ein Abhängigkeitsgefühl bestehe; so würden Empfindungen von Ärger, Haß, Eifersucht etc. teils verdrängt, teils als bedrohlich bewertet, teils mit Schuldgefühlen belegt. Von einer «Leistungskrise im Mißverhältnis von Wollen und Können» im Hintergrund der Pathogenese mancher Kreislaufstörungen sprach 1959 bereits paul christian (Herz und Kreislauf, in: V. E. Frankl u. a.: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, II 507), und das in einer Zeit, die von dem Druck der Leistungskonkurrenz unserer Tage noch weit entfernt schien. Immer wieder betont wird das Bemühen von Hypertonikern, den Ausdruck ihrer Gefühle zu kontrollieren. j. bastiaan (Emotiogene Aspekte der essentiellen Hypertonie, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 59/1963, 510 –517) sprach geradewegs von einer «Fassadenstruktur der Hypertoniker». Tatsächlich erscheint hinter der Wand eines ausgeprägten Verpflichtungs- und Verantwortungsgefühls bei essentiellen HypertoniePatienten eine starke Unausgeglichenheit und Unsicherheit, was gut zu der Auffassung paßt, daß wesentlich die Unterdrückung insbesondere von aggressiven Gefühlsregungen den chronischen Bluthochdruck bedinge. Die Ursache für das Unvermögen, Widerspruch und Ärger adäquat abzureagieren, erblickte bastiaan in der Rigidität eines Überich, das die starre Einhaltung von «Gesetz und Ordnung» verlange und damit ein Verhalten erzwinge, das auf Biegen und Brechen eine unauffällige Anpassung gewährleisten solle. (Vgl. wolfgang meyer – volker-e. kollenbaum: Essentielle Hypertonie, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 195–196.) Auf diese Weise fühlt ein Hy-

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pertoniker sich auch in äußerlich unbedrohlichen Situationen einem erheblichen Druck ausgesetzt. Man wird eine Persönlichkeit, die sich ausgesprochen schwertut, mit alltäglichen Lebenssituationen zurechtzukommen, psychoanalytisch zweifellos als «neurotisch» bezeichnen und ihr Leiden an der (Um)Welt als «funktionalen Leidensdruck» interpretieren, doch eben: eine Form, diesen Druck zu erleben, stellt sich dar als «essentieller Bluthochdruck». Eine ganze Weile lang mag eine neurogene (bzw. psychogene) Hypertonie als medizinisch (organisch) für unbedenklich gelten; doch das muß so nicht bleiben. Wie gesagt, führt in einer «Notfallreaktion» die Adrenalinausschüttung aus dem Nebennierenmark zu einer Erhöhung des Herzzeitvolumens – der systolische Blutdruck wird erhöht. Indem aber bei anhaltendem Ärger vor allem das Angriffshormon Noradrenalin vermehrt ausgeschüttet wird, verengen sich die Blutadern, der Strömungswiderstand im Kreislaufsystem steigt, und damit wird auch der diastolische Blutdruck erhöht. Die Herzkranzgefäße werden spastisch verengt, die Herzdurchblutung nimmt ab – und das in einer Situation, in der das Herz durch den erhöhten Sympathicotonus gerade zu einer vermehrten Förderleistung angetrieben wird. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 61– 63.) Zusätzlich zu all dem erhöht Streß auch noch die Gerinnungsfähigkeit des Blutes, so daß es zu einer Thrombose (griech.: der thrómbos – Klumpen), zur Bildung eines «Blutpfropfens», in den Koronararterien kommen kann. Chronische Durchblutungsstörungen können zu Verkalkungen der Gefäße führen – es bilden sich arteriosklerotische Plaques, welche die Gefahr mit sich bringen, daß beim Zusammenziehen der Gefäßmuskulatur sich die Blutgefäße immer wieder ganz verschließen: – es kommt zu einer transienten (lat.: transire – übergehen, vorübergehen) Ischämie (griech.: íschein – zusammenhalten, das haíma – Blut); Angina pectoris (lat.: angare – beengen, zusammenschnüren; das pectus – Brust) mit den charakteristischen Herzschmerzen («wie ein Ring um die Brust») kann die Folge sein. (Zur koronaren Herzkrankheit auf Grund von Minderdurchblutung und Minderversorgung mit Sauerstoff sowie zur Angina pectoris vgl. friedhelm lamprecht: Spezielle Psychosomatik, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 135 –137.) Im Falle arteriosklerotische Gerinnsel sich von der Gefäßwand lösen, drohen sie das Gefäß auf Dauer zu verstopfen, so daß Teile des Herzmuskels nicht mehr mit Blut versorgt werden; es kommt dann zu dem gefürchteten Herzinfarkt (lat.: infarcire – hineinstopfen). (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 53.) Mit einem Wort: eine essentielle Hypertonie kann zu wirklichen Organschäden führen und lebensgefährlich werden.

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Die Ursache der essentiellen Hypertonie kann man in eine direkte Verbindung zu der Erhöhung des Sympathicotonus setzen. Es zeigt sich nämlich, daß zwischen «der Impulsfrequenz in den postganglionären Sympathikusneuronen (etwa 2– 8/Sek.) und dem für den Blutdruck maßgeblichen Fließwiderstand in den Blutadern . . . eine annähernd lineare Beziehung» besteht. (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 63) Und nicht nur die Sympathicusaktivität (die Impulsrate der postganglionären Sympathicusneuronen) ist erhöht, auch die Signalübertragung zwischen den postganglionären (noradrenergen) Sympathicusneuronen auf die glatten Gefäßmuskeln ist verbessert. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß «nur etwa 80% des freigesetzten Noradrenalins durch molekulare Pumpen in die Speicherbläschen zurückgepumpt werden. Die restlichen 20 % müssen durch Neusynthese ersetzt werden». (johann caspar rüegg: A. a. O., 64) Bei der Synthese von NA aber ist in einem ersten Schritt (bei der Bildung von L-Dopa aus Tyrosin) die Tyrosin-Hydroxylase das entscheidende (das «geschwindigkeitbestimmende») Enzym (vgl. Bd. I 245– 247); ihre Aktivität kann gesteigert werden, wenn an einer bestimmten Stelle eine Phosphatgruppe angehängt wird; – und genau das geschieht unter Streß: Bei einer chronischen Sympathicusaktivierung wird von den präganglionären Nervenendigungen neben Acetylcholin (ACh; vgl. Bd. I 237– 238; 249– 252) auch das Neuropeptid Y (NPY; vgl. Bd. I 236; 582– 583) freigesetzt, das in den postganglionären Neuronen eine vermehrte Bildung von cyclischem Adenosinmonophosphat (cAMP; vgl. Bd. I 230– 232) bewirkt; cAMP wiederum aktiviert eine Proteinkinase, die eine Phosphatgruppe von Adenosintriphosphat (ATP) auf die Tyrosin-Hydroxylase überträgt, so daß deren Enzymaktivität durch die Phosphorylierung erhöht wird (vgl. Bd. I 295). (Vgl. johann caspar rüegg: A. a. O., 64.) Dieser «sinnreiche Regulationsmechanismus (ist) nicht allein in den sympathischen Ganglien verwirklicht», sondern auch bei den adrenergen Neuronen des Zentralnervensystems – hier vor allem in den Kerngebieten des Hirnstamms. «Infolgedessen ist auch im Gehirn die Tyrosinhydroxylase-Aktivität – und damit die zerebrale adrenerge Signalübermittlung – bei Stress langfristig verstärkt.» (johann caspar rüegg: A. a. O., 64) Ja, das cAMP steigert als Second Messenger zudem die Expression des Hydroxylase-Gens im Zellkern, so daß die Anzahl der Enzymmoleküle in den Nervenzellen noch zunimmt (vgl. Bd. I 297). Eben dadurch kommt es, daß bei jedem Nervenimpuls an den sympathischen Nervenendigungen bei Streß vermehrt NA ausgeschüttet wird. (Vgl. johann caspar rüegg: A. a. O., 65.) Beides tritt jetzt also zusammen: eine Erhöhung der Transmitterfreisetzung

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an den postganglionären, noradrenergen Sympathicusneuronen und eine Erhöhung der Syntheserate des NA, was beides zu einer verbesserten Signalübertragung von den postganglionären Neuronen auf die glatten Gefäßmuskeln führt. Die Wirkung ist klar: es kommt zu einer Konstriktion (lat.: constringere – zusammenschnüren; einer Verengung) der Gefäßmuskulatur. Zudem beginnen die Gefäßwände sich unter der andauernden sympathicotonen Überbeanspruchung zu verdicken, – die Folge ist eine Hypertrophie (eine «Überernährung», von griech.: hypér – über, die trophe¯ – Ernährung), und leicht bildet sich auf diese Weise ein gefährlicher Rückkopplungseffekt: die verdickte Gefäßmuskulatur zieht unter verstärkter Sympathicusaktivität und unter dem Einfluß des Noradrenalin die Gefäße noch kräftiger zusammen, und das wiederum treibt die Hypertrophie voran, mit dem Ergebnis, daß die Blutgefäße immer enger werden, daß der Strömungswiderstand in den Adern immer größer wird und daß der Blutdruck weiter ansteigt. Außerdem regt eine vermehrte Sympathicusaktivität in den Nieren die Synthese des Enzyms Renin an, das seinerseits – wie wir schon wissen (vgl. Bd. I 190) – die Produktion des Peptids Angiotensin II katalysiert. Angiotensin II trägt an sich schon erheblich dazu bei, den Blutdruck zu erhöhen; darüber hinaus aber bewirkt es, daß die Nebennierenrinde vermehrt das Hormon Aldosteron ausschüttet, von dem wir schon hörten (vgl. Bd. I 190), daß es die Harnausscheidung hemmt, wodurch das Blutvolumen und somit der Blutdruck zunimmt. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 63.) All diese Mechanismen verfolgen ohne Zweifel den «Sinn», den Organismus möglichst auch an die Anforderungen von langanhaltendem Streß anzupassen; unter Dauerstreß aber muß eine erhöhte Sympathicusaktivität zu einer essentiellen Hypertonie führen; unklar ist jetzt allerdings noch, wie es zu der Steigerung der Sympathicusaktivierung an sich kommt. Wenn wir uns noch einmal in Abb. A 16 die schematische Darstellung der Formatio reticularis anschauen, so finden wir in den motorischen Kerngebieten der Hirnnervenkerne IX und X die vegetativen Koordinationsgebiete für Blutdruck, Herztätigkeit und Gefäßweite. Genaugenommen liegt das sogenannte Kreislaufzentrum im unteren Hirnstamm (in der rostro-ventro-lateralen Medulla oblongata, in der RVLM-Region) und wird direkt durch die präganglionären Sympathicusneuronen im Rückenmark erregt; – hier bietet sich nun wieder eine «kybernetische» Erklärung an: Liegt der Blutdruck oberhalb eines bestimmten Sollwerts, so wird reflexartig die Aktivität der RVLM-Region gedrosselt, indem die Blutdruckfühler (die Barorezeptoren, BA, von griech.: das báros – Schwere, lat.: der receptor – Empfänger) in der Halsschlagader über die

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aufsteigenden Nervenstränge des IX. und X. Hirnnervs (vgl. Abb. A 7) Neuronen im sogenannten Nucleus tractu¯s solitarii (NTS, lat.: Kern des Solitärbündels; – im Solitarius-Kernkomplex endigen die visceroafferenten Fasern, die den Geschmackssinn – der als Eingeweidesinn betrachtet wird – vermitteln und über den VII., IX. und X. Hirnnerv in den Hirnstamm gelangen) aktivieren, die ihrerseits die blutdrucksenkenden Neuronen in der sogenannten caudalen-ventro-lateralen Medulla oblongata (CVLM) aktivieren; die wiederum hemmen die Aktivität der Sympathicusneuronen im RVLM, die ihrerseits über absteigende Bahnen den Sympathicotonus der präganglionären Sympathicusneuronen in Brust und Lendenmark (PR) festlegen. Das Ergebnis: Der Sympathicotonus und der Blutdruck werden reflektorisch gesenkt. Zudem aktiviert eine Erregung der Barorezeptoren (BA) und des Nucleus tractu¯s solitarii (NTS) den Vaguskern (X) in der Medulla oblongata, der eine Senkung der Herzfrequenz bewirkt. Von besonderer Bedeutung für eine Betrachtung psychosomatischer Zusammenhänge ist die Tatsache, daß der NTS auch über absteigende Bahnen aus dem Hypothalamus aktiviert oder gehemmt werden kann (vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 65 –66; alfred benninghoff – detlev drenckhahn: Anatomie, II 355 –356); denn vom Hypothalamus wissen wir ja bereits, wie entscheidend er in die Mechanismen der Streßachse eingebaut ist (vgl. Abb. B 112; B 117; B 118; B 120). Abb. C 1 versucht, schematisch die Regulation von Blutdruck und sympathischem Gefäßtonus in der Medulla oblongata (Schnittebene A und B) und im Rückenmark (Schnittebene C) durch den Barorezeptorreflex darzustellen. Über diesen Mechanismus werden größere Blutdruckschwankungen wirkungsvoll vermieden. Freilich ergibt sich bei der Sollwerttheorie des Blutdrucks eine ähnliche Schwierigkeit wie bei der Erklärung der Regulation des Körpergewichts mit Hilfe eines Sollwerts: bei chronischem Bluthochdruck scheint der Sollwert nach oben verschoben zu werden, und zwar wohl deshalb, weil die Barorezeptoren an der Gabelung der Halsschlagadern (im Sinus caroticus, lat.: der sinus – Krümmung, griech.: die karo¯tís – Schlagader) und in der Aorta (griech.: der aorte¯r – Gehenk, Körperschlagader), der zentralen großen Körperschlagader, sich binnen einer Woche an einen erhöhten Blutdruck anpassen und in der Folgezeit weniger sensibel reagieren; es könnte aber auch sein, daß die Erhöhung des Sollwerts für den Blutdruck dadurch zustande kommt, daß im Kreislaufzentrum eine fehlangepaßte neuronale Verschaltung die eigentlich rasche und energische Gegensteuerung des Barorezeptorreflexes verhindert. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 65.)

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Abb. C 1: Der Barorezeptorreflex (S steht für sympathisches Ganglion mit postganglionärem Neuron – PGN –, E bedeutet Effektororgan, z. B. die glatte Muskulatur der Blutgefäße.)

Der NTS kann nun nicht nur durch den Hypothalamus als «übergeordnete» Hirnstruktur gehemmt werden, sondern auch durch die Amygdala und durch das Zentrale Höhlengrau. So geschieht es bei Furcht- und Fluchtreaktionen, bei Kampf und Ärger, bei Streß und Frustration. «Dann nämlich werden die NTSNeurone, die den Barorezeptorreflex vermitteln, durch Nervenfasern gehemmt, die, vom Zwischen- und Mittelhirn her kommend, zum verlängerten Rückenmark absteigen.» (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 67; vgl. k. michael spyer: Central nervous mechanisms

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contributing to cardiovascular control, in: Journal of Physiology, 474/1994, 1–19.) Kein Wunder deshalb, daß franz alexander (Psychosomatische Medizin, 1951) für Tachykardie (griech.: tachýs – schnell, die kardía – Herz; stark beschleunigte Herztätigkeit, Herzjagen) und Arrhythmie «hauptsächlich chronisch freiflottierende Angst und verdrängte Feindseligkeitsantriebe» verantwortlich machte. (othmar w. schonecke – jörg michael herrmann: Das funktionelle kardiovaskuläre Syndrom, in: Th. von Uexküll u. a.: Lehrbuch der psychosomatischen Medizin, 467) Wie stark der psychogene Faktor bei Herzjagen, Herzschmerzen, Tachykardien und Herzrhythmusstörungen sich bemerkbar machen kann, zeigt sich auf geradezu brutale Weise bei Panikattacken, die mit Herzangst oder Herzphobie einhergehen; leicht kommt es dabei zu einer Angst vor der Angst: es genügt, an eine Unregelmäßigkeit der Herzfunktion auch nur zu denken, und schon beginnt das Herz zu «rasen» oder zu «stolpern»; Blutdruckmessungen sind bei einem solchen Erleben nicht länger «korrekt» durchzuführen, da die Angst vor einem «bedenklichen» Ergebnis durch sich selbst ein Resultat erzeugt, das Gefahr signalisiert. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 67–68.) Doch es muß nicht so sein, daß Angst «aufregt», also über den Sympathicus Reaktionen in Richtung eines «Bewegungssturms» veranlaßt; auch das Umgekehrte ist möglich: eine Aktivierung des Parasympathicus – der «Totstellreflex», die Hypotonie. Wir hörten schon, daß vor allem noch junge Tiere dieses Verhalten «wählen», wohl mit dem evolutiven Nutzen, von möglichen Angreifern unentdeckt zu bleiben (vgl. Bd. I 631); doch generell wenn der sympathicotone Spielraum ausgeschöpft ist, tritt das parasympathische Reaktionsprogramm auf den Plan; es kommt zu einer Vaguspräponderanz (lat.: zu einem Übergewicht des Vagusnervs); der Eindruck, daß ohnehin «nichts mehr zu machen» ist, führt zu einer Angststarre. «Aus psychologischer Sicht», meint nossrat peseschkian (Psychosomatik und positive Psychotherapie, 283), «ist die Ohnmacht als Schutzreaktion aufzufassen. Reflexartig entzieht sich der Mensch einer unerträglichen Spannungssituation. Wir interpretieren die Hypotonie . . . als Fähigkeit, mit seinen Kräften sehr sparsam umzugehen und auf äußeren Druck mit einer Blutdrucksenkung zu reagieren.» Doch wie geschieht das? Neurologisch läßt sich ein Zustand der Angst- oder Schutzstarre zum Beispiel bei jungen Kaninchen durch Stimulation bestimmter Strukturen des Großhirns (des Inselcortex, des Gyrus cinguli und der Amygdala) bzw. der «depressorischen Zone» des Hypothalamus auslösen; denn die Stimulation

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dieser Hirnregionen führt über absteigende Nervenstränge zu einer Erregung des Nucleus tractu¯s solitarii (NTS); und wie es dann weitergeht, haben wir gerade gehört: es wird der Vaguskern in der Medulla oblongata aktiviert sowie die caudale-ventro-laterale Medulla oblongata (CVLM), die ihrerseits den Sympathicus hemmt. Eben diese Prozesse im Hirnstamm bieten allem Anschein nach denn auch die Erklärung für die Ohnmachtsanfälle mancher Menschen, in denen die «Vaguspräponderanz» zu einem plötzlichen Absinken des Blutdrucks und zu Bewußtseinsverlust führt. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 68.) In psychoanalytischer Sicht können solche Ohnmachtsanfälle recht verschiedener psychogener Herkunft sein: bei einem Depressiven ist tatsächlich das Gefühl der «Ohnmacht» und ein Wunsch nach Schlaf und Tod («nichts mehr sehen und hören») vorherrschend; ein Zwangsneurotiker aber zum Beispiel mag beim Anblick von Blut sich vor seinen latenten sadistischen Triebimpulsen durch eine vorübergehende Bewußtlosigkeit schützen, während eine Hysterikerin, die ohnmächtig ihrem Geliebten in die Arme sinkt, offenbar zu einem Kompromiß zwischen Triebwunsch und Triebunterdrückung (zwischen Es und Überich) nur um den Preis einer (symbolischen) Symptombildung zu gelangen vermag. Deutlich ist in all diesen Fällen, wie stark unser Herz seelisch beeinflußbar ist. Insgesamt läßt sich jetzt ein zusammenfassendes Bild über die Wechselwirkung von Psyche und Soma, von Gehirn und Herz, von Angst und «Herzverengung» zeichnen. In Erinnerung rufen wir uns noch einmal das NoradrenalinSystem im Gehirn, dabei vor allem die Rolle des Locus coeruleus (lat.: des himmelblauen Ortes), und betrachten die Projektionsbahnen, die von dort zur Stirnhirnrinde ziehen (vgl. Abb. A 13). Experimente mit Schweinen im Jahre 1996 zeigten, daß eine Blockade der Nervenleitungen vom präfrontalen Cortex zur Amygdala, zum Hypothalamus und zu den Kernregionen des Sympathicus im Hirnstamm Herzjagen und Arrhythmien der Herzkammern verhindert (james e. skinner: Cerebral autonomic regulation underlying cardiovascular disease, in: David Robertson u. a.: Primer on the Autonomic Nervous System, 153 –156); der Umkehrschluß lag nahe, daß bestimmte Regionen des Frontallappens Herzrhythmusstörungen und Herzkammerflimmern auslösen, und in der Tat ließ diese Folgerung sich experimentell durch elektrische Reizungen der entsprechenden Areale bestätigen. Nun sollte man denken, daß NA und Adrenalin im präfrontalen Cortex in etwa die gleiche Wirkung wie eine elektrische Stimulation erzielen. Das Noradrenalin aus den Neuronen im Locus coeruleus wird entlang den noradrenergen Bahnen in alarmierenden Situationen an die Nervenzellen des Stirnhirns abgegeben; die exzitatorische (also depolarisieren-

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de) Wirkung des NA steigert die Reizbarkeit der präfrontalen Cortexneuronen: die Aufmerksamkeit, die Vigilanz, die «Nervosität» sind deutlich erhöht; und wieder kann es bei häufigem Angst- und Wuterleben oder bei chronischem Streß zu einem Teufelskreis kommen, indem das noradrenerge System sich an die Dauerbelastung anpaßt. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 69 –70.) Wir hörten soeben, wie bei Streß das geschwindigkeitsbestimmende Enzym für die Herstellung von NA, die Tyrosin-Hydroxylase, in seiner Effizienz durch Phosphorylierung gesteigert und sogar noch vermehrt synthetisiert wird; auf diese Weise wird die Signalübertragung vom Locus coeruleus zum präfrontalen Cortex selbstredend verbessert (das gleiche gilt auch im Hippocampus). Das Ergebnis ist nicht nur ein erhöhter Sympathicotonus – mit den entsprechenden Folgen für die Herzfunktion –, sondern auch eine erhöhte Menge von NA im Stirnhirn. Dadurch wird bei Dauerstreß die Schwelle für alarmierende oder schmerzhafte Reize gesenkt: es genügt, daß etwas als ungewohnt erscheint, und es löst neuerlich Angst aus; Schmerzen, die «an sich» noch erträglich wären, steigern sich ins Unerträgliche; die ängstliche Wachsamkeit (die Vigilanz) ist erhöht; Schreckhaftigkeit und Hektik sind die Folgen; es fällt unter solchen Umständen schwer, noch ruhig seine Gedanken zu ordnen oder etwas Neues dem Gedächtnis einzuprägen. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 70.) Mit einem Wort: Dauernde Angst erzeugt Ängstlichkeit, und die Ängstlichkeit erzeugt Angst, und je länger dieser Zustand anhält, desto schwerer wird es, aus diesem Kreislauf herauszukommen. Abb. C 2 gibt eine schematische Übersicht der komplizierten Wechselwirkungen zwischen Angst, Ärger und Bluthochdruck. Insbesondere drängen sich gerade die Symptome von Funktionsstörungen des Herzens der subjektiven Beobachtung förmlich auf und können leicht durch eine «dramatische» Deutung den Teufelskreis von Herz und Angst und Angst und Herz weiter antreiben: «Man ‹hat› die Angst . . . auch über den Körper und über das Körpererlebnis», schrieb paul christian (Herz und Kreislauf, in: V. E. Frankl u. a.: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, II 511) und zählte auf: «Oppression (sc. Herzdruck, Beklemmung, von lat.: opprimere – niederdrücken, bedrängen, d.V.), Herzklopfen, Dyspnoe (sc. Atemnot, griech.: dys – schlecht, die pnoe¯ – Atem, d.V.) bis zu maximalem Lufthunger, würgendem Gefühl und Trockenheit im Hals, schmerzhafte Herzbeklemmung und ‹rasendes Herzklopfen bis zum Hals hinauf›. Das Beklemmungsgefühl kann auf der Höhe der Angst nicht von akuter Atemnot unterschieden werden: das Körpergeschehen der Angst umfaßt Herz und Atmung

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Abb. C 2: Wechselwirkungen zwischen Angst, Ärger und Bluthochdruck (Coping, von engl. to cope – fertig werden mit, bezeichnet die Art der Krankheitsbewältigung)

gleichermaßen . . . Daß die akute Bedrohung dieser elementaren Lebensäußerungen (sc. Atmung und Kreislauf, d.V.) Todesangst auslöst, ist ebenso evident, wie Herz und Atmung auch die bedeutendsten Verkörperungsweisen der Angst sind.»

β) Psychologische, pharmazeutische und religiöse Komponenten Hat man die Schädlichkeit von dauerndem Streß, wie Tierversuche sie demonstrieren und wie Menschen sie bei sich selber beobachten können, erst einmal vor Augen, so muß man sich nachgerade wundern, wie lange – trotz allen besseren Wissens im «Volke» – eine psychosomatische Sicht auf unser «schlichtes Herz», wie gustave flaubert (1821–1880) seine Erzählung über eine unglückliche Dienstmagd betitelte, von der «Schulmedizin» im Namen der «Wissenschaft» ignoriert werden konnte; noch mehr freilich muß es erstaunen, mit welch einer «Risikobereitschaft» (oder doch eher ahnungslosen Blindheit, wo

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nicht menschenverachtenden Gleichgültigkeit) wir gerade dabei sind, den Streßfaktor in unserer «Kultur» immer weiter zu verstärken. (Vgl. hans selye: Stress, 85 –87.) In seinem populären Buch Phänomen Streß wies frederic vester (1925 –2003) bereits vor 30 Jahren auf die Fülle zivilisatorischer («hausgemachter») Streßauslöser hin, als da sind: Straßenverkehr, Streß im Beruf (vgl. a. a. O., 154–159), die Menschendichte der Großstadt, der Zusammenhang von «Ehrgeiz, Angst und Prestige» (vgl. a. a. O., 136 –142), die «Lärmverseuchung» (vgl. a. a. O., 160–173) u. a.m. Natürlich wußte er damals schon «Arbeitsbedingungen» vorzuschlagen, «die Milliarden sparen» (a. a. O., 189 –193); doch obwohl wir alles das wissen, erlauben wir es einer «globalisierten» Wirtschafts- und Finanzwelt, ungehemmt immer größere Menschengruppen unter immer größeren Zeitdruck, Leistungsdruck, Konkurrenzdruck, Expansionsdruck und unter einen permanenten Angstdruck zu setzen – unter die Angst vor der Chancenlosigkeit, unter die Angst vor dem Scheitern, unter die Angst vor dem sozialen Exil, unter die Angst vor Mangelversorgung im Krankheitsfall, unter die Angst vor dem Altern, – unter die Angst vor dem Nichts. Teilt man die Menschen in drei Typen ein: in die Sympathicotoniker (A), die Vagotoniker (B) und die Indifferenten (die Amphotoniker C), so scheint unsere Welt derzeit von einer Oberschicht aus C-Typen – etwa 10% der Bevölkerung – «regiert» zu werden, die ihre seelische Kälte dazu benutzen, den Rest der Menschheit in A- und B-Typen zu verwandeln, das heißt in solche, die «es wissen wollen», und in solche, die wissen, daß sie «es» niemals (mehr) «schaffen» werden. Schon in der Schule favorisieren wir – zumindest entsprechend den ministeriellen Vorgaben – eindeutig den A-Typ. vester (Phänomen Streß, 111) beschrieb ihn so: «aktive, agile, ehrgeizige, dynamische Menschen, die oft gegen den Widerstand der Umgebung und in möglichst kurzer Zeit viel erreichen wollen. Man kann bei diesen Personen auch von einer chronischen Parforce-Stimmung (sc. franz.: par force – mit Gewalt, heftig; Treibjagd, d.V.) sprechen. Dieser Typ nimmt besonders in den Großstädten ständig zu, es gehören ihm immer jüngere Jahrgänge an, und er zeigt eine hohe Rate an Herzkranzgefäß-Erkrankungen . . . Wie man sich ausrechnen kann, ist Typ A derjenige, der ein extremes Gefühl dafür besitzt, daß Zeit Geld ist. Er legt außerordentlichen Wert auf Pünktlichkeit, kommt selbst nie zu spät, versucht ständig, seine Zeit zu nutzen, und hinkt im Grunde doch immer hinterher. Bei diesem Konflikt mit der Zeit akzeptiert er weder eine Niederlage noch einen Kompromiß.» Psychoanalytisch betrachtet, muß ein solcher «Typ» als durch und durch zwangsneurotisch erscheinen (während man den B-Typ als «depressiv» und den C-Typ als «schizoid» ansprechen könnte); dann aber stellt sich unsere gesamte «Kul-

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tur» als seelisch krank dar, und die Zunahme psychosomatischer Herzerkrankungen mutet geradewegs als eine «gerechte» Strafe für die Herzlosigkeit unseres Lebensstils an. In Deutschland leiden etwa 6 –8 Mio. Menschen an Hypertonie – das sind etwa 10% der Erwachsenen; in den USA sollen es 25 % der Männer und 46% der Frauen über dem 60. Lebensjahr sein. (Vgl. friedhelm lamprecht: Spezielle Psychosomatik, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 133; nossrat peseschkian: Psychosomatik und positive Psychotherapie, 280.) Um so mehr freilich stellt sich die Frage, wie man den betroffenen Menschen, die in aller Regel die zwangsweisen Opfer unseres vermeintlich so «freien» Systems sind, zu helfen vermag. Geduld, Stärkung des Selbstbewußtseins, glückliche Partnerschaft, verringerte Abhängigkeit von Bezugspersonen, freudvolle Beschäftigungen – all diese Mittel (oder Zielvorstellungen) sind gewiß hilfreich, um chronischen Streß abzubauen. (Vgl. nossrat peseschkian: Psychosomatik und positive Psychotherapie, 286 –287.) Was aber, wenn bereits die ganze Kindheit unter die Leistungserwartungen der Gesellschaft gestellt wurde, vermittelt von Eltern, die eigentlich nur wollten, daß ihr Kind es «besser» habe als sie selbst? «Mit Gewalt», schrieb frederic vester (Phänomen Streß, 213) über den Erziehungsstil unserer Leistungsgesellschaft, «werden Kinder aufs Töpfchen gesetzt. Mit Gewalt werden die Kinder wildfremden Personen auf den Schoß gesetzt und die natürliche Barriere und die allmähliche Annäherung . . . zerbrochen. Mit Gewalt preßt die Schule langweilige, uninteressante Begriffe, Daten und Fakten in unseren Kopf, ohne uns in deren Bezug zur Wirklichkeit einzuführen. Mit Gewalt werden sogenannte Außenseiter zum Konformismus gezwungen, ohne daß man jemals bewiesen hätte, welche Norm eigentlich normal ist. Und mit Gewalt werden schließlich Konflikte zwischen menschlichen Gruppen und Staaten ausgetragen.» Unter solchen Umständen muß man wohl achthaben, daß individuell so empfehlenswerte «Ratschläge», wie Entspannung, Erholung, Urlaub, Besinnlichkeit, kreative Pausen, Abschalten, Meditation, Beschäftigung mit «zweckfreien» Inhalten in Spiel und Sport, in Kunst und Wissenschaft, nicht sogleich zu einem «Reparaturdienst» hinter den «Frontlinien» des inneren Nervenkriegs oder des äußeren Kriegs aller gegen alle verkommen, sondern daß den Ansprüchen einer «biopsychosozialen Medizin» wirklich Genüge getan wird. Dann aber stellt sich die Herausforderung, zumindest in der Seele einzelner die frühkindlichen Erlebnisse von Angst und Zwang durch günstigere Erfahrungen zu korrigieren, die Starrheit des Charakteraufbaus aufzulockern, die erlernten Interpretationsschemata der «Wirklichkeit» in ihrer automatisierten

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Einseitigkeit bewußtzumachen und nach und nach durch alternative Deutungen zu ersetzen. Wie schwierig sich diese Aufgabe gestalten kann, dafür ein Bild. In dem kleinen Tierpark von Olderdissen (bei Bielefeld) läßt sich seit dem Jahr 2000 ein trauriges Beispiel für die Folgen einer in Angst und Unfreiheit verbrachten Tier-Kindheit beobachten: Die Braunbärin Alma sieht man dort stundenlang auf einer kleinen Betonplattform in einem linksgedrehten Kreise sich bewegen, immer wieder, immer wieder; der Radius ihres Aktionsraums mißt etwa einen Meter; – zwei Jahrzehnte lang wurde das Tier in einem Käfig gehalten, der kaum zwei mal zwei Meter groß gewesen sein dürfte. Am meisten erschrecken muß die komplette Unfähigkeit des Tieres, zu merken, wo und wie es sich seit Jahr und Tag wirklich befindet. Bereit gestellt hat man der Bärin (und noch einem zweiten Tier) ein Gehege, das anmutet wie ein schuldbewußter Wiedergutmachungsversuch für all das, was Menschen ihr angetan haben: Wiesen, Bäume und Felsen sieht man da, einen Wasserfall, der einen See speist – alles in dieser Anlage scheint wie geschaffen, einen Ort in Alaska oder sonstwo auf Erden nachzubilden, an dem ein «richtiger» Bär glücklich sein könnte. Doch all die verinnerlichte Angst, die zur Gewohnheit erstarrte Qual der Gefangenschaft, die Abstumpfung völliger Einsamkeit haben sich in Almas Seele zu jenem unentrinnbaren Kreisgang verdichtet, bei dem das Vergangene die Gegenwart versperrt, die Erinnerung die Wahrnehmung, das Erlittene das Erlebbare. Und wohl niemand kann diese Bärin betrachten, ohne an all die gemarterten Tiere, ohne an all die «neurotischen» Menschen zu denken, die dazu verurteilt scheinen, ganz ähnlich wieder und wieder im Kreise zu laufen, ständig das alte Unglück erneuernd, ständig das Martyrium totaler Entfremdung wiederaufführend. Wie ersetzt man einem Tier, einem Menschen eine ganze verlorene Kindheit, wie öffnet man einem verfälschten Leben den Blick auf eine andere, eine neue Wirklichkeit, wie hellt man die Umdüsterung der Seele auf, wie heilt man den Prozeß einer Zerstörung, die – links herum, links herum, gegen den Uhrzeigersinn – alles zermahlt und zermalmt? Wie es in allem Erleben der Angst notwendig ist, ein tragfähiges Vertrauen zu begründen, so ist es bei allen Formen funktionaler Herzstörungen aus Angst, Wut und Streß unerläßlich, Hoffnung zu schaffen. Wie aber, wenn angesichts der «Wirklichkeit» die Lage auch dem behandelnden Arzt als ebenso aussichtslos erscheinen muß, wie sie subjektiv vom Patienten empfunden wird? Wie, wenn wirklich «nichts mehr zu machen» ist? Wie, wenn die Erkenntnis dieses Grenzpunkts aller irdischen Handlungsmöglichkeiten sich dem menschlichen Bewußtsein als eine stets gegenwärtige Grundtatsache unserer Existenz auf-

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drängt? Dann bekommt alle Therapie des menschlichen Herzens erneut eine im letzten religiöse Dimension. Eigenartigerweise haben die alten Völker und Kulturen seit eh und je gewußt, daß unser Herz mehr ist als ein bloßer Muskel. Von der «Weite des Herzens» (von der 3w.t jb) sprachen die Alten Ägypter, wenn sie das Erleben von Freude und Frohmut bezeichnen wollten. (rainer hannig: Großes Handwörterbuch Ägyptisch – Deutsch, S. 4) Vor 4000 Jahren an den Ufern des Nils galt alles Körperliche als ein Bild, als eine «Hieroglyphe», die außer sich selbst noch ein ganz anderes bedeuten konnte, das in ihm anklang. Wie von selber dachte und fühlte man «psychosomatisch». Nicht zuletzt hat sich besonders in der katholischen Kirche ein regelrechter Kult des «Heiligen Herzens» (Jesu) gebildet, in dem sich überdeutlich die Sehnsucht nach einer liebevolleren, ruhigeren, zärtlicheren Welt ausspricht, als es die gegenwärtige ist. Theologisch begründet wurde die Verehrung und das Fest des Heiligen Herzens Jesu von dem Theologen jean eudes (1601–1680), doch zu großer Beliebtheit gelangte der Kultgedanke erst durch die Visionen der französischen Visitandinnen-Nonne marguerite-marie alacoque (1647– 1690) in den Jahren 1673 bis 1675; eine eigene Messe für das Fest genehmigte Papst clemens xiii. (1758 –1769) im Jahre 1765; pius ix. (1846 –1878), berühmt-berüchtigt für seinen Konservativismus, sowie leo xiii. (1878 –1903), der eher als «Reformpapst» in die Geschichte einging, dehnten den Umfang der Herz-Jesu-Verehrung noch aus; feierlich weihte im Jahre 1899 der letztere die ganze Menschheit dem Heiligen Herzen Jesu; von pius x. (1903 –1914) an bis zu pius xii. (1939 –1958) «gab es eine Kampagne, die Aufstellung oder ‹Inthronisierung› des Heiligen Herzens zu Hause zu fördern». (Das Oxford-Lexikon der Welt-Religionen, 403) Im Wege stand der Verehrung des Herzens Jesu nicht seine den Kitsch streifende Ikonographie (ein Heiland, der ein entflammtes, von einem kleinen Kreuz und einer Dornenkrone bedecktes Herz auf seiner Brust trägt und zur Schau stellt), sondern eher eine gewisse Konkurrenz zur Verehrung der «Mutter Gottes»; denn während sich mit dem «Herzen» Jesu der Gedanke an Sühneleid, Opfertod und Wiedergutmachung der Sünden verband – lauter Inhalte, die wirklich bis zum Krankheitswert das Herz eines Gläubigen belasten können –, verknüpfte sich mit dem Kult der Madonna die Sublimation der Sexualität in die Höhen himmlischer Reinheit sowie ein kindliches Vertrauen in den fürbittenden Schutz einer Frau, welche am Throne Gottes ihren mütterlichen Einfluß zugunsten der Bittstellenden machtvoll einzubringen versprach. So oder so scheint die «Volksfrömmigkeit» in der Neuzeit zunehmend auf

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die Suche zu gehen nach einem «Herzen», das die pathogene Herzlosigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft in unseren Tagen durch eine Art vergöttlichter Barmherzigkeit kompensiert. Denn, wie karl rahner (1904 – 1984) schrieb: «Daß das Innerste der personalen Wirklichkeit Liebe ist und die Liebe tatsächlich das Innerste, das erfährt der Mensch erst in der Erfahrung des Herzens des Herrn.» («Siehe dieses Herz!» Prolegomena zu einer Theologie der Herz-Jesu-Verehrung, in: Schriften zur Theologie, III 386) Als ein «Urwort» sei der Begriff «Herz» «einer eigentlichen Definition durch Zusammensetzung aus ‹bekannteren› Begriffen nicht zugänglich». (Einige Thesen zur Theologie der Herz-Jesu-Verehrung, in: A. a. O., III 391) Dann freilich behauptete rahner – typisch für die katholische Theologie bis heute und eben deshalb gefährlich falsch: «Nur die Person hat ein Herz (Tiere haben einen Herzmuskel)» (a. a. O., 396). Nachdem wir Seite um Seite gesehen haben, wie bis zum Tödlichen Angst und Streß Tieren in einer Weise ans Herz greifen, die uns allererst die Augen für das «Herzeleid» so vieler Menschen geöffnet hat, läßt sich im Namen einer «aufgeklärteren», weniger anthropozentrischen Religion nur eine Frömmigkeit begründen, die «ein Herz hat» gerade auch für die Tiere. Am Ende der religiösen Bildersprache steht das sichere Wissen des paracelsus, daß heilend allein die Liebe ist. Und wenn gleichwohl alle psychotherapeutischen und religiösen (seelsorglichen) Versuche einer «Herzensberuhigung» (einer Reduktion von Angst, Ärger und Streß) in der Praxis mißraten? Es sollte nicht immer die letzte (freilich auch nicht immer die erste und einzige) Wahl sein, mit Hilfe von Psychopharmaka den Ursachen einer «Herzneurose» zu Leibe zu rücken, und an dieser Stelle zweifellos kann heute bereits unser erweitertes neurologisches Wissen gute Dienste tun. (Vgl. othmar w. schonecke – jörg michael herrmann: Das funktionelle kardiovaskuläre Syndrom, in: Th. v. Uexküll u. a.: Lehrbuch der psychosomatischen Medizin, 473.) Die Frage lautet, wie man mit Hilfe von Psychopharmaka die übermäßige Wirkung von Adrenalin und NA verringern kann. Dieses Problem stellt sich, wie gesagt, nicht nur in Hinblick auf die Beta-Rezeptoren des Herzmuskels (im Gegensatz zu den Beta-2-Rezeptoren in der Muskulatur der Blutgefäße, an welche – wie wir schon wissen – überwiegend Adrenalin bindet und gefäßerweiternd wirkt, binden die Beta-1-Rezeptoren des Herzens Adrenalin und NA mit gleich großer Affinität); es entsteht auch in bezug zu den noradrenergen Neuronen im Stirnhirn. Mit Hilfe der bereits erwähnten Betablocker (vgl. Bd. I 705 –706) ist es möglich, die noradrenerge Übererregung des präfrontalen Cortex zu dämpfen und damit die Symptome der Reizbarkeit, Unruhe und

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ständigen Wachsamkeit (der «Unheilgewärtigung») abzubauen; zugleich schützen die Betablocker auf diese Weise mittelbar den Herzmuskel, auf den sie auch unmittelbar durch die Blockierung der Beta-Rezeptoren einwirken. Somit empfehlen die Betablocker sich nicht nur als sedierende Medikamente, sondern auch bei der ursächlichen Behandlung einer Herzinsuffizienz. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 70; 152; harald j. freyberger: Psychopharmakologische Therapie, in: E.-A. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 179–181.) Zudem kann die Signalübertragung an den adrenergen Synapsen im Gehirn, ganz wie im peripheren Sympathicus, auch durch eine negative Rückkopplung über sogenannte Autorezeptoren, wie wir sie aus Abb. A 65 kennen, reduziert werden. NA nämlich reagiert nicht nur mit den Beta-Rezeptoren an der postsynaptischen Membran der Zielzelle, sondern auch mit den sogenannten Alpha-2-Rezeptoren auf der präsynaptischen Membran; dadurch werden die Kaliumionen-Kanäle durchlässig, und der Ausstrom der positiv geladenen Kaliumionen wiederum repolarisiert, wie wir wissen, die Membran der erregten (depolarisierten) Nervenendigungen (vgl. Bd. I 212– 214); auf diese Weise wird eine weitere NA-Ausschüttung durch das negative Feedback gehemmt. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 70 –71.) Dieser Effekt läßt sich über die Wirkung von Psychopharmaka auf die synaptische Übertragung medikamentös beeinflussen. (Vgl. Abb. A 66.). Clonidin zum Beispiel bindet ebenfalls an Alpha-2-Rezeptoren und hemmt damit die NA-Ausschüttung; Yohimbin hingegen verhindert die Feedback-Hemmung, indem es NA ebenso wie Clonidin an den Alpha-2-Rezeptoren verdrängt – anders gesagt: es enthemmt den Locus coeruleus, mit der Folge einer Übererregung des Stirnhirns (auf Grund einer zu hohen NA-Freisetzung durch den «himmelblauen Ort») und einer Erhöhung des Sympathicotonus; bei Patienten, die bereits an einem Posttraumatischen Streß-Syndrom (PTSD, D = engl.: disorder – Störung) leiden (vgl. Bd. I 620), kann Yohimbin nicht nur Hypertonie bewirken, sondern auch Panikattacken auslösen. Wie gesagt, können Säugetiere wie Menschen buchstäblich sterben vor Angst; neurologisch spricht also manches dafür, daß Panikanfälle auf eine zu starke noradrenerge Aktivität des Locus coeruleus zurückzuführen sind. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 71.) Doch all das zu wissen – noch einmal sei es gesagt – ist nicht in sich schon heilend. Es war der schweizer Kardiologe frank nager (geb. 1929), der seine in einem ganzen Leben erlernte Weisheit als Arzt in einem den Dichtern und Philosophen gewidmeten Buche unter dem Titel Das Herz als Symbol (1993)

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zusammentrug. «Wir kennen», schrieb er, «das bebende, zitternde, in die Hosen rutschende Herz, das in Panik rasende Herz, die Herzensangst, die Herzensbeklemmung und -beengung, das Hasenherz, die bleischwere, auf dem Herzen liegende Last; aber als tapferes Aufbäumen gegen die Angst können wir uns auch ein Herz fassen oder es in beide Hände nehmen. Auch das, wovor das Herz sich besonders ängstigt, nämlich das Verlassensein, das Zerrissenwerden, das Brechen gehört zum eisernen Klischeebestand der Alltagssprache.» (A. a. O., 19) Kurz: das «Herz» ist der Sitz der Seele im Umgang mit allem, was Angst, Zuneigung und leidenschaftliches Fühlen ist. «Ich habe eigentlich ein so weiches Herz, und ich muß es immer hart machen, um mich einigermaßen abzugrenzen», sagte eine Frau einmal, um zu beschreiben, wie sie bei all ihrer (depressiv getönten) Hilfsbereitschaft am Arbeitsplatz zurechtzukommen suchte. «Das kalte Herz» nannte wilhelm hauff (1802 –1827) eines seiner berühmtesten Märchen, in dem er beschrieb, wie der arme Peter um äußeren Reichtums willen sein Herz gegen ein «steinernes Ding» verpfändet, das ihn vor manchem schützt, so daß er sich nie erzürnt, nie traurig ist, aber sich auch niemals wirklich freut, – «als wenn ich nur halb lebte». (Das Wirtshaus im Spessart, in: Märchen/Novellen, 308) Wie das menschliche Herz aus Unruhe und Leid schließlich auch ohne «Versteinerung» seinen Frieden zu finden vermag, hat der nordfriesische Dichter theodor storm (1817–1888) einmal in einem kleinen Gedicht beschrieben: Schließe mir die Augen beide Mit den lieben Händen zu! Geht doch alles, was ich leide, Unter deiner Hand zur Ruh. Und wie leise sich der Schmerz Well um Welle schlafen leget, Wie der leise Schlag sich reget, Füllest du mein ganzes Herz. (In: Werke, VI 2574)

So viel an «Erfüllung» zu schenken vermag bereits die Liebe zwischen zwei Menschen. Doch verbirgt (oder offenbart) sich in aller menschlichen Liebe stets ein Absolutes an Vertrauen und Güte. Was, ins Unendliche gesteigert, «Barmherzigkeit» und «Gnade» bedeuten, im Gegensatz zur Hartherzigkeit von «Recht» und «Gesetz», beschrieb william shakespeare (1564 –1616) in Der Kaufmann von Venedig (etwa 1595) in den Worten der Porzia:

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Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang: Sie träufelt wie des Himmels milder Regen Zur Erde unter ihr, zwiefach gesegnet: Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt; Am mächtigsten in Mächt’gen, zieret sie Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone! Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt, Das Attribut der Würd und Majestät, Worin die Furcht und Scheu vor Kön’gen sitzt. Doch Gnad ist über diese Zeptermacht, Sie thronet in dem Herzen der Monarchen, Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst, Und ird’sche Macht kommt göttlicher am nächsten, Wenn Gnade bei dem Recht steht! . . . Darum . . . erwäge dies: Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner Zum Heile käm; wir beten all um Gnade, Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten Auch üben lehren. (In: Sämtliche Werke, 182)

c) Psyche und Immunsystem α) Ein wenig über Streßhormone und Immunabwehr Doch nicht nur an einzelnen Organen (vor allem, wie gezeigt, am Herzen, aber auch an allen anderen Organen, auf die der Sympathicus einwirkt: an Lunge, Leber, Galle, Magen, Darm und Nieren) hinterlassen Angst und Ärger ihre Spuren; chronischer Streß schwächt oder stört nachweislich auch das Immunsystem und wird damit zum Einfallstor aller möglichen Erkrankungen. Daß Streß die Immunreaktionen verändert, stellt eine ebenso sinnvolle Anpassung des Organismus an eine alarmierende Situation dar wie die soeben beschriebene Erhöhung des Blutdrucks, die Erweiterung der Bronchien, die Heraufsetzung des Blutzuckerspiegels usw. All dies dient der Bereitstellung von Energie zu Flucht oder Angriff. Und im Falle es wirklich zu einem Laufen oder Kämpfen um Leben und Tod kommt? Dann drohen Verletzungen, und es kann überlebenswichtig werden, auf das Eindringen von Fremdkörpern (von

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Antigenen) bzw. auf das Auftauchen von geschädigten körpereigenen Zellen vorbereitet zu sein. Es ist daher notwendig, zugleich mit der Mobilmachung des Organismus über die Streßachse eine drohende Gefahr auch an das Immunsystem zu melden. Was aber heißt Immunsystem? Um sich vor Krankheitserregern zu schützen, stehen unserem Körper zwei verschiedene Abwehrmechanismen zur Verfügung: zum einen die angeborenen, unspezifischen Abwehrmechanismen, zum andern das Immunsystem, mithin die erworbenen, spezifischen Abwehrmechanismen. (Vgl. neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1082; lennart nilsson: Eine Reise in das Innere unseres Körpers, 20– 31: Das Immunsystem; jan g. van den tweel, m. e. i. schipper: Immunologie und die lymphatischen Organe, in: J. G. van den Tweel u. a.: Immunologie, 9 –22; j. g. van den tweel: Zellvermittelte Immunität, in: A. a. O., 25 –37; j. w. bruning, j. g. van den tweel: Humorale Immunität, in: A. a. O., 39 –57.) Ganz vorne in der unspezifischen Abwehr stehen die sogenannten Freßzellen (die Phagocyten, von griech.: phageı˜n – fressen, das kýtos – Hohlraum, Zelle); sie gehören zu den weißen Blutkörperchen (den Leukocyten, von griech.: leukós – weiß) und kommen in ihren wichtigsten Formen als Neutrophile und als Monocyten (griech.: mónos – allein) vor: die Neutrophilen sind kleine, rasch bewegliche Freßzellen und machen etwa 60–70 % der weißen Blutkörperchen aus, wohingegen die Monocyten, die zu Riesenfreßzellen (Makrophagen, «Großfressern», von griech.: makrós – groß, phageı˜n – fressen) heranwachsen, etwa 3 –5 % der Leukocyten stellen. (Vgl. neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1083; jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 6; e. drewermann: . . . und es geschah so, 300 –301.) Genauer betrachtet sind die Neutrophilen eine Untergruppe der sogenannten Granulocyten (von lat.: das granulum – kleines Korn), die etwa 60–70 % der Leukocyten im Blut stellen und in enormen Mengen im Knochenmark produziert werden, doch beträgt ihre Lebensdauer nur etwa 2 –3 Tage; auf Grund ihrer Phagocytoseleistung sind die Neutrophilen von großer Bedeutung für die Immunabwehr; mit einer Geschwindigkeit von 20 –37 µm/min sind sie es, die etwa bei Gewebsschäden durch Verletzungen als erste zur Stelle sind; ihre Reste am «Kampfplatz» bilden den Hauptbestandteil des Eiters. (Vgl. jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 7.) Je nach ihren Farbeigenschaften unterscheidet man neutrophile (für neutrale Farbstoffe empfängliche, von lat.: neuter – keiner von beiden, indifferent; griech.: philós – liebend), basophile (mit basischen Farbstoffen reagierende) und eosinophile (mit sauren Eosinfarbstoffen einfärbbare, von griech.: die héo¯s – Morgenröte; Eosin ist ein roter Farbstoff) Granulocyten; wegen ihrer Phagocytosetätigkeit sind die neutrophilen Granu-

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locyten für die unspezifische Immunabwehr am wichtigsten; ihr Anteil an den Leukocyten beträgt 40–75 %. Demgegenüber machen Eosinophile nur 2 –5 % aus; ihre Hauptaufgabe liegt in der Abwehr großer Erreger (wie Würmer), die sie durch Abgabe toxischer (giftiger, griech.: toxikón – das zum Bogen gehörende – Gift) Substanzen bekämpfen. Die basophilen Granulocyten stellen nur 0,2 % der Leukocyten dar, doch enthalten sie so wichtige Substanzen wie Histamin, das auch von den gewebsansässigen Mastzellen (bei Allergie) abgegeben wird; ihre Funktion ist noch nicht vollständig geklärt. (Vgl. jürgen hennig: A. a. O., 7–9; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1083–1084; e. drewermann: . . . und es geschah so, 302.) Monocyten und Granulocyten vernichten Eindringlinge im Rahmen der unspezifischen Abwehrmechanismen; für die spezifischen Abwehrmechanismen zuständig ist ein weiterer Typ weißer Blutkörperchen – die sogenannten Lymphocyten; sie müssen für ihre speziellen Aufgaben im Körper zuerst ausgebildet werden und gehören zum eigentlichen Immunsystem. Ohne viele Worte über die tieferen Komplikationen des Immunsystems zu verlieren, genügt es in unserem Zusammenhang, sich den wesentlichen Vorgang der erworbenen Immunabwehr in Erinnerung zu rufen. (Vgl. hierzu e. drewermann: . . . und es geschah so, 300 –316.) Die Bildung aller Blutzellen (die Hämatopoese, von griech.: das haı˜ma – Blut, die poíe¯sis – Bildung, Schöpfung) findet im roten Knochenmark statt, und zwar von einer einzigen Population sogenannter pluripotenter Stammzellen aus, die über eine außerordentliche Differenzierungsfähigkeit verfügen (von lat.: plus – mehr; die potentia – Fähigkeit, Macht); sie sind die Vorläufer aller Immunzellen. Die pluripotenten Stammzellen differenzieren sich in lymphoide Stammzellen, aus denen sich die Lymphocyten für die Immunabwehr bilden, sowie in myeloide Stammzellen, aus denen alle anderen Blutzellen entstehen. Entsprechend unterscheidet man zwei Hauptdifferenzierungslinien: die lymphatische Linie, die der spezifischen (langsamen, erlernten) Immunantwort dient, und die myeloide (knochenmarkähnliche, von griech.: der myelós – Mark) Linie. (Vgl. neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1060.) Aus den lymphoiden Stammzellen entstehen nicht gleich «fertige» Lymphocyten, sondern sie werden in einer Prägungsphase an bestimmten Stellen im Körper auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet: Im Knochenmark werden sie zu BLymphocyten (B steht für Bursa Fabricii, von lat.: die bursa – Tasche, lymphoretikuläres Organ bei Vögeln, das sich während der Embryonalentwicklung vom Enddarm ausstülpt; nach hieronymus fabricius, 1537–1619; also: Bursa-abhängige Lymphocyten; einfacher abzuleiten von engl.: bone – Knochen),

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in der Thymusdrüse (T steht für Thymus) werden sie zu T-Lymphocyten trainiert. Die B-Lymphocyten stehen im Mittelpunkt der humoralen Immunantwort (lat.: der humor – Flüssigkeit): Sobald das Immunsystem die Anwesenheit von Antigenen im Körper festgestellt hat, produzieren die B-Lymphocyten sogenannte Antikörper und geben sie in das Blutplasma und die Lymphflüssigkeit ab. «Antigen» ist eine Kurzform für Antikörper-generierend (von lat.: generare – erzeugen). Im Prinzip kann jede Fremdsubstanz, die eine Immunantwort hervorruft, als Antigen bezeichnet werden. Antikörper reagieren mit Viren, Bakterien und Toxinen, die frei im Körper zirkulieren, während T-Lymphocyten außerstande sind, freie Antigene in den Körperflüssigkeiten zu erkennen. Indem die Antikörper an die Antigene der Krankheitserreger binden, können diese von den T-Lymphocyten identifiziert werden. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 302 –303.) Die T-Lymphocyten organisieren die zellvermittelte Immunantwort und unterteilen sich weiter in Killerzellen (TC-Zellen – cytotoxische Zellen), Helferzellen (TH-Zellen) und Suppressorzellen (TS-Zellen): Die Aufgabe der Killerzellen besteht darin, körpereigene Zellen zu zerstören, in die Viren, Bakterien oder Parasiten eingedrungen oder die zu Tumorzellen entartet sind. Sie gehören im Unterschied zu den Phagocyten (also den Neutrophilen und den Monocyten) allerdings nicht zur unspezifischen, sondern zur spezifischen Abwehr: Sie bekämpfen also jeweils nur ein ganz spezifisches Antigen. Außerdem «fressen» Killerzellen ihre Gegner nicht, sondern «verflüssigen» sie, indem sie ihre Hülle angreifen und sie zum Platzen bringen. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 302– 303.) – Helferzellen geben hormonartige Signalstoffe ab, sobald sie eine infizierte körpereigene Zelle erkannt haben; diese kleinen Eiweißkörper werden Cytokine (griech.: das kýtos – Zelle, Hohlraum; kineı˜n – bewegen) oder auch Interleukine (lat.: inter – zwischen; griech.: leukós – weiß) genannt; Cytokine werden von Makrophagen und T-Lymphocyten als Regulatoren benachbarter Zellen sezerniert und aktivieren andere Helferzellen, Killerzellen sowie B-Lymphocyten; über diese Proteinfaktoren stehen die Immunzellen also miteinander in Verbindung. Eine Killerzelle wird nur dann aktiv, wenn sie zuvor durch eine Helferzelle aktiviert worden ist, die ihrerseits ein Antigen auf einer antigenpräsentierenden körpereigenen Freßzelle identifiziert hat. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 303; 305; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1504; 1516; 1092.) – Suppressorzellen sind für die Abschaltung der Immunantwort von Bedeutung. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 303.)

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Jeder reife Lymphocyt besitzt auf seiner Oberfläche einen spezifischen Rezeptor, das heißt er hat die Fähigkeit erworben, je für sich eines der Millionen von Antigenen über diesen spezifischen Antigen-Rezeptor zu «erkennen»; und sobald dieser Rezeptor an das spezifische Antigen bindet, erhält der Lymphocyt den Befehl, sich zu teilen und sich in Effektorzellen und in Gedächtniszellen zu differenzieren. Auf diese Weise entsteht eine Vielzahl identischer Effektorzellen, also Klone derselben Spezifität. Die Effektorzellen, die im Rahmen der zellvermittelten Immunabwehr aus den T-Lymphocyten gebildet werden, sind die Killerzellen (TC-Zellen) und die Helferzellen (TH-Zellen); die Effektorzellen, die sich bei der humoralen Immunabwehr aus den B-Lymphocyten entwickeln und die spezifischen Antikörper produzieren, heißen Plasmazellen. Die Gedächtniszellen stellen nach überstandener Krankheit gewissermaßen ein Archiv all der Erreger dar, die schon einmal bekämpft wurden. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 305– 308; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1087–1088.) «Stationiert» werden die Immunzellen, also die T- und B-Lymphocyten, praktischerweise vor allem in den Lymphknoten, in der Milz und in anderen lymphatischen Organen und zirkulieren in Blut und Lymphe, weil dort die Wahrscheinlichkeit am größten ist, Antigenen eines Eindringlings unverzüglich zu begegnen. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 305.) Zu ergänzen sind noch die Natürlichen Killerzellen (NK), die keiner der beiden Zelldifferenzierungsreihen zugeordnet werden können und Eigenschaften sowohl von Lymphocyten als auch von Granulocyten aufweisen. Sie sind ebenfalls weiße Blutkörperchen, gehören zur unspezifischen Abwehr und greifen nur körpereigene Zellen an, die in irgendeiner Weise auffällig sind; besonders effektiv sind sie in der Zerstörung von virusinfizierten und krebsentarteten Zellen. Entdeckt wurden die Natürlichen Killerzellen (NK) erst 1975 bei Mäusen, die auf Grund eines genetischen Defektes keine Behaarung aufwiesen und nur ansatzweise einen Thymus für die Reifung von T-Lymphocyten besaßen; gleichwohl waren diese Tiere in der Lage, Tumorzellen zu bekämpfen, und zwar eben mit Hilfe der Natürlichen Killerzellen. Im Unterschied zu den Granulocyten, aber in Übereinstimmung mit den Killerzellen (TC-Zellen) der spezifischen Immunabwehr, vernichten die NK-Zellen ihre Gegner nicht durch Phagocytose (durch Verschlingen der Zellen, von griech.: phageı˜n – fressen, das kýtos – Hohlraum, Zelle), sondern sie haften an der Zellmembran der Zielzelle an und geben dann cytotoxische (griech.: zellvergiftende) oder zellmembranlytische (auflösende, von griech.: lýein – auflösen) Substanzen (z. B. Perforin) über ihre Granula (die «Körner») ab. (Vgl. e. drewermann: . . . und es

Psychosomatische Erkrankungen Name

Funktion

Monocyten

nicht aktivierte, sogenannte undifferenzierte Freßzellen im Blut

Makrophagen

ausgereifte Freßzellen in Gewebe und Lymphe

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Antigenpräsentierende Zellen Makrophagen, dendritische Zellen im Gewebe und Langer(APZ) hanszellen in der Haut präsentieren den T-Zellen Antigene und starten damit eine Reaktionskaskade Granulocyten Neutophile

Freßzellen gegen Bakterien, Viren und Pilze im Blut

Eosinophile

Abwehrzellen gegen Parasiten

Basophile

Abwehrzellen gegen Parasiten

Mastzellen

schütten entzündungsfördernde Substanzen aus, reagieren vor allem auf Immunglobulin E

B-Zellen B-Lymphocyten

leben im Knochenmark und in den lymphatischen Organen; Vorläufer von Plasmazellen

Plasmazellen

spezialisierte antikörperproduzierende Zellen

B-Gedächtniszellen

auf ein Antigen geprägte B-Zellen, die sich bei Antigenreiz sofort zu Plasmazellen differenzieren und Antikörper produzieren

T-Zellen T-Helfer-Zellen

erkennen Antigene auf antigenpräsentierenden Zellen, aktivieren Plasmazellen und Killerzellen

T-Suppressor-Zellen

bremsen die Immunantwort, hemmen die Lymphokinausschüttung

T-Gedächtnis-Zellen

auf spezielle Antigene ausgerichtete, langlebige T-HelferZellen

Cytotoxische T-Killerzellen

erkennen und zerstören von Viren befallene Körperzellen und wahrscheinlich Tumorzellen

Natürliche Killerzellen (NK)

greifen virusinfizierte Zellen und Tumorzellen an

Abb. C 3: Die wichtigsten Immunzellen – Namen und Funktionen

geschah so, 302; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1084; jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 9 –10.) «Nach entsprechender Stimulation durch bestimmte immunologische Botenstoffe (. . . Zytokine) können sich diese Zellen teilen, aber auch an Aktivität zunehmen. Im Bereich psychoneuroimmunologischer Forschung ist die Natürliche Killerzellaktivität (NKCA) sehr häufig als Maß immunologischer Aktivierung und/oder Kompetenz herangezogen worden.» (jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 10) – Damit haben wir jetzt eine solche Vielzahl von Zelltypen auf knappem Raum kennen-

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird

Abb. C 4: Vereinfachte Darstellung der immunologisch relevanten Zelltypen

gelernt, daß es sich lohnt, ihre Namen und Funktionen noch einmal tabellarisch zusammenzustellen, wie es in Abb. C 3 geschieht. (Vgl. auch alfred benninghoff – detlev drenckhahn: Anatomie, II 150.) Um die Eigenart der Immunabwehr leichter verstehen zu können, mag abschließend noch die graphische Darstellung in Abb. C 4 hilfreich sein, die in vereinfachter Form die Zelltypen der spezifischen und der unspezifischen Immunabwehr aufführt. In unserem alltäglichen («zivilisierten») Leben geht es wohl nur selten noch um eine Gefahrenabwehr auf Leben und Tod, und doch genügt ein Augenblick von Streß: eine Examensfrage, eine riskante Situation auf der Autobahn, der «heiße» Einfall, etwas Wichtiges vergessen zu haben, und die Zahl der Natürlichen Killerzellen wird drastisch angehoben; dabei handelt es sich gewissermaßen um die Verlegung der stets bereiten «Kriseneingreiftruppe» des Vertei-

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digungssystems an die vorderste Linie, um als erstes Verletzungen in Haut und Muskeln, so rasch und gut es geht, zu versorgen. Die Sympathicusfasern nämlich innervieren nicht nur die glatten Muskeln und die verschiedenen Drüsen, sondern auch das lymphatische System, besonders die Lymphknoten und die Milz, sowie das Nebennierenmark. Die uns bekannten Überträgerstoffe des Sympathicus: Adrenalin und Noradrenalin, aber auch gewisse Neuropeptide wie Beta-Dynorphin, beeinflussen daher auch das Immunsystem nachhaltig. Nach einem Adrenalinstoß bei Streß sinkt der Adrenalinspiegel zwar innerhalb weniger Minuten wieder auf normale Werte, doch erst nach etwa vier Stunden hat auch die Zahl der Natürlichen Killerzellen sich wieder normalisiert. – Neben dem autonomen (vegetativen) Nervensystem ist auch das limbische System, insbesondere die Amygdala, an der Modulation der Immunantworten beteiligt. Ausgelöst werden diese Effekte durch das Hormon CRH, das von Hypothalamus und Amygdala bei Streß freigesetzt wird und seinerseits über die Abgabe von ACTH aus der Hypophyse das sympathische Nervensystem aktiviert. (Vgl. Bd. I 692– 693.) Bei längerem Streß veranlassen die Glucocorticoide das NA-System des Locus coeruleus, Noradrenalin auszuschütten, das dann wieder die CRH-Produktion der Amygdala weiter erhöht. (Vgl. karl bechter – katja gaschler: Aufbruch der Killerzellen, in: Gehirn und Geist, 5/2004, 35 –38; johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 97– 98; robert m. sapolsky: Streß zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 63; esther m. sternberg – philip w. gold: Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 76 –78; zu dem Teufelskreis sich unter Streß wechselseitig aufschaukelnden CRH- und NA-Konzentrationen vgl. Bd. I 693 –694; 699.) Gleichzeitig zu der raschen «Umgruppierung» der Natürlichen Killerzellen werden bezeichnenderweise Teile der «spezifischen» (der langsamen, erworbenen) Immunabwehr unterdrückt, etwa die Vermehrung (Proliferation) der T-Zellen. Auch diese Maßnahme erscheint in Gefahrenaugenblicken als biologisch sinnvoll, denn sie spart eben jene Energie, die in Situationen, da es ums «Ganze» geht, gänzlich der Muskelleistung und der Hirnversorgung zugute kommen muß. (Vgl. karl bechter – katja gaschler: Aufbruch der Killerzellen, in: Gehirn und Geist, 5/2004, 36.) Mit dieser «Doppelstrategie» (Aktivierung der schnellen Immunabwehr und Unterdrückung der langsamen Abwehr) ist demnach alles auf eine optimale «Notfallreaktion» eingestellt. Eigentlich nicht vorgesehen in der Natur ist indessen ständige Angst, dauernder Streß, und tatsächlich handelt es sich – fast – immer um künstlich geschaffene Situationen, wenn Menschen oder Tiere der

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Qual einer langanhaltenden Streßbelastung ausgesetzt sind; dann freilich, unter unnatürlichen Bedingungen, kann das an sich so vernünftige natürliche Prinzip der Energieeinsparung für den Notfall zu schweren Störungen des Immunsystems führen. Wie wir sehen werden, unterhalten die Immunzellen über das Blut oder über Nervenbahnen, wie zum Beispiel den Vagusnerv, sowie über den Endkern des Tractu¯s solitarii (des Solitärbündels; der Geschmacksfasern, die über die Hirnnerven VII, IX und X in den Hirnstamm gelangen und sich im Solitärbündel sammeln) einen steten Informationsaustausch mit den Neuronen des Gehirns (vgl. esther m. sternberg – philip w. gold: Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 75; jochen fanghänel u. a.: Waldeyer – Anatomie des Menschen, 416; 421); und diese Zusammenarbeit von Gehirn und Immunsystem erklärt sowohl manche psychische Störung im Fall einer körperlichen Erkrankung – wie «elend» fühlen wir uns bei einer Grippe! – als auch manche körperliche Störung im Falle einer psychischen Erkrankung (Streß); ein eigener Forschungszweig: die Psychoneuroimmunologie, versucht heute, diese Zusammenhänge genauer aufzuklären. Dabei treten die drei großen Regulationssysteme des Selbsterhalts: das Hormonsystem, das Immunsystem und das Nervensystem zu einer wechselseitig aufeinander bezogenen Wirkungseinheit zusammen, wobei die Cytokinine (oder Interleukine) selber als «Hormone» des Immunsystems wirken, so wie auch ein Neurotransmitter, wie zum Beispiel NA, als Hormon wirken kann. Wie aber arbeiten nun das Immunsystem und das Gehirn (das Hormonsystem) zusammen? Und was geschieht bei Streß? Wie wirkt das Gehirn auf das Immunsystem? Einen Überblick vermag die schematische Darstellung in Abb. C 5 zu vermitteln. Im Falle von Streß geschieht folgendes: Eine streßbedingt verstärkte Ausschüttung von CRH aus dem Hypothalamus und von ACTH aus der Hypophyse führt über längere Zeit dahin, daß deutlich weniger Antikörper gebildet werden, daß mithin die Immunantwort vermindert wird. So zeigten mark l. laudenslager, steven f. maier u. a. (Suppression of specific antibody production by inescapable shock: stability under varying conditions, in: Brain, Behavior, and Immunity, 2/1988, 92 –101) an Ratten, die sie mit Elektroschocks hinreichend gequält hatten, daß die Tiere nach Injektion von artfremden Peptiden signifikant weniger Antikörper bildeten – es war zu einer Hemmung (zu einer Suppression, lat.: die suppressio – Unterdrückung) der Immunantwort gekommen; insbesondere die Zahl der Natürlichen Killerzellen und der Lymphocyten ist unter chronischem Streß deutlich erniedrigt; entnahm man hin-

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Abb. C 5: Die Immunabwehr und das Gehirn

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gegen den Tieren vor Versuchsbeginn die Hypophyse, so unterblieb die Immunsuppression; das gleiche Ergebnis trat auch ein, wenn man anstelle der Hypophyse die Nebennieren entfernte oder Corticosteron-Antagonisten verabreichte; und damit war auch die Substanz gefunden, die zur Hemmung des Immunsystems wesentlich beiträgt: Corticosteron bei Ratten beziehungsweise Cortisol bei Menschen. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 98.) Cortisol ist nicht einfach nur ein Streßhormon; es hat unter anderem den Zweck, bei Verletzungen und (viralen oder bakteriellen) Infektionen Entzündungen zu hemmen, das heißt bei Hautverletzungen zum Beispiel der Erweiterung der Blutgefäße und der nachfolgenden Schwellung entgegenzuwirken. Diese Reaktion erfolgt noch auf der Ebene der angeborenen, unspezifischen Immunabwehr: Dringt ein Fremdkörper in den Organismus ein, so werden Freßzellen (Phagocyten) auf chemotaktischem Wege angelockt; die eingedrungenen Bakterien werden «gefressen». Cortisol nun erhöht zwar die Zahl der Neutrophilen, die vom Knochenmark freigesetzt werden und die die Phagocyten u. a. stellen, aber es hemmt deren chemotaktische und phagocytäre Aktivität. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 103 –104.) Ähnlich hemmend wirkt Cortisol darüber hinaus auch auf die unspezifische Abwehr durch die Natürlichen Killerzellen ein. Aktiviert werden die Natürlichen Killerzellen durch sogenannte Interferone, aber auch durch Interleukin12. Mittels Giftstoffen durchlöchern (perforieren) sie in angegebener Weise die Zellwände von Zellen, die von Viren befallen sind, und töten die Viren mitsamt ihren «Wirtszellen». Eben dieser für die Immunabwehr entscheidende Vorgang an «vorderster Front» aber wird von Cortisol gehemmt. Zudem reduziert Cortisol auch die Anzahl der Lymphocyten, insbesondere der T-Lymphocyten, und greift damit zentral in die spezifische (erworbene) Immunabwehr ein. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 104.) Wenn man so will, verhält das Cortisol sich wie ein vernünftiger Wirtschaftsminister im Kriegszustand: es versucht unter allen Umständen, die Kosten zu senken (Energie zu sparen, die Verluste zu begrenzen und Schmerz abzubauen). Beteiligt an dieser erworbenen Immunabwehr sind insbesondere zwei Arten von Helferzellen: die TH-1-Zellen stellen Cytokine wie das Interleukin-2 (IL2) her, welche die Vernichtung befallener Zellen durch die T-Lymphocyten unterstützen, während die TH-2-Zellen Cytokine wie Interleukin-4 und -10 (IL4, IL-10) entlassen, welche die erworbene Immunabwehr der B-Lymphocyten im Kampf gegen Krankheitserreger außerhalb der Zellen verstärken und zu-

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Name

Bildungsort

Interleukin 1 (IL 1)

Makrophagen, Natürliche induziert die Differenzierung von Killerzellen (NK), aktivierten B-Zellen, fördert Gliazellen, Hautzellen NK-Aktivität, alarmiert Helferzellen, lockt Neutrophile an

Wirkung

Interleukin 2 (IL 2)

aktivierte T-Zellen

induziert Vermehrung und Differenzierung von T- und B-Zellen, induziert Lymphokinproduktion in T-Zellen, erhöht Monocytenaggressivität, aktiviert Killerzellen

Interleukin 3 oder colony stimulating factor (CSF)

Stammzellen, Granulocyten, Makrophagen

fördert Wachtum pluripotenter Zellen, aktiviert Neutrophile, Basophile, Monocyten

Interleukin 4

aktivierte T-Zellen

fördert IgE-Produktion, fördert Expression von MHC auf B-Zellen, Wachstumsfaktor für T-Zellen

Interleukin 5

T-Zellen

fördert Immunglobulinsekretion und Differenzierung von Eosinophilen

Interleukin 6

Monocyten

Wachstumsfaktor für Plasmazellen

Gamma-Interferon oder T-Zellen, Natürliche Makrophagen aktivieren- Killerzellen (NK) der Faktor (MAF)

steigert NK- und MakrophagenAktivität, vermehrt B-Zellen, fördert die Produktion von antiviralen Proteinen in Körperzellen

Tumor-Nekrose-Faktor (TNF)

aktiviert T- und B-Zellen, zerstört Tumorzellen

Makrophagen

Abb. C 6: Einige Immunsignalstoffe (Lymphokine), ihr Bildungsort und ihre Wirkung (IgE – Immunglobulin E-Antikörper, die bei Allergien von Bedeutung sind; MHC – major histocompatibility complex – Haupt-Gewebeverträglichkeitskomplex, der die Unterscheidung von «körpereigen» und «körperfremd» ermöglicht)

dem die Entzündungsreaktionen beenden. (Vgl. karl bechter – katja gaschler: Aufbruch der Killerzellen, in: Gehirn und Geist, 5/2004, 35– 36.) Abb. C 6 stellt tabellarisch einige der Immunsignalstoffe (der Lymphokine) zusammen. Das alles klingt wieder kompliziert und verwirrend – und ist es auch; schauen wir uns deshalb zur Vereinfachung einmal an, was passiert, wenn ein körperfremdes Eiweißgebilde – ein Antigen – in das Blut gelangt; augenblicklich wird sich ein Makrophage finden, der es «verschluckt»; auf seiner Außenseite aber gibt der Makrophage zu erkennen, was er gerade erlegt hat: das von ihm präsentierte Antigen (oder auch nur ein Bruchstück davon) soll sagen: «Das ist die Art von Feinden, die ihr bekämpfen müßt.» «Ihr» – das sind in diesem Falle T-Lym-

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird

phocyten, die zufälligerweise gerade auf dieses Peptid (auf dieses Eiweißbruchstück) «trainiert» wurden. Und nun geht es los: Nach seinem Kontakt mit dem Antigen auf dem Makrophagen beginnt der solcherart trainierte und spezialisierte T-Lymphocyt sich zu vermehren, und alle seine identischen Klone gehen zum Angriff gegen sämtliche Körperzellen vor, die von dem speziellen Bakterium oder Virus befallen sind und entsprechend das Antigen präsentieren. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 104 – 105.) Doch um diese Wirkung zu ermöglichen, treten die Makrophagen nicht nur «erkennungsdienstlich» in Aktion, sondern zugleich als Rekrutierungsstelle: Ineins mit der Präsentation des Antigens, die einen speziellen T-Lymphocyten auf den Plan ruft, produziert der Makrophage einen Botenstoff: Interleukin-1 (IL-1). «Zusammen mit dem präsentierten Antigen aktiviert IL-1 die THelferzelle (sc. TH-1 Zelle, d.V.), Interleukin-2 und andere Cytokine freizusetzen.» (neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1092; vgl. g. t. rijkers – c. j. heijnen: Interzelluläre Wechselwirkungen, in: J. G. van den Tweel u. a.: Immunologie, 71–81.) Interleukin-2 (IL-2) dient als Wachstumsfaktor allein dem speziellen T-Lymphocyten; erst durch die Wirkung von IL-2 kommt es zu der «clonalen Proliferation», zu der seriellen Selbstherstellung des auf die Abwehr dieses einen Typs von Gegner eingerichteten T-Lymphocyten. Nach kurzer Zeit (1– 3 Tagen) stehen der «Rekrutierungsstelle» auf diese Weise ganze Kompanien einer bestimmten Waffengattung einsatzbereit zur Verfügung. Doch je mehr «Rekruten» sich einfinden, desto mehr muß auch die «Waffenherstellung» (die «Rüstungsindustrie») angekurbelt werden: Unter der Wirkung von Interleukin-2 vermehren sich zugleich mit den Killerzellen (TC-Zellen) die Helferzellen selber; die TH-1-Zellen regen ihrerseits die Makrophagen an, die IL-1-Produktion weiter hochzufahren – ein autoregenerativer Kreislauf, dessen Nutzen sofort einleuchtet, dessen Nachteil («Opfer») freilich ebenso rasch spürbar wird – in Form von Schwellungen, Schmerzen und Entzündungen. Die TH-2-Zellen sorgen demgegenüber dafür, daß die B-Lymphocyten sich vermehren und Plasmazellen bilden, die die speziellen Antikörper gegen das jeweilige Antigen produzieren. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 104 –105.) Wie energieraubend und kostenaufwendig all diese Vorgänge sind – die mehrere Tage in Anspruch nehmen können, um den Aufbau, die «Einberufung» und die «Ausrüstung» der speziellen Immunabwehr zu ermöglichen –, weiß ein jeder, der schon einmal eine «ordentliche» Infektionskrankheit (Grippe, Lungenentzündung, Tuberkulose) am eigenen Leibe erlebt hat: der gesamte Körper verlangt nach unbedingter Ruhe; nur keine Energievergeudung mehr!

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Abb. C 7: Die Wirkung von Cortisol auf die langsame Immunabwehr

In gewissem Sinne als Antagonisten der Helferzellen fungieren die Suppressorzellen, die speziell die B-Lymphocyten davon abhalten, sich zu zahlreich zu vermehren. Die Proliferation von T-Lymphocyten, seien es Killerzellen (TCZellen), Helferzellen (TH-Zellen) oder Suppressorzellen (TS-Zellen), wird also samt und sonders von Interleukin-2 vorangetrieben. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 105.) Abb. C 7 zeigt – in schematisch vereinfachter Form – diesen Zusammenhang auf und läßt damit zugleich erkennen, was das Streßhormon Cortisol tun «muß», um die Immunabwehr (den «Krieg» im Körperinneren) daran zu hindern, sich ins «Unbezahlbare» auszuweiten. Das Cortisol bindet an die Cortisolrezeptoren der weißen Blutkörperchen,

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besonders der Lymphocyten, und hemmt dadurch die Produktion der Interleukine. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 99.) Vor allem schränkt es die Produktion von IL-1 durch die Makrophagen ein, im Falle diese ein bestimmtes Antigen «verschluckt» haben. Damit wird die Stimulierung der Helferzellen (TH-1-Zellen) gehemmt und die Bildung von IL-2 unterdrückt; die Wirkung liegt auf der Hand: die Anlieferung von «bewaffneten» T-Lymphocyten (Killerzellen) wird gedrosselt, und auch die Helferzellen (TH-2-Zellen), welche die Vermehrung und Weiterentwicklung der B-Lymphocyten (die Lieferung von Plasmazellen und die Bildung von Antikörpern im Kampf gegen die eingedrungenen Antigene) kontrollieren, werden nur in vermindertem Ausmaß hergestellt; entsprechendes gilt für die Suppressorzellen. Damit greift Cortisol zentral in den Regulationsmechanismus der gesamten Immunabwehr ein. – Nebenbei gesagt hat man inzwischen mehr als 20 Interleukine und andere Cytokine gefunden. (Vgl. johann caspar rüegg: A. a. O., 105 –106.) «Unter den Interleukinen hat IL-2 jedoch eine herausragende Stellung bei der Regulation des Immunsystems. Dies wird u. a. auch durch die Erfahrung belegt, dass mit spezifischen IL-2-Hemmern, wie z. B. Zyklosporin A, eine hochwirksame Immunsuppression bewirkt werden kann.» (johann caspar rüegg: A. a. O., 105)

β) Überschießende Reaktionen des Immunsystems – Autoimmunerkrankungen und Allergien Bei allem, was wir über das Immunsystem erfahren, dürfen wir niemals aus den Augen verlieren, daß es keinem anderen Ziel folgt, als eingetretene Störungen zu eliminieren und das (biochemische) Gleichgewicht des Körpers wiederherzustellen; doch eben deshalb muß es auch Mechanismen geben, welche ein Ausufern der Immunreaktionen selbst verhindern – in einer politischen Metapher ausgedrückt: es darf nicht dahin kommen, daß der «Staat», der vom Militär gegen Feinde geschützt werden soll, vom Militär übernommen wird, so daß dieses schließlich gegen die eigenen Bürger vorgeht. Das Cortisol ist sozusagen ein «antimilitaristischer» Faktor mitten im Krieg. Wie wohltätig Cortisol als Medikament wirken kann, wird jeder wissen, der an chronischen Schmerzen leidet – an Gelenkschwellungen, Entzündungen oder Bandscheibenschäden zum Beispiel; doch die eigentliche Bedeutung des Cortisol liegt darin, an einer optimalen Steuerung des Immunsystems insgesamt mitzuwirken. Eine solche ist dringend erforderlich, um nach Möglichkeit «Autoimmunreaktionen» zu vermeiden, also um zu verhindern, daß das

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Immunsystem Antikörper gegen eine körpereigene Substanz bildet. Zu diesem Zweck werden im Thymus bereits diejenigen T-Lymphocyten ausgeschaltet, die fälschlicherweise auf ein körpereigenes Protein «geprägt» wurden – es kommt zu einer «klonalen Deletion» (Zerstörung, von lat.: dele¯re – zerstören). Die Unterscheidungsfähigkeit von «eigen» und «fremd» (von «Freund» und «Feind» in diesem endlosen «Krieg» um die Aufrechterhaltung der körpereigenen Identität) wird bereits um die Zeit der Geburt erworben. Aber es läßt sich jetzt bereits vorhersehen, an welchen Stellen beim Aufbau des Immunsystems sich Fehler in die Regelkreisläufe einschleichen können und welche fatalen Folgen sie haben werden: Es kann sein, daß eben doch ein paar «falsch trainierte» T-Lymphocyten ihrer Auslöschung entkommen, und dann werden sie all die Peptidstrukturen als «feindlich» ansehen und bekämpfen, zu deren «Zielfahndung» sie «ausgebildet» wurden, ohne jemals noch erkennen zu können, daß ihre «Steckbriefphotos» sich auf den eigenen Organismus beziehen. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 105 –106.) – Im Ersten Weltkrieg gab es an der Westfront Generäle, die ihre Artilleriebatterien die Planquadrate der eigenen Stellungen unter Feuer nehmen ließen, um die Soldaten zum Angriff «flott» zu machen: – derartige schmerzhafteste Verluste der eigenen Truppe durch mutwilligen «Beschuß» von seiten der eigenen Leute sind ein recht passendes Bild für das, was – freilich ohne ehrgeizige «Absichten» – eine «Autoimmunreaktion» auf der Ebene der Zellbiologie bereits in der «Führungsetage» (im «Generalstab») des Thymus bedeutet. Es kann aber auch sein, daß die «Truppe» – um im Bilde zu bleiben – selber zu ungestüm vorgeht und beginnt, auf alles zu schießen, was sich bewegt. Im Immunsystem ist dieser Fall gegeben, wenn eine ungenügende Zahl von Suppressorzellen ausgebildet wird oder wenn die B-Lymphocyten überaktiv werden. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 105.) Wir hörten bereits, daß es möglich ist, Autoimmunerkrankungen wie den Lupus erythematodes oder Allergien mit Hilfe von Placebos zu behandeln, mithin das Immunsystem über die Psyche hemmend zu beeinflussen; umgekehrt muß es psychische Faktoren geben, die zu Überreaktionen der Immunabwehr beitragen. Und so verhält es sich in der Tat. michael maes und seine Mitarbeiter konnten bereits in den 90er Jahren nachweisen, daß bei einer atypischen Form von Depression, aber auch beim Posttraumatischen Streß-Syndrom (PTSD, D = engl.: disorder – Störung) ein vermehrter Sympathicotonus dazu führt, IL-1 beta (und IL-6) in überhöhten Mengen zu bilden. (Vgl. michael maes u. a.: Increased serum interleukin-1-receptor-antagonist concentrations

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in major depression, in: Journal of Affective Disorders, 36/1995, 29– 36; ders. u. a.: Elevated serum interleukin-6 (IL-6) and IL-6 receptor concentrations in posttraumatic stress disorder following accidental man-made traumatic events, in: Biological Psychiatry, 45/1999, 833– 839.) Die unvermeidliche Folge kennen wir bereits: die Immunabwehr wird auf eine Weise aktiviert, daß sie sich nicht mehr nur gegen «echte» Antigene, sondern auch gegen körpereigene Substanzen richtet. Auch Interleukin-12, das die Proliferation von «bewaffneten» T-Lymphocyten, also von Killerzellen (TC-Zellen), anregt, steht in der Diskussion, bei erhöhten Blutwerten Autoimmunreaktionen voranzutreiben. Eigentlich müßte die antigenstimulierte Produktion von IL-12 durch Makrophagen mit Hilfe von Cortisol in verträglichen Grenzen gehalten werden; umgekehrt wird deshalb vermutet, daß Cortisol-Mangel eben deshalb die schmerzhaften Symptome einer rheumatoiden Arthritis (chronischen Polyarthritis, an mehreren Gelenken gleichzeitig auftretenden Gelenkentzündung, von griech.: polýs – viel, das árthron – Gelenk) aufflackern läßt. Jedenfalls belegen roland l. wilder und ilia j. elenkov (Hormonal regulation of tumor necrosis factoralpha, interleukin-12, and interleukin-10 production by activated macrophages. A disease-modifying mechanism in rheumatoid arthritis and systemic lupus erythematosus?, in: Annals of New York Academy of Sciences, 876/1999, 14 –31), daß die Symptome einer Polyarthritis bei hohem Cortisol-Spiegel, zum Beispiel während der Schwangerschaft, wenn die Produktion der Interleukine IL1, IL-2 und IL-12 gedrosselt ist, wie verschwunden sind. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 101–102; t. e. w. feltkamp: Toleranz und Autoimmunität, in: Jan G. van den Tweel u. a.: Immunologie, 236 –237.) Die Art und Weise, wie rheumatoide Arthritispatienten auf ihre Erkrankung reagieren, besteht zumeist im Verleugnen der Schmerzen, im «Sich-Zusammenreißen», im Sich-Fügen in das Schicksal, in Genügsamkeit und ergebener Geduld. (Vgl. hellmuth freyberger – harald j. freyberger: Rheumatoide Arthritis, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 384.) Es dürfte gerade diese Mentalität sein, die mittelbar einen Hauptfaktor auch für die Entstehung der Krankheit bildet. Um zu prüfen, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Cortisol-Mangel und Polyarthritis wirklich besteht, experimentierten esther m. sternberg, ronald l. wilder, philip w. gold u. a. (Corticotropin releasing hormone related behavioral and neuroendocrine responses to stress in Lewis and Fisher rats, in: Brain Research, 570/1992, 54 –60) vor Jahren mit Ratten vom Stamm «Lewis», die zweierlei Eigenschaften aufweisen: bei Injektion von Antigenen (zum Beispiel in Form der Zellwände abgetöteter Streptokokken) wird ihr Im-

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munsystem derart stimuliert, daß sie Gelenkentzündungen (Polyarthritis) bekommen; darüber hinaus setzt ihr Hypothalamus unter dem Streß der Antigenwirkung deutlich weniger CRH frei, so daß der Cortisol-Spiegel in ihrem Blut niedriger ist als vergleichsweise bei Ratten vom Stamm «Fisher»; letztere bekommen unter den Versuchsbedingungen keine Polyarthritis, offenbar weil bei ihnen eine antigenbedingte Ankurbelung des Immunsystems mit einer gleichzeitig erhöhten Ausschüttung von CRH und Cortisol einhergeht. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 102; esther m. sternberg – philip w. gold: Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 79.) Demnach scheinen überschießende Immunreaktionen in der Tat durch Cortisol-Mangel, das heißt durch eine Schwächung der Achse Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde, bedingt zu sein; bei Autoimmunreaktionen – wie der Polyarthritis – steht dies zu vermuten, aber auch bei allergischen Erkrankungen, wie etwa bei Bronchialasthma und Neurodermitis. Die Haut von Menschen, die unter Neurodermitis leiden, ist chronisch trocken und entzündet, weist rötliche Ekzembildungen auf und erzeugt einen ständigen Juckreiz. Der Grund dafür liegt vermutlich in einer Überproduktion von Interleukin-4 durch Lymphocyten, die wiederum zu der übermäßigen Bildung des für Allergien typischen Antikörpers Immunglobulin E (IgE-Antikörper) führt; und nun zeigt sich beim Vergleich von kranken mit gesunden Kindern, daß in identischen Streßsituationen der Cortisol-Anstieg bei Neurodermitis-Kranken nur einen signifikant geringeren Blutwert erreicht. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 102–103; e. drewermann: . . . und es geschah so, 306; 311– 312.) Aber (natürlich) ist es nicht eine Unterfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse allein, die zu Autoimmunreaktionen und Allergien führen kann. Polyarthritis etwa wird durch bestimmte Neuropeptide wie zum Beispiel die Substanz P mitbeeinflußt, von der wir bereits hörten, daß sie von den nocizeptiven Nervenfaserendigungen freigesetzt wird (vgl. Bd. I 511–512; 514). Sie erweitert – wie Histamin – die Blutgefäße, so daß mehr Blutflüssigkeit durch die Gefäßwände dringen kann und in die Zellzwischenräume gelangt. Die Folge versteht sich von selbst: Die vermehrte Durchblutung rötet und erwärmt das Gewebe, und die sich ansammelnde Gewebeflüssigkeit führt zu schmerzhaften Schwellungen – alles in allem die Symptome einer Entzündung. Zudem erhöht die Substanz P die Wirkung einiger Cytokine, die den Verlauf einer Entzündung mitgestalten, zum Beispiel von Interleukin-1 sowie der gewebsaggres-

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siven Substanz TNF-α – dem Tumornekrosefaktor. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 40; 103.) «Die dünnen Nervenfasern (sogenannte C-Fasern, sc. die langsam leitenden Schmerzfasern, d.V.) mit ihren Nozizeptoren sind somit . . . nicht nur schmerzleitende . . . Nachrichtenkanäle zum Zentralnervensystem, sondern auch effektorische Strukturen, die bei Erregung durch Entzündungsprozesse an ihren peripheren Endigungen Neuropeptide absondern, die dann wiederum die schmerzhaften Entzündungserscheinungen verstärken – ganz im Sinne neurogener Entzündungen.» (johann caspar rüegg: A. a. O., 40) Und als wäre all das noch nicht genug, kann «die Druckschmerzhaftigkeit der Gelenkregion» während einer Gelenkentzündung «mit der Zeit ganz enorm zunehmen, sogar so sehr, dass selbst das leichte Betasten nicht entzündeter, dem Gelenk benachbarter Körperteile schmerzt . . . Der Grund liegt offenbar in neuroplastischen Veränderungen des Nervensystems, etwa in einer Veränderung der Eigenschaften der schmerzsensitiven Neurone im Hinterhorn des Rückenmarks». (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 41; vgl. Abb. A 73; B 70; zu rheumatischen Muskel- und Gelenkerkrankungen vgl. johannes cremerius: Zur Theorie und Praxis der Psychosomatischen Medizin, 226 –251: Rheumatische Muskel- und Gelenkerkrankungen als funktionelles Geschehen.) Auch im Gehirn selbst kommt es zu einer funktionellen Veränderung des schmerzverarbeitenden Systems, insbesondere des limbischen Systems. So zeigt sich, daß bei langandauernden Gelenkschmerzen die Aktivität speziell des Gyrus cinguli stark zunimmt; in diesem Teil des emotionalen Gehirns erfolgt offenbar die Verknüpfung des dumpfen Schmerzes mit der affektiven Bedeutungsverleihung des Unlustbetonten, Unerträglichen. (Vgl. Abb. A 21; B 68.) Auch die Felder im somatosensorischen Cortex (im Gyrus postcentralis), welche die betroffene Körperstelle repräsentieren, vergrößern sich. (Vgl. Bd. I 133 –134; johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 41.) All das erzeugt einen Teufelskreis, indem die schmerzhafte Immunreaktion im entzündeten Gewebe die schmerzleitenden Nervenfasern in einer positiven Rückkopplung veranlaßt, vermehrt Neuropeptide wie die Substanz P freizusetzen, die wiederum Schmerz und Entzündungsreaktion erneut erhöhen, so daß die dann noch stärker erregten Nocizeptoren noch mehr Substanz P ausschütten; während all dem gibt das limbische System einen zunehmend gesteigerten Streßalarm – der Schmerz wird chronifiziert. (Vgl. johann caspar rüegg: A. a. O., 40; 103) «Da demnach die Neigung zu entzündlichen Prozessen eng mit der Stress-Reaktion zusammenhängt», folgern esther m.

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sternberg und philip w. gold (Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 79) aus dieser Tatsache, «ist auch anzunehmen, daß jede Beeinträchtigung der biochemischen Kommunikation zwischen Gehirn und Immunsystem sich darauf auswirkt, wie die Erkrankung im Einzelfall verläuft.» (Vgl. dazu wolfgang söllner: Schmerz und chronische Schmerzsyndrome, in: Oskar Frischenschlager u. a.: Lehrbuch der Psychosozialen Medizin, 178–183: Psychosomatische Konzepte für das Verständnis des chronischen Schmerzgeschehens.) Als eine Streß-Fehlfunktion könnte sich auch jene vorhin erwähnte «atypische» Form von Depression zu erkennen geben. Erschöpfungszustände, Müdigkeit und Lustlosigkeit werden in diesem Falle begleitet von einer Hyperaktivität des Immunsystems, gefolgt von Gelenk- und Muskelschmerzen, von Fibromyalgie-Symptomen (vgl. Bd. I 521) u. a. Auch in diesen Fällen scheinen ein CRH-Defizit und ein entsprechender Cortisol-Mangel vorzuliegen. (Vgl. esther m. sternberg – philip w. gold: Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 79 –80.) Andererseits ist es nicht weiter verwunderlich, daß langandauernder Schmerz wie bei einer Arthritis sich «auf das Gemüt» legt. «Die Aufdeckung des engen Zusammenspiels von Stress- und Immunsystem aber könnte endlich die gleichzeitige Anfälligkeit beispielsweise für Arthritis und Depression erklären.» (esther m. sternberg – philip w. gold: A. a. O., 80) Auch Neurodermitis wird – wie Asthma – durch psychische Faktoren mitbeeinflußt. elizabeth l. webster, ilia j. elenkov und george p. chrousos (The role of corticotropin-releasing hormone in neuroendocrine-immune interactions, in: Molecular Psychiatry, 2/1997, 368– 372) konnten vor zehn Jahren schon nachweisen, daß CRH bei Streß auch von den postganglionären Sympathicusneuronen in entzündetes oder allergisch reagierendes Gewebe abgegeben wird, was zur Ausschüttung des gefäßerweiternden Histamin aus den Mastzellen führt: Hautrötungen, Juckreiz und Ödeme sind die Folgen. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 103; r. c. aalberse, j. s. van der zee: Überempfindlichkeitsreaktionen, in: J. G. van den Tweel u. a.: Immunologie, 174.) So erklärt sich denn auch, daß unter Streßbelastungen (Angst, Ärger, Aufregung) in aller Regel allergische Symptome sich verstärken. Da wirkt die Seele auf die Haut (es geht uns nicht nur an die Nieren, sondern auch ans «Fell», wir fühlen uns in der eigenen Haut nicht wohl), da verschlägt es uns buchstäblich den Atem. Wenn man bedenkt, daß die Haut das entscheidende Körperorgan darstellt, das zwischen Innen- und Außenwelt vermittelt und abgrenzt, und daß alle Atmung den Grundvorgang

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von Aufnehmen und Abgeben bildet, so wird klar, daß die Behandlung von an Neurodermitis oder Asthma erkrankten Kindern und Erwachsenen nicht in einer bloßen Cortisol-Verschreibung oder im Einsatz von Antalarmin zur Drosselung der CRH-Abgabe in die Haut bestehen kann, sondern sich zentral dem subjektiven Erleben der Patienten widmen muß. (Vgl. johann caspar rüegg: A. a. O., 78; 103.) So versucht ernst august stemmann an der Städtischen Kinderklinik in Gelsenkirchen, mit den Müttern von Neurodermitiskranken Kindern eine klarere Abgrenzung gegenüber ihren Zöglingen einzuüben und dadurch den fast zwangsläufigen Teufelskreis von Überfürsorge, Aggression, Schuldgefühlen und reaktiven Wiedergutmachungen zu unterbrechen. (Vgl. auch mathias jung: «Gestatten, mein Name ist Co-Abhängiger», in: K. u. M. Jung: Die aufgekratzte Seele. Neurodermitis, 21– 29.) Bei Asthmatikern wird der Arzt die (zwangsneurotisch-hysterischen) Panikattacken («ich krieg’ keine Luft mehr») auf Beengtheitsgefühle – möglicherweise auch auf die Ursprünge von Verwöhnung, Enttäuschung und Aggression – zurückzuführen versuchen, stets entlang der Frage: wer bin ich selber – im Unterschied zu den Erwartungen meiner Mutter, meines Vaters? (Vgl. walter bräutigam – paul christian: Atmung bei Asthma bronchiale, in: V. E. Frankl u. a.: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, II 540 –543.) rainer richter (Asthma, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 233 –234) verweist dementsprechend auf den «Ambivalenzkonflikt zwischen Nähe- und zugleich Distanzwünschen» als zentral für die Psychodynamik von Asthmapatienten.

γ) Immunschwäche und einige Folgen: Krebs und Infektionskrankheiten Zu wenig Cortisol, so wissen wir jetzt, fördert Autoimmunerkrankungen und Allergien; zu viel Cortisol aber, als Folge von Streß zum Beispiel, verringert die Immunabwehr – und was dann? Autoimmunreaktionen und Allergien sollten abnehmen, die Gefahr anderer Erkrankungen indes steigt eben dadurch zwangsläufig an. Der Grund: «Glucocorticoide und Katecholamine werden in als belastend erlebten Situationen vermehrt sekretiert und reduzieren in pharmakologischen und hohen endogenen Dosen sowohl die zelluläre als auch die humorale Immunabwehr. Sowohl die Streßreagibilität als auch die Auswirkungen dieser beiden endokrinen Systeme auf die Immunkompetenz kann als relativ gut erforscht angesehen werden.» (michael helmkamp – hartmut paul: Psychosomatische Krebsforschung, 101)

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Unter besonderem Verdacht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose, Arthritis und sogar bestimmte Arten von Krebs zu verursachen, steht inzwischen das Interleukin-6. Wie in Abb. C 5 zu sehen, spielt es nicht nur bei der Immunabwehr durch Makrophagen «in vorderster Front» eine Rolle, es meldet den «Störfall» auch an das Gehirn weiter und aktiviert dadurch das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System und damit die Hormonkaskade CRH – ACTH – Cortisol. (Vgl. karl bechter – katja gaschler: Aufbruch der Killerzellen, in: Gehirn und Geist, 5/2004, 36– 37.) Ein Zusammenhang mit der Entstehung von Krebs ergibt sich, wenn wir bedenken, wie wichtig besonders die Interleukine IL-1 und IL-2 für die Proliferation von Lymphocyten, für die Bildung von Antikörpern, aber auch für die Aktivierung der Natürlichen Killerzellen sind, deren Aufgabe es ja ist, Krebszellen aufzuspüren und abzutöten. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 99.) Wohlgemerkt hat die Entartung von Zellen zu Krebszellen an sich mit dem Immunsystem nichts zu tun; sie kann, neben Virusinfektionen, viele Gründe haben, wie chemische Schadstoffe (Dioxine zum Beispiel) oder radioaktive Strahlung (den Fallout von Atomwaffenversuchen zum Beispiel) u. a.; doch wenn Zellen erst einmal «entartet» sind, wie es immer wieder vorkommt, so entscheidet die Reaktion des Immunsystems bald über Leben und Tod, und insofern sind alle psychischen Einflüsse, welche die Immunabwehr schwächen, indirekt zugleich krebsbegünstigend, und umgekehrt: was das Immunsystem auf dem Weg über die Psyche zu stärken vermag, ist hilfreich auch im Kampf gegen Krebs. Getestet wurde dieser Zusammenhang in den 90er Jahren insbesondere mit Interleukin-12, das, wie gesagt, für die Aktivierung der Natürlichen Killerzellen ausschlaggebend ist: In Versuchen mit Mäusen, denen man Tumore in die Haut implantiert hatte, verschwanden die Krebszellen sehr rasch, als man das Gen für die Produktion von Interleukin-12 in die körpereigenen Zellen der Tiere einschleuste. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 99; j. e. de vries, j. g. van den tweel: Die Abwehr gegen Krebs, in: J. G. van den Tweel u. a.: Immunologie, 215 –216.) Aus Experimenten wie diesen leitet sich die Hoffnung ab, «über die Schiene Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde-Interleukinsystem – d. h. durch das Gehirn bzw. die Psyche – auch bösartige Geschwülste beeinflussen» zu können. (johann caspar rüegg: Psychosomatik Psychotherapie und Gehirn, 99) In der Tat zeigen psychotherapeutische Behandlungen (inklusive autosuggestiver und hypnotischer Techniken), daß sich der Verlauf einer Krebserkrankung je nach der Lebenseinstellung der Patienten ganz erheblich verändert.

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(Vgl. jochen paulus: Eine Hürde für den Krebs, in: Bild der Wissenschaft, 3/2001, 40– 42.) Eine ganz entscheidende Rolle spielt dabei die Frage, ob jemand das Gefühl hat, eine Gefahren- bzw. Streßsituation kontrollieren zu können oder nicht; das Empfinden, «es zu schaffen», steigert in aller Regel die Abwehrkräfte (meßbar an der Anzahl der Natürlichen Killerzellen im Blut!), während das gegenteilige Erleben – bei Menschen vom B-Typus etwa – sich auch psychosomatisch entsprechend negativ auswirkt. «Die Hoffnung läßt nicht zuschanden werden», heißt es im Römerbrief (5,5) – ein Satz, der das genaue Gegenteil des nur ähnlich klingenden, in Wahrheit eher zynischen amerikanischen Sprichworts besagt: «Die Hoffnung stirbt immer zuletzt.» Die Weisheit, die «psychosomatisch» sich in jenem paulus-Wort ausdrückt, ist (mindestens) so alt wie das Buch Jesus Sirach, das mahnend feststellt: «Von der Traurigkeit kommet der Tod, und Schwermut drücket die Lebenskraft nieder.» (38,18) (Zur Behandlung von Krebspatienten vgl. karl köhle: Emotionale Arbeit in der internistischen Onkologie – Integration oder Kooperation?, in: R. Adler u. a.: Thure von Uexküll – Integrierte Psychosomatische Medizin in Praxis und Klinik, 291–309.) Von daher ist es gut verständlich, wenn jürgen hennig (Psychoneuroimmunologie, 176) fordert: «Psychologische Interventionen sollten in der Onkologie (sc. in der Lehre von den Geschwulstkrankheiten, von griech.: der ógkos – Masse, Stolz, Prunk; Geschwulst, d.V.) stärker etabliert werden.» Freilich räumt er ein, daß zur Zeit «kaum Hinweise auf eine mögliche Spezifität der Interventionen» vorliegen; kurz: richtig ist, was hilft, und was nicht hilft, muß sich zeigen. Relativ unspezifisch bleibt auch das Bild, das in der Psychogenese und Psychodynamik von «Krebspersönlichkeiten» entworfen wird; es sind für gewöhnlich vier Hauptmerkmale: «1. Die Eltern der untersuchten Patientengruppen hätten es ihnen gegenüber als Kindern an emotionaler Zuwendung fehlen lassen. 2. Die Patienten seien durch Überanpassung, Konformität und Rigidität gekennzeichnet. 3. Sie seien weniger fähig, Gefühle auszudrücken. Vor allem unterdrückten sie aggressive Regungen. 4. Die Patienten seien nicht imstande, intensive emotionale Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen.» (michael helmkamp – hartmut paul: Psychosomatische Krebsforschung, 76) Ähnlich fällt auch der Eigenschaftskatalog aus, der sich psychoanalytisch erheben läßt; danach ist die «Krebspersönlichkeit» gekennzeichnet durch «Verleugnung und Verdrängung von Emotionen, hauptsächlich Aggression, Wut, Ärger»; durch «Unterwürfigkeit,

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Opferbereitschaft»; durch einen stark normorientierten Lebensstil «mit hohen ethischen und moralischen Anforderungen»; durch eine gehemmte Sexualität; durch erhöhte Depressivität und Angst. (margit von kerekjarto – thomas küchler – karl-heinz schulz: Onkologische Erkrankungen, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 397) Aus diesen Kriterien ergibt sich allerdings «wenig individuelle Entscheidungshilfe». (michael helmkamp – hartmut paul: Psychosomatische Krebsforschung, 77) Daß gleichwohl das Tumorwachstum durch psychophysiologische Faktoren beeinflußt wird, zeigt sich – neben den genannten Tierversuchen – auf geradewegs dramatische Weise an den nicht zu leugnenden Fällen von Spontanremissionen (a. a. O., 121–122), in denen die Krankheit plötzlich und wie von selbst («spontan») zurückgeht («remittiert», von lat.: remittere – zurückschicken, ablegen, nachlassen). Vielfältig belegt durch Tierversuche sowie durch Erfahrungen mit dem Krankheitsverlauf bei Menschen ist der Zusammenhang von Streß und Infektionsanfälligkeit. Mäuse zum Beispiel, die man mit Grippeviren infiziert hatte, erkrankten unter Streß deutlich stärker als nicht-gestreßte Tiere; auch die Aktivität der Streß-Achse sowie der Sympathicotonus waren auf charakteristische Weise erhöht. «Ähnliche Effekte scheinen bei vielen Viruserkrankungen aufzutreten», schreiben esther m. sternberg und philip w. gold (Psyche, Stress und Krankheitsabwehr, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 81), und sie fügen hinzu: «Möglicherweise ist damit sogar zu erklären, weshalb sich Stress ungünstig auf den Verlauf von AIDS auswirken kann.» (Vgl. dazu bernd fittschen: HIV-Infektion und AIDS, in: A.-E. Meyer u. a.: Jores Praktische Psychosomatik, 459– 461: Psychologische Krankheitsverarbeitung bei HIV-Infektionen.) Auch bei bakteriellen Infektionen, wie bei Tuberkulose und wie bei Salmonellen-Infektionen, läßt sich ein Gleiches feststellen. Und umgekehrt: die Exposition mit Tuberkuloseerregern führte im Vergleich zu gestreßten Mäusen bei nicht-gestreßten Tieren in geringerem Maße zu Infektionen, und selbst massive Salmonellen-Infektionen verliefen bei Ratten nicht tödlich, «wenn ihre hormonelle Stress-Achse intakt war». (esther m. sternberg – philip w. gold: A. a. O., 81) Bei der Übertragung solcher Ergebnisse auf den Menschen ist freilich zu bedenken, daß der subjektive Faktor für das, was als «Streß» empfunden wird, erheblich variabler sein kann, als es sich in der Tierpsychologie (bis heute) beobachten läßt. Was der eine als Streß erlebt, kann einem anderen als relativ belanglos erscheinen; wo der eine die Streßsituation «im Griff» zu haben meint und durch die Herausforderung sich positiv motiviert fühlt, kann ein anderer

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sich überfordert vorkommen und resignieren; wo der eine Hilfe einfordert, verkriecht sich ein anderer. «Diverse Untersuchungen, insbesondere solche, die auf retrospektiven Angaben beruhen (sc. die in naturwissenschaftlichem Sinne also nicht sehr verläßlich sind, d.V.), legen den Eindruck nahe, daß Neurotizismus (sc. eine Gesamtverfassung, die durch emotionale Labilität, Schüchternheit und Gehemmtheit charakterisiert ist, d.V.) den entscheidenden Moderator für streßinduzierte Infektionserkrankungen darstellt.» (jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 161) Mit einem Wort: Auch und gerade beim Ausbruch einer Infektionskrankheit sollten in der Anamnese Fragen nach den Lebensumständen des Patienten eine besondere Aufmerksamkeit verdienen; wichtiger als «harte» Medikamente (wie Antibiotika – griech.: «Mittel gegen Lebendes») im Kampf gegen Bakterien kann zum Beispiel die Verbesserung der psychosozialen Lage des Patienten, die Verschreibung einer Kur oder eine verständnisvolle Begleitung in einer objektiv unveränderlichen Situation sein. Nicht außer acht lassen sollten wir insbesondere die sichere Tatsache, daß eine (langdauernde, womöglich schmerzhafte) Krankheit selbst als ein alles beherrschender Streßfaktor wirken kann. Zum einen ist es so, daß Streß (die Psyche) auf das Immunsystem wirkt und Krankheiten erzeugt, zum anderen belasten Krankheiten psychisch und verstärken damit die Fehlfunktion des Immunsystems. «Fieber, Schwächegefühl, Appetitlosigkeit, Reduktion sozialer Interessen etc. sind allesamt als negativ und somit als belastend einzuschätzen.» (jürgen hennig: Psychoneuroimmunologie, 161) Nachdem wir geschildert haben, wie die «Psyche» über Hormonsystem und autonomes (vegetatives) Nervensystem mit dem Immunsystem interagiert, sollten wir uns jetzt auch etwas näher anschauen, wie das Gehirn selbst mit dem Immunsystem wechselwirkt.

δ) Die Wechselwirkung von Gehirn und Immunsystem oder: Ein wenig Poesie und Religion Es genügt, daß der Organismus von Bakterien befallen wird, und es werden die Giftstoffe der Bakterien selbst die Streßachse aktivieren, mit dem Ergebnis einer erhöhten Cortisolausschüttung. Der Körper verfügt offenbar nur über diese eine Form, auf Gefahren – seien es äußere, seien es innere – zu reagieren, und gegen Infektionskrankheiten erweisen sich die gleichen Maßnahmen als hilfreich, die auch ansonsten dazu beitragen, einen Raubfeind anzugreifen oder zu fliehen: der durch die Cortisolausschüttung erhöhte Blutzuckerspiegel

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stellt die nötige Energie zur Verfügung, und die cortisolbedingte Dämpfung der Immunreaktionen hilft, ein Überreagieren des Immunsystems – mit der Folge zum Beispiel von Autoimmunerkrankungen – zu vermeiden. Der entscheidende Botenstoff aber, der eine Infektion oder Verletzung an das Gehirn meldet, ist jenes von den Makrophagen produzierte Interleukin-1 (vgl. Abb. C 5 und C 6), wie hugo besedovsky u. a. (Immunoregulatory feedback between interleukin-1 and glucocorticoid hormones, in: Science, 233/1986, 652 –654) in Gießen in Experimenten mit Mäusen herausfanden. IL-1 aktiviert nun aber nicht nur die Streß-Achse, es sorgt auch für eine fiebrige Erhöhung der Temperatur (es ist ein «Pyrogen», von griech.: das pyr – Feuer, gene¯s – erzeugend) und vermittelt insgesamt das Gefühl einer «Malaise» (franz.: Unwohlsein): Man hat keinen Appetit mehr, fühlt sich wehleidig und apathisch, man verspürt ein Gliederreißen, kurz, man empfindet sich – auch psychisch – als «krank». (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 107; 108.) Da Fieber sich außerordentlich rasch, in Minuten-Schnelle, nach einer Infektion ausbreitet (und in gewissem Sinne einen Gradmesser für die Heftigkeit der Immunreaktion darstellt), erhebt sich natürlich die Frage, wie IL-1 so schnell die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann. Die Antwort, die steven f. maier u. a. (The role of the vagus nerve in cytokine-to-brain communication, in: Annals of New York Academy of Sciences, 840/1998, 289 –300) fanden, war überraschend: Die Meldung des Immunsystems an das Gehirn erfolgt (primär) nicht über die Blutbahn, sondern über die Nerven. Man injizierte Mäusen bakterielle Antigene, zum Beispiel Lipopolysaccharide, und beobachtete, was zu erwarten stand: die Tiere bekamen Fieber; schnitt man den Mäusen jedoch zuvor den Vagusnerv heraus, so unterblieb der Fieberanfall. Wir wissen längst, daß der Vagusnerv Signale aus dem Hirnstamm zu seinen Zielorganen in Brust und Bauch weiterleitet (vgl. Bd. I 70; 237), doch natürlich gilt auch das Umgekehrte: der Vagusnerv informiert das Zentralnervensystem über den Zustand in der Peripherie, und so meldet er prompt vor allem auch eine Mobilmachung des Immunsystems. (Die in manchen Psycho-Kreisen so favorisierten «Gefühle aus dem Bauch» entstammen samt und sonders der Aktivität des Vagusnervs, wofern sie nicht auf bloßer Einbildung oder einem Mißverständnis metaphorischer Ausdrucksweisen basieren.) Wie lisa e. goehler, steven f. maier u. a. (Interleukin-1 beta in immune cells of the abdominal vagus nerve: a link between the immune and nervous systems?, in: The Journal of Neuroscience, 19/1999, 2799 –2806) herausfanden, reagieren allerdings die Endigungen des Vagusnervs nicht als solche auf das

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von den Makrophagen produzierte Interleukin-1, vielmehr sind es modifizierte vegetative Nervenzellen in sogenannten Paraganglien, die das Signal von IL-1 aufnehmen und an die Endigungen des Vagusnervs weiterleiten, die ihrerseits den schon erwähnten Nucleus solitarius in der Medulla oblongata informieren; von dort geht das Signal dann an den Hypothalamus und an das limbische System weiter. Dadurch steigen die Werte von IL-1 im Gehirn an, «wo es von Neuronen hergestellt wird . . . Mit einiger Verspätung können jedoch Interleukin-1 und andere Zytokine (IL-6 und TNF-α) das Gehirn auch noch auf dem Blutweg erreichen und so die initiale, über Nerven vermittelte Botschaft des Immunsystems verstärken.» (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 108; vgl. auch jochen fanghänel u. a.: Waldeyer – Anatomie des Menschen, 99.) Wie es zwei unterschiedlich schnelle Schmerzbahnen gibt und zwei unterschiedlich schnelle Informationswege für drohende Gefahren, so arbeitet offenbar auch das Immunsystem mit einer schnelleren und einer langsameren «Nachrichtentechnik»; und das Ergebnis einer Infektionsmeldung ist klar: wir fühlen uns elend, wie unter Streß. Die umgekehrte Erfahrung freilich wird wohl auch schon mancher Leser bei sich selber gemacht haben: So wie fiebrige Krankheiten psychischen Streß auslösen können, so kann psychischer Streß Fieber erzeugen, und zwar wiederum durch die Produktion von Interleukin-1, das in diesem Falle insbesondere von Neuronen im Hippocampus gebildet wird. So langt es völlig aus, Mäuse in eine neue Umgebung zu versetzen, und der Streß, der für die Tiere damit verbunden ist, läßt die Werte von IL-1 und IL-6 im Gehirn deutlich ansteigen; die Mäuse erkranken an Fieber. (Vgl. elizabeth pennisi: Tracing molecules that make the brain-body connection, in: Science, 275/1997, 930– 931.) Von daher kann man sich gut vorstellen, wie zum Beispiel die Fieberschauer der Malaria (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 295– 298) psychisch auf die betroffenen Patienten (das sind rund 2 –2,5 Millionen alljährlich allein in Indien!) wirken müssen. (Vgl. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 108 –109.) In jedem Falle kann sich nicht deutlicher zeigen, wie eng Seele und Körper, Psyche und Immunsystem wechselseitig zusammenhängen, indem die Immunreaktion über eigene Botenstoffe wie IL-1 das Gehirn (in wörtlichem Sinne) «informiert» und umgekehrt das Gehirn durch die Ausschüttung bestimmter Hormone das Immunsystem zu kontrollieren sucht. «Dieser Prozess ist einem Reflex in einem sehr großen Reflexbogen . . . vergleichbar, bei dem Informationen aus der Körperperipherie zum Zentralnervensystem und von diesem wieder an die Peripherie zurückgeleitet werden . . . Diese Botschaft aus dem

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Immunsystem wird . . . dem Gehirn über den Vagusnerv zugetragen, der gewissermaßen den ‹afferenten Schenkel› des Reflexbogens repräsentiert. Die zentralen Neurone im Hypothalamus und Hippocampus beantworten die Information aus dem Immunsystem über die ‹efferenten Schenkel› des Reflexbogens, nämlich zum einen über den Sympathikus und Vagus . . ., zum anderen über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, indem sie z. B. die Kortisolproduktion in den Nebennieren ankurbeln. Weil Kortisol das Immunsystem hemmt, schließt sich damit der Reflexbogen . . . zu einem Regelkreis.» (johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 109 –110) Durch dieses System negativer Rückkopplungen kann somit die Stärke der Immunreaktion auf ein bestimmtes Niveau eingestellt werden. Und in diesen Regelkreis ist nun auch, wie wir gerade gehört haben, der Hippocampus miteinbezogen: So wie das Immunsystem sich die Krankheitserreger für alle Zeiten «merkt», auf die es je hat reagieren müssen, so erinnert auch das Gehirn sich an all die «Schlachten», die in der Peripherie zwischen bestimmten Antigenen und dem Immunsystem jemals geschlagen wurden. Psychisch wie somatisch fällt es dem Organismus dadurch leichter, eine rasche Antwort auf eine schon «bekannte» Krankheit zu finden; andererseits ergibt sich aus diesem «Vorteil» auch wieder der «Nachteil» jener unglückseligen Mechanik, die zum Beispiel einen Asthmatiker immer wieder auf ein bestimmtes Allergen hin mit Angstatmung zu reagieren nötigt oder die einen Polyarthritis-Kranken in den Teufelskreis sich steigernder Schmerzempfindung treibt. hans j. markowitsch (Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses, in: Onur Güntürkün: Biopsychologie, 104 –113; bes. 110–111) berichtet zum Beispiel von einem Mann, der nach Gedächtnisverlust von seinem Asthma und von seinen Allergien befreit war. Einerseits wirkt also unser Körper (unser Immunsystem) «somatopsychisch» auf unser Gehirn, anderseits fördert oder hemmt unser Gehirn (unsere Psyche) «psychosomatische» Erkrankungen unseres Körpers. (Vgl. ulrich kropiunnigg: Psychoneuroimmunologie (PNI), in: O. Frischenschlager u. a.: Lehrbuch der Psychosozialen Medizin, 99–112.) Genau diese Interaktionseinheit von Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem eröffnet nun die Chance einer nicht nur somatisch orientierten, sondern auch psychisch ausgerichteten Therapie. Alles, was wir über psychosomatische (und somatopsychische) Erkrankungen gehört haben, ruft geradezu nach einer Änderung der immer noch weit verbreiteten Gewohnheit, den Kranken im Rahmen der «Schulmedizin» als einen bloßen «Fall» zu betrachten, dem man mit rein physiotherapeutischen (medikamentösen, operativen u. a.) Methoden «zu Leibe» rücken könnte. Gerade die Vernachlässigung des

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seelischen Faktors kann erheblich zu einer Verlängerung des Krankheitsverlaufs, ja, zu einer Unbehandelbarkeit der Krankheit beitragen. Das Gefühl des Verlorenseins, der Hilflosigkeit, der Ausgeliefertheit kann in sich selbst bereits krankheitverursachend wirken, und es kann bestehende Krankheiten dramatisch verschlimmern. Insofern nötigt die Psychosomatische Medizin, gestützt auf die Fortschritte der Neurologie, in unseren Tagen dazu, den Kranken als Subjekt wieder zurückzugewinnen. Nicht Krankheiten, – Menschen, die krank sind, gilt es zu heilen. (Vgl. bernard lown: Die verlorene Kunst des Heilens, Kap. 12: Ärztliches Fehlverhalten korrumpiert das Heilen, 136–152; vgl. auch den Erfahrungsbericht von rolf adler: Die Verwirklichung des biopsychosozialen Modells – Erfahrungen seit 1978, in: R. Adler u. a.: Thure von Uexküll – Integrierte Psychosomatische Medizin in Praxis und Klinik, 221– 235.) Es war – wieder einmal – immanuel kant, der in seiner Abhandlung «Von der Macht des Gemüts, durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein» (in: Werke in 6 Bden., VI 371– 393) auf Grund eigener Erfahrungen eine Art Vademecum der Psychosomatischen Medizin formulierte. Der Königsberger Philosoph litt lange Zeit an Herzbeklemmungen, die mit schweren hypochondrischen Ängsten einhergingen, so daß er sich veranlaßt sah, mit geistigen Mitteln seine Gedanken und Gefühle unter Kontrolle zu bringen – offenbar mit Erfolg. «Die Beklemmung ist mir geblieben», notierte er, «. . . Aber über ihren Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge.» (A. a. O., 380) Der Arzt, der sich in jener Zeit schon für eine vorbeugende Gesundheitspflege einsetzte und zu diesem Zweck die Kunst der «Lebensverlängerung» (griech.: der Makrobiotik) durch eine gesunde Ernährungsweise mit Getreide und Gemüse entwickelte, war christoph wilhelm hufeland (1762 –1836); im Vorwort zu kants Abhandlung schrieb er 1824: «Jedermann kennt die Kraft der Imagination. Niemand zweifelt daran, daß es eingebildete Krankheiten gibt, und daß eine Menge Menschen an nichts anders krank sind, als an der Krankheitseinbildung. Ist es nun aber nicht ebensogut möglich und unendlich besser, sich einzubilden, gesund zu sein? Und wird man nicht dadurch ebensogut seine Gesundheit stärken und erhalten können, als durch das Gegenteil (:, d.V.) die Krankheit?» (Zit. n. johann caspar rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn, 161, Anm. 78.) Wir haben bereits gesehen, welch eine machtvolle Wirkung auf den Verlauf einer Krankheit der bloße «Glaube» an die Wirksamkeit von Placebos auszuüben vermag; und wir hören jetzt, daß ein Mann wie immanuel kant durch

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einfache Selbstdisziplin im Umgang mit seinen hypochondrischen Gedanken einen Zustand zu erreichen wußte, wie wir ihn in etwa bei der Wirkung von Morphium auf die Empfindung von Schmerz kennengelernt haben: der Schmerz ist noch da, doch er macht (fast) nichts (mehr) aus (vgl. Bd. I 517). Kein Zweifel also, daß eine günstige Lenkung der Gedanken ins Positive Streß zu beruhigen vermag und streßbedingte Krankheiten abzubauen imstande ist. Doch man muß nicht ein Philosoph sein wie immanuel kant, um zu sehen, daß hier ein tiefes Problem liegt, das – wie so oft – von der Neurologie (bzw. der Psychoneuroimmunologie) zwar bewußtgemacht, aber nicht gelöst werden kann: Placebos wirken nur so lange, als man an sie glaubt, und Glauben läßt sich auf die Dauer nur stützen durch Gründe, die ihn bei nachdenklicher Kritik als glaubwürdig erweisen. Wenn aber Angst, wie wir sahen, wesentlich dazu gehört, mit Bewußtsein eine Welt zu reflektieren, die durch Leid, Krankheit und Tod gekennzeichnet ist, – was dann? Was, wenn es im letzten keine Argumente mehr gibt, die angesichts des sicheren Endes noch «Hoffnung» begründen könnten? Wieder ist hier eine religiöse Sicht auf die menschliche Existenz die einzig verbleibende Auskunft. Seltsames begibt sich seit einiger Zeit im sauerländischen Nordenau. Ein alter Schieferstollen, vor Jahren schon stillgelegt, erweist sich als ein wahrer Goldbrunnen, seitdem vor Jahr und Tag ein holländischer Klempner, Alvin van Balkom, bei seinem Betreten sich von starken «Strahlungen» umgeben fühlte; auf dieses Mannes Zeugnis hin drang die Kunde ins Land, der Stollen besitze heilende Kräfte, und mittlerweile wird der kleine Ort von Hunderten von Menschen, gesunden wie kranken, aufgesucht, die, nach Bezahlen des Eintritts, etwa 20 Minuten in der Stille der Bergabgeschiedenheit sitzend verbringen, um hernach, in Fläschchen abgefüllt, Wasser wie eine Arznei der Natur mit nach Hause zu tragen. Manche mieten sich in einem nahegelegenen Hotel ein, um sogar mehrmals des Tags den Stollen «anzufahren», und nicht wenige ließen inzwischen ihre wunderbare Genesung von gefährlichen, für unheilbar gehaltenen Krankheiten an den Wänden des Warteraums dokumentieren. Kurz, man findet derzeit Gelegenheit, in Nordenau einen säkularen Wallfahrtsort im Entstehen zu betrachten, der bemerkenswerter Weise (noch) frei ist von kirchlich verwalteten Konnotationen. Dabei bietet das symbolische Ambiente ein in etwa gleiches Erscheinungsbild wie die berühmte Grotte von Massabielle bei Lourdes, in welcher im Jahre 1858 dem 14jährigen Bauernmädchen bernadette soubirous (1844 –1879) eine «schöne Frau» erschien, die ihr schließlich verriet, sie sei die «Unbefleckte Empfängnis» – ein Dogma, das Papst pius ix. (1846 –1878) bereits am 8. Dezember 1854 hatte verkünden lassen und

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das besagt, die «Mutter Gottes» sei, anders als alle anderen Menschen, durch ein einzigartiges Gnadenprivileg Gottes, «ohne den Makel der Erbsünde» gezeugt worden; schon 1862 erklärte die katholische Kirche die Erscheinungen Mariens in Lourdes für «echt» und anerkannte die Wallfahrten zu dem südfranzösischen Ort in den Ausläufern der Pyrenäen als legitime Form der Marienverehrung; – die deutschen Soldaten der Bundeswehr kommen bis heute, soweit katholisch, in den steuerfinanzierten Genuß einer Freifahrt nach Lourdes unter Leitung beamteter Militärpfarrer. Daß Grotten und Quellen, aber auch Bäume (wie im portugiesischen Fatima) als Orte «weiblicher» «Kraft» empfunden und mit Wundern der Heilung in Verbindung gebracht werden, ist gewiß ein religionsgeschichtlich sehr alter Gedanke. (Vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 311– 320; S. 316 –317 zu der Erscheinung in Lourdes; S. 318 zu der Erscheinung der Madonna im mexikanischen Guadalupe; jener Juan Diego, der am 9. 12. 1531 eine Erscheinung der «Mutter Gottes» gehabt haben soll, hat, obwohl seine Lebensdaten mit 1474 –1548 angegeben werden, aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht gelebt – er ist eine rein legendäre Gestalt; nichts desto trotz hat die Kirche Roms ihn 2002 heilig gesprochen.) Offenbar gibt es im Menschen seelische Kräfte des Vertrauens, die – unterstützt durch symbolische Szenarien oder religiöse Riten und Vorstellungen – Krankheiten auf eine Weise zu beeinflussen vermögen, die ans Wunderbare grenzt und theologisch denn auch als ein «Beweis» für ein «Eingreifen Gottes» – als ein Wunder – interpretiert wird. Tatsächlich gibt es Erzählungen von Wunderheilungen in allen Religionen, und wo immer sie vorkommen, haben sie etwas zu tun mit eben jenem Vertrauen, das Menschen in der Begegnung mit göttlichen Personen – oder «Geistern» – an «heiligen» Orten oder durch die Kraft «heiliger» Ritualien oder Materialien ermöglicht wird. (Vgl. e. drewermann: A. a. O., II 129 –141.) Der korrekte Name für eine solche Heilung, die selbst eine schwere Krankheit rasch beendet, ohne dafür eines spezifischen Mittels – außerhalb eines starken Glaubens – zu bedürfen (vgl. erwin liek: Das Wunder in der Heilkunde, 155), lautet, uns schon vertraut, medizinisch: Spontanremission – das unwillkürliche (teilweise oder vollständige) Verschwinden (von lat.: die remissio – Zurücksenden, Nachlassen) einer Krankheit; selbst Krebs, so hörten wir vorhin, kann einer solchen Spontanremission unterliegen. Um dieses Phänomen in seiner religiösen Begründung und Deutung zu erforschen, hat der Chefarzt für Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin andreas beck am Klinikum Konstanz in einer eingehenden Studie die Wunderheilungen an europäischen Marienerscheinungsorten so gut wie vollständig

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durchgesehen, um mit der bemerkenswerten Frage zu enden: «Warum . . . nimmt die Zahl der anerkannten Wunderheilungen in Lourdes seit den fünfziger Jahren stetig ab, wobei dagegen die Veröffentlichungen von Spontanheilungen in der medizinischen Fachliteratur immer zahlreicher werden?» (andreas beck: Wunderheilungen in der Medizin?, 515) Anscheinend verlagert sich in unserer Gesellschaft der Kredit, der einmal der Religion geschuldet wurde, immer mehr auf die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, von Gott (oder den Göttern) im Himmel zu den (vermeintlichen) Göttern in Weiß auf Erden. «Wunder», meint beck, «sind letztlich stets kommunikative Ereignisse zwischen dem Heiler und dem Geheilten, anders ausgedrückt akzeptiert der Geheilte die heilende Autorität oft zum großen Teil, meist aber völlig. Wunder geschehen nicht im Sinne einer drittklassigen, routinemäßigen ‹Krankenscheinbehandlung›, sondern sind im übertragenen Sinn immer ‹Privatpatienten-Behandlungen›, wobei in die Therapie ein wesentlich größeres Maß an ‹Honorar› (= Ehrengabe) gegeben wird als im üblichen Heilbetrieb. Der zu Therapierende legt in seiner Ausweglosigkeit seine gesamte Existenz in die Hände des Heilers, da er sonst nichts zu erwarten oder zu verlieren hat. Bei sämtlichen von uns untersuchten Wunderheilungen ist dieser Mechanismus zu beobachten gewesen . . . Diese Übertragung der eigenen Defizienz (sc. lat.: Schwäche, d.V.) auf den Heilkundigen ist das eigentliche, sehr starke Movens, um von der eigenen Misere durch die Hilfe eines Mächtigeren zum ‹Heil› zu kommen. – Wunder sind im weitesten Sinne religiös, das heißt angebunden an die Autorität und die Fähigkeiten des Heilenden schlechthin, gleichwelcher Herkunft dieser ist.» (andreas beck: A. a. O., 522) Insofern zeigt sich in den «Wundern» eigentlich nur in der Energie konzentriert und in der Zeit kontrahiert, was bei einer medizinischen Behandlung – mehr oder weniger – stets geschieht; die «theologische» Interpretation erscheint dieser Grundtatsache gegenüber als sekundär und vor allem als nicht notwendig, selbst wenn sie im Einzelfalle in einem «Wunder» ihre Bestätigung zu finden glaubt; zudem bleibt sie mit der «Erklärungsnot für das Geschehenlassen von Wundern (sc. durch Gott, d.V.) bei dem einen und der Verweigerung beim anderen» behaftet (andreas beck: Wunderheilungen in der Medizin?, 519). Viel einfacher – und wohl auch zutreffender – dürfte es deshalb sein, die Heilung gerade auch von schweren Karzinomen oder Koronargefäßerkrankungen psychosomatisch zu deuten und darin eine Wirkung jenes mit dem Willen nicht zu steuernden «Vertrauensfaktors» zu erkennen, der sich bei dem einen einstellt, während er bei dem anderen unterbleibt. (Von einer «Umstimmung des Immunsystems» sprechen auch maria wittmer-butsch und con-

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stanze rendtel: Miracula, 258– 263, um manche «Wunderheilungen» von Tuberkulose u. a. im Mittelalter zu erklären.) Das psychologisch ebenso wie philosophisch-religiös Unbefriedigende, ja, geradezu Bedenkliche an allen «Wunderheilungen», geschehen sie nun durch göttliche «Visionen» oder durch «vergöttlichte» Ärzte, liegt allerdings – unerachtet der kausalen Erklärungsversuche – prinzipiell in der Delegation bzw. Projektion aller eigenen Fähigkeiten und Kräfte in einen Vorgang, der als ichfremd, als undurchschaubar und deshalb geheimnisvoll, von außen auf den Kranken zurückkommen soll, um an ihm zu wirken, was er sich selber nicht zutraut. Was für ein Unterschied im Umgang mit der eigenen Not besteht etwa in der Selbstheilung kants durch Lenkung seiner Gedanken und der völligen Selbstentleerung und Selbstauslieferung eines Patienten, der glaubt, daß nur noch ein «Wunder» ihn retten kann! Wohl ist das Gefühl der Ohnmacht mehr als verständlich für einen Menschen, der sich empfindet wie ein zum Tode Verurteilter unter dem Fallbeil; und doch ist es von wesentlicher Bedeutung, ob jemand sein Heil von der Kraftverleihung an bestimmte Gegenstände (Wasser, Steine, Hölzer, Bilder, Rosenkränze usw.) erwartet oder ob er sich als Person einer anderen Person anvertraut. Im Neuen Testament vor allem zeigt sich eine Besonderheit der Wunder Jesu gerade in der außerordentlichen Personalisierung der für «göttlich» geglaubten Heilungsvorgänge. (Vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 133; 137; 139.) Die Erzählungen der Evangelisten lesen sich von daher wie symbolische Handlungsvorbilder menschlicher Begegnung, die allerdings einer Nacharbeitung bedürfen, auf daß Gottvertrauen und Selbstvertrauen nicht länger antithetisch auseinanderfallen, sondern zu einer sich wechselseitig bestätigenden Einheit zusammenwachsen. Die heilende Kraft, die von «Gott» kommt, ist einzig die Form einer Liebe, die durch ihr Verstehen und ihre Bereitschaft zu vorbehaltloser Akzeptation dem Kranken ein Vertrauen in den unveräußerlichen Wert, in die unzerstörbare Liebenswürdigkeit seiner Person zurückschenkt, so daß in ihm der Wunsch nach Leben stärker wird als die letalen Mechanismen. Richtig gesehen – oder geahnt – haben auch an dieser Stelle die Dichter aller Zeiten. Man kann eine Krankheit sich einbilden, wie molière (Jean-Baptiste Poquelin, 1622 –1673) es mit dem Stück Der eingebildete Kranke noch in seinem Todesjahr für die Bühnen der Welt auf den Spielplan gesetzt hat. Diese Satire auf die Scharlatanerie und Geldgier der Ärzte (seiner Zeit) endet mit der Aufforderung, statt sich lebenslänglich einen Arzt zu halten, der nur seine (aristotelische) Schulweisheit herunterzubeten versteht, doch selber sein eigener Arzt zu werden; das aber kann nur geschehen, indem der von seinen krankhaf-

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ten Imaginationen gepeinigte Argan der Liebe zwischen seiner Tochter Angelique und dem «Musiklehrer» Cléante zustimmt. Die Liebe als Arzt (frz.: L’amour médecin) heißt denn auch eine Komödie molières schon aus dem Jahre 1665: Die von ihrem tyrannischen Vater Sganarelle unterdrückte Lucinde erkrankt auf den Tod, wird aber geheilt, indem ihr junger Liebhaber Clitandre in der Verkleidung eines Arztes Zugang zu ihr erhält und den egoistischen Alten irrtümlich, doch rechtsgültig, einen Ehekontrakt unterschreiben läßt. Das Gegenteil in gewissem Sinne schildert johann wolfgang von goethe (1749 –1832) in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften (1809), indem er in der Person Ottiliens die Macht der Liebe (zu Eduard) ebenso wie die Macht des Schuldgefühls (für den Tod des Kindes von Eduard und Charlotte) Gestalt gewinnen läßt, bis daß beide Strebungen in dem Zwang einer tödlich verlaufenden Anorexie konvergieren. Nichts kränkt die Seele eines Menschen offenbar empfindlicher, als wenn er liebt, wo die Liebe gesellschaftlich als ein Verbrechen verurteilt und religiös als eine Sünde verworfen wird. Es fällt schwer, an dieser Stelle dem ursprünglichen Ansatz der Psychoanalyse zu widersprechen: Der Gesundung am meisten dient eine glücklich gelingende Liebe, und weniges nur wird Streß und Erkrankung stärker begünstigen als eine verweigerte, unterdrückte, verbotene Liebe. Humorvoll didaktisch verdeutlicht hat adalbert stifter (1805 –1868) diese Einsicht in seiner Novelle Der Waldsteig (1844), in welcher er in Herrn Tiburius Kneigt das Portrait eines hypochondrischen Stubenhockers und ausgemachten Hagestolzes malt, der es nach drei Jahren des Lesens in allen möglichen medizinischen Büchern dahin gebracht hat, «alle Merkmale aller Krankheiten zu gleicher Zeit» an sich wahrzunehmen. (Werke in 3 Bden., I 825) Der einzige Rat, den sein «hoch verehrtester Doktor» ihm zu geben weiß, entfernt sich indes am weitesten von den Überlegungen, die dem noch jungen, doch früh vergreisten Tiburius von allein je gekommen wären, und doch erweist er sich als einzig richtig: «Sie müssen heiraten», spricht der Doktor, «aber zuvor müssen Sie in ein Bad gehen, wo Sie sogar Ihr Weib finden werden.» (I 830) Denn wirklich trifft Herr Tiburius in seinem neu bezogenen Badeort eines Tages «ein Bauermädchen der Gegend» (I 850), das ihm ein Körbchen Erdbeeren schenkt und ihn fortan Tag um Tag zum Erdbeerenpflücken in den Wald einlädt; wenn auch Herr Tiburius zunächst eine Weile lang «mit Ängstlichkeit das Wörtchen du» zu vermeiden sucht, so sieht er Marie doch bald schon «verstohlen von der Seite an» und bewundert «einen Zug ihrer Schönheit». (I 866) Und siehe, es geschieht, wie es geschehen soll: Indem die Liebe kommt, vergeht die Krankheit. – Kann es, so betrachtet, nicht generell sein, daß die stete Angst um

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sich selbst, daß die hypochondrische Befürchtung von Krankheit und Tod nur die Folgen einer geheimen Angst vor der Liebe sind und daß umgekehrt der Mut zur Liebe sich als das wirksamste Medikament gegen alle seelischen und seelisch-körperlichen Erkrankungen empfiehlt? sigmund freud wäre diesem Gedanken gewiß gewogen gewesen. Wenn aber die Liebe stirbt? Oder der Liebende, die Geliebte? Welche «Hoffnungen» lassen sich gründen über dem gähnenden Abgrund von Tod und Vergänglichkeit? Ich entsinne mich, wie in meiner Heimatgemeinde Bergkamen etwa um 1950 einem benachbarten Mann die Frau verstarb. Niemand bis dahin hatte an ihm irgendein Anzeichen beginnender Krankheit entdeckt. Fast erschrocken deshalb war man im Ort, als fast genau übers Jahr der Mann an Krebs verschied wie seine Gattin. «Er ist ihr nachgefolgt», sagte man beinahe andächtig, oder: «Er wollte bei ihr sein.» Es war das erste Mal, daß ich erlebte, wie seelischer Kummer einen Menschen ins Grab zu treiben, ins Grab zu locken vermag, – wie Trauer und Leid sich auswachsen können zu einer tödlichen Krankheit. Keiner vor 50 Jahren hätte in aller Welt zu sagen gewußt, wie und warum sich so etwas vollzieht, die Leute von Bergkamen aber kannten die Möglichkeit – und anerkannten sie. Heutigentags wissen wir weit mehr um die krebsbegünstigende Wirkung von «Streß», doch tut sich die inzwischen theoretisch gut begründete «psychosomatische» Sicht auf den Menschen in Zeiten leerer Krankenkassen nach wie vor ausgesprochen schwer, in der ärztlichen Praxis sich durchzusetzen. Und offen bleibt nach wie vor der Fall, der zur Endlichkeit des Menschen unabtrennbar gehört: daß unter bestimmten Bedingungen alle innerweltlich begründbare «Hoffnung» entschwindet oder gar anmutet wie eine böse Satire auf den verzweifelten Lebenswillen des Menschen. Letztlich mißversteht ein Arzt sein eigenes Tun, wenn er es betrachtet als Kampf gegen den Tod. (Vgl. bernard lown: Die verlorene Kunst des Heilens, 19. Kap.: Tod und Sterben, 244 –268.) Ein Märchen der brüder grimm (KHM 44: Der Gevatter Tod) sieht so falsch nicht, wenn es den Arzt als ein «Patenkind» des Todes betrachtet, dessen «Macht» allein darin liegt, am Krankenbett die «Konstellation» des Todes richtig wahrzunehmen – und ihr sich zu fügen; denn jeder Versuch, die Lage des Kranken zu «drehen», wird gefährlich am Ende für den Arzt selbst. (Vgl. e. drewermann: Der Gevatter Tod, in: Der Herr Gevatter. Der Gevatter Tod. Fundevogel, 35– 64.) Im letzten gilt es, den Tod zu empfangen wie einen Freund; doch dazu müßte dieser selbst die Gestalt eines Seelenbegleiters annehmen, der den Sterbenden hinübersetzt in ein anderes Land, da «Gott abwischen wird alle Tränen . . . und der Tod nicht mehr sein wird noch Leid noch Klage

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noch Schmerz». (Apk 21,4) Es ist eine Hoffnung, die den Tod nicht im Ringkampf zu besiegen verspricht, wie in der griechischen Mythe der Heros Herakles dem Totengott Thanatos mit Gewalt die jungverheiratete Alkestis entreißt, da diese freiwillig sich in den Tod gab, um ihren geliebten Gemahl Admetos vor dem Schicksalsfluch der Jagdgöttin Artemis zu erretten (vgl. karl kerényi: Die Mythologie der Griechen, II 127); es ist eine Hoffnung, die dem Tod seinen Schrecken nimmt in der Zuversicht, daß die Worte der Zärtlichkeit sich erfüllen, die sagen: «Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn die Liebe ist stark wie der Tod . . . Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, so daß auch viele Wasser die Liebe nicht löschen und Ströme sie nimmer ertränken.» (Hld 8,6.7)

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2. Psychoneurotische und psychotische Erkrankungen

a) Schwierigkeiten in der Unterscheidung Im Umkreis der psychosomatischen (und somatopsychischen) Erkrankungen haben wir es mit den Folgen von Streß auf bestimmte Körperorgane und deren Funktionsweisen zu tun sowie mit den Rückwirkungen dieser Störungen auf das Gehirn. Anders bei den Neurosen und Psychosen. Sie können den Hintergrund gewiß auch für episodische oder chronische Funktionsstörungen vegetativ innervierter Organsysteme bilden (vgl. a. deister: Somatoforme Störungen, in: Hans-Jürgen Möller u. a.: Psychiatrie und Psychotherapie, 259), müssen es aber nicht, so daß es nicht unberechtigt scheint, sie methodisch als «seelische» Krankheiten zu betrachten, die, je nach Perspektive, aus Hirnfunktionsstörungen entstehen oder zu Hirnfunktionsstörungen führen. Dabei sind die Grenzen zwischen Neurosen und Psychosen nicht immer eindeutig zu ziehen. sigmund freud versuchte den Unterschied an dem Verhältnis des Ich zur «Realität» festzumachen; er schrieb: «Neurose wie Psychose sind . . . beide Ausdruck der Rebellion des Es gegen die Außenwelt», und zwar so, «daß bei der Neurose ein Stück der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut wird. Oder: Bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht (sc. auf die neurotische Verdrängung von Teilen der Wirklichkeit, d.V.) eine aktive Phase des Umbaues (sc. der Schöpfung einer neuen, ersatzweisen ‹Realität›, d.V.), bei der Neurose auf den anfänglichen Gehorsam (sc. von Triebunterdrückung und gewaltsamer Anpassung, d.V.) ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.» Demgegenüber sei für «normal» oder für «gesund» ein Verhalten zu bezeichnen, «welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung (sc. freilich nicht in der Phantasie, sondern durch Arbeit an den Verhältnissen, d.V.) bemüht». (Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, in: Gesammelte Werke, XIII 365) In freuds Betrachtung greifen die Prozesse, die zu Neurose wie Psychose

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führen, ineinander und sind eher im Quantum der Angst und der Abwehr als in der Psychodynamik, die ihnen zugrunde liegt, voneinander geschieden. Gleichwohl weicht das Ergebnis im einen wie im anderen Fall auf fast erschrekkende Weise voneinander ab und redet für den Laien nicht minder als für den Psychotherapeuten oder Psychiater eine eindringliche, deutliche Sprache. Denn mit der veränderten Einstellung zur Realität ist zugleich ein Umbau des Ich selbst verbunden, dem nach psychoanalytischer Ansicht die Aufgabe zukommt, zwischen Es und Realität zu vermitteln. Depersonalisation und Derealisation gehen ineinander. (Vgl. christa rohde-dachser: Klinik der Neurosen, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 101.) Je schwächer das Ich sich fühlt, desto weniger wird ihm die aufgetragene Synthese zwischen Wunsch und Wirklichkeit gelingen, und statt die Bedingungen, mit denen es sich konfrontiert sieht, im Sinne der Es-Ansprüche umzugestalten, formt es sich selbst um und zieht sich, wie ein Heer nach verlorener Schlacht in eine Burg, in sich selbst zurück, in der Hoffnung, durch Freigabe des «offenen Feldes» der leidigen Auseinandersetzungen ledig zu sein. Indes, je nach dem Grad der Umformung des Ich verändert sich auch die Kommunikationsfähigkeit mit anderen Menschen. «Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit», schrieb bereits vor 200 Jahren immanuel kant, «ist der Verlust des Gemeinsinnes. . . und der dagegen eintretende logische Eigensinn. . . Denn es ist ein subjektivnotwendiger Probierstein der Richtigkeit unserer Urteile überhaupt und also auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren, und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam öffentlich urteilen.» (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in 12 Bden., XII 535) Mit einem Wort: je länger jener «Belagerungszustand» der Neurose mit dem Heer ihrer Ängste, Schuldgefühle und Zwänge rund um die «Burg» des Ich anhält, desto schwerer wird es, noch einen «Ausbruch» zu wagen und neue Bündnisse zu schmieden. Die Einsamkeit wächst, schon weil die Furcht vor Ablehnung, Spott und Mißverstand Schweigen gebietet. Zudem lassen die Verdrängungen und Abspaltungen, die bei der neurotischen «Flucht» vor der «Wirklichkeit» eingegangen wurden, das Ich zu einem Fremden im eigenen Terrain werden, der die «Landessprache» nur gebrochen versteht und noch schlechter spricht. Diese Schwierigkeiten teilen sich, wenn auch verschieden stark, Neurose wie Psychose. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen beiden nicht nur quantitativ-gradueller Art, er kommt qualitativ einem Bruch gleich, oder besser, um im Bilde zu bleiben: Die Zugbrücke, die den Sicherungsgraben rund um die «Burg» des neurotischen Ich zumindest gelegentlich überspannt, ist in der Psy-

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chose unter Überbelastung eingestürzt, so daß jeglicher Zugang von hüben wie drüben dauerhaft unterbrochen ist; ein Brückenneubau könnte nur unternommen werden, wofern der Belagerungszustand endete, doch der, nun erst recht, entfaltet fortan seine immer bedrückendere Wirkung. Insofern bleibt es eine gute praktische Faustregel, von einer Neurose solange zu sprechen, als die Zustände eines seelisch Erkrankten bei aller Seltsamkeit prinzipiell einfühlbar anmuten. Ein solches Kriterium enthält freilich einen nicht zu leugnenden subjektiven Anteil. Manch ein Arzt wird kurzab eine «endogene Psychose» diagnostizieren, weil er weder die Zeit noch Geduld noch das menschlich nötige Verständnis aufbringt, um sich in die «Psyche» seines neurotischen Patienten einzuarbeiten: Ließe er sich nur erst die Geschichte des anderen ausführlich schildern, käme ihm dessen jetzige Seelenlage wohl nicht nur als «verständlich» vor, sie erschiene ihm gar als das logische Resultat all der biographisch gegebenen Zusammenhänge. Um etwa die depressiven Störungen in einer Weise zu klassifizieren, die den vielfältigen Ursachen ihrer Entstehung gerecht wird, pflegt man (neuerdings) zwischen somatogenen, endogenen und psychogenen Depressionen zu unterscheiden; Abb. C 8 bietet ein zweidimensionales Klassifikationsschema, das von den organischen zu den reaktiven Depressionen hinüberführt; auf die «bipolaren Depressionen» (Affektstörungen) werden wir sogleich ausführlicher zu sprechen kommen; «Involutionsdepressionen» (von lat.: die involutio – Einrollung; Depression während der Wechseljahre) werden mit den hormonellen Umstellungen bei Frauen Ende der 40er, bei Männern um 57 Jahre in Verbindung gebracht. Worauf es uns in diesem Zusammenhang ankommt, ist die Vorstellung eines kontinuierlichen Übergangs der verschiedenen Depressionsformen, gezeichnet hier nach Art einer Hyperbelfunktion. Einen Anhaltspunkt für die psychotherapeutische Behandelbarkeit einer Neurose oder Psychose bietet zumeist die Frage, ob die eingetretene seelische Erkrankung «reaktiv» auf bestimmte Vorfälle aus jüngster Zeit antwortet und ob diese Ereignisse als «leicht» oder «schwer» zu beurteilen sind. Wenn jemand nach dem Tod eines nahen Angehörigen in Depressionen fällt und Suizidideen äußert, erscheint eine solche Reaktion gewiß als leichter verstehbar und behandelbar, als wenn jemand beim Tod seines Hundes oder seiner Katze ein vergleichbares Verhalten an den Tag legt; wenn jemand nach einem dramatischen Verkehrsunfall in eine posttraumatische Psychose verfällt, bleibt zumindest ein «normalerweise» verständlicher Bezug zu seinem aktuellen Zustand gewahrt (vgl. mark richartz: Posttraumatische Belastungssyndrome: Verarbeitung

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Abb. C 8: Zweidimensionales Schema der Depressionen nach ihren hauptsächlichen Entstehungsursachen

und Folgen von schweren seelischen und Extrembelastungen, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 112–117); entwickelt hingegen jemand schwerste Schuldgefühle und kommt mit sich selbst und aller Welt nicht länger zurecht, weil er, wie der Arzt und Dichter alfred döblin (1878 –1957) es 1910 geschildert hat, eine Blume am Wegrand geköpft hat (Die Ermordung einer Butterblume, in: Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen, 5 –15), so fehlt eben dieser Zusammenhang des «normalerweise» Verständlichen, und man muß schon psychoanalytisch zu denken gelernt haben, um auch eine derartige Reaktion – eingeordnet in einen allererst zu rekonstruierenden Bedeutungszusammenhang und in Verbindung mit Gefühlen, die ihren Ursprung in bestimmten oft zeitlich weit zurückliegenden Konstellationen besitzen – trotz allem als «situationsgerecht» zu interpretieren: im Fall der «Butterblume» zum Beispiel spinnt sich, in vorsichtigen Assoziationen angedeutet, der Faden von der «gemordeten» Geliebten zur «gemordeten» Schwiegermutter, und auch der (latente) Haß auf diese wird natürlich eine Vorgeschichte haben . . .

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Doch selbst einem solchen (psychoanalytischen) Bemühen sind Grenzen gesetzt. Es kann durchaus sein, daß man jemanden mit seinen depressiven Belastungen oder zwangsneurotischen Konflikten ganz gut zu kennen meint und diese Überzeugung auch bei Ausbruch einer Psychose aufrechterhalten möchte. Irgend etwas hat sich zugetragen: ein Streit in der Familie, eine neue Aufgabenstellung im Betrieb, ein erzwungener Umzug in eine andere Gegend – nichts, was «wie eine Bombe» hätte «einschlagen» müssen; und so wird man versuchen, an die bisherigen Verhaltensmöglichkeiten anzuknüpfen und einigermaßen günstige Bearbeitungswege des anstehenden Konfliktes zu finden. In gerade diesem Sinne wird man denn auch die neuen Mitteilungen des Patienten aufnehmen, ja, man mag sich womöglich einreden, den anderen immer noch einigermaßen zu verstehen; und doch zeigt sich später, im Rückblick, zumeist, daß man so gut wie nichts (mehr) von dem begriffen hat, was der Kranke im Zustand seiner Psychose erlebte und mitteilen wollte. Ein Neurotiker ist sich selbst fremd, und so mag man ihm begegnen wie einem Menschen auf der Suche nach Heimat; der Psychotiker aber wird buchstäblich allen anderen fremd; er lebt in einer gänzlich anderen Welt, deren Bauteile er nicht selten unter viel Mühe und mit hohem geistigem Scharfsinn selber zusammenfügen mußte, und er agiert dabei unter Voraussetzungen, die kein Außenstehender sich mehr vorzustellen oder gar als «real» zu erkennen vermag. Auch mit dieser Bemerkung treten wieder subjektive Anteile in der Beurteilung einer Psychose hervor – im Rahmen einer anderen Gesellschaft, eines veränderten Weltbildes, in der Zugehörigkeit zu der Subkultur einer bestimmten religiösen Gruppe oder künstlerischen Avantgarde können dieselben geistigen Inhalte, je nachdem, als «genial» oder als «völlig verrückt» interpretiert werden. Um so wichtiger bleibt die Suche nach «objektiven» Faktoren, die einen Menschen bis zur Grenze der Verstehbarkeit und darüber hinaus von seinen Mitmenschen wegtreiben können. Sind diese Faktoren genetischer Art, bilden sie sich milieureaktiv, stellen sie das Ergebnis eines bestimmten Lebensweges dar, der in der Kindheit schon die Weichen ins Abseits gestellt fand? All diesen Möglichkeiten ist nachzugehen, muß man doch damit rechnen, daß sie – wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung – allesamt zusammenwirken. In Psychotherapie wie Psychiatrie wie in der «Seelsorge» überhaupt gilt es, buchstäblich mit allen «Mitteln» gerade diejenigen Menschen aufzusuchen und – biblisch gesprochen – «zurückzutragen», die sich in ihrer seelischen Not am meisten verloren und verlaufen haben. (Vgl. Lk 15,1–7.) Fragen wir also: Was ist «Depression»? Was «Schizophrenie»? Was «Autismus»? Erst dann dürfen wir hoffen, auch auf scheinbar so «einfache» Fragen wie: Was ist Person? Was

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Bewußtsein? Was Freiheit? – begründete Antworten finden zu können. Dabei liegt es nahe, mit dem Thema der «Depression» (und deren Gegenteil: der Manie) zu beginnen, haben wir doch vorhin noch gesehen, wie langanhaltender Streß Depressionen verursachen kann.

b) Affektive Störungen: Depression und Manie α) Streß und Depression Wir haben schon festgestellt, daß Streß ganz unterschiedlich wirkt, je nachdem, ob der Betroffene (Tier oder Mensch) das Gefühl hat, mit der gegebenen Situation «fertigwerden» zu können oder nicht: Selbstvertrauen, eine positive Grundstimmung, Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Freunden sowie Freiräume zum Abbau von Ärger, Enttäuschung und Angst sind die wohl wichtigsten Faktoren, Streßsituationen zu «meistern». Selbst schwere Wut geht uns nicht an «Herz und Nieren», solange wir einen Weg sehen, es «dem» oder «denen» schon zu zeigen; Wut aber gemischt mit Angst, mit Hilflosigkeit, mit Einsamkeit, mit Ohnmachtsgefühlen – das ist (fast schon) identisch mit «Depression». Gestoßen in die Welt voll Qual und Leid, verlassen und verloren in der Zeit, von Graun geschüttelt und des Daseins Angst, du Sklav’ des Augenblicks, du bebst und bangst im Kampfe mit dir selbst und aller Welt, ohn’ Hilf’ und Halt auf dich allein gestellt, von Krieg und Seuchen, Not und Tod umlauert, von der Vernichtung Schrecknissen durchschauert! Wohin du immer spähst und lugst – vergebens suchst du in diesem Labyrinth des Lebens ein Licht, das deiner Fahrt Erleuchtung spendet, den Port, der deines Daseins Irrfahrt endet . . . O Mensch, welch bittres Los ward dir zuteil! Du sinnst und ringst, und nirgends winkt dir Heil!

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Mit diesen Worten beschrieb hugo arnim peter in seinem Gedicht «Melencolia I» (in: Menschen und Mächte, 65 –66) das Grundgefühl der «schwarzgalligen Sibylle». Als «Schwarzgalligkeit» (Melancholie, von griech.: mélas – schwarz, die chole¯ – Galle) hatte galen im 2. Jh. in seiner «Säftelehre» (Perì kraséo¯n, hg. v. Bengt Alexanderson, Göteborg 1967) die Depression bezeichnet, in dem Glauben, das Gleichgewicht der vier von ihm für psychisch ausschlaggebend gehaltenen Körperflüssigkeiten (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle) sei bei der Depression durch einen Überhang an schwarzer Galle gestört. Diese «physiologische» Erklärung der Depression, obwohl vollkommen spekulativ, erhielt sich bis ins 17./18. Jh., vermutlich deshalb, weil sie zumindest nicht ganz unzutreffend auf den Beitrag unterdrückten Ärgers (der «schwarzen Galle») in der Depression hinwies (bei «gelber Galle» sollte der reizbare Charakter des «Cholerikers» entstehen); darin war denn doch ein erster Ansatz auch zu einer psychologischen und psychosomatischen Begründung der Depression enthalten; diese Bemerkung schließt ein, daß man im 17./ 18. Jh. in der Geisteskrankheit «in strengem Sinne» nicht eine «Krankheit des Geistes» erblickte, sondern «etwas, wobei der Körper und die Seele gemeinsam in Frage stehen». (michel foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 212) An sich galt «Wahnsinn» für eine Hirnkrankheit, welche die Seele davon abhielt, ihre Wirkung «richtig» auszuüben, – so wie die «Sehkraft» durch eine Erkrankung des Auges daran gehindert zu werden schien, das Vermögen zu sehen mittels des ihr zugehörigen Organs wirksam werden zu lassen. (A. a. O., 209) Die Ursache für solche Störungen trugen die «Lebensgeister», die bei den manisch Kranken sich zu heftig, bei den Depressiven zu wenig bewegen sollten. (A. a. O., 213 –214) Mit einem Wort: nicht die Seele des «Irren» hielt man für wahnsinnig, vielmehr beschränkte sich in jener «klassischen» Zeit das Problem des Wahnsinns auf «die Stofflichkeit der Seele». (A. a. O., 206) Insofern stellte es eine «Revolution» dar, als man im 19. Jh. begann, die vielerlei Formen des «Wahnsinns» in neuer Weise als «Geistes-» bzw. als «Seelenkrankheiten» zu betrachten: – nicht mehr, wie im Mittelalter, als Einwohnung teuflischer «Geister», sondern als die Folge seelischer Konflikte. Tatsächlich hat sigmund freud im Jahre 1901 in seiner Arbeit Zur Psychopathologie des Alltagslebens zum ersten Mal gezeigt, wie einer Depression die (unbewußte) Absicht zur Selbstvernichtung bzw. zur Selbstbestrafung zugrunde liegen kann (Gesammelte Werke, IV 200– 205); in Hemmung, Symptom und Angst von 1926 ergänzte er diese Feststellung noch durch die Erklärung, daß eine solche Selbstbestrafung den Zweck verfolge, «nicht in Konflikt mit dem Über-Ich zu geraten». «Wenn», schrieb er, «das Ich durch eine psychische

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Aufgabe von besonderer Schwere in Anspruch genommen ist, wie z. B. durch eine Trauer, eine großartige Affektunterdrückung . . ., dann verarmt es so sehr an der ihm verfügbaren Energie, daß es seinen Aufwand an vielen Stellen zugleich einschränken muß, wie ein Spekulant, der seine Gelder in seinen Unternehmungen immobilisiert hat. Ein lehrreiches Beispiel einer solchen intensiven Allgemeinhemmung von kurzer Dauer konnte ich an einem Zwangskranken beobachten, der in eine lähmende Müdigkeit von ein- bis mehrtägiger Dauer bei Anlässen verfiel, die offenbar einen Wutausbruch hätten herbeiführen sollen. Von hier aus», meinte freud, «muß auch ein Weg zum Verständnis der Allgemeinhemmung zu finden sein, durch die sich die Depressionszustände und der schwerste derselben, die Melancholie, kennzeichnen.» (Gesammelte Werke, XIV 117) Unter diesem Aspekt läßt sich Depression als ein Zustand beschreiben, in dem unter dem Diktat eines strengen Überich Ärger und Wut auf das eigene Ich gelenkt werden, um nicht anderen schädlich zu werden; während galens «Choleriker» seinem Unmut explosionsartig Luft schafft, zieht der Melancholiker den Konflikt nach innen. Die Folge: Es fehlen ihm die Energien, um die anstehenden Auseinandersetzungen eingehen zu können; ja, genauer, es fehlt ihm die Erlaubnis, seine Verdrossenheit anderen zum Vorwurf zu machen. Die genannten Gefühle von Minderwertigkeit, Ohnmacht, Einsamkeit, Unverstandenheit und Bitterkeit begleiten diesen Rückzug und sind dazu geeignet, den Anlaß einer solchen Stimmungslage zu generalisieren, zu totalisieren und auf Dauer zu stellen, statt ihn zu umgehen oder zu überwinden: Die ganze Welt erscheint jetzt so, wie gerade eben noch erlebt, oder umgekehrt: an dem gerade Erlebten manifestiert sich und dokumentiert sich, was wesentlich («und überhaupt») gilt. «Je weiter hinunter ich ging», schreibt die französische Autorin véronique olm (geb. 1962) in ihrer erschütternden Studie über die Einsamkeit, Traurigkeit und Verzweiflung einer Mutter mit ihren zwei Kindern, «um so näher kam ich der Hölle. Der Hölle der Menschen.» «Ich ging diese Treppe hinunter . . ., wie wenn man im Traum in ein Luftloch fällt.» (Meeresrand, 70; 71) «Wie ist es nur soweit gekommen? Erst mal ist da die Kindheit . . . Aber gleich danach kommt die Feindseligkeit der Welt.» (A. a. O., 112) Alles erscheint als ausweglos und aussichtslos. Es hat alles keinen Zweck. Es ist wie am Eingang zu dantes (1265 –1321) «Inferno» in Die göttliche Komödie: «Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.» (Die Hölle, III 9, S. 12) Dieses Motto, meinte dante, gelte insbesondere für jene, die «Verkeilt im Schlamme schrei’n . . .: ‹Elend waren / Wir in der süßen Luft, der sonnenfrohen, / Tragend im Innern mißvergnügtes Schwelen – / Nun kränken wir uns in dem schwarzen

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Brei . . .›» (VII 121–124, S. 32) Ein unrettbares Versinken in heißem schwarzem Schlamm – expressiver als in solchen Bildern ewiger Qual läßt sich die Grundgestimmtheit Depressiver gewiß nicht wiedergeben. Was bei dieser ersten Skizze depressiver Gefühle bereits deutlich wird, ist der fließende Übergang, der aus chronischem, nicht-beherrschbarem Streß hinübergleitet in ein Empfinden von bleierner Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Lethargie und Apathie. «Situationen der Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit und insbesondere die Erfahrung, die Kontrolle über das eigene Schicksal verloren zu haben», spielen vornehmlich bei den sogenannten depressiven Anpassungsstörungen «eine ursächliche Rolle.» (hans k. rose: Anhaltende affektive Störungen (chronische manisch-depressive und depressive Syndrome), in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 289) Von daher verwundert es nicht, daß dieser Prozeß auch neurologisch repräsentiert ist. Anläßlich der «Angst der Tiere» sprachen wir bereits von der Angstreaktion des «Totstellreflexes» (vgl. Bd. I 631); dauernder Streß kann zu einem dauerhaft ähnlichen Ergebnis führen, wobei die von der Amygdala gesteuerte Ausschüttung von CRH bereits am Anfang der Streßreaktion eine besondere Rolle spielt; Versuche mit Ratten jedenfalls, die von michael davis in Atlanta durchgeführt wurden, zeigten, daß die Tiere, wie zu erwarten, allein schon durch die Furcht vor einem bevorstehenden Elektroschock in Angststarre fielen; daß diese Reaktion aber deutlich schwächer geriet, wenn zuvor CRH-Antagonisten verabreicht worden waren. (Vgl. robert m. sapolsky: Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 66.) Zu einem guten Teil läßt sich das Geschehen der Depression neurologisch in der Tat begreifbar machen, wenn wir den uns schon bekannten Einfluß von Streß auf die verschiedenen Transmittersysteme als synergistischen Effekt zu verstehen suchen: Streß, so sahen wir, führt zu einer vermehrten Ausschüttung von Glucocorticoiden; infolgedessen kommt es auf die Dauer zu einer Schädigung der Hippocampus-Neuronen und, dadurch bedingt, zu einer Verringerung der deklarativen Gedächtnisleistungen; umgekehrt senken Glucocorticoide vermutlich die Konzentration des Nervenwachstumsfaktors BDNF (engl.: brain-derived neurotrophic factor, des aus dem Gehirn stammenden neurotrophen Faktors), den wir schon bei dem Antagonismus des programmierten Zelltods von Neuronen und des Gegenprogramms der Nervenwachstumsfaktoren kennengelernt haben (vgl. Bd. I 272 –273). (Vgl. robert m. sapolsky: Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 67.) Auch der Noradrenalin-Spiegel in den Neuronen des

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Locus coeruleus nimmt unter dem Glucocorticoid-Einfluß ab und damit die Aufmerksamkeit sowie der Drang zur Bewegung; die psychomotorische Verlangsamung, die für eine Depression kennzeichnend ist, dürfte so entstehen. Anhaltender Streß verringert zudem auch den Serotoningehalt. Nicht nur der Schlaf-Wach-Rhythmus gerät deshalb durcheinander: Da die Raphe-Kerne über die Serotoninausschüttung den himmelblauen Kern zur Freisetzung von Noradrenalin (NA) anregen, bedeutet weniger Serotonin zugleich auch weniger NA – ein Teufelskreis, in dem die Glucocorticoide bereits direkt den NASpiegel im Locus coeruleus absenken. Auch die Ausschüttung von Dopamin wird durch die Glucocorticoide verändert: Streßepisoden mit erhöhtem Glucocorticoid-Spiegel vermehren zunächst die Dopaminausschüttung, mit dem Resultat, daß wir uns durch die Ankurbelung des dopaminergen Belohnungssystems recht wohl fühlen; doch gilt das nur solange, als wir die Lage noch kontrollieren zu können glauben. (Vgl. robert m. sapolsky: A. a. O., 66.) «Hört der Glucocorticoid-Ansturm . . . nicht nach einiger Zeit auf, wird die Dopaminproduktion gedrosselt und die angenehmen Gefühle schwinden.» (robert m. sapolsky: A. a. O., 66) Insgesamt wird bei Depressiven das autonome (vegetative) Nervensystem in der gleichen Weise überaktiviert wie in Zuständen der Angst, und in beiden Fällen ist die Amygdala von entscheidender Bedeutung, nur daß «zwischen permanenter Alarmbereitschaft und chronischer Hilflosigkeit ein ziemlicher Unterschied» besteht. (robert m. sapolsky: Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 68) Wie es indessen von dem einen zum anderen kommen kann, läßt sich in Tierversuchen nachzeichnen: Ratten können ohne Schwierigkeiten lernen, leichte Elektroschocks zu vermeiden, indem sie einen Hebel drücken, und das Gefühl der Kontrolle über die Ursache einer unangenehmen Empfindung kann sogar die Dopaminfasern des Belohnungssystems aktivieren. Gesetzt aber, der Druck auf den vertrauten Hebel zeigt plötzlich keine Wirkung mehr, was dann? Dann fallen die Tiere in Angst: der Sympathicotonus wird durch die Ausschüttung von Adrenalin in die Höhe getrieben, die Noradrenalinfasern des Locus coeruleus werden aktiviert, die Ausschüttung von Glucocorticoiden wird leicht vermehrt. Und das ist nur erst der Einstieg in eine depressive Reaktion. (Vgl. robert m. sapolsky: A. a. O., 68– 69.) «Wenn die Schocks . . . weiterhin kommen und die Ratte bemerkt, dass jeder Bewältigungsversuch nutzlos ist, tritt eine Veränderung ein. Der Glucocorticoidspiegel steigt stark an und überdeckt die Effekte von Adrenalin und aktivem sympathischem Nervensystem, die den Organismus im Wesentlichen auf Kampf oder Flucht einstellen. Der Gehalt wichtiger Neu-

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rotransmitter sinkt, die Hirnchemie sieht immer mehr aus wie bei Depressionen und das Tier gibt seine Anstrengungen auf. Es hat sozusagen ‹gelernt›, sich hilflos zu fühlen, sich passiv zu verhalten und keinen Ausweg mehr zu sehen. Die Angst, das prasselnde, bedrohliche Buschfeuer, erstickt unter den Depressionen wie unter einer schweren, lähmenden Decke», wie robert m. sapolsky (a. a. O., 69) sehr eindrucksvoll formuliert. Ein Weg in die Depression kann also darin bestehen, daß das Warnsignal Angst nicht länger mehr zu Abwehrmaßnahmen gegenüber möglichen Gefahren anhält, sondern, verbunden mit dem Eindruck der Aussichtslosigkeit aller Bemühungen, von dem Gefühl der Niedergeschlagenheit und Verlorenheit überlagert wird. Unkontrollierbarer Streß mündet in Depression; beide bilden die Pole eines gemeinsamen Feldes von Krise und Krankheit. Kein Wunder deshalb, daß der «Ärger»-Faktor (bzw. der Streß-Faktor) in der Depression nicht einfach verschwindet, er ändert nur seine Antriebsrichtung: statt aktiv nach außen zu wirken, verbraucht er sich verhärmt und vergrämt nach innen – als eine Wut auf sich selbst und auf alles, ähnlich jenem Heer, das man zur Kapitulation gezwungen hat und das nach seiner Niederlage den «Sieger» noch mehr fürchtet und haßt als vor der verlorenen Schlacht. Natürlich läßt sich die Frage stellen, warum in vergleichbaren, «normalen» Streßsituationen die einen sich «gehoben», die anderen «niedergedrückt» (depressiv, von lat.: deprimere – niederdrücken) fühlen. Untersuchungen an eineiigen Zwillingen mit affektiven (depressiven und manischen) Störungen, die, egal ob sie gemeinsam oder getrennt aufwuchsen, eine Konkordanz von 60 % aufweisen (gegenüber 15% bei zweieiigen Zwillingen), deuten auf einen genetischen Faktor hin. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 516; nancy andreasen: Brave new Brain, 291– 295.) Die Möglichkeit einer genetischen Erklärung legt sich schon deshalb nahe, weil all die neuronalen Komponenten, die wir bei der Entstehung einer Depression (durch chronischen Streß) soeben aufgezählt haben, in ihrer Eigenart durch das Programm der Erbanlagen entscheidend mitbestimmt sind. Im Bauplan der Gene enthalten sind die Rezeptoren u. a. von Noradrenalin, Dopamin, Serotonin und den Glucocorticoiden, ebenso die Enzyme für die Herstellung der Transmitter sowie die Molekülpumpen, welche die Transmitter aus den Synapsen entfernen, und nicht zuletzt bestimmte Moleküle wie der aus dem Gehirn stammende Nervenwachstumsfaktor (BDNF). (Vgl. robert m. sapolsky: Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 67–69.) Andererseits haben wir bereits gesehen, wie flexibel das Gehirn zum Beispiel durch Erhöhung oder Verringerung der Anzahl von Rezeptoren auf Veränderungen in der

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Konzentration von Neurotransmittern zu reagieren weiß, und so kann der genetische Einfluß buchstäblich nur «die halbe Wahrheit» widerspiegeln, was das Zahlenmaterial der Zwillingsforschung (ca. 60%!) ja auch selbst schon nahelegt. Zudem erlauben Statistiken nur Wahrscheinlichkeitsaussagen, sie liefern keine kausale Erklärung dafür, warum unter vergleichbaren Umständen der eine an einer Depression erkrankt, der andere nicht. «Veranlagungen» bedürfen biographischer Faktoren, damit aus einer Möglichkeit eine Wirklichkeit wird. Derartige «biographische Faktoren» können allerdings bereits vor der Geburt einsetzen: Glucocorticoide, die bei einer schwangeren Ratte durch Streß erhöht ausgeschüttet werden, dringen durch die Placenta und wirken auch auf den Fetus ein. (Vgl. robert m. sapolsky: Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 69.) Wir sahen schon, daß in der ersten Zeit nach der Geburt ein eigentliches Angsterleben nicht vorgesehen ist, offenbar um die frühen Entwicklungsstadien des Gehirns außerhalb des mütterlichen Organismus nicht zu stören (vgl. Bd. I 671– 674); um so wichtiger ist jetzt die Erkenntnis, daß die Angst, die ein Muttertier während der Schwangerschaft erlebt, die Struktur und Funktion des Hippocampus ihres Jungen auf lebenslang zu beeinflussen vermag. Denkt man vor diesem Hintergrund an all die Mütter, die in Krieg, Vertreibung, Hunger und Elend ihr Kind austragen und zur Welt bringen müssen, erhalten die alltäglichen Bilder des Grauens wohl überhaupt erst ihre wirklichen Konturen. Wir sagten bei der Besprechung der Angst, daß Kinder es lernen, sich in der Angst ihrer Mutter zu ängstigen (vgl. Bd. I 674 –675); wir müssen jetzt biochemisch bzw. neurologisch hinzufügen, daß sie noch vor ihrer Geburt durch die Art ihrer Gehirnentwicklung auf die Angst ihrer Mutter «geprägt» werden. Darüber hinaus belegen Tierexperimente, daß die längere Trennung eines Säugetierjungen vom Muttertier dahin führt, den CRH-Spiegel des Jungtieres später auf Dauer zu erhöhen. (Vgl. charles b. nemeroff: The neurobiology of depression, in: Scientific American, 278/1998, 42– 49.) In diesem Zusammenhang betrachte man noch einmal das harlow-Äffchen in Abb. B 107! Von Herzen zustimmen kann man deshalb wohl der Folgerung, die robert m. sapolsky aus solchen Befunden zieht: «Die vielleicht wichtigste – soziale – Lektion lautet: Wenn eine Welt in so vielen Menschen das Gefühl ständiger Bedrohung oder völliger Hilflosigkeit erweckt – dann muss etwas an dieser Welt geändert werden.» (Stress zähmen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/ 2004, 69) Doch bis es dahin kommt, gilt es, dem Einzelnen zu helfen, indem man die neuronalen Mechanismen der Depression besser zu verstehen lernt und daraus Strategien der Therapie entwickelt.

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Abb. C 9: Verursachung depressiver Störungen

Um die verschiedenen Bedingungsfaktoren der Depression in einem Schaubild darzustellen, mag die Abb. C 9 hilfreich sein. Vor allem der Frage, was es in dieser Übersicht mit der «Instabilität der Neurotransmittersysteme» auf sich hat, müssen wir nach allem Gesagten noch weiter nachgehen, schon um die Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung affektiver Persönlichkeitsstörungen besser einschätzen zu können.

β) Neuronale Abläufe bei Depression und die Wirkung von Psychopharmaka Indem wir uns den großen Einfluß von Angst und Ärger (Streß) auf die Entstehung von Depressionen vor Augen halten, folgen wir mittelbar bereits einer der drei Hypothesen, die neurologisch zur Erklärung der Depression vorgeschlagen werden, – nennen wir sie die CRH-Hypothese. Streß vermehrt die Ausschüttung von CRH im Hypothalamus, und CRH wiederum steigert die Freisetzung von ACTH aus dem Hypophysenvorderlappen, das dann die Abgabe von Glucocorticoiden aus der Nebennierenrinde erhöht. (Vgl. Abb. B 112; B 117.) Auch Depressive weisen erhöhte CRH-Werte auf; und vor allem: inji-

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ziert man Depressiven das synthetische Glucocorticoid Dexamethason (ein dehydriertes Cortisol, das ein Fluor-Atom an C9 und eine Methylgruppe – CH3 – an C16 aufweist und dadurch etwa 4– 5mal stärker wirkt als Cortisol), so unterbleibt der negative Feedback-Mechanismus, der bei gesunden Menschen normalerweise die Glucocorticoidausschüttung verringert. Das spricht dafür, daß bei Depressionen tatsächlich eine Fehlfunktion der Streßachse HypothalamusHypophyse-Nebennierenrinde vorliegt. Freilich ist es eine offene Frage, ob man damit wirklich die Ursache oder nur die Folge einer Depression «dingfest» gemacht hat – eine Frage, die methodisch auf Schritt und Tritt an die Neurologie zu stellen ist. Eine gewisse Bestätigung erfährt die CRH-Hypothese allerdings dadurch, daß Injektionen von CRH zu depressiven Symptomen wie Schlaflosigkeit, Appetitverlust, verringerter sexueller Aktivität und Ängstlichkeit führen, wie Tierversuche unzweideutig gezeigt haben. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 519.) Auch die zweite mögliche neurologische Erklärung der Depression legt sich aus dem Gesagten nahe; sie wurde von julius axelrod (1912 – 2004) aus der Wirkung der tricyclischen Antidepressiva abgeleitet (vgl. nancy andreasen: Brave new Brain, 295) und erweitert dann um die Wirkung der Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) sowie der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (engl.: Selective Serotonine Reuptake Inhibitors, SSRIs), denen allen wir bereits bei der Besprechung der pharmazeutischen Verfahren zur Angstlinderung begegnet sind. (Vgl. Bd. I 621; 702 –703; 705.) – Citalopramhydrobromid zum Beispiel, das im Handel Cipramil oder Citalopram Hexal heißt, ist ein solches antidepressives SSRI. Hinzu kommen neuerdings Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, wie Reboxetin, das unter dem Handelsnamen Endronax bekannt ist. All die genannten Stoffe wirken als Agonisten von Noradrenalin und Serotonin, die beide Monoamine sind, also nur eine Aminogruppe aufweisen (vgl. Abb. A 72 und A 77), und so spricht man von der Monoamin-Hypothese der Depression. (Vgl. Bd. I 702 –703.) Gemeint damit ist die Auffassung, daß Depressionen etwas mit einer verminderten Aktivität noradrenerger und serotonerger Synapsen zu tun haben könnten. Tatsächlich zeigte sich im Hirngewebe depressiver Patienten eine signifikante Erhöhung von NA- und Serotoninrezeptoren (vgl. charles b. nemeroff: Neurobiologie der Depression, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Gene und Verhalten, 2/2000, 56– 58); im Umkehrschluß ergibt sich aus diesem Befund ein offenbarer Mangel der beiden Monoamine. Insbesondere die Wirkung der SSRIs scheint die Monoamin-Hypothese zu bestätigen: Für gewöhnlich melden die Autorezeptoren an der präsynaptischen Membran einen etwaigen

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Anstieg der Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt und sorgen damit für eine Reduktion der Serotoninausschüttung. Mit Hilfe von Pindolol lassen sich die Serotonin-Autorezeptoren blockieren – die Gegenregulation auf eine Erhöhung der extrazellulären Serotoninmenge unterbleibt –, und auf diese Weise wird die antidepressive Wirkung der SSRIs tatsächlich verstärkt (vgl. Abb. A 66), was wohl nicht der Fall wäre, wenn bei Depressionen nicht doch eine Unteraktivität der monoaminen Neurotransmitter eine Rolle spielen würde. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 518– 519; nancy andreasen: Brave new Brain, 295 –297; zur Medikation bei Depressionen mit tricyclischen Antidepressiva, MAO-Hemmern, SSRIs und mit neuen Antidepressiva auf Transmitterebene vgl. bes. stephan a. volk: Therapie, in: Stephan A. Volk u. a.: Depressive Störungen, 116 –145; thomas köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen, 124 –126.) Natürlich lassen sich die beiden Theorien auch gemeinsam vertreten und mit dem genetischen Erklärungsansatz kombinieren, wie es das sogenannte Diathese-Streß-Modell versucht. Danach könnte eine erhöhte Aktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems ebenso erblich sein wie eine verminderte Aktivität der monoaminergen Systeme; diese Anlage (Diathese, von griech.: die diáthesis – Aufstellung, Veranlagung) führt dann unter vorgeburtlichen, frühkindlichen oder später einsetzenden Streßbedingungen zu depressiven Reaktionsbereitschaften und Depressionen. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 519.) Doch so schwierig es (immer noch) ist, zwischen «Veranlagung» und (sekundärer) «Verursachung» zu unterscheiden, so bleiben eine Reihe von rätselhaften Tatsachen bestehen, die den Verdacht erneuern, daß man mit den genannten Erklärungsversuchen eher die neurobiologischen Folgen, als die Ursachen der Depression beschreibt. Unklar ist zum Beispiel, warum die tricyclischen Antidepressiva, die MAO-Hemmer und die Selektiven Serotonin- und NA-Wiederaufnahmehemmer Tage oder Wochen brauchen, bis ihre Wirkung bemerkbar wird, während die Konzentration der Monoamine bei Einnahme der Psychopharmaka binnen Minuten ansteigt. (Vgl. thomas köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen, 116.) «Es sieht so aus», schreibt john p. j. pinel (Biopsychologie, 519), «als stellte eine sich langsam entwickelnde Folge der Erhöhung der Monoamin-Niveaus und nicht diese selbst den Schlüssel zu deren antidepressiver Wirkung dar.» Zudem, wenn die Monoamin-Hypothese zutrifft, sollte man erwarten, daß Cocain und Amphetamin, die wir als Monoaminagonisten kennengelernt haben, eine antidepressive Wirkung besäßen; das ist aber nicht der Fall. Ferner: Gebräuchlich in der Behandlung von De-

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pressionen ist in den Psychiatrischen Kliniken heute der Schlafentzug; schon nach einer schlaflosen Nacht wirken mehr als 50 % der Patienten «aufgedrehter» und weniger lethargisch; der Effekt verliert sich jedoch sogleich wieder bei Rückkehr zu einem normalen Schlaf-Wach-Rhythmus, – eine tatsächliche Besserung der Depression ist durch Schlafentzug nicht zu erreichen; eigenartig aber ist, daß eine antidepressive Wirkung bei Schlafeinschränkung überhaupt zustande kommt; warum das so ist, weiß man bislang nicht. (Vgl. john p. j. pinel: A. a. O., 519 –520; thomas köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen, 126–127.) Doch immerhin: Wenn man erst einmal begründete Hypothesen über die Entstehung einer Krankheit aufstellen kann, so lassen sich meist auch ernstzunehmende Therapievorschläge weiterentwickeln. Im Falle der Depression verhielt es sich, wie gesagt, so, daß die (mehr oder minder zufällige) Entdekkung einer günstigen Wirkung bestimmter Pharmaka die Theorien über die neurochemischen Ursachen der Krankheit vorantrieb. Mit dem so erweiterten Grundlagenwissen liegt es derzeit nahe, in der Herstellung von antidepressiven Psychopharmaka, zusätzlich zu den bereits genannten Methoden, vor allem zwei Wege einzuschlagen, die sich aus dem Zusammenhang der Depression mit dauerhaftem und nicht zu bewältigendem Angst- und Streß-Erleben als praktische Konsequenzen anempfehlen: Es ist zum einen möglich, die Wirkung der Glucocorticoide zu blockieren. Der wichtigste Rezeptorblocker hierzu ist überraschenderweise ein Medikament, das unter dem Namen RU 486 auf dem Markt ist und das in Ländern, in denen die katholische Kirche keinen allzu großen Einfluß auf die Gesetzgebung besitzt, vor allem als «Abtreibungspille» eingesetzt wird, indem es die Rezeptoren für Progesteron im Uterus ausschaltet; bei schwer depressiven Patienten mit einem stark erhöhten GlucocorticoidSpiegel indessen wirkt RU 486 erfreulicherweise offenbar so, daß die Glucocorticoide weniger Rezeptoren zum Andocken finden und dadurch ein antidepressiver Effekt eintritt. Zudem versucht man in Tierversuchen, durch Injektion von BDNF (des aus dem Gehirn stammenden neurotrophen Faktors) ins Gehirn die Schädigungen durch Glucocorticoide vor allem im Hippocampus zu mildern. Man unternimmt zum zweiten Anstrengungen, die Wirkung des CRH zu kontrollieren und Substanzen für die Blockierung der CRH-Rezeptoren zu entwickeln. Ob es gelingt, Antidepressiva auf dieser Basis zu finden, steht noch dahin. (Vgl. robert m. sapolsky: Stress zähmen, in Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Das verbesserte Gehirn, 3/2004, 68.) Die Forschung geht natürlich weiter. (Zur medikamentösen Behandlung von Depressionen vgl. gerd laux: Affektive Störungen, in: H.-J. Möller u. a.: Psychiatrie und Psy-

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chotherapie, 95; 97; hans k. rose: Therapie depressiver Erkrankungen, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 291– 294; thomas köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen, 122–126.)

γ) Bipolare Störungen – Depression und Manie oder: Die Suche nach einem umfassenden Erklärungsmodell Die typischen Merkmale eines «depressiven Syndroms» lassen sich in einer Übersichtstabelle wie in Abb. C 10 wiedergeben, die das psychische und somatische Bild sowie die psychosozialen Folgen nebeneinander stellt; es ist dabei keinesfalls erforderlich, daß ein «Depressiver» alle hier aufgeführten Merkmale auf sich vereinigt; doch wenn ein gewisses Merkmalbündel zusammenkommt, stellt sich die Diagnose «depressiv» wie von selbst, vor allem weil die verschiedenen Seiten des «depressiven Syndroms», sich wechselseitig verstärkend, ineinanderwirken. (Vgl. hans-thomas gosciniak: Depression: Aktuelle und pragmatische Betrachtungen zu Diagnose und Therapie, in: H.-Th. Gosciniak u. a.: Angst – Zwang – Depression, 9; vgl. auch die Symptomen-Tabelle – nach dem DSM-IV von 1996 – bei sigrun schmidt-traub – tina-patricia lex: Angst und Depression, 231.) Leiden Menschen, wie bisher beschrieben, ausschließlich an einer Depression – nicht auch an einer Manie –, so spricht man von einer unipolaren (lat.: einpoligen) affektiven Störung; treten Perioden einer Manie hinzu, spricht man von einer bipolaren (lat.: zweipoligen) affektiven Störung und meint damit, daß Patienten wie in einer Schiffschaukel zwischen dem einen Ende der Gefühlsskala und dem genau entgegengesetzten Ende hin und her schwingen. Eine Manie (von griech.: die manía – Raserei, Begeisterung) kann im Abklingen einer Depression von dem Betreffenden selbst wie auch von seiner Umgebung nicht selten als eine Erleichterung begrüßt, ja, fälschlich sogar als eine Besserung aufgefaßt werden, während sie in Wahrheit doch nur eine Umkehr der «Schwung»-Richtung markiert. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 516.) Rein statistisch leiden in den westlichen Ländern etwa 6% der Bevölkerung gelegentlich an einer unipolaren affektiven Störung, davon doppelt so viele Frauen wie Männer; etwa 1%, und zwar ohne Unterschied der Geschlechter, leidet an einer bipolaren affektiven Störung. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 516.) Gleichwohl gibt es Hinweise, daß «zumindest eines der Gene, die für bipolare Störung verantwortlich sind, auf dem X-Chromosom (sc. einem der beiden Geschlechtschromosomen; Frauen besitzen den Genotyp XX, Männer XY; vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 397–398, d. V.) . . .

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psychisches Bild

somatisches Bild

Psychosoziale Folgen

Affektstarre, innere Leere mit Traurigkeit

kardiale Palpitationen, Extrasystolie, Dyskardie

Distanzierung und Entfremdung von Bezugspersonen

Anhedonie und Desinteresse

thorakale Oppression, Globus, Dyspnoe

Negativbewertung am Arbeitsplatz durch Leistungsabfall und Arbeitsunfähigkeit, Gefahr der Kündigung, Vertrauensverlust

Adynamie, Erschöpfbarkeit, Lethargie innere Unruhe, fahrig, anklammernd, klagsam Selbstwertverlust, Schuldgefühle, Versagen verletzt, gekränkt, unverstanden, einsam

muskuläre schmerzhafte Verspannungen Kreislaufprobleme mit Schwindel Dyssomnie mit frühem Erwachen

wirtschaftliche Einbußen bei Selbständigkeit soziale Ausgrenzung wegen «Geisteskrankheit»

Kopfschmerzen, SpannungsVerlust pragmatischer cephalaea Coping-Fähigkeiten Inappetenz und/oder Zwangsgedanken, -befürchSelbstwertproblematik mit Kohlenhydrathunger tungen, -impulse interaktiver Verunsicherung Angst, Phobie, Katastrophen- Sehstörungen ohne somatisches Korrelat antizipation Suizidalität, Todessehnsucht

Reizbarkeit, Dysphorie, Aggression

Obstipation von «wochenlanger» Dauer

Grübelneigung – Entscheidungsunfähigkeit

diffuse Magen-DarmSchmerzen, Völlegefühl

Hypochondrismen mit somatischer Fixierung

Tinnitus, Hörminderung, Ohrenschmerz

Beziehungsstörung mit Distanz zum Umfeld

Libidoverlust, Dys-, Amenorrhö, Impotenz

Verarmungsideen

Motorik kraftlos, schleppend, gebeugte Haltung Stimme matt, leise, monoton

Abb. C 10: Merkmaltabelle des depressiven Syndroms Palpitationen sind Zuckungen des Herzens; Globus ist das Gefühl einer Kugel im Hals; Dyspnoe ist eine subjektiv empfundene Atemstörung; Dyssomnie ist schlechter Schlaf; Cephalaea ist hartnäckiger Kopfschmerz; Dyskardie ist eine Form von Herzrhythmusstörung.

liegt.» Und zwar scheinen die «für die Farbenblindheit und die für die bipolare Störung verantwortlichen Gene . . . gekoppelt vorzuliegen. Das Gen für die bipolare Störung ist jedoch auch mit dem Gen Xga, einem Blutgruppengen, gekoppelt. Der Locus (Genort) für das ‹bipolare Gen› könnte also zwischen Xga und den für Farbenblindheit verantwortlichen Genen auf dem X-Chromosom liegen». (richard f. thompson: Das Gehirn, 153; vgl. nancy andreasen: Brave new Brain, 293 –294; ralph greenspan – eric r. kandel – tom jes-

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird

sell: Gene und Verhalten, in: E. R. Kandel u. a.: Neurowissenschaften, 576 –577.) Wie eine Manie zu charakterisieren ist, läßt sich am einfachsten als Gegenteil einer Depression beschreiben. In DSM-III (Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen) von 1986 (S. 135 –136) wurden als diagnostische Kriterien einer manischen Episode angegeben: «Eine oder mehrere abgegrenzte Perioden mit überwiegend gehobener, expansiver und reizbarer Stimmung. Die gehobene oder reizbare Stimmung muß ein auffälliger Teil der Erkrankung und relativ anhaltend sein, obgleich sie auch mit depressiver Verstimmung alternieren oder sich mit ihr vermischen kann.» Als Symptome, von denen «mindestens drei . . . dauernd . . . und in ausgeprägtem Grade» bestehen müssen, wurden genannt: «1) Steigerung der Aktivität (sozial, bei der Arbeit oder sexuell) oder körperliche Unruhe; 2) redseliger als gewöhnlich oder Drang, dauernd weiterzureden; 3) Ideenflucht oder die subjektive Erfahrung des Gedankenjagens; 4) gesteigertes Selbstbewußtsein (Größengedanken, die wahnhaft sein können); 5) vermindertes Schlafbedürfnis; 6) Ablenkbarkeit, d. h. die Aufmerksamkeit wird zu leicht von wichtigen oder irrelevanten äußeren Reizen angezogen; 7) exzessive Beschäftigung mit Aktivitäten, die mit großer Wahrscheinlichkeit unangenehme Konsequenzen haben, worauf aber keine Rücksicht genommen wird, etwa ‹Runden ausgeben›, sexuelle Indiskretionen, törichte geschäftliche Investitionen, grob fahrlässiges Autofahren.» (Vgl. auch nancy andreasen: Brave new Brain, 282; von den bipolaren Störungen in eigentlichem Sinne zu unterscheiden sind die manischen Episoden, zu denen die Hypomanie, die Manie ohne psychotische Symptome und die Manie mit psychotischen Symptomen zählen; vgl. zu den entsprechenden Symptomkomplexen sigrun schmidttraub – tina-patricia lex: Angst und Depression, 223– 226). Wer je mit einem Menschen in einem depressiven Zustand zu tun hatte, wird in einer sonderbaren Mischung aus Erleichterung und Erschrecken bemerkt haben, wie fröhlich und unbekümmert ein Maniker sich selbst und die Menschen an seiner Seite erlebt: nichts scheint ihm unmöglich, nichts ihm gefährlich, nichts als zu schwierig. Als wäre das Gefühl von Verantwortung ihm weitgehend abhanden gekommen, schwebt er, aller Erdenschwere enthoben, seinen Wünschen entgegen, als handelte es sich dabei um realisierbare Ziele oder bereits schon realisierte Resultate, die es nur noch fertig abzuernten gälte. Zentral beeindrucken muß das kurze Durchhaltevermögen, die rasche Ablenkbarkeit, das Springen zwischen ganz verschiedenen Möglichkeiten, die alle irgendwie als gleich nah und gleich an Wertigkeit empfunden werden. Wenn der Depres-

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sive – unter dem Druck nicht zu bewältigender Formen von Dauerstreß – an dem Gefühl leidet, «mit nichts mehr zurechtzukommen», so lebt der Maniker in dem Eindruck unbeschwerter Freiheit und Allvermögendheit: – es gibt keine Schranken, keine Grenzen, keine Pflichten, keine Einengungen mehr, und zwar schon deshalb nicht, weil alles «egal» ist; selbst über kurz oder lang auftretende ruinöse Folgen des eigenen Verhaltens (finanzielle Schulden, gesundheitliche Schäden, moralisch oder rechtlich unhaltbare Situationen) werden entweder als solche ignoriert oder bagatellisiert: es wird schon gutgehen oder es ist ohnedies belanglos. Als eine «Weinseligkeit» ohne Alkohol – so läßt sich eine Manie wohl am plastischsten kennzeichnen. Nur: was eigentlich verursacht den «Rauschzustand», die Enthemmung im Gehirn? Allem Anschein nach versucht das Gehirn auch und gerade in Depressionszuständen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Trotzdem werden bei «vielen Manisch-Depressiven . . . die Schübe allmählich immer häufiger und heftiger», einem experimentellen Prozeß nicht unähnlich, «der unter dem englischen Begriff kindling (Anfachen) in der Fachwelt bekannt ist. Dabei provoziert man bei Nagetieren im Labor Krampfanfälle, indem man ihr Gehirn mit Strom stimuliert. Mit jedem Versuch sinkt die Reizschwelle, so daß immer geringere Ströme einen Anfall auslösen, bis schließlich die Krämpfe spontan auftreten.» (elliot s. gershon – ronald o. rieder: Molekulare Grundlagen von Geistes- und Gemütskrankheiten, in: Gehirn und Bewußtsein, 132) Wir sind auf dieses Phänomen schon zu sprechen gekommen, als wir bei der Zusammenstellung der üblichen Tierversuche die Auswirkungen von elektrischer Stimulation mittels ins Gehirn implantierten Elektroden beschrieben haben. (Vgl. Bd. I 40.) Die Vorstellung ist nun, «daß manisch-depressive Störungen auf ähnliche Art fortschreiten, wobei jeder Schub den Weg für den nächsten bahnt. Dies würde sowohl erklären, warum sich die Erkrankung mit der Zeit verschlimmert, als auch, warum es sich so nachteilig auswirkt, wenn Patienten die Einnahme von . . . Mitteln gegen zerebral ausgelöste Krampfanfälle unterbrechen. Danach sprechen sie nämlich manchmal nicht mehr auf die medikamentöse Behandlung an». (elliot s. gershon – ronald o. rieder: A. a. O., 132) Doch das alles sind (erst noch) Theorien. Immerhin vermag man in der psychiatrischen Behandlung bipolarer Affektstörungen sich mit Stimmungsstabilisatoren zu behelfen. Wie in der Geschichte der Psychopharmaka nicht selten, entdeckte man vor allem die sedierende Wirkung von Lithium rein zufällig als eine sozusagen erfreuliche «Nebenwirkung» von Lithiumchlorid (LiCl): Lithiumchlorid wurde – wegen seiner Ähnlichkeit

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird

mit Kochsalz (NaCl) – bei Patienten mit Bluthochdruck als Salzersatz verwandt, bis man feststellte, daß Lithiumchlorid in hohen Dosen schädlich ist; es wurde verboten. Dann aber fand der australische Psychiater john cade (1912 –1980) Ende der 40er Jahre des 20. Jhs., daß LiCl bei agitierten Formen von Psychosen sedierend wirkt, und so begann er, von der Fachwelt wenig beachtet, mit Lithium zu experimentieren. Erst in den 60er Jahren demonstrierte der dänische Psychiater mogens schou (geb. 1918), daß Lithium die manische Phase einer bipolaren Affektstörung binnen Wochen zu beenden vermag, ja, daß es die Rückfallquote in manisch-depressive Zyklen insgesamt deutlich verringert. (Vgl. nancy andreasen: Brave new Brain, 300.) Doch wieder bleibt die Frage offen, warum eine relativ große Zahl von Patienten mit bipolaren Störungen auf Lithium positiv anspricht, eine andere Gruppe aber nicht. Bei letzterer behilft man sich mit Medikamenten, die ursprünglich als Anticonvulsiva (Mittel gegen Zuckungen und Krämpfe, von lat.: convellere – erschüttern) gedacht waren, die aber nun auch gegen Formen bipolarer Affektstörungen eingesetzt werden, die einem hochfrequenten, also einem besonders raschen Phasenwechsel von Depression und Manie unterliegen. (Vgl. nancy andreasen: A. a. O., 301.) Natürlich ist es (nach wie vor) unbefriedigend, auf so wichtige Medikamente für so schwere und weitverbreitete psychische (affektive) Störungen wie die Depression und die Manie lediglich durch Zufall über die noch unverstandene Wirkung bestimmter Stoffe auf gewisse neurologische Ursachen im Hintergrund aufmerksam zu werden; doch ist der Erkenntnisweg in der Psychiatrie und Neurologie zum Teil gerade so verlaufen und wird auch wohl noch eine ganze Weile lang so weitergehen. «Die Depressionsforschung steckt . . . voller Widersprüche», schreibt pierre pichot (Widersprüchliches zur Depression, in: Kenneth A. Klivington: Gehirn und Geist, 191) und fährt fort: «Empirische Entdeckungen veränderten die therapeutischen Ansätze, doch die durch sie ausgelösten klinischen und biologischen Untersuchungen haben in jeglicher Hinsicht offenbart, daß wir unsere Vorstellungen über Depressionen korrigieren müssen. Wissenschaftler, die Fortschritte auf diesem Gebiet erzielen wollen, müssen sich dieser Widersprüche und Unsicherheiten voll bewußt sein.» Wir sahen vorhin schon, daß die alte Zweiteilung von «endogener» und «milieureaktiver» (also von «angeborener», organisch bedingter und psychogener, neurotisch bedingter) Depression in dieser Form nicht mehr zu halten ist; insgesamt dürfen wir niemals vergessen, daß die Entwicklung des Gehirns nicht einfach durch eine genetische Blaupause festgelegt ist, sondern daß die psychischen Erfahrungen bereits vor der Geburt und von der frühen Kind-

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heit an sich in der Anzahl, Struktur und Sensitivität der NeurotransmitterRezeptoren ebenso wie in den Verschaltungen spezieller Hirnstrukturen niederschlagen, zusätzlich zu der Einspeicherung der entsprechenden Gedächtnisinhalte. Daß die einer «Depression» analogen Prozesse bereits im Tierreich nicht einfach «erblich» sind, zeigten shih-rung yeh, russell a. fricke und donald h. edwards (The effect of social experience on serotonergic modulation of the escape circuit of crayfish, in: Science, 271/1996, 366 –369) in einem recht lehrreichen Experiment mit männlichen Flußkrebsen. Diese Tiere legen einen ausgesprochenen Territorialismus an den Tag, das heißt, sie verteidigen kämpferisch den von ihnen beanspruchten Lebensraum gegen das Eindringen eines jeden anderen männlichen Artgenossen. Verhaltenspsychologisch gilt ganz allgemein: «Das Territorium, das ein Tier zu besitzen scheint, ist . . . nur die Funktion einer ortsabhängigen Verschiedenheit der Angriffslust, bedingt durch verschiedene ortsgebundene Faktoren, die sie hemmen. Bei Annäherung an den Gebietsmittelpunkt wächst der Aggressionsdrang im geometrischen Verhältnis zur Entfernungsabnahme. Dieser Anstieg ist so groß, daß er alle zwischen erwachsenen geschlechtsreifen Tieren einer Art je vorkommenden Unterschiede der Größe und Stärke ausgleicht.» (konrad lorenz: Das sogenannte Böse, 55) Mit anderen Worten: Wie groß das Gebiet ist, das ein Tier für sich beansprucht, ergibt sich aus seiner Bereitschaft zu ständigen Verteidigungskämpfen. Flußkrebse ringen für gewöhnlich eine halbe Stunde lang miteinander, und der Ausgang ihrer Auseinandersetzung legt fest, wer künftig wem aus dem Weg zu gehen hat. yeh und sein Team nun wiesen nach, daß ein bestimmtes Neuron, das für eine dominante Körperhaltung zuständig ist, bei dem Sieger verstärkt auf in die Blutbahn injiziertes Serotonin reagiert, wohingegen bei dem Verlierer das Neuron deutlich schwächer feuert. Sozialverhalten beeinflußt demnach direkt die Wirkung eines – für die Depression wichtigen – Neurotransmitters. Daß dabei genetische Faktoren auszuschließen sind, zeigte sich daran, daß bei der Konfrontation zweier «Verlierer» das jetzt erfolgreiche Tier innerhalb von 14 Tagen seinerseits verstärkt auf Serotonin ansprach; trafen zwei ehemalige «Gewinner» aufeinander, so tat das unterlegene Tier sich schwer, die Niederlage zu akzeptieren: es drang immer wieder in das Territorium des neuen Siegers ein und provozierte weitere Kämpfe, so daß mehr als 70 % der zuvor siegreichen Tiere innerhalb der ersten fünf Tage nach ihrer Niederlage von den Gewinnern gefressen wurden; erst im Verlauf von mehr als einem Monat paßten sich die Überlebenden an ihre untergeordnete Rolle an; auf Serotonin reagierten sie dann entsprechend schwächer. «Es braucht nicht viel Phantasie»,

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meint manfred spitzer (Geist im Netz, 327), «um die Tragweite dieses Befundes zu ermessen: Mit dem Fortschreiten der Evolution wurden zunehmend komplexere soziale Verhaltensweisen und Ordnungen entwickelt. Organismen brachten die Fähigkeit hervor, sich den hieraus entstehenden Situationen anzupassen. Neuromodulatorische Systeme, die langfristige Reaktionsweisen und Verhaltenstendenzen verändern können, nahmen an Bedeutung zu. Temperament und Charakter wurden so zu Variablen, die von der Umwelt mitgestaltet wurden.» So betrachtet, stellt eine depressive Reaktion nicht nur das Eingeständnis einer Niederlage dar, sondern sie bildet zugleich ein Verfahren, die soziale Rolle der Unterlegenheit im Umgang mit Artgenossen festzulegen. Auf diese Weise greifen zwei Komponenten ineinander: Das Temperament eines Menschen, das heißt die Grundausstattung seiner Neuromodulatoren – hier vor allem Serotonin, Noradrenalin und Dopamin –, darf man wohl in der Tat als weitgehend genetisch bedingt betrachten. «Unterschiede in ihrem Vorhandensein zwischen einzelnen Menschen legen . . . den Grundstein für Verhaltensdispositionen und Reaktionsweisen. Wir sind jedoch diesem genetischen Schicksal nicht völlig ausgeliefert, die Neuromodulatoren und ihre Effekte sind vielmehr auch Produkt der Erfahrung.» (manfred spitzer: Geist im Netz, 327) Eine Theorie, die den verschiedenen Entstehungsbedingungen der Depression gerecht werden möchte, muß demnach – in Präzisierung des DiatheseStreß-Modells – den biographischen Faktor auf den verschiedenen Stufen der individuellen Psychogenese beziehungsweise der Hirnentwicklung gebührend in die Betrachtung einbeziehen. Einen solchen Versuch hat joseph b. aldenhoff (Überlegungen zur Psychobiologie der Depression, in: Der Nervenarzt, 68/1997, 379– 389) unternommen. Sein Vorschlag läßt sich in dem Schema von Abb. C 11 darstellen. (Vgl. gerd laux: Affektive Störungen, in: Psychiatrie und Psychotherapie, 79; sigrun schmidt-traub – tina-patricia lex: Angst und Depression, 240.) Den Ausgang nimmt dieses Modell bei einem frühen Trauma – seelisch infolge bestimmter Entbehrungen (lat.: die deprivatio – Beraubung) oder Mißbrauchshandlungen, biologisch infolge körperlicher Erkrankungen, einer Virusinfektion oder eines Unfalls zum Beispiel; dadurch kommt es zu einem biologischen Priming (zu einer Bahnung, von engl.: to prime – instruieren, vorbereiten), das heißt durch eine Modifikation der Second-Messenger-Kaskaden wird die Struktur und Dichte der Rezeptoren so verändert, daß sie empfindlicher auf erregende Neurotransmitter reagieren. Durch diese ersten neuronalen

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Abb. C 11: Psychobiologisches Entstehungsmodell der Depression nach joseph b. aldenhoff

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Änderungen auf der Ebene der Rezeptoren entsteht eine charakterbedingte Bereitschaft zur späteren Ausbildung depressiver Reaktionen und Symptome, die solange verborgen (lat.: latent) bleibt, als keine Ereignisse auftreten, die in die «Kerbe» der depressiven Bahnung schlagen könnten. Nach dieser 1. Latenzphase können allerdings neuerliche psychische Konflikte oder biologische Erkrankungen die neurobiologische Bereitschaft zu depressiven Reaktionen reaktivieren und verstärken; es zeigt sich jetzt, daß es weder gefühlsmäßig noch gedanklich gelingt, bestimmte Situationen adäquat zu bearbeiten. Auf diese Weise kommt es nach der 2. Latenzphase zu einer Dissoziation (lat.: die dissociatio – Trennung) von Erleben, Fühlen und Denken gegenüber der «Wirklichkeit»: das vegetative Nervensystem, die Emotionen, die geistigen Grundeinstellungen erweisen sich als immer weniger imstande, mit den alltäglichen Gegebenheiten fertig zu werden. Selbst «normale» Situationen gewinnen jetzt den Charakter von permanentem Streß, der zu den uns schon bekannten psychobiologischen Veränderungen führt, wie zu einer Erhöhung der CRH-Ausschüttung, einem Anstieg des Cortisolspiegels im Blut und einer Zunahme von Beta-Rezeptoren, an denen, wie wir hörten, Adrenalin gefäßerweiternd auf die Bronchien, die Herzkranzgefäße und die Blutadern des Menschen wirkt. Chronischer Streß aber führt – analog zu den stets unterlegenen Flußkrebsen – neurophysiologisch wie psychisch zu einem Zustand der Depression. Genetisch bedingte Anlage, neuronale Veränderungen durch eine milieureaktive Bahnung, charakterbedingte Erlebnisbereitschaften und biographisch dazu «passende» Auslöser treten also zusammen, um eine Depression hervorzubringen. Das aldenhoffsche Modell, das natürlich diskutierbar ist, erscheint dadurch als hilfreich, daß es eine Reihe «richtiger» Fragestellungen an den psychobiologischen Werdegang eines depressiven Patienten erlaubt. Gleichwohl bedarf es augenscheinlich einer wichtigen Ergänzung an gerade der Stelle, die für das frühkindliche «Priming» ebenso wichtig ist wie für die «Reaktivierung» der depressiven Bahnung später: Was, so müssen wir fragen, sind das für «Erlebnisse», die in depressivem Sinne als «traumatisierend» zu gelten haben, und was für Situationen später sind geeignet, um als «Auslöser» für die spezifischen Grundkonflikte wirken zu können? Hier genügt es nicht, rein «kognitiv» hervorzuheben, daß negative Erwartungen und Einstellungen eines Individuums (also «dysfunktionale Grundannahmen und negative automatische Gedanken») im Verein mit belastenden Lebenserfahrungen (entsprechend dem Verstärker-Verlust-Modell ) sowie mit unkontrollierbaren Ereignissen, die zu Kommunikationsproblemen und zu sozialem Rückzug anhalten (entsprechend dem Hilflosigkeitsmodell ), «sich depressionsverstärkend» auswirken

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und «das Aktivitätspotenzial» verringern, «das Sozialverhalten» verschlechtern und «die Zahl positiver Erlebnisse» immer geringer werden lassen. (sigrun schmidt-traub – tina-patricia lex: Angst und Depression, 241) Einen solchen Teufelskreis der Selbstverstärkung depressiver Symptome gibt es ohne Zweifel; doch was für «Grundannahmen» stecken hinter dem depressiven Erleben – woher kommen sie und in welcher Form äußern sie sich? Und was gar macht eine «Charakterstruktur» aus, die zu depressiven Verhaltensweisen tendiert? An dieser Stelle sind inhaltliche Beschreibungen vonnöten, und es ist insbesondere die Psychoanalyse, deren Verständnis der Depression dem gezeigten Modell am besten entspricht.

δ) Der subjektive Faktor oder: Psychoanalytische Zugänge Je stärker seelische Störungen sich bemerkbar machen, wird zugleich der Unterschied zwischen einer neurologischen und einer psychologischen (psychoanalytischen oder daseinsanalytischen) Betrachtungsweise sichtbar. Nicht als ob die Ergebnisse sich widersprächen – sie ergänzen vielmehr einander; es ist der methodische Ausgangspunkt, der konträrer nicht sein könnte, indem auf dem einen Wege versucht wird, die objektiven «Daten» zu eruieren, die – in Gestalt der Aktivierung bestimmter Hirnareale, der Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter sowie der Veränderungen in Anzahl und Struktur bestimmter Rezeptoren – sich als Reaktion auf spezifische Reize der Umgebung zu erkennen geben, während auf dem anderen Wege die subjektive Gestimmtheit im Hintergrund der neuronalen und verhaltensbiologischen «Antworten» nicht «erklärt», sondern verstanden werden soll. Diese Feststellung ist (immer wieder) zu treffen, weil die Frage nach dem «Subjekt» (dem «Selbstbewußtsein», dem «Ich», der «Seele») religiös (theologisch) das eigentliche Ziel unserer Untersuchungen bildet. Und so zeigt sich denn hier schon (und wird im folgenden immer deutlicher), daß die Neurologie zwar die (derzeit) besten Dienste verrichtet, wenn es darum geht, die biochemischen Vorgänge zu erforschen, die mit seelischen Erlebnisweisen verbunden sind, doch daß sie (fast möchte man sagen: natürlich) sich schwertut, die subjektive Seite dieser Erlebnisweisen selber zu erfassen. Das gilt bereits im Umgang mit den Tieren. «In bezug auf das Bewußtsein oder die Selbst-Erkenntnis von Tieren werden wir Agnostiker bleiben», meinte john carew eccles (Wahrheit und Wirklichkeit, 122) und vertrat damit methodisch den üblichen «Spezies-Solipsismus», wonach nur dem Menschen ein Bewußtsein zugesprochen werden kann (von lat.: solus – al-

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lein, ipse – selbst; die Lehre vom «nur selbst», der reinen Selbstheit); man versteht, wo der australische Nobelpreisträger für Neurophysiologie recht hat, man versteht aber auch wo (und wie sehr) er unrecht hat: Man kann nicht in endlos quälerischen Versuchen nach den Gefühlen und kognitiven Verarbeitungsweisen von Informationen in den Köpfen von Tieren forschen, nur um dann zu leugnen, daß sie über Gefühle und Gedanken verfügen; wie Tiere selber fühlen und denken, läßt sich freilich am besten durch Introspektion und Analogiebildung erschließen.

Biopsychologische Gemeinsamkeiten Kann man sagen, ein im Kommentkampf unterlegener männlicher Flußkrebs zeige eine «depressive» Reaktion? Wir können feststellen, daß die Serotoninreaktion eines bestimmten Neurons bei einem «Verlierer» schwächer wird, und wir können neurologisch darin eine «Analogie» zu den Vorgängen erkennen, die im Gehirn eines Menschen während einer Depression vor sich gehen. Gleichwohl würde es in der Tat auf eine Vermenschlichung des Erlebens eines Flußkrebses hinauslaufen, ihn als depressiv leidend zu beschreiben; andererseits ist es fast unmöglich, bei den (selbst)mörderischen Attacken der ehemaligen «Sieger» kein Mitleid mit Tieren zu fühlen, die von der «Natur» gezwungen werden, in derart grausamer und selbstzerstörerischer Weise um ihren Territorial«anspruch» (und damit um die Chancenverbesserung bei der Weitergabe ihrer Gene) immer wieder kämpfen zu müssen; ja, unwillkürlich denkt man an all die monströsen Revanchekriege und -auseinandersetzungen der menschlichen Geschichte, die psychologisch keinen anderen Zweck verfolgten als die Wiederherstellung des verletzten Rangs und der damit verbundenen Achtung. Was es umgekehrt bedeutet, «geächtet» zu werden, haben wir bereits an der «Angst der Tiere» in entsprechenden Situationen ablesen können. Und so müssen wir zugeben, daß die Grenzen der Verstehbarkeit zwischen Mensch und Tier fließend sind: Je «einfacher» ein Tier organisiert ist, desto besser scheint es sich den biologischen (oder biopsychologischen) Erklärungsversuchen der Naturwissenschaften zu fügen; je «komplizierter» die neuronale Architektur aber wird, desto schwieriger fallen die objektiven Erklärungsmuster, desto «einfühlbarer» hingegen werden die Erlebnisweisen, desto leichter gelingt die psychologische Deutung der subjektiven Wahrnehmung des Verhaltens. Keinesfalls ist die moderne Neurologie diejenige Wissenschaft, die den alten Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufzuheben oder auch nur zu überbrücken vermöchte; ganz im Gegenteil werden die Diffe-

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renzen um so sichtbarer, je höher wir in der Evolution der Arten emporsteigen. Ob Krebse traurig sein können, wissen wir wirklich nicht, daß Wirbeltiere es sein können, ist wohl unbestreitbar. Erinnern wir uns noch einmal an eine Situation, die in der Angsttheorie von jaak panksepp so etwas wie eine Schlüsselrolle einnahm: an die Verlassenheitsangst, an die Panik durch Isolation (vgl. Bd. I 583; 630 –631), und setzen sie in Beziehung zu dem Erleben der Depression, so wird deutlich, wie sehr Tiere als «verlorene», «verstoßene» oder «vereinsamte» seelisch in einer Form leiden können, die es notwendig macht, den Begriff der Depression in analoger, ja, schließlich sogar in homologer Weise auf sie anzuwenden. So beschrieb konrad lorenz (Das sogenannte Böse, 293– 294), was passiert, wenn man eine Graugans von ihrem Partner trennt. Graugänse, muß man wissen, leben monogam, in Gemeinschaft mit ihrem «TriumphgeschreiPartner». Verschwindet dieser Partner, so «versucht eine Graugans mit aller Macht, ihn wieder zu finden. Sie ruft dauernd, buchstäblich Tag und Nacht den dreisilbigen Distanzruf, läuft eilig und aufgeregt im gewohnten Gebiet umher, an Plätzen, wo sie sich mit dem Vermißten zusammen aufzuhalten pflegte, dehnt ihre Such-Exkursionen immer mehr aus und fliegt, immer rufend, weit umher. Jede Kampfbereitschaft ist mit dem Verlust des Partners schlagartig erloschen, die vereinsamte Gans wehrt sich gegen die Angriffe der Artgenossen überhaupt nicht mehr, flieht vor den schwächsten und jüngsten Gänsen und fällt, da sich ihr Zustand in der Kolonie rasch ‹herumspricht›, sofort auf die tiefste, allertiefste Stufe der Rangordnung. Die Schwelle aller fluchtauslösenden Reize ist erheblich herabgesetzt, der Vogel zeigt sich nicht nur Artgenossen gegenüber völlig feige, er erschrickt auch über alle von der Außenwelt herkommenden Reize mehr als sonst. Dem Menschen gegenüber kann eine bisher zahme Gans völlig scheu werden». (konrad lorenz: A. a. O., 295; zum «Triumphgeschrei» vgl. helga fischer: Triumphgeschrei der Graugans (Anser anser), in: Zeitschrift für Tierpsychologie, 22/1965, 247– 304.) Gewiß kann man sich methodisch darauf beschränken, das Verhalten eines Tieres zu beobachten, es so genau wie möglich zu beschreiben und lediglich zu messen, was sich biochemisch und bioelektrisch im Kopf eines solchen Tieres tut, wenn es dieses bestimmte Verhalten an den Tag legt, – alsdann kann man sich alle weiteren Fragen als unbeantwortbar verbitten! Doch ein solcher Gewaltakt macht Verdacht, das Wichtigste auszuklammern: die Gefühle des Tieres. Zu sprechen ist unbedingt von der Trauer der Graugans in ihrer Verlassenheit; – von einem depressiven Zustand analog dem vergrämter Menschen sprach denn auch konrad lorenz. (Vgl. Das sogenannte Böse, 294 –295.) Erst die Bedeutung, wel-

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che die Trennung von ihrem Partner für eine Graugans besitzt, ruft jene neuronalen und verhaltenspsychologischen Erscheinungen auf den Plan, die sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln beobachten lassen. Paradox formuliert, ist es die Depression, welche die depressive Verhaltensreaktion hervorruft, und wer jene nicht versteht, kann diese nicht erklären. Oder nehmen wir Beispiele von Tieren, die uns evolutiv näherstehen als Vögel. Von einem Schwertwal wird berichtet, daß er nach seiner Gefangennahme, also nach der gewaltsamen Trennung von seiner Herde, «zunächst jede Nahrungsaufnahme» verweigerte; «einen Monat lang» mußte man das Tier «jeden zweiten Tag» zwangsernähren, «dann endlich begann der Wal selbständig zu essen. Überraschenderweise vertrug er sich gut mit einem weiblichen Weißstreifendelphin (Lagenorhynchus obliquidens) – einem Tier also, das im Freileben zu seiner Beute gehört.» (everard j. slijper – dietrich heinemann: Übersicht über die Delphinarten, in: Grzimeks Tierleben, Bd. 11: Säugetiere II, 505) Man wird das Verhalten des Schwertwals kaum anders deuten können, als daß es die Trauer seiner völligen Einsamkeit war, die ihn jede Nahrung verweigern ließ und die sich erst in der Nähe der Menschen und schließlich eines Ersatzpartners löste. – Oder ein anderer Fall, der vor Jahren durch die Zeitungen ging: Ein Gorilla, der viele Jahre im Zoo mit einem Weibchen zusammen gelebt hatte, tobte tagelang, als es von ihm getrennt wurde, um dann in eine kataton anmutende Starre zu versinken. – Die Verhaltensforscherin jane goodall (geb. 1934) schildert in ihren Beobachtungen am Gombe-Fluß die Angst des Schimpansen-Mädchens Fifi, als sie bemerkte, «daß ihre Mutter (sc. die alte Flo, d.V.) sich nicht mehr in der Gruppe (sc. der anderen Tiere, d.V.) befand . . . Unter leisem Gewimmer kletterte sie eilig auf einen hohen Baum, lief darin hin und her und hielt nach allen Richtungen Ausschau. Ihre Klagerufe steigerten sich nach und nach zu lauten, mißtönenden Schreien. Plötzlich schwang sie sich vom Baum herab und hastete, immer noch schreiend, auf einem (sc. Wild-, d.V.) Wechsel davon . . . Immer wieder kletterte sie auf einen Baum, blickte in die Runde und lief dann mit gesträubtem Fell schreiend und wimmernd weiter.» (jane van lawick-goodall: Wilde Schimpansen, 142) Von den Spielangeboten der Gefährten nahm Fifi keine Notiz mehr, vielmehr schrie und wimmerte sie auch in der Nacht weiter. Das Tier war traurig; – kein anderer Ausdruck ist angemessen, um zu verstehen, was das Schimpansen-Kind erlebt und erlitten hat. Wohl, biologisch haben derartige Trauerreaktionen den Sinn, den Schutz des schon gezeugten und mit enormen «Investitionen» an Zeit und Energie aufgezogenen Nachwuchses zu gewährleisten und so die Weitergabe der Gene zu sichern; doch die betroffenen Tiere erleben nicht die natürliche

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«Weisheit» einer biologischen Zwecksetzung; sie leiden an einer Trauer, die tödlich sein kann und in dieser Heftigkeit auch biologisch eigentlich keinen «Sinn» mehr macht – so wenig wie ein Phantomschmerz, der keine Schädigung mehr verhütet, sondern nur noch eine erlittene (körperliche) Einbuße auf immer festschreibt. Um so wichtiger ist es, die Zustände melancholischer Traurigkeit bei Menschen, die depressiv erkrankt sind, psychologisch beziehungsweise psychoanalytisch aufzuarbeiten und zu heilen.

sigmund freud oder: Depression und Trauer Den wohl wichtigsten ersten Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel machte sigmund freud in seinem Aufsatz Trauer und Melancholie aus dem Jahre 1916 (in: Gesammelte Werke, X 428– 446), in welchem er die melancholische Traurigkeit in Analogie zu der Trauer nach dem »Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.» setzte. (X 429) Die Melancholie sah er «seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert. Dies Bild», meinte freud, «wird unserem Verständnis näher gerückt, wenn wir erwägen, daß die Trauer dieselben Züge aufweist, bis auf einen einzigen; die Störung des Selbstgefühls fällt bei ihr weg.» (X 429) Näherhin besteht «die Arbeit, welche die Trauer leistet», nach freud darin, «die Aufforderung» der Realitätsprüfung zu akzeptieren, «alle Libido (sc. lat.: gefühlsmäßige Bindung, d.V.) aus ihren Verknüpfungen mit diesem (sc. dem verlorenen, d.V.) Objekt abzuziehen». «Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.» (X 430) Auch in der Melancholie handelt es sich in «einer Reihe von Fällen» um die «Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts»; dieses «Objekt ist nicht etwa real gestorben, aber es ist als Liebesobjekt verlorengegangen». (X 430 –431) Was die Melancholie nach freud indessen von der gewöhnlichen Trauer unterscheidet, ist die «außerordentliche Herabsetzung» des «Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung». (X 431) Und so formulierte er in seiner Studie die Sätze, die für das psychoanalytische Verständnis der Melancholie «klassisch» werden sollten: «Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungs-

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unfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe. Er erniedrigt sich vor jedem anderen, bedauert jeden der Seinigen, daß er an seine so unwürdige Person gebunden sei. Er hat nicht das Urteil einer Veränderung, die an ihm vorgefallen ist, sondern streckt seine Selbstkritik über die Vergangenheit aus; er behauptet, niemals besser gewesen zu sein. Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Kleinheitswahnes vervollständigt sich durch Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt.» (X 431–432) Wie, so stellt sich die Frage, kann es zu einem solchen Gefühlszustand kommen? Eine plausible Antwort darauf ist wichtig, denn es dient weder dem Verständnis noch einer therapeutischen Besserung, den Kranken mit guten Worten «trösten» zu wollen, ihm beredt ein besseres Bild von sich selber zu malen, ihn religiös der unverbrüchlichen Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu versichern oder ihn mit «Späßen» und «Animations»vorschlägen aufzumuntern. Vielmehr würde all dies das Gefühl des Abstands von den anderen nur noch vermehren und zudem die Beteuerungen der eigenen «Unmöglichkeit» noch heftiger anreizen. Günstiger und hilfreicher scheint die folgende Überlegung: Wenn der Verlust einer geliebten Person (eines «Libido-Objekts») zu einer Entleerung des Ich führt, so muß das Ich mit dem «Liebesobjekt» auf das engste verschmolzen gewesen sein – es muß «eine starke Fixierung» bestanden haben. Nach «einer realen Kränkung oder Enttäuschung von seiten der geliebten Person» wäre es gewiß «normal», wenn die Libido «von diesem Objekt» abgezogen und «auf ein neues» verschoben würde; genau das aber geschieht nicht in der Melancholie; vielmehr wird «die freie Libido» «ins Ich zurückgezogen» und dient dort «dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts» fällt «so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz (sc. dem Überich, d.V.) wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden» kann. «Auf diese Weise» verwandelt «sich der Objektverlust in einen Ichverlust . . ., der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich». (X 435) Die entscheidende Voraussetzung dieser ganzen Konstruktion besteht in der Annahme, daß die Beziehung des Melancholikers zu dem verlorenen Objekt (daß die ganze Art seiner Kontaktaufnahme in Liebesdingen!) eine «Objektwahl auf narzißtischer Grundlage» darstellt, «so daß die Objektbesetzung, wenn sich Schwierigkeiten gegen sie erheben, auf den Narzißmus regredieren kann. Die narzißtische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz

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der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, daß die Liebesbeziehung trotz des Konflikts mit der geliebten Person nicht aufgegeben werden muß. Ein solcher Ersatz der Objektliebe durch Identifizierung ist ein für die narzißtischen Affektionen bedeutsamer Mechanismus . . . Er entspricht . . . der Regression von einem Typus der Objektwahl auf den ursprünglichen Narzißmus.» (X 435 –436) Wohlgemerkt nimmt diese Melancholie-Analyse die erwachsene Persönlichkeit eines Kranken zum Ausgangspunkt der Betrachtungen und versucht, seine gegenwärtige Gefühlslage als (unangemessene, eben: krankhafte) Reaktion auf das Erlebnis einer zerbrechenden oder zerbrochenen Liebesbeziehung zu interpretieren; der Ausbruch der Melancholie erlaubt in gewissem Sinne den Rückschluß, daß die Beziehung selber aus der Sicht des Betroffenen «narzißtisch» geprägt war, das heißt, der Melancholiker liebte in dem anderen «eigentlich» sich selber: er brauchte den anderen, um seiner Einsamkeit, Unsicherheit und Ausgesetztheit zu entkommen; in der Nähe des anderen, in der Liebe des anderen fühlte er sich selber in seinem Ich erhöht, berechtigt, bedeutend, «bereichert» in jedem Sinne des Wortes; nun die Beziehung zusammenbricht, erscheint das eigene Ich erniedrigt, unberechtigt, unbedeutend und «verarmt» in allem. Eine Person von einigem Selbstwertgefühl würde im Falle des Liebesverlustes den anderen seiner Wege ziehen lassen und sich auf die Suche nach einem Partner begeben, der ihrer Zuneigung würdiger wäre; ein Mensch aber, dessen Ich seine Selbstachtung an der Achtung des anderen festgemacht hat, kann nicht einfach aus einer Beziehung in eine andere wechseln. Mit dieser einen Person hat er alles verloren, was er selbst war, und eben dies ist denn auch die Bilanz, die ein Melancholiker sich über sein abgetanes Leben ausstellen wird. An den Kern der Melancholie aber rührt man psychoanalytisch erst, wenn man im Hintergrund der «narzißtischen Objektwahl» ein Relikt aus einer Zeit erblickt, in welcher es gar nicht anders möglich war, als sich im anderen zu lieben, um von diesem anderen so etwas wie ein eigenes Ich allererst geschenkt zu erhalten. «Narzißtisch» ist und muß sein die Liebe eines kleinen Kindes zu seiner Mutter. Wir brauchen uns nur zum wiederholten Male in Abb. B 107 das harlow-Äffchen anzusehen, und wir können uns vorstellen, wie die Welt auch eines Menschenkindes aussehen wird, das seine Mutter verloren beziehungsweise nie gesehen hat. Oder verdeutlichen wir uns den Sachverhalt noch auf andere Weise. Nur wenige Maler der Kunstgeschichte haben dem seelischen Leid vereinsamter Menschen einen solch erschütternden Ausdruck zu verleihen vermocht,

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wie der norwegische Maler edvard munch (1863 –1944). Sein Gemälde Die tote Mutter und das Kind aus dem Jahre 1894, das wir in Tafel 1 wiedergeben, zeigt seine zweijährige Schwester Laura (1867–1926), wie sie den Heimgang ihrer Mutter erlebt. Länger zuvor schon hatte die Mutter ihre Kinder auf den Tod vorbereiten wollen: «Und jetzt, meine geliebten Kinder, meine lieben süßen Kleinen, sage ich Euch Lebewohl. Euer geliebter Papa wird Euch über den Weg zum Himmel besser belehren. Ich werde dort auf Euch alle warten.» (matthias arnold: Edvard Munch, 13) So waren ihre Worte noch vor der Niederkunft ihres Kindes gewesen. Doch jetzt war es soweit; – der norwegische Maler war damals sechs Jahre alt, und er beschreibt in seinem Tagebuch, wie er und seine ältere Schwester Sophie von ihrer Mutter Abschied nahmen: «Am Fußende des großen Doppelbettes saßen sie (sc. die zwei Kinder, d.V.) dicht beieinander auf zwei kleinen Kinderstühlen, die hohe Frauengestalt (sc. ihre Mutter, d.V.) stand neben ihnen, groß und dunkel gegen das Fenster. Sie sagte, sie würde sie verlassen, müsse sie verlassen, und fragte, ob sie traurig sein würden, wenn sie von ihnen gegangen sei – und sie mußten ihr versprechen, Jesus treu zu bleiben, wenn sie nicht mehr bei ihnen sei, dann würden sie einander im Himmel wiedersehen. Sie verstanden nicht alles, aber sie fanden es unsagbar traurig, und dann weinten sie beide, Ströme von Tränen.» (Zit. n. arne eggum: Edvard Munch, 16) Es folgt ein letztes trauriges Weihnachten mit der Mutter; und dann, am 29. Dezember 1868, schreibt munch, «mußten wir einzeln zum Bett hingehen, und sie sah uns so merkwürdig an und küßte uns. Dann gingen wir hinaus, und das Mädchen brachte uns zu fremden Menschen . . . Wir wurden mitten in der Nacht geweckt. Wir verstanden sofort.» (matthias arnold: Edvard Munch, 13) Auf munchs Bild sieht man die Mutter aufgebahrt: – eine ausgezehrte, abgemagerte, an ihren Pflichten und der allzu häufigen Geburt von Kindern erschöpfte Frau, deren Gesicht beinahe bleicher noch ist als das Leichentuch, das man über sie gebreitet hat. Vor ihr aber steht die kleine Laura, ihre Fäustchen in die Ohren gepreßt, als wollte sie vermeiden, einen Schrei zu vernehmen, der schrill und lautlos zugleich die ganze Welt durchzittert; ihre großen dunklen Augen sind dem Betrachter zugewandt und scheinen doch durch ihn hindurchzugehen ins Nichts. Jeder, der dieses Bild sieht, spürt, daß diese Mutter diesem Kind zu diesem Zeitpunkt nie und nimmer hätte sterben dürfen. Doch sie ist gestorben, und es wird in alle Zukunft keine Worte geben, die einer Laura zu erklären vermöchten, was eigentlich in diesem Augenblick geschehen ist. Auf einem anderen Bilde aus dem Jahre 1899, das schon den Titel Melancholie trägt, sieht man munchs Schwester Laura in der psychiatrischen Abteilung

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des Osloer Krankenhauses, in die sie 1892 eingeliefert worden war (Tafel 2): In einem gepflegten, doch leeren Raum sitzt da eine Frau in die Ecke gedrückt mit schwarzen Haaren und dunklen großen Augen, angetan mit einem dunkel-grünen Kleid, auf dem roten Tisch eine rote Topfblume, rechts neben ihr ein Fenster – oder ein Bild –, das den Blick auf Meer und Himmel freigibt; doch diese Frau nimmt das alles nicht wahr. Sie schaut vor sich hin, die linke Hand in den Schoß gelegt, die rechte herabgesunken, wie apathisch, wie willenlos, wie verloren in seltsame Tiefen, aus denen keine Kunde mehr nach außen dringt. munch hatte seine Schwester «an einem strahlenden Sommertag besucht und in einer hoffnungslosen Finsternis gefunden . . . Er hatte ihr Blumen gebracht, doch sie erkannte ihn nicht, sie saß nur regungslos da und antwortete nicht.» (Zit. n. thomas kellein: Edvard Munch 1912 in Deutschland, Kunsthalle Bielefeld 2002/2003, 94) Die Ärzte werden edvard munchs Schwester auf «Geisteskrankheit» behandeln; doch das Bild in Tafel 2 zeigt es etwas anders: es verrät die Weiterentwicklung einer Trauer zur Verzweiflung, eines «Objektverlustes», der zum Ich-Verlust wird, einer Kindesliebe, die erstarb, als ihr die Mutter verstarb . . . (Vgl. dazu auch john bowlby: Trennung. Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind, 276– 287.) Warum aber dann die «typischen» Selbstanklagen des Melancholikers? Woher seine Schuldgefühle, die ein phantastisches Ausmaß erreichen können, indem in psychotischen Phasen der Depression Patienten sich in die Hölle versetzt vorkommen oder sich als Krebsschaden der Menschheit beziehungsweise als den Teufel selber sehen?

karl abraham oder: Depression und Oralität In der Geschichte der Psychoanalyse war es karl abraham (1877–1925), der in seinem Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen von 1924 (in: Gesammelte Schriften, II 32 –102, S. 36 –45) darauf verwies, daß jedes Kind irgendwann aus der «paradiesischen» Welt der Dualunion mit seiner Mutter entlassen werde – in der Zeit des Zahnens und der Entwöhnung etwa im Alter von acht Monaten; in dieser Zeit entwickle das Kind einen «oralen Sadismus», indem es zu zerstören trachte, wovon es lebe: die Brust seiner Mutter, und es empfinde die Umstellung auf feste Nahrung wie eine Bestrafung für seine «kannibalistischen» Tendenzen. So erkläre sich die Bereitschaft der Depressiven zu Ambivalenz- und Schuldgefühlen, ihre Identifikationsneigung sowie ihr Problem mit dem Zahnen und mit der Nahrungsaufnahme. Auf einen späteren «Objektverlust» reagiere ein Depressiver

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entsprechend dem Vorbild dieses ersten Verlustes, den er in der «oral-sadistischen Phase» der Libido-Entwicklung erlitten habe. Gegen die Theorien abrahams läßt sich einwenden, sie seien kulturrelativ; es gibt Völker wie die Eskimos, in denen Kinder bis zum Alter von vier Jahren und länger gestillt werden (müssen, schon weil es keine Baby-Nahrung zum Ersatz gibt), und dieser Zustand existierte allgemein menschheitlich noch bis vor wenigen Jahrtausenden – bis zum Beginn der Haltung und Züchtung von Milchvieh; eine Phase des «oralen Sadismus» kann also keine biopsychologische Grundtatsache der seelischen Entwicklung darstellen; sie muß, wo sie vorkommt, kulturbedingt sein. Andererseits gibt es freilich Kulturen, die in der Tat durch einen ausgesprochenen «oralen Sadismus» gekennzeichnet sind. erik h. erikson (Kindheit und Gesellschaft, 132 –133) zum Beispiel schildert, wie die Mütter der Sioux-Indianer beim Stillen ihren Säuglingen bereitwillig die Brust gaben, wofern sie lernten, nicht zu beißen; doch wenn die Kinder mit ihren Beißversuchen anfingen, brachten sie diese absichtlich in wilde Wut, um so schon früh den Jagd- und Kampfgeist anzufachen. Den «oralen Sadismus» gibt es in solchen Kulturen, – doch offenbar als ein bloßes Erziehungsinstrument auf dem Weg zum Mannsein. Um die «oralen» Ambivalenzgefühle und «sadistischen» (besser: masochistischen) Triebimpulse im Umkreis der Melancholie zu verstehen, bedarf es also keiner «Naturgegebenheiten», es genügt, sich an die Konflikte zu erinnern, die wir bereits im Zusammenhang mit der Magersucht kennengelernt haben (vgl. Bd. I 499– 502). Stellen wir uns eine Kindheit vor, in welcher die Mutter physisch oder psychisch nicht über die Voraussetzungen verfügt, ihr Kind ohne empfindliche Einschränkungen großzuziehen: es mangelt an Nahrungsmitteln, es mangelt an Zeit, an nervlicher Spannkraft, an körperlicher oder seelischer Gesundheit, es mangelt an der persönlichen Fähigkeit, dieses Kind (oder ein Kind überhaupt) wirklich zu lieben . . ., gleichviel, der fundamentale Mangel zwingt das Kind zu ständigen Gefühlswidersprüchen: Es liebt seine Mutter, aber es ist empört über die Verweigerungen, deren Notwendigkeit es nicht begreift; es muß seine Aggressionen unterdrücken; es lernt, daß es ein «böses» Kind ist, wenn es sich über seine Mutter ärgert; es beginnt, die auferlegten Entbehrungen als Strafe für seine Schuld zu betrachten; und eben diese Mischung aus Liebe, Auflehnung, Unterdrückung, Schuldgefühl und Strafbedürfnis macht die «Ambivalenz» der Gefühle im Erleben bereits eines Kindes aus, welches später von Depressionen heimgesucht werden mag. Einen Schritt tiefer im Verstehen der «oralen» Identifikationsbereitschaft des Depressiven und seiner Neigung zu Selbstvorwürfen können wir tun, wenn

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wir uns in die Lage eines Mädchens wie edvard munchs Schwester hineinversetzen: Eine Mutter, die zu «sterben» (oder durch Scheidung, Krankheit, berufsbedingte Trennung u.ä. dem Kind verlorenzugehen) droht, wird in ihrem Kinde das lebhafteste Verlangen erwecken, die Mutter, ohne die es selbst nicht leben könnte, bei sich und für sich am Leben zu halten: es wird versuchen, die pflegebedürftige, schutzbedürftige, verwöhnungsbedürftige Mutter, soweit es irgend geht, zu schonen und ihr nicht noch mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen lästig zu fallen. In gewissem Sinne muß ein solches Kind die Mutter seiner Mutter werden, nur um selber Kind sein zu dürfen. «Identifikation», «narzißtische Objektbesetzung», «Ambivalenzgefühle» sind allzu seelenlose, psychotechnische Begriffe, um derartige Tragödien auch nur annähernd erfassen zu können. Sagen wir so: Ein Kind, das unter derartigen Umständen aufwächst, besitzt kein Recht auf ein eigenes Leben; es darf nicht fühlen, was es selber fühlt; es muß versuchen, die Gefühle seiner Mutter anstelle seiner eigenen zu begreifen; der Mutter Empfindungen, der Mutter Wünsche, der Mutter Zwänge müssen seine eigenen werden; es muß der Mutter Leben leben, und das Muttersein wird die einzige Art, überhaupt zu sein. Am ärgsten aber muß es werden, wenn alle Bemühungen, sich die Mutter zu erhalten, scheitern. Dann ist der Eindruck unvermeidbar, bei der wichtigsten Aufgabe des Lebens versagt zu haben beziehungsweise die Schuld an dem Dahinscheiden der Mutter zu tragen. Um so stärker wird sich eine Haltung formen, die zumindest für die Zukunft eine Bewältigung der gegebenen Situation in Aussicht stellt: die Identifikation mit der «Verstorbenen», die im Ansatz zuvor schon bestand, verfestigt sich jetzt zu einer moralischen Forderung von Verzicht, Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Selbstunterdrückung aller Art. In dem Märchen der brüder grimm vom Aschenputtel (KHM 21) werden die Folgen des frühen Tods der Mutter in den ständigen Trauerritualen ihres Kindes und in dessen entschlossener Einheit mit der Verstorbenen meisterhaft geschildert. (Vgl. e. drewermann: Aschenputtel, 25 –60.) Werfen wir einen weiteren notwendigerweise abrißhaften Blick auf die «klassischen» psychoanalytischen Erklärungsversuche der Depression, so verstehen wir vor diesem Hintergrund recht gut, daß die verschiedenen Ansätze, im wesentlichen einander mehr ergänzend als widersprechend, die Erfahrungen des kleinen Kindes mit seiner «guten» oder «bösen» Mutter und entsprechend die Gefühle von Liebe und Haß in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Schon 1911 hatte karl abraham auf die Ähnlichkeit der depressiven Psychose mit dem Aufbau einer Zwangsneurose hingewiesen: «Beim Zwangsneurotiker . . . kann die Libido sich nicht in normaler Weise entfalten, weil zwei verschiedene

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Tendenzen – Haß und Liebe – einander dauernd beeinträchtigen», schrieb er. «Die Neigung zur feindseligen Einstellung ist so groß, daß die Liebesfähigkeit aufs äußerste herabgemindert wird.» (Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustände, in: Gesammelte Schriften, I 147–148) Auch manisch-depressive Zustände nehmen nach abraham ihren «Ausgang von einer überwiegenden Haßeinstellung der Libido, die sich zuerst den nächsten Angehörigen gegenüber geltend macht, sich dann aber verallgemeinert. Sie läßt sich durch folgende Formel ausdrücken: 1) Ich kann die Menschen nicht lieben; ich muß sie hassen. – Von diesen unlustvollen ‹inneren Wahrnehmungen› nehmen die schweren Insuffizienzgefühle dieser Kranken ihren Ausgang . . . Es scheint, daß ein reichliches Vorhandensein solcher Minderwertigkeiten die Entstehung depressiver Zustände begünstigt. – So ergibt sich die zweite Formel: 2) Die Menschen lieben mich nicht; sie hassen mich . . . weil ich mit angeborenen Mängeln behaftet bin. Darum bin ich unglücklich, deprimiert». (A. a. O., I 152) Aus diesem Gefühl heraus bilde sich, meinte abraham, ein «Gelüste nach Rache, gewalttätigen Handlungen», doch werde beim Depressiven «die Aktivität seiner Triebe durch Verdrängung paralysiert». Statt dessen entstünden «die Ideen der Verschuldung»: «je heftiger die unbewußten Regungen der Rache sind, um so ausgeprägter ist die Neigung, Wahnideen der Verschuldung zu bilden. Der Wahn kann, wie bekannt, ins Ungeheure gehen, so daß der Kranke etwa angibt, er allein habe seit Weltbeginn alle Sünden verschuldet, oder alles Böse in der Welt stamme allein von ihm. Es handelt sich hier um Individuen mit einem ins Unbewußte verdrängten unersättlichen Sadismus, der sich gegen alle und alles richten möchte.» (A. a. O., I 153) «Aus der Verdrängung des Sadismus sehen wir Depression, Angst und Selbstvorwürfe hervorgehen. Wird aber die wichtige Lustquelle der aktiven Triebbetätigung versperrt, so ist die Hinwendung zum Masochismus die selbstverständliche Folge. Der Patient stellt sich passiv ein; er zieht Lust aus seinem Leiden, aus der beständigen Selbstbespiegelung. Im tiefsten melancholischen Elend ist so noch ein versteckter Lustgewinn enthalten.» (A. a. O., I 154) Entsteht die Depression mithin aus Hemmungen, so kommt es zum «Ausbruch der Manie . . ., wenn die Verdrängung dem Ansturm der verdrängten Triebe nicht mehr standzuhalten vermag. Der Kranke wird», schreibt abraham, «besonders in den Fällen schwerer manischer Erregung, von seinen Trieben wie im Taumel mitgerissen. Hier sei ganz besonders betont, daß positive und negative Libido (Haß und Liebe, erotisches Verlagen und aggressive Feindseligkeit) sich gleichermaßen ins Bewußtsein drängen.» (karl abraham:

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Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustände, in: Gesammelte Schriften, I 156) Es leidet keinen Zweifel, daß diese psychodynamische Beschreibung depressiver und manischer Gestimmtheiten Vorgänge wiedergibt, die sich in Depression wie Manie tatsächlich zutragen. Nur: wieso entstehen sie? An dieser Stelle haben vor allem melanie klein (1882 –1960) und otto fenichel (1897– 1946) den Ansatz abrahams über die Ambivalenzen der oralen Phase weiterzuführen versucht.

melanie klein oder: Das Wechselspiel von Introjektion und Projektion melanie klein ging von der Grundthese aus, daß Introjektion und Projektion nicht erst Mechanismen einer entwickelten Ich-Struktur darstellten, sondern die Anfänge der Ich-Entwicklung bildeten. Introjektion ist ein Begriff, der vor allem von sándor ferenczi (1873 –1933) verwandt wurde (vgl. Introjektion und Übertragung, 1909, in: Schriften zur Psychoanalyse, I 14– 47; Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, 1912, in: A. a. O., I 100 –102) und der eine «Ichausweitung» durch Objektlibido bezeichnet: ein möglichst großer Teil der Außenwelt wird in das Ich aufgenommen (daher Introjektion, von lat.: introjicere – hineinwerfen, einverleiben) und zum Gegenstand unbewußter Phantasien erhoben; die exzessive Übertragungsneigung der Neurotiker geht nach ferenczi auf einen solchen unbewußten Mechanismus zurück, während das Gegenteil: die Projektion, die – wie wir noch sehen werden – bei der Paranoia eine große Rolle spielt, alle unlustvollen Regungen aus dem Ich herausdrängt (lat.: projicere – nach vorn werfen, hinausjagen, verbannen). melanie klein nun stellte an die Spitze ihrer Betrachtungen Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände von 1928 sehr betont die These: «Die frühkindliche Entwicklung wird von den Mechanismen der Introjektion und Projektion beherrscht. Von Anfang an introjiziert das Ich ‹gute› und ‹böse› Objekte, für die die Mutterbrust den Prototyp darstellt, und zwar den Prototyp von guten Objekten, wenn die Brust es befriedigt, von bösen, wenn sie ihm versagt wird. Aber das Kind empfindet sie als ‹böse› nicht nur, weil sie ihm die Erfüllung seiner Wünsche versagen, sondern auch, weil es seine eigene Aggression auf diese Objekte projiziert; für sein Gefühl sind sie wirklich gefährliche Verfolger, von denen es verschlungen, gewaltsam des Körperinneren beraubt, in Stücke geschnitten, vergiftet – kurz mit allen Mitteln sadistischer Phantasien zerstört zu werden fürchtet. Diese Imagines (sc. inneren Bilder, von lat.: die

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imago – Abbild, d.V.), die ein phantastisch verzerrtes Bild der realen Objekte sind, die ihnen zugrunde liegen, werden vom Kinde nicht nur in die Außenwelt, sondern durch den Prozeß der Einverleibung auch in das eigene Ich verlegt. So kommt es, daß ganz kleine Kinder durch Angstsituationen gehen (und auf diese mit Abwehrmechanismen reagieren), deren Inhalt dem der Psychosen Erwachsener vergleichbar ist.» (melanie klein: Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände, in: M. Klein: Das Seelenleben des Kleinkindes, 44) «Die inneren Vorgänge, die später als Liebesverlust bezeichnet werden und zur Depression führen», sah melanie klein «bestimmt durch das Gefühl des Individuums, beim In-sich-Aufnehmen und Bewahren seiner guten inneren Objekte versagt zu haben, sie niemals sicher genug besessen zu haben – ein Gefühl, das auf die Entwöhnungsperiode und die Zeit unmittelbar vorher und nachher zurückgeht. Ein Grund für dieses Versagen ist, daß das Ich nicht imstande war, seine paranoide Angst vor den inneren Verfolgern zu überwinden.» (A. a. O., 50) Von diesem Ansatz her, den sie weitgehend mit den Untersuchungen von karl abraham teilte, hat melanie klein auch die Ich-Entwicklung beim Aufbau einer für Depressionen anfälligen Persönlichkeit zu rekonstruieren versucht, indem ihrer Meinung nach «die frühesten einverleibten Objekte die Grundlage des Über-Ichs» bestimmen und seine Struktur beeinflussen sollten. Auf diese Weise könnte vor allem die «rücksichtslose Strenge» des Überich «im Falle der Melancholie verständlicher» werden: «Die Verfolgungen und Forderungen der bösen inneren Objekte, die gegenseitigen Angriffe solcher Objekte . . ., die dringende Notwendigkeit, die strengsten Forderungen der guten Objekte zu erfüllen und diese im Inneren zu beschützen und zu besänftigen, zusammen mit dem daraus resultierenden Haß gegen das Es, die ständige Unsicherheit hinsichtlich der Güte eines guten Objekts, da es sich so leicht in ein böses verwandeln kann – all diese Faktoren verbinden sich, um im Ich das Gefühl zu erwecken, daß es eine Beute widerspruchsvoller und unmöglicher innerer Forderungen ist, ein Zustand, der als schlechtes Gewissen gefühlt wird; d. h., die frühesten Äußerungen des Gewissens sind mit dem Gefühl der Verfolgung durch böse Objekte verbunden. Schon das Wort ‹Gewissensbisse› weist auf die rücksichtslose ‹Verfolgung› durch das Gewissen hin und auf die Tatsache, daß dieses ursprünglich so empfunden wird, als ob es sein Opfer verschlänge.» (melanie klein: Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände, in: M. Klein: Das Seelenleben des Kleinkindes, 50– 51) Damit ergäbe sich die Depression wesentlich aus der Aufsicht eines sadistisch-grausamen Überich gegenüber einem masochistischen Ich, und die Her-

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kunft der Überich-Strukturen wäre in den Ambivalenzgefühlen der (zweiten Phase) des oralen Stadiums der Libido-Entwicklung zu suchen (etwa mit dem sechsten Monat beginnend); dabei «scheint Melanie Klein der Beziehung des Kindes zur Mutter eine gleichsam ausschließliche Dimension zu verleihen: nacheinander gehen alle Objektbeziehungen aus dieser ursprünglichen zur Mutterbrust hervor. Sagen wir, daß Melanie Klein angesichts der Vorwürfe, die sich an eine Freudsche, eher maskuline und väterliche Psychoanalyse richten, eine (übertriebene?) Wiederherstellung des Gleichgewichts bewirkt.» Zudem kann man sich fragen, ob die «Beschreibung des Gefühlslebens des Säuglings . . . nicht eine ‹Rekonstruktion› durch die Analytikerin selbst» darstellt. (jean-baptiste fages: Geschichte der Psychoanalyse nach Freud, 121)

otto fenichel oder: Melancholie zwischen Ich und Überich Gleichwohl hat vor allem otto fenichel in seiner dreibändigen Hauptarbeit Psychoanalytische Neurosenlehre von 1943 (einer völligen Neufassung von Spezielle Psychoanalytische Neurosenlehre aus dem Jahre 1932) die Oralität in Verbindung mit kannibalistischen Phantasien ursächlich im Zentrum des manisch-depressiven Erlebens angesiedelt. (Vgl. a. a. O., II 275 –276.) In Übereinstimmung mit freuds Vergleich von Trauer und Melancholie (vgl. a. a. O., II 281– 284) meinte auch er von den Auslösern der Depression, sie stellten «entweder einen Verlust des Selbstgefühls oder einen Verlust der Zufuhr dar, von der der Patient gehofft hatte, daß sie sein Selbstgefühl garantieren oder gar vergrößern würde». (II 277) Beruht der Verlust von Selbstgefühl «darauf, daß die Patienten von äußerer Zufuhr abgeschnitten sind, so lautet die subjektive Formel der Depression: ‹Ich habe alles verloren; jetzt ist die Welt leer›. . . Beruht er hingegen auf einem Verlust innerer Zufuhr von seiten des Über-Ich, so ist er auf die Formel zu bringen: ‹Ich habe alles verloren, weil ich nichts verdiene.›» (II 277) Nach fenichel läßt sich demnach zwischen zwei Formen der Depression unterscheiden, je nachdem, ob das mangelnde Selbstwertgefühl stärker als ein Verstoßenwerden durch andere oder als eine «verdiente» Ausgesetztheit unter dem Diktat des Überich erlebt wird. Beides aber geht ineinander über. Denn insgesamt gilt: «Die Disposition zur Entwicklung von Depressionen besteht in oralen Fixierungen, die ihrerseits eine Reaktion auf narzißtische Kränkungen determinieren. Die Erlebnisse, aus denen orale Fixierungen hervorgehen, können lange vor den entscheidenden narzißtischen Kränkungen auftreten. Umgekehrt kann aber auch eine narzißtische Kränkung eine depressive Disposition hervorrufen, weil sie früh genug auftritt, um noch auf ein oral ausgerichtetes

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Ich zu treffen. Es kann aber auch sein, daß ein bestimmter narzißtischer Schock, der mit dem Tod verbunden ist, die entscheidende orale Fixierung hervorruft; denn die Reaktion auf den Tod ist stets die einer oralen Introjektion des ‹Toten›.» (otto fenichel: Psychoanalytische Neurosenlehre, II 297) Aus Ansätzen dieser Art folgerte edward bibring (1895 –1959) in einem Artikel über Das Problem der Depression (in: Psyche 6/1952 – 53, 81–101), daß «Depression ein ich-psychologisches Phänomen, ein ‹Zustand des Ichs›, eine affektive Verfassung» sei, in der sich die Hilflosigkeit und Ohnmacht des Ich ebenso ausdrücke wie die Spannung zwischen den narzißtischen Strebungen und der erfahrenen Unfähigkeit, diesen Zielen näherzukommen. Von daher stellt die Depression wesentlich einen intrasystemischen Konflikt dar, konzentriert auf Vorgänge im Ich. Doch wenn das Ich, wie gerade geschildert, sich selbst erst bildet durch das Wechselspiel seiner Introjektionen und Projektionen oder, einfacher ausgedrückt, unter den Erfahrungen von Angst und Einsamkeit beziehungsweise von Geborgenheit und Zuwendung, so wird es entscheidend, noch einmal den Stufen der Ich-Entwicklung im Austausch zwischen Kind und Mutter nachzugehen. Diesen Versuch hat margaret s. mahler 1968 in ihrer Arbeit über Symbiose und Individuation unternommen, indem sie diejenigen Prozesse untersuchte, die ganz am Anfang der Ich-Entwicklung stehen und unter Umständen in die Psychose: in die Depression wie in die Schizophrenie, führen können.

margaret s. mahler oder: Symbiose und Individuation margaret s. mahler (1897–1985) vertrat die Auffassung, die «Kernstörung bei der kindlichen Psychose» sei «eine Defizienz oder ein Defekt in der Nutzbarmachung des mütterlichen Partners durch das Kind während der symbiotischen Phase (sc. der extrauterinen Entwicklung der ersten Phase gleich nach der Geburt, in welcher das Kind sich noch als eins mit der Mutter erlebt, d.V.) und seine daraus folgende Unfähigkeit, die Repräsentanz des mütterlichen Objekts zum Zwecke der Polarisierung zu verinnerlichen. Ohne diese erfolgt keine Differenzierung des Selbst von der symbiotischen Verschmelzung mit dem Teilobjekt und der Verwirrung darüber. Kurzum, der Kern der kindlichen Psychose liegt in einer fehlerhaften oder mangelnden Individuation.» (Symbiose und Individuation, 38) Im Unterschied zu den recht spekulativen Konzepten von melanie klein u. a. betont mahler: «Meine eigenen Beobachtungen bestätigen die Theorien nicht, die ausschließlich oder vorwiegend auf die ‹schizophrenogene› Mutter verweisen. Ich halte es für nutzbringender, dieses Problem in

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Form einer Ergänzungsreihe anzugehen: a) Wenn es während der verletzlichsten autistischen und symbiotischen Phase bei einem konstitutionell einigermaßen kräftigen Säugling zu einer sehr schweren, gehäuften und schwankenden Traumatisierung kommt, kann eine Psychose die Folge sein, und das menschliche Objekt in der Außenwelt ist nicht mehr in der Lage, die intrapsychische Entwicklung und die ‹Brutzeit› des Kindes als Katalysator, Puffer und Gegenpol zu beeinflussen. b) Andererseits genügt bei konstitutionell stark vorbelasteten, überempfindlichen oder verletzlichen Kindern die normale Bemutterung nicht, um dem angeborenen Defekt in der katalytischen, dämpfenden und polarisierenden Nutzung des menschlichen Liebesobjekts oder der mütterlichen Instanz in der Außenwelt zum Zwecke der intrapsychischen Entwicklung und Differenzierung entgegenzuwirken.» (margaret s. mahler: A. a. O., 54) Entscheidend wird die Folgerung, die sich aus diesem Ansatz ergibt, – daß die «beiden Hauptmechanismen des psychotischen Kindes . . . im wesentlichen autistisch und symbiotisch» sind: «Entseelung, Entdifferenzierung, Vitalitätsminderung, Triebmischung und -entmischung. Diese», stellt mahler fest, «können weder als Abwehr- noch als Anpassungsmechanismen in dem Sinne bezeichnet werden, wie er für andere Gruppen von Kindern verwandt wird, seien sie normal oder neurotisch. Aus diesem Grunde würde ich es vorziehen, sie Erhaltungsmechanismen . . . zu nennen. – Diese Erhaltungsmechanismen wirken als Abwehr gegen Objektbindungen . . . Im Gegensatz zur Objektbeziehung pflegten wir von Beziehungen narzißtischen Charakters zu sprechen.» (margaret s. mahler: Symbiose und Individuation, 58) Wenn man die Stufenreihe der seelischen Entwicklung des Kindes zeitlich unterteilt, so kann man mit mahler auf anna freud (Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung, 68) zurückgreifen. Danach läßt sich das erste Stadium als « ‹biologische Einheit› zwischen Mutter und Kind» beschreiben, «in der der Narzißmus der Mutter sich über das Kind erstreckt, und das Kind seinerseits die Person der Mutter in sein ‹narzißtisches Milieu› . . . mit einbezieht; Unterteilungen dieser Periode . . . lassen eine autistische und eine symbiotische Periode erkennen, sowie eine Periode, in der Trennungsangst einerseits und Selbständigkeitswunsch andererseits in entgegengesetzte Richtungen drängen.» Es folgt dann die «Liebe nach dem Anlehnungsbedürfnis» oder die «Periode des ‹Teilobjekts› . . ., eine Vorstufe der Objektbeziehung, auf der die Objektwahl noch nicht vom Ich, sondern von den Bedürfnissen und Triebregungen reguliert wird». Darauf dann folgt die «Stufe der Objektbeziehung» im eigentlichen Sinn des Wortes; – die Libidobesetzung löst sich von der Bedürfnisbefriedi-

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gung ab und bleibt konstant auf eine Person gerichtet. Eben dieser «normale» Weg ist in der symbiotischen Phase, wie margaret s. mahler hervorhebt, auf das höchste gefährdet durch den «Verlust des symbiotischen Objekts, der in diesem Stadium dem Verlust eines integralen Bestandteils des Ichs selbst gleichkommt und damit die Drohung der Selbstvernichtung in sich schließt». (Symbiose und Individuation, 221) Es ist bei diesen Worten, wie wenn wir der psychischen Innenansicht der Situation der harlow-Äffchen in Abb. B 107 und Abb. B 108 immer näher kämen. Wenn auch von «Trennungsangst» vernünftigerweise erst auf einem späteren Stadium der Ich-Entwicklung gesprochen werden kann – «wenn der Beginn der Objektkonstanz erreicht worden ist (im 3. und 4. Lebensjahr)» (margaret s. mahler: Symbiose und Individuation, 223) –, so bildet doch von Anfang an die emotionale Verfügbarkeit der Mutter die Grundlage dafür, «jenes Maß von Trennungsangst zu überwinden, die sich an dem Punkt der Loslösungs- und Individuationsphase einstellt, an dem eine differenzierte, vom Selbst getrennte Objektrepräsentanz allmählich der bewußten Wahrnehmung zugänglich wird». (margaret mahler: A. a. O., 221) Störungen während des Loslösungs- und Individuationsprozesses führen nach mahler zu einem «Defizit an Lust am unabhängigen Funktionieren», zu einer «Verringerung der Fähigkeit zur Sublimierung» und zu einem «Überschuß an nichtneutralisierter Aggression, der zunächst den verschmolzenen Selbst- und Objektimagines zugeschlagen und dann in wechselnder Folge auf die stärker getrennten Selbst- und Objektrepräsentanzen gerichtet wird, was schließlich zu mancherlei psychopathologischen Syndromen führt. – Aus dem klinischen Bild des Kindes mit einem symbiotisch-psychotischen Syndrom kann man schließen, daß Wiederherstellungsversuche unternommen werden, in dem Bemühen, wieder zu einer quasi symbiotischen Zweieinheit zu gelangen; das Kind benimmt sich, als besäße es eine magische Kontrolle über das Objekt, das es nicht von sich selbst unterscheidet.» So «sind Symptome wie extremer Negativismus oder gleichzeitiges Anklammern und Wegstoßen des Liebesobjektes für diese Krankheit typisch. Daraus schließen wir auf einen intrapsychischen Konflikt, eine Phantasie, die gleichzeitig den Wunsch nach Verschmelzung mit dem Objekt und die Furcht vor erneuter ‹Verschlingung durch das Objekt› enthält.» (margaret mahler: A. a. O., 227) Dabei scheinen die «extremsten Trennungsreaktionen . . . nicht . . . bei den Kindern aufzutreten, die wirkliche physische Trennungen erlebt haben, sondern bei jenen, deren symbiotische Beziehung zu ausschließlich und zu parasitär war, oder dort, wo die Mutter Individuation und Trennung des Kindes nicht akzeptierte. Die Reaktionen die-

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ser Kinder könnten, klinisch betrachtet, ein wenig an die Vernichtungsangst erwachsener Psychotiker erinnern.» (margaret mahler: A. a. O., 226) Alles in allem vermittelt die Mutter «in unendlich vielfältiger Weise eine Art ‹spiegelbildlichen Bezugsrahmen›, dem sich das primitive Selbst des Kleinkindes automatisch anpaßt. Wenn die ‹primäre Beschäftigung› der Mutter mit ihrem Kind, d. h. ihre Spiegelfunktion während der frühkindlichen Periode, unberechenbar, unsicher, angsterfüllt oder feindselig ist, wenn ihr Vertrauen zu sich selbst als Mutter schwankend ist, dann muß das Kind in der Phase der Individuation ohne einen verläßlichen Bezugsrahmen für die wahrnehmungsund gefühlsmäßige Rückversicherung . . . bei seinem symbiotischen Partner auskommen . . . Das Ergebnis wird dann eine Störung des primitiven ‹Selbstgefühls› sein, wie es sich aus einem lustvollen und sicheren symbiotischen Zustand herleiten würde oder darin seinen Ursprung hätte.» (margaret s. mahler: Symbiose und Individuation, 25) Wichtig an Analysen der Art, wie karl abraham, melanie klein und otto fenichel sie zur Depression oder margaret s. mahler zur Psychose vorgetragen haben, ist die Rekonstruktion des außerordentlich frühen Stadiums, in dem die «Bahnungen» in Richtung späterer depressiv-psychotischer Erlebnisbereitschaften erfolgen. Nun gibt es charakterliche Verfestigungen auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose, die für die Entwicklung depressiver Erlebnisweisen lehrreich sind; – sprechen müssen wir von der BorderlinePersönlichkeitsorganisation, nach dem Konzept, das von otto f. kernberg (geb. 1928) und james francis masterson (geb. 1926) entwickelt wurde. Obwohl derartige Konzepte nicht speziell auf depressive Persönlichkeiten bezogen sind, helfen sie doch, die Abläufe besser zu verstehen, die auch in der Psychogenese von Depressionen eine Rolle spielen; vor allem zum Verständnis schizophrener Bewußtseinszustände wird die Kenntnis der Vorgänge in der frühen Kindheit gleich noch unentbehrlich sein.

otto f. kernberg und james f. masterson oder: Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation In seiner viel beachteten Arbeit Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus (engl. 1975) verwandte kernberg den Begriff Borderline-Persönlichkeitsorganisation (statt des üblich gewordenen Borderline-Syndroms), um deutlich zu machen, daß es sich hier nicht um eine Übergangsphase auf dem Weg von einer Neurose zu einer Psychose handele, sondern um eine relativ stabile, wenn auch pathologische Persönlichkeitsorganisation, die durch spezi-

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(1) verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden, (2) ein Muster instabilder, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist, (3) Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung (4) Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbständigen Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmißbrauch, rücksichtsloses Fahren, «Freßanfälle»), (5) wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten, (6) affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern), (7) chronische Gefühle von Leere, (8) unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen), (9) vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

Abb. C 12: Diagnostische Kriterien der Borderline-Persönlichkeit

fische Abwehrmaßnahmen des Ich (wie Spaltung, Idealisierung, Projektion, Verleugnung und Allmacht), durch die Form der internalisierten Objektbeziehungen und durch entsprechende Triebschicksale gekennzeichnet sei. (Vgl. otto f. kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, 44 –67.) Eine Tabelle der diagnostischen Kriterien einer Borderline-Persönlichkeit findet sich in Abb. C 12. Eine «normale» Entwicklung der Objektbeziehungen verläuft nach kernberg in vier Phasen – ein Entwurf, der die Untersuchungen von anna freud und margaret s. mahler noch einmal weiter differenziert (und insbesondere das Konzept melanie kleins modifiziert). Die erste Phase (im ersten Lebensmonat) liegt vor dem Zeitpunkt, an dem sich bei dem (lustbetonten) Austausch zwischen Mutter und Kind eine noch undifferenzierte Konstellation von Selbst und Objekt bildet. Die zweite Phase (vom 1. bis 3. Monat) führt zu der Etablierung und Stabilisierung einer noch undifferenzierten Vorstellung von Selbst und Objekt, wobei sich bei befriedigenden Erfahrungen innerhalb der Mutter-Kind-Einheit das Bild einer «guten» Konstellation von Selbst und Objekt formt, bei unbefriedigenden Erfahrungen das Bild einer «bösen» Konstellation (vergleichbar der «guten» und der «bösen» Brust in der Theorie melanie kleins). Zwei kon-

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träre Vorstellungen der Einheit von Selbst und Objekt werden somit parallel zueinander in der Erinnerung festgehalten und in Gestalt intrapsychischer Strukturen fixiert. In der dritten Phase (4. Monat bis Ende des ersten Lebensjahres) wird die gute Vorstellung von der Einheit von Selbst und Objekt zu einem eigenen Selbstbild und einem eigenen Objektbild differenziert; die «böse» Vorstellung von der Selbst-Objekt-Konstellation wird durch Projektion zu externalisieren versucht (nach außen verlegt, von lat.: externus – äußerlich, fremd). In der vierten Phase (deren Anfang zwischen dem Ende des ersten Lebensjahres und der zweiten Hälfte des zweiten Jahres liegt und welche die restliche Kindheit umfaßt) verschmelzen die «guten» und die «bösen» Selbstbilder miteinander und treten zu einem integrierten Selbstkonzept zusammen; auch die «guten» und die «bösen» Objektbilder formen sich jetzt zu einem ganzheitlichen Konzept von der Mutter; beide Bilder nähern sich der Wirklichkeit. Für die weitere Ich-Entwicklung wie auch für den Aufbau des Überich sind diese Integrationsschritte ebenso wichtig wie für die Art der späteren Beziehungen und Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Personen. (Vgl. james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 30 –32; otto f. kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, 62– 67.) Die zentrale These kernbergs lautet nun, daß das sogenannte BorderlineSyndrom sich während der dritten Phase aufbaue, indem die Trennung der «guten» (also libidinös befriedigenden) und der «bösen» (also aggressiv bestimmten) Selbst- und Objektvorstellungen erhalten bleibe; es gelinge nicht, ein integriertes Selbstkonzept zu entwickeln, vielmehr komme es zu einer ständigen übergroßen Abhängigkeit von äußeren Objekten; die Widersprüchlichkeit der Charakterzüge und Ich-Zustände führe notgedrungen zu widersprüchlichen menschlichen Beziehungen; das Überich könne auf Grund des Widerspruchs zwischen den idealisierten Objektbildern und den extrem sadistischen («bösen») Überich-Vorläufern nicht integriert werden; die mangelnde Integrierung der Objektvorstellung behindere das Verständnis anderer Personen; die entscheidenden Voraussetzungen von Ichstärke: Angsttoleranz, Kontrolle der Triebe und Sublimierungsfähigkeit, seien stark herabgesetzt. (Vgl. james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 32 –33; otto f. kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, 41–43.) Insgesamt entstehe eine Borderline-Pathologie mithin aus einem Überhang negativer Introjektionen, bei denen vor allem eine ausufernde Form oraler Aggression eine Hauptrolle spiele. (Vgl. james f. masterson: A. a. O., 33; otto f. kernberg: A. a. O., 55 –62.) Dabei vertrat kernberg gleichwohl die

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Auffassung, daß in der Ätiologie des Borderline-Symdroms konstitutionelle Faktoren, vor allem eine mangelnde Angsttoleranz, ausschlaggebend seien. (Vgl. james f. masterson: A. a. O., 33; otto f. kernberg: A. a. O., 48.) Ähnlich äußerte sich auch edith jacobson (Depression, 235) dahin, «daß die Unterschiede zwischen neurotischen und psychotischen depressiven Zuständen auf konstitutionellen neurophysiologischen Vorgängen beruhen und daß dahingehende Überlegungen die psychologischen, das heißt auch die psychoanalytischen Annahmen ergänzen sollten . . . Ich möchte es so ausdrücken: wir können zwar nicht ‹eine› Theorie der Depression, jedoch hinreichend schlüssige theoretische Annahmen über das Wesen der kindlichen und der erwachsenen, der neurotischen und der psychotischen depressiven Zustände bilden, wenn wir alle die genannten Faktoren miteinander verknüpfen.» – Das deckt sich in etwa mit dem Bild, das wir in Abb. C 11 gezeichnet haben. Andererseits wird man unter praktisch-therapeutischem Gesichtspunkt james f. masterson (Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 33) zustimmen müssen, der das Problem eines konstitutionellen Ursprungs der Depression für «akademisch» hält – «angesichts des unumstößlichen klinischen Beweismaterials, das aus rekonstruktiver psychoanalytischer Psychotherapie gewonnen wurde, daß nämlich die jugendliche wie die erwachsene Borderline-Persönlichkeit eine Fähigkeit zur Internalisierung (sc. zur Verinnerlichung, d.V.) zeigen, wenn sie ihre Verlassenheits-Depression erst einmal durchgearbeitet haben». Näherhin hat auch masterson auf die psychodynamische Bedeutung der symbiotischen Phase (zwischen dem 3. bis 18. Lebensmonat) für die Entwicklung der Ichstruktur hingewiesen: «Die Mutter fungiert als Hilfs-Ich für das Kind, übernimmt Funktionen, die es selbst noch nicht erfüllen kann – sie kontrolliert die Frustrationstoleranz, setzt Ichgrenzen, nimmt die Realität wahr und hilft, die Impulse zu kontrollieren.» (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 39) Dabei dient die Zeit zwischen dem 3. bis 8. Monat der Differenzierung, mit der das Kind sein eigenes Körperbild von dem Körperbild der Mutter zu unterscheiden beginnt; zwischen dem 8. bis 15. Monat dann erforscht das Kind in einer Einübungs-Phase die reale Welt, anscheinend ohne die Mutter weiter zu beachten; zwischen dem 15. bis 22. Monat schließlich wendet es sich in einer Wiederannäherungs-Phase erneut der Mutter zu mit neuen Forderungen nach Verständnis für seine Individuation. Daraus entwickelt sich der Weg zur Objektkonstanz. (james f. masterson: A. a. O., 42) Auf diesen Stufen, die sehr eng mit der Mutter verbunden sind, ist wohl das Vaterbild besonders in der Wiederannäherungs-Phase für eine Lösung der Ambivalenz-Gefühle von großer Bedeutung; in dieser Zeit nämlich übernimmt der

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Vater «die Funktion des elterlichen Liebesobjekts, das sich an der Realität und an den Kräften der Individuation ausrichtet und so der regressiven Anziehung der Mutter entgegenwirkt». (james f. masterson: A. a. O., 45) Es ist aber klar, daß eine Mutter, die selber an einem Borderline-Syndrom leidet, ihr Kind schwerlich so sehen wird, wie es ist; sie wird sich an das Kind klammern und damit seine Individuation gefährden und umgekehrt durch Entzug ihrer Unterstützung den Mut zur Selbstwerdung blockieren. Insbesondere im Alter von 18 bis 36 Monaten entsteht in der kindlichen Entwicklung ein Konflikt zwischen dem Drang nach Individuation und Autonomie einerseits und der Furcht vor dem Liebesentzug seitens der Mutter andererseits; je nach den bereits durchlaufenen Erfahrungen des Kindes sowie der Persönlichkeitsstruktur der Mutter kann es zum ersten Mal jetzt zu echten Gefühlen von Verlassenheit kommen, verbunden mit «Niedergeschlagenheit (sc. Depression, d.V.), Wut, Panik (sc. Angst, d.V.), Schuld, Passivität, Hilflosigkeit und Leere (sc. verbunden mit Nichtigkeit, d.V.)». james f. masterson (Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 46) nennt das Ensemble dieser Gefühle die «sechs Reiter der Apokalypse», um damit die verheerende Wirkung zu beschreiben, mit der diese Gefühle in ihrem gemeinsamen Auftreten für das gesamte weitere Leben ausschlaggebend sein können. Er charakterisiert diese sechs Verlassenheitsgefühle so: Die Depression entstehe aus dem (drohenden) Verlust eines Teils des Selbst oder aus dem Verlust überlebenswichtiger Zuwendung; dahingegen sei die psychotische Depression des Erwachsenen gekennzeichnet durch ein grausames Überich, «welches das Ich so lange verfolgt, bis es zusammenbricht». (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 47) Die Wut entspreche der Intensität der Depression; neben der selbstmörderischen Verzweiflung bestünden Tötungsphantasien gegen die Mutter. (Vgl. james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 48.) Die Angst, verlassen zu werden, gehe einher mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, nicht selten begleitet von psychosomatischen Beschwerden wie Asthma und Magengeschwüren. «Bei asthmatischen Symptomen handelt es sich um die Angst vor dem Tod, wenn die Zuwendung unterbrochen wird, beim Magengeschwür um das heftige Verlangen nach der verlorenen Zuwendung.» (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 48) Die Schuldgefühle ergeben sich nach masterson aus der Introjektion des Verhaltens der Mutter: so wie sie sich verhielt, verhält sich der Patient nun auch sich selbst gegenüber. «Da die Mutter dem Ausdruck seiner Selbstbehauptung und seinem Wunsch, sich von ihr zu lösen und zu individuieren, mit Miß-

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billigung und Entzug ihrer Liebe begegnete, fängt der Patient an, sich wegen des Teils seines Selbst, der Separation und Individuation anstrebt, wegen seiner eigenen Gedanken, Wünsche, Gefühle und Handlungen, schuldig zu fühlen. Um Schuldgefühle zu vermeiden, unterdrückt er folglich alle Bestrebungen in dieser Richtung, nimmt zu einem chronischen Zustand des Anklammerns und Forderns Zuflucht und sabotiert damit seine eigene Autonomie.» (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 49) Die Passivität und Hilflosigkeit bildeten die einfachen Folgen des Liebesentzugs der Mutter bei jedem Versuch, der auf Individuation und Selbstbehauptung abziele. Eine Mutter, die selber befürchte, ihr Kind zu verlieren, falls es von ihr unabhängig werde, könne es nur bei sich behalten, wenn sie ihm das Gefühl vermittle, für sich allein verloren zu sein. (Vgl. james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 49.) Das Gefühl der Leere und Nichtigkeit «kann man am besten als ein Gefühl entsetzlicher innerer Leere oder Taubheit beschreiben. Seinen Ursprung hat es teilweise in der Introjektion der negativen Einstellungen der Mutter, die den Patienten leer, ohne positive, unterstützende Introjekte lassen.» (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 49) Und die Summe von alldem: «Unfähig diese Gefühle zu ertragen, behandelt das Kind sie in der Weise, daß es die Realität der Loslösung verleugnet, daß es den Wunsch nach Wiedervereinigung durch Anklammern projiziert und ausagiert und schließlich Individuationsanreize vermeidet, was alles durch die weitgehende Verwendung des Abwehrmechanismus der Spaltung noch begünstigt wird . . . Von der Mutter getrennt, versucht es sich dennoch an sie zu klammern, um sich gegen das Auftauchen der Verlassenheitsgefühle im Bewußtsein zu schützen.» (james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 49 –50) Neben die daraus entstehenden Ichdefekte tritt eine Unfähigkeit zur «Objektkonstanz»: die Objekte werden nicht als ganze, sondern nur als Teile wahrgenommen; die Objektbeziehungen unterliegen starken Schwankungen, je nach eigener Bedürftigkeit, und vertragen kaum eine Frustration; ist das Objekt nicht anwesend, erscheint es einem Borderline-Patienten als unwiderrufbar verschwunden; jede Trennung erscheint als katastrophales Unglück – es genügt beispielsweise, daß der Therapeut ankündigt, er werde in Urlaub fahren, um den Patienten in Panik zu versetzen oder zu freiwilligem Rückzug zu nötigen. (Vgl. james f. masterson: Psychotherapie bei Borderline-Patienten, 50– 51.) An dieser Stelle mag es von Nutzen sein, nach dem Gesagten sich in Abb. C 13 die verschiedenen Modelle zur Erklärung der Entstehung einer De-

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Abb. C 13: Schematische Darstellung verschiedener Modelle zur Entstehung einer Depression

pression einmal zu vergegenwärtigen und vor allem die biologischen Theorien mit den psychoanalytischen, den ich-psychologischen und den existenzphilosophischen Konzepten zu vergleichen.

gaetano benedetti und stavros mentzos oder: Eine schematische Zusammenfassung Wenn wir versuchen, diese immer weiter sich differenzierenden Ansätze einer psychoanalytischen Betrachtungsweise der Depression, wie sie sich in einigen ihrer Hauptvertreter geschichtlich über rund 100 Jahre hin entwickelt hat, in einer vereinfachten schematischen Darstellung zusammenzufassen, so kann uns die kleine Arbeit von gaetano benedetti (geb. 1920) aus dem Jahre 1987 dabei von Nutzen sein: Analytische Psychotherapie der affektiven Psychosen (in: K. P. Kisker u. a.: Psychiatrie der Gegenwart, V 369 –385). Halten wir fest, daß psychoanalytisch (beziehungsweise psychodynamisch) eine Depression sich aus dem Zusammenwirken dreier Faktoren ergibt, als da sind:

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird Frühkindliche Mangelerfahrung ¯ Oral-narzißtisches Defizit ¯ Störung des Selbstwert-Grundgefühls (Intrapsychische Selbstentwertung bzw. permantente Selbstzweifel bei Verdrängung aggressiver Impulse und Projektion des Selbstregulativs in andere, «bessere» oder «überkritische» Menschen) ¯

Unbewußte Sehnsüchte (als Ausdruck der frühkindlichen ungenügenden Liebesfütterung) («Der andere weiß, was mir fehlt bzw. was mir gut tut.») ¯ Projektiv-überzogene Ansprüche und reaktive Enttäuschungen (Anerkennungs- und Liebessehnsüchte bei vermeintlich optimalem Selbstengagement als Ausdruck einer Wiederholung frühkindlicher Erlebnisse oder Phantasien z. B.: «Ich strenge mich so an, aber ich bin erfolglos.»)

Abb. C 14: Vereinfachtes psychoanalytisch-psychodynamisches Ätiologie-Modell der Depression

1) eine konstitutionelle Disposition; 2) eine orale beziehungsweise anale Störung mit entsprechenden oral-sadistischen (depressiven) oder anal-sadistischen (zwanghaften) Zügen; und 3) ein überstrenges (sadistisches) Überich, unter dessen Zensur sich ein von Selbstwertstörungen und Abhängigkeit gekennzeichnetes (masochistisches) Ich entwickelt. Damit läßt sich verstehen, daß gaetano benedetti – entsprechend der «Topologie» (der «räumlichen» Verteilung, von griech.: der tópos – Ort) der drei psychischen Instanzen bei freud – die Depression in drei Formen einteilt, die er bezeichnet als: 1) Es-Depressionen: Bei ihnen herrscht eine symbiotische Bindung an die Eltern mit der Folge schwerer Defizite an Autonomie und persönlicher Zuständigkeit für das eigene Leben; hilflose Abhängigkeit wechselt mit ohnmächtiger Aggressivität; es kommt zu übermäßig starken Triebstauungen bei chronischen Frustrierungen; 2) Ichideal-Depressionen: Bei ihnen besteht zentral ein Gefühl der Ungenügendheit des eigenen Ich; und 3) Überich-Depressionen: Bei ihnen herrscht ein ständiges Schuldgefühl vor sowie die Neigung des Ich zur Unterwerfung; die Gefühle von Aggression und

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Auflehnung werden verdrängt und nötigen zu ständigen Wiedergutmachungen. In schematisch-vereinfachter Darstellung lassen sich die Hauptstationen der Ätiologie einer Depression in der Ablaufreihe von Abb. C 14 wiedergeben. In diesem Schema ist der Begriff der «frühkindlichen Mangelerfahrung» allerdings noch erklärungs- beziehungsweise ergänzungsbedürftig, nicht weniger als der vorhin verwandte Begriff der «konstitutionellen Disposition». In so gut wie allen psychoanalytischen Arbeiten über die Genese seelischer Erkrankungen steht die Gestalt der Mutter im Mittelpunkt, und wir hörten vorhin noch, daß Borderline-Patienten (vermutlich) das «Opfer» einer Mutter seien, die selber Züge einer Borderline-Persönlichkeitsstruktur aufweise. Diese psychologische Betrachtungsweise besitzt, allem Anschein nach, einen hohen Erklärungswert; sie darf aber nicht verabsolutiert werden, sonst tut sie vielen Müttern unrecht, und vor allem, sie trägt wenig, ja, gar nichts zum Verständnis der Mütter bei, die ohnehin mit einem «geisteskranken» Kind schon genug geschlagen sind; wichtig ist es deshalb, stets auch die biopsychologischen Gegebenheiten mit zu betrachten. Da ist zum einen der genetische Faktor, der zumindest beim Ausbruch einer depressiven Psychose, wie gezeigt, mit einer hohen statistischen Signifikanz eine Rolle spielen dürfte und allein schon über die neuronalen Verfahren der Streß-Bearbeitung sich auszuwirken vermag. Daneben aber besteht noch ein anderer «konstitutioneller» Faktor, der bisher nicht zur Sprache kam und der auch in der Literatur viel zu wenig berücksichtigt wird, auf den aber reinhart lempp (geb. 1923) schon 1964 in seiner Studie über Frühkindliche Hirnschädigung und Neurose hingewiesen hat: lempp zeigte bereits vor über 40 Jahren, wie frühkindliche Hirnschädigungen, verursacht durch die Gegebenheiten vor, während und unmittelbar nach der Geburt, zu einem frühkindlichen exogenen Psychosyndrom führen können (a. a. O., 41–58), indem solchermaßen hirngeschädigte Kinder «eine erhöhte Reizempfindlichkeit, eine Störung der FigurHintergrund-Relation, . . . unwillkürliche Aufmerksamkeit, gestörtes Distanzgefühl, verminderte Kommunikationsfähigkeit . . . sowie vermindertes Sozialgefühl» aufweisen (a. a. O., 58). – «Auf dieses hier nur in Umrissen gezeichnete psychische Bild des frühkindlich hirngeschädigten Kindes trifft eine Umwelt», schrieb lempp, «die im allgemeinen von der organischen Bedingtheit der Verhaltensauffälligkeit dieser Kinder nichts weiß und entsprechend reagiert.» (A. a. O., 58) Mit anderen Worten: Selbst «die beste Mutter der Welt» kann mit ihrem Kind überfordert sein, und sie kann es vor allem nicht vor einer Welt beschützen, deren «Normalität» von einem neuronal vorgeschädigten Kind als

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unerträglich erlebt wird. (Vgl. reinhart lempp: Psychische Entwicklung und Schizophrenie, in: Psychische Entwicklung und Schizophrenie. Einführung und Zusammenfassung, 9 –12.) Hinzu kommen – nicht zuletzt – die situativen und strukturellen Belastungen, denen eine Frau als Mutter sich innerhalb des Familienverbandes ausgesetzt sehen kann: Was, zum Beispiel, wenn der Vater, statt der Ablösung des Kindes von der Mutter günstig zu sein, mit seinem Gebaren das Heranwachsende immer von neuem um Halt und Verständnis bei der Mutter nachsuchen läßt, – wenn also die Widersprüche (nicht in der Mutter, sondern) zwischen den Ehegatten sich als Unverträglichkeiten in der Seele des Kindes verinnerlichen? Denken wir nur an ein Kind, das seinen Vater haßt (seines Jähzorns, seiner Alkoholexzesse, seiner Gewalttätigkeit wegen) und sich zugleich schuldig dafür fühlt, das sich aber auch als unfähig empfindet, seine Mutter einem solchen «Wüstling» gegenüber zu verteidigen? Der letztere Fall würde in der freudschen Psychoanalyse zweifellos als «Ödipuskomplex» bezeichnet werden; wir aber vermögen uns nach allem Gesagten jetzt gut vorzustellen, wie bereits eine solche «ödipale» Konfliktlage Depressionen bis hin zum Borderline-Syndrom und bis zum Psychotischen entstehen lassen kann. Die ganze Zeit über haben wir dabei betont, daß die Ich-Selbstentwicklung ebenso wie die Ich-Objektentwicklung nur gelingen kann bei einem affektiven Gleichgewicht, das durch alle Entwicklungsstufen sich in Form von Sicherheit und Selbstsicherheit erhält. In der gesamten Entwicklung, sagten wir, gehe es um die Auseinandersetzung mit realen oder irrealen (phantasierten), «introjizierten» oder «projizierten» (Teil)«Objekten» sowie um die ständigen Versuche des Ich nach Individuation und Integration, nach Abgrenzung und Anpassung, nach Autonomie und Bindung. Auf der «Basis» (griech.: dem Stylobat – der obersten Stufe der «Säulenbasis» in griechischen Tempeln) dieser Objektbeziehungen erhebt sich in einem Bild, das stavros mentzos (geb. 1930) in seiner Arbeit Depression und Manie (1995) nach Art eines griechischen Tempels gezeichnet hat, auf drei Säulen ruhend, das Giebelfeld (griech.: das týmpanon, eigentlich: die Handpauke), das vom Ich ausgefüllt wird, dessen Entwicklung (eben als Ich-Selbstentwicklung und als Ich-Objektentwicklung) über die drei bekannten Schritte der oralen, analen und genitalen Phase erfolgt und in den späteren Phasen, wenn alles gutgeht, dazu führt, ein reifes Ideal-Objekt, ein reifes Gewissen und ein reifes Ideal-Selbst aufzubauen. Die orale Phase betrachtet mentzos als Beginn der «realistischen Instanz», die dem Kinde, im günstigen Falle, den Eindruck einer Mutter vermittelt, die sagt: «Ich bin für Dich da; ich tue etwas für Dich, aber nicht immer.» Aus dieser symbiotischen Periode, in welcher die frühen Elternimagines sich bilden, ergeben sich die

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Abb. C 15: Das Dreisäulenmodell von stavros mentzos zur Erklärung der Depression (modifiziert nach herbert neubig)

Leitbilder des Lebens, die sozusagen die mittlere tragende Säule des Ich bilden. Störungen hier (wie zum Beispiel Objektverlust oder Enttäuschung) führen zu infantiler Abhängigkeit, mit jenen Einschränkungen in Selbständigkeit und Autonomie, wie wir sie soeben bei der Es-Depression kennengelernt haben. Die anale Phase geht einher mit Formen der Abgrenzung und der Auseinandersetzung; sie mündet im Rahmen einer «gesunden» Entwicklung in den Aufbau einer selbstkritischen Instanz, die sich zutraut, etwas zu können, die aber auch, in der Erwartung, dabei verstanden zu werden, sich gegebenenfalls zu verweigern vermag. Diese Überich-Säule trägt nach mentzos – entspre-

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chend ihrer analen Herkunft – die Vorstellungen von Pflichterfüllung, Ordnung, Fleiß, Tüchtigkeit und Anstand. Wenn es, trotz aller Versuche, durch Arbeit, Leistung, Anpassung und Unterwerfung nicht gelingt, den Anforderungen dieser Instanz zu entsprechen, bildet sich die Überich-Depression, die wesentlich durch Schuldgefühle gekennzeichnet ist. Die genital-phallische Entwicklungsphase schließlich bedarf einer ständigen narzißtischen Zufuhr im Sinne von Bewunderung und Anerkennung. Verläuft die Entwicklung des Kindes gut, so bildet sich ein reifes Ideal-Selbst, das ein «gesundes» Selbstvertrauen gewährt; anderenfalls kommt es zu jenem Gefühl der Ungenügendheit des eigenen Ich, das wir gerade als Ichideal-Depression bezeichnet haben. Die genitalphallische Entwicklungsphase erhebt sich über dem «Größenselbst» des Kleinkindes und den Größenphantasien des Kindes. Bei Mißerfolg kann gerade diese Schicht der Ich-Entwicklung durch Regression aktiviert werden; auf diese Weise erklärt mentzos psychodynamisch den Umschlag der Depression in die Manie. Das Gefühl totaler Leere indessen, das manche Formen von Depression durchzieht, entsteht diesem Schema zufolge durch eine Blockierung aller drei Säulen. (Vgl. herbert neubig: Psychodynamisches Modell, in: Stephan A. Volk u. a.: Depressive Störungen, 70–73; stavros mentzos: Depression und Manie, 38– 49.) Abb. C 15 gibt dieses Dreisäulenmodell wieder.

Das Umschlagen in die Manie Das Dreisäulenmodell bietet mithin durchaus einen Ansatz, um das neurologisch so rätselhafte Umschlagen der Depression in die Manie zu verstehen. Die entscheidende Frage aber lautet: Ist die Manie wirklich nur eine regressive Wiederbelebung längst überwundener Zustände der Ich-Entwicklung? Richtig scheint psychodynamisch freuds Feststellung zu sein, «daß die Manie keinen anderen Inhalt hat als die Melancholie, daß beide Affektionen mit demselben ‹Komplex› ringen, dem das Ich wahrscheinlich in der Melancholie erlegen ist, während es ihn in der Manie bewältigt oder beiseite geschoben hat.» (Trauer und Melancholie, in: Gesammelte Werke, X 441) «In der Manie muß das Ich den Verlust des Objekts (oder die Trauer über den Verlust oder vielleicht das Objekt selbst) überwunden haben, und nun ist der ganze Betrag von Gegenbesetzung, den das schmerzhafte Leiden der Melancholie aus dem Ich an sich gezogen und gebunden hatte, verfügbar geworden. Der Manische demonstriert uns auch unverkennbar seine Befreiung von dem Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht.» (X 442) Doch ist die Manie nicht nur eine Suche nach neuen äußeren «Objek-

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ten», sondern vor allem ein Wegstoßen und – zeitweiliges – Aufgeben der alten «Objekte» im Inneren. Sagen wir so: Wie ein Alkoholiker sich immer mal wieder des Drucks seines Überich durch den Rausch zu entledigen sucht, so wird man den Wechsel der Depression zur Manie wohl am besten als eine phasenweise Beseitigung der Tyrannei des Überich verstehen können, das durch (frühkindliche) Identifikation mit dem «narzißtischen Libidoobjekt» (der «Mutter») auf dem Boden des Ich errichtet wurde. Der Maniker lebt genau die Neigungen aus, die er als Melancholiker unterdrücken mußte; er schafft vorübergehend die innere Obrigkeit (den verinnerlichten «Vater») ab, die ihn in die Knie gezwungen hat, und glaubt nun selbst über sie zu triumphieren. Doch dieser «Putsch» ist trügerisch, da der «Sieg» nicht durch innere Arbeit (durch Bewußtwerdung und Umlernen) errungen wurde, sondern nurmehr in der Einbildung besteht. Das ancien régime kehrt bald schon zurück, um den Aufstand niederzuschlagen und drakonische Rache zu üben; – die Manie pendelt wieder in die Depression, die ihrerseits erneut die latenten Kräfte zum Widerstand sammelt, die über kurz oder lang abermals eine manische Periode herbeirufen werden. Trifft eine solche Erklärung zu, so müssen wir für die Psychodynamik bipolarer Affektstörungen eine Entstehungszeit in der seelischen Entwicklung voraussetzen, die – entsprechend dem Vorschlag von karl abraham – den Konflikten der «oralen» Ambivalenzgefühle die (nachfolgenden) Auseinandersetzungen der anal-zwangsneurotischen Phase mit der ihr eigenen Rebellion des bereits stärker gewordenen Ich hinzufügt. Einen derartigen zwangsneurotischen Einfluß schrieb bereits freud den Selbstbezichtigungen der Depressiven zu: «Ihre Klagen sind Anklagen», meinte er; «was sie von sich aussagen», sei «im Grunde von einem anderen gesagt». (Trauer und Melancholie, in: Gesammelte Werke, X 434) Und er fuhr fort: «Wo die Disposition zur Zwangsneurose vorhanden ist, verleiht . . . der Ambivalenzkonflikt der Trauer eine pathologische Gestaltung und zwingt sie, sich in der Form von Selbstvorwürfen, daß man den Verlust des Liebesobjekts selbst verschuldet, d. h. gewollt habe, zu äußern.» (X 437) Der Umschlag von Depression und Manie markierte demnach die beiden Enden eines Gefühlsgegensatzes zwischen Ich und Überich, dessen Ausmaß keinen Kompromiß zuläßt, sondern nur eine alternativische Besetzung erlaubt, die kurzzeitig sein muß, weil sie in jeder ihrer vereinseitigten Formen unhaltbar ist. Mit im Bunde dabei ist wohl auch die schon angesprochene Regression zu den (klein)kindlichen Größenphantasien im Bereich der «dritten Säule» in Abb. C 15 – inklusive der kompletten Unverantwortlichkeit für die Folgen ei-

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ner derart glorreichen Ich-Erweiterung. (Zum manisch-depressiven Krankheitsverlauf vgl. hans k. rose: Anhaltende affektive Störungen (chronische manisch-depressive und depressive Syndrome), in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 285– 290.)

ε) Weltanschauungsfragen oder: Daseinsanalytische Überlegungen So besehen, stellen die unipolaren wie die bipolaren Affektstörungen hilflose Formen eines Selbstheilungsversuchs dar, der so unglücklich auf sich selbst zurückwirkt wie die Schmerzreaktion bei einer Arthritis: die Unterdrückung des Symptoms verschlimmert das Symptom, und die Ursachen treten dahinter beinahe zurück; unter dem akuten Leidensdruck werden sie uninteressant; und so verständigen sich Arzt wie Patient oft wohl nur allzu rasch darauf, daß der «neue Schub» weder einen äußeren Grund (ein «Schlüsselerlebnis» zum Beispiel, das eine bestimmte Situation in der Kindheit wiederholt) noch eine seelische Begründung (die psychische Prädisposition für eine bestimmte Erlebnisweise beziehungsweise für eine charakterlich bedingte Verhaltensreaktion) besitze. In der Tat gibt es Schicksale genug, in denen beim besten Willen und Bemühen nicht zu erkennen ist, was im Verlauf des letzten halben Jahres – der üblichen Reaktionszeit auf ein pathogenes Erlebnis – ein derart massives Schuldgefühl, eine solch heftige Selbstverachtung, eine so plötzliche und anhaltende Motivationslosigkeit, Apathie und Lethargie verursacht oder ausgelöst haben könnte, wie sie in einer akuten Depression vorliegen; allerdings bedeutet das keinesfalls schon, daß es solche Ursachen und Auslöser nicht gäbe: sie liegen unter Umständen nur irgendwo tief verborgen! Möglich aber bleibt in jedem solchen Einzelfall natürlich auch, daß im wesentlichen sich ein neuronaler Mechanismus, analog zu einer Autoimmunerkrankung, verselbständigt hat, und so steht zu hoffen, daß beinahe 100 Jahre nach freuds Aufsatz über Trauer und Melancholie die weitere neurologische Forschung uns eines baldigen Tages schon tatsächlich in den Stand versetzen könnte, die psychologische und die somatische Sicht auf den Menschen zu vereinigen und die vorwiegend «endogen» verursachten Formen von Depression und Manie von all jenen Affektstörungen zu unterscheiden, bei denen die neurologische Betrachtungsweise nur den organischen Aspekt des Teufelskreises beschreiben kann, in dem die Seele in ihrem Leid gefangen ist. In letzterem Falle ist die inhaltliche Seite der Selbstwahrnehmung eines Depressiven einer möglichen Behandlung nicht nur leichter zu-

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gänglich, sie besitzt ein psychisches Eigengewicht in solcher Stärke, daß sie jede nur an Psychopharmaka und äußeren Verhaltenskorrekturen orientierte Therapieform frustrieren muß. Ja, wir erinnern uns an die Verunendlichung der kreatürlichen Grundsituationen von Angst im Leben der Tiere durch die Reflexion des menschlichen Bewußtseins (vgl. Bd. I 638– 639); wir erinnern uns an sören kierkegaards («geistmetaphysische») Analyse der Angst, die sich aus der Bewußtwerdung der menschlichen Existenz selbst erhebt (vgl. Bd. I 649– 659); und mit einem Mal sehen wir uns mit einem nur vordergründig als «bizarr» erscheinenden Problem konfrontiert: Kann es nicht sein, daß in der Weltsicht der Melancholiker eine Wahrheit auftaucht, die ganz allgemein gilt, wenngleich sie nur in besonders hoch verdichteten Lebenssituationen und Gemütszuständen zutage tritt, so wie die Wahrheit der Gleichungen von einsteins Relativitätstheorie erst in Anwesenheit großer Massen und enormer Energieansammlungen sich bemerkbar macht? Was wir «Depression» nennen, wäre dann das Resultat einer Kompression in der (Wahrnehmung der) Wirklichkeit. Bereits sigmund freud stellte in jenem Artikel über Trauer und Melancholie die Frage, warum man erst depressiv werden müsse, um die Wahrheit über sich selbst zu begreifen (Gesammelte Werke, X 432). Er fragte halb ironisch; wir aber fragen in vollem Ernst: Kann es nicht sein, daß die Depression, nicht anders als das Erleben der Angst, wesensnotwendig zum Selbstvollzug der menschlichen Existenz gehört und «krankhafte» Züge erst dadurch gewinnt, daß bestimmte Dimensionen in der «Synthese», die es zu bilden gilt, um als Mensch menschlich zu leben, ausgeklammert bleiben? Wir haben diese Möglichkeit bereits angedeutet, als wir schilderten, wie man der Last der Freiheit (der Angst, die es kostet, ein Individuum zu sein) entkommen kann, indem man einen ihrer Spannungspole: das Endliche, meidet. Als «Flucht vor der Endlichkeit» oder als «Flucht in die Unendlichkeit» haben wir die Depression bereits bezeichnet und damit ihre Ermöglichung in der existentialen Verfaßtheit des Daseins angegeben sowie ihre geistige Bedeutung markiert (vgl. Bd. I 657). Hinzufügen müssen wir jetzt etwas Sonderbares: daß diese «Flucht ins Unendliche» letztlich darin gründet, daß nichts Unendliches gefühlt wird außer einer unendlichen Sehnsucht, es möchte sein . . . Ehe wir uns an derartige «weltanschauliche» Fragen herantrauen, sollten wir vorweg einen Verdacht ausräumen, der psychoanalytisch an dieser Stelle wohl unvermeidlich geäußert werden wird: Erfüllen philosophische (oder theologische) «Rechtfertigungen» einer depressiven Weltsicht nicht von vornherein auf geradezu exemplarische Weise den Tatbestand einer Rationalisierung? Unter «Rationalisierung» versteht man das Bemühen, die Tatsache beziehungsweise

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die Folge persönlicher Gehemmtheiten und neurotischer Verarbeitungsweisen alltäglicher Konflikte oder den Durchbruch unterdrückter Triebanteile in Form pervertierter Wunschregungen und Wunscherfüllungen als etwas Richtiges und Berechtigtes darzustellen: nicht eine unglückliche Kindheit oder eine verlorene Jugend, nicht die eigene Biographie oder die eigene Persönlichkeit sind jetzt das Thema, sondern der Wille Gottes, die Gebote der Moral, die Einrichtung der Natur, die Macht des Schicksals. Religion, Ethik, Naturwissenschaft, Philosophie – alles ist dazu tauglich, ein Gebäude zu errichten, in dem die eigene Unfreiheit als die uneinnehmbare Festung des «So bin ich, und so muß und will ich bleiben» erscheinen kann und soll. Je intelligenter und gebildeter Patienten sind, desto stärker wird – insbesondere unter den Bedingungen einer zwangsneurotischen Persönlichkeitsstruktur – dieses Verlangen nach Rechtfertigung, diese Verteidigung der persönlichen Fehlidentifikationen oder der charakterbedingten Ausfälle und Störungen geraten. Für gewöhnlich ist jemand, der ersichtlich leidet, als krank zu erachten; wie aber, wenn das Leiden einer höheren Beauftragung folgte? Wie, wenn es sich als eine sittlich wertvollere Form des Menschseins aus der Einrichtung der Welt unvermeidbar ergäbe? Wie, wenn es einem Verrat an der gewonnenen Einsicht in den Lauf der Welt oder der menschlichen Geschichte gleichkäme, nicht depressiv zu sein? Es wird nicht viel nutzen, die «Festungsanlage» neurotischer Rationalisierungen auf ihre Bruchstellen und Ungefügtheiten hin zu untersuchen, um dann mit Argumenten gleichsam wie mit Stoßtrupps in die Verteidigungslinien des «Wahngebildes» einzudringen; es wird auch nicht viel helfen, immer mal wieder die an sich gewiß richtige Feststellung zu treffen, daß Menschen nicht über den Himalaya stolpern, sondern stets nur über Hindernisse von der Höhe einer Bordsteinkante, – man solle sich demnach nicht länger erdreisten, die Welt als ganze retten zu wollen, es genüge, im eigenen Leben für «Ordnung» zu sorgen. Desgleichen ins Leere gehen wird die womöglich schon oft zwischen Therapeut und Patient beschworene Übereinkunft, man vermöge nun einmal nicht, die Welt mit Plüsch auszuschlagen, man vermöge nur gemeinsam passende Schuhe herzustellen, um in einer kalten, rauhen, nassen oder staubigen Welt besser laufen zu können. «Rationalisierungen» lassen sich eigentlich nur auflösen, wenn man das geistige Verlangen, den existentiellen Anspruch heraushört und aufgreift, der in den (nicht selten «krampfhaft», «verbohrt» oder «vernagelt» wirkenden) Überlegungen oder Behauptungen sich zu Wort melden möchte. Dann aber kann es sein, daß man aus den «kranken» Gedanken gerade eines Depressiven als Arzt, Seelsorger, Therapeut oder ganz einfach als Mitmensch etwas Erschütterndes kennenzulernen sich genötigt sieht,

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das man bis dahin nur wie zum Selbstschutz oder aus lauter Bequemlichkeit vor sich selber verborgen gehalten hat. Ungefährlich ist das freilich nicht. In seiner Novelle Krankenzimmer Nr. 6 von 1892 hat der russische Mediziner und Dichter anton pawlowitsch tschechow (1860 –1904) einmal geschildert, wie der Patient Iwan Dimitritsch, «ein ernsthafter, denkender Mensch» (IX 751), nach langen Gesprächen über Gott, die Unsterblichkeit und den Sinn des Lebens seinen Arzt Andrei Jefimytsch dahin bringt, in den Augen seiner Kollegen «verrückt» zu werden, – zunächst einfach aus «Vergnügen» (X 758) an derart freimütigen, ehrlichen und geistvollen Formen des gedanklichen Austausches: «Ihr stumpfsinnigen Menschen! Ihr dummen Menschen!» fährt er die ihn selbst jetzt behandelnden Ärzte an. «Ich brauche weder Freundschaft noch . . . Arzneien» und schleudert ein Fläschchen Bromkalium nach ihnen. (XVI 772) Der wahre Grund seiner Wandlung aber ist Iwans Feststellung: «In Ihrem ganzen Leben hat Sie niemand auch nur mit dem Finger angerührt, niemand hat Sie eingeschüchtert, Sie gequält . . . Mit einem Wort, das Leben haben Sie nicht gesehen, Sie kennen es überhaupt nicht, und die Wirklichkeit ist Ihnen nur aus der Theorie bekannt.» (X 757) «Sie haben niemals gelitten, sondern sich nur wie ein Blutegel von fremdem Leiden genährt, ich litt aber ständig, vom Tag meiner Geburt bis heute. Deshalb sage ich offen: . . . Es ist nicht Ihre Sache, mich zu belehren.» (XI 759) Kann man Arzt sein, ohne zu leiden wie der «Patient» (wie lat.: der patiens – der Leidende)? Wenn man aber leidet wie der Leidende, wenn man sich mit ihm solidarisiert, ja, identifiziert, kann man ihn dann noch «beraten»? Ist nicht das Ende des Arztseins der Anfang des Menschseins? Andrei sieht es schließlich so. Eine andere «depressive» Gestalt, wohl die radikalste der Weltliteratur, hat der amerikanische Dichter herman melville (1819 –1891) in seiner Erzählung Bartleby, der Schreibgehilfe im Jahre 1853 entworfen, in der er einen Mann schildert, der – aus für die Umgebung unbegreifbaren Gründen – sich weigert, den Anweisungen zu folgen, die sein im Grunde äußerst gutmütiger und wohlwollender Dienstherr an ihn richtet. «Ich möchte lieber nicht» – ist das Zauberwort, mit dem sich ihm die unsichtbare Brücke über den Abgrund einer metaphysischen Verweigerung auftut. Um sich in die Seelenlage dieses unerbittlichen Welt-Verneiners einzufühlen, langt es gewiß nicht aus, wie manche Rezensenten und Biographen es bis heute versuchen, in melvilles Gestalt einen bloßen Reflex auf seine persönliche Erfolglosigkeit als Schriftsteller zu erblicken – dafür ist diese kafkaeske Figur viel zu konsequent gezeichnet. «O Bartleby. O Menschenlos», lautet denn auch der letzte Satz dieses paradigmatischen Lehrstücks. (herman melville: A. a. O., 94) – Vom buddha erzählt

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die Legende, er habe unter einem Baum in Bodhgaya gesessen und alle Speise verweigert, um entweder zu sterben oder aber eine Lösung für das Problem der Sterblichkeit aller Wesen zu finden. (Vgl. hermann oldenberg: Buddha, 90 –94; kurt schmidt: Buddhas Reden, 85 –92: Majjhimanikaya, Nr. 26: Edles Streben.) So ähnlich verhält sich melvilles «Schreiber». Mit seiner stillen Rebellion, mit seinem metaphysischen Streik stellt er die ruhige Sicherheit im Dasein (die «Freude an der Schöpfung», die «Frohgemutheit hoffender Zuversicht», die «Dankbarkeit im Rückblick auf ein gelungenes Leben» u.ä.m.) auf eine geradezu empörende Weise in Frage. Eine solche Provokation bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Infragestellung von allem. Und eben dies scheint ein Hauptzug jeder Depression zu sein. Wie aber kann es dazu kommen? In einem kleinen Gedicht unter dem Titel Weihe des Schmerzes (Gesammelte Werke, IV 171) hat adolf friedrich von schack (1815 –1894) in Form eines persönlichen Geständnisses, in dem er sich zu seiner depressiv getönten Wahrnehmung der Wirklichkeit bekennt, das Ineinanderwirken biographischer Faktoren und «weltanschaulicher» Evidenzen wie folgt beschrieben: Schon meinen Spielgenossen hieß ich Träumer, Denn wie ein Bruder engverwandt von je, Fühlt’ ich, o Schmerz, du tiefer, allgeheimer, Mich dir und deinem dunklen Weh. Wenn lachend über mir des Lebens blauer Lichthimmel hängt, mich Scherz und Lust umhüllt, Doch stets zu dir in deine ernste Trauer Zurückgezogen werd ich bald (sc. mild?, d. V.). In mich mit langen durst’gen Zügen sauge Ich deinen Odem, während so vertraut Und wie aus Weltalltiefen doch, dein Auge, Das große, dunkel auf mich schaut. Da fühl ich: aus dem düstern Reich dort unten Nur kommt die Weihe in des Menschen Brust, Und matt und schal erscheint mit ihren bunten Trugbildern mir der Erde Lust.

Diesen Worten zufolge ist das taedium vitae (lat.: die Lebensüberdrüssigkeit) für den eigentlichen Adel des Menschseins zu erachten und die Ausgesetztheit

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der Jugendjahre für eine frühe Auszeichnung in der Erziehung zur Wahrheit, indem alles allzu bald Erlittene im Rückblick erscheinen kann oder gar muß wie eine gradlinige Vorbereitung auf die gewöhnlich gern übergangenen Nachtseiten der Wirklichkeit. Was diese «Nachtseiten» sind, ist aus den Klagen von Depressiven unschwer zu ersehen und durchaus geeignet, die soeben referierte Streß- (oder DiatheseStreß-)Theorie der Depression zu ergänzen, wo nicht gänzlich zu korrigieren: Es geht auf dieser Ebene der Betrachtung nicht länger mehr um «ängstigende», «aufregende» oder «ärgerliche», eben «stressige» Erfahrungen; es geht, wie freud weit richtiger schon ahnte, um tief erlittene Verluste, – um das Erleben, daß etwas verlorenging, mit dem man sich selber verlor; es geht um Enttäuschungen in einer Form, die all die «normalen» Versprechungen und Glücksverheißungen der «Welt» als täuschenden Firnis erscheinen lassen; es geht in gewissem Sinne wohl auch um «Angst», doch in der Art, wie robert plutchik sie beschrieb (vgl. Bd. I 580): als eine Angst, die entsteht aus einer Überlagerung von Erwartung und Furcht, nur daß es in der Depression längst feststeht, daß «eigentlich» nichts mehr zu «erwarten» ist. Psychoanalytisch mag man derartige «Enttäuschungen», weil das Selbstwertgefühl betreffend, nach wie vor als «narzißtisch» bezeichnen; doch macht dieser Ausdruck jetzt kaum noch Sinn, ja, er wird seines vorwurfsvollen Untertons wegen im weiteren geradewegs irreführend, wenn wir uns den drei für die depressive Weltsicht «typischen» Enttäuschungsinhalten zuwenden: dem Leiden an der verlorenen Unschuld, dem Leiden an der verlorenen Hoffnung auf Gerechtigkeit und dem Leiden an der verlorenen persönlichen Bedeutung angesichts der Vergänglichkeit von allem. Beginnen wir mit dem exzessiv erscheinenden Schuldgefühl, das in den meisten Formen der Depression auftritt und sich bis zu einem regelrechten «Allschuld-Wahn» steigern kann: Alles, was irgend auf Erden geschieht, läuft auf eine drohende Katastrophe hinaus, und man selber ist es, der ursächlich (magisch-symbolisch oder real-kausal) für das heraufziehende Unheil die Verantwortung trägt. Psychoanalytisch, so sahen wir gerade, soll dieser Eindruck sich bilden aus den Anklagen, die eigentlich dem Zerstörer der (Kinder)«Welt», dem Identifikationsobjekt der ursprünglichen Libidobesetzungen, gelten, oder er soll entstehen aus dem «oralen» Ambivalenzgefühl, selber zerstören zu müssen oder bereits zerstört zu haben, wovon man eigentlich lebt: die Brust der Mutter; wir sahen zugleich auch, wie schnell Situationen auftreten können wie im Aschenputtel- oder im Hänsel und Gretel-Märchen, in denen es für ein heranwachsendes Kind unmöglich fällt, sich nicht als eine unerträgliche Zumu-

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tung, als eine lebensgefährliche Belastung, als einen Krebsschaden für das Wohlergehen seiner Eltern zu empfinden: besser nicht geboren zu sein, als derart leben zu müssen. All diese Zusammenhänge wird man zu bedenken haben, wenn man die Gefühle von Depressiven verstehen will; doch bleiben sie, rein psychologisch betrachtet, biographisch-zufälliger Natur. Wollen wir hingegen etwas Wesentliches, Wahres und Allgemeingültiges in der depressiven Weltsicht herausarbeiten, so müssen wir das Gefühl der oralen Ambivalenz selber als einen Grundzug der Welterfahrung begreifen. Nehmen wir dafür ein Beispiel. «Orale Ambivalenz» bedeutet, schuldig schon durch die Tatsache zu sein, daß man nur leben kann, indem man Leben tötet. Der Berechtigung des Erlebens eines solchen Widerspruchs bereits steht die Dogmatik der christlichen Schöpfungstheologie entgegen: Gott, so lehrt die katholische Kirche in ihrem Weltkatechismus von 1992, hat (nach Gen 1,28 und Gen 9,1–3!) den Menschen die Tiere zur Nahrung gegeben und zu seinem Nutzen zur Verfügung gestellt (Catéchisme de l’Église Catholique, Nr. 2417). Zu diesem Verständnis der «Schöpfungsordnung» gehört es, daß Papst benedikt xvi. in seiner «Botschaft an die Jugend» auf dem «Weltjugendtag» in Köln in einem exklusiven Vorabdruck in der Bild-Zeitung (sic!) vom 15. Aug. 2005 erklärte: «Wir wollen auch die Freude an der Schöpfung, die Freude des Miteinanders, einfach die Festlichkeit freier Tage richtig in uns hineinnehmen.» Zu dieser «Freude an der Schöpfung», zu dieser «Festlichkeit» der freien Tage gehört nach römischem Selbstverständnis auch die völlige Unbedenklichkeit bei dem «Genuß» von «Schlachtvieh», «Geflügel», «Wild» und «Meeresfrüchten» in jeder Form. Während des 2. Vatikanischen Konzils erfreuten sich die Kardinäle immerhin des Verzehrs von Lerchenzungen – das Einfangen von Zugvögeln ist in Italien noch immer landesweite Sitte –, das Purpurrot ihrer Gewandung entstammt schon dem Namen nach einem Drüsensekret unzähliger Purpurschnecken (vgl. luitfried von salvini-plawen: Die Schnecken, in: Grzimeks Tierleben, III 87), und man kann nicht sagen, all das sei lediglich ein Relikt aus RenaissanceZeiten; vielmehr handelt es sich um eine tiefverankerte ideologische Überzeugung von dem «Recht», das Gott der Herr (das Jahwe Adonaj) dem Menschen gegenüber den Tieren gegeben hat, so daß dieser in dankbarem Gebet sich an ihn wendet, ehe er sich dem appetitlich bereiteten Schweineschnitzel, Brathähnchen, Rehrücken und Hummer zuwendet. Es ist eine Theologie, die das Problem einfach zu verdrängen sucht, das im abendländischen Denken spätestens mit der Philosophie schopenhauers und mit den Erkenntnissen darwins aufgebrochen ist: Wie soll man eine Welt akzeptieren, in welcher das Tö-

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ten und Schlingen, das Fressen und Gefressenwerden kein Ende nimmt und in der die gräßliche Blutmühle des «Kampfs ums Dasein» den Motor der gesamten Evolution darstellt? Einer der ganz wenigen Theologen, die – weitab vom «offiziellen» «mainstream» kirchlicher Theologie – wenigstens wagten, diese Frage zu stellen, war joseph bernhart (1881–1969) mit seinem Traktat über Die unbeweinte Kreatur: «Das Bedeutsame des individualen Seins», schrieb er, «entschwindet uns leicht im Anblick gehäufter Individuen derselben Familie. Der treibende Schwarm der Segelqualle, der ‹Schwarmkörper› ziehender Stare, der Ameisenhaufen oder selbst die Schafherde . . . zeigen das Artliche in . . . überfassender Herrschaft, wogegen die beteiligten Individuen in Gleichgestalt und Gleichgehaben wie als Abklätsche eines gemeinsamen, in ihnen sich kundgebenden Typus erscheinen.» (A. a. O., 77–78) Doch was folgt daraus? Etwa die Erlaubnis zum Opfer beliebig vieler «Exemplare» von Einzelwesen zugunsten des Erhalts der Art? Das gerade nicht. Denn: Schmerz zu empfinden und Angst zu verspüren vermag nur das Individuum. Alles Mitgefühl, alle Ethik ist als erstes verantwortlich gegenüber dem einzelnen Leben, oder wir entfernen uns rasch von den Grundlagen des Sittlichen. Alles Töten einzelnen Lebens ist Schuld – eine klare Evidenz, lebendig im Tiertöterskrupulantismus der sogenannten Primitivkulturen bis hin zur Weisheit des Buddhismus. (Zum Tiertöterskrupulantismus vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, II 198 –200.) Aber will man wirklich den Würschtelbratern auf dem Münchner Oktoberfest den Absatz und den Millionen Konsumenten den guten Appetit verderben? mag man fragen. Heißt das nicht wirklich, alle Lebenslust in unzulässiger Weise zu problematisieren? Bedeutet das nicht, alle unbefangene Daseinsfreude mit Skrupeln und Schuldgefühlen zu zerfasern? Ja, das bedeutet es. Es bedeutet, dem metaphysischen Pessimismus schopenhauers recht zu geben: «Man möchte wahrlich sagen», schrieb er, «die Menschen sind die Teufel der Erde, und die Thiere die geplagten Seelen.» (Parerga und Paralipomena, 2. Bd., Werke, VI 394– 395) Wer begreift, daß die «orale Ambivalenz» zu den Grundeinrichtungen des Daseins gehört, wird nie mehr zu jener selbstsicheren Bodenständigkeit zurückfinden, welche die Welt (immer noch) als die Manifestation eines gütigen und weisen Gottes betrachtet, der es sich verbitten könnte, für die Greuel «seiner» «Schöpfung» zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auffallend ist an dieser Stelle der Unterschied zwischen den Kulturen und Religionen. Während es im «christlichen» Abendland förmlich verboten ist, «pessimistisch» zu denken, zählt das Leid, das die Menschen den Tieren und

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diese einander zufügen, zu den fundamentalen Problemstellungen der asiatischen Weisheitslehre, für welche die Trauer des Mitleids zum Ausgangspunkt jeder «realitätsgerechten» Lebensführung zählt. So wird im Taoismus überliefert, wie während eines Festmahls am Hof des Herrn Tiän von Tsi einmal ein Kind sich weigerte, dem Himmel dafür danken zu sollen, daß er «Fische und Vögel . . . zu unserem Gebrauch» hervorgebracht habe; der zwölfjährige Junge sprach im Angesicht der 1000 geladenen Gäste: «Es ist nicht so, wie der Herr sagt. Alle Wesen auf der Welt sind unsere Mitgeschöpfe. Unter diesen Geschöpfen gibt es nicht edlere und geringere. Sie überwältigen einander nur durch Größe, Klugheit und Kraft und essen dann der Reihe nach einander auf. Es ist aber nicht so, daß sie füreinander erzeugt wären. Was der Mensch an eßbaren Dingen unter die Hand bekommt, das ißt er auf. Aber das ist nicht ursprünglich vom Himmel für die Menschen erzeugt. Schnaken und Mücken beißen uns in die Haut, Wölfe und Tiger fressen unser Fleisch; aber darum hat doch nicht ursprünglich der Himmel den Menschen und sein Fleisch für Schnaken und Mücken, Wölfe und Tiger wachsen lassen.» (liä dsï: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund, Buch VIII, Kapitel 28, S.179) Die Frage bleibt, was aus einer solch ehrlichen Betrachtungsweise folgen soll. In Europa verwahrte sich am entschiedensten friedrich nietzsche (1844 – 1900) gegen den Pessimismus der schopenhauerschen Mitleidsmoral, indem er gegen die Erschlaffung in ständigen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen den Menschen die naturhafte Unschuld eines raubenden «Löwen» zurückgeben wollte. (Vgl. Also sprach Zarathustra. Von den drei Verwandlungen, S. 26.) Wie aber, wenn die «depressive» Reaktion auf den «oralen Sadismus» der Welteinrichtung wahrer und menschlicher wäre als alle Empfehlungen zur gewalttätigen Unterdrückung und Verdrängung des «schlechten Gewissens», das jedem sensibel Gebliebenen das Schlachten und Verspeisen von Tieren als einen Akt von erweitertem Kannibalismus erscheinen läßt? Wie, wenn die «Depression», die sich aus den Schuldgefühlen der «oralen Ambivalenz» ergibt, keinesfalls passivisierend, sondern sich im Gegenteil äußerst innervierend und innovierend in Richtung einer veränderten Kultur und einer veränderten Religiosität auswirken würde? Die Frage freilich stellt sich dann endgültig und unvermeidbar, wie man den depressiven Grundkonflikt: schuldig zu sein bereits für die Tatsache des Daseins, konstruktiv wachhält, statt ihn als «neurotisch», «häretisch» oder als schlechtweg «unprofitabel» niederzudrücken. Eine zweite Enttäuschung im Herzen jeder Depression ergibt sich – im Gefälle der Rechtfertigungsbedürftigkeit des eigenen Daseins – aus dem Erleben der offensichtlichen Ungerechtigkeit der Welt. Für immanuel kant war dieses

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Problem so zentral, daß er die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes «postulierte», da er sie für eine subjektiv notwendige Bedingung für die Erfüllung des Sittengesetzes hielt (Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke, VII 252 –254; 254– 264); – wir werden auf diesen wichtigen Punkt noch einmal zurückkommen. Hier genügt es, auf die niederdrückende Stimmung hinzuweisen, die jeden überkommen muß, der die Frage nach dem Wert und der Bedeutung des menschlichen Lebens von dem Urteil der menschlichen Gesellschaft oder dem Verlauf der menschlichen Geschichte abhängig machen möchte, vertrauend auf die Überzeugung von georg wilhelm friedrich hegel (1770 – 1831), die Weltgeschichte sei das Weltgericht (vgl. Die Vernunft in der Geschichte, 77). Schon ein oberflächlicher Blick ins Geschichtsbuch lehrt keinesfalls den Sieg des Rechts über das Unrecht, der Güte über die Gewalt, der Kultur über die Barbarei; was sich zeigt, ist gerade das Umgekehrte: so als bilde die menschliche Geschichte nur eine epigenetische Verlängerung der darwinistischen Evolution mit all ihren Zufällen, Mühsalen, Leiden und kurzzeitigen «Erfolgen», sieht man allerorten die Lüge triumphieren, hört man den Kanonendonner der Schlachtfelder das Schicksal ganzer Völker diktieren und stellt man mit Entsetzen fest, daß das Ergebnis wüstester Willkür nur lange genug zu währen braucht, um irgendwann kraft der Macht des Faktischen allüberall als «rechtens» zu gelten. Die Anerkennung, welche der Trend einer bestimmten Epoche den intellektuellen, künstlerischen oder religiösen Bemühungen eines Menschen zollt, kann wenig später schon in den Vorwurf des Irrtums und der Irreführung umschlagen. Und wie soll unter solchen Umständen ein Einzelner jemals die Hoffnung hegen dürfen, bei einem irdischen Gericht eine gerechte Bewertung seines Verhaltens, seiner Motive und seiner Person zu finden? Ist nicht womöglich selbst die «Rechtsprechung» der Völker und des Völkerrechts nur eine zeitbedingte Form der Machtdurchsetzung der herrschenden Schichten nach innen wie nach außen? Gerechtigkeit – es müßte sie geben, aber wo gibt es sie wirklich? Am niederschmetterndsten wirken muß zum dritten die Vergeblichkeit, die über allem liegt, schon weil es vergänglich ist. «Und jetzt, ihr Mönche», sprach sterbend der buddha in Kusinara, «ich sage es euch! Vergänglich ist alles Wesen. Strebet in Ernst!» (Maha-Parinibbana-Suttanta – Große Lehrrede vom endgültigen Verlöschen, in: paul dahlke: Buddha. Die Lehre des Erhabenen, 131) Wie aber leben mit der Gewißheit der Auflösung von allem «Zusammengesetzten»? In seinem Gedicht Die graue Zeit hat hans arp (1887–1966) die «Zeitlichkeit», dieses Grundmerkmal des menschlichen Daseins im Sinne heideggers,

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als Quelle allen depressiven Welterlebens und Selbsterlebens beschrieben (in: Gesammelte Gedichte, II 36): Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Sie höhlt mich aus. Sie bleicht meine Träume. Sie zieht schon so lange durch mich. Ich liege am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheuren Muschel. Es zerbröckelt es verwittert um mich und rinnt in die Tiefe. Langsam zerfällt der Raum. Ich liege am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheuren Muschel. Ein Mond glänzt darin. Ein großes Auge eine große Perle eine große Träne glänzt darin. Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Sie zieht schon so lange durch mich. Sie höhlt mich aus. Sie bleicht meine Träume. Ich erschauere und bebe. Ich verwittere. Wie verlassene fahle Bauten stehen meine Träume am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheueren Muschel. Die Monde Augen Perlen Tränen zerfallen. Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Ich träume schon so lange. Ich träume mich grau in graue Tiefe.

Bereits die ständige Wiederholung des gleichen verändert, wie die Struktur dieses Gedichts deutlich macht, das Bestehende – die innere Aushöhlung schreitet voran; die Einzelteile des Zerlegten fügen sich neu zusammen, doch allein um das Zusammengefügte erneut zu zerbröckeln und zu verwittern – ein Kreislauf, der wie die Windungen eines Bohrers (oder wie die Musterung einer Muschel) sich nur immer tiefer in den Abgrund schrauben (oder dorthin weisen) kann. Wozu leben, wenn hinter allem ohnehin der Tod wartet?

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Die «buddhistische» beziehungsweise die schopenhauersche Lösung dieser Infragestellung des Daseins besteht darin, die Verlockungen der Begierden, insbesondere der Sexualität, als Tricks zu durchschauen, mit denen die Natur die Individuen immer von neuem in den Kreislauf des Lebens hineinzieht und in bloße Kettenglieder in der Abfolge der Generationen verwandelt; doch heißt das nicht, die Resignation verewigen? Ist das nicht nur eine Abart von Bartlebys metaphysischem Streik? Noch einmal kann an dieser Stelle sören kierkegaards Beschreibung der menschlichen Existenz hilfreich sein. Der dänische Religionsphilosoph war selber ein Meister der Schwermut; – man lese nur die «Diapsalmata» (griech.: Saitenspiele, Zwischenspiele; hier: Einstimmung) zu Entweder – Oder: «Was wird kommen? . . . Ich weiß es nicht . . . Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.» (A. a. O., 33) Oder: «Meine Seele ist so schwer, daß kein Gedanke mehr sie tragen, kein Flügelschlag mehr sie in den Äther emporheben kann. Bewegt sie sich, so streicht sie nur flach über den Boden hin, gleich dem tiefen Flug der Vögel, wenn ein Gewitter im Anzug ist. Über meinem inneren Wesen brütet eine Beklemmung, eine Angst, die ein Erdbeben ahnt.» (A. a. O. 39) Man mag von sören kierkegaards «verpfuschter» Kindheit psychoanalytisch so viel verstehen, als man irgend will (vgl. joakim garff: Kierkegaard, 34 –39); – es bleibt doch ewig wahr, daß, wesentlich gesprochen, alle Schwermut ihre Bedeutung darin hat, «analog zur Entwicklungsgeschichte der Freiheit», «den Menschen auf diesem Wege seiner religiösen Entwicklung voranzutreiben, indem sie keine Linderung verschafft, sondern das Leiden an sich selbst noch verstärkt, bis zu jenem Augenblick, in dem der Mensch sich dem in ihm erwachten Geiste gewachsen zeigt.» (dorothea glöckner: «Ein solcher Druck lässt sich nicht heben . . .» Zum Verständnis der Schwermut im Werke sören kierkegaards, in: Joachim Hake: Schwermut – eine andere Form des Glücks, 56) Ein christlicher Autor, der über die Schwermut als eine Mitgift des Menschseins angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge und aller Lebewesen sich Rechenschaft zu geben versuchte, war romano guardini (1885 –1968). In einem Aufsatz aus dem Jahre 1933 unter dem Titel Die religiöse Offenheit der Gegenwart. Gedanken zum geistigen und religiösen Zeitgeschehen (überarb. 1934, in: Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr.105, S. 33) notierte

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er freimütig: «Wenn das Sein mit dem Endlichen gleichgesetzt wird, erhebt sich um dieses Sein das Nichts als Macht, als grauenerregender Schlund. Wenn das Leben mit dem Vergänglichen gleichgesetzt wird, erwacht die Dämonie von Geburt und Tod. Wenn es nichts Absolutes mehr gibt, kommt die Leere, ihre Verzweiflung, ihre Verschlossenheit und ihr Verstummen.» (Vgl. alfons knoll: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, 378 –381; 477– 482.) Schwermut, Melancholie, Depression ist, so verstanden, ein unvermeidbares Leiden an der Endlichkeit der Welt – eine Auszeichnung des Menschen in der steten Gefahr ihrer Verzeichnung. Wir hörten schon, wie kierkegaard den «Geist» beziehungsweise das «Selbst» als eine Synthese aus Zeit und Ewigkeit bestimmte (vgl. Bd. I 650); und eben diese «Definition» ermöglicht zugleich eine vertiefte Deutung der Schwermut. Denn es zeigt sich, daß wir offenbar zu kurz gegriffen haben, wenn wir die Depression bisher als «Flucht vor der Endlichkeit» oder als «Flucht in die Unendlichkeit» zu begreifen versucht haben. Genauer sollten wir jetzt sagen, die Depression sei eine Suche nach Ewigkeit, nach Unendlichkeit, nach einer Liebe, die niemals vergeht, in der Trauer darüber, daß diese Ewigkeit, diese Unendlichkeit, diese Unvergänglichkeit der Liebe sich auf Erden nirgendwo findet. Schon einmal äußerten wir die Vermutung, daß manche Formen der Sucht, wie zum Beispiel der Alkoholismus, in der Trauer gründeten, kein Heiliger zu sein (vgl. Bd. I 548); analog legt im Umgang mit der Depression der Gedanke sich nahe, diese seelische Erkrankung besitze darin ihre geistige Ursache, daß das Verlangen nach Ewigkeit, Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit sich nicht im Unendlichen festzumachen vermöge, sondern in ihr der Mensch wie ein ankerloses Schiff zum Spielball der Wellen im uferlosen Meer der Zeit werde. Wir erfuhren soeben von der hohen Identifikationsneigung der Depressiven und lernten von der Psychoanalyse, darin eine Fixierung der oralen Einverleibungstendenzen der frühkindlichen «Objektbesetzungen» zu erkennen. Jetzt aber stoßen wir auf ein unendliches Suchen nach Halt, nach Verläßlichkeit, nach Treue – nach Verschmelzung mit etwas, das absolut sein müßte, um die absolute Haltlosigkeit und Leere der eigenen Existenz zu umfangen. Gewiß, unter Menschen bleibt ein solches Projekt nur immer wieder zum Scheitern verurteilt: niemand vermag die unendliche Bedürftigkeit, die in einer Depression auf Antwort wartet, zu erfüllen; als ein «Faß ohne Boden» erleben denn auch nicht wenige Eheleute ihren depressiven Partner (oder nicht wenige Therapeuten ihren Patienten). Auf der anderen Seite ist es nicht nur verständlich, sondern vollkommen wahr, daß ein Mensch an Selbstwertgefühl nur so viel in sich auf-

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zunehmen vermag, wie ihm an Wertschätzung entgegengebracht wird. Wenn es einer absoluten Versicherung unseres Wertes bedarf, um von der Entwertung der Vergänglichkeit nicht verschlungen zu werden, so kann jede persönliche Zuneigung wie ein Fenster wirken, das inmitten des Kerkers von Tod und Verfall den Blick freigibt in eine Welt, da die Existenz jedes Einzelnen ihren unendlichen Wert, ihre gebührende Wertschätzung und eine verständnisvolle Durcharbeitung all ihrer «Schuld» erfährt. Und so verstehen wir jetzt: Nur weil jede ernst gemeinte Beziehung für einen Depressiven «alles» bedeutet, verliert er «alles» mit der Zerstörung einer solchen Beziehung. Die religiösen unter den Depressiven werden dann sagen, daß sie «Gott» verloren haben, und sie werden sich schwertun zu merken, daß eine Beziehung unter Menschen nur haltbar sein kann, wenn der andere nicht unter dem Zwang steht, «Gott» sein zu müssen. Auch der Depressive selber kann lernen, daß es genügt, ein Mensch zu sein, und es nicht gutgehen kann, das Maß der Verantwortung (und damit der Schuldgefühle) stets ins Unendliche zu dehnen. Man muß nicht immer wieder die Mutter ersetzen, die fehlte, als sie gebraucht wurde; man muß nicht immer wieder einen Schaden verhüten, der sofort eintrat, wenn man nicht «aufpaßte»; die Schlaflosigkeit vieler Depressiver hat in dieser Angst ihre Ursache, schuldig zu werden durch «Unachtsamkeit»; – der Serotoninspiegel, den die neurologische Untersuchung in diesem Falle ermittelt, entspricht dieser Angst. Insbesondere die Klage mancher Depressiver, sich als «gefühlstot» zu erleben und nichts mehr empfinden zu können, wird verständlich als Reflex einer derartig leergeräumten (Innen)Welt, in welcher alle Bedeutung und aller Wert erstorben ist. Man höre Prinz Hamlets Klage über den Tod seines armen Freundes Yorick zu (william shakespeare: Hamlet, 5. Akt, 1. Szene, S. 826), und man begreift, wie die Saiten der Seele unter dem Bogenstrich von Schmerz und Leid zerrissen werden können, bis daß kein Ton mehr ihnen zu entlocken ist; und es ist dann die Frage, wer die einst so klangvolle Geige der Gefühle eines Depressiven neu zu bespannen und zu stimmen vermag. Es war theodor storm (1817–1888), der in sein Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius von 1875 auch ein Gedicht von m. solitaire (d. i. woldemar nürnberger, 1818 –1869) unter dem Titel Reflexe der Schwermuth aufnahm (A. a. O., 382– 383), in dem die Melancholie aufgehört hat, an der Vergänglichkeit der Welt zu leiden, und sich nur noch sehnt nach ewigem Verlöschen. Es dürfte dem nordfriesischen Dichter selber aus der Seele gesprochen haben, wenn es dort heißt:

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Es ist vergeblich, daß die Menschen streben, Des Leides, das sie drückt, sich zu entheben; Kaum ist ein Schmerz, kaum ist ein Weh verwunden, Hat eine andere Schlange sich gefunden: Die grade so wie jene fest dich hält, Und gift’gen Zahns dein Dasein dir vergällt: Drum sei nur still! Trag jeden Kummer gerne! Das Leiden, das dich quält, hält andre Leiden ferne. Zu leicht hab’ ich dies Leben mir gedacht! Ein Menschenglück verdirbt in einer Nacht! Wie sag’ ich: Nacht! In einer einz’gen Stunde Geht auch das leuchtendste Gestirn zu Grunde! Und aller deiner stolzen Wünsche Heer Zerstäubt in Nichts als wie der Sand am Meer! Und was da bleibt? Es ist nur Eins, das bleibt: Die Feder, die den Jammer niederschreibt. Ich hab’ der Wehe wehestes erduldet, Des Leidens Kelch bis auf den Grund getrunken. Ich frag’ den stummen Gott, wie ich’s verschuldet, Daß so mein Glück und so mein Stern versunken! Da liegt das Bild zerstückt zu meinen Füßen: Der Traum zerrann, in dem es mir erschienen! Gespenster sind die Tage, die verfließen. – Wär’ holdes Hoffen nicht nur leeres Wähnen, Und gäb’s dort überm Grab ein Wiedersehen, Wie wollt ich mich nach dieser Stunde sehnen Und für mich selbst den letzten Tag erflehen! Doch was bleibt mir! – Mit aufgehobnen Händen Hinstarr’nd gedenken der Vergangenheit, In stummem Gram das stumme Sein beenden: Denn Schmerzen sprechen, doch es schweigt das Leid! Wie Schlafen, Träumen schon so himmlisch ist, Da man so gänzlich seiner selbst vergißt: Da man erlöst, von allem Leid befreit Sanft selig ruht wie in der Ewigkeit! Welch köstliches Empfinden mag’s erst sein,

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Wenn man nun wirklich sterbend schlummert ein; Wenn sanft es tönt, es bebt in dein Gehör: Leg still dich hin; denn du erwachst nicht mehr.

Es sollte die Aufgabe der Religion sein, das stumme Leid der Depressiven und ihren geheimen Wunsch nach «ewiger Ruhe» durch eine «Synthese» zu trösten und zu überwinden, die «Himmel» und «Erde», Ewigkeit und Zeit miteinander verbindet; denn sonst bliebe das Auseinanderfallen von depressiver Verlorenheit und manischer Entgrenzung der unentrinnbare Fluch unserer irdischen Existenz, und wir wären für immer auf das Rad der Qual geflochten, das sich dreht zwischen realer Verzweiflung und wahnhaftem Glück – eine Hölle auf Erden bei der Suche nach einem Himmel auf Erden, in der namenlosen Traurigkeit darüber, daß die Erde der Himmel nicht ist und niemals noch sein wird. Die Frage dieses Buches nach der «Seele» des Menschen angesichts der modernen Neurologie gilt unmittelbar und zentral dem Bemühen, Antworten zu finden, die den depressiven Infragestellungen: dem Problem der Schuld, der Ungerechtigkeit und der Vergänglichkeit, standhalten. «Welches Grauen der Angst», schrieb der soeben schon zitierte romano guardini, «wird . . . erwachen – falls es nicht dem Menschen gelingt, sich durch eine, christlich gesehen noch weit furchtbarere, Empfindungslosigkeit zu schützen. Also der Mechanismen des Seins so weit Herr zu werden, daß er die Angst ‹wegoperieren› kann; pädagogisch wie ärztlich; durch ‹Konditionierung› des Einzelnen und der Art; auf biologischem, soziologischem, kulturpolitischem Wege; durch psychologische Maßnahmen, oder chirurgischen Eingriff. Dann wäre der ganz emanzipierte, in seiner Bloß-Endlichkeit ruhig gewordene Mensch da. Aber christlich gesehen würde keine Qual der sich ängstigenden Kreatur an das Grauen dieses Zustandes heranreichen.» (Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, 1932; 71989, 215 –216)

c) Schizophrene Störungen Wenn es bereits schwerfällt, für das relativ einheitliche Erscheinungsbild der affektiven Störungen neurologisch plausible Ursachen oder Korrelate zu benennen, so gestaltet sich die Ausgangslage im Falle schizophrener Erkrankungen noch weit schwieriger, da es «die» Schizophrenie eigentlich nicht gibt – so wenig wie «den» Wald: es gibt Nadelwälder, Laubwälder, Mischwälder, oder genauer: Birken-Kiefern-Hasel-Wälder oder Buchen-Fichten-Wälder . . . Woran überhaupt erkennt man eine Schizophrenie?

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α) Das Erscheinungsbild Es war der uns schon bekannte emil kraepelin (1856 –1926), der im Jahre 1896 vorschlug, verschiedene Erscheinungsformen und Verlaufsformen von Verwirrtheit und Angst unter der Bezeichnung Dementia praecox zusammenzufassen: «Demenz» stand für lat.: «Geistesschwäche» und «praecox» für lat.: «früh auftretend»; von «jugendlichem Irresein» ging denn auch Jahrzehnte danach noch die Rede, ohne daß der Ausdruck wirklich zuträfe: «Geistesschwäche» findet sich bei Psychotikern wie bei Nicht-Psychotikern – sie ist unspezifisch –, und gerade Patienten mit intensiven Formen des Angsterlebens erweisen sich nicht selten als hoch intelligent; auch der zeitliche Eintritt der Krankheit kann nicht ausschlaggebend für die Diagnosestellung sein: die Erkrankung besitzt womöglich eine lange Vorgeschichte, bemerkbar an einer Reihe sonderbarer Symptome – sie muß durchaus nicht schon just mit etwa 18 Jahren beginnen. Der schweizer Psychiater eugen bleuler (1857–1939) führte deswegen einen neuen Begriff ein, indem er 1911 von Schizophrenie sprach (von griech.: schízein – spalten, sich spalten; die phre¯n – Brust, Zwerchfell; Geist, Gemüt; also: Spaltungsirresein). Dieser Ausdruck war insofern recht glücklich gewählt, als er die «Spaltung» der psychischen Funktionen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte. (Vgl. heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 53– 56; ders.: Schizophrenie – Suche nach Ursachen und Auslösern, in: Gehirn und Bewußtsein, 104; nancy andreasen: Brave new Brain, 235 –236.) «Das grundsätzliche Kennzeichen (sc. einer Schizophrenie, d.V.). . . liegt darin», schreibt eugen bleuler (Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 408), «daß das Gesunde dem Schizophrenen erhalten bleibt. Es wird nicht aufgelöst, sondern versteckt.» Dafür ist das schizophrene «Leben . . . gekennzeichnet durch Mangel an Einheitlichkeit und Ordnung aller psychischen Vorgänge. Widerstrebende Vorstellungen und Emotionen werden ungenügend aneinander angepaßt und laufen widersprüchlich nebeneinander. Wie im Traum, im autistischen und im archaischen Denken des Gesunden überwiegt in Schizophrenen die Tendenz, sich – unbekümmert um die Realität – ein Bild der Welt nach dem eigenen widersprüchlichen Wesen und den eigenen widersprüchlichen Wünschen und Ängsten zu schaffen. Es resultieren (sc. als primäre Störungen, d.V.) die Zerfahrenheit des Denkens und des Gefühlslebens und die Unmöglichkeit, sich als einheitliche Person zu empfinden (Depersonalisation).» Näherhin läßt sich das psychopathologische Bild der Schizophrenien aus ei-

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ner Reihe von Gestaltmerkmalen zusammensetzen, darunter vor allem die folgenden: 1) Störungen des Gedankenganges: Sie sind gekennzeichnet durch einen Mangel an logischem Zusammenhang (Inkohärenz), durch Beziehungslosigkeit beziehungsweise durch eigenwillige, krankhafte Zusammenhänge sowie durch Verdichtungen und Begriffsverschiebungen; Nebenassoziationen (zum Beispiel auf Grund lautlicher Anklänge) führen zu einer leichten Ablenkbarkeit und zu dem Eindruck von Ideenflucht, Ziellosigkeit und Zerfahrenheit. Oft ist die Ausdrucksweise von Schizophrenen nur verständlich, wenn man sie in ihrer symbolischen Bedeutung aufgreift, während dem Patienten die bildhaften Vergleiche als «real» erscheinen, ganz als wenn Symbole Begriffe wären. Nicht selten stehen die Kranken unter dem Eindruck des Gedankenentzugs – manche Gedanken sind «versperrt» oder werden von anderen abgesogen. Aussagen, die in konkreten Situationen als sinnvoll erscheinen würden, sind derart verallgemeinert oder abstrakt, daß sie als unsinnige Behauptungen anmuten. (Vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 409 –413.) 2) Störungen der Affektivität: Sie sind bemerkbar entweder als «affektive Verblödung» oder als «krankhafte Reizbarkeit», wobei «der Verlust der affektiven Modulationsfähigkeit, die affektive Steifigkeit» ein Hauptmerkmal bildet. «Oft erfolgt bei Schizophrenen der Übergang von einer Affektäußerung zur anderen völlig unerwartet und unvermittelt.» Zudem «haben die Affektäußerungen gewöhnlich etwas Unnatürliches, Übertriebenes oder Schauspielerisches». Der «Defekt des gemütlichen Rapportes» gilt denn auch als «ein wichtiges Zeichen der Schizophrenie». (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 413– 414) 3) Ambivalenz: «Gegensätze, die sich sonst ausschließen», existieren «nebeneinander in der Psyche» – so zum Beispiel Liebe und Haß gegenüber ein und derselben Person. (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 415) 4) Autismus: Die Patienten «verlieren den Kontakt mit der Wirklichkeit»; sie «leben . . . in einer eingebildeten Welt von allerlei Wunscherfüllungen und Verfolgungsideen». (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 415) 5) Das Wollen ist durch «Willensschwäche» und launischen «Eigensinn» gekennzeichnet; es ermangelt einer hinreichenden Motivation, sich Ziele zu setzen und sie gegen Hindernisse durchzusetzen; statt dessen wird der eigene Wille nicht selten als fremdgesteuert erlebt. «Die Kranken glauben unter dem Einfluß fremder Menschen oder Mächte zu denken und zu handeln (Hypnotisiertwerden; Zwangshandlungen, automatische Handlungen, Befehlsautomatien).» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 416)

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6) Störungen der Person (Depersonalisation): Nicht nur einzelne Handlungen und Gedanken, die eigene Person erscheint dem Kranken als «fremd . . . Sogar der eigene Körper kommt ihm verzerrt und verstümmelt vor. So klagt er, er müsse sein eigenes Ich suchen gehen, er sei ein anderer, nicht mehr er selbst, er sei versteinert, besessen, verzaubert, hypnotisiert, zum Automaten geworden, ‹ferngelenkt› oder (neuerdings) es sei ihm ein fremdes Herz eingepflanzt worden. Die Begrenzung des Ichs gegenüber anderen Personen, ja gegenüber Sachen und abstrakten Begriffen kann sich verwischen.» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 418) 7) Des weiteren kann es zu sekundären Störungen von Funktionen kommen, die primär intakt bleiben. So kann die äußerlich geordnete Wahrnehmung durch Halluzinationen (Visionen) und Auditionen («Stimmenhören») überlagert werden; an sich korrekt erinnerte Sachverhalte können eine sonderbare Bedeutung erlangen; die eigentlich vollkommen beherrschte Motorik kann ins Theatralische, Verschrobene oder Häßliche geraten. (Vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 419– 420.) 8) Ferner Sinnestäuschungen: Die Sinneswahrnehmung kann selber in Form von Gehörstäuschungen (Stimmen), Gesichtshalluzinationen, Tasthalluzinationen und Geschmacks- und Geruchstäuschungen irritiert werden. «Halluzinationen der Körperempfindungen» beziehen sich nicht selten auf sexuelle Inhalte, die zum Teil symbolisch verkleidet oder «nach oben» in andere Körperbereiche verlegt werden. Gesichtshalluzinationen können den Kranken in die Geheimnisse von Paradies, Himmel oder Hölle einführen; sie offenbaren ihm nicht selten eine besondere Bedeutung, die er freilich nur Eingeweihten mitteilen kann. (Vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 421–423.) 9) Ein weiteres auch dem Laien offenkundiges Symptom einer Schizophrenie bilden Wahnideen – beispielsweise in Form von Größen- (bzw. Kleinheits-) Wahn. «Sehr häufig sind autopsychische Wahnideen . . .; der Patient ist gar nicht derjenige, für den man ihn angesehen hat, sondern ein ganz anderer; . . . er ist in einer Badewanne eingefroren und doch hier . . . Dann wieder sind es gar nicht die Patienten selbst, die denken und handeln, sondern fremde Gewalten in ihnen (Dämonismus).» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 423– 424) «Die meisten schizophrenen Wahnformen, ganz besonders der Verfolgungswahn, werden zu einem großen Teil durch einen unbändigen Beziehungswahn unterhalten; was geschieht, hat eine Beziehung zum Patienten, nicht nur, was Menschen tun, sondern auch äußeres Geschehen: ein Gewitter, der Krieg, usw.» (eugen bleuler: A. a. O., 423) «Auch Eifersuchtswahn

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kann schizophren sein. Verarmungs- und Versündigungswahn (sc. aber, d.V.) besteht gewöhnlich nur bei Depressionen.» (eugen bleuler: A. a. O., 423) 10) Auffallend ist auch hier die Sprache: Sie ist nicht selbst gestört, aber verändert: Begriffe werden neu benannt («Neologismen»), die Grammatik willkürlich aufgehoben («Paragrammatismus»), «haben» zum Beispiel wird als «sein» ausgedrückt, oder es wird eine regelrechte Kunstsprache entwickelt. (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 424– 428) 11) Nicht zuletzt ist der Wille oft gekennzeichnet durch Negativismus: Für die Behandlung sehr schwierig kann sich die Neigung mancher Kranker auswirken, nicht zu tun, was gesagt wird, oder geradewegs das Gegenteil davon in die Wege zu leiten; nicht selten erleben die Patienten auch, daß sie nicht tun können, was sie selbst eigentlich wollen: – es herrscht ein innerer Negativismus gegenüber den eigenen Antrieben. Umgekehrt kann es zu einer wie mechanisch wirkenden Befehlsautomatie und Echopraxie kommen. Überhaupt sind Handlungen ohne ein eigenes bewußtes Wollen (innere Automatismen) beziehungsweise Handlungen wie unter Zwang oder wie in Entladung aufgestauter Affekte in schizophrenen Zuständen häufig. (Vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 431– 432; zu den Symptomgruppen und diagnostischen Kriterien einer Schizophrenie nach dem DSM-IV von 1996 vgl. martin lambert: Diagnose, Differenzialdiagnose und Verlauf, in: Dieter F. Braus: Schizophrenie, 36.) Insgesamt weisen die einzelnen veränderten psychischen Funktionen darauf hin, daß die Persönlichkeit selber erkrankt ist. «Bei der Schizophrenie scheint also – und das will ihr Name besagen – die Gesamtpersönlichkeit aufgelockert, gespalten und der natürlichen Harmonie verlustig . . . – Von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des schizophrenen Geschehens ist weiter die Feststellung der ‹doppelten Buchführung›: das krankhafte Geschehen tritt beim Schizophrenen nicht an Stelle des gesunden Geschehens, sondern daneben. Insbesondere kann der Kranke, während er zerfahren und damit ‹verwirrt› denkt, gleichzeitig die Situation ganz normal denkerisch verarbeiten . . . Gerade darin unterscheidet sich der Schizophrene so stark vom Kranken mit einer diffusen chronischen Hirnschädigung, bei dem die intellektuelle Störung einem Abbauprozeß des Intellekts entspricht.» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 434) Wenn also die Schizophrenie die psychischen Grundfunktionen (Lernen, Wahrnehmen, Wollen, Fühlen und Denken) nicht eigentlich (zer)stört, sondern im wesentlichen ihre Zielrichtungen und Sinnzusammenhänge verändert, indem das Ich als die «Zentrale» der psychischen Verarbeitung selber gestört ist, so legt es sich nahe, diese schwerste aller seelischen Erkrankungen auch als

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(vorwiegend) seelisch verursacht zu betrachten. Dieser Deutungsansatz scheint um so berechtigter, als in der Prodromalphase (griech.: pródromos – vorauslaufend) eine Reihe von Symptomen auftreten, die – verglichen mit der ausgebrochenen Schizophrenie – lediglich in verringertem Quantum und in weniger systematisierter Form vorliegen; das DSM-III von 1986 nennt: «soziale Isolation oder Zurückgezogenheit»; «ausgeprägte Beeinträchtigung der Rollenerfüllung im Beruf, als Student oder im Haushalt»; «ausgeprägt absonderliches Verhalten (z. B. Sammeln von Abfällen, Selbstgespräche in der Öffentlichkeit oder Horten von Lebensmitteln)»; «ausgeprägte Beeinträchtigung der persönlichen Hygiene und Kleidung»; «abgestumpfter, verflachter oder inadäquater Affekt»; «abschweifende, vage, übergenaue, umständliche oder metaphorische Sprache»; «eigentümliche oder bizarre Vorstellungen oder magisches Denken, z. B. Aberglauben, Hellseherei, Telepathie, ‹sechster Sinn›, ‹andere können meine Gefühle spüren›, überwertige Ideen, Beziehungsideen»; «ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse, z. B. wiederholte Illusionen, das Gefühl der Anwesenheit einer nicht wirklich vorhandenen Macht oder Person». (A. a. O., 121; vgl. auch martin lambert: Symptomatik und klinische Subtypisierung, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 3 –4.) Der Eindruck drängt sich auf, daß das Ich eines Schizophrenen sich in einer Welt aufhält, in der es sich restlos allein und nach innen wie nach außen als fremd und bedroht von unheimlichen Mächten und Machenschaften erlebt. Gefühle der Einsamkeit, Angst und Ohnmacht stehen offenbar im Zentrum der schizophrenen Eigen- und Welterfahrung, und so darf man psychologisch vermuten, daß diese Empfindungen auch in der biographischen Genese eine große Rolle spielen. Um sich eine diagnostisch relativ leicht verfügbare Übersicht über die schizophrene Symptomatologie zu verschaffen, ist es üblich geworden, die Symptome der Schizophrenie in «positive» und «negative» Symptome aufzuteilen, – beides ist nicht inhaltlich-qualitativ, sondern rein aussagenlogisch (als bejahend und verneinend) zu verstehen. Diese Terminologie geht auf john hughlings-jackson (1835 –1911) zurück, von dem wir schon hörten, daß er die darwinsche Evolutionstheorie in die Psychologie zu übersetzen versuchte (vgl. Bd. I 67; 352 –353). Er nahm an, daß die Psyche des Menschen einen primitiven (archaischen) Kern enthalte, der von den höher entwickelten Seelenund Hirnteilen kontrolliert werden müsse. Unter «positiven» Symptomen verstand er den Durchbruch derartiger archaischer Impulse und psychischer Organisationsformen, die sich u. a. in den Halluzinationen oder Wahnideen der Patienten geltend machen sollten; «negative» Symptome sollten auf einen Verlust alter Funktionen (auf Grund des Verlustes neuronaler Strukturen) zurück-

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Psychische Funktionen

Positive Halluzinationen

Wahrnehmung

Wahnideen

schlussfolgerndes Denken

desorganisiertes Sprechen

Organisation von Sprache und Gedanken

desorganisiertes Verhalten

Überwachung und Planung des Verhaltens

unangemessene Gefühle

emotionale Bewertung und Reaktion

Negative Alogie

Flüssigkeit von Sprache und Gedanken

affektives Abstumpfen

Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen

Anhedonie

Fähigkeit, Freude zu erleben

Intentionshemmung

Fähigkeit, Tätigkeiten zu beginnen und durchzuhalten

Aufmerksamkeitsdefizit

Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten

Abb. C 16: Die Hauptsymptome der Schizophrenie

zuführen sein. In diesem Ansatz lag zugleich ein erster Erklärungsversuch dessen, was heute als Schizophrenie bezeichnet wird, indem hughlings-jackson Prozesse der Phylogenese zu der Psychogenese des Einzelnen in Beziehung setzte und damit großen Einfluß gewann; – sigmund freud etwa zeigte sich von dem Gedanken einer evolutiven Begründung der menschlichen Psyche, wie wir schon hörten, zutiefst überzeugt (vgl. Bd. I 67–68). Doch auch wenn man «den darwinschen Ballast» fallen läßt, erlaubt die Unterscheidung zwischen einer Verstärkung und einem Verlust normaler psychischer Funktionen im Sinne eines Ensembles «positiver» und «negativer» Symptome eine brauchbare Zusammenstellung relevanter Krankheitsmerkmale. (Vgl. nancy andreasen: Brave new Brain, 237–238.) Abb. C 16 bietet eine Zusammenstellung der positiven und negativen Hauptsymptome der Schizophrenie. Die Frage stellt sich, ob und wie es gelingen kann, einen solchen Katalog seelischer Störungen psychologisch beziehungsweise neurologisch zu begründen.

β) Psychoanalytische Betrachtungen sigmund freud und die Paranoia Einen wegweisenden Beitrag zur Aufklärung der psychopathologischen Mechanismen bei der Entstehung einer speziellen Form von Schizophrenie leistete sigmund freud 1911 in seiner Arbeit: Psychoanalytische Bemerkungen über

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einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (dementia paranoides) (in: Gesammelte Werke, VIII 239 –320; zu den diagnostischen Kriterien der Paranoia als eines Subtyps der Schizophrenie nach DSM-IV vgl. martin lambert: Symptomatik und klinische Subtypisierung, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 11). In dieser Analyse der Selbstmitteilung des Senatspräsidenten daniel paul schreber (Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1903), die dieser «für die Wissenschaft und für die Erkenntnis religiöser Wahrheiten» (sigmund freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, VIII 241) gemeint hatte machen zu sollen («er verkehrte direkt mit Gott, die Teufel trieben ihr Spiel mit ihm, er sah ‹Wundererscheinungen›, hörte ‹heilige Musik› und glaubte schließlich sogar in einer andern Welt zu weilen», a. a. O., VIII 245), beschrieb freud einen Menschen, der vor dem Ausbruch seines Wahns «ein zur sexuellen Askese Geneigter und ein Zweifler an Gott gewesen» war, der aber «nach Ablauf der Krankheit ein Gottesgläubiger und der Wollust Beflissener» wurde, so zwar, daß ein «weibliches Sexualgefühl» von ihm Besitz ergriff: «er stellte sich feminin gegen Gott ein, fühlte sich als Gottes Weib». (sigmund freud: A. a. O., VIII 265) Im Zentrum von schrebers Wahn stand der behandelnde Arzt Dr. Flechsig in Leipzig, der dem Senatspräsidenten als der «erste Verführer» und Urheber eines «Seelenmordes» (sc. an dem Kranken, d.V.) erschienen war, wobei dieser «Gottes Allmacht» zunächst «als seine (sc. eigene, d.V.) Bundesgenossin» betrachtet hatte, dann aber erkennen mußte, «daß Gott selbst der Mitwisser, wenn nicht gar Anstifter des gegen ihn gerichteten Planes» war. (sigmund freud: A. a. O., VIII 273) freud folgerte aus all dem, daß «ein Vorstoß homosexueller Libido . . . die Veranlassung dieser Erkrankung» gewesen sei (a. a. O., VIII 277– 278) und daß dieser «Vorstoß» einem «Übertragungsvorgang» entstamme. «Konkreter gesprochen, der Kranke ist durch den Arzt an das Wesen seines Bruders oder seines Vaters erinnert worden, hat seinen Bruder oder Vater in ihm wiedergefunden.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 282) So erkläre sich schrebers Vorstellung, in eine Frau verwandelt zu werden (vgl. a. a. O., VIII 277), und ebenso die «Ersetzung Flechsigs durch die höhere Person Gottes»: «Wenn es unmöglich war, sich mit der Rolle der weiblichen Dirne gegen den Arzt zu befreunden, so stößt die Aufgabe, Gott selbst die Wollust zu bieten, die er sucht, nicht auf den gleichen Widerstand des Ichs. Die Entmannung ist kein Schimpf mehr, sie wird ‹weltordnungsgemäß›, tritt in einen großen kosmischen Zusammenhang ein, dient den Zwecken einer Neuschöpfung der untergegangenen Menschenwelt.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 283) Mit dieser Deutung befand sich freud «auch im Falle Schreber auf dem

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wohlvertrauten Boden des Vaterkomplexes. Wenn sich dem Kranken der Kampf mit Flechsig als ein Konflikt mit Gott enthüllt, so müssen wir diesen in einen infantilen Konflikt mit dem geliebten Vater übersetzen», schrieb freud, «dessen uns unbekannte Einzelheiten den Inhalt des Wahns bestimmt haben . . . Der Vater erscheint in diesen Kindererlebnissen als der Störer der vom Kinde gesuchten, meist autoerotischen Befriedigung . . . Im Ausgang des Schreberschen Wahnes feiert die infantile Sexualstrebung einen großartigen Triumph; die Wollust wird gottesfürchtig, Gott selbst (der Vater) läßt nicht ab, sie von dem Kranken zu fordern.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 291–292) Doch damit ist noch nicht erklärt, warum eine derartige infantile Wunschphantasie mit einer Paranoia (mit einem Verfolgungswahn, von griech.: pará – vorbei, noeı˜n – denken) einhergeht. freuds These lautete, «der paranoische Charakter» liege «darin, daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn . . . reagiert» werde. (sigmund freud: A. a. O., VIII 295) «Dem Satz ‹ich liebe ihn (den Mann)› widerspricht . . . der Verfolgungswahn, indem er laut proklamiert: Ich liebe ihn nicht – ich hasse ihn ja. Dieser Widerspruch . . . kann aber beim Paranoiker nicht in dieser Form bewußt werden. Der Mechanismus der Symptombildung bei der Paranoia fordert, daß die innere Wahrnehmung, das Gefühl, durch eine Wahrnehmung von außen ersetzt werde. Somit verwandelt sich der Satz ‹ich hasse ihn ja› durch Projektion in den anderen: Er haßt (verfolgt) mich, was mich dann berechtigen wird, ihn zu hassen. Das treibende unbewußte Gefühl erscheint so als Folgerung aus einer äußern Wahrnehmung: – Ich liebe ihn ja nicht – ich hasse ihn ja – weil er mich verfolgt. – Die Beobachtung läßt keinen Zweifel darüber, daß der Verfolger kein anderer ist, als der einst Geliebte.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 299 –300) So betrachtet, entwickelte sich die Paranoia also im wesentlichen aus einem Vorgang der Projektion: «Eine innere Wahrnehmung wird unterdrückt und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen zum Bewußtsein. Die Entstellung besteht beim Verfolgungswahn in einer Affektverwandlung; was als Liebe innen hätte verspürt werden sollen, wird als Haß von außen wahrgenommen.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 302– 303) Der Zweck eines solchen Verdrängungsvorgangs bestehe in der «Ablösung der Libido von vorher geliebten Personen». Damit erklärten sich nach freud auch die Weltuntergangs-Phantasien in der Schizophrenie. Allerdings bleibe, so meinte er, die Entwicklung in der Paranoia dabei nicht stehen; vielmehr baue der Paranoiker die verlorene «Welt» durch den Wahn «auf dem Wege der Projektion» wieder auf. «Was wir für die

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Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion. . . der Mensch hat eine Beziehung zu den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr intensive, wenn sie auch feindlich sein mag, die früher erwartungsvoll zärtlich war.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 308) Nehmen wir an, diese Zusammenhänge existierten wie dargelegt, so stellt sich die Frage nur um so dringlicher, wie es dazu kommt: – warum entsteht aus einem schreberschen Konflikt (homosexueller Zuneigung) eine Paranoia? Wohlgemerkt, auch im normalen Leben kommt es immer wieder zu Libidolösungen von Personen oder Dingen, ohne daß die Betreffenden daran erkranken; allein schon daraus folgerte freud, daß die «Libidolösung an und für sich . . . nicht das Pathogene bei der Paranoia sein» könne. «Normalerweise suchen wir sofort einen Ersatz für die aufgehobene Anheftung; . . . in der Hysterie verwandelt sich der befreite Libidobetrag in körperliche Innervationen oder in Angst. Bei der Paranoia aber haben wir ein klinisches Anzeichen dafür, . . . daß die frei gewordene Libido . . . zum Ich geschlagen, zur Ichvergrößerung verwendet wird.» Und eben darin besteht offenbar die psychogenetische Entstehungsbedingung einer Paranoia: Sie entstammt dem narzißtischen Entwicklungsstadium der Libido, «in welchem das eigene Ich das einzige Sexualobjekt war. Dieser klinischen Aussage wegen nehmen wir an, daß die Paranoischen eine Fixierung im Narzißmus mitgebracht haben, und sprechen wir aus, daß der Rückschritt von der sublimierten Homosexualität bis zum Narzißmus den Betrag der für die Paranoia charakteristischen Regression angibt.» (sigmund freud: A. a. O., VIII 309 –310) Und diese «Regression geht nicht nur bis zum Narzißmus, der sich in Größenwahn äußert, sondern bis zur vollen Auflassung der Objektliebe und Rückkehr zum infantilen Autoerotismus». (sigmund freud: A. a. O., VIII 314) Mit diesen Worten glaubte freud nicht nur über die psychodynamische Erklärung einer wichtigen Form von «Geisteskrankheit» zu verfügen, er meinte damit auch die Gründe angeben zu können, warum eine Paranoia sich von der Dementia praecox, wie die gewöhnliche Schizophrenie nach kraepelin damals noch hieß, unterscheidet. In seiner Schrift über Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox aus dem Jahre 1908 hatte freuds Schüler und Mitarbeiter karl abraham bereits die These aufgestellt, daß die «auf das Ich zurückgewandte, reflexive oder autoerotische Sexualüberschätzung . . . die Quelle des Größenwahns (sc. bzw. des Verfolgungswahns, d. V.) bei der Dementia praecox» sei. «Der Kranke», so abraham, «verschließt sich gegen die ihm zuströmenden realen Sinneswahrnehmungen. Sein Unbe-

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wußtes formt sich auf halluzinatorischem Wege Sinneswahrnehmungen, wie sie den verdrängten Wünschen entsprechen. Der Kranke geht also in der Selbstabsperrung so weit, daß er die Außenwelt gewissermaßen boykotiert.» (In: Gesammelte Schriften, I 141–142) freud machte sich diese Deutung zu eigen und schrieb: «Die Phase der stürmischen Halluzinationen fassen wir . . . als eine des Kampfes der Verdrängung mit einem Heilungsversuch» auf, «der die Libido wieder zu ihren Objekten bringen will . . . Dieser vom Beobachter für die Krankheit selbst gehaltene Heilungsversuch bedient sich aber nicht wie bei Paranoia der Projektion, sondern des halluzinatorischen (hysterischen) Mechanismus. Dies ist der eine der großen Unterschiede (sc. der sog. Dementia praecox, d.V.) von der Paranoia.» (Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, in: Gesammelte Werke, VIII 313– 314) Psychodynamisch weiterentwickelt wurde das freudsche und abrahamsche Konzept von ernst kretschmer (1888 –1964), der vor allem wegen seiner Beschreibung der Konstitutionstypen berühmt wurde, der aber mit seiner Arbeit Der sensitive Beziehungswahn von 1927 (4. erw., hg. v. wolfgang kretschmer, 1966) ein eigenes Konzept zur Entwicklung von Paranoia und «Liebeswahn» vorstellte, das «zu den anschaulichsten und überzeugendsten Darstellungen der psychiatrischen Persönlichkeitslehre» gehört, wenngleich es nur «relativ wenig Beachtung» fand. (rainer tölle: Persönlichkeitsstörungen, in: K. P. Kisker u. a.: Psychiatrie der Gegenwart, I 160) Danach bedarf es keineswegs einer Verdrängung bestimmter (moralisch inakzeptabler) Triebregungen, um unter gegebenen Voraussetzungen eine Psychose heraufzuführen. Die eine «Paranoia aufbauenden psychopathologischen Mechanismen gliedern sich in zwei getrennte Entwicklungsreihen», konstatierte kretschmer: «Die eine Hälfte ist ein sensitiver Beziehungswahn von typischer Färbung: die fehlgeschlagene Liebeswerbung wird im Sinne der beschämenden Insuffizienz (sc. des Gefühls der Unzulänglichkeit, von lat.: in – nicht, sufficere – ergänzen, ausreichen, d.V.) verarbeitet und in entsprechenden Beziehungsideen ausgemünzt. – Die andere Hälfte ist eine Wunschpsychose, ein chronischer Liebeswahn mit überaus reizvollen . . . Mechanismen, vor allem mit einer sehr interessanten Fähigkeit zur Verschiebung und immer Weiterverschiebung der Affektbesetzung auf Ersatzgegenstände und einer teilweisen Identifikation zweier geliebter Personen im Sinne von Freud.» (ernst kretschmer: Der sensitive Beziehungswahn, 199– 200) «Liebeswahn» und «Paranoia» hängen demnach zusammen wie Traum und Albtraum, wobei allein schon die kombinierte «Wirkung kränkender Erlebnisse und neurasthenischer Ermüdung . . . in akut paranoische Zustände» treiben kann. (ernst kretschmer: A. a. O., 16)

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In dem psychodynamischen Konzept freuds (und abrahams) sind, wie man sieht, eine Reihe wichtiger Voraussetzungen und Folgerungen für das Verständnis der Schizophrenie insgesamt enthalten, insbesondere die These von der Erkrankung als einem Selbstheilungsversuch im Zustand völliger Ausweglosigkeit. Auszugehen ist offenbar von seelischen Schäden, die bereits sehr früh die Entwicklung der kindlichen Psyche verformt oder blockiert haben, – anderenfalls wäre nicht einsichtig, wieso es unter Umständen später zum Beispiel zu einer Fixierung und Übertragung der Vatergestalt mit den ihr eigenen homosexuellen Konflikten kommen kann; vor allem die Regression auf das Stadium des primären Narzißmus bliebe ohne Begründung. Natürlich stellt sich damit die Frage, was in früher Kindheit derartige Schäden der psychischen Entwicklung verursacht haben könnte. Desgleichen ist zu untersuchen, wie das Ich eines Kranken so geformt werden kann, daß es sich selbst fremd wird beziehungsweise daß es ganze Teile seiner selbst als eigenständige Mächte und Wesenheiten erlebt. Und was ist es mit dem «hysterischen Mechanismus» der Halluzinationen, mit denen ein gewöhnlicher Schizophrener – im Unterschied zur Projektion des Paranoikers – die verlorene Welt wiederherzustellen sucht? Auch karl abraham (Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie der Dementia praecox, in: Gesammelte Schriften, I 125 –131) hob hervor, «daß in der Psychologie dieser Krankheit (sc. der Dementia praecox, d.V.) dem infantilen Vorstellungsmaterial und der Sexualität die gleiche Bedeutung zukommt wie in der Hysterie und im Traum.» (A. a. O., 131) Doch es war carl gustav jung (1875 –1961), der in einer großen Arbeit unter dem Titel Über die Psychologie der Dementia praecox: Ein Versuch (in: Gesammelte Werke, III 1–170) im Jahre 1907 dieser noch fragmentarischen Ansicht eine zusammenhängende Begründung verlieh.

carl gustav jung und das abaissement du niveau mental jung stellte fest, «daß viele Fälle von Dementia praecox mit auffallend hysteroiden Symptomen beginnen, die erst im Laufe der Krankheit ‹degenerieren›, das heißt in charakteristischer Weise stereotyp oder unsinnig werden; die ältere Psychiatrie sprach darum direkt von degenerativen hysterischen Psychosen. – . . .Von außen betrachtet, sehen wir die objektiven Anzeichen eines Affektes. Die Anzeichen verstärken und verzerren sich allmählich . . . immer mehr, so daß es der naiven Betrachtung schließlich unmöglich wird, einen normalen psychischen Inhalt zu supponieren.» Vorsichtig fügte jung damals noch hinzu: «Eine vollkommenere Chemie oder Anatomie der Zukunft wird vielleicht ein-

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mal die zugehörigen objektiven Stoffwechselanomalien oder Giftwirkungen nachweisen.» Doch fuhr er fort: «Von innen betrachtet (was natürlich nur durch komplizierte Analogieschlüsse möglich ist) beobachten wir, daß das Subjekt von einem gewissen Komplex psychologisch nicht mehr loskommt, immer nur an diesen Komplex assoziiert und darum alle seine Handlungen vom Komplex konstellieren läßt.» (carl gustav jung: Über die Psychologie der Dementia praecox. Ein Versuch, in: Gesammelte Werke, III 76–77) Näherhin zeige sich, «von innen betrachtet», eine «Inkongruenz von Vorstellungsinhalt und Affekt», so wie viele Hysterische «ihre Klagen mit einer lächelnden Heiterkeit vorbringen . . . oder . . . mit Gleichmut von Dingen reden, die sie eigentlich tief berühren sollten.» (carl gustav jung: A. a. O., III 78) Als Ursache hierfür nannte jung «daß der Komplex autonom ist und sich darum nur dann reproduzieren läßt, wenn er will». (carl gustav jung: A. a. O., III 79) Auch den für die Dementia praecox charakteristischen «Mangel an Selbstbeherrschung oder die Unbeherrschtheit der Affekte», den «Mangel an gemütlichem Rapport», dem man «nicht selten auch bei Hysterischen» begegnet, erklärte jung mit der gleichbleibenden Intensität des Komplexes. (carl gustav jung: A. a. O., III 82) Selbst die «Geziertheit . . . in den Gesten und in der Schrift», die Neologismen, die «Machtwörter» «als Abwehr- und Beschwörungsformeln» (a. a. O., III 84), die «Unzugänglichkeit für Zureden» fand jung gleichermaßen bei Hysterikern wie Psychotikern, nur daß bei der Dementia praecox «diese Mechanismen viel tiefer» griffen. (carl gustav jung: A. a. O., III 86) Des weiteren setzte er die halluzinatorisch-deliriösen Phasen in Parallele zu den hysterischen Wunscherfüllungsphantasien (a. a. O., III 90), während er die Wahnideen mit den Zwangsideen in Verbindung brachte (a. a. O., III 91). Insbesondere den Beziehungswahn leitete er aus einem stark betonten Komplex ab. (carl gustav jung: A. a. O., III 93) Unter dem Einfluß eines übermächtigen Komplexes komme es außerdem zu dem Gefühl der Fremdartigkeit und zu dem Wahn der Gedankenbeeinflussung (a. a. O., III 96 –97), wobei «die korrigierenden Stimmen» in den auditorischen Halluzinationen der Schizophrenen womöglich «Einbrüche der verdrängten normalen Reste des Ichkomplexes» darstellten. (carl gustav jung: A. a. O., III 101) Kurz, sämtliche vorhin im Erscheinungsbild der Schizophrenie aufgeführten Teilmomente leitete jung aus dem Entstehen eines krankhaften Komplexes ab, der, unverträglich mit dem Ichkomplex, sich neben diesem bilde. «Der Komplex», notierte er zusammenfassend, «nimmt vermöge seiner Intensität die Großhirntätigkeit in weitestem Umfang für sich in Anspruch . . . Es läßt sich daher unschwer vorstellen, daß durch die Vorherrschaft und Erstarrung eines

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Komplexes ein Zustand des Gehirns geschaffen wird, der funktionell wenigstens einer mehr oder weniger umfangreichen Zerstörung des Großhirns gleichkommt» (a. a. O., III 108), – wie bei einem «decortizierten» Tier, das nur noch als eine «Reflexmaschine» zu agieren vermag. Später, im Jahre 1939, wird jung in einem Vortrag Über die Psychogenese der Schizophrenie (in: Gesammelte Werke, III 261– 281) diesen Gedanken noch stärker hervorheben und gegenüber eugen bleuler verteidigen, der für die primären Symptome der Schizophrenie die Existenz einer organischen Ursache vermutete. Der «grundlegende Unterschied zwischen Neurose und Schizophrenie», schreibt jung jetzt, «liegt in der Erhaltung der potentiellen Einheit der (sc. nur neurotischen, d.V.) Persönlichkeit. Ungeachtet der Tatsache, daß das Bewußtsein in mehrere persönliche Bewußtheiten aufgespalten werden kann, ist die Einheit aller dissoziierten Bruchstücke nicht nur dem fachmännischen Auge sichtbar, sondern sie läßt sich auch mittels Hypnose wiederherstellen. Dies ist bei Schizophrenie nicht der Fall . . . bei einem schizophrenen Patienten (ist) die Verbindung zwischen dem Ich und einigen Komplexen mehr oder weniger vollständig abgerissen . . . Die Spaltung ist nicht relativ, sondern absolut . . . Es ist richtig, daß eine Neurose durch die relative Autonomie ihrer Komplexe charakterisiert ist; bei einer Schizophrenie sind die Komplexe jedoch losgelöste, autonome Fragmente geworden.» «Die Dissoziation (sc. Trennung, Spaltung, d.V.) bei Schizophrenie . . . ist nicht mehr flüssig und wechselhaft wie bei einer Neurose, sondern mehr wie ein zersplitterter Spiegel . . . In einer hysterischen multipeln Person gibt es eine ziemlich ruhige, sogar taktvolle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Persönlichkeiten . . . Man spürt die Anwesenheit . . . einer Zentralfigur, die die Bühne auf fast rationale Weise für die verschiedenen Personen arrangiert . . . – Das Bild einer Persönlichkeitsspaltung bei der Schizophrenie ist ganz anders. Die abgespaltenen Figuren nehmen banale, groteske oder höchst übertriebene Namen und Charaktere an . . . Außerdem arbeiten sie nicht mit dem Bewußtsein des Patienten zusammen . . . Im Gegenteil, sie dringen jederzeit ein und stören, sie quälen das Ich auf hundert Arten; alle sind unangenehm und schockierend . . . Es ist ein augenscheinliches Chaos von unzusammenhängenden Visionen, Stimmen und Typen», die «vollständig der Kontrolle des Ichs entglitten (sind). . . Eine hysterische Dissoziation wird überbrückt von der immer noch funktionierenden Einheit der Persönlichkeit, wogegen bei Schizophrenie gerade die Grundlagen der Persönlichkeit erschüttert werden.» (carl gustav jung: A. a. O., III 265 –266) Die Gesamtheit dieses psychischen Zustandes einer in sich zerfallenen Per-

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son fand jung am besten in der Theorie von pierre janet (1859 –1947) ausgedrückt, der von einer «Herabsetzung der Aufmerksamkeit, von einem abaissement du niveau mental» gesprochen hatte (Les Obsessions et la Psychasthénie, I 514 ff.). Dieses Grundphänomen der Schizophrenie bildet nach jung in der Tat «das primäre Symptom», das all die «sekundären Symptome» hervorbringt, als da sind: der Verlust der Selbstkontrolle, die Abspaltung von Teilen der Persönlichkeit, die Unfähigkeit zu normalen Gedankengängen, die inadäquaten Reaktionen des Ich, eine unangemessene Vorstellung von der Wirklichkeit nebst dem Unvermögen zu passenden emotionalen Reaktionen sowie – nicht zuletzt – die Absenkung der Bewußtseinsschwelle gegenüber den «normalerweise» unterdrückten Inhalten des Unbewußten. (Vgl. carl gustav jung: Über die Psychogenese der Schizophrenie, in: Gesammelte Werke, III 266 –267.) All diese Symptome, die auch in der Neurose vorkommen, unterliegen auf Grund des abaissement du niveau mental einer vollständigen psychischen Determination; die entscheidende Frage aber lautet, ob auch das abaissement selbst rein psychischen Ursachen entstammen kann. Die Antwort, die jung darauf gab, war eindeutig bejahend. Indem er vor mehr als 65 Jahren bereits, wie nebenbei, dem uns schon geläufigen Gedanken des «Borderline-Syndroms» vorgriff, führte er aus: «Jeder Neurotiker kämpft um die Aufrechterhaltung und Herrschaft seines Ichbewußtseins und um die Unterjochung der widerstrebenden unbewußten Kräfte. Aber ein Patient, der sich von dem Eindringen seltsamer Inhalte aus dem Unbewußten leiten läßt, ein Patient, der nicht kämpft, der sich sogar mit den morbiden Elementen identifiziert, setzt sich sofort dem Verdacht der Schizophrenie aus . . . – Die Neurose liegt auf dieser Seite des kritischen Punktes, die Schizophrenie auf der anderen. Wir zweifeln nicht daran, daß psychologische Motive ein abaissement hervorrufen können, das schließlich zu einer Neurose wird. Eine Neurose nähert sich der Gefahrenlinie, aber es gelingt ihr irgendwie, auf der hiesigen Seite zu bleiben. Sollte sie die Linie überschreiten, hört sie auf, eine Neurose zu sein . . . Man weiß, es gibt Fälle, die man jahrelang für Neurosen hält; aber dann passiert es plötzlich, daß der Patient die Grenze übertritt und sich eindeutig in einen wirklichen Psychotiker verwandelt.» (carl gustav jung: A. a. O., III 268 –269) «Soweit verhält sich die Schizophrenie nicht anders als eine rein psychologische Störung . . . Die eigentliche Schwierigkeit beginnt mit der Desintegration der Persönlichkeit und damit, daß der Ichkomplex seiner gewohnten Vorrangstellung entkleidet wird . . . Es ist, als ob die Fundamente der Psyche nachgäben, als ob eine Explosion oder ein Erdbeben ein normal gebautes Haus auseinanderrissen.» (carl gustav jung: A. a. O., III 271)

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Was jung in diesen Worten beschrieb, bedeutet den Versuch, wie freud, die Schizophrenie als eine (explosionsartige) Steigerung neurotischer Konflikte zu erklären; was sein Unterfangen freilich von dem freudschen Ansatz unterscheidet, ist die Verlagerung der Betrachtungsweise: die schizophrene Erkrankung erscheint jetzt nicht länger als das Ergebnis der «Libidoentwicklung», – es handelt sich primär nicht um den Durchbruch verdrängter Triebe, wie bei einer Perversion; die Schizophrenie erweist sich vielmehr als das Ergebnis einer (unzureichenden) Ichentwicklung, – die Schizophrenie betrifft primär den Zusammenbruch eines Ich, das zu schwach ist, um dem Ansturm seiner Triebbedürfnisse oder dem Druck der äußeren Realität oder beidem standzuhalten. Um die «Psychogenese der Schizophrenie» zu verstehen, muß man daher von der EsAnalyse zur Ich-Analyse übergehen. In diesem Zusammenhang griff carl gustav jung einen Gedanken auf, der schon von freud und abraham vorbereitet war, doch bei weitem nicht so entwickelt, wie er jetzt zum Verständnis der Schizophrenie mit Hilfe der Theorie vom abaissement ausgearbeitet wurde: den Gedanken von der Verwandtschaft zwischen schizophrener Halluzination und Traum. Für freud ergab sich eine Paranoia, wie wir gerade sahen, aus einer Regression zu fixierten Stufen der Libidoentwicklung, sie erklärte sich mithin aus der persönlichen Biographie, und ebenso interpretierte freud das Traumgeschehen als einen Niederschlag aus bewußten Eindrücken und unbewußten (verdrängten) Triebregungen; beides trifft zu, ist aber nicht hinreichend. Selbst bereits hatte freud die Behauptung aufgestellt, daß sich der Traum «nur eine Probe der primären. . . Arbeitsweise des psychischen Apparats» aufbewahre: «In das Nachtleben scheint verbannt, was einst im Wachen herrschte, als das psychische Leben noch jung und untüchtig war, etwa wie wir in der Kinderstube die abgelegten primitiven Waffen der erwachsenen Menschheit, Pfeil und Bogen, wiederfinden.» (sigmund freud: Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, II/III 572) Die «Arbeitsweise» im Traum wird mithin nicht durch Prozesse des persönlichen Unbewußten geschaffen, sondern sie verdankt sich den archaischen Resten des Psychischen aus einer Zeit, in welcher es (in den ersten «Primitivgesellschaften») neben dem «Unbewußten» ein «Bewußtsein» (gerade) schon gab; – jung wird an dieser Stelle den Begriff des kollektiven Unbewußten einführen und einen ersten und wichtigen Beleg für die Berechtigung dieser These eben in den Erlebnissen der Schizophrenen geben: «Wahnsinn», so erläuterte er, «ist ein Traum, der an die Stelle des normalen Bewußtseins getreten ist. Es ist keine Metapher, zu sagen, Wahnsinn sei ein ‹Wirklichkeit› gewordener Traum. Die Phänomenologie des Traumes und die der Schizophrenie sind nahezu identisch.»

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(carl gustav jung: Über die Psychogenese der Schizophrenie, in: Gesammelte Werke, III 272) In Traum wie Schizophrenie kommt es mithin zu einer «Mischung von persönlichem und kollektivem Material» (a. a. O., III 273), und so läßt sich «schließen, daß der schizophrene Geisteszustand, soweit er archaisches Material bietet, alle Merkmale eines ‹großen Traumes› hat – mit anderen Worten, er ist ein wichtiges Ereignis, das dieselben ‹numinosen› Eigenschaften aufweist, die in primitiven Kulturen einem magischen Ritual zugeschrieben werden. Tatsächlich hat sich die geisteskranke Person immer des Vorrechtes erfreut, diejenige zu sein, die von Geistern besessen oder von einem Dämon verfolgt wird.» (carl gustav jung: A. a. O., III 274) Damit eröffnet die Schizophrenie-Analyse (hierin ähnlich der Traumpsychologie bzw. dem Studium drogeninduzierter Halluzinationen) einen wichtigen Zugang auch zum Verständnis religiöser Phänomene (so wie sie dem Therapeuten umgekehrt die Verpflichtung auferlegt, die schizophrenen Phänomene in ihrem geistigen Gehalt ebenso sorgfältig, ja, ehrfurchtsvoll zu würdigen wie die Symbole der Religionen in der Kulturgeschichte der Menschheit). «Der häufige Rückgriff auf archaische Assoziationsformen und -gebilde, den wir in der Schizophrenie beobachten», gesteht jung noch im Jahre 1958, «hat mir sogar erstmals die Idee gegeben, an ein (sc. kollektives, d.V.) Unbewußtes zu denken, das nicht nur aus verlorengegangenen, ursprünglichen Bewußtseinsinhalten (sc. aus einem persönlichen Unbewußten, d.V.) besteht, sondern aus einer gewissermaßen tieferen Schicht von ähnlich universalem Charakter wie die mythischen Motive, welche die menschliche Phantasie überhaupt charakterisieren. Diese Motive sind keineswegs erfunden, sondern vielmehr vorgefunden als typische Formen, die spontan und mehr oder weniger universal, unabhängig von Tradition, in Mythen, Märchen, Phantasien, Träumen, Visionen und Wahngebilden auftreten . . . Der von mir hiefür gewählte Terminus Archetypus (von griech.: die arche¯ – Anfang, Ursprung; der týpos – Schlag, Eindruck, Bild; Urbild, d.V.) fällt . . . mit dem der Biologie bekannten Begriff des ‹pattern of behavior› (sc. engl.: Verhaltensmuster, d.V.) zusammen. Es handelt sich hier keineswegs um vererbte Vorstellungen, sondern um vererbte instinktive Antriebe und Formen, wie sie bei allen Lebewesen zu beobachten sind.» (Die Schizophrenie, in: Gesammelte Werke, III 301) In Symbole der Wandlung von 1952 (ursprünglich 1912: Wandlungen und Symbole der Libido) hat carl gustav jung diesen Ansatz in breiter Form vorgetragen (in: Gesammelte Werke, Bd. V). Der Schizophrene fühlt, denkt, erlebt, sagt mithin nichts anderes, als was im Unbewußten aller Menschen an Gefühlen, Gedanken, Erlebnisweisen und Ausdrucksformen angelegt ist. Diese Erkenntnis ist außerordentlich wichtig,

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weil es psychologisch kaum eine Situation gibt, die in ihrer Not und Einsamkeit so unverständlich und abseitig erscheinen kann wie die Lage eines Schizophrenen. Doch wer ist er eigentlich – der Schizophrene? Wenn das abaissement die Schizophrenie begründet, indem es das Ich des Patienten aufreißt wie ein Vulkanausbruch, der die Oberflächenschicht zersprengt und aus der Tiefe heißflüssiges Magma hervorpreßt, so ist die entscheidende Frage damit noch nicht beantwortet, warum die (seelische) Glut gerade an dieser Stelle aufsteigt und, um geologisch im Bilde zu bleiben, einen hot spot (engl.: einen heißen Flecken) in der Seele eben dieses Patienten bildet. – Es wird in jedem Falle Zeit, von der «Kollektivpsychologie» wieder zurückzufinden zu der Ichpsychologie des an Schizophrenie Erkrankten. Dabei gingen die Versuche der Psychoanalyse freilich zunächst weiter, die Schizophrenie mit Hilfe des triebtheoretischen Ansatzes zu erklären: hermann nunberg (1884 –1970) zum Beispiel veröffentlichte 1920 und 1921 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse einen Vortrag, den er in der «Wiener psychoanalytischen Vereinigung» gehalten hatte und der den Titel trug: Über den katatonischen Anfall. Darin beschrieb er die Tragödie eines 32 Jahre alten Feinmechanikers mit vorwiegend zwangsneurotischem Charakter, der nach einer militärischen Übung eine gemeinsame Wohnung mit seiner Schwester bezogen hatte; in die «Irrenanstalt» war er eingeliefert worden, weil er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Er selber war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß es eine «sündhafte» Liebe gar nicht gebe, vielmehr sei er dazu bestimmt, die Welt zu erlösen und ihr das Geheimnis des ewigen Lebens zu eröffnen; dann wieder allerdings glaubte er sich in die Hölle versetzt, hörte Stimmen, litt unter dem Gefühl, ihm würden seine Gedanken entzogen, und trug sich mit der Furcht, in ein Tier verwandelt zu werden. nunberg erklärte die Schizophrenie dieses Mannes aus einem Abwehrkampf gegen seine homosexuellen Neigungen: sein Aufenthalt beim Militär habe eine ständige Versuchungssituation für ihn bedeutet, der er schließlich in Richtung seiner Schwester hin ausgewichen sei. Die Unverträglichkeiten bestimmter Triebregungen also seien es, die den Ausbruch der Psychose verursacht hätten. – Diese Perspektive, wohlgemerkt, wird der Psychoanalyse eigentümlich bleiben. Noch 1952 wird auch der Begründer der Neopsychoanalyse, harald schultzhencke (1892 –1953) betont hervorheben: «Am Mißglücken des ‹Animalischen› scheitern die Patienten! Und damit mißlingt ihre ganze Existenz schließlich. So muß angeordnet werden.» (Das Problem der Schizophrenie, 289) Diesen Satz verteidigte er insbesondere gegen ludwig binswanger (1881–1966), der in Der Fall Ellen West (Schweizer Archiv für Neurologie und

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Psychiatrie, Bd. LIII, LIV und LV, Zürich 1945) die Geschichte einer tödlich verlaufenen Schizophrenie mit ausgeprägt magersüchtigen Symptomen vorgestellt und mit den Mitteln der (heideggerschen) Existenzphilosophie zu interpretieren versucht hatte. (Vgl. harald Schultz-hencke: Das Problem der Schizophrenie, 282– 289.) Doch wenn das Ich, wie wir sahen, gerade in der Psychoanalyse als die alleinige Angststätte betrachtet werden muß, so bleibt die entscheidende Frage, über welche Möglichkeiten die bewußte Persönlichkeit eines Menschen, mithin sein Ich, eigentlich verfügt, um in seiner Welt zwischen Trieb, Moral und Realität zurechtzukommen; und dabei ist die Art seiner «Weltanschauung», die geistige Integration seiner widersprüchlichen Erfahrungen, allemal einer eigenen philosophischen Würdigung (und Auseinandersetzung) wert. Die Frage also stellt sich, wie die Analyse des Es (in der Schule freuds) und die Analyse des kollektiven Unbewußten (in der Schule jungs) auf dem Boden des Ich zusammenkommen können. Der Mann, der den ersten Schritt in Richtung einer eigentlichen «Ichpsychologie» getan hat, war paul federn (1871– 1950), indem er den Prozeß, durch den das Ich nach freudscher Lehre aus den Triebimpulsen des Es hervorgehen soll, anhand von Schizophrenie-Analysen aufzudecken hoffte.

paul federn und die Ichpsychologie der Schizophrenie carl gustav jung hatte «die Vorstellung des Ichkomplexes eingeführt», notierte 1949 paul federn (Der Ich-psychologische Aspekt der Schizophrenie, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 201), und er erläuterte die Bedeutung dieses Begriffs mit dem Unterschied von Ichkomplex und Ich: «Der Ichkomplex ist nicht mit dem Ich selbst identisch. Er besteht in Erinnerungen, Ideen und Wünschen, die durch den bei Beschäftigung mit dem eigenen Ich gefühlten Affekt verknüpft sind. Während alle sonstigen Komplexe indirekt das Ich beeinflussen können, ist der Ichkomplex das direkte Abbild des eigenen Schicksals. Der Ichkomplex repräsentiert somit das Ich nur als Objekt des Fühlens und Denkens; das Ich selbst ist die konstante Einheit, die sowohl sich selbst als auch die Welt denkt und fühlt.» Aber auch das Ich erscheint bei aller Einheit als etwas in sich Zusammengesetztes. «Im Ich werden seelisches und körperliches Ichgefühl deutlich als getrennt, aber immer als Teile unseres einheitlichen Inneren gefühlt. Sie sind in der Weise miteinander verbunden, dass das Körperich das seelische Ich innerhalb des Körpers befindlich fühlt. Das seelische Ich hingegen fühlt den Körper ausserhalb, zwischen dem seelischen Ich und der Aus-

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senwelt. Wenn von ‹Seele und Körper› gesprochen wird, so ist das eigentlich die Abkürzung für ‹seelisches und Körper-Ich›.» Wesentlich entsteht nach federn die Schizophrenie nun aus einer Schwäche der Ich-Besetzung. «Jede Psychose», erklärte er 1947 (Grundsätzliches zur Psychotherapie bei latenter Schizophrenie, in: P. Federn: Ichpsychologie und die Psychosen, 152), «ist eine Krankheit des Ichs selbst, während bei der Neurose nur einige Funktionen des Ichs geschwächt sind. Bei der Psychose», so seine These, «besteht die Hauptschädigung im Verluste der Besetzung der Ichgrenzen. Infolgedessen kommt es zu einer Verengung des seelischen Ichs, wobei Ideen und Vorstellungen erhalten bleiben. Aber dieselben Ideen, die normal sich innerhalb der seelischen Ichgrenze bilden und daher als blosser Gedanke apperzipiert werden, nehmen gleich den Charakter einer falschen Realität an, wenn sie ausserhalb der Ichgrenze auftreten. In dem Masse, als der Verlust der Ichgrenzbesetzung sich geltend macht, nimmt dieses falsche Realitätsgefühl die Eigenschaft an, subjektiv ausser Zweifel zu stehen.» – Mit Besetzung wird (in der Terminologie freuds) die Vorstellung von einer psychischen («libidinösen» oder aggressiven oder neutralen) Energie bezeichnet, die sich vergrößern, vermindern, verschieben oder entleeren kann. (Vgl. humberto nagera: Psychoanalytische Grundbegriffe, 394– 412.) Insofern erscheint «das Ich als eine durch den Besitz einer konstanten Energiebesetzung ausgezeichnete Organisation.» (humberto nagera: A. a. O., 405) Eine Schwäche der Ichgrenzbesetzung ist demnach identisch mit einer Schwäche des Ich, – mit seinem eingeschränkten Vermögen, sich abzugrenzen, und einer dadurch bedingten Verwischung der Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich. Mit diesem Konzept von der mangelnden «Ichgrenzbesetzung» vermochte paul federn zweierlei zugleich zu klären: Zum einen das Verhältnis der Psychosen zu den Neurosen: sie stehen in «bezug auf die Ichbesetzung (sc. Ichgrenzbesetzung, d.V.) . . . in Gegensatz zueinander. Bei jedem Falle von Neurose werden einige Ichgrenzen zu stark besetzt, und zwar bei der Zwangsneurose die Grenzen zwischen Ich und Überich, bei der Angsthysterie die Grenze zwischen dem Ich und der gegenständlichen Welt. Bei der Konversionshysterie werden die Ichgrenzen erweitert, um einige organische Ausdrucksformen ins Ich aufzunehmen.» (paul federn: Grundsätzliches zur Psychotherapie bei latenter Schizophrenie, in: P. Federn: Ichpsychologie und die Psychosen, 154) Demgegenüber gehen dem psychotischen Ich die entsprechenden Besetzungen verloren. Zum zweiten werden die Folgen des Verlustes der Ichgrenzbesetzung verständlich: – die «Beeinträchtigung der Unterscheidbarkeit von Gedanke und

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Gegenstand»; die «verfälschte Realität von Gedanken»; die «verfälschte Gewissheit von Urteil und Schlussfolgerung»; und schließlich «eine generelle falsche Gewissheit betreffs der Güte des Tuns». (paul federn: Das Ich in der Schizophrenie, in: P. Federn: Ichpsychologie und die Psychosen, 222) Wie sich zeigt, erfüllt diese Theorie von der mangelnden Ichgrenzbesetzung zur Erklärung der Schizophrenie bei federn die gleiche Funktion wie das abaissement du niveau mental bei jung; während aber jung gewissermaßen die Funktionsweise des Ich darzustellen versuchte, beschreibt federn die Ichstruktur; und während jener eine Regression zu den archaischen Mechanismen des kollektiven Unbewußten in der Schizophrenie konstatierte, begnügte sich dieser – in Übereinstimmung zu freuds Konzept – mit einer Regression der psychischen Energie (der «Libido») auf einen frühkindlichen Entwicklungszustand. In der Schizophrenie, verkündete federn, «verlieren die im ersten halben Jahre des Lebens erworbenen Ichfunktionen ihre einheitliche Besetzung. Bei allen diesen Fällen hat die Verminderung der Besetzung die Ichgrenzen zu einem früheren Zustand verengert, zu welchem das Ich regrediert ist.» (paul federn: Das Ich in der Schizophrenie, in: P. Federn: Ichpsychologie und die Psychosen, 223) Von daher ist es möglich, den Zustand des schizophrenen Ich mit den Vokabeln von «Depersonalisation» und «Entfremdung» zu charakterisieren; federn schlug freilich den Begriff der «Ich-Atonie» vor (von griech.: a – nicht; der tónos – Spannung, Ton), «mit der Bedeutung: ‹Verlust der inneren Festigkeit des Ichs›» (Die Depersonalisation, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 229); doch hat der Ausdruck sich nicht durchgesetzt, und es ist auch mit den konventionellen Termini ganz gut auszukommen. «Bei der Erörterung der Entfremdung», stellte federn fest, «ergeben sich ichpsychologische Folgerungen aller Art. Eines der faszinierenden Merkmale des Ichs ist, dass es, während es eine Einheit ist, auch als zwei getrennte Einheiten, das Körperich und das seelische Ich, gefühlt wird. Das Körperich perzipiert (sc. lat.: percipere – erfassen, wahrnehmen, d.V.), das seelische Ich apperzipiert (sc. lat.: appercipere – vorstellen; das sinnlich Aufgenommene im Bewußtsein vergegenwärtigen; der Ausdruck wurde von leibniz in seiner Monadologie eingeführt, d.V.). Bei der äusseren Entfremdung wird gefühlt, dass sowohl Perzeption als Apperzeption entfremdet sind. Mattheit und Kälte des Eindrucks gehören der entfremdeten Perzeption, die Fremdheit der entfremdeten Apperzeption zu. Der Charakter größerer Ferne gehört beiden zu.» (paul federn: A. a. O., 242) Wir hörten schon, wie in der Schizophrenie Gedanken als von außen aufoktroyiert oder entzogen erlebt werden können oder wie körperliche Sensationen (zum Bei-

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spiel im Genitalbereich) als Zugriffe anderer empfunden werden mögen, und wir verstehen jetzt, daß es anders kaum sein kann bei einem Ich, das sich selbst (gegenüber seinen eigenen Wahrnehmungen und Wünschen, Gefühlen und Gedanken) fremd geworden ist. Nun geht diese «Entfremdung» (bzw. «Depersonalisation») des Ich in paul federns Schizophrenie-Konzept, ganz wie freud es lehrte, mit einer Regression auf ein frühes Stadium der Libidoentwicklung zurück. Zwar steht bei federn, wie gesagt, die Ich-Entwicklung im Vordergrund, doch hängt beides auf das engste zusammen, entscheidet doch nach federns Auffassung die Struktur des Ich über die Art seiner (Libido)Besetzung. Libido, die an das Ich gebunden ist, gilt in der Psychoanalyse als narzißtische Libido (nach dem griechischen Mythos von Narkissos, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte; vgl. hygin, Nr. 214; 271, in: ludwig mader: Griechische Sagen, 343; 357). Dabei verläuft die Entwicklung nach der «klassischen» freudschen Vorstellung vom Autoerotismus des Kleinkindes über den primären Narzißmus zur homo- und heterosexuellen Objektliebe, um sich unter Umständen bei Rückzug der Besetzung von den «Objekten» in sekundären Narzißmus zu verwandeln. (Vgl. humberto nagera: Psychoanalytische Grundbegriffe, 193–197.) In einem relativ frühen Artikel von 1928 über Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus (in: Ichpsychologie und die Psychosen, 269– 302) erblickte federn in diesem Konzept einen Schlüssel zum Verständnis nicht nur der Entwicklung des Ichgefühls, sondern auch der Depersonalisation. In federns eigenen Worten: «In der Zeit des vorherrschenden primären Narzissmus fällt . . . die Ichgrenze mit der gesamten Vorstellungswelt des Kindes zusammen, aus der das aktuelle Bewusstsein einen kleinen, noch nicht der Realität entsprechend zusammenhängenden Teil hervorhebt.» «Das primäre Ichgefühl schliesst also von Anfang an auch die Aussenwelt in sich ein. Diese nimmt an Ausdehnung mit dem Erleben immer mehr zu; ihre Teile, d. h. die Vorstellungen von ihnen, werden dabei nicht gleichmässig mit Narzissmus besetzt, sondern ebenso wie die Teile des Körpers in verschiedener Intensität. Trotzdem sind die Objekte noch rein narzisstisch und noch nicht objektlibidinös besetzt.» «Erst, wenn das kleine Kind das Ichferne des Gegenstandes fühlt, hat der primäre Narzissmus für die betreffende Funktion die alleinige Geltung verloren. Solange z. B. die Vorstellung der Mutterbrust ebensosehr wie die Wonne des Saugens von Ichgefühl besetzt ist, wird wohl die Lust des Saugens und die Stillung des Hungers begehrt, die Mutterbrust als ihr Mittel gesucht, sie ist also bereits tatsächlich etwas Begehrtes, aber nichts, was ausser dem Ichgefühl steht. Wird sie bereits als fremd, dem Ichgefühl entzogen, erlebt, dann erst hat sie eine objektlibidinöse Besetzung. Die

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Konzeption des Ichgefühls lässt auf diese Weise den primären Narzissmus in seiner Verwendung für die Vorstellungen der Aussenwelt besser verstehen.» (paul federn: A. a. O., 278 –279) Daraus ergibt sich: «Objektbesetzungen entstehen dadurch, dass die Ichgrenze sich von den Objektvorstellungen, d. h. von den Erinnerungsspuren der Objekteindrücke, wieder zurückzieht.» (paul federn: A. a. O., 282) «Da aber das Ichgefühl eine Dauerbewusstheit des Ichs ist, könnte der Unterschied zwischen Bewusstheit und voller Ichhaftigkeit eines Vorganges vielleicht doch ein nur quantitativer sein.» (paul federn: A. a. O., 283– 284) Auf diese Weise «scheidet das Ichgefühl die Aussenwelt und das Ich». (paul federn: A. a. O., 285) Wesentlich für das Verständnis der Schizophrenie (und sogar für das Verständnis kulturgeschichtlicher Zusammenhänge) ist nun die Erfahrung, «dass Schreck und Angsterlebnisse . . . das Entstehen der Entfremdungszustände, die Zurückziehung der Ichgrenze (sc. von den Objekten, d.V.), bewirken. Wir können . . . annehmen, dass die Primitiven nur unter dem Druck der furchtbaren Aussenwelt mühsam zur Loslösung ihres Ichs von der Aussenwelt, zum Verlassen des primären Narzissmus gezwungen wurden. Die gleiche Entwicklung, aber durch den mächtigen kulturellen Schutz von Vater und Mutter wesentlich erleichtert, nimmt das Kind.» (paul federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 281) Entscheidend dabei ist, daß «verborgen . . . die gesamte Welt des primären Narzissmus, wie Traum und Psychose uns lehren, fortbestehen (bleibt); denn es wird das primär narzisstische Ich (welches Aussenwelt und Individuum umfasste) als Ganzes verdrängt, unbewusst: Weltbild und Ichgefühl der Kleinkinder sind den Erwachsenen völlig unbewusst, beweisen aber ihr Vorhandensein dadurch, dass sie in Psychosen wiederkommen können.» (paul federn: A. a. O., 285) Die Frage ist deshalb um so wichtiger, was zum Wiederauftauchen «des egokosmischen Ichs» (a. a. O., 285) in der Psychose führt. Die Antwort ergibt sich aus dem Gesagten von selbst. Wenn unter dem Eindruck von «Enttäuschungen, . . . Schmerz, Leid, Angst und gar Schrecken» die narzißtisch besetzte Ichgrenze von den Objekten zurückweicht und eine Objektvorstellung zurückbleibt (paul federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 282), so hindert das nach federn nicht, «dass die alten, bereits von früher bestandenen, mit Ichgefühl besetzten Vorstellungen in der Erinnerung fortbestehen». (paul federn: A. a. O., 287) Beide «Niederschriften»: die narzißtisch gefärbte und die spät erworbene, «realistische» Vorstellung existieren nebeneinander. Je besser beide einander entsprechen, desto leichter läßt sich die Li-

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bido beim Aktuellwerden und Zusammenkommen beider befriedigen. Ichlibido und Objektbesetzung entwickeln sich unter günstigen Voraussetzungen isoliert voneinander weiter; pathologische Veränderungen aber können dazu führen, daß die narzißtische Einheit wiederhergestellt wird. «Normalerweise» wird in dieser sekundär gebildeten narzißtischen Einheit «das verdrängte ‹egokosmische Ich› nicht eingeschlossen». Wenn aber «im Traume und in den Geisteskrankheiten . . . die Verdrängung des ‹ego-kosmischen› Ichs zum Teile nachlässt, dann treten tatsächlich Spukgestalten in das reife Ich, das sich später entwickelt hat; sie haben den Charakter der physiologischen Regression, wie einst in der Frühzeit des Ichs. So können wir wohl verstehen, dass manchem Geisteskranken Halluzinationen und Wahnideen über sich oder andere auftauchen und er dabei doch sich richtig mit seinen normal gebliebenen Ichgrenzen in der wirklichen Welt bewegt.» (paul federn: A. a. O., 289) Aber nicht nur gegenüber der Außenwelt, auch in der Innenwelt kann das Ichgefühl eine Grenze besetzen, und dies ist vor allem beim Aufbau des Überich der Fall; auch hier kann die fehlende oder mangelnde Ich-Abgrenzung psychotische Zustände hervorrufen. «Wir erinnern uns sofort», schreibt federn, «dass ja die Krankheitszustände der Depersonalisation uns viele Beispiele geliefert haben, in denen ein Innenvorgang des Ichs als entfremdet erlebt wird . . . Bei der Entfremdung der Innenwelt, die eine Form der Depersonalisation ist, fühlt der Patient seine Affekte nicht mehr als sein Ich berührend.» (Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 291) Dabei empfindet sich «das Ich als das vom Über-Ich Bewachte». Es kann sein, daß das Ich sich selbst mit den Augen des Überich anschaut. Denn ein Gutteil des sekundären Narzißmus betrifft gerade «die Vorstellungen vom Ich» und nimmt «die Gedanken über sein Ich zum Gegenstand». (paul federn: A. a. O., 291–292) In einer «gesunden» Psyche sind Überich und Ich klar voneinander geschieden, ja, die «Dissonanzen und Dispute zwischen Über-Ich und Ich» zeigen deutlich die Differenz zwischen beiden an; und auch das Schuldgefühl selbst pendelt zwischen ihnen hin und her: man kann, meint federn, «nicht gleichzeitig Ich und Über-Ich» sein. Genau dieser Widerspruch aber zerreißt den seelisch Kranken. «Um . . . von dem einen Ichgefühl zum anderen zu kommen, muss man wie durch eine Leere an Ichgefühl hindurch. Man hat das Gefühl seines Ichs verloren, bevor man das seines Über-Ichs wieder bekommt, und umgekehrt.» (paul federn: A. a. O., 295) Der Grund dafür liegt in den Identifizierungen mit den ge- und verbietenden Personen der frühen Kindheit, in einer Zeit, die bis in die Phase «des primär narzisstischen einheitlichen Ichs zurückreicht». (paul federn: A.a.O, 295– 296)

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Von daher erklären sich jetzt die unterschiedlichen Zustände von seelischer Gesundheit und Krankheit in Neurose und Psychose, und es wird noch einmal der Unterschied zwischen Depression und Manie verständlich, und auch, wie es zu altersbedingten Psychosen kommen kann. Während es dem «normalen Menschen» möglich ist, «durch ein gewisses gegenseitiges Masshalten und Nachgeben» eine «Harmonie» zwischen Ich und Überich herzustellen, gelingt dies in der Zwangsneurose nur noch durch neurotische «Umwege». «Bei der Manie wird die Libidobesetzung des Ichs so gesteigert, dass daneben die des Über-Ichs relativ gering wurde und nichts mehr ausrichtet. In der Melancholie ist es umgekehrt. Bei pathologischer Seneszenz (sc. Alterung, von lat.: senescere – altern, d.V.) verliert das Über-Ich oft früher als das Ich die libidinöse Speisung seiner Libidobesetzung vom Es aus.» Bei einer schweren Psychose aber «kann sich das Über-Ich im Ich auflösen.» (paul federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 294 –295; 294) Während eine Neurose – nach freud – durch Verdrängung von Triebimpulsen und Bewußtseinsinhalten zustande kommt, entsteht eine Psychose mithin durch «die Entblössung der Ichgrenze von Ichlibido und die daraus resultierende Entfremdung». (paul federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 300) Bedenkt man, daß die «Niederschriften» der Erinnerungsspuren aus frühen Kindertagen auch von den ge- und verbietenden Eltern narzißtisch besetzte Engramme hinterlassen, so können wir in diesem Konzept zugleich die Lehre carl gustav jungs von den «Imagines» (lat.: den Abbildern) und den Komplexen als «eine die Wirklichkeit richtig wiedergebende Konstruktion» erkennen, wie federn ausdrücklich betont. (A. a. O., 301) Insgesamt gilt: Die «Psychose selbst ist keine Abwehr, sondern eine Niederlage. Die volkstümliche Bezeichnung ‹Zusammenbruch› wurde gut gewählt. Die Psychose ist eine Niederlage des Ichs, das aufgehört hat, sich gegen die Wirkung von Triebforderungen und äußeren Konflikten, die von diesen herrühren, wehren zu können.» (paul federn: Zur seelischen Hygiene des psychotischen Ichs, in: Ichpsychologie und die Psychosen, 175) Gleichwohl leitete federn die Psychose bewußt aus der Abwehr bestimmter Triebimpulse ab, so wie er das Ich aus den unliebsamen Einflüssen der «Realität» abzuleiten suchte. Doch ist das Ich – oder das «Selbst» – wirklich bloß eine Negativität am Rande des Es im Gefälle äußerer Versagungen? Es war heinz kohut (1913 –1981), der das Narzißmus-Konzept zu einer positiven Fassung des Selbst ausbaute.

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heinz kohut und die Psychologie des Selbst Während es federns Versuch blieb, eine Psychologie des Ich zu entwickeln, die freuds Triebtheorie auf gleicher Ebene fortführte, setzte heinz kohut sein Konzept vom «Selbst» bewußt den überkommenen «Triebabwehr-Modellen» gegenüber. (Vgl. Die Heilung des Selbst, 92 –93) kohut fragte nicht, ob und wie das Selbst aus den Prozessen des Unbewußten entstehen könnte, er fand einfach, daß «die klassischen Erklärungen (sc. seelischer Erkrankungen, d.V.). . . das Selbst und seine Wechselfälle außer acht ließen» (a. a. O., 92), und er bemühte sich, diesen Mangel zu beheben. Was passiert zum Beispiel, wenn ein Analytiker wie franz alexander «präödipale Übertragungshaltungen» in Übereinstimmung mit freuds Lehre von der regressiven Analität (und, wichtiger noch, in Übereinstimmung mit karl abrahams Lehre von der regressiven Oralität) als «regressives Ausweichen» interpretiert und dann – zumindest in der theoretischen Betrachtung – bei seinem Patienten in der Behandlung «als infantile Haltung» zurückweisen muß? «Die meisten Fälle oral-anklammernden Verhaltens», meinte kohut, «. . . können in Wirklichkeit . . . in der Terminologie der Triebpsychologie nicht angemessen beschrieben werden. Meistens – ganz gewiß in den Fällen, die ich als narzißtische Persönlichkeitsstörung bezeichne – ist dieses Verhalten keine Manifestation einer vom Patienten vorgegebenen infantilen Haltung, sondern Ausdruck der Bedürfnisse eines archaischen Zustandes; es wird verständlich, wenn man es innerhalb des begrifflichen Rahmens einer Psychologie des Selbst als Manifestation des archaischen Narzißmus ansieht – vor allem als Ausdruck narzißtischer Übertragungsbedürfnisse.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 71–72) Mit diesem erweiterten Theoriekonzept verändert sich natürlich auch die therapeutische Vorgehensweise. Generell erklärte kohut: «Der Versuch, die in der Analyse narzißtischer Persönlichkeitsstörungen aktivierten Manifestationen der Übertragung mit Hilfe der Triebpsychologie . . . zu erklären – Abwehrmechanismen gegen Triebe, Ich gegen Es; Triebreifung gegen Triebregression (oder Triebfixierung); Ich-Entwicklung gegen Ich-Regression (oder Entwicklungsstillstand) –, kann mit dem Versuch verglichen werden, innerhalb des Rahmens der Ästhetik die Schönheit oder Häßlichkeit eines Gemäldes durch Untersuchung der Art und Verteilung der vom Maler verwendeten Pigmente zu erklären . . . Wenn man die Störungen des Selbst auf dem Wege der klassischen Metapsychologie angeht, so kann dies . . . mit dem Versuch vergli-

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chen werden, die Komplexität menschlicher Physiologie in Gesundheit und Krankheit im Rahmen der anorganischen Chemie zu erklären.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 72 –73) «Meine klinische Erfahrung», betonte kohut demgegenüber, «mit Patienten, deren schwere Persönlichkeitsstörungen ich ehemals einer Fixierung auf die Trieborganisation eines frühen Entwicklungsstadiums (Oralität) und den damit einhergehenden chronischen Infantilismus ihres Ich zurückgeführt hätte, hat mich immer mehr zu der Einsicht gebracht, daß die Triebfixierung und die weitreichenden Defekte des Ich weder genetisch der primäre noch dynamisch-strukturell der zentralste Brennpunkt der Psychopathologie sind. Es ist das Selbst des Kindes, das infolge der schwer gestörten empathischen Reaktionen der Eltern nicht sicher etabliert wurde, und es ist das schwache und von Fragmentierung bedrohte Selbst, das (in dem Versuch, sich selbst zu vergewissern, daß es lebendig ist, ja, daß es überhaupt existiert) sich auf defensive Weise durch die Stimulierung erogener Zonen Lustzielen zuwendet und dann, sekundär, die orale (und anale) Triebfixierung und die Versklavung des Ich an die mit den stimulierten Körperzonen verbundenen Triebziele herbeiführt.» (heinz kohut: A. a. O., 75) Insbesondere die Auffassung von dem «Charakter» einer Person gewinnt mit diesen Worten einen gründlich anderen Aspekt. freud zum Beispiel hatte bereits 1908 in einem kleinen Aufsatz über Charakter und Analerotik (in: Gesammelte Werke, VII 201–209) die drei Eigenschaften: «ordentlich, sparsam und eigensinnig» (VII 203) als «Ergebnisse der Sublimierung der Analerotik» gedeutet (VII 205); oder er hatte in Abriss der Psychoanalyse (Gesammelte Werke, XVII 117) den Einfluß des «Kastrationskomplexes» auf «alle Beziehungen des Knaben zu Vater und Mutter, späterhin zu Mann und Weib überhaupt», dargestellt. Demgegenüber findet es kohut «keine befriedigende Erklärung», bei einer analen (oder ödipalen) Fixierung nur die «triebpsychologischen Elemente der Interaktion von Mutter und Kind» zu betrachten und «die daraufhin erfolgende Errichtung von Abwehren gegen die unverkleidete Analität zum Ausgangspunkt für die Entwicklung psychologischer Strukturen» zu wählen; man müsse «außer den Trieben auch das Selbst der analen Periode betrachten, ein Selbst, das sich in einem frühen Stadium seiner Konsolidierung befindet. Wenn eine Mutter(sc. zum Beispiel, d.V.) das fäkale Geschenk (sc. ihres Kindes, d.V.) stolz annimmt – oder wenn sie es zurückweist oder daran uninteressiert ist –, so reagiert sie nicht nur auf einen Trieb . . . Sie reagiert . . . auf ein Selbst, das im Geben und Anbieten Bestätigung durch das spiegelnde Selbstobjekt sucht.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 76) – Der Ausdruck «Selbstobjekt» sollte in diesem Zusammenhang allerdings nicht unkommentiert bleiben. Er

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bezeichnet in kohuts Sprache andere Personen, in diesem Falle die Mutter, und er ist wohl nur aus (allzu großer) Reverenz gegenüber den verbalen Vorgaben freuds geprägt worden; – im Grunde steht er kohuts Intentionen geradezu im Wege: Personen, Subjekte, können niemals «Objekte» werden; eben deswegen erfüllen Empathie und Introspektion in der Psychoanalyse eine so wichtige Aufgabe. johann gottlieb fichte (1762 –1814) bereits hat in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich (§ 6, S. 202– 204) eingeführt, und demgemäß wäre es am besten, statt von einem «Selbstobjekt», von einem Fremd-Ich (oder Fremd-Selbst oder einfach von einem anderen Selbst) zu sprechen, wobei fichte in der Grundlage des Naturrechts von 1796 allerdings schon das erkenntnistheoretische Problem gestellt hat, wie es denn möglich sei, unter der Fülle der «Objekte» (der «Körper») diejenigen herauszufinden, die, wie ich selbst, eben nicht Objekte, sondern Subjekte sind, weil sie einen eigenen Willen mit einer eigenen Freiheit besitzen. Doch zurück zu kohuts Narzißmus-Theorie. Seiner Meinung nach kommt das «Auftreten von Triebfixierungen und der damit verbundenen Aktivitäten des Ich» in jedem Falle «infolge der Schwäche des Selbst zustande»: «Das Selbst», schreibt er, «auf das kein Widerhall erfolgte, war nicht in der Lage, seine archaische Grandiosität und seinen archaischen Wunsch nach Verschmelzung mit einem allmächtigen Selbstobjekt in verläßliches Selbstwertgefühl, Strebungen nach realistischem Erfolg und erreichbaren Idealen umzuwandeln. Die Abnormitäten der Triebe und des Ichs sind die symptomatischen Konsequenzen dieses zentralen Defektes im Selbst.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 81) Und er führt weiter aus, daß diese «Defekte im Selbst hauptsächlich als Folge mangelnder Empathie der Selbstobjekte auftreten – die auf narzißtische Störungen des Selbstobjekts zurückzuführen ist; vor allem . . . auf die latente Psychose des Selbstobjekts». (heinz kohut: A. a. O., 85) Nehmen wir zum Beispiel an, daß das «Selbstobjekt» «hypochondrisch auf die milde Angst des Kindes reagiert, dann führt die Verschmelzung mit dem Selbstobjekt nicht zu der nützlichen Erfahrung milder Angst, die sich in Ruhe verwandelt, sondern im Gegenteil zu dem schädlichen Erfahrungsablauf von milder Angst, die sich in Panik verwandelt», so daß «das Kind entweder in eine schädliche Verschmelzung getrieben» wird oder aktiv versucht, «dieser zu entgehen, indem es sich von der schädlichen Reaktion des Selbstobjekts abschirmt. Das Endergebnis ist in all diesen Fällen entweder ein Mangel an normaler spannungsregulierender Struktur (eine Schwäche der Fähigkeit, Affekte zu zähmen – Angst zu zügeln) oder der Erwerb fehlerhafter Strukturen (die Neigung zu

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aktiver Intensivierung von Affekt – zum Entwickeln von Panikzuständen).» Die «Pathogenese der Neigung zur Angst» ebenso wie «die Neigung zu affektiven Störungen» sollten deshalb nicht «in Begriffen der groben Dynamik von Trieben und Strukturen (Depression als nicht neutralisierte Aggression, die vom Objekt auf das Selbst gewendet ist; oder als sadistische Attacke des Überich gegen das Ich) . . . formuliert werden»; untersucht werden sollte die «Verschmelzung» des entstehenden Selbst des Kindes «mit dem allmächtigen Selbstobjekt» (der Mutter). (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 87) Nun hatte bereits anna freud (1895 –1982) im Jahre 1936 mit ihrer Arbeit über Das Ich und die Abwehrmechanismen betont herausgestellt, daß das «Objekt der analytischen Therapie . . . von Anfang an das Ich und seine Störungen» gewesen sei und «die Erforschung des Es und seiner Arbeitsweise immer nur Mittel zum Zweck». (A. a. O., 7) Gleichwohl, meint kohut, brauchten anna freud und die mit ihr verbundenen analytischen Richtungen sich um das Selbst in vielen Fällen tatsächlich nicht zu kümmern, da dessen Psychologie unbrauchbar sei bei «Zuständen, in denen ein Selbst entweder nicht oder nur in rudimentärer oder Restform existiert (wie etwa . . . bei gewissen Zuständen schwerer psychologischer Desorganisation und Regression)», und ebenso bei «Zuständen, in denen die Selbst-Kohärenz fest und die Selbst-Annahme optimal etabliert ist (wie in der ödipalen Phase eines Kindes, dessen Selbst sich gesund entwickelt hat . . .)»; eine Psychologie des Selbst aber ist seiner Ansicht nach «höchst wichtig . . . immer dann, wenn wir jene Zustände untersuchen, in denen Erfahrungen der gestörten Selbst-Annahme und/oder der Fragmentierung des Selbst den Mittelpunkt des psychologischen Zustandes bilden (wie es par excellence bei den narzißtischen Persönlichkeitsstörungen der Fall ist).» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 90– 91) Insbesondere die Untersuchung der Angst gewinnt in kohuts Psychologie des Selbst eine neue Dimension. In der Auseinandersetzung mit sören kierkegaards philosophischer Analyse jener eigentlichen Form von Angst, der das Selbst sich auf Grund seiner Freiheit ausgesetzt sieht, haben wir geschildert, wie das Ich sich verlieren kann, indem es die «Synthese» der Gegensätze, zwischen denen seine Freiheit ausgespannt ist, verweigert und statt dessen einen der Spannungspole der Existenz isoliert aufzusuchen trachtet (vgl. Bd. I 655– 657); auf diese Weise geht das Selbst an der Angst vor sich selbst zugrunde (vgl. Bd. I 653 –655). Diese Daseinsdeutung schien uns hervorragend geeignet, um den Sinn herauszuarbeiten, der den Formen seelischer Unfreiheit (den Neurosen und Psychosen) zugrunde liegt. kohut aber fragte nicht «hermeneutisch» nach der Bedeutung des Selbstverlustes, sondern er suchte im Rahmen seiner Psycho-

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logie des Selbst zu verstehen, wie es zu dem «Zusammenbruch» des Selbst kommen kann. Zu diesem Zweck unterschied er (ohne irgendeine Anknüpfung an die Philosophie – und Theologie – der Angst) «zwei grundlegend verschiedene Arten der Angsterfahrung . . . Die erste umfaßt die Ängste, die von einem Menschen empfunden werden, dessen Selbst mehr oder weniger kohärent ist – es sind Ängste vor spezifischen Gefahrensituationen . . . Der Nachdruck der Erfahrung liegt im wesentlichen auf der spezifischen Gefahr und nicht auf dem Zustand des Selbst. Die zweite Art umfaßt die Ängste, die von einem Menschen erlebt werden, der sich bewußt wird, daß sein Selbst zu zerfallen beginnt; welcher Auslöser auch immer die progressive Auflösung des Selbst in Gang setzte oder verstärkte, der Nachdruck der Erfahrung liegt im wesentlichen auf dem prekären Zustand des Selbst und nicht auf den Faktoren, die womöglich den Auflösungsprozeß in Gang gebracht haben.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 97) Diese «zweite Art» von Angst kann in der Tat ursächlich mit der «Angst vor der Triebgröße», vor der «Überschwemmung vom Es her», zusammenhängen, von der anna freud meinte, sie reagiere «schlecht auf die analytische Bemühung» (Das Ich und die Abwehrmechanismen, 51); doch für den «Kern der Angst» hielt kohut die bedrohliche Veränderung, die das Selbst an sich selber wahrnimmt: «die Intensität des Triebes ist nicht die Ursache der zentralen Pathologie (unsichere Selbst-Kohärenz), sondern ihre Folge», schrieb er. Und: «Der Kern der Desintegrationsangst ist die Furcht vor dem Zerbrechen des Selbst, nicht die Furcht vor dem Trieb.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 98– 99) Im Grunde geht es bei dieser Angst des Menschen im eigentlichen Sinne um «das Grauen vor dem Verlust seines Selbst – der Fragmentierung und der räumlichen Entfremdung von Körper und Geist, dem Zusammenbruch seines Empfindens zeitlicher Kontinuität». (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 99) «Der Therapeut hilft hier nicht dem Patienten dabei, seine Herrschaft über endopsychische Prozesse zu vergrößern, indem er das Unbewußte bewußt macht . . ., sondern versucht, den Zerfall des Selbst zu verhindern, indem er die kohärenzschaffende Tätigkeit der Verstandesfunktionen des Patienten stimuliert und unterstützt.» (heinz kohut: A. a. O., 101) Ausgehend von der Grundannahme, daß die seelischen Erkrankungen wesentlich als «Störungen des Selbst» zu betrachten sind, gelangte kohut – entsprechend den zwei Formen der Angst – in der Psychopathologie zu der Einteilung in «die primären und die sekundären (oder reaktiven) Störungen. Die letzteren stellen die akuten und chronischen Reaktionen eines konsolidierten, sicher etablierten Selbst auf die Wechselfälle der Lebenserfahrungen dar.» Davon klar abzugrenzen sind die primären Störungen des Selbst, zu denen kohut

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«fünf psychopathologische Einheiten» zählt: «1) die Psychosen (ständige oder langandauernde Fragmentierung, Schwächung oder schwere Verzerrung des Selbst), 2) die Borderline-Zustände (ständige oder langandauernde Fragmentierung, Schwächung oder schwere Verzerrung des Selbst, verdeckt durch mehr oder weniger wirksame Abwehrstrukturen) und 3) die schizoiden und paranoiden Persönlichkeiten, zwei Abwehrorganisationen, die sich der Distanzierung bedienen, d. h. die einen verläßlichen emotionalen Abstand von anderen zu halten suchen – im ersten Falle mittels emotionaler Kälte und Oberflächlichkeit, im zweiten Falle mittels Feindseligkeit und Argwohn . . . Die tiefsten Wurzeln dieser breit angelegten Abwehrpositionen reichen zurück in die Zeit, in der die Psyche des kleinen Kindes sich abschirmen mußte gegen das schädliche Eindringen der Depression, Hypochondrie, Panik etc. des Selbstobjekts.» (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 166) Diese drei Formen der Psychopathologie hielt kohut (wie schon sigmund freud) für «im Prinzip nicht analysierbar (sc. nicht therapeutisch zugänglich, d.V.), d. h., es kann zwar» – so seine Begründung – «eine Beziehung zwischen Patient und Therapeut hergestellt werden, doch der kranke . . . Sektor des Selbst tritt nicht mit in die begrenzten Übertragungsvereinigungen mit der Selbstobjekt-Imago des Analytikers ein, die durch Deutung und Durcharbeiten therapeutisch behandelt werden können.» Anders bei den letzten beiden Formen primärer Selbst-Störungen, als da «sind 4) die narzißtischen Persönlichkeitsstörungen (zeitweilige Fragmentierung, Schwächung oder schwere Verzerrung des Selbst, hauptsächlich manifestiert durch autoplastische Symptome . . . wie Überempfindlichkeit gegen Mißachtung, Hypochondrie oder Depression) und 5) die narzißtischen Verhaltensstörungen (zeitweilige Fragmentierung, Schwächung oder schwere Verzerrung des Selbst, hauptsächlich manifestiert durch alloplastische Symptome . . . wie Perversion, Straffälligkeit oder Sucht). Bei diesen letzten beiden Formen der Psychopathologie tritt der erkrankte Sektor des Selbst spontan in begrenzte Übertragungsvereinigungen mit dem Selbstobjekt-Analytiker ein – und die Durcharbeitungsaktivitäten, die diese Übertragungen betreffen, bilden in der Tat das eigentliche Zentrum des analytischen Prozesses.» (heinz kohut: A. a. O., 166–167) – Die Begriffe Autoplastik und Alloplastik stammen aus dem Griechischen: autós – selbst, plastós – geformt, állos – der andere, und bezeichnen Veränderungen, die entweder das eigene Ich betreffen oder die darauf abzielen, die Umgebung zu verändern; eingeführt wurden diese Termini von sándor ferenczi (1873 –1933) im Jahre 1930 (Autoplastik und Alloplastik, in: S. Ferenczi: Bausteine zur Psychoanalyse, 1938, IV 220; vgl. auch I 221; III 520; IV 228; 291– 292.)

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Tatsächlich ist die therapeutisch-praktische Folgerung, die sich aus kohuts Gedanken ergibt, bereits in aller Klarheit von ferenczi selbst formuliert worden: Ohne Sympathie keine Heilung. – Diese Auffassung von Therapie, mit der er die «Fühllosigkeit des Analytikers» überwinden wollte, brachte ihn ab 1931 in einen unüberwindbaren Konflikt zu freud, der ein Jahr später auf dem Kongreß in Wiesbaden damit endete, daß freud von ihm verlangte, sich aller weiteren Veröffentlichungen zu enthalten. (Vgl. sándor ferenczi: Ohne Sympathie keine Heilung, 39 –43.) «Ich habe mich gefragt», überlegte hierzu kohut, «wie Psychoanalytiker, die im allgemeinen mit einer weit überdurchschnittlichen Fähigkeit begabt sind, empathisch zu sein, jemals dem Irrtum verfallen konnten, . . . Neutralität mit minimaler Reaktion gleichzusetzen.» «Die menschliche Wärme des Analytikers . . . ist kein zufälliger Begleitumstand seiner wesentlichen Aktivität – Deutungen und Konstruktionen anzubieten – . . . Sie ist ein Ausdruck der Tatsache, daß die ständige Beteiligung der Tiefe der Psyche des Analytikers eine conditio sine qua non (sc. lat.: ‹Bedingung, ohne welche nicht›, eine unerläßliche Voraussetzung, d.V.) für die Aufrechterhaltung des analytischen Prozesses» darstellt. (heinz kohut: Die Heilung des Selbst, 252 –253) Gleichwohl vertrat auch er die Ansicht, «daß es nie das Ziel eines Analytikers werden soll, seinen Patienten ein zusätzliches Maß an Liebe und Freundlichkeit zu geben». (heinz kohut: A. a. O., 261) – Wie aber, wenn die «empathischen» Defizite überhaupt erst dazu führten, jene «primären Störungen des Selbst», die kohut für unbehandelbar erklärt, einer ärztlichen Therapie unzugänglich zu machen? Könnte es nicht sein, daß gerade die Weigerung des Therapeuten, das «Maß an Liebe» aufzubringen, das ein Leben lang gefehlt hat, die Grenze eben auch der psychoanalytischen Interventionsstrategien markierte? Und wie, wenn die Angst, sich selber zu verlieren, im letzten nur geheilt zu werden vermöchte durch eine andere Person, die dieses Selbst so annähme und umfinge, daß es sich selbst zurückgegeben würde? Die Frage freilich bleibt, welcher Mensch zu derlei imstande sein könnte. Wenn, wie soeben erläutert, die innere Gebrochenheit, die narzißtische Störung, die latente Psychose der «Selbstobjekte», die den Werdegang eines Kindes begleiten, zur Ursache für seine spätere Depersonalisation und ausbrechende Krankheit werden, so stellt sich damit ein neues Problem: Wie läßt sich die psychische Struktur beschreiben, die speziell das schizophrene Erleben erzeugt? Eine ebenso originelle wie wichtige Antwort darauf hat 1956 der amerikanische Anthropologe gregory bateson (1904 –1980) zu geben versucht.

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gregory bateson und die Theorie vom double bind Um es vorweg zu sagen: Wer sich mit batesons Theorie von der «Doppelbindung» (engl.: double bind) beschäftigt, kann nicht einfach eine weitere psychologische Theorie dem Sammelsurium der vielen anderen mehr oder minder geläufigen Konzepte hinzufügen; er begegnet vielmehr einem Erklärungsmodell, das drei (verwandte) Forschungsgebiete vereinigt: Kybernetik, Systemtheorie und Informationstheorie, und das in Anwendung dieses Methoden-Ensembles bezogen auf die menschliche wie tierische Psychologie sowie bezogen auf eine Reihe von Aspekten der Kulturanthropologie zu einem Umdenken nicht allein in den Problemen der Psychopathologie nötigt, sondern das uns zugleich wesentliche Brücken schlagen wird zu den im nächsten Abschnitt zu behandelnden zentralen Fragen: was ist Geist? was Selbst? was Seele . . .? Die Konsequenzen aus batesons Ansatz müssen so weit reichen, weil dieser den Kern der gesamten philosophischen Diskussion im Abendland um das Verhältnis von Leib und Seele, von Materie und Geist, von Gehirn und Bewußtsein in einer Weise aufgreift, die letztlich auch die Beziehung von Neurologie und Psychologie (Psychoanalyse) einer neuen Positionsbeschreibung zuführt. Doch schildern wir erst einmal, was es mit dem sogenannten double bind auf sich hat und wieso von daher eine vertiefte Einsicht in die Struktur schizophrener Bewußtseinszustände möglich scheint. Im Jahre 1956 veröffentlichten gregory bateson u. a. ihre Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie (gregory bateson, don d. jackson, jay haley und john h. weakland: Toward a theory of schizophrenia, in: Behavioral Science, 1/1956, 251–264), in denen sie zum ersten Mal die «Daten und Ideen» aus «Anthropologie, Kommunikationsanalyse, Psychotherapie, Psychiatrie und Psychoanalyse» zu dem «groben Umrisse einer Kommunikationstheorie über den Ursprung und die Natur der Schizophrenie» zusammenzufassen suchten. (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 270– 271) Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete ein logisches Grundgesetz der Kommunikationstheorie, daß nämlich zwischen einer Klasse (von Gegenständen, Merkmalen, Verhaltensweisen oder Mitteilungen) und ihren Elementen eine Diskontinuität besteht: die Klasse kann niemals ein Element ihrer selbst sein, und kein Element kann die Klasse sein; «Klasse» ist ein Begriff, der einer anderen Abstraktionsebene beziehungsweise einem anderen logischen Typ angehört als diejenigen Begriffe, die sich auf die Elemente anwenden lassen. In der

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formalen Logik bemüht man sich, diese Diskontinuität genau zu beachten; in realen Kommunikationsabläufen hingegen wird diese Diskontinuität immer wieder durchbrochen. Kommunikationsformen, die verschiedene logische Typen einschließen, treten zum Beispiel in der gewöhnlichen Unterhaltung, im Spiel, beim Erzählen von Witzen und nicht zuletzt in der Poesie, im umgangssprachlichen Gebrauch von Metaphern oder im religiösen Ritus auf. Doch nun scheint es, daß die formalen Muster dieser Durchbrechungen in der Kommunikation zwischen Mutter und Kind Krankheiten hervorbringen können, «deren formale Charakteristika zu einer Klassifizierung der Krankheit als Schizophrenie führen». (gregory bateson u. a.: A. a. O., 271– 272) Es ist bereits für niedere Säugetiere sehr wichtig, miteinander Signale auszutauschen, die ein bestimmtes Verhalten als Spiel (oder als Nicht-Spiel) klassifizieren, und diese Signale gehören natürlich einem höheren logischen Typ an als die Mitteilungen, die innerhalb dessen austauscht werden, was als Spiel (oder auch als Nicht-Spiel) klassifiziert wurde. Die notwendige Etikettierung kann bei Menschen verbal erfolgen, sie geschieht aber vorwiegend nonverbal (lat.: non – nicht, das verbum – Wort; nicht mit Worten): durch Körperhaltung, Gestik, Mimik, Tonfall und insbesondere durch den Kontext, innerhalb dessen die Kommunikation stattfindet. (Vgl. gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 272.) – Auch der Humor – ein Phänomen, das bereits sigmund freud im Jahre 1905 zu einer eingehenden Monographie unter dem Titel Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (in: Gesammelte Werke, Bd. VI) veranlaßte – liefert ein Beispiel für eine Kommunikation, die verschiedene logische Typen umfaßt, besteht ein gelungener Witz doch sehr oft in der Entdeckung (der Pointe, franz.: Spitze, Stachel), daß eine Metapher wörtlich zu verstehen ist oder eine im wörtlichen Verständnis erzählte Geschichte in übertragenem Sinne gemeint ist. (Vgl. gregory bateson u. a.: A. a. O., 272.) – Von entscheidender Bedeutung im Umgang miteinander ist die Fähigkeit, die Signale zu falsifizieren (lat.: falsus – falsch, facere – machen; als falsch zu erkennen), welche die Art einer Begegnung zu kennzeichnen vorgeben: Wann ist etwas ein künstliches Lachen, eine vorgetäuschte Freundlichkeit, ein Spaß, der in Wahrheit keiner mehr ist? Sogar vor uns selber vermögen wir mit metaphorischen Spielen (von Anstand, Konvention, Wahrung der Etikette) die tatsächliche Aggressivität zu verbergen. (Vgl. gregory bateson u. a.: A. a. O., 273.) – Insbesondere Lernvorgänge können eine ganze Hierarchie von verschiedenen Ebenen logischer Typen umfassen. Wir sprachen schon von den assoziativen Lernvorgängen nach Art pawlowscher Hunde, die einen Glockenton mit der Erwartung von Speise verban-

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den (vgl. Bd. I 299– 301); aber es läßt sich leicht denken, daß selbst Tiere nicht nur etwas zu lernen vermögen, sondern lernen können zu lernen (vgl. gregory bateson u. a.: A. a. O., 273 –274), – bateson spricht von Lernen II (von Deutero-Lernen, griech.: deúteros – der zweite) im Unterschied zu Lernen I, und er definiert: «Lernen I ist Veränderung in der spezifischen Wirksamkeit der Reaktion durch Korrektur von Irrtümern der Auswahl innerhalb einer Menge von Alternativen»; diese Art des Lernens basiert auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum und einem Vergleich zwischen den jeweils erzielten Resultaten. Darüber hinaus gibt es weitere logisch höhere Stufen des Lernens, die sich fortlaufend numerieren lassen. «Lernen II ist Veränderung im Prozeß des Lernens I»: man lernt zum Beispiel, die Menge möglicher Alternativen, die zur Auswahl bestimmter Strategien oder Lösungswege in Frage kommen, zu erweitern oder zu verringern, oder man lernt, Erfahrungen anders miteinander zu verknüpfen. «Lernen III ist Veränderung im Prozeß des Lernens II»: man korrigiert etwa das System der Mengen möglicher Entscheidungsalternativen. Und noch höhere Lernstufen sind denkbar, die als Lernen IV Veränderungen im Lernen III vornehmen. (gregory bateson: Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 378 –379) Natürlich ist es entsprechend wichtig, die vielfältigen Lernebenen genauso zu beachten wie die logische Typisierung der jeweiligen Signale, – beides hängt unauflöslich miteinander zusammen; und an gerade dieser Stelle kommt der für die Theorie von Neurose und Psychose psychologisch so wesentliche Begriff der Ich-Funktion ins Spiel. Wenn freud die eigentliche Aufgabe des Ich darin erblickte, «als Grenzwesen . . . zwischen der Welt und dem Es (zu) vermitteln» (Das Ich und das Es, in: Gesammelte Werke, XIII 286), so besteht die Ich-Funktion kommunikationstheoretisch darin, die verschiedenen «Kommunikationsmodi (sc. lat.: der modus – Art und Weise, d.V.), sei es innerhalb des Selbst oder zwischen dem Selbst und anderen», zu unterscheiden: «Der Schizophrene», schreiben bateson u. a. (Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 274), «zeigt eine Schwäche in drei Bereichen dieser Funktion: a) Er hat Schwierigkeiten, den Mitteilungen, die er von anderen Personen empfängt, den richtigen Kommunikationsmodus zuzuweisen. b) Er hat Schwierigkeiten, denjenigen Mitteilungen, die er selbst nonverbal äußert oder aussendet, den richtigen Kommunikationsmodus zuzuordnen. c) Er hat Schwierigkeiten, seinen eigenen Gedanken, Sinneseindrücken und Wahrnehmungsgegenständen den richtigen Kommunikationsmodus beizulegen.» Wohlgemerkt, es ist an dieser Stelle nicht länger die Frage, woher die Störung der Ich-Funktion (bei einer «schizophrenen» Persönlichkeit) rührt – alle bisher

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erörterten psychoanalytischen Konzepte mögen dazu ihren Erklärungsbeitrag leisten –, die Frage stellt sich jetzt, welche Auswirkungen eine solche Ich-Funktionsstörung innerhalb von Kommunikationsvorgängen haben wird; und da müssen wir uns ein fühlendes Wesen (sei es nun ein Mensch oder ein Tier) vorstellen, das sich schwertut, die Mitteilungen und Verhaltensweisen anderer «richtig» (so wie sie vom «Sender» gemeint sind) aufzunehmen beziehungsweise selber dafür zu sorgen, daß es in seinen eigenen Mitteilungen und Verhaltensweisen von den anderen «richtig» verstanden wird, ja, das schon unsicher darin ist, wie es die – physiologisch korrekt übermittelten – Eindrücke seiner Sinne interpretieren soll; leicht läßt sich dann ermessen, wie tief die Verwirrung gehen wird. «Kommunikation» umfaßt schließlich alle relevanten Lebensbereiche: die Verteidigung des Lebensraumes, die Balz bei der Partnersuche, das Ritual der Paarung, die Betreuung des Nachwuchses, die Rollenzuweisung in der Gruppe, die Verfahren der Nahrungsbeschaffung, die Tricks bei Angriff und Verteidigung . . .; und zwar unter Verwendung aller den Sinnen zugänglichen Mitteilungsmöglichkeiten: olfaktorisch, akustisch, optisch, durch Bewegungsformen und Ausdrucksgebärden – schauen wir uns nur noch einmal in Abb. B 86, B 87, B 88 und B 89 die Gesichter von Tieren und Menschen in verschiedenen Gefühlszuständen an! –; und das alles geschieht auch bei uns Menschen zum größten Teil unbewußt. (Vgl. z. B. dietrich burkhardt u. a.: Signale in der Tierwelt, München 1972; jan žd’árek: Verständigung zwischen Tieren, Prag 1988; peter marsh – desmond morris: Die Horde Mensch, 1989.) Wie solide muß ein solches Verständigungssystem funktionieren, um zuverlässig zu sein, und was wird passieren, wenn ein und dieselbe Person als Sender und Empfänger von Signalen in einem derart vielseitigen und vielschichtigen Kommunikationssystem gestört ist? An jeder Stelle (in jedem Lebensbereich) muß es dann zu «Mißverständnissen» kommen, deren Auswirkungen für den Betreffenden, je nach den Umständen und je nach Art der aktivierten Deutungsmuster, rasch ein katastrophales Ausmaß zu erreichen vermögen. Die Diagnose «Schizophrenie» überstreicht, so betrachtet, offenbar nur einen (wenn auch großen und wichtigen) Teil möglicher psychischer Erkrankungen, zu deren Verständnis eben auch gewisse Kommunikationsstörungen herangezogen werden müssen. Vor allem, wenn wir noch einmal daran denken, daß – nach Auffassung von charles darwin – alle Gefühle im wesentlichen ein körpergebundenes Ausdrucksverhalten darstellen (vgl. Bd. I 563– 564), also Bestandteile eines speziellen Kommunikationssystems bilden, wird sofort klar, wie stark in den Triebbereichen von Aggression und Sexualität «falsch» verstandene oder «falsch» gegebene Signale unangemessene Reaktionen zeitigen werden. Die

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Folgerungen, die daraus resultieren, sind unabsehbar. Womöglich sind zum Beispiel viele Personen, die heute als «Triebtäter» verurteilt werden, nicht so sehr Opfer ihrer Triebpathologie, als vielmehr Opfer ihrer Unfähigkeit, sexuelle Signale in ihrer Komplexität richtig zu deuten und situationsadäquat zu beantworten. Betrachten wir nur erst die Sprache. Im Rahmen der formalen Logik muten die Mitteilungen (die Denkweisen) Schizophrener «in ihrer syllogistischen Struktur deviant (sc. abwegig, von lat.: de – weg, von; die via – Weg, d.V.)» an. (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 274) Ein korrekter Syllogismus (eine richtige «Schlußfolgerung», von griech.: syn – zusammen, der lógos – Gedanke; Verfahren zur deduktiven Zusammenführung von zwei Voraussetzungen: einem Obersatz und einem Untersatz) kann in den vier einfachsten Formen allgemeine positive und allgemeine negative Ober- und Untersätze miteinander kombinieren oder auch allgemeine positive oder allgemeine negative Obersätze mit einem positiven individuellen Untersatz; da im Lateinischen «ich bejahe» «affirmo» heißt und «ich verneine» «nego», hat man a und e zur Kennzeichnung allgemeiner positiver und allgemeiner negativer Aussagen, i zur Kennzeichnung individueller positiver Aussagen und o zur Kennzeichnung individueller negativer Aussagen in den vier «klassischen» Merkworten miteinander kombiniert, welche die Grundformen schlußfolgernden Denkens in der formalen Logik wiedergeben: Barbara, Celarent, Darii, und Ferio. Nehmen wir einfache Beispielsätze:

Barbara

a: Alle Lebewesen sind sterblich. a: Alle Menschen sind Lebewesen. a: Also sind alle Menschen sterblich.

Celarent

e: Kein Wesen, das geboren wird, lebt ewig. a: Alle Menschen werden geboren (sind Wesen, die geboren werden). e: Also lebt kein Mensch ewig (sind alle Menschen keine Wesen, die ewig leben).

Darii

a: Alle Menschen sind sterblich. i: Sokrates ist ein Mensch. i: Also ist Sokrates sterblich.

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Ferio

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e: Kein Mensch lebt ewig. i: Sokrates ist ein Mensch. o: Also lebt Sokrates nicht ewig.

Entscheidend bei jedem der vier Schlußverfahren kommt es darauf an, daß die drei Begriffe (im Beispiel Barbara: Lebewesen, sterblich und Menschen) im Ober- und Untersatz einen Mittelbegriff enthalten, der in den beiden Prämissen (Voraussetzungen, von lat.: praemittere – vorausschicken) vorkommt (im Beispiel Barbara: Lebewesen), und es ist dieser Mittelbegriff, von dem als Subjekt die adjektivische Aussage gemacht wird (oder auf welches sich das Prädikat bezieht). gregory bateson u. a. (Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 274 –275) nun stellen diesen «richtigen» Syllogismen einen schizophrenen Paralogismus (Fehlschluß, von griech.: pará – daran vorbei) gegenüber:

Also:

Menschen sterben. Gras stirbt. Menschen sind Gras.

Hier werden die Prädikate miteinander identifiziert, und daraus wird auf eine Identität der Subjekte «geschlossen». Was dabei herauskommt, ist eine Metapher von biblischem Format: «Alles Fleisch ist Gras», heißt es beim Propheten Jesaja (40,6 –7), «all seine Holdheit der Feldblume gleich. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, denn Jahwes Atem bläst darein.» Würde der Schizophrene sagen: «Die Menschen sind wie Gras», so bliebe bewußt, daß es sich in dieser Sprechweise um ein Bild (ein Symbol) für die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins handelt; so aber fällt dieser Unterschied dahin, – die Metapher ist als solche «nicht etikettiert» (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 275), sie wird eingesetzt und verstanden als ein Begriff; was als dichterischer Vergleich eine Redefigur von tiefgründiger Wirkung darstellt, gerät dadurch zu einem Wahngebilde. – In herman melvilles Roman Moby Dick zum Beispiel sinniert Kapitän Ahab: «. . . die Luft duftet, als wehte sie heran von einer fernen Wiese . . . an den Andenhängen haben sie gemäht, und die Schnitter schlafen in dem frisch gemähten Gras.» Doppelt wird hier angespielt auf den Tod, der als Schnitter die Menschen dahinmäht wie Gras und der als Bruder des Schlafs ihnen ewige

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Ruhe schenkt: «wie sehr wir uns auch mühen, am Ende werden wir alle auf dem Felde schlafen. Schlafen? Aye, und verrotten in all dem üppigen Grün, wie die Sensen vom letzten Jahr verrosten, hingeworfen und vergessen in den halbgemähten Schwaden . . .» (CXXXII 823) «Gras» bezeichnet die Ausgeliefertheit an den Tod, die «Sense» das – selber vergängliche – Instrument einer tödlichen Gewaltzufügung, und das «Schlafen» im «Gras» (selbst zu verrotten neben den verrostenden «Sensen») beweist eindringlich die Unentrinnbarkeit und Endgültigkeit des Todes in der Natur, in den «Schwaden», in denen der einst göttliche Atem sich nun aus den Körpern haucht. Das alles begreift man ohne langes Nachdenken; selbst jemand, der noch niemals über den Unterschied von Metaphern und Begriffen nachgedacht hat, versteht «instinktiv», wie die Worte von Dichtern wie Jesaja oder melville aufzufassen sind. Wie aber kommt es dahin, daß einem Schizophrenen nicht mehr klar ist, wann etwas «symbolisch» oder «real» gemeint ist? – Entscheidend ist, «daß menschliche Wesen den Kontext als einen Anhaltspunkt für die Unterscheidung von Modi verwenden», schreiben bateson u. a. und folgern daraus: «Wir haben daher (sc. zur Erklärung der Schizophrenie, d.V.) nicht nach irgendeiner besonderen traumatischen Erfahrung in der kindlichen Ätiologie zu suchen, sondern eher nach charakteristischen Mustern solcher Sequenzen», die in der familiären Interaktion eine entsprechende Symptomatik heraufgeführt haben. «Die Spezifität, nach der wir suchen, muß auf einer abstrakten oder formalen Ebene liegen.» (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 275) Damit gewinnt die Schizophrenie ausdrücklich die Eigenart einer Geisteskrankheit zurück; nicht eine Fehlfunktion oder Fehlverschaltung bestimmter Hirnstrukturen erklärt unter diesem Aspekt die Erkrankung, auch nicht ohne weiteres ein besonderes «Triebschicksal» auf Grund gewisser ängstigender Erfahrungen in der frühen Kindheit; worum es geht, ist ein Fehler in der formalen Verarbeitung von Gedanken. Wie es dazu kommt, wird deutlich in einer double bind-Situation. Erfordert zum Aufbau eines solchen double bind sind sechs Voraussetzungen: 1) Es geht um einen Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehr Personen, deren eine bei der Art dieses Austausches zum Opfer wird. 2) Die Erfahrung des Opfers muß sich oft wiederholen – sie geht nicht auf eine einzelne traumatisierende Begebenheit zurück; die double bind-Struktur wird eine habituelle (zum Charakter gehörende, haltungsmäßige, von lat.: der habitus – Haltung) Erwartung.

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3) Es besteht ein primäres negatives Gebot, entweder in der Form: «Tu dies oder jenes nicht, oder ich werde dich bestrafen», oder: «Wenn du dies oder jenes nicht tust, werde ich dich bestrafen.» 4) Und es besteht ein «sekundäres Gebot, das mit dem ersten auf einer abstrakteren Ebene in Konflikt steht und wie das erste durch Strafen oder Signale verstärkt wird, die das Überleben bedrohen.» Dieses sekundäre Gebot wird gewöhnlich nonverbal (durch Gestik, Tonfall oder «zwischen den Zeilen») vermittelt. Faßt man das sekundäre Gebot in Worte, so kann die Verbalisierung zum Beispiel besagen: «Betrachte dies nicht als Strafe», oder: «Betrachte mich nicht als die Strafinstanz», oder: «Unterwirf dich nicht meinen Verboten». Das sekundäre Gebot (das im Widerspruch zu dem primären Gebot steht) kann (nonverbal) auch durch den anderen Elternteil ausgesprochen werden. 5) Es existiert ein «tertiäres negatives Gebot, das dem Opfer verbietet, den Schauplatz zu fliehen.» Dieses «Gebot» muß nicht formal bestehen, es genügt, daß dem Kind durch Abhängigkeit, Strafangst oder Liebeserwartung eine Flucht nicht möglich ist. 6) Hat das Opfer erst einmal gelernt, seine Welt in double bind-Mustern wahrzunehmen, kann fast jeder einzelne Teil einer double bind-Abfolge (nicht erst das ganze Ensemble) Panik oder Wut auslösen; das «Muster der widerstreitenden Gebote kann sogar von halluzinatorischen Stimmen übernommen werden». (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 276– 278) In einer derartigen double bind-Situation bricht die Fähigkeit des Individuums, zwischen logischen Typen zu unterscheiden, zusammen. Denn während es die Beziehung, in der es steckt, als lebenswichtig empfindet, so daß es ihm sehr genau darauf ankommt, herauszufinden, wie das gemeint ist, was ihm mitgeteilt wird, trifft es doch auf zwei Arten von Mitteilungen, von denen die eine die andere leugnet, und es gibt keinen Weg, mit den gegensätzlichen Mitteilungen zurechtzukommen. In einer solchen Situation wird jeder ähnlich defensiv reagieren wie ein Schizophrener: er wird eine metaphorische Mitteilung wörtlich nehmen oder selber eine metaphorische Äußerung an die Stelle einer wörtlich zu verstehenden setzen, um in diesem Verwirrspiel zwischen Symbol und Wirklichkeit nicht festgelegt werden zu können; er reagiert damit auf die ständige Doppelbödigkeit der Bezugsperson(en), zwischen deren simulierten Gefühlen (die einem logischen Typ angehören) und deren tatsächlichen Gefühlen (einem anderen logischen Typ zugehörig) er nicht unterscheiden darf. (Vgl. gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 278–279; 285.)

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So erzählte eine Frau, wie sie als ein etwa vierjähriges Kind einmal auf den «Spielvorschlag» ihrer Mutter reagiert hat: Die Mutter war in der Küche mit der – damals noch recht aufwendigen – Vorbereitung des Mittagessens beschäftigt, und sie wollte ihr Kind für eine Weile von den Füßen haben; das aber sagte sie ihm nicht, sondern sie forderte es auf, draußen spielen zu gehen – es könnte zum Beispiel zur Tante Hannelore fahren. Die Tante Hannelore gab es wirklich, sie wohnte etwa 150 km weit entfernt und war nur mit dem Zuge zu erreichen; um zu dem Bahnhof des Ortes zu gelangen, mußte man einen Fußweg von etwa 25 Minuten zurücklegen. Das Mädchen nun hörte wohl, daß es die Fahrt zur Tante Hannelore «spielen» sollte, es fühlte aber deutlich, daß die Mutter es loswerden wollte; der Spielvorschlag der Mutter war metaphorisch gemeint, das Mädchen aber interpretierte ihn wörtlich: es setzte sich wirklich in Marsch und wurde erst von einem aufmerksamen Stationsbeamten aufgehalten und nach Hause zurückgebracht. Um die Mutter, die das Mädchen als lästig empfand, nicht zu verlieren, war das Kind von ihr fortgegangen. Die Angst vor der Ablehnung seiner Mutter hatte ihm kein «Spielen» erlaubt; statt dessen offenbarte das Mädchen mit seinem Verhalten die eigentlichen Gefühle, die den Spielvorschlag seiner Mutter diktiert hatten; gleichzeitig zwang es diese bei seiner Wiederkehr zu Äußerungen echter Sorge und aufrichtigen Bedauerns; dafür freilich mußte es in Kauf nehmen, fortan für «dumm» gehalten zu werden, weil es eine so einfache Mitteilung der Mutter nicht hatte verstehen können (andererseits stieg es in der Anerkennung der Familienmitglieder dafür, daß es mit vier Jahren bereits allein den Weg zum Bahnhof gefunden hatte). Die kleine Begebenheit verrät ein echtes double bind und veranschaulicht uns die Unfähigkeit des darin Gefangenen, Metaphern noch als solche aufgreifen zu können. Die logische Wiederholungsschleife, die sich aus Erfahrungen dieser Art ergeben kann, hat der Altmeister des «Schizophrenesischen», der schottische Psychiater ronald d. laing (1927–1989), in diesen Worten dargestellt (Knoten, 29): Wie klug muß man sein, um dumm zu sein? Die anderen sagten ihr, sie sei dumm. Also machte sie sich selbst dumm, um nicht sehen zu müssen, wie dumm die anderen waren zu glauben, sie sei dumm, weil es schlecht wäre zu glauben, die anderen seien dumm. Sie zog es vor dumm und gut anstatt schlecht und klug zu sein.

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Es ist schlecht dumm zu sein: sie muß klug sein um so gut und dumm zu sein. Es ist schlecht klug zu sein, weil es zeigt, wie dumm die anderen waren ihr zu sagen, wie dumm sie sei.

Was in dem angeführten Beispiel als Erinnerung an eine einzelne Situation geschildert ist, kann sich bei der Entstehung einer Schizophrenie aus dem Charakter eines oder beider Elternteile ergeben und strukturell die gesamte Beziehung zu ihrem Kind prägen. Stellen wir uns eine Mutter vor, die sich – aus was für Gründen auch immer – ängstlich zurückzieht, sobald ihr Kind auf sie zugeht wie auf eine liebevolle Mutter; andererseits leugnet dieselbe Frau – zum Beispiel aus Pflicht- und Schuldgefühlen – ihre ängstliche Reserviertheit (oder gar latente Feindseligkeit) und verhält sich nach außen hin sogar betont liebevoll zu ihrem Kind. (Vgl. gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 283– 284.) «Entscheidend ist hier», meinen bateson u. a., «daß dabei ihr liebevolles Verhalten das feindselige kommentiert (da es dessen Kompensation ist) und folglich einer anderen Art von Mitteilung entspricht als das feindselige Verhalten – es ist eine Mitteilung über eine Abfolge von Mitteilungen. Doch es verleugnet seiner Natur nach die Existenz derjenigen Mitteilungen, auf die es sich bezieht, d. h. die feindselige Abwendung. – Die Mutter verwendet die Reaktionen des Kindes, um sich zu bestätigen, daß ihr Verhalten liebevoll ist, und da das liebevolle Verhalten simuliert ist, wird das Kind in eine Lage gebracht, in der es ihre Kommunikation nicht genau interpretieren darf, wenn es seine Beziehung zu ihr nicht gefährden will.» (gregory bateson u. a.: A. a. O., 285) Eine Mutter möchte zum Beispiel ihr Kind für die nächsten Stunden loswerden und schickt es ins Bett, damit es, wie sie sorgenvoll bemerkt, genügend Schlaf bekomme; diese «liebevolle» Begründung verleugnet das Gefühl, eigentlich das Kind nicht mehr sehen zu wollen. «Würde das Kind ihre metakommunikativen Signale (sc. die Signale über die Kommunikation, d.V.) richtig unterscheiden, so wäre es mit der Tatsache konfrontiert, daß sie es sowohl ablehnt als auch mit ihrem liebevollen Verhalten täuscht. Es würde dafür ‹bestraft›, zu lernen, wie man Arten von Mitteilungen richtig voneinander unterscheidet. Das Kind wird also dazu neigen, eher die Vorstellung zu akzeptieren, daß es müde ist, als die Täuschung seiner Mutter zu durchschauen. Dies bedeutet, daß es sich selbst über seinen eigenen inneren Zustand täuschen muß, um die Mutter in ihrer Täuschung zu unterstützen. Um mit ihr zu überleben, muß es

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sowohl seine eigenen inneren Mitteilungen als auch die Mitteilungen anderer falsch unterscheiden. Das Problem verschärft sich noch für das Kind, da die Mutter so ‹gütig› ist, für es zu definieren, wie es empfindet; . . . die Mutter kontrolliert sowohl die Definitionen, die das Kind seinen eigenen Mitteilungen gibt, als auch die Definition seiner Reaktionen ihr gegenüber . . . Für das Kind ist es daher das Leichteste, das simuliert liebevolle Verhalten der Mutter für bare Münze zu nehmen, wobei sein Verlangen, zu interpretieren, was vor sich geht, unterhöhlt wird. Die Folge ist jedoch, daß sich die Mutter von ihm abwendet und diese Abwendung als den Idealfall einer Liebesbeziehung definiert.» (gregory bateson u. a.: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: G. Bateson: Ökologie des Geistes, 285– 286) Nun verhält es sich keineswegs so, als wären solche kommunikationstheoretischen Erklärungen einer schizophrenen Psychologie der Sache nach neu. Man lese nur den 2. Akt aus henrik ibsens (1828 –1906) Drama Die Wildente von 1885: In Gesellschaft wird darüber disputiert, daß beim Weine nicht alle Jahrgänge gleich gut seien – es komme ganz darauf an, wieviel Sonne die Trauben bekommen hätten; das kann ein Thema sein, das für sich selbst steht, es kann aber auch eine Metapher (ein «Wink mit dem Zaunpfahl») dafür sein, daß es mit gewissen Kammerherren ganz genauso bestellt ist. Natürlich liefe es auf einen gesellschaftlichen Fauxpas hinaus, sich zu der metaphorischen Bedeutung der Kommunikation zu bekennen und sie den anderen unter die Nase zu reiben; und so wird der latente Affront mit der Versicherung geleugnet, daß es sich ja doch bei allen Gesprächsteilnehmern um ganz «nette, gemütliche Leute» handle, die man gar nicht habe verletzen wollen und können. Also: aus einer angedeuteten Beleidigung wird eine eindeutige Beleidigung, die wieder gar keine ist, weil sie nur «spaßhaft» geäußert wird . . . Als Hjalmar Ekdal von solchen Begebenheiten nach Hause kommt, wartet seine Tochter Hedwig schon ungeduldig darauf, daß er ihr vom Bankett, wie versprochen, etwas Gutes mitbringt; das aber hat der Vater einfach «vergessen». Dieses Eingeständnis bedeutet eigentlich, daß das Mädchen seinem Vater völlig gleichgültig ist, doch diese Wahrheit wäre für Hedwig tödlich; also macht sie sich glauben, die Äußerung des Vaters sei nur ein neckischer Scherz; und wirklich hat der Vater ihr denn doch etwas mitgebracht: den Speisezettel! «Du kannst mir auf mein Wort glauben», bedeutet er dem Kinde, «die Leckereien, die sind nur ein armseliges Vergnügen. Setz dich jetzt nur an den Tisch und lies die Karte vor; dann werd ich dir beschreiben, wie die Gerichte schmecken.» (Dramen, II 182–184) Es ist mithin für des Vaters Liebe zu erachten, daß er es vergaß, dem Mädchen wirkliches Essen mitzubringen, da die Gerichte selbst, gemessen an des Vaters Schilderun-

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gen, viel zu armselig sind, als daß es sich lohnen würde, davon zu essen; seine wahre Zuneigung zu Hedwig erzeigt sich also darin, daß er das Mädchen mit der Beschreibung der Gerichte abspeist, von denen er etwas mitzubringen in Aussicht gestellt hatte. Das «Vergessen» beweist mithin ein um so innigeres Gedenken, das Offensichtliche wird zur Offenbarung seines Gegenteils, das Wirkliche wird zum Unwirklichen, das Eingebildete erhebt sich zu höherer Wirklichkeit, – und dieses Spiel muß Hedwig mitspielen, um die Lüge aufrechtzuerhalten, daß sie den Vater liebt, weil dieser sie liebt . . . Kein Wunder, daß in ibsens Drama das Mädchen – wiederum metaphorisch und real ineins – erbbedingt augenleidend ist; ja, es wird sich herausstellen, daß es in Wahrheit gar nicht Hjalmars Tochter ist – was es im Grunde stets schon gefühlt hat; es wird sich schließlich selber töten, um nicht die Wildente töten zu müssen, mit deren «Opfer» sie dem nicht-wirklichen Vater ihre Tochterliebe als zu ihrem trotz allem wirklichen Vater unter Beweis stellen soll. Die symbolische Selbsttötung im Opfer gerät zur wirklichen Selbsttötung, die Metapher zur Wörtlichnahme, das Spiel der augenverderbenden Täuschungen und Selbsttäuschungen wird das, was es eigentlich immer schon war: blutiger Ernst. Doch auf dem Wege zu einem solchen Finale erstreckt sich das gesamte Feld denkbarer schizophrener Reaktionen: Es ist möglich, ständig und allerorten «hellhörig» zu sein und nach hintergründigen Bedeutungen zu fahnden (beziehungsweise diese bereits auf Verdacht hin für gewiß zu setzen), um nicht (wieder) derart getäuscht (oder enttäuscht) zu werden wie in Kindertagen bereits; es ist möglich, alles wörtlich zu nehmen und die metakommunikativen Signale als lächerlich oder unbedeutend abzutun; und es ist möglich, die Mitteilungen der Umgebung immer mehr zu ignorieren und auch selber nur ja keine Reaktion anderer mehr zu provozieren. Zusammenfassend schreiben gregory bateson u. a. (Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: Ökologie des Geistes, 282– 283): «Wenn ein Individuum nicht weiß, von welcher Art eine Mitteilung ist, dann kann es sich mit Verhaltensweisen schützen, die als paranoid, hebephren (sc. «jugendliches Irresein», griech.: die he¯be¯ – Jugendalter, die phre¯n – Zwerchfell, Brust, Seele, d.V.) oder katatonisch (sc. Erstarrung der Willkürmuskulatur, griech.: katá – herab, hinab; der tónos – Spannung, d.V.) beschrieben werden. Diese drei Alternativen sind nicht die einzigen (sc. Flucht in religiösen Wahn, in Selbstbetäubung durch Rauschmittel, Rückzug in asoziales Phlegma oder politisches Engagement u. a.m. sind ebenso möglich, d.V.). Entscheidend ist, daß es nicht die eine Alternative wählen kann, die ihm helfen würde, herauszufinden, was die Leute meinen: es kann die Mitteilungen anderer nicht ohne beträchtliche Hilfe diskutieren. Ohne diese Fähigkeit verhält

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sich das menschliche Wesen wie jedes selbstregulierende System, das seinen Regler verloren hat; es kreist in endlosen, aber immer systematischen Verzerrungen.» Was wir im Erlebnishintergrund einer Schizophrenie antreffen, ist deshalb – unter der Bezeichnung eines double bind – eine fundamentale Irritation in den zentralen Kontakt- und Kommunikationsbereichen; Angst und Abhängigkeit, Abgelehntheit und Scheinverbundenheit, Gefühlsunterdrückung und Wahrnehmungsverformung treten hier zu einem Syndrom zusammen, innerhalb dessen nicht mehr klar ist, mit wem man es in der Person der Mutter (oder des Vaters) zu tun hat, und in dem zunehmend unklar wird, wer man selber ist. Wichtig an der Betrachtungsweise batesons ist es, daß die Schizophrenie nicht länger mehr als ein bloßes Resultat verstellter Gefühle und verfehlter Identifikationsprozesse erscheint, sondern daß sie (darüber hinaus) eine höchst bedeutsame kognitive Komponente erhält. Schon die Depression erwies sich nicht einfach als eine «Gemütskrankheit» (als eine «affektive Störung»), sondern – in mehr oder weniger reflektierter Ausprägung – zugleich als eine Art «Weltanschauung», deren Inhalte einer (philosophischen oder religiösen) Antwort bedürfen, um einer «Besserung» zugänglich zu sein. Und ein Gleiches beginnen wir jetzt bezüglich der Schizophrenie zu erahnen. Freilich richten sich gerade dagegen nicht wenige Autoren, die von der «harten» naturwissenschaftlichen Schizophrenieforschung (Genetik, Biopsychologie, Neurologie) herkommen, wie etwa heinz häfner. In Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt (3vollst. überarb. 2005) macht er zwei Argumente gegen batesons (und seiner Nachfolger) Theorie vom double bind geltend: 1) «Beim kritischen Nachdenken wird man daran erinnert, dass Botschaften mit ‹doppelbödigen› oder widersprüchlichen Inhalten zum normalen Leben, vor allem zur Kommunikation in Diktaturen und so auch zu den intelligentesten Instrumenten des politischen Kabaretts gehören. Zu glauben, dass daraus eine Schizophrenie hervorgehen könnte, ist naiv.» (heinz häfner: A. a. O., 258) Doch mit Verlaub, das ist es keineswegs; man darf nur nicht einfach überhören, was fundamental zum Konzept des double bind gehört: die absolute Abhängigkeit des Kindes und die Unentrinnbarkeit der Situation. Daß es auch im «normalen Leben» eine Menge durchaus «schizophrener» Komponenten gibt, wird sich in der Tat kaum bestreiten lassen, – wir werden den «ganz normalen Wahnsinn» der Gesellschaft nachher noch ausführlich erörtern; doch Staat, Gesellschaft, Kirche, Militär etc. sind keine «Familien» (selbst wenn sie ideologisch sich selbst mitunter so stilisieren), und ein Erwachsener begegnet ihnen nicht nur oder nur selten im Status vergleichbarer Hilflosigkeit

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und Ausgeliefertheit wie ein Kind seinen Eltern; wo aber näherungsweise doch (wie etwa im Führer-Kult des «Dritten Reiches»), greift allemal ein Denken, Fühlen und Handeln um sich, das in Voraussetzung und Folge nur als eine weitgehende Dissoziation der Persönlichkeit beschreibbar ist. Zudem anerkennt auch heinz häfner (a. a. O., 264), daß «Depression und Angst als frühe Symptome des zur Psychose führenden Prozesses» gewertet werden müssen; so betrachtet, bildet die Theorie vom double bind im Grunde nur die intellektuelle Seite einer chronischen Unsicherheit und Irritation ab. Vorausgesetzt ist dabei, daß es in der Kinderstube der Betroffenen eben nicht so zugeht wie im Kabarett; Kinder, die so aufwachsen müssen, haben buchstäblich «nichts zu lachen»; aller «Spaß» ist da bitterer Ernst. Zudem trat batesons Konzept niemals mit dem Anspruch auf, das «Rätsel der Schizophrenie . . . entschlüsselt» zu haben; bescheiden als «Vorstudien» tituliert, wußte es um das Vorläufige und Partikulare, das einer (nur) psychologischen Betrachtung einer schweren Persönlichkeitsstörung zukommt; doch ergibt sich daraus keinesfalls eine Erlaubnis, die subjektive Seite des Krankheitsgeschehens als etwas Sekundäres, ja, Nebensächliches zu betrachten: Wie eine Persönlichkeit zerfällt, läßt sich nur verstehen, wenn man psychologisch begreift, in welchen Teilschritten sie sich entwickelt und aus welchen Syntheseleistungen sie hervorgeht. Ein weiterer Einwand, den heinz häfner gegen batesons Theorie vom double bind erhebt, lautet: 2) «Viele Familien mit an Schizophrenie leidenden Nachkommen benötigen . . . selbst Unterstützung und Hilfe und nicht etwa zusätzliche Belastung durch originelle, aber unbegründete und unverantwortbare Theorien über ihre Schuld an der Krankheit ihrer Kinder.» (Das Rätsel Schizophrenie, 259) Es ist gewiß wahr, daß falsche Theoriekonzepte über psychische wie psychiatrische Erkrankungen enormen Schaden stiften können; – im Falle des Autismus werden wir dieser Möglichkeit gleich noch begegnen. Doch psychoanalytische Beiträge haben niemals zum Ziel, irgend jemandem «Schuld» zuzuschreiben; sie dienen ausschließlich dem Zweck, die Basis eines (vorurteilsfreien) Verstehens zu verbreitern und dadurch Hilfe an all den Stellen zu eröffnen, an denen zwischenmenschliche Beziehungen und psychische Entfaltungswege durch äußere und innere Widersprüche zu scheitern drohen. Auch häfner räumt ein, «dass die persönliche Wärme, Zuwendung und die Unterstützung einer normalen geistigen, körperlichen und sozialen Entwicklung . . . in Kindheit und Jugend» nicht «wirkungslos» sind und «dass konfliktreiche und belastende Beziehungen in den Familien schizophrener Erkrankter für die Auslösung und den Verlauf der Krankheit» von «Bedeutung» sind (a. a. O., 259); dann aber beziehen sich seine (als moralische Vetos formulier-

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ten!) Einwände allenfalls auf eine monokausale psychologische Erklärung der Schizophrenie, die mit batesons Konzept indes weder verbunden ist noch sein muß. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist allerdings, daß die Schizophrenie in batesons Darstellung, wie gesagt, den Charakter einer «Geisteskrankheit» in wörtlichem Sinne zurückerhält; damit zugleich drängt sich freilich die Frage auf, inwieweit auf die Widersprüche im Verhalten einer Mutter gegenüber ihrem Kind (beziehungsweise auf die Widersprüche von und zwischen Eltern in bezug zu ihren Kindern) nicht zusätzlich (oder ursächlich) auch gewisse Widersprüche des sozialen Milieus, der tradierten Religion oder der kulturellen Anschauungen Einfluß nehmen, – inwieweit also in einer individuellen Psychose nicht Hinweise auf die geistige Krankheit einer bestimmten Gesellschaft enthalten sind. – Ehe wir derartigen Überlegungen nachgehen, sollten wir uns jedoch erst mit dem Stand neurologischer Forschung zu dem Problem der Schizophrenie vertraut machen; denn es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Faktoren, die für eine «biologische» (Mit)Verursachung der «Bewußtseinsspaltung» sprechen.

γ) Neurologische Befunde und Hypothesen Es klingt wie eine Übersetzung der bisherigen psychologischen Erörterungen zur Verursachung einer Schizophrenie in die Sprache der Neurologie, wenn wir hören, «bei der Schizophrenie» handle es sich «um eine Erkrankung . . ., die das Gehirn in einer Weise in Mitleidenschaft» ziehe, welche «die Art und Weise» beschädige, «wie Regionen (sc. im Gehirn, d.V.) miteinander verbunden sind, so dass ein Zusammenbruch der Signalübermittlung stattfindet und die Botschaften, die zwischen verschiedenen Gehirnregionen hin- und hergesendet werden, entstellt und in Unordnung gebracht werden»; Schizophrenie ergebe sich mithin durch «Fehlverschaltungssyndrome». (nancy andreasen: Brave new Brain, 250) Wie, möchte man fragen, sollen denn verschiedene Gehirnteile «ordentlich» zusammenarbeiten, wenn zum Beispiel bestimmte Gedanken nicht zu den sie begleitenden Gefühlen passen oder wenn die Gedanken und die Gefühle in sich selbst bereits zueinander in Widerspruch stehen? Und wird durch derlei Widersprüche nicht auch verständlich, daß es «die» Schizophrenie als solche gar nicht gibt, sondern nur «eine Vielzahl an Symptomen und Symptomkombinationen mit unterschiedlichen Verläufen und Behandlungserfolgen»? (monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 511) Auf Grund der hohen Neuroplastizität des Gehirns steht geradewegs zu erwarten, daß eine psychische Entwicklung, welche die genannten schädigenden Erfahrungen

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durchläuft, sich in einer gestörten Zusammenarbeit bestimmter Hirnregionen niederschlagen wird, haben wir uns doch längst abgewöhnt, «Geisteskrankheiten» und «Gehirnkrankheiten» als grundverschiedene Gegebenheiten zu betrachten (statt sie als die zwei Enden eines Stockes zu begreifen). Die Frage ist nur, in welcher Weise ein schizophrener Bewußtseinszustand sich neurologisch darstellt oder erzeugt wird. Um etwaige morphologische Veränderungen im Gehirn von Schizophrenen zu untersuchen, sind heute die bildgebenden Verfahren unersetzlich geworden, insbesondere die Magnetresonanztomographie. (Vgl. matthias ruf – dieter f. braus: Physikalische Grundlagen der Magnetresonanztomographie, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 101–113; andrea schmitt – dieter f. braus: Struktur und Histomorphologie, in: A. a. O., 115–129.) Gefunden wurden bei derartigen Untersuchungen «eine im Mittel leichte Verminderung der gesamten Hirnmasse, mit besonderer Betonung der temporalen und frontalen Hirnrinde, des Hippokampus-Parahippokampus-Amygdala-Komplexes und in einzelnen Studien auch des Thalamus sowie eine Vergrößerung des Globus pallidus. Komplementär dazu finden sich teilweise erhebliche Erweiterungen der Ventrikel.» (heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 296) Abb. C 17 bietet eine tabellarische Übersicht der verschiedenen Befunde in den einzelnen Hirnregionen. Daß das Volumen speziell des Frontallappens bei Schizophrenen geringer ist als bei gesunden Personen, ließ sich in früheren Studien nicht belegen, wohl weil der gesamte frontale Cortex untersucht worden war, statt vor allem speziell der präfrontale Cortex (den wir anatomisch in den dorsolateralen, den dorsomedialen, den ventromedialen und den orbitofrontalen Cortex unterschieden haben; vgl. Abb. B 94). Besonders der dorsolaterale präfrontale Cortex scheint bei schizophrenen Patienten beidseitig tendenziell verkleinert, ebenso der rechte orbitofrontale Cortex, wobei die Volumenänderung möglicherweise mit dem Verlauf der Erkrankung selbst korrespondiert. (Vgl. monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 517.) Nun wissen wir bereits, daß gerade dieser Hirnbereich ontogenetisch erst sehr spät (mit etwa 18 Jahren) ausreift (vgl. Bd. I 118) und frühe minimale Schädigungen dieser Region dementsprechend späte Auswirkungen zeitigen, und so wird diskutiert, ob nicht eine Virusinfektion der Mutter oder des Fetus etwa im fünften Schwangerschaftsmonat zu Spätfolgen bei der Entwicklung dieser corticalen Bereiche in Richtung eines erhöhten Schizophrenie-Risikos führen könnte. (Vgl. monika pritzel u. a.: A. a. O., 517–518; heinz häfner: Schizophrenie – Suche nach Ursachen und Auslösern, in: Gehirn und Bewußtsein, 110.) In genauso umfangreichen Studien belegt, aber noch eindeutiger in ihrem Ausmaß sind die Volumeneinbußen in-

Psychoneurotische und psychotische Erkrankungen Hirnregion

Befund

Gesamtes Hirnvolumen*

Vermindert etwa 3 %, graue Substanz etwa 4 %

Seitenventrikel**

Erweitert etwa 22% – mit starken Unterschieden –

Dritter Ventrikel**

Erweitert etwa 26%

Frontallappen*

Vermindert etwa 3 %

Temporallappen*

Vermindert etwa 5 –6 %

Hippokampus**

Vermindert etwa 4 %

Parahippokampus***

Vermindert etwa 8 % (rechts) 11% (links) – deutliche Unterschiede –

Amygdala***

Vermindert etwa 11% – deutliche Unterschiede –

Thalamus***

Teilweise vermindert

Basalganglien**

Globus pallidus vergrößert etwa 18%, meist links > rechts Zusammenhang mit Neuroleptika-Einnahme

Insel****

Verminderung, aber noch ungesichert

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Abb. C 17: Morphologische Veränderungen im Gehirn bei schizophrenen Patienten, erfaßt mit struktureller Magnetresonanztomographie und dokumentiert in unterschiedlich vielen Studien (1 Sternchen = dokumentiert in mehr als 50 Studien, 2 Sternchen = in 10 –50 Studien, 3 Sternchen = in weniger als 10 Studien, 4 Sternchen = in 2 Studien)

dessen im Temporallappen schizophrener Patienten (Verminderung um etwa 5– 6% im Temporallappen gegenüber «nur» 3% im Frontallappen; vgl. Abb. C 17); dabei ist die graue Substanz ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie die weiße Substanz – diese besonders im Bereich von Cingulum (sc. einer langen Assoziationsbahn im Marklager des Gyrus cinguli, d. V.), Balken und Frontallappen. (Vgl. thomas j. rädler – dieter f. braus: Veränderungen der weißen Substanz, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 136 –141.) Die vordere (anteriore) Region im oberen Abschnitt des Temporallappens wird, wie im Zusammenhang mit der Epilepsie schon erörtert (vgl. Bd. I 309; 354), mit Halluzinationen in Verbindung gebracht, während Einbußen im hinteren (posterioren) Bereich mit Denkstörungen zu tun haben dürften; auch die Sprachwahrnehmung scheint durch Schädigung in gerade diesem Bereich vermindert. Desgleichen ist von Volumenreduktionen im Bereich des medialen Temporallappens (der hippocampalen Formation und der Amygdala) die Rede, die mit Defiziten bei Gedächtnisleistungen und bei emotionalen Bewertungsprozessen einher-

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Von einigen Fehlfunktionen des Gehirns oder: Wenn die Seele krank wird

gehen. Die Volumenverminderung des Schläfenlappens und des Hippocampus sowie der genannten Stirnhirnregionen (hier vor allem der rechten hinteren Stirnhirnregion) bilden den Hintergrund für das, was man als frontotemporale Dissoziation bezeichnet. «Gemeint ist damit eine Funktionsstörung zwischen einer Hirnregion (temporolimbische Rinde und Hippokampus), die für Gedächtnis, Sprache, emotionale Qualitäten und Filterfunktion der Wahrnehmung verantwortlich ist, und einer Stirnhirnregion, die für Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen wie Daueraufmerksamkeit, Initiative und Konzeptbildung zuständig ist . . .» (heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 297) Zudem lassen sich auch Reduktionen diencephaler Strukturen, insbesondere im Thalamus mit seiner Funktion als Informationsfilter bzw. als Zentralpoststelle, als neuronales Korrelat schizophrener Wahrnehmungsstörungen interpretieren. (Vgl. monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 518; 180; 191; nancy andreasen: Brave new Brain, 252.) Erneut aber bleibt hierbei zu fragen, ob es sich bei diesen Befunden wirklich um die Ursache oder nicht eher um die Folge schizophrener Erkrankungen handelt. Bereits 1992 hat diesbezüglich patricia shoer goldman-rakic (1937– 2003) auf die Störungen speziell des Arbeitsgedächtnisses in der Schizophrenie hingewiesen; um die Bedeutung der Aktivitäten (der dopaminergen Pyramidenzellen in der fünften Schicht) im präfrontalen Cortex hervorzuheben, schrieb sie: «Die Symptome bei Schizophrenie . . . gleichen auffallend denen von Patienten mit Schädigungen in diesem Hirngebiet: Denkstörungen, rasch nachlassende Aufmerksamkeit, unangemessene oder verminderte emotionale Reaktionen, Antriebsschwäche und Mangel an Zielsetzungen und Plänen. Wie solchen Patienten – und Affen mit Läsionen des Stirnhirns – gelingen Schizophrenen gewohnte eingeschliffene Tätigkeiten und Haltungen durchaus normal. Möchten sie allerdings etwas tun, was den Zugriff auf symbolische oder verbale Information verlangt, ist ihr Verhalten ohne rechten Zusammenhang und desorganisiert. – Schizophrene neigen in bestimmten psychologischen Tests dazu, eine einmal gegebene Antwort zu wiederholen, selbst wenn sie eindeutig nicht mehr stimmt, weil etwa ein zu bezeichnender Gegenstand durch einen anderen ausgetauscht wurde. Gesunde können sich viel rascher umstellen und Fehler korrigieren. Auch haben Schizophrene erhebliche Schwierigkeiten bei Aufgaben zur Raumwahrnehmung mit zeitverzögerter Antwort und bei Tests, die Problemlösen, Abstraktion oder Planung verlangen.» (patricia s. goldman-rakic: Das Arbeitsgedächtnis, in: Gehirn und Bewußtsein, 75–76) «Vielleicht sollte man das Problem Schizophrenie als einen Zusammenbruch der Prozesse ansehen, über die das Arbeitsgedächtnis Verhalten steuert. Meines

Psychoneurotische und psychotische Erkrankungen

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Erachtens stimmen die neuronalen Verschaltungen und Verbindungen im präfrontalen Cortex die inneren Modelle von der Außenwelt auf neue Anforderungen und Situationen ab – aktualisieren also das individuelle Konzept der Realität. Zu dieser Aufgabe gehört, das Kurzzeitgedächtnis und das momentane Verhalten zu lenken. Versagen diese Strukturen, erlebt das Gehirn die Welt nur noch als Einzelereignisse ohne inneren Zusammenhang – gleichsam wie eine lose Aneinanderreihung von Dias und nicht wie einen Film. Die Folge ist schizophrenes Verhalten, das im Übermaß von augenblicklicher Stimulation beherrscht ist, statt daß unmittelbare Eindrücke, Verinnerlichtes und Vergangenes ausbalanciert würden.» (patricia s. goldman-rakic: A. a. O., 76) Es scheint zudem, «dass die Denkstörungen schizophrener Menschen mit Assoziationslockerung und tangentiellem Denken (Danebenreden) die Folge einer abnorm erhöhten Assoziationsbahnung in kortikal verankerten semantischen Netzwerken darstellen. Diese Dysfunktion wird wiederum einer verminderten Dopaminverfügbarkeit in frontalen kortikalen Arealen zugeschrieben.» (steffen moritz: Kognitive Störungen, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 18–19) Schizophrene denken, so betrachtet, ähnlich den Personen, die gustav aschaffenburg in übermüdetem Zustand untersuchte (vgl. Bd. I 319), – wie Schlafwandler. Derlei Theorien klingen überaus plausibel. Auch hier aber bleibt es die Frage, ob solche neurologischen Befunde eher als Ursache oder als Folge schizophrener Bewußtseinszustände zu interpretieren sind. Das «Übermaß von augenblicklicher Stimulation», die Unmöglichkeit einer Integration von Wahrnehmungen und Erinnerungen in ein kohärentes Zeiterleben läßt sich auch verständlich machen durch den Dauerdruck einer Vielzahl chronifizierter und zum größten Teil unbewußter Ängste, durch die Unvereinbarkeit einer Fülle von Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart sowie durch die Schwäche eines in sich zerrissenen und zerspaltenen Ich, das seine «Umwelt» nur als ein Nebeneinander bedrohlicher oder sinnloser Eindrücke erlebt, die planvolle eigene Aktivitäten zu einer geordneten Durchsetzung eigener Wünsche und Triebbedürfnisse von vornherein nicht zulassen. Man beachte nur noch einmal – neben den kognitiven – die emotionalen Störungen der schizophrenen Symptomatik, wie die Affektverflachung, die Freudlosigkeit (die Anhedonie, von griech.: an – nicht, die he¯done¯ – Freude) und die merkwürdige Asozialität im Verhalten mancher Patienten. Aufgefordert zum Beispiel, emotionale Gesichtsausdrücke (wie in Abb. B 89) von einander zu unterscheiden und zu benennen, zeigen schizophren Erkrankte in «der Diskriminationsaufgabe . . . eine verminderte Aktivierung im Gyrus cinguli anterior, in der Benennungs-

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Abb. C 18: Risiko einer schizophrenen Erkrankung in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad zu einem schizophren Erkrankten

aufgabe eine Minderaktivierung im amygdalahippokampalen Komplex». (henrik walter: fMRT-Studien zu Kognition und Emotion, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 208) Die Verarbeitung von emotionalen Gesichtsausdrücken scheint des weiteren mit einer Minderaktivierung des rechten lateralen fusiformen Gyrus einherzugehen. (A. a. O., 208) Wie aber sollen Menschen mit anderen Menschen zurechtkommen, wenn deren Gesichter bereits als undurchschaubar ängstigend und bedrohlich erlebt werden, so daß schon das bloße Angeblicktwerden eine Vielzahl von Irritationen auslösen kann? Ein Hauptproblem der psychodynamischen Theorien über die Entstehung einer Schizophrenie besteht nicht selten in der fehlenden Stringenz zwischen den – verglichen mit Verwahrlosung, Mißbrauch, Mißhandlung u. a. – relativ leichten psychischen Belastungen eines Kindes in einer äußerlich betrachtet durchaus geordneten Familie und der Schwere der späteren Erkrankung. Diese Erklärungslücke könnte – analog zu den biopsychologischen Theorien zur Depression, vgl. Abb. C 11 und C 13 – mit Hilfe genetischer Faktoren sowie durch den Einfluß perinataler Schädigungen geschlossen werden, die zu einer besonderen «Neurochemie» beziehungsweise zu einer Übersensitivierung gegenüber an sich «normalen» Situationen führen. (Vgl. e. straube: Psychologische

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Abb. C 19: Altersverteilung des Ausbruchs einer Schizophrenie bei Männern und Frauen

und psychobiologische Risikofaktoren in der Genese der Schizophrenie, in: R. Lempp: Psychische Entwicklung und Schizophrenie, 82 –101, bes. S. 85– 88; andrea schmitt – dieter f. braus: Genetik in: D. F. Braus: Schizophrenie, 27– 35.) Für einen erblichen Faktor – für eine genetische Disposition – schizophrener Erkrankungen sprechen europäische Familien- und Zwillingsstudien aus den Jahren 1920 bis 1987, die zeigen, daß das durchschnittliche Erkrankungsrisiko mit zunehmender genetischer Verwandtschaft zu einem oder mehreren von Schizophrenie Betroffenen wächst, wie es Abb. C 18 wiedergibt. (Vgl. irving i. gottesman: Schizophrenie. Ursachen, Diagnosen und Verlaufsformen, 109–113.) Nun können die genetischen Auswirkungen auf die Funktionsweise des Gehirns im Grunde – wie bei den angenommenen erblichen Faktoren der Depression – eigentlich nur in der Festlegung der Dichte der Rezeptoren und der produzierten Menge der verschiedenen Neurotransmitter, Neuromodulatoren und Hormone liegen. Interessant in diesem Zusammenhang ist denn auch die Altersverteilung schizophrener Ersterkrankungen bei Männern und Frauen, wie Abb. C 19 sie wiedergibt. (Vgl. heinz häfner: Das Rätsel der Schizophrenie, 32; 210; 213.) Die graphische Darstellung weist nämlich einen verzögerten Krankheitsausbruch bei Frauen gegenüber Männern auf, der allerdings in der

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Zeit der Wechseljahre wieder ausgeglichen wird: zwischen 45 und 49 Jahren liegt das Risiko einer schizophrenen Erkrankung bei Frauen dreimal so hoch wie bei Männern. Ein solches Ergebnis legt die Annahme nahe, daß das weibliche Hormon Östrogen einen Schutz gegen Schizophrenie bildet, der mit Eintritt in die Wechseljahre schwindet. Wieso aber kann ein einzelnes Hormon schizophrenieverhindernd wirken? Natürlich ist man dieser Frage nachgegangen. So fanden heinz häfner, stephan behrens u. a. (Warum erkranken Frauen später an Schizophrenie? Erhöhung der Vulnerabilitätsschwelle durch Östrogen, in: Nervenheilkunde, 10/1991, 154–163) in Versuchen mit Ratten, daß die Tiere kataleptisch reagierten (also in einer bestimmten Körperstellung verharrten), wenn man mit Haloperidol (einem Medikament, das als Dopaminantagonist gegen Schizophrenie eingesetzt wird; vgl. auch heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 364– 368) die Dopaminrezeptoren blockiert und dadurch den Signalfluß zwischen bestimmten Nervenzellen drosselt; hingegen kommt es bei Stimulation der Rezeptoren zu oralen Stereotypien (zu unwillkürlichen Mund- und Kaubewegungen) sowie zu auffälligem Sitz- und Putzverhalten. Diese beiden dopaminabhängigen Verhaltensweisen treten nun unter längerfristigen Östrogengaben signifikant schwächer auf, und zwar deshalb, weil Östrogen neuromodulatorisch wirkt: es setzt die Empfindlichkeit der Dopaminrezeptoren (genauer der Dopaminrezeptoren vom Typ 2, der D2-Rezeptoren) herab und mindert dadurch die Intensität des Signalflusses. (Vgl. heinz häfner: Schizophrenie – Suche nach Ursachen und Auslösern, in: Gehirn und Bewußtsein, 110 –111; ders.: Das Rätsel Schizophrenie, 211–212; thomas j. rädler – dieter f. braus: Befunde, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 148–149.) Abb. C 20 zeigt den Unterschied in der Wirkung von Haloperidol und von Östrogen in einem schematischen Vergleich. Dieser neuromodulatorische Effekt des Östrogen (die Reduzierung der Sensitivität der D2-Rezeptoren) wirkt sich vermutlich bereits vor Abschluß der Hirnentwicklung aus und erhöht die Schwelle für den Ausbruch einer Schizophrenie bei Mädchen; umgekehrt erklärt der Abfall der Östrogenproduktion in den Wechseljahren den Anstieg schizophrener Ersterkrankungen bei Frauen zwischen 45– 49 Jahren (vgl. Abb. C 19). Am bemerkenswertesten an solchen Untersuchungen ist die Rolle, die beim Ausbruch einer Schizophrenie neurologisch offenbar dem Einfluß von Dopamin zugeschrieben werden muß. Historisch betrachtet, hatte man vor der Entdeckung des Chlorpromazin (vgl. Abb. B 121; einem Derivat aus der Klasse der Phenothiazine) in der antipsychotischen Medikation vor allem auf die Be-

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Abb. C 20: Die Blockade der Dopaminrezeptoren durch das Neuroleptikum Haloperidol und deren Sensitivitätsminderung durch das weibliche Geschlechtshormon Östrogen

handlung mit Opium und auf Schlafkuren mit Barbituraten, Paraldehyd, Brom und Chloralhydrat gesetzt. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung von Antihistaminika (von Stoffen, die eine allergische Überreaktion von Histamin verhindern sollten) aufgenommen wurde, entdeckten die französischen Psychiater jean delay (1907–1987) und pierre deniker (1917–1998) im Jahre 1952, daß allein die Verabreichung von Chlorpromazin den Verlauf schizophrener Psychosen günstig beeinflussen kann. Ungefähr gleichzeitig wurde das Alkaloid Reserpin der Rauwolfia-Pflanze (Rauwolfia serpentina) isoliert und von dem amerikanischen Psychiater nathan s. kline (1916–1982) zur Psychose-Behandlung empfohlen, – allerdings mit der Nebenwirkung aller Rauwolfia-Präparate: einer Absenkung des Blutdrucks. delay und deniker waren es auch, die den Namen «Neuroleptika» (das Neuron ergreifend, von griech.: le¯ptós – Verbaladjektiv vom lambánein – nehmen) einführten. 1958 dann wurde die Gruppe der Butyrophenone mit dem Hauptvertreter Haloperidol durch paul janssen (1926 –2003) entdeckt. (Vgl. gerd laux: Therapie, in: H.-J. Möller u. a.: Psychiatrie und Psychotherapie, 492; solomon h. snyder: Chemie der Psyche, 77– 81; nancy andreasen: Brave new Brain, 257.) Ineins

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damit bildete sich die «Dopamin-Hypothese» der Schizophrenie-Ätiologie. (Zur Dopaminhypothese der Schizophrenie vgl. thomas köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen, 85– 88.) Tatsächlich besteht die Wirkung fast aller Antipsychotica, welche die Symptome der Schizophrenie dämpfen, in einer Blockade von Dopaminrezeptoren, angefangen von dem älteren Chlorpromazin bis zu neueren Mitteln wie Risperidon (Risperdal) oder Olanzapin (Zyprexa). (Vgl. thomas j. rädler – dieter f. braus: Befunde, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 151–156: Rezeptorbindung von Antipsychotika; vgl. auch die Übersicht über die NeuroleptikaPräparate und ihre Wirkungsweise bei gerd laux: Therapie, in: Psychiatrie und Psychotherapie, 493; wielant machleidt: Therapie der Schizophrenie, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 332 –338; heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 366– 368; eine Zusammenstellung der heute gebräuchlichen Antipsychotica mit ihren Nebenwirkungen, Risikofaktoren und therapeutischen Dosierungen findet sich bei martin lambert: Pharmakotherapie, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 44– 66.) Bereits in den 60er Jahren hatten der schwedische Neuropharmakologe und Nobelpreisträger arvid carlsson (geb. 1923) und margit lindqvist (Effect of chlorpromazine or haloperidol on formation of 3-methoxytyramine and normetanephrine in mouse brains, in: Acta Pharmacologica et Toxicologica, 20/ 1963, 140–144) herausgefunden, daß sowohl Chlorpromazin als auch Haloperidol ihren antipsychotischen Effekt dadurch erzielen, daß sie als Antagonisten an den Dopaminsynapsen wirken. Des weiteren stellten sie die These auf, daß die mangelnde Aktivität der postsynaptischen Dopaminrezeptoren über ein Rückkopplungssignal die präsynaptische Zelle zu einer vermehrten Ausschüttung von Dopamin veranlasse; da das vermehrte Dopamin im synaptischen Spalt sehr rasch abgebaut («metabolisiert») werde, bleibe der Dopaminspiegel in etwa gleich, während der Spiegel der DA-Metaboliten ansteige. (Vgl. john p. pinel: Biopsychologie, 512 –513.) Abb. C 21 gibt diese Wirkung von Chlorpromazin an den Dopaminsynapsen schematisch wieder. In den 70er Jahren lernte man zudem die Unterschiede zwischen den verschiedenen Dopaminrezeptoren (D1 und D2; inzwischen kennt man sechs verschiedene Dopaminrezeptoren-Typen, von denen D2 und D4 für die Schizophrenieforschung am wichtigsten sind) besser verstehen und setzte sie in Verbindung mit der unterschiedlichen Wirkungsweise der Antipsychotica. So stellte sich heraus, daß Chlorpromazin sowie die anderen antipsychotischen Substanzen aus der Klasse der Phenothiazine sehr wirksam an D1- wie auch an D2-Rezeptoren binden; Haloperidol sowie die anderen antipsychotischen Sub-

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Abb. C 21: Die Wirkung eines Neuroleptikums (Chlorpromazin) an den Dopaminsynapsen

stanzen aus der Klasse der Butyrophenone binden hingegen sehr stark an D2Rezeptoren, nicht aber an D1-Rezeptoren. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 513– 514; robert m. julien: Drogen und Psychopharmaka, 297.) Die Strukturformeln eines Phenothiazinderivats (Chlorpromazin) und eines Butyrophenonderivats (Haloperidol) sind in Abb. C 22 angegeben. Damit legte sich die These nahe, daß «Schizophrenie durch eine Überaktivität speziell an den D2-Rezeptoren verursacht wird und nicht an Dopaminrezeptoren allgemein». (john p. j. pinel: Biopsychologie, 514) Insbesondere konnte der uns schon bekannte solomon h. snyder nachweisen, daß die Bindungsstärke der Neuroleptika an die D2-Rezeptoren direkt mit einer Reduktion der schizophrenen Symptomatik korreliert. (Vgl. Neuroleptic drugs and neurotransmitter receptors, in: Journal of Clinical and Experimental Psychiatry, 133/1978, 21– 31.) «Die D2-Rezeptor-Version der Dopamin-Hypothese ist derzeit die anerkannteste Hypothese zu den neuronalen Grundlagen der Schizophrenie.» (john p. j. pinel: Biopsychologie, 515) Speziell die Wirkung der Neuroleptika auf die «positiven» schizophrenen Symptome (Halluzinationen,

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Abb. C 22: Strukturformeln eines Phenothiazinderivats und eines Butyrophenonderivats

Wahnvorstellungen, Inkohärenz des Denkens) läßt sich anscheinend ganz gut damit begründen, daß diese Auffälligkeiten durch eine neuronale Überaktivität des dopaminergen Systems an den D2-Rezeptoren verursacht werden. Andererseits kann auch diese modifizierte Form der Dopamin-Hypothese (noch) nicht für ausreichend gelten. Insbesondere die sogenannten atypischen Neuroleptika, wie das bereits 1959 synthetisierte Clozapin (Leponex) oder das eben erwähnte Risperidon (Risperdal), deren Strukturformeln in Abb. C 22 angegeben sind, eignen sich für die Behandlung der «negativen» schizophrenen Symptome (Abstumpfung, Sprachlosigkeit u. a.), sie zeigen aber keine hohe Affinität zu den D2-Rezeptoren; statt dessen binden sie an D1- und D4-Rezeptoren sowie an verschiedene Serotoninrezeptoren. (Vgl. john p. pinel: Biopsychologie, 515.) Und jetzt müssen wir uns nur näher anschauen, in welchen Hirnregionen die D2- und D4-Rezeptoren verteilt sind (vgl. Abb. A 9 und B 75; zur Physiologie und Pathophysiologie der dopaminergen Neuronensysteme vgl. auch die Ta-

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belle bei martin lambert: Pharmakotherapie, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 44), und wir verstehen die Wirkungen und Nebenwirkungen der Neuroleptika ganz gut, – so wie wir umgekehrt eine Überaktivität gerade dieser Regionen mit speziellen Symptomen der Schizophrenie korrelieren können: D2- und D4-Rezeptoren finden sich 1) in mesolimbischen Arealen (Nucleus accumbens, Amygdala und Hippocampus) sowie in Regionen der vorderen Großhirnrinde (vgl. Abb. A 9; B 75; B 76) – speziell die Blockade der Rezeptoren in diesen Bereichen macht vermutlich die therapeutische (dämpfende) Wirkung der Neuroleptika aus; 2) in den Basalganglien des extrapyramidalen Systems (Nucleus caudatus und Putámen, vgl. Abb. A 10) – die Blockade dieser Rezeptoren führt zu motorischen Funktionsstörungen als Nebenwirkungen der Neuroleptika; 3) in der hypothalamisch-hypophysären Achse (vgl. Abb. B 112; B 117; B 120) – die Blockade dieser Rezeptoren bewirkt entsprechende hormonelle Veränderungen bei Verabreichung von Neuroleptika; 4) in bestimmten Zentren des Hirnstamms, vor allem der Medulla oblongata – die Blockade der Rezeptoren hier führt zu einer Hemmung des Brechreizes bei Neuroleptika-Medikation (vgl. in Abb. A 16 die Area postrema – lat.: das allerhinterste Feld, das als «Brechzentrum» gilt). (Vgl. robert m. julien: Drogen und Psychopharmaka, 297; zur Entwicklung, Anwendung und Wirkung – sowie Nebenwirkung – von Psychopharmaka in der Schizophrenie-Behandlung vgl. auch nancy andreasen: Brave new Brain, 256 –260; heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 364– 376.) Bei all dem sollten wir bedenken, daß Streß generell die dopaminergen Bahnen zum präfrontalen Cortex aktiviert; es könnte daher durchaus sein, daß es insbesondere der Einfluß von Streß ist, der zu jener abnormalen strukturellen Entwicklung des präfrontalen Cortex führt, die bei manchen Schizophrenen zu beobachten ist, und daß eben deshalb die Reaktionen auf Streßfaktoren bei solchen Menschen übertrieben stark ausfallen; george e. jaskiw und daniel r. weinberger (Dopamine and schizophrenia – a cortically corrective perspective, in: The Neurosciences, 4/1992, 179 –188) jedenfalls halten es für möglich, daß akuter Streß einen wichtigen Auslöser schizophrener Symptome darstellt. (Vgl. max birchwood – chris jackson: Schizophrenie, 63 –82: Vulnerabilitäts-Stress-Modelle; john p. j. pinel: Biopsychologie, 515; heinz häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 249 –254; 164–165.) Und was ist es nun mit der alten psychoanalytischen Vorstellung, eine Psychose – wie die Schizophrenie – ersetze die Wirklichkeit durch eine traumartige Gegenwelt? Nach allem, was wir von der Neurologie gerade lernen, darf uns

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diese Auffassung für eine bündige Beschreibung und Zusammenfassung schizophrenen Erlebens gelten, vorausgesetzt, wir verstehen unter «Traum» nicht bloß eine phantastische «Wunscherfüllung»; sprechen müssen wir allerdings (noch einmal) von dem Unterschied zwischen den zwei Arten der Informationsverarbeitung, die für Traum- und Wachbewußtsein charakteristisch sind: von dem schnellen, unbewußten («analogen») Modus und dem langsamen, bewußten («kognitiven») Modus. (Vgl. Bd. I 685 –688.) Wie patricia s. goldman-rakic in den 90er Jahren bei Versuchen an Makaken herausfand, sind die Tiere zur Lösung relativ einfacher Aufgaben (zum Beispiel im «Test mit verzögerter Antwort», in dem die Tiere erst mit einer Verspätung von 10 Sekunden Futter ergreifen dürfen, das vor ihren Augen unter einem von zwei Deckeln versteckt worden ist) nicht imstande, wenn man – mit Hilfe eines Nervengiftes – verhindert, daß die Nervenfasern aus der Area tegmentalis ventralis (VTA, dem Ventralen Tegmentalen Areal, dem unteren Bereich der «Haube» des Mittelhirns, vgl. Bd. I 75 –76) ihr Dopamin an die Zielzellen des präfrontalen Cortex abgeben; derselbe Effekt tritt ein, wenn man die D1Rezeptoren der Hirnrinde blockiert. Der Grund liegt darin, daß der präfrontale Cortex, nachdem der Dopamineinfluß unterbunden wird, die Aktivitäten der subcorticalen Regionen, mit denen er in Verbindung steht (Amygdala, Hippocampus, Septum und Nucleus accumbens), nicht mehr koordinieren kann; das heißt, es ist dem Stirnhirn nicht mehr möglich, die eingehenden Informationen über mehr als einige Hundertstelsekunden zeitlich zu integrieren, um die eingegangenen Sinnesreize zu analysieren und einzuordnen, mithin in das bewußte kognitive System zu überführen und sie mit den früher gespeicherten Erfahrungen zu vergleichen; der eingehende Input wird nur noch in dem schnellen, unbewußten, analogen Modus verarbeitet, wie wir ihn bei den rein assoziativen Lernvorgängen (auf der untersten Ebene bereits bei Aplysia) kennengelernt haben: – bei dieser Verarbeitungsform entsteht ein Gedächtnis, das hilft, einen bestimmten Reiz (einen Ton, eine Farbe, einen Geruch etc.) augenblicklich wiederzuerkennen, doch das es nicht ermöglicht, die eingehende Information aus dem unmittelbaren Kontext zu lösen. Ein ähnlicher Effekt läßt sich umgekehrt auch erzielen, indem man – zum Beispiel mit Hilfe von Aufputschmitteln wie Amphetamin – die Wirkung von Dopamin in den subcorticalen Strukturen des Gehirns verstärkt (vgl. Bd. I 533); auch dann kommt es, wie wir gesehen haben (vgl. Bd. I 526; 528), zu wahnähnlichen Bewußtseinszuständen und unkontrollierbaren Verhaltensweisen, weil die Steuerfunktion des präfrontalen Cortex nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. (Vgl. jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 76 –78.)

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Erinnern müssen wir uns ferner, daß neben dem Dopamin auch Noradrenalin die kognitive Leistungsfähigkeit entscheidend mitbeeinflußt, und zwar in einer Weise, die der Rolle dieses Neuromodulators namentlich bei der Verarbeitung von Streß entspricht: Die noradrenergen Fasern, die vom Locus coeruleus ausgehen, reagieren «besonders empfindlich auf jede Neuigkeit in der Sinnesumwelt (sc. vgl. Bd. I 84– 85, d. V.), verlieren aber ‹ihr Interesse›, wenn ein Ereignis mehrmals auftritt oder antizipiert wird. Wenn es darum geht, äußere Ereignisse zu verarbeiten, kommt von allen Neuromodulatoren zweifellos als erstes Noradrenalin zum Einsatz.» (jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 79) Und nun ist es charakteristisch für das Zusammenspiel der beiden Neurotransmitter DA und NA, daß bei Versuchen mit Nagetieren, deren dopaminerges System man vorsätzlich geschädigt hatte, eine zusätzliche Blockade der NANeuronen – näherhin eines speziellen Typs der Alpha-1-Rezeptoren, der sogenannten Alpha-1b-Rezeptoren – die Störungen keineswegs verstärkte, sondern in gewissem Sinne sogar wieder normalisierte. (Vgl. jean-pol tassin: A. a. O., 79.) Für die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie dürfte sich daraus eine wichtige Folgerung ergeben; sie lautet: «Dopaminmangel hat in Abwesenheit von Noradrenalin kaum Folgen; es ist das Noradrenalin, welches das Gleichgewicht zwischen den Hirnregionen verschiebt und das gestörte Verhalten auslöst.» (jean-pol tassin: A. a. O., 79) Dieses Resultat wird bestätigt durch Versuche mit Mäusen, deren Alpha-1bRezeptoren entweder blockiert oder durch Genmanipulation nicht ausgebildet waren: Opiate und Aufputschmittel führten bei ihnen weder zu unkontrolliertem Bewegungsdrang noch zu Suchtverhalten. «Offenbar ebnet das Noradrenalinsignal, das im Cortex über die alpha 1b-Rezeptoren eingeht, den Weg dafür, dass Dopamin tiefere Strukturen aktivieren kann. Anders gesagt: Noradrenalin verschiebt das Kräftegleichgewicht von der Rinde zu den subcorticalen Regionen. – Die alpha 1b-Rezeptoren sorgen vermutlich in der präfrontalen Hirnrinde . . . für eine Art Kopplung zwischen den dorthin ziehenden noradrenergen und subcorticalen dopaminergen Bahnen. Tatsächlich besitzen die . . . Pyramidenzellen des Cortex neben D1- auch alpha 1b-Rezeptoren. Werden Letztere durch Noradrenalin aktiviert, kann Dopamin seine Wirkung nicht mehr über den D1-Typ entfalten. Wenn also in der präfrontalen Hirnrinde durch ein Ereignis in der Umgebung plötzlich Noradrenalin ausgeschüttet wird, kann dies das Arbeitsgedächtnis abschalten und gleichzeitig ein neues Gleichgewicht zu Gunsten subcorticaler Strukturen herstellen.» (jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 79)

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Von daher verstehen wir jetzt weit besser, wieso akuter Streß als Auslöser schizophrener Symptome in Frage kommt. Wir brauchen nur uns selbst daran zu erinnern, wie konfus, übererregt, unkoordiniert und planlos wir in Augenblicken plötzlicher Angst oder plötzlichen Ärgers zu agieren pflegen; dann müssen wir uns lediglich noch vorstellen, daß Angst und Ärger im Leben vieler Menschen nicht immer mal wieder, vorübergehend, «akut» auftreten, sondern ihre ganze Biographie von klein auf durchziehen und bestimmen, und es wird der Gedanke sich uns von alleine nahelegen, daß die Hirnstrukturen und -funktionen eines Tages just das Bild aufweisen, das sich neurologisch als Realisation eines schizophrenen Bewußtseinszustandes zu erkennen gibt. Vor allem die von der Psychoanalyse so stark betonte Macht unbewußter Angsterlebnisse kommt nun vollauf zum Tragen; denn generell müssen wir jetzt feststellen, daß die D1-Rezeptoren die Abläufe im präfrontalen Cortex auf «bewußt» schalten, die Alpha-1b-Rezeptoren aber auf unbewußt: der NA-Ausstoß in Streß-Situationen sorgt daher wie von selbst für ein Umschalten auf den unbewußten (schnellen, analogen) Verarbeitungsmodus; er unterbricht mithin den bewußten (langsamen, kognitiven) Integrationsprozeß zugunsten eines geistigen Notprogramms (wie wir in Anlehnung an cannons «Notfallreaktion» sagen können) und führt des weiteren dahin, daß die entsprechenden Erfahrungen im Unbewußten abgelegt werden. Auch für die Gedächtnisbildung kommt es nämlich entscheidend «darauf an, über welche Schiene ein Sinnesreiz beim ersten Mal verarbeitet . . . wird, denn alle späteren identischen Erfahrungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit denselben Weg nehmen. Eine analog gespeicherte Wahrnehmung wird also auch beim erneuten Auftreten in diesem Modus verarbeitet – was ihren unbewussten Charakter festschreibt.» (jeanpol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 80) Können wir uns da noch wundern, daß schizophrene Patienten kaum zu sagen wissen, warum ihnen die Welt so unheimlich und fremd erscheint und warum sie sich selbst als heimgesucht von «unheimlichen» Botschaften, Aufträgen und Szenarien erleben? Doch nicht nur die psychodynamische (bzw. psychogenetische) Seite einer schizophrenen (oder manisch-depressiven) Psychose, auch die neurologischen und pharmakologischen Zusammenhänge begreifen wir damit nunmehr besser als mit der bloßen Dopaminhypothese. «Bei einem Psychotiker wird wahrscheinlich immer wieder auf hartnäckige Weise der bewusste Verarbeitungsmodus unterbrochen», schreibt jean-pol tassin, indem «die analogen, schnellen Verarbeitungsprozesse die Oberhand» gewinnen, «verursacht insbesondere durch eine übermäßige Stimulation von alpha 1b-Rezeptoren in der Hirnrin-

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de . . . Diese Störung dürfte auf einer Fehlregulation der Noradrenalin-Neuronen beruhen, die den präfrontalen Cortex innervieren.» (jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 80) Ganz entsprechend erklärt sich zudem die unterschiedliche Wirkungsweise der Psychopharmaka: Haloperidol oder Chlorpromazin blokkieren, wie wir gerade hörten, die D2-Rezeptoren und verhindern damit ein Überschießen des Dopamin-Systems; Clozapin oder Risperidon (Risperdal) indessen beeinflussen die D2-Rezeptoren nur wenig; dafür aber blockieren sie die Serotoninrezeptoren (vom Typ 5-HT2A); wohl noch wichtiger als dies ist jedoch die Tatsache, daß diese «atypischen Neuroleptika» «hervorragend die alpha 1b-Rezeptoren» lahmlegen. Insbesondere diese «Eigenschaft könnte zu ihrer therapeutischen Wirkung beitragen.» (jean-pol tassin: A. a. O., 80) Ein Hauptvorteil dieser Stoffe liegt nicht zuletzt darin, daß sie bereits vor der dopaminergen Signalübertragung in den subcorticalen Gebieten zu greifen beginnen und deshalb nicht die Nebenwirkungen der «typischen» Neuroleptika aufweisen, die durch die Blockade der D2-Rezeptoren zu Muskelsteifheit u.ä. führen. «Zusammenfassend könnte man sagen: Indem die neueren Antipsychotika eine mäßige Aktivierung der alpha 1b-Rezeptoren in der Hirnrinde der Patienten verhindern, begünstigen sie dort die Signalübertragung über die Dopamin-Rezeptoren vom D1-Typ. Auf diese Weise könnten sie dem Arbeitsgedächtnis und damit dem bewussten kognitiven Modus ermöglichen, ohne Störeinflüsse oder unerwünschte Unterbrechungen zu funktionieren.» (jeanpol tassin: A. a. O., 80) Das Gegenteil einer bewußten Informationsverarbeitung nun sollten wir für Schlaf und Traum annehmen. Damit wir überhaupt schlafen können, müssen die noradrenergen und serotonergen Neuronen im Locus coeruleus und in den dorsalen Raphe-Kernen ihre Aktivität immer weiter verringern, so daß im Schlaf, wie wir früher schon ausführlich geschildert haben, die cholinergen (nicht-modulatorisch wirkenden) REM-On-Zellen in Aktion treten (vgl. Bd. I 349 –351); auch diejenigen Dopamin-Zellen, die zur Hirnrinde projizieren, scheinen zu verstummen, – aktiv bleiben nur noch die dopaminergen Neuronen, welche die tiefer gelegenen Hirnareale innervieren. Da die Hirnrinde unter diesen Umständen nicht mehr von den modulatorischen (monoaminergen) Nervenzellen kontrolliert wird, entgleitet dem präfrontalen Cortex die Koordination der Informationen, die jetzt nicht mehr aus dem Thalamus kommen, sondern durch die spontane Aktivität der REM-On-Neuronen ersetzt werden. Im Schlaf ist das Gehirn daher prinzipiell nur zu einer analogen, schnellen Informationsverarbeitung imstande, deren wir uns «eigentlich» auch nicht be-

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wußt werden können. Daß wir gleichwohl träumen, also unbewußte Hirnaktivitäten bewußt zu erleben vermögen, dürfte daran liegen, daß die modulatorischen Nervenzellen wenige Sekunden vor dem Aufwachen wieder aktiv werden und ihre Monoamine ausschütten; entweder kommt es dann zu einem kurzen Aufwachen für einige Sekunden, oder es wird endgültig das Ende des Schlafes vorbereitet. Dadurch werden die analogen Verarbeitungsprozesse unterbrochen und auf den bewußten Modus umgeschaltet, – wohlgemerkt ohne daß wir diesen Wechsel von unbewußten zu bewußten Vorstellungsinhalten, wie im Wachzustand, selber zu steuern imstande wären. Erstaunt, entsetzt, verwirrt oder amüsiert erleben wir dann für einen Augenblick, daß wir soeben geträumt haben. (Vgl. jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 81.) Mit dieser Betrachtung ändert (bzw. konkretisiert) sich ein Stück weit die Auffassung, die wir uns früher bereits von den Vorgängen in Schlaf und Traum gemacht haben. Schon damals wurden wir mißtrauisch gegenüber der Annahme, es seien just die REM-Phasen, die sich mit den eigentlichen Traumphasen identifizieren ließen; jetzt müssen wir konsequenterweise davon ausgehen, daß es ein Träumen (ein Bewußtwerden des Unbewußten) gerade nicht in den REM-Phasen (mit ihren verstummten modulatorischen Nervenzellen) gibt, sondern nur in den flüchtigen Momenten kurz vor dem Aufwachen. Da indessen die Vorgänge, die zur Unterbrechung beziehungsweise zur Aufhebung der bewußten (kognitiven) Verarbeitungsvorgänge im präfrontalen Cortex führen, grundsätzlich die gleichen sind wie diejenigen, die eine Psychose einleiten – in beiden Fällen verliert der präfrontale Cortex seine Koordinationsfunktion –, so können wir nunmehr sigmund freuds Ansatz die Berechtigung nicht absprechen, es sei die Schizophrenie eine Art Träumen am hellichten Tage. Nur die Weise dieses «Träumens» müssen wir vor dem Hintergrund eines ständigen unbewußten Angsterlebens (begleitet von einem weitgehenden Realitäts- und Ich-Verlust) noch ein Stück weit präzisieren, indem wir den Bewußtseinszustand eines schizophren Leidenden betrachten als einen nicht enden wollenden Albtraum, der ein ruhiges «Einschlafen» ebenso verhindert wie ein wirkliches «Erwachen». Denn die Angst vor der sogenannten Realität, die vom Ich des Patienten nicht zu verstehen, nicht zu gestalten, nicht zu akzeptieren, aber auch nicht zu verändern oder zu verhindern ist, erzwingt die Permanenz eines Zwischenzustandes im Übergang von Unbewußtem und Bewußtsein, von Traum und Tag, von Innen und Außen, von Nicht-Ich und Ich, ohne klare Abgrenzungen, ohne eindeutige Wahrnehmungen, ohne ruhige Gewißheiten – ohne Vertrauen: weder in die Welt, in die Menschen, noch in die eigene Person; ein

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zerfallendes Dasein, dessen bedrohte Reste sich nur wie aus Trümmern mühsam für kurze Augenblicke hervorsuchen lassen. Medikamente mögen dabei helfen, dem Ich eine gewisse Kompetenz bei der Koordination seiner geistigen Aktivitäten zurückzugeben, – das Seßhaftwerden, das Heimischwerden aber kann es nur lernen in einer Umgebung, die es spürbar besser mit ihm meint als jene, der es gerade eben noch mit äußerster Mühe und Qual zu entrinnen vermochte.

δ) Der ganz alltägliche Wahnsinn oder: Die Schizophrenie der Gesellschaft Damit schließt sich erneut der Kreis zwischen Angst (Streß) und seelischer Erkrankung, und wir erinnern uns: Als wir von den Grundformen der Angst im Leben bereits der Tiere sprachen und dabei über die Angst vor dem Beutegreifer nachdachten, nannten wir dieses «Wildheitsmerkmal» ständiger Feindgewärtigung einen «paranoischen» Zug des Verhaltens, der von der Kultur nicht wirklich aufgelöst, sondern nur an die Peripherie des Sozialgefüges verlagert und dort in einer durchaus wahnsinnig zu nennenden Weise akkumuliert werde (vgl. Bd. I 632– 634): – wir nahmen als Beispiel schon damals das Militär mit seiner sich ständig weiterdrehenden Spirale von Rüstung und militärisch gedrillter Tötungsbereitschaft. «Schizophrenie», schreibt arno gruen (geb. 1923), «ist das Ringen mit einem viel folgenreicheren Wahnsinn, nämlich mit dem Wahnsinn, der als Normalität erscheint . . . – Das Widersprüchliche der heutigen Psychotherapie liegt darin, daß vor allem solche Menschen als krank klassifiziert werden, die an sich nichts anderes suchen, als die Verbindung zu ihrer eigenen Gefühlswelt zu erhalten, und nicht jene, die versuchen, sich dieser Verbindung zu entledigen.» (arno gruen: Der Wahnsinn der Normalität, 24) «Seine (sc. eines Schizophrenen, d.V.) Gefühle und sein Denken sind gespalten, weil anders zu sein für ihn bedeuten würde, sich dem zu unterwerfen, was er als unmenschlich empfindet: Haß, Unterdrückung und Kontrolle, die als Liebe ausgegeben werden.» (arno gruen: A. a. O., 25) Wie, lautet so gesehen die Frage, soll man in einer Welt nicht irre werden, in welcher der Tod ein Jäger ist und innerhalb deren es eine unverzeihliche Schwäche darstellt, gegenüber seinem Gegner Mitgefühl, gar Mitleid zu empfinden? Wie soll man in einer menschlichen Gemeinschaft nicht wahnsinnig werden, die zu ihrer «Verteidigung» berufsmäßige Tötungsspezialisten heranzieht, die ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihr Selbst preiszugeben haben, um als Inhalt ihres Willens nur noch den Befehl ihres Kommandanten gelten zu lassen? Wie soll

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man in einer Gesellschaft nicht emotional abstumpfen, in der unter dem steten Konkurrenzdruck wechselseitiger Vernichtung das Prinzip der Leistungssteigerung sich rücksichtslos auf Kosten jeder persönlichen Entfaltung durchsetzt? Und wie soll man in einem System der unerklärten wie erklärten Kriege nicht paranoid werden, in dem alles mit einem undurchschaubaren Netz aus Lügen, Tricks und Halbwahrheiten getarnt ist? Gehört es, so besehen, nicht zur Grundeinrichtung der Natur, wenn der Verfolgungswahn sich in den Köpfen intelligent gewordener Säugetiere seiner selbst bewußt wird? Die Schizophrenie des Einzelnen und der Allgemeinheit nannte der finnische Autor martti siirala (geb. 1922) schon im Jahre 1961 seine Studie zu dem Ineinandergreifen von Kollektivem und Individuellem in den «Symptomen» eines psychiatrisch Kranken. «Viel von dem, was üblicherweise unter uns über die Geisteskrankheit, über den Geisteskranken mit wissenschaftlichem Anspruch geredet oder geschrieben wird, stammt oft eigentlich aus einer merkwürdig ‹entmenschlichten› Grundsituation», schrieb siirala, «oft auch dort, wo alles dem Anschein nach in den medizinischen und psychologischen Behandlungen, wie auch in der sozialen Fürsorgetätigkeit, sehr menschlich vor sich geht.» (martti siirala: A. a. O., 88) Und generell bemerkte er: «Kranksein und Genesungsweg des betroffenen Kindes (sind) unabtrennbar mit seiner Situation innerhalb der Familie, innerhalb seiner Kindersozietät und innerhalb der Stellung seiner Familie in ihrer Gesellschaft verbunden.» (martti siirala: A. a. O., 79) Mit anderen Worten: es ist gar nicht anders möglich, als eine seelische Erkrankung als eine «biopsychosoziale» Gegebenheit zu betrachten. Die seelische Erkrankung eines Einzelnen enthält nicht selten in sich selbst bereits deutliche Hinweise auf die kranke Seele der Gesellschaft. So viel jedenfalls zeichnet sich hier bereits ab: Um eine Schizophrenie zu therapieren, bedarf es einer Zuwendung, die stark genug ist, das permanente Gefühl der Bedrohung inmitten einer Welt, der am Erhalt des Individuums erkennbar nicht gelegen ist, zu widerlegen und in Vertrauen umzuformen. «Ist das Fühlen und Denken, wenn auch unbewußt, ganz auf Manipulation gerichtet», fährt gruen (Der Wahnsinn der Normalität, 177) fort, «so wird sich ein Mensch immer von Feinden umgeben fühlen. Er konstruiert sich eine Realität, die dem inneren Hexenkessel von Haß und Rachsucht entspricht. Das Unbewußte dieser Menschen besteht nicht, wie Freud meinte, aus unterdrückten sexuellen Bedürfnissen, sondern aus Selbsthaß, der aus dem Verlust der Autonomie herrührt . . . Wenn der Selbstverrat so stark ist wie beim Psychopathen, ist das Unbewußte gekennzeichnet von Chaos, äußerster Rachsucht und Mordlust.» gruen stellt daher den «Schizophrenen» dem «Psychopathen» ge-

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genüber und kennzeichnet diesen Kontrast wie folgt: «Die beiden Extreme psychischer Störungen, die ich im Psychopathen einerseits und im Schizophrenen andererseits sehe, spiegeln unterschiedliche Aspekte unserer Realität. Der Schizophrene parodiert durch sein Übermaß an Leid und Hilflosigkeit die innere Welt des Fühlens, während der Psychopath durch sein Verhalten die Regeln unserer äußeren Realität parodiert. Der Psychopath nagelt uns sozusagen auf diese äußere Realität fest, so daß die innere nicht zu existieren scheint. – Der Schizophrene versucht, unser Mitgefühl zu gewinnen, doch er weist es zurück, wenn wir es ihm anbieten, weil ihm an dem Beweis liegt, daß alle heucheln. Der Psychopath spielt mit unseren Erwartungen an Erfolg und Sicherheit, die er, hat er sie erzeugt, gleich wieder enttäuscht. Der Schizophrene macht sich selbst zum Objekt unserer schlimmsten Erwartungen, macht sich damit zum Opfer und besteht obendrein darauf, daß es seine eigene Verantwortung sei. Der Psychopath dagegen entzieht sich jeder Verantwortung, indem er uns verwirrt, und spekuliert auf Mitleid.» (arno gruen: A. a. O., 178) In der modernen Literatur ist der Begriff «Psychopath» (weil einseitig auf die Schädigung der Mitmenschen festgelegt und im alltäglichen Sprachgebrauch zu einem Schimpfwort verkommen) unüblich geworden; doch was damit gemeint ist und sogar recht treffend ausgedrückt war, entsteht nicht mit einem Wort und vergeht nicht mit einem Wort. Psychopathen, meinte kurt schneider (1887– 1967; Klinische Psychopathologie, 17) in seiner berühmt gewordenen Definition, seien Menschen, «die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet». Das freilich trifft auf schizophrene Persönlichkeiten auch zu. Der Unterschied liegt – nach arno gruen – allerdings darin, daß der Psychopath zum Opfer unserer «normalen» äußeren (sozialen) Realität wird, wohingegen der Schizophrene sich gegen die innere (psychische) Realität seiner Umgebung zur Wehr setzt. Als den eigentlichen Entstehungsherd der Schizophrenie (der Spaltung der Seele) betrachtet arno gruen (in Übereinstimmung mit den aufgeführten Erklärungsmustern der Psychoanalyse) das Gefühl eines Kindes, «in seinem Selbst nicht wirklich angenommen zu werden, nicht anerkannt zu werden. Sich selbst angenommen zu fühlen durch die Liebe eines anderen ist eine Grundbedingung des menschlichen Wachsens», schreibt er (Der Wahnsinn der Normalität, 17). Ist diese «Grundbedingung» nicht erfüllt, so beginnt das Kind, sich selbst zu hassen und zu verachten; doch diese Selbstverachtung darf nicht gefühlt werden, – sie wäre unerträglich; sie muß daher verdrängt und verleugnet werden; das Kind sinkt in ein unentrinnbares Machtspiel hinein, das lautet: «Ich werde so, wie du mich haben willst, damit du für mich sorgst. Meine Un-

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terwerfung ist von nun an meine Macht über dich, mit der ich deine Fürsorge erzwinge.» (arno gruen: A. a. O., 15–16) Gleichzeitig beginnt das innere Bündnis mit eben jener Macht, die den Selbstverrat erzwingt. «Der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis, vor sich selbst das Gesicht zu wahren, und der Bereitschaft, sich durch Unterwerfung mit der Macht zu verbünden, ist deshalb die grundlegendste und vielleicht erste Spaltung in der menschlichen Seele. Sie ist nicht eine bloße Verdrängung, sondern eine radikale Abspaltung, die Abspaltung vom Wissen um das preisgegebene Selbst und den daraus resultierenden Selbsthaß. Dies wird zum Grundprinzip eines ganzen Lebens. Diese Spaltung ist eingebettet und wird aufrechterhalten von einer gesellschaftlichen Ideologie, die Gehorsam mit Verantwortung gleichsetzt: Gehorsam sein heißt gut sein, und gut sein heißt verantwortungsvoll sein. Frei sein dagegen ist ungehorsam, und wer ungehorsam ist, fordert Mißfallen heraus und droht den Schutz der Mächtigen beziehungsweise die Chance der Teilhabe an ihrer Macht zu verlieren.» (arno gruen: A. a. O., 17) Aus dieser Urentfremdung und Urspaltung entsteht nach gruen die Bereitschaft, sich den pathogenen Strukturen der Gesellschaft zu unterwerfen, die ihrerseits in eben diesen Prozessen der Entfremdung und Abspaltung gründen. «Wenn Schmerz, Kummer, Hilflosigkeit verleugnet werden, weil sie als Schwäche gelten, etwa als unmännlicher Ausdruck weiblicher Gefühlsduselei, als unangemessen im Sinn männlicher Stärke (was auch für Frauen gilt, die nach männlichen Mustern Stärke für sich in Anspruch nehmen), dann wird die innere Welt ausgeschaltet und vom Getriebe des alltäglichen Lebens abgekapselt.» (arno gruen: Der Wahnsinn der Normalität, 22) Von diesem Augenblick an bestehen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Der Schizophrene verbleibt in seiner Innenwelt, weil er die Heuchelei der «realen» Welt nicht ertragen kann. «Er spaltet die Außenwelt ab, um mit der eigenen Gefühlswelt in Verbindung zu bleiben und mit den Möglichkeiten der Autonomie, die seine eigene Innenwelt für ihn hat.» (arno gruen: A. a. O., 23) Die «psychopathische» Variante indessen besteht darin, das Fehlen eines echten Selbst als Normalität zu kaschieren und sich mit der äußeren Welt einverstanden zu erklären. Der Preis dieser Flucht vor dem inneren Chaos in äußere Zwecksetzungen und Zwänge ist der Verlust eigener Gefühle. «Für jene, die in das Erscheinungsbild ‹normalen› Verhaltens hineinschlüpfen, weil sie die Spannung der Widersprüche zwischen der uns auferlegten Realität und ihrer inneren Welt nicht ertragen, für solche Menschen», schreibt gruen, «gibt es bald keine wirklichen Gefühle mehr. Statt dessen gehen sie mit Ideen von Gefühlen um, haben keine Erfahrung mehr mit ihnen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und

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sagen sich von ihren wahren Gefühlen los. Je ‹gesünder› das Image ihrer Identität, das sie angenommen haben, desto erfolgreicher werden sie diese Manipulation vollziehen können . . . – Sie bringen uns alle in Gefahr, weil sie dem Chaos, der Wut und der Leere, die in ihnen ist, nicht ins Gesicht sehen können. Während der Schizophrene in einer von ihm als widersprüchlich und quälend böse erlebten Welt den zentralen Gefühlskern aufrechterhält, daß wirkliche Liebe Gültigkeit hat, ist bei denen, die den Wahnsinn überspielen, die Jagd nach Macht der einzige Weg, das bedrängende innere Chaos und die innere Zerstörung abzuwehren. Um die Leere nicht als die eigene innere Leere anerkennen zu müssen, schaffen sie Zerstörung und Leere um sich herum.» (arno gruen: A. a. O., 25– 26) Um sich von der Richtigkeit dieser Analyse zu überzeugen, braucht man sich nur die Ausbildungsmethoden im American Marine Corps anzusehen – stanley kubrick (1928 –1999) hat sie in seinem Film Full Metal Jacket aus dem Jahre 1987 in nahezu dokumentarischer Treue abgebildet; man wird dann rasch begreifen, wie zielgerecht hier ein Selbsthaß herangezüchtet wird, der die systematische Selbstaushöhlung kompensieren muß allein durch den «Stolz», in der Uniform einer Eliteeinheit der US-Army ein «Killer» zu sein – ein Mörder ohne Gefühl und Gewissen, ein Rädchen im Getriebe des Todes, eine Marionette, die mit leuchtenden Augen sich begeistert zeigen wird über ihre Erfolgsstatistik beim body counting (engl.: beim Leichenzählen) –, wie zum Beispiel anläßlich des ersten Abwurfs einer Atombombe am 6. August 1945 über Hiroshima: an diesem Tage fühlte Major paul tibbetts, der Mann, der gerade 100 000 Menschen getötet hatte, sich als «Held» (vgl. robert jungk: Heller als tausend Sonnen, 234), ähnlich wie sein Präsident harry s. truman (1884 – 1972, Präsident 1945 –1953), der den Befehl dazu gegeben hatte und nun davon sprach, er sei «in seinem ganzen Leben niemals so glücklich über eine Erklärung gewesen . . ., die er abzugeben hatte»; erst als truman bedeutet wurde, wie seine Reaktion auf die Öffentlichkeit wirken würde, ließ er mitteilen, «daß kein Präsident der Vereinigten Staaten jemals über einen Sprengkörper in Jubel ausbrechen würde, der unschuldige Menschen tötet». (gar alperovitz: Hiroshima, 557) Oder man denke an die Drohungen aus der Zeit des Kalten Krieges zurück, als man 20jährige dazu heranzog, mit der atomaren Vernichtung von Millionenstädten widerspruchslos einverstanden zu sein! (Vgl. arno gruen: Der Wahnsinn der Normalität, 83– 87: Die versachlichte Gewalt.) «Kriege werden ‹notwendig› », schreibt gruen, «wo Menschen die Fähigkeit verloren haben, Menschen als menschliche Wesen zu sehen.» (A. a. O., 113) Doch eben deswegen besteht die gesamte Kriegspropaganda ebenso wie das militärische

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Training darin, den jeweiligen «Gegner» als «Ungeziefer», als Un-Menschen, als Gegen-Menschen außerhalb aller Menschlichkeit darzustellen, um möglichst unmenschlich mit ihm verfahren zu können; auf dem Wege dahin braucht es notwendig zerstörter Menschen, die ihre eigene Destruktivität emotionslos nach außen tragen wollen und sollen. (Vgl. e. drewermann: Die Spirale der Angst, 65–74.) Um zwischen denen zu unterscheiden, die wahnsinnig machen, weil sie wahnsinnig sind (den «Psychopathen»), und denen, die wahnsinnig sind, um nicht wahnsinnig zu machen (den «Schizophrenen»), ist es nützlich, die vorhin entfaltete Narzißmustheorie zur Entstehung einer Borderline-Persönlichkeit oder einer Psychose noch ein Stück weit im Umgang mit den «Wahnsinnigen» der «Realität» beziehungsweise der «Normalität» zu vertiefen. In ihrer damals vielbeachteten Studie Die Unfähigkeit zu trauern aus dem Jahre 1967 vertraten alexander und margarete mitscherlich die These, daß in der Zeit des Dritten Reiches viele Deutsche auf Grund einer narzißtischen Objektwahl sich mit hitler identifiziert und die Gestalt des «Führers» internalisiert hätten. «Diese These», wendet arno gruen dagegen sehr zu Recht ein, «zeigt . . . beispielhaft, wie abstrakte (psychologische) Ideen die Sicht auf das, was tatsächlich vorgeht, verstellen. Wenn man a priori (sc. lat.: von vornherein, d.V.) von Narzißmus ausgeht, übersieht man, daß diese Patienten an einer viel grundlegenderen Krankheit litten: Ihre Entwicklung basierte auf jener Art von Identifikation, die innere Authentizität nicht zuließ . . . die Betonung der ‹Objektwahl› verfehlt die Tatsache, daß eine solche Wahl im Dienst einer Vermeidung steht, nämlich der Vermeidung des Selbst. Das verlorene Objekt (Hitler) war nur das Mittel gewesen, kein eigenes Selbst haben zu müssen.» (arno gruen: Der Wahnsinn der Normalität, 66) Wohlgemerkt richtet sich diese Kritik nicht an die Beschreibung der frühkindlichen Ich-Störungen mit Hilfe des Narzißmuskonzepts, sie betont aber, daß die Identifikation des Ich mit «seinem» «Führer» nicht selbst auf «narzißtischer» Basis erfolgen muß, sondern sich wesentlich aus der Tatsache ergibt, daß ein Selbst überhaupt nicht existiert. Man tauscht sich selbst gegen einen anderen aus, um von der Last der eigenen Existenz befreit zu sein, – man flieht aus Angst vor der eigenen Freiheit in den Selbstverlust, hörten wir bereits sören kierkegaard sagen (vgl. Bd. I 653 –656). Auf diese Weise bewahrt die geborgte Existenz sich vor dem Anblick der inneren Leere, und die Folge dieser Selbsttäuschung ohne Selbst kann zu einer Katastrophe biblischen Ausmaßes geraten: Die ganze Welt muß fortan in das Vakuum des eigenen Unlebens hineingesaugt werden. (Vgl. Mt 16,26.) «Dieser unerkannte Wahnsinn», resümiert gruen,

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«bedroht die Menschheit mehr denn je, denn nie war das zerstörerische Potential in den Händen der Machthungrigen so groß wie heute. Diese Art der Krankheit unterscheidet sich von der des Schizophrenen in einem entscheidenden Punkt: Der Schizophrene befindet sich in einem Kampf mit sich selbst, um mit einer unerträglichen Welt zurechtzukommen, der Wahnsinn der ‹Gesunden› aber ist ein Kampf, in dem andere bezwungen werden müssen, damit sie sich selbst sicher fühlen können.» (arno gruen: Der Wahnsinn der Normalität, 148) Gedanken dieser Art sind alles andere als neu, – lediglich ihre psychologischpsychiatrische Zuspitzung schält sich erst im 19./20. Jh. heraus; doch es lohnt sich, die verschiedenen Begriffe des «Wahns» in der Neuzeit einmal kurz Revue passieren zu lassen. In den Tagen der Renaissance – vor 400 Jahren – galt «Wahnsinn» noch als ein Sammelbegriff für alles «Unvernünftige», Selbstverblendete, Lasterhafte, Verbrecherische, Unheilvolle – ganz «Normale»! «Der Wahn», meinte damals der französische Philosoph blaise pascal (1623 –1662) «ist der ihn beherrschende Teil des Menschen, Herr des Irrtums und des Falschen, und um so arglistiger ist er, weil er es nicht immer ist; denn er wäre untrügliches Kennzeichen der Wahrheit, wenn er das untrügliche Kennzeichen der Lüge sein würde. Aber obgleich er meist falsch ist, gibt es kein Merkmal seines Wesens, da das Wahre und das Falsche gleiches Zeichen tragen. – Ich meine nicht die Narren, von den Klügsten rede ich; grade ihnen verleiht die Kraft des Wahnes die hohe Gabe, Menschen zu überzeugen. Mag sich die Vernunft darüber empören, sie kann nicht den Wert der Dinge bestimmen. – Dieses stolze Vermögen, Feindin der Vernunft, die sich darin gefällt, diese zu leiten und zu beherrschen, hat, um zu beweisen, was sie kann, im Menschen eine zweite Natur aufgebaut. . . Die Geschickten des Wahnes gefallen sich selbst viel besser, als sich die Klugen vernünftigerweise gefallen können. Sie betrachten die Menschen herrisch, sie streiten kühn und zuversichtlich, die andern furchtsam und unsicher; und die Heiterkeit ihrer Miene verschafft ihnen oft genug den Vorteil im Urteil ihrer Zuhörer; so hoch stehen die sich weise Wähnenden in der Gunst gleichgearteter Richter. Der Wahn kann keine Narren zu Weisen machen; aber er macht sie glücklich, was die Vernunft neidet, die ihre Freunde nur elend zu machen vermag, er schenkt den Ruhm, sie die Verachtung. – Wer verfügt über den Ruf, wer verschafft den Menschen, den Werken, den Gesetzen, den Hochgestellten Achtung und Verehrung, wenn nicht diese Zunft der Freunde des Wahns? Alle Reichtümer der Welt sind nichts ohne ihre Bestätigung!» (Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Nr. 82, S. 54 –55) Rund hundert Jahre früher, in der Zeit, da das «Mittelalter» unter den Stößen

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von Humanismus und Reformation zerbarst und in Gestalt der «Neuzeit» wiederauferstand, waren es noch metaphysische, mythische Größen, welche die Wahrnehmung des Wahns als einer allbeherrschenden teuflischen Macht bestimmten. Wie eine solche «Welt» teuflischen Wahnsinns aussehen mochte, hat der niederländische Maler pieter bruegel (um 1525/30 –1569) in seinem Bild Dulle Griet (Die Wütende Margarete) im Jahre 1562/63 darzustellen versucht. (Tafel 3) Seinem 117,4 mal 162 cm großen Ölgemälde, das sich im Museum Mayer van den Bergh in Antwerpen befindet, gab er absichtsvoll jenen Namen, der damals freilich «für jede eigenartige oder besonders streitbare Frau gebraucht werden» konnte (christian vöhringer: Pieter Bruegel, 58); was bruegels «Griet» in ihrer Art indes verkörpert, ist eine «Wirklichkeit», in welcher das «Plündern vor der Hölle» zu einem Universalgesetz erhoben scheint – was nach holländischer Redewendung soviel heißt wie: der eine profitiert vom Untergang des anderen. Eigentlich erinnert bruegels Griet in ihrer Gestalt an eine Marktfrau; doch was von dieser ihrer vormaligen Tätigkeit übrig geblieben ist, bedeutet nichts weiter mehr als Raub, Gewalt und Plünderung. Auf dem Weg ihrer Entwicklung dahin hat sie sich erfolgreich mit Schwert und Brustpanzer bewaffnet. «In ihrer Linken trägt sie zwei volle Körbe, hält mit der geharnischten Hand gleichzeitig ihre gefüllte Schürze hoch und preßt mit dem Oberarm eine kleine Schmuck- oder Geldtruhe an sich.» (A. a. O., 58) Die ganze Kraft ihrer Körperhaltung hat sie in den Ausfall eines Schwertstoßes gegen einen unsichtbaren Gegner gelegt, den sie mit offenem Mund zum Zweikampf herauszufordern scheint. Nicht mit Menschen allerdings hat diese Personifikation der Raffgier es weiter noch zu tun; ihr wirkliches Gegenüber ist der fischartige Höllenschlund, der seinen Rachen bereits weit aufgesperrt hat und dessen Haupt sich aus dem morastigen Graben einer Burgruine erhebt. In und vor seinem Maule tummeln sich vertierte Menschenwesen und teuflische Ungeheuer, die, wie die gesamte Weltsicht dieses Gemäldes, offensichtlich der unerschöpflichen Symbolsprache der Bilder hieronymus boschs (um 1450 – 1516) entstiegen sind. Wie um die Unentrinnbarkeit der Lage unübersehbar vor Augen zu führen, gähnt auf der Gegenseite im rechten Bildrand ein zweiter Höllenabgrund, aus dem soeben eine gepanzerte Soldateska wie Ratten aus der Kanalisation hervorquillt, deren Gesichter und Körper einzig aus ihren Rüstungen bestehen; angeführt von einem rosafarbenen schweineähnlichen Helmträger und unterstützt von reptilienartigen Ungeheuern, setzt diese Rotte des Todes zum Sturm auf ein steinernes Ufer an, auf welchem Hausfrauen plündernd, prügelnd, schlachtend und mordend sich anstrengen, es ihrer Meisterin, zwar unbewaffnet, doch anscheinend nicht weniger effektvoll, gleichzutun. Ein

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Teil von ihnen hebt Schüsseln empor, um den kotigen Auswurf aufzufangen, den ein teuflischer Versucher «mit dem symbolischen Schiff auf dem Rücken» (keith roberts: Bruegel, 13) sich mit Hilfe eines Stocks aus seinem insektenähnlichen Hinterleib hervorholt. Jenes «Schiff» trägt als weiteres Abbild einer in sich geschlossenen Welt eine gläserne Kugel und erinnert durch sich selbst an das Narrenschiff, ein Buch, in dem sebastian brant (1457–1521) im Jahre 1494 die Laster und Formen des Irrsinns seiner und aller Zeit zu versammeln sich bemüht hatte. Von der Gruppe der Frauen aus versuchen mit Beute schwer Beladene den Aufstieg zu einem Kessel zu gewinnen, der wie ein umgedrehter Helm eine weitere Gruppe von Soldaten umschließt. Krieg, Geldgier, Grausamkeit und Zerstörung bilden in all diesen Facetten den einzig verbliebenen Lebensinhalt einer buchstäblich in Flammen stehenden Welt, in welcher die Teufel oberhalb einer zerborstenen Festung wie an den Wanten des Großmasts eines Segelschiffes auf- und abentern – Jakobs Traum in Bethel (Gen 28,12) damit in einen Albtraum verwandelnd. Über einer weiteren (Welten)Kugel, die wie eine aufgeschnittene Frucht wirkt, tanzen auf einem Käfigkranz die Dämonen zu dem Klang einer Harfe, die aus der Faulfrucht sich hervorstreckt und über deren Saiten musizierend eine Spinne kriecht: – das Lied des Tods intonierend. Vor dem brandroten Horizont erhebt sich, wie um die Trunkenheit dieses an seinem Wahnsinn verkommenden und verkommenen Daseins noch intensiver zu versinnbildlichen, ein riesiger Krug. Unmöglich scheint es, inmitten dieses Getriebes wechselseitiger Zerstörung einen Ausweg oder eine Alternative zu finden. Kaum sichtbar sitzt in der oberen Bildmitte ein unbekleidetes Liebespaar, das sich zuzuprosten scheint, so wie in dem vergitterten grell beleuchteten Burgfenster über dem rechten Höllentor jemand einen Becher erhebt, gleichsam zum Wohl auf die neben ihm stehende Gestalt; Relikte sind dies eines unter den gegebenen Umständen grotesk wirkenden Glücksstrebens, eines Vergessens, das in dieser Sphäre globaler Heimsuchung den Ernst des Untergangs noch nicht begriffen hat oder bewußt verleugnet. «Man blickt nicht ungestraft in den Kosmos, die Tiefsee, die Geschichte – und vielleicht auch nicht ungestraft in sich selbst, in den Menschen», schrieb reinhold schneider (1903 –1958) in seinem Tagebuch Winter in Wien (S. 110), und entsetzt stellte er vor einem halben Jahrhundert schon fest: «. . . ohne Myriaden von Zerstörern zu beherbergen, ohne von ihnen sich bedienen zu lassen, könnte kein höherer Organismus bestehen; ohne sie also könnte auch der Geist sich nicht aussagen. Und was sind nun Liebe und Schönheit? . . . Wenn man die Visionen des Hieronymus Bosch im Irdischen läßt, woher sie stammen, so ist er unwiderlegbar.» (A. a. O., 120)

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Der französische Philosoph michel foucault (1926 –1984) hat in seiner Studie Wahnsinn und Gesellschaft den Nachweis geführt, daß im 16. Jh. mit brant, bosch, bruegel, albrecht dürer (1471–1528) und dem ironischen Lob der Torheit des erasmus von rotterdam (1466 –1536) «der Wahnsinn . . . eine primitive Kraft der Enthüllung» entfaltet habe: «der Enthüllung, daß die Traumdeutung Wirklichkeitscharakter besitzt, daß die dünne Oberfläche der Illusion eine unabweisbare Tiefe verbirgt und daß das kurze Flackern des Bildes die Welt beunruhigenden Gestalten aussetzt, die sich in ihren Nächten verewigen», in «jenem Grenzmoment zwischen Sein und Nichts, der das Delirium der reinen Zerstörung ist.» (michel foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 48) Man kann auch sagen: «An der Wahrheit des Wesens der Dinge und an der Wahrheit Gottes gemessen ist die ganze menschliche Ordnung nur Wahnsinn.» Oder umgekehrt: «Wahnsinn ist in dieser Ordnung auch die Bewegung, durch die man versucht, sich ihr zu entreißen, um zu Gott zu gelangen.» (michel foucault: A. a. O., 53) Wie aber soll es möglich sein, über eine derart «wahnsinnige», gottverlorene Welt zurückzufinden zu Vernunft, Halt und Ordnung? Noch betrachtet man im 16. Jh. den «Wahnsinn» nicht als eine Form psychischer beziehungsweise hirnorganisch bedingter Erkrankung, – erst 300 Jahre später wird man den «Wahnsinn», nachdem dieser in den Jahrhunderte währenden Zeiten der Internierung der Kranken (an der Seite von «Verbrechern», «Asozialen» und «Verrückten») «selbst allmählich einen therapeutischen Wert (sc. als eine zu behandelnde Krankheit, d. V.) angenommen» hatte (a. a. O., 455), der «objektiven», neutralen Betrachtungsweise der medizinischen Psychologie freigeben; doch wurde damit allem Anschein nach lediglich das analytische Instrumentar vorbereitet, das uns Heutigen hilft, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem Wahn des Einzelnen und dem Irrsinn des Allgemeinen genauer zu erforschen. «Widerlegt» ist damit die bruegelsche Sicht der Dinge keinesfalls, sie hat sich nur aus ihrer ehedem tragischen Welterfahrung für die rational sich gebenden modernen Untersuchungsverfahren von Biologie, Neurologie, Psychologie, Soziologie und Kulturanthropologie geöffnet. Der Wahn gilt uns Heutigen nicht länger mehr als ein metaphysisches Verhängnis, er erscheint uns als etwas objektiv Bestehendes; doch dieses objektiv Bestehende muß sich immer wieder auf der Bühne des menschlichen Subjekts aufführen, um wirklich zu werden, und die ganze Aufmerksamkeit von Psychoanalytikern, Psychiatern, aber auch von Theologen gilt (oder sollte gelten) der Frage, wie es dahin kommen kann, daß die Strukturen des gesellschaftlichen Wahns sich im Bewußtsein Einzelner verinnerlichen und daß um-

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gekehrt der Wahn Einzelner sich rückentäußert in das Getriebe kollektiver Zusammenhänge. Ein geradezu klassisches Betrachtungsfeld für diese Frage bietet die Religion, von der sigmund freud sich überzeugt gab, er habe es hier überhaupt nur mit einer Form kollektiver seelischer Erkrankung zu tun. «Die Religion», vermeinte er, sei «die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung»; einerseits bringe sie «Zwangseinschränkungen» mit sich, «wie nur eine individuelle Zwangsneurose», andererseits enthalte sie «ein System von Wunschillusionen mit Verleugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert nur bei einer Amentia (sc. von griech.: a – nicht, lat.: die mens – Denkkraft; die amentia – Wahnsinn, d.V.), einer glückseligen halluzinatorischen Verworrenheit, finden». (sigmund freud: Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke, XIV 367) Zweifellos muß man freud zugestehen, daß die verfaßten («biblischen») Religionsformen (Judentum, Christentum und Islam) durchsetzt sind von den Ambivalenzgefühlen gegenüber einer zentralen Vaterautorität, der es nicht um die Entfaltung des Einzelnen, sondern um den Machterhalt innerhalb einer ideologisch homogenisierten Masse zu tun ist; – in gewissem Sinne handelt es sich religionspsychologisch um gerade diejenige Form von «Frömmigkeit», der manche Propheten im Alten Testament und der Jesus im Neuen Testament einmal auf Leben und Tod den Kampf angesagt hatten. (Vgl. e. drewermann: Jesus von Nazareth, 366 –387.) «Eigentlich» müßte die Religion deshalb imstande sein, sich aus den Formen der Äußerlichkeit ihrer Zwangsverwaltung zu verabschieden und die Vision einzulösen, die sich von alters her mit der Verkündigung der Propheten verbindet: es werde Gott sein «Gesetz» den Menschen «in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben» (Jer 31,33). Doch entscheidend dafür bleibt die Frage, ob die Religion ihre eigenen Grundlagen als eine symbolische Form der Daseinsdeutung auslegt oder als Behauptungen objektiver «Tatsachen» interpretiert. freuds Vorwurf gegen das «Halluzinatorische» der Religion besteht allerdings so lange zu Recht, als ein dogmatisches Lehrsystem den Eindruck zu vermitteln sucht, es ließen die Bilder des Religiösen sich handhaben wie Begriffe zur Erfassung einer an und für sich bestehenden Wirklichkeit. Soeben noch haben wir von gregory bateson gelernt, daß es zum Wesen des schizophrenen Denkens gehört, zwischen Metapher und Wirklichkeit, zwischen Spiel und Ernst, zwischen Ritual und Handlung, zwischen deutendem Gleichnis und gedeuteter Erfahrung nicht unterscheiden zu können; wie aber, wenn das stimmt, sollte dann eine Religion ihre «Gläubigen» nicht in den «Wahnsinn» treiben, die sich unfähig oder unwillig zeigt, den unvermeidbaren

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Symbolismus ihrer eigenen Rede anzuerkennen? So folgten die frühen Pflanzerkulturen etwa der Gleichsetzung einer (getöteten) Urgottheit mit den Nutzpflanzen und den Menschen, – für sie waren Menschen «Gras», und Kopfjagd und Kannibalismus erschienen ihnen als eine (rituelle) Form der Ernte. (Vgl. adolf ellegard jensen: Die getötete Gottheit, 125–137; e. drewermann: Strukturen des Bösen, II 594– 615) Oder man denke an die Massentötungen der Azteken für den Sonnengott Tonatiuh, den es allmorgendlich mit dem Blut menschlicher Opfer vor Entkräftung zu bewahren galt. (Vgl. walter krickeberg: Altmexikanische Kulturen, 198; 239– 241; vgl. auch klaus helfrich: Menschenopfer und Tötungsrituale im Kult der Maya, 119 –125.) Fast überall in den gegenwärtigen Religionsformen hat die Außenseite einer ehedem «wörtlich» genommenen Weltsicht sich noch rituell und dogmatisch erhalten – auch im Christentum opfert sich die Gottheit in Gestalt von Feldfrüchten (Korn und Wein) –, und der ganze Fortschritt des religiösen Bewußtseins scheint gerade darin gelegen, in den «schizophren» verstandenen Metaphern ihrer Beschwörungen überhaupt erst eine symbolische Innenseite ihrer Bedeutung zu entdekken. Doch erfolgt dieser «Fortschritt» erkennbar gegen den erklärten Widerstand der institutionellen Religionswächter. – Wie zum Beispiel liest man die Bibel? Entgegen aller historisch-kritischen Forschung beharrt an allen relevanten Stellen die katholische Kirche mit dogmatischem Anspruch darauf, die symbolisch sinnreichen mythischen und legendären Texte der Heiligen Schrift («Sündenfall», Jungfrauengeburt, Himmelfahrt usw.) als Informationen über objektive historische Tatsachen (über phantastische, die Allmacht Gottes bezeugende «Wunder») zu interpretieren (vgl. e. drewermann: Glauben in Freiheit, I 192 –209; 385 –419); dabei nimmt sie die Spaltung zwischen unaufgeklärtem (Aber)Glauben und aufgeklärtem Unglauben scheinbar bewußt in Kauf, die letzten 300 Jahre philosophischen und philologischen Fortschritts einfach verleugnend. Als erster klar gesehen hat die Unhaltbarkeit der offiziösen Schriftauslegung baruch de spinoza (1632 –1677), dessen für die neuzeitliche Exegese bahnbrechender Theologisch-politischer Traktat gegen den weitverbreiteten «Aberglauben» der Menschen den Standpunkt der «Vernunft» geltend zu machen suchte; die Bibel, betonte spinoza, rede «von Gott und von den Dingen sehr uneigentlich», sie drücke sich «dichterisch» aus (a. a. O., 124 –125), und entsprechend müsse sie verstanden werden, da sonst aus der Religion ein «Wahngebilde des Geistes» und eine «Eingebung der Verblendung» werden müsse, die «nur in der Hoffnung (sc. in Illusionen, d.V.), im Haß (sc. im Fanatismus, d.V.), im Zorn (sc. in kriegerischer Gewalt, d.V.)» ihre Stütze fände (a. a. O., 5). Für

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solche Ansichten wurde der jüdische Philosoph von der Gemeinde in Amsterdam ausgestoßen, – anders als der zeitgenössische englische Gesellschaftstheoretiker thomas hobbes (1588 –1679), dessen Leviathan von 1651 sich (im VIII. Kapitel) unter anderem auch mit der «Entstehung der Verrücktheit» beschäftigt (a. a. O., 71) und schließlich hervorhebt, daß manche Schriftstellen (wie zum Beispiel die Rede von einem unreinen Geist in Mt 12,43) «nicht immer im strengen Wortsinn zu nehmen» seien (a. a. O., 76); ausdrücklich anempfahl hobbes eine «von allen Zweideutigkeiten gesäuberte Art des Vortrages», der «gleichsam das Licht des menschlichen Geistes» bilde. «Metaphern aber», fuhr er warnend fort, «und nichtssagende oder zweideutige Worte sind Irrlichter, bei deren Schimmer man von einem Unsinn zum andern übergeht und endlich, zu Streitsucht und Aufruhr verleitet, in Verachtung gerät». (A. a. O., 45 –46) Doch ist es wirklich sinnvoll und überhaupt möglich, die menschliche Sprache aller Poesie, allen Witzes, aller Kunstfertigkeit zu berauben? Und können Menschen überhaupt existieren, ohne einen religiösen Symbolismus zu ersinnen, der sie eine andere Welt zumindest ahnen läßt? Die Symbole der Religion werden sich selbst entfremdet, wenn man ihnen den Hinweischarakter auf diese andere Welt durch eine falsche Wörtlichnahme, durch eine verobjektivierende Verweltlichung nimmt; man muß sie nicht abschaffen, man muß sie als solche erkennen. Und das, wie zum Trost, geschieht immerhin in den letzten 300 Jahren mehr und mehr. Wohl wird im 17. Jh. der «Wahnsinn», wie michel foucault in seiner Studie gezeigt hat, noch «in einer allgemeinen Wahrnehmung der Unvernunft» aufgefaßt (Wahnsinn und Gesellschaft, 112; vgl. S. 518), doch trägt, wie gesagt, paradoxerweise gerade die brutale Praxis der Internierung mit dazu bei, am Ende des 18. Jhs. eine Konzeption des «Wahnsinns» zu gewinnen, welche unsere heutige neutrale Betrachtungsweise der Psychologie und Psychiatrie vorzubereiten hilft und in gewissem Sinne auch das Verständnis von Religion verändert. Wegweisend für die erste Hälfte des 19. Jhs. wird der Standpunkt sein, den georg wilhelm friedrich hegel (1770 –1831) in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 vertreten hat: daß eines Menschen Geist in der «Verrücktheit» im Widerspruch zu sich selber stehe – also geheilt werden könne. «Es ist der böse Genius des Menschen», schrieb hegel, «der in der Verrücktheit herrschend wird, aber im Gegensatze und im Widerspruche gegen das Bessere und Verständige, das im Menschen zugleich ist, so daß dieser Zustand Zerrüttung und Unglück des Geistes in ihm selbst ist. – Die wahrhafte psychische Behandlung hält darum auch den Gesichtspunkt fest, daß die Ver-

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rücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft weder nach der Seite der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur Verrücktheit, nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft, wie die physische Krankheit nicht abstrakter, d. i. gänzlicher Verlust der Gesundheit (ein solcher wäre der Tod), sondern ein Widerspruch in ihr ist. Diese menschliche, d. i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung . . . setzt den Kranken als Vernünftiges voraus und hat hieran den festen Halt, an dem sie ihn nach dieser Seite erfassen kann, wie nach der Leiblichkeit an der Lebendigkeit, welche als solche noch Gesundheit in sich enthält.» (§ 408, S. 338) Die Unvernunft heilen kann demnach nur die Vernunft, den Wahnsinn nur die Vermittlung von Sinn, und wer einen Menschen nicht «an sich» als «Geist» betrachtet, wird ihn auch als Arzt, Seelsorger oder Mitmensch nicht finden können. Wie aber, wenn die Rede vom Geist «ungeistig», das Wort von Gott «gottlos» wird? – gerade so wie hegel es der Kirche des Mittelalters ebenso wie dem bestehenden Katholizismus seiner Tage als eine Form der «Entfremdung» entgegenhielt, da hier der absolute Inhalt der Wahrheit für das Bewußtsein rein äußerlich bleibe, dergestalt, «daß er als sinnliches, äußerliches Ding, als gemeine äußerliche Existenz» dargestellt werde. (Philosophie der Geschichte, 517) Der deutsche Philosoph erwähnte an jener Stelle seiner Enzyklopädie (§ 408, S. 338) namentlich voller Lob den französischen Arzt philippe pinel (1745 – 1826), dessen Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie aus dem Jahre 1801 den theoretischen Hintergrund für die um 1790 begonnene Reform der berühmt-berüchtigten Anstalt (sprich: des Zuchthauses oder des Armenhauses oder der Irrenanstalt, alles in einem!) von Bicêtre nachzeichnete. Religiöse «Ansichten», heißt es da, «dürfen in einem Irrenhospital nur in rein ärztlicher Beziehung betrachtet werden, das heißt, man muß jede andere Betrachtung öffentlichen oder politischen Kults ausklammern und lediglich untersuchen, ob es darauf ankommt, der Übersteigerung der Vorstellungen und der Gefühle entgegenzutreten, die daraus entstehen können, damit man zu der Heilung bestimmter Geisteskranker wirkungsvoll beitragen kann.» (A. a. O., 265 der frz. Ausg., zit. n. michel foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 514) Das Asyl, das pinel für die Geisteskranken einrichtet, «muß also von der Religion und all ihren imaginären Verwandtschaften befreit werden», insbesondere «von jenen Bildern und jenen Leidenschaften . . ., die durch das Christentum entstehen und die den Geist auf Irrwege, zu Illusionen, bald zum Delirium und zu Halluzinationen führen». (michel foucault: A. a. O., 514 –515) Es gilt also, die Religion, wenn überhaupt, therapeutisch zu nutzen; doch

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darin liegt ein ganzes Programm: Damit die Religion den Geist des Menschen zu seiner «Vernunft» anleiten könnte, müßte sie selber gereinigt werden von der entfremdenden Äußerlichkeit ihres Dogmatismus, von der falschen Wörtlichnahme ihrer Riten und Symbole und von dem einschüchternden Herrschaftswillen ihres Angst und Unterwerfung anstelle von Vertrauen und Freiheit erzeugenden Autoritarismus. Mit einem Wort: Wer auch nur aus einem Menschen im Sinne von Mt 12,43 einen «unreinen Geist» «ausfahren» lassen möchte, vermag dies anders nicht zu tun, als indem er die geistige Beschaffenheit der institutionalisierten Religionsform selbst kritisch durchleuchtet und auf die Frage hin prüft, zu welchem Zweck sie diene: zur Entmündigung oder zur Personwerdung eines Menschen. (Zu Mt 12,43 vgl. e. drewermann: Das Matthäus-Evangelium, II 256 –270: Von drei Gefahren des Religiösen: Fetischisierung, Neurotisierung und Infantilisierung.) Die Unwahrheit der Wahrheit, die Unvernunft der Vernunft, die Ungeistigkeit des Geistes – die veräußerlichte Innerlichkeit des Religiösen selber schafft ein Vakuum der Seele, in welches alle «bösen Geister» ihren Einzug halten werden. Unmittelbar neben der «Verrücktheit» des Geistes im Herzen einer verdinglichten Form des Religiösen, im Kern des Wahnsinns der Gesellschaft, steht, gleichermaßen schädlich, der Mangel, die Ohnmacht, das Verstummen des Geistes gerade in seinen religiösen Inhalten. Wir haben vorhin noch edvard munchs Bild Die tote Mutter (Tafel 1) sowie die Darstellung seiner Schwester Laura auf dem Bild Melancholie (Tafel 2) betrachtet; fügen wir jetzt, um die Aufgabe zu ermessen, die das, was wir eine «Geisteskrankheit» nennen, auf dem Wege der Heilung an die menschliche Einfühlung stellt, noch ein drittes Bild des norwegischen Malers dieser Reihe hinzu und zitieren dabei einige seiner autobiographischen Anmerkungen: – es geht um die Lithographie Todeskampf (auch: «Fieber» oder «Der Sohn») aus dem Jahre 1896 (Tafel 4). Die Darstellung gibt ein Motiv wieder, das munch bereits 1895 unter dem Titel Am Sterbebett in einem eigenen Gemälde bearbeitet hatte. (Vgl. arne eggum: Edvard Munch. Gemälde, Zeichnungen und Studien, 178.) Auf beiden Bildern sieht man seine Familie an einem Krankenlager – eine Szene, die sich mit dem Tode der erst 15jährigen Sophie, der Lieblingsschwester des Malers, verbinden könnte, die im Jahre 1877 an Tuberkulose verstarb, an der gleichen Krankheit wie seine Mutter. Ganz entsprechend jenem Gemälde ist auch auf dem Litho die Gestalt der Sterbenden selbst kaum zu erkennen – ihre Hände verlieren sich in einem leeren Weiß, das wie ein Totenlaken bereits das Krankenlager bedeckt; die innere Unruhe, das geängstete Beben, das Zittern der Seele wie des Herzens aber gewinnen auf der jüngeren Darstellung ihren Aus-

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druck in einer dramatischen Wellenbewegung, die, wie ein Meer unter Sturm, von der Wand her in den Raum vordringt, das Bett umspült und sich in Kleidung und Gesicht der hohläugig und hohlwangig dreinschauenden Familienangehörigen fortsetzt. Besonders irritierend wirken auf dem Litho zwei Gesichter, die in dem Gewirr der Linien sichtbar werden – gespenstische Spiegelbilder eines Wahns, den Fieber und Angst auf den Plan treten lassen. Selbst schrieb munch im Rückblick auf die Jahre seiner Kindheit: «Meine Mutter stammte aus einem Bauerngeschlecht, einem Geschlecht mit einem starken Willen. Die Wurzel war aber schon angegriffen von Schwindsuchtbazillen. Wie Sie wissen, waren die Vorfahren meines Vaters Poeten, mit genialer Veranlagung, aber sie wiesen auch schon Anzeichen von Degeneration auf. Als ich geboren wurde, beeilte man sich, mich notzutaufen, weil man glaubte, ich würde sterben. Meine Mutter hatte damals schon den Keim des Todes in sich. Sechs Jahre später raubte die Schwindsucht fünf kleinen Kindern ihre Mutter. – Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wache an meiner Wiege. Sie haben mich durch mein ganzes Leben begleitet. Mein Vater versuchte, für uns Vater und Mutter zu sein. Aber er war schwermütig, nervös – erblich belastet –, mit Perioden religiöser Anwandlungen, die an Wahnsinn grenzten, wenn er tagelang im Zimmer auf- und abschritt und dabei Gott anrief. Zeitig genug habe ich Elend und Gefahren des irdischen Lebens kennengelernt und vom Leben nach dem Tod und der ewigen Höllenpein gehört, die die sündigen Menschen erwartet. Wenn er nicht unter diesen religiösen Anfällen litt, konnte er wie ein Kind mit uns scherzen, spielen und uns Märchen erzählen. Deshalb war es für uns doppelt so schwer, die seelischen Qualen auszuhalten, wenn er uns bestrafte. Er konnte da außer sich sein. Seine nervöse Heftigkeit habe ich geerbt.» (Zit. n. ragna stang: Edvard Munch – der Mensch und der Künstler, 31) Die Angst, zu sterben und im Augenblick des Todes von dem Höchsten Richter auf ewig verdammt zu werden, peinigte edvard munch noch als 13jährigen, als er einen Blutsturz erlitt, und sie führte ihn schließlich dahin, die Religion insgesamt abzulehnen. (Vgl. matthias arnold: Edvard Munch, 15; 14.) Wenn die Inhalte der Frömmigkeit selbst, wie in den Anfällen einer geistigen Erkrankung so deutlich im Leben des eigenen Vaters bereits, nur Tod und Schuld zu verbreiten vermögen – ganz wie die «Wächterengel» am Paradieseseingang für die verlorenen Kinder Evas in Gen 3,24 –, was sollen Menschen dann anderes tun, als ihre Verlorenheit zu akzeptieren und einer Gottheit den Rücken zu kehren, die sie selber hinter dem Vorhang des «Flammenschwertes» aus ihren Augen verbannt?

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Doch, wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um die «private» Neurose der Familie Munch. Was für Lehren, muß man fragen, sind das, die ein neugeborenes Kind für ausgeliefert der Macht des Satans und der Hölle erklären, wofern es nicht mit einem kirchlichen Heilszeichen «besiegelt» wird, und die über das Dasein eines jeden Menschen in großen Lettern den möglichen Fluch ewiger Verdammnis ans Firmament malen, – wie es nach wie vor im Weltkatechismus der katholischen Kirche aus dem Jahre 1992 geschieht? (Vgl. Catéchisme de l’Église catholique, Nr. 404 –406, S. 91–92 zum – historischen! – Sündenfall Adams und zur Bedeutung der Erlösung; Nr. 1257–1261, S. 273–274 zur Notwendigkeit der Taufe; Nr.1261 erklärt auch heute noch, daß die Kirche ungetaufte Kinder nur der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen könne; vgl. Nr.1033–1037, S. 221– 222 zur Existenz der Hölle.) Man nehme noch hinzu den Glauben der katholischen Kirche an den Exorzismus, dessen Ausübung am 22. Nov. 1998 durch ein neues Ritual (in Ablösung des alten aus dem Jahre 1614) durch Papst johannes paul ii. «treffsicher» geregelt wurde (wie horst holzer: Besessenheit und Exorzismus – Theologische Perspektiven, in: Hermes Andreas Kick u. a.: Besessenheit, Trance, Exorzismus, 101 vermerkt). Allein in der Zeit des Pontifikats dieses Papstes wurden im Vatikan sage und schreibe rund 30 000 Teufelsaustreibungen durchgeführt, bei denen sich besonders Don gabriele amorth (un)rühmlich hervortat, zwei Exorzismen vollzog johannes paul ii. höchst persönlich. Dieweilen zeigen andere, wie man die Teufelsangst (oder besser: die teuflische Angst) der «Gläubigen» wie in der vor rund 30 Jahren bekannt gewordenen Tragödie in Klingenberg geradewegs als ein «Argument» für «die Existenz der Dämonen» nutzen kann (kaspar bullinger: Anneliese Michel und die Aussagen der Dämonen, 3) Damals, ein Jahr nach dem Tode der vermeintlich vom Satan in vielerlei Gestalt heimgesuchten anneliese michel (1952 –1976), im Jahre 1977, erklärte einer der im Auftrag des Bischofs von Würzburg tätigen Exorzisten, Kaplan ernst alt, das Sterben der 23jährigen für ein Sühneleiden zur Buße vor allem der unbußfertigen Priester (die eher protestantischen Einflüsterungen als dem Papst folgen). (Vgl. dazu auch hans-jürgen wolf: Hexenwahn und Exorzismus, 585 –597.) Inzwischen, unter benedikt xvi., der von der Anwesenheit des Bösen in der Welt sich zutiefst überzeugt gibt, hält Bischof andrea gemma neue Schulungskurse für Exorzisten ab. – Drum noch einmal gefragt: Muß nicht eine Kirche selbst für «wahnsinnig» gelten, die zugunsten ihrer tradierten «Dämonologie» oder «Satanologie» Gott mit dem Teufel «beweisen» will und jenseits aller psychologischen Aufklärung so tut, als wenn es sigmund freuds Aufsatz über Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert (in: Gesammelte Werke,

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XIII 315– 353) aus dem Jahre 1923 nie gegeben hätte? Wir werden auf diese Studie später noch eingehen. So viel steht fest: Direkt oder indirekt, aktiv oder reaktiv ist eine so verfaßte Religion im «christlichen» Abendland, die Psychologie in Dämonologie verwandelt, auf vielfältige Weise in die vielfachen Formen eines den Einzelnen in den Wahnsinn treibenden kollektiven Wahns verstrickt – von den unseligen ideologischen Rechtfertigungen der ganz profanen gesellschaftlichen Psychopathologie permanenter Kriegsbereitschaft und Kriegsrüstung mit kirchlicher Duldung oder Unterstützung einmal ganz abgesehen. (Vgl. e. drewermann: Krieg ist Krankheit, keine Lösung, 142–165; peter koch: Wahnsinn Rüstung, S. 17–39: Das Arsenal des Schreckens; S. 199– 237: Erziehung zum Haß; S. 239 –251: Chemischer Krieg.) bruegel hat recht: Nicht nur historisch betrachtet ist das Thema der Schizophrenie ein verschlingender Abgrund, – die Erscheinung des «Chaos» in griechischem Sinne (von griech.: chaínein – das Maul aufsperren).

ε) Zersplitterungen oder: Bemerkungen zur multiplen Persönlichkeit Freilich, man darf den «Wahn» nicht als Totalität betrachten; stets trägt er, wie hegel richtig sah, die Vernunft als Widerspruch in sich; stets ist er, wie eugen bleulers Begriff der «Schizophrenie» nahezulegen versuchte, eine «Zerspaltenheit» mit sich selbst. Wie solche «Abspaltungen» das Ich durchsetzen und verletzten können, haben wir bereits gesehen, als wir uns mit den psychoanalytischen Theorien zur Entstehung von Depression und Schizophrenie im Rahmen der frühkindlichen Entwicklung beschäftigten. Doch schreitet die «Technik» der «Abspaltung» unter dem Druck gesellschaftlicher Forderungen im Leben des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen stets weiter voran, so daß man staunen mag, wieso in einem Feld des objektiven Wahns nicht noch viel mehr Menschen auch subjektiv erkranken: – sie werden «psychopathisch», um nicht zu merken, wie krank sie sind, lautete arno gruens Erklärung; sie stellen, können wir auch sagen, die Unverträglichkeiten divergierender Rollenvorschriften einfach wie die gut isolierten Brennkammern einer Kokerei seriell nebeneinander: – sie wollen in all den aufgenötigten Anpassungsformen gar nicht sie selbst sein, sie geben sich damit zufrieden, daß ihr Ich in eine Vielzahl bloßer Funktionen zerfällt; und so sind sie Soldat und Ehemann, Grenzpolizist und Kegelklubmitglied, Vorstand einer Bank und Vorsitzender im Pfarrgemeinderat, Beamter hier, Privatmann da, aufgespalten in eine Vielzahl von

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«Pflichten», die keinen geistigen Zusammenhang bilden dürfen und schon deshalb ihre Begrenzung in der Dienstzeit und an der Raumeinteilung des jeweiligen Bezirks finden, wofern nicht noch eine passende «Uniform» die Austauschbarkeit und Verwandelbarkeit dieser Verkörperungen einer festgelegten Nicht-Identität äußerlich sichtbar und innerlich verbindlich macht. Stets darf der eine Teil der Persönlichkeit nicht wissen, was der andere tut; niemals dürfen die Angehörigen des einen Ich-Anteils erfahren, wer man in dem anderen Bereich ist. So beschrieb erich maria remarque (1898 –1970) in seinem Roman Im Westen nichts Neues aus dem Jahre 1929 – rund zwölf Jahre nach den «Materialschlachten» an der Westfront des Ersten Weltkriegs – die Unfähigkeit des jungen Soldaten Paul, jemals mehr «nach Hause» zurückzukehren: «Ich hätte nie hierherkommen (sc. zur Mutter in Urlaub fahren, d.V.) dürfen», sagt er sich, als er die «Heimat» wiedersieht. «Ich war gleichgültig und oft hoffnungslos draußen (sc. im Feld, d.V.); – ich werde es nie mehr so sein können. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist.» (Kap. VII, S.133) Denn was heißt es, «Soldat» sein zu müssen? «Aus uns sind gefährliche Tiere geworden», notiert remarque. «Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung . . . wir können zerstören und töten, um uns zu retten und zu rächen.» – «. . . überschwemmt von dieser Welle, die uns trägt, die uns grausam macht, zu Wegelagerern, zu Mördern, zu Teufeln meinetwegen, dieser Welle, die unsere Kraft vervielfältigt in Angst und Wut und Lebensgier.» «Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können.» (Kap. VI, S. 85; 86; 87) Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte wolfgang borchert (1921–1947) den Paroxysmus der bürgerlichen «Realität» in einer seiner «Lesebuchgeschichten» zum Ausdruck: «Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. – Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. – Warum nicht, fragte der Soldat.» (In: Nachgelassene Erzählungen, in: Das Gesamtwerk, 317) Nach bürgerlichem Selbstverständnis kommt es einem Verbrechen gleich, wenn jemand im Krieg seine «Pflicht» als er selber erfüllt, so daß er das, was er als Soldat war, nun auch sein will als «Privatmann»: Die Parole «Du oder ich» gilt im Krieg, nicht im Frieden; rauben, plündern, morden muß man fürs Vaterland (oder für die Fiktionen, als deren Garant es sich ausgibt), man darf es nicht für sich selbst (nicht einmal für die eigene Familie). Anders ausgedrückt: Es wäre gesellschaftlich «Wahnsinn», eine Ich-Kohärenz unter den wechselnden

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und widersprüchlichen Ich-Definitionen der Gesellschaft aufrechterhalten zu wollen, oder umgekehrt: es läßt sich der Wahnsinn der Gesellschaft nur leben, indem man den Zerfall der Persönlichkeit in eine Vielzahl verselbständigter Marionettenfunktionen widerspruchslos hinnimmt. Die Voraussetzung der bürgerlichen Welt ist die multiple Persönlichkeit (von lat.: multiplex – vielfältig). Der – bis heute nicht unumstrittene – Begriff der multiplen Persönlichkeit beziehungsweise der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) fand in das DSMIII von 1986 Eingang unter den folgenden diagnostischen Kriterien: «A) Die Existenz von zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen jede zu einem gewissen Zeitpunkt dominiert. B) Die jeweils dominierende Persönlichkeit bestimmt das Verhalten des Betroffenen. C) Jede Persönlichkeit ist komplex und in ihr eigenes einmaliges Verhaltensmuster und ihre sozialen Beziehungen integriert.» (A. a. O., 170) Hinzufügen sollte man noch die auffälligen Gedächtnislücken. hans-joachim markowitsch konnte «das Phänomen autobiografischer Gedächtnisblockaden sogar per funktioneller Bildgebung auf hirnphysiologischer Ebene nachweisen.» (ursula gast: «Das bin nicht ich» – Überleben in anderer Identität, in: Gehirn und Geist, Dossier: Psyche und Gesundheit, 1/2004, 16) Obwohl die Diagnose «multiple Persönlichkeit» erst im letzten Drittel des 20. Jhs. ihre psychiatrische Anerkennung gefunden hat (und dann vor allem in den USA während der 80er Jahre so häufig gestellt wurde, daß der Begriff zunehmend diskreditiert wurde), spricht das Phänomen selbst sich einmütig in den Erzählungen der Völker aller Zeiten aus: Schon die Märchen berichten von den seltsamen Verwandlungen eines Jungen in ein Reh, einer guten Mutter in eine Hexe, eines Vaters in einen Menschenfresser, einer Brüderhorde in Raben usw. Nicht anders in den Romanen. Den Sinn des Romans des spanischen Dichters miguel de cervantes saavedra (1547–1616) von seinem unsterblichen don quijote aus dem Jahre 1605 wird man erst recht begreifen, wenn man den getreuen Diener Sancho als das alter ego (lat.: das andere Ich) seines ritterlichen Herrn versteht: beide gemeinsam verkörpern sie ein Menschsein, zerteilt zwischen himmelstürmendem Idealismus und erdenschwerem Realismus. – Oder nehmen wir dostojewskis Seelenstudie Der Doppelgänger aus dem Jahre 1846, darin der russische Dichter den Zerfall des erniedrigten Kanzleibeamten Jakoff Petrowitsch Goljädkin in die Gegengestalt seiner selbst beschreibt: dieser andere Goljädkin verdrängt zusehends durch couragiertes Auftreten das verschüchterte Wesen des «wahren» Goljädkin, der schließlich ins Irrenhaus eingeliefert werden muß. Doch was ist schon das «wahre» Ich, wenn ein Mensch zutiefst darunter leidet, lediglich «dieser da» sein zu sollen, wo er

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«eigentlich» nur als ein ganz anderer, als er «wirklich» ist, sich zu akzeptieren vermöchte? «‹Nun, wie fühlst du dich denn jetzt?› dachte er bei sich . . . was tust du jetzt, du Feigling, du Schuft, der du bist!›. . . – Sich selbst zu verspotten und seine Wunde aufzureißen, bereitete Herrn Goljädkin augenblicklich ein tiefes Vergnügen, fast sogar eine Art Wollust.» (9. Kap., S. 83) Unfähig, das «alte» Ich bejahen zu können, unfähig aber auch, sich für das «neue» Ich zu entscheiden, erlebt Goljädkin den Beginn seiner Aufspaltung als reine Angst, als ein Taumeln ins Nichts. «Er glich . . .», heißt es, «einem Menschen, der am Rand eines Abgrundes steht, der den Boden schon unter sich wanken fühlt und im nächsten Augenblick in die Tiefe stürzen wird: einem, der all dies weiß und selbst sieht, und der doch nicht die Kraft hat und auch nicht die Geistesgegenwart, auf den noch feststehenden Boden zurückzuspringen, und nicht die Willensstärke, den Blick von der gähnenden Tiefe abzuwenden; die Tiefe zieht ihn vielmehr an und läßt ihn nicht los, und so springt er denn schließlich nahezu freiwillig hinab, nur um den unvermeidlichen Untergang zu beschleunigen.» (5. Kap., S. 50) Die größte Angst des Menschen ist es, sich selber zu verlieren. Doch wie wenig es andererseits manchmal braucht, daß ein Mensch ein bestimmtes Bild von sich selbst übernimmt oder entwirft, mit dem er sich dann für identisch erklärt, hat noch einmal dostojewski meisterhaft in seinem großen Roman Der Idiot gezeigt: Fürst Myschkin verkörpert zweifellos die Gestalt eines russischen Christus im Petersburg der sechziger Jahre des 19. Jhs.; doch seine Person ist nicht zu trennen von der seines Schattenbruders und Gegenspielers Rogoshin – beide tauschen das Kreuz miteinander, und beide werden schließlich in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit ihre junge Geliebte, Nastassja Filippowna, in den Tod treiben. (Vgl. e. drewermann: Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sei, 137–138.) – Dieses Wissen um den «Schatten»Anteil der Seele, der als verdrängtes, unbewußtes Material die Bewußtseinseinstellung des Ich kontrastiert, spricht sich – längst vor den Einsichten der Tiefenpsychologie – in dem romantischen Motiv von dem Anderen aus, der im Hintergrund einer an sich von der Gesellschaft geachteten Persönlichkeit lauert, wie in ernst theodor amadeus hoffmanns (1776 –1822) Geschichte über Das Fräulein von Scuderi (in: Die Serapions-Brüder, in: Werke in 5 Bänden, IV 321– 377) hinter dem Goldschmied Cardillac der Mörder Cardillac oder wie in robert louis stevensons (1850 –1894) berühmter Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (in: Erzählungen, 671–753) hinter dem guten und menschenfreundlichen Arzt ein – durch eine Verwandlungsdroge induziertes – Monstrum. (Vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 278 –299: Das Motiv des Doppelgängers in der Belletristik.)

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Ein wahres Kabinettstück dichterischer Psychologie in Fragen «multipler Persönlichkeit» enthält herman melvilles (1819 –1891) Roman Moby Dick in der Gestalt von Kapitän Ahab, dessen Person posttraumatisch (ein Pottwal hat ihn derart verletzt, daß ihm ein halbes Bein amputiert werden mußte) in zwei und mehr Personen zerfällt: um nicht als «Krüppel» zu gelten, muß der Kapitän der «Pequod» der «alte» sein – genauso tüchtig, zuverlässig und leistungsstark wie ehedem; doch dazu muß er die Tatsache verleugnen, daß er ein Krüppel ist. Ahab muß, um derselbe zu bleiben, der er war, ein anderer werden, als er ist, und so wird er gleichzeitig Gnom und Gigant, ein Zwerg voller Selbstverachtung und Selbsthaß und zugleich ein Titan, der die Macht des Himmels und der Tiefsee zum Zweikampf fordert; Ahab muß als Mann zerstören wollen, was ihn zerstört hat, um nicht in tödliche Depressionen zu versinken; und doch lebt gerade deshalb in ihm, der in seinem rasenden Wahn Tod und Teufel nicht länger mehr fürchtet, zugleich auch die Gestalt des Schiffsjungen Pip, der wahnsinnig geworden ist aus Angst, – beide die auseinander gefallenen Seelenteile eines psychisch zerrissenen und posttraumatisch gezeichneten Menschen. (Vgl. e. drewermann: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, 86 –114.) In all diesen Beispielen der Weltliteratur (die sich schier endlos vermehren ließen) spricht sich ein Wissen um den Menschen aus, das wir psychologisch vorhin bereits in den Konzepten von pierre janet und carl gustav jung wiedergegeben fanden; insbesondere die Komplextheorie jungs legte die Vorstellung nahe, daß es eine ganze Reihe verselbständigter Ichkomplexe geben kann, welche die Einheit des Ich zersprengen und damit eine schizophrene («multiple») Persönlichkeit zu schaffen vermögen. Doch die Entwicklung der Tiefenpsychologie ist an dieser Stelle (wie vielfach auch sonst) nicht «folgerichtig» verlaufen: Während die freudsche Psychoanalyse von zumeist jüdischen Emigranten unter dem Druck des Nationalsozialismus bereits in den 30er Jahren des 20. Jhs. in den angelsächsischen Sprachraum übertragen wurde, verblieb die jungsche Komplexe Psychologie innerhalb des Deutsch-Schweizerischen und geriet – durch zum Teil tendenzielle Mißverständnisse – nach 1945 sogar unter das Verdikt des «Antisemitismus»; vor allem amerikanische Psychologen mußten deshalb das Phänomen der multiplen Persönlichkeit in den 70er Jahren gewissermaßen neu entdecken; als hätte es jung nicht gegeben, stellten sie sich die Frage, was denn der Grund sei für die Dissoziation bestimmter Teile der Person. Als Ausgangspunkt einer möglichen Begründung kam vor allem ein (frühkindliches) Trauma in Betracht. Insbesondere Frauenrechtlerinnen und emanzipatorisch gesonnene Therapeutinnen und Therapeuten in den 70er Jahren des

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20. Jhs. favorisierten einen sexuellen Mißbrauch (des Vaters an der Tochter) als das traumatisierende Erleben im Hintergrund einer (jeden) multiplen Persönlichkeitsstruktur; konsequenterweise mündete dieser Ansatz in eine Vielzahl von Gerichtsprozessen, in denen, wie sich später herausstellte, mitunter völlig unschuldige Personen als kriminelle Wüstlinge an den Pranger gestellt und ihre Familien auf unheilvolle Weise auseinandergerissen wurden. Dabei hätte gerade in diesen Fällen bereits das Vorbild freuds zur Warnung dienen müssen. Ursprünglich nämlich hatte auch der «Vater» der Psychoanalyse ein einmaliges traumatisches Erlebnis als historische (biographische) Ursache einer Neurose (Hysterie) und sogar einer Psychose angesehen; entsprechend den Mitteilungen seiner Patientinnen dachte er dabei vor allem an die Belauschung des elterlichen Geschlechtsverkehrs durch das Kind (die «Urszene») oder auch an sexuelle Verführung durch die Eltern. Dann aber kam der 21. September 1897, an dem freud an seinen Freund, den Hals-Nasen-Ohren-Arzt wilhelm fließ (1858 –1928), schrieb: «Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr . . . Ich will . . . historisch beginnen, woher die Motive zum Unglauben gekommen sind. Die fortgesetzten Enttäuschungen bei den Versuchen, eine Analyse zum wirklichen Abschluß zu bringen . . . Dann die Überraschung, daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgeschlossen . . . (Die Perversion muß unermeßlich häufiger sein als die Hysterie . . .) Dann drittens die sichere Einsicht, daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann. (Demnach blieb die Lösung übrig, daß die sexuelle Phantasie sich regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt.) Viertens die Überlegung, daß in der tiefgehendsten Psychose die unbewußte Erinnerung nicht durchdringt, so daß das Geheimnis der Jugenderlebnisse auch im verworrensten Delirium sich nicht verrät. Wenn man so sieht, daß das Unbewußte niemals den Widerstand des Bewußten überwindet, so sinkt auch die Erwartung, daß es in der Kur umgekehrt gehen müßte bis zur völligen Bändigung des Unbewußten durch das Bewußte. – . . . Nun weiß ich überhaupt nicht, woran ich bin . . . Es erscheint wieder diskutierbar, daß erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kindheit zurückgreifen, und damit gewinnt der Faktor einer hereditären (sc. erblich bedingten, von lat.: die hereditas – Erbschaft, d.V.) Disposition einen Machtbereich zurück, aus dem (ihn) zu verdrängen ich mir zur Aufgabe gestellt hatte – im Interesse der Durchleuchtung der Neurose.» (sigmund freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, 283 –284) Alles geriet diesen Worten zufolge für freud mit der Entdeckung ins Schwanken, daß eben jene «Tatsachen», die laut Patientenmitteilung die seelische Er-

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krankung begründen sollten, historisch («objektiv») sich womöglich nie ereignet hatten, sondern nur «erdichtet» waren: Fiktionen, statt Fakten. Die Folgerung, die freud aus dieser Feststellung zog, veränderte nicht nur die Psychoanalyse, sie beinhaltet eine hermeneutische Konsequenz, die, wie vorhin noch gezeigt, insbesondere in der Theologie (bei der Auslegung der Bibel) immer noch nicht wirklich verstanden und gewürdigt wird. Man hat freud vorgeworfen, er habe sich, erschrocken «vor der Realität, die sich ihm auftat», «von nun an mit der patriarchalischen Gesellschaft» solidarisiert. (alice miller: Die Töchter schweigen nicht mehr, in: Marielouise Janssen-Jurreit: Frauen und Sexualmoral, 396) Doch jener Brief an seinen Freund fließ zeigt so ehrlich und ursprünglich wie nur möglich die wirklichen Gründe freuds dafür auf, seine einstige Trauma-Theorie zu ändern: Es ist offenbar nicht möglich, aus den Schilderungen eines Patienten «Tatsachen» zu eruieren; die Träume, die assoziativen «Erinnerungen» enthalten eine hochkomplexe Symbolsprache, in welcher die psychische Realität die Bedeutung verdichtet, welche bestimmte biographische Erlebnisse im gegenwärtigen Bewußtsein annehmen, doch die symbolischen Szenen selbst sind nicht ohne weiteres die Wiedergabe objektiver, historisch realer Geschehnisse. In einer eigenen Arbeit Über Deckerinnerungen hat freud ein Jahr später (1899) sich über die Eigenart dieser deutenden Erinnerungen ausführlich Rechenschaft gegeben (in: Gesammelte Werke, I 529 –554); dabei gelangte er zu einem in unserem Zusammenhang besonders wichtigen Ergebnis, das sich so formulieren läßt: Der Mißbrauch von seiten ihres Vaters, den eine Patientin berichtet, kann stattgefunden haben – oder auch nicht; er kann sexueller Art gewesen sein – oder auch nicht; annehmen darf man bei derartigen Schilderungen jedenfalls, daß weite Teile der Kindheit, die sich in einer einzelnen MißbrauchsSzene verdichten, unter Gewalt und Entfremdung gestanden haben werden und daß die ersehnte Liebe des Vaters sich in einer unerträglichen Form von Distanzlosigkeit, Herabwürdigung, Rechtlosigkeit und Ausgeliefertheit geltend gemacht haben wird. Das sexuelle Thema selbst kann durchaus als ein Bild für eine andere (womöglich noch unheimlichere) Wahrheit seelischer Kälte und Ausbeutung fungieren. Kurz: es ist so wenig angängig, in der Psychoanalyse eine historische Biographie zu erstellen, wie es in der Exegese des Alten Testamentes möglich sein wird, den Durchzug der Kinder Israels durch das Rote Meer (Ex 13,17–14,31 – den Kern der ganzen jüdischen Bibel!) zu rekonstruieren, oder bei der Lektüre der Weihnachtslegenden im Neuen Testament (Mt 1,18 –25; 2,1– 23; Lk 2,1– 20) die Umstände der Geburt Jesu nachzuzeichnen. Deckerinnerungen haben ihre Wahrheit – ebenso wie Träume, Märchen, Sagen

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und Legenden; doch ihre je spezifische psychische Wahrheit liegt nicht auf der Ebene des objektiven Geschehens, sondern sie liegt in der Darstellung des subjektiven Erlebens, in dem durch einen Prozeß ständiger Weiterinterpretation Erinnerungen von damals mit den Bedeutungsverleihungen von heute verschmelzen. (Vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, I 350 –374.) Wie ein Mensch zu sich als Subjekt findet, läßt sich nur entlang der subjektiven Seite seiner Erfahrungen und Sehweisen erschließen, – eine Wahrheit, die wir im nächsten Kapitel bei der Erörterung, was denn das sei: Selbstbewußtsein, Subjekt, Person, schwerlich überschätzen können. Gleichwohl gibt es denn doch gewisse Kriterien, die es erlauben, die Tatsache eines sexuellen Mißbrauchs bei Mädchen oder Jungen mit einiger Wahrscheinlichkeit für gegeben zu halten. (Vgl. nele glöer – irmgard schmiedeskamp-böhler: Verlorene Kindheit, 12–19.) Häufig finden sich in Mitteilungen dieser Art keine geschlossenen Erinnerungen, sondern nur Erinnerungssprengsplitter an eine Erfahrung, die seinerzeit wie eine Explosion das Ich des Kindes zu zerreißen drohte; und nur gegen äußerste Widerstände lassen sich die fragmentierten Bruchstücke zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Der partielle oder totale Gedächtnisausfall hat dabei (in aller Regel) nicht die Ursache, die in der neurologischen Erklärung dafür angenommen wird: eine streßbedingte Glucocorticoid-Ausschüttung, die eine geordnete Encodierung der Erlebnisinhalte im Langzeitgedächtnis verhindert hätte; – eine solche Annahme trifft unter Umständen zu, wenn eine einzelne Mißbrauchshandlung als ein katastrophaler Schock erfahren wird; die meisten Beziehungen zwischen Eltern (Erwachsenen) und Kindern indessen, die auf eine Mißbrauchsgeschichte hinauslaufen, ziehen sich über viele Vorstufen auf lange Zeit hin, und sie finden nicht selten über Jahre weg ihre Fortsetzung. Das «Vergessen» ergibt sich in solchen Fällen nicht aus einem einmaligen Schockerlebnis, sondern aus Verdrängungsund Abspaltungsvorgängen, die das Erleben selber von Anfang an begleiten: Das, was dort geschieht, darf vom eigenen Ich nicht gewollt werden, und es ist auch nicht das eigene Ich, dem es zugefügt wird; das Ich, dem «das» widerfährt, ist eine fremde Person – der Träger eines fremden Körpers, eines fremden Gefühls, einer fremden Begierde. Hinzu kommt die (erzwungene) Verleugnung in der Realität: Auch die Kontaktpersonen (die Täter) bestehen darauf, daß über das Geschehene nichts nach außen dringt; auch sie bestreiten, daß sich «derartiges» je ereignet hat; um an ihrer Seite weiterzuleben, muß man infolgedessen mit mehr oder minder großem Erfolg vor sich selbst und den anderen so tun, als wenn nichts passiert wäre. «Immer, wenn er zu mir kam, träumte ich mich auf einen Baum und saß dort neben einem Freund, den ich nicht hatte, mir aber vor-

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stellte», – so schildert eine heute etwa 55jährige Frau, wie sie im Alter zwischen 11–13 Jahren von einem «Freund» ihrer Mutter sexuell mißbraucht worden war. Selbst wenn es gelingt, den Weg in psychotische Zustände trotz des Drucks solcher Erfahrungen und entsprechender double bind-Situationen zu vermeiden, bleiben doch schwere Irritationen und Identitätsstörungen in der Folge bestehen: Was eigentlich bei all dem, als es anfing, war «Spiel» oder «Spaß»? Was war «Liebe» und was war rein egoistische Begierde? Inwieweit war man selber mit eigenen Erlebnis-Bereitschaften und Empfindungen an dem Geschehen beteiligt und inwieweit war man abhängig von den Vergünstigungen, die das «Unaussprechliche» «belohnten»? Was in dem ganzen Drama war passives, was aktives Verhalten? Welche Gefühle hätte man zulassen dürfen, welche entwickeln müssen und für welche verachtet man sich heute noch? Und immer weiter so: Was ist es mit dem eigenen Körper, was mit dem eigenen Verhalten und Auftreten, was mit der bewußten oder unbewußten Wirkung auf andere, daß man in eine derartige Situation überhaupt geraten konnte oder womöglich Gefahr läuft, erneut zu geraten? Alles steht hier in Frage, und entsprechend vielfältig sind die Dissoziationsvorgänge, mit denen das Ich sich das damals Erlebte und seither als Möglichkeit stets Gegenwärtige fernzuhalten sucht. Und ein Erfolg all dieser Abwehrmechanismen ist keineswegs sicher. Denn wie, wenn hinter der Wand der Verdrängungen die abgespaltenen IchAnteile sich neu zusammensetzen und eine eigene Macht entfalten? «Der ursprüngliche Sinn der Dissoziation», schreibt ursula gast («Das bin nicht ich» – Überleben in anderer Identität, in: Gehirn und Geist, Dossier: Psyche und Gesundheit, 1/2004, 17), «besteht . . . darin, eine innere Wirklichkeit zu schaffen, die ein emotionales Überleben in traumatischen Situationen gewährleistet. Doch einmal als Bewältigungsstrategie gebahnt, wird sie bei wiederkehrenden Traumatisierungen immer selbstverständlicher genutzt: Die dissoziative Reaktion schleift sich ein. Auf diese Weise können sich viele verschiedene ‹Personen› bilden, meist bis zu zehn, in Extremfällen aber auch zwanzig und mehr. Obwohl Vorläufer und erste Symptome der DIS (sc. der Dissoziativen Identitätsstörung, d.V.) meist schon im Kindesalter auftreten, wird die Störung oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Der Kern der Krankheit besteht nicht in der Dissoziation selbst, sondern darin, dass die dissoziative Bewältigungsstrategie sich verselbständigt und so im Alltag zur Belastung wird.» Immer mehr wird man unter diesen Voraussetzungen einem Ich begegnen, das wie der Intendant eines Theaters nur noch durch die Arrangements wechselnder Programme mit dem «Publikum» verkehrt. So wie hinter melvilles «großem» Ahab sich der kleine Pip verbirgt – ein Junge, dessen Körper aus

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dem Pazifischen Ozean gerettet wurde, während sein Geist in sonderbare Tiefen versank (herman melville: Moby Dick, XCIII 640 –645) – und wie in dem Schiffsjungen das Ideal seines Kapitäns verborgen liegt, wie hinter dem bewährten und geachteten Walfänger Ahab die Gestalt eines unheimlichen rachesinnenden Monomanen lauert und, kaum auf hoher See, aus der Kajüte an Deck steigt und wie selbst diese sich in ihre eigenen Widerspruchsgestalten zerlegt (vgl. e. drewermann: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, 96 –114, S. 106), so wird man in der Person eines jeden seelisch Schwerverletzten mit einem Kaleidoskop der verschiedenartigsten abgespaltenen und verselbständigten Ich-Anteile («Komplexe» in der Sprache carl gustav jungs) rechnen müssen. Ein Bild, das den Bewußtseinszustand einer multiplen Persönlichkeit auf erschreckende Weise wiedergibt, hat otto dix (1891–1969) im Jahre 1925 unter dem Titel Die Irrsinnige gemalt (Tempera auf Holz, 120 × 60 cm, Kunsthalle Mannheim). (Vgl. Tafel 5, aus: eva karcher: Dix, 152.) Als Modell diente ihm dabei eine Frau, die er im gleichen Jahr als Die Witwe gemalt hat: als eine schwarzgekleidete, magersüchtig wirkende Person, die an einer Backsteinmauer vorbei eine Lilie in ihrer knöchernen Hand hält, während ein dunkler Schleier ihre Gestalt wie unter starkem Gegenwind umweht. (Vgl. fritz löffler: Otto Dix – Life and Work, S. 62; Abb. 80.) Die Irrsinnige nun zeigt eine dirnenähnlich geschminkte Frau in einem rot-weiß gestreiften Kleid, das dem Betrachter ungeschützt die deutlich hervortretenden Rippen ihrer Brust zur Ansicht freigibt; der Gesichtsausdruck, geprägt von einem stechenden beziehungsweise erschrockenen Blick sowie von dem halbgeöffneten, schmallippigen Mund, irrt hin und her zwischen entsetztem Lachen und lächelndem Entsetzen. Ihr fuchsrotes Haar wird, wie bei jener Witwe, von einem schwarzen Schleier umrahmt, der sich rot-schwarz über die Hälfte des oberen Bildteils hinweg verwirbelt und über ihrem Kopf eine Reihe unheimlicher Fratzen und Gesichter erkennen läßt: einen glatzköpfigen, rotgesichtigen Wüstling mit geschlossenen Augen und bleckenden Zähnen zum Beispiel, eine totenschädelähnliche Gestalt, einen Kopf, dessen breite Augen und schmaler Mund hervorlugen wie die Lichter in einer Halloween-Maske, – sich auflösende Formen, die zu jeder nur denkbaren Angst-Deutung geradewegs einladen . . . Es ist, als wäre der Kopf dieser Frau ein Herd, dessen Glut die Trauer einer unheimlichen Vergangenheit wie Rauch über sich aufsteigen ließe und dabei all die Gestalten sichtbar machte, die ihr Leben verwüstet haben: Gewalt, Seelenlosigkeit, Spott, Grausamkeit – sie alle mögen darstellen, was man (keinesfalls nur in sexueller Ausdrucksform) als kindlichen «Mißbrauch» bezeichnen mag. Die Folge: eine

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Person, in der viele fremde «Personen» ein Eigenleben führen und das Ich dieser haltlos Ausgelieferten buchstäblich um den Verstand bringen, – sie alle die verinnerlichten Formen einer entfremdenden «Vergewaltigung» in wörtlichem oder übertragenem Sinne seit Kindertagen. Doch «verletzend» ist nicht nur, was einem selber zugefügt wurde, «verletzend» (traumatisierend) wirken kann auch, was man anderen angetan hat. Wie lebt man damit, als Soldat zum «Mörder», zum «wilden Tier» geworden zu sein? Wie findet man sich in der «zivilisierten» Welt zurecht, wenn man in der von der «Zivilisation» befohlenen Barbarei des Krieges alles «richtig» finden mußte, was dem eigenen Überleben nützlich sein konnte? Gegenwärtig diskutiert man in den USA einen Mord, der am 13. Juli 2003 von vier Kriegsheimkehrern im Alter von 23 Jahren begangen wurde: am dritten Tage einer Sauf- und Huren-Tour durch das Nachtleben von Columbus (Georgia) töteten damals Jacob Burgoyne, Mario Navarrete, Alberto Martinez und Douglas Woodcoff ihren Kameraden Richard Davis im Verlauf einer Rauferei. Insbesondere der Strafverteidiger David West, der den aus Kalifornien stammenden Alberto Martinez vertritt, steht derzeit offenbar vor der Pflicht, zum ersten Mal in der Geschichte Georgias in einem Mordfall auf «nicht-verantwortlich wegen PTSD» zu plädieren, und es wird die Frage sein, wie amerikanische Gerichte darauf eingehen werden. PTSD (Posttraumatisches StreßSyndrom; D = engl.: disorder – Störung) ist ein Begriff, dem wir bereits bei der Erklärung von Depressionen begegnet sind und der um 1980 in den USA und anderen Ländern eingeführt wurde; derzeit dient der Begriff dazu, um (entsprechend den Erfahrungen des Vietnam-Kriegs) mehr als 100 000 amerikanische Soldaten psychologisch zu charakterisieren, die nach 1991, 2001 und 2003 aus dem Irak und aus Afghanistan als seelische Krüppel zurückgekommen sind. (Zur diagnostischen Klassifikation von PTSD vgl. DSM-IV, 309; sigrun schmidt-traub – tina-patricia lex: Angst und Depression, 182 –183; zur Abgrenzung gegenüber einer Akuten Belastungsreaktion und einer Andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vgl. mark richards: Posttraumatische Belastungssyndrome: Verarbeitung und Folgen von schweren seelischen und Extrembelastungen, in: W. Machleidt u. a.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 115.) «Eine offizielle Studie der Armee, deren Ergebnisse im Dezember 2004 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, kam zu dem Schluss, dass zwischen 15,8 und 17,7 Prozent der Soldaten, die (sc. im Jahre 2003, d.V.) an der Operation Iraqi Freedom teilgenommen haben, Anzeichen von ‹schwerer Depression, Angstzuständen oder PTSD› zeigten. Betroffen von psychischen Belastungsstörungen ist dem-

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nach jeder sechste Soldat – und mehr als eine Million Soldaten haben insgesamt im Irak und in Afghanistan gedient.» Tatsächlich dürfte die Bluttat vom Juli 2003 psychologisch mit einem Massaker zusammenhängen, das Burgoynes BKompanie am 11. April in Bagdad verübt hatte, als nach einem sechsstündigen Gefecht schließlich «etwa 100 bis 200 feindliche Kämpfer tot auf der Straße» lagen, aber «auf wundersame Weise war kein einziger Amerikaner unter den Opfern. Die US-Soldaten selbst gaben den Ereignissen dieses Tages den Namen ‹Midtown Massacre› – in Anlehnung an eine berühmte Mafiaschießerei in New York.» (gert van langendonck: Der Krieg kommt nach Hause, in: Die Zeit, Nr. 35, 25. Aug. 2005, S. 10; vgl. zu dem Thema PTSD als Kriegsfolge auch reymer klüver: Die Seele bleibt im Wüstensturm. Jeder sechste US-Veteran trägt solche psychischen Verletzungen davon, dass er sein Leben kaum mehr bewältigt – die Armee verdrängt das Problem, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Okt. 2005, S. 3.) Tatsächlich ist (auch) PTSD nur ein neuer Name für eine alte Erfahrung: Was der Krieg mit Menschen macht, ist unmenschlich und nur unter schlimmsten Abspaltungen von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen «durchzustehen». «Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg wurde es ‹Soldatenherz› (soldier’s heart) genannt, nach dem Ersten Weltkrieg ‹Granatenschock› (shell shock), nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es ‹Kriegsmüdigkeit› (war fatigue) und nach dem Vietnamkrieg ‹Gefechtsstress› (combat stress).» (gert van langendonck: Der Krieg kommt nach Hause, in: A. a. O., 10) All diese Bezeichnungen (bis auf das eigentümlich sprechende Wort «Soldatenherz») stellen jedoch den Faktor Angst und Gefahr in den Vordergrund, während das wirkliche Problem: die moralische Erniedrigung, die ein Mensch sich durch sein eigenes Tun zufügt, kaum anklingt. Dabei scheint allmählich sogar die amerikanische Armeeführung zu merken, daß es nicht genügt, ihre Truppen militärtechnisch hinter einem Schutzwall überlegener Distanzwaffen-Systeme «unangreifbar» zu machen; auch sie anerkennt PTSD mittlerweile als ein Problem. Als 2002 in «nur sechs Wochen vier Soldaten aus Fort Bragg im US-Staat North Carolina ihre Ehefrauen umgebracht hatten» – drei «der Soldaten waren erst kurz zuvor aus Afghanistan zurückgekehrt; zwei von ihnen nahmen sich hinterher das Leben» –, glaubte man zunächst, das Malariamedikament Lariam dafür verantwortlich machen zu sollen. (gert van langendonck: A. a. O., 10) Doch dann, im Juli 2003, startete das Pentagon ein psychologisches Unterstützungsprogramm für die Soldaten, indem man Gefechtsstreß-Teams mit in die Kampfeinsätze schickte und die Familien bei der Rückkehr der Soldaten betreute. Paradoxerweise stand auch Jacob Burgoyne im Juli 2003 bei seiner

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Heimkehr unter der Obhut dieses Programms, ja, er galt bereits als ein Vorzeigefall für die neue Fürsorglichkeit der Armeeführung, ehe der Mord geschah. (A. a. O., 10) Gefragt, was in jener Mordnacht in Columbus wirklich passiert sei, erklärte Burgoyne Monate danach im Gefängnis: «Ich weiß nur so viel . . . Fünf Typen sind aus dem Irak zurückgekehrt, und 72 Stunden später ist einer von ihnen ums Leben gekommen. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.» (gert van langendonck: A. a. O., 10) Wer einen Mord schildert als einen bloßen Todesfall und das für «alles» hält, was davon zu sagen (in Erinnerung zu behalten) ist, leidet wohl nicht nur an «PTSD» – der leidet an «DIS»: der ist eine multiple Persönlichkeit.

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3. Neurologische Erkrankungen

Die «multiple Persönlichkeit» stellt ein Phänomen dar, das (zumindest bis heute) in angegebener Weise am ehesten nicht einer neurologischen, sondern psychologischen Betrachtung zugänglich ist; es trägt, salopp gesagt, sich in der «oberen Etage» jenes Hochhauses zu, mit dem unsere Psyche zu vergleichen ist. Um so lohnender scheint es, einige Worte wenigstens noch zu Krankheiten zu sagen, die sich heute am besten neurologisch begründen und behandeln lassen: zum Autismus und zur parkinson-Erkrankung. Sinnvoll, ja, nötig ist ein solcher Exkurs schon deshalb, weil noch vor etwa vier Jahrzehnten autistische Kinder in breiter Form unter die Kategorie «Hospitalismus» eingeordnet, mithin als Opfer einer «affektiven Mangelzufuhr» betrachtet wurden. Dies lag zum Teil daran, daß mit den Möglichkeiten der Hirnforschung noch vor etwa 40 Jahren bei autistischen Persönlichkeiten neurologische Abnormitäten sich nicht nachweisen ließen; doch bloße Ausschluß-Argumentationen (weil es das eine anscheinend nicht ist, muß es das andere sein) sind außerhalb reiner Alternativentscheidungen schon methodisch äußerst zweifelhaft. Hinzu kam, daß die sozialpsychologische Mode jener Tage dahin drängte, eine möglichst biologiefreie Anthropologie aufzubauen, – Gene und Gehirn hatten da als weit weniger wichtig zu gelten denn die «Gesellschaft» in Gestalt von Milieu und Erziehung. Die Folge dieser Doktrin bestand darin, vielen Eltern, die mit einem autistischen Kind schon genug belastet waren, nun noch den Vorwurf schlimmer Versäumnisse im Umgang mit ihrem kleinen Patienten aufzubürden. Tatsächlich hatten die Studien vor allem von rené arpad spitz (Vom Säugling zum Kleinkind, 289 –295; 296– 311) eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig die elterliche Fürsorge in den ersten Lebensmonaten und -jahren für die gesunde seelische Entwicklung eines Kindes ist; zweifellos kann «Autismus» auch psychogen zustande kommen. (Vgl. margaret s. mahler: On Child Psychosis and Schizophrenia: Autistic and Symbiotic Infantile Psychoses, in: The Psychoanalytic Study of the Child, 7/1952, 286 –305.) Doch autistische Kinder von vornherein als «Kaspar-Hauser-Kinder» zu betrachten bedeutet einen schwerwiegenden Fehler, indem man auf Grund einer (ideologisch bedingten) methodischen Engführung beziehungsweise auf Grund der Überdehnung eines begrenzt zu-

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treffenden Erklärungsansatzes monokausal einen psychisch – fast immer – recht komplizierten Sachverhalt zu begründen sucht. Dabei führt gerade die Beschäftigung mit dem Autismus wie von selbst in das hochinteressante Neuland der modernen neuronalen Netzwerkmodelle, mit denen man Vorgänge im Gehirn mit technischen Mitteln nachbildet, um sie dadurch besser verstehen zu können; zudem werden wir gleich noch sehen, daß sich in der Auseinandersetzung mit dem Autismus eine überraschende Lösung des Problems der Abstraktionsfähigkeit des (menschlichen) Geistes anbietet, das in der theologischen Argumentation noch vor fünf Jahrzehnten als so zentral betrachtet wurde, daß – wie wir in der Einleitung bereits hörten – die Erkenntnismetaphysik karl rahners einen eigenen «Gottesbeweis» daraus abzuleiten suchte (vgl. Bd. I 27). Genug der Vorrede; – was ist «Autismus»?

a) Autismus oder: Mängel im neuronalen Netz Der Begriff «Autismus» (von griech.: autós – selbst; Selbstbezogenheit) wurde von eugen bleuler (Lehrbuch der Psychiatrie, 415) als ein zwar nicht spezifischer, aber wesentlicher Teil der Schizophrenie-Symptomatik bei Erwachsenen eingeführt: «Die Schizophrenen verlieren den Kontakt mit der Wirklichkeit . . . – Dafür leben sie in einer eingebildeten Welt von allerlei Wunscherfüllungen und Verfolgungsideen», schrieb er. Dann aber «erfuhr der Begriff eine erhebliche Ausdehnung und findet heute vor allem für die Klassifikation kindlicher Autismusformen Verwendung». (hellmuth braunscharm: Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen einschließlich Oligophrenie, in: H.-J. Möller u. a.: Psychiatrie und Psychotherapie, 421) Zum ersten Mal beschrieben wurde Autismus bei Kindern im Jahre 1943 von leo kanner (1896 –1981) in Baltimore (Maryland). Unter dem Titel Autistische Störungen des affektiven Kontakts veröffentlichte er seine Beobachtungen an elf Kindern, die alle die folgenden Merkmale aufwiesen: «Sie sonderten sich von der Außenwelt ab, machten beharrlich immer dasselbe, wiederholten beispielsweise geradezu stereotyp einfache Laute, Sätze und Bewegungen, sie sträubten sich gegen Veränderungen alles Gewohnten, hatten seltsam eingeengte Interessen, zeigten Vorliebe für sogenannte komplexe ritualisierte Verhaltensweisen und zeichneten sich durch gewisse Fähigkeiten aus, die angesichts der Defizite bemerkenswert erschienen (Kanner sprach von Inselbegabungen).» (uta frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 96) Um von Frühkindlichem Autismus zu sprechen, muß die Krankheit schon im

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Säuglingsalter, «vor dem Alter von 30 Monaten» (DSM-III, 62), beginnen. Der «Autismus» im wörtlichen Sinne ist dabei das Hauptkennzeichen: Die autistischen Kinder «lächeln nicht, wenn andere Kinder lächeln würden, sie strecken der Mutter die Ärmchen nicht entgegen. Sie kümmern sich wenig um den Anruf, und ihr Blick begegnet dem Blick anderer zu wenig und richtet sich eher ins Leere. Zärtlichkeiten erwidern sie kaum. Später fehlt das Bedürfnis nach sprachlichem Kontakt. Die Menschen werden wie Gegenstände behandelt. Pflege und Fürsorge wird angenommen, ohne daß sie Dankbarkeit und Anhänglichkeit auslöst. Fremde werden ähnlich wie Nahestehende behandelt.» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 584) Damit unterscheidet sich Frühkindlicher Autismus von einer Schizophrenie. «Der Autismus Schizophrener ist ein Rückzug bei gestörten menschlichen Beziehungen auf inneres Leben (auf Wahnideen, Halluzinationen, symbolische Selbstverwirklichung z. B.), die frühkindlichen Autisten ziehen sich nicht auf das Innenleben zurück, sondern es fehlt ihnen von jeher die rechte Beziehung zu andern.» (eugen bleuler: A. a. O., 584) – Was die Fähigkeit zur Konversation angeht, so besteht sie bei autistischen Kindern nicht selten in wiederholenden Fragen (in Echolalie, von griech.: die e¯cho¯ – Widerhall; die lalía – Rederei) beziehungsweise in einem eigentümlichen Gebrauch der Sprache. Einer der Patienten von leo kanner, der fünfjährige Paul, plapperte papageiengleich alles nach. «So sagte er beispielsweise – analog der Frage der Mutter – ‹Willst du ein Bonbon›, wenn er ‹Ich will ein Bonbon› meinte.» (uta frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 97) Entsprechend sagen die Kinder «du» statt «ich» (sie kehren die Pronomina um). «Sprache und Kommunikation sind starr, unfroh und reduziert. – Eigene Interessen werden nur selten entwickelt und münden häufig in stereotype Verhaltensmuster. Oft besteht eine intensive Bindung an bestimmte Gegenstände (z. B. Bälle, Stofftiere, Schnüre) und Räumlichkeiten. Die Stereotypien können erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, während ansonsten die Aufmerksamkeitsspanne eher kurz ist. Daraus ergibt sich eine massive Störung des Spielverhaltens. Viele Gegenstände werden nur in monotoner Weise gedreht oder gewendet. – Neue Verhaltensweisen werden nur sehr schwer oder gar nicht erlernt. Imitationslernen findet so gut wie nicht statt (z. B. keine Nachahmung der häuslichen Aktivitäten anderer Familienmitglieder). Gegenüber neuen Situationen oder Anforderungen besteht eine ausgeprägte Veränderungsangst. Spontaneität, Phantasie oder Neugier sind eingeschränkt.» (hellmuth braun-scharm: Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen einschließlich Oligophrenie, in: H.-J. Möller u. a.: Psychiatrie und Psychotherapie, 422)

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Der Verlauf des Frühkindlichen Autismus ist zumeist chronisch; mit anderen Worten: Auffälligkeiten, die in der frühen Kindheit bereits bestehen, halten über lange Zeit an und verändern sich kaum. Eine therapeutische Behandlung muß deshalb um so flexibler auf den Einzelfall eingehen, wobei die Ziele sich sehr einfach aus der genannten Symptomatik ergeben: nach Möglichkeit sollten das Sozialverhalten verbessert und die Stereotypien abgebaut werden zugunsten einer normalen Lernfähigkeit und psychischen Entwicklung. Doch das alles ist schwer zu erreichen, ohne die Mutter (die Familie) mit in die Therapie einzubinden. In zwei Erfahrungsberichten aus der Sicht einer Betroffenen hat marlies schmitz (Kati lernt hören, 1987; Kati lernt sprechen, 1992) beschrieben, wie speziell die Verfahren von carl h. delacato sich positiv auf die Entfaltung ihrer Tochter ausgewirkt haben. Zeitgleich zu den Untersuchungen von leo kanner, doch völlig unabhängig davon, verfaßte hans asperger (1906 –1980) an der Universitätsklinik in Wien eine Habilitationsschrift über Kinder, die er ebenfalls als «autistisch» bezeichnete, um ihren fortschreitenden Kontaktverlust zur Außenwelt zu beschreiben. Im Unterschied zum Frühkindlichen Autismus spricht man beim sogenannten asperger-Syndrom von Autistischer Psychopathie und sieht sie durch eine Reihe von Eigentümlichkeiten und abweichenden Symptomen gekennzeichnet: Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen, die vom aspergerSyndrom betroffen sind, ist mit 9 : 1 dreimal so hoch wie beim kanner-Syndrom, was einen entsprechend hohen genetischen Faktor bei der Krankheitsverursachung vermuten läßt; die Intelligenz, die beim Frühkindlichen Autismus häufig vermindert ist, liegt beim asperger-Syndrom im normalen Durchschnitt oder sogar darüber. Insbesondere der Spracherwerb ist beim asperger-Syndrom gerade nicht gestört, sondern setzt sehr früh ein und weist einen hohen Wortschatz auf; allerdings ist die Sprache oft monoton, flüsternd oder schreiend und der jeweiligen Situation unangemessen; es tauchen – wie bei Schizophrenen – Neologismen auf: eigenwillige Wortneubildungen; ebenso «originell» können die Denkmuster geraten. Während beim kanner-Syndrom die Motorik an sich nicht eingeschränkt ist, finden sich beim asperger-Syndrom ausgeprägte Zwänge, Tics und hyperkinetische Störungen. In der Schule kommen asperger-Patienten schwer zurecht, weil sie ihre fixierten Interessen nicht auf die wechselnden Unterrichtsvorgaben umstellen können. Überhaupt empfinden sie die soziale Umgebung als ausgesprochen störend, während sie von kanner-Patienten gar nicht erst wahrgenommen wird. Abb. C 23 stellt die Symptom-Unterschiede zwischen Frühkindlichem Autismus und Autistischer Psychopathie tabellarisch zusammen.

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Unterscheidung der autistischen Syndrome frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom)

autistische Psychopathie (Asperger-Syndrom)

Geschlechterverhältnis

Jungen : Mädchen 3 : 1

Jungen : Mädchen 9 : 1

Diagnosestellung

Kleinkindalter

Kindergarten- und Schulalter

Intelligenz

häufig vermindert

normal bis überdurchschnittlich

Sprache

gestörte und verzögerte Sprach- frühzeitige Sprachentwicklung, entwicklung wandlungsfähige Sprache mit großem Wortschatz

Motorik

in der Regel keine Einschränkungen

motorische Auffälligkeiten (z. B. motorische Ungeschicklichkeit)

Kontaktaufnahme

Umgebung ist nicht existent

Umgebung wirkt störend

Klassifikation des Asperger-Syndroms nach ICD-10 und DSM-IV ICD-10

DSM-IV

Asperger-Syndrom – qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion – motorische Ungeschicklichkeit – stereotype Interessen und Aktivitäten – Fehlen einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung – deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechts

Asperger-Störung – Beeinträchtigung der sozialen Interaktionen – beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten – Beeinträchtigung in sozialen, schulischen und beruflichen Funktionsbereichen – keine Verzögerung der sprachlichen oder kognitiven Entwicklung

Abb. C 23: Unterscheidung der autistischen Syndrome

Natürlich stellt sich nun die Frage, ob es einen zentralen psychischen Mechanismus gibt, der hinter den verschiedenen Symptomen steckt; und hernach bleibt zu untersuchen, welche biologischen Ursachen einen solchen Mechanismus hervorrufen könnten. Betrachtet man das Spektrum der genannten Autismus-Symptome, so schälen sich drei zentrale Merkmale heraus, nämlich erhebliche Beeinträchtigungen der Kommunikation, der Phantasie und der sozialen Beziehungsfähigkeit. (Vgl. uta frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 100.) Tatsächlich haben utah frith, john morton und alan m. leslie (The Cognitive Basis of a Biological Disorder: Autism, in: Trends in Neurosciences, 14/1991, 433 –438) ein theoretisches Modell derjenigen kognitiven Komponente entwickelt, die über die Fähigkeit bestimmt, gemeinsame Interessen zu entwickeln und etwas durchzuführen, das man bei normal sich entwickelnden Kindern im 2. Lebensjahr mit «Als-ob-Spielen» bezeichnen kann: Ein gesundes Kind spielt zum Beispiel mit seiner Puppe oder mit seinem Teddy «füttern», indem es mit dem Löf-

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fel die «richtigen» Bewegungen vornimmt und – wichtiger noch – die Geräusche nachahmt, mit denen ein kleines Kind die Nahrung aufnimmt; es ist mithin imstande, sich in die Situation der Mutter ebenso wie in die Situation des Babys hineinzuversetzen, und es vermag eine tatsächliche Tätigkeit mit einer imaginären Handlung und mit einem imaginären Handlungsträger (und Handlungsobjekt) zu verknüpfen. Und genau an dieser Stelle versagt ein autistisches Kind. (Vgl. uta frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 100 –101.) Nehmen wir eine Spielabfolge, wie sie nach einer Zeichnung von axel scheffler in Abb. C 24 wiedergegeben ist. Ein autistisches Kind wird auf die Frage, wo Sally ihren Ball sucht, antworten, sie suche in der Schachtel, denn es kann nicht verstehen, daß jemand etwas Falsches annimmt, weil er nicht weiß, was es selber weiß. (Vgl. steffen moritz: Kognitive Störungen, in: D. F. Braus: Schizophrenie, 20– 21, der betont, daß Theory-of-Mind-Defizite, also Mängel in der Fähigkeit, sich eine «Theorie von dem Denken» anderer zu bilden – sich in andere Menschen hineinzuversetzen –, «eher mit formalen als mit inhaltlichen Denkstörungen assoziiert sind.») Umgekehrt wird ein autistisches Kind sich unfähig zeigen, spielerisch einen anderen zu täuschen und absichtlich in die Irre zu führen. Um zu verstehen, worin dieses Unvermögen gründet, müssen wir uns noch einmal an batesons Theorie vom double bind erinnern, wobei es uns jetzt nur um seinen Hinweis auf eine metakommunikative Ebene geht. «Unsere Umwelt», schreibt uta frith (Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 101), «besteht nicht nur aus sichtbaren körperlichen Dingen und realen Ereignissen, die sich durch primäre Repräsentationen begreifen lassen, sondern auch aus unsichtbaren Gegebenheiten wie der Psyche eines Menschen und aus mentalen Ereignissen, die sekundäre Repräsentationen erfordern. Beide Arten von Repräsentationen müssen im Gedächtnis behalten und auseinander gehalten werden. – Diese Fähigkeit, wirkliche Objekte, Situationen und Ereignisse geistig zu repräsentieren und – davon entkoppelt – Gedanken, Pläne und Zielvorstellungen über reale Gegebenheiten, ermöglicht es, scheinbare Widersprüche zu lösen, wie sie bei der Informationsverarbeitung fortwährend auftreten.» Autistische Kinder sind zu solchen sekundären beziehungsweise zu solchen Meta-Repräsentationen außerstande, und zwar nicht weil sie psychisch in eine Situation versetzt würden, deren widersprüchliche Doppelbotschaft sie zugunsten einer «Wahrheit» vereinfachen müßten, sondern weil ihnen die Fähigkeit abgeht, die ganz normale Meta-Ebene der Kommunikation (zum Beispiel die Bedeutung, die ein Gegenstand in einem Spiel annimmt; das Gefühl, das eine Mitteilung begleitet; die Absicht, die hinter einer bestimmten Aktion steckt) überhaupt wahr-

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Abb. C 24: Ein Problem, das gesunde vierjährige Kinder sofort, autistische Kinder aber nicht lösen können

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zunehmen; anscheinend liegt hier der Grund, warum die autistische und die schizophrene Symptomatik manchmal eine so große Ähnlichkeit aufweisen; das gemeinsame Problem stellt die Meta-Kommunikation dar, die im ersten Falle gar nicht erst erfaßt wird, während sie im zweiten Fall entstellt ist. «In Ermangelung einer solchen Meta-Repräsentation entwickeln sich autistische Kinder ganz anders als gesunde. Normalerweise bilden sich im Zuge der kognitiven Entwicklung auch immer komplexere soziale und kommunikative Fertigkeiten aus: Kindern wird beispielsweise zunehmend bewußt, daß es falsche und echte Gefühlsbekundungen gibt, und sie lernen, dies zu berücksichtigen. Entsprechend werden sie . . . (das) Lesen zwischen den Zeilen als . . . (einen) grundlegenden Aspekt menschlicher Kommunikation erfahren und werden selber bald etwas durch die Blume sagen können; Humor und Ironie erschließen sich ihnen. Kurzum, sich mit imaginären Vorstellungen zu beschäftigen, Emotionen zu interpretieren und bloß intendierte Absichten zu erkennen – all das sind Leistungen, die letztlich auf einem angeborenen kognitiven Mechanismus beruhen und deshalb gemeinhin als selbstverständlich gelten. Für autistische Kinder aber sind gerade sie schwierig oder sogar unmöglich.» (uta frith: A. a. O., 102) Mit anderen Worten: Autistische Kinder leiden an einer mentalen Wahrnehmungsstörung, die erhebliche psychische Folgen für das ganze weitere Leben zeitigt, obwohl sie selbst nicht primär psychischen Ursprungs ist. Damit stellt sich die Frage jetzt so: Gibt es neurologische Phänomene, die bedingen, daß die Meta-Ebene der Kommunikation nicht richtig repräsentiert wird? Dies kann man heute in etwa bejahen. Bei der Suche nach den Ursachen läßt sich, wie gesagt, als erstes an genetische Faktoren denken. Etwa ein bis zwei Fälle von kanner-Autismus finden sich auf 1000 Geburten, wobei Jungen zwei bis viermal häufiger betroffen sind als Mädchen. Das ist eine rein statistische Feststellung. Gezeigt werden müßte nun, welch ein Gen oder welche Gene bei der Entwicklung des Gehirns die Fähigkeit codieren, sich die eigenen Vorstellungen bewußtzumachen oder sich in die psychische Welt von Mitmenschen hineinzuversetzen; beim heutigen Stand der Forschung aber sind wir dazu nicht in der Lage. Immerhin scheinen Untersuchungen an eineiigen Zwillingen den Eindruck genetischer Verursachungen zu bestätigen: im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen sind bei ihnen sehr viel häufiger gleichzeitig beide Kinder erkrankt; zudem liegt die Wahrscheinlichkeit, daß Autismus in derselben Familie noch einmal vorkommen wird, 50 bis 100mal über dem Wert eines bloßen Zufallsereignisses. – Doch auch andere Ursachen oder Auslöser kommen in Frage: so etwa eine Rötelerkrankung der Mutter während der Schwangerschaft oder frühe Hirnschädigungen oder An-

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fälle. Weil das wissenschaftliche Bemühen an dem einen Ende des Problems (der Ursachenforschung nach möglichen Störungen der Gehirnentwicklung) sich erkennbar schwertut, versucht man natürlich, an dem anderen Ende (der Untersuchung von Anatomie und Funktionsweise des Gehirns von AutismusPatienten) weiterzukommen, und dabei erlangen die bildgebenden Verfahren eine zunehmend größere Bedeutung. (Vgl. uta frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 99.) Bei der Suche nach pathologischen Veränderungen fand man im Gehirn verstorbener Autismus-Patienten in manchen Cortex-Arealen eine verminderte Neuronendichte, – womit man gerechnet hatte; überraschenderweise fand sich aber ausgerechnet im Hippocampus, in der Amygdala und im entorhinalen Cortex (die für Lern- und Gedächtnisvorgänge entscheidend sind) eine vermehrte Anzahl von Neuronen. Dieser Befund paßt gut zu der Tatsache, daß sich bei Autisten nicht selten unter den «Inselbegabungen» besondere Fähigkeiten beim «Behalten einfacher raumzeitlicher oder symbolischer Muster (Telefonnummern, Bilder aus dem Gedächtnis zeichnen, Behalten sinnloser Wörter etc.)» finden. (manfred spitzer: Geist im Netz, 142) Um verständlich zu machen, wie eine mangelnde Abstraktionsfähigkeit (mangelnde Meta-Repräsentation) mit einer erhöhten Gedächtnisfähigkeit einhergehen kann, hat ira l. cohen ein Netzwerkmodell erstellt, das bestimmte Gegebenheiten in der Organisation künstlicher Intelligenz in Analogie zu den neurologischen Besonderheiten im Gehirn von Autismus-Patienten setzt. (ira l. cohen: An artificial neural network analogue of learning in autism, in: Biological Psychiatry, 36/1994, 5 –20) Damit wir diesen Zusammenhang verstehen lernen, müssen wir allerdings ein wenig über elektronische Netzwerke wissen. Um mit dem einfachsten zu beginnen: Man kann ein Neuron idealisiert so darstellen, wie es in Abb. C 25 geschieht. Wie man sieht, werden die Signale einer wirklichen Nervenzelle hier durch Zahlenwerte vertreten – die sogenannten Aktivitäten. Jede der Eingabeaktivitäten wird «gewichtet», das heißt sie wird mit einem entsprechenden Zahlenwert multipliziert. Der Zellkörper wird durch einen «Knoten» vertreten, der die gewichteten Eingaben addiert und daraus mit Hilfe einer Transferfunktion seine Ausgabeaktivität errechnet. Die Transferfunktion kann linear, von einem Schwellenwert abhängig oder sigmoid (von griech.: sígma – der Buchstabe s, eíde¯s – ähnlich; dem griech. Sigma ähnlich, s-förmig bzw. halbkreisförmig) sein, je nachdem, ob die Ausgabeaktivität proportional zu der gewichteten Gesamteingabe steht oder ob die Ausgabe einen von zwei möglichen Werten annimmt, im Falle die Gesamteingabe größer oder kleiner ist als ein gewisser Schwellen-

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Abb. C 25: Idealisierte Darstellung eines Neurons

wert (wie wir es als Alles-oder-Nichts-Ereignis beim «Feuern» der Neuronen kennengelernt haben, vgl. Bd. I 198; 212), oder ob die Ausgabeaktivität beim Überschreiten des Schwellenwertes nicht plötzlich, sondern allmählich (in einer sigmaförmigen Funktion) erfolgt (wie es «echten» Neuronen am meisten entspricht). Ein neuronales Netz läßt sich zur Lösung einer bestimmten Aufgabe dadurch konstruieren, daß man die Knoten in geeigneter Weise miteinander verbindet und die entsprechenden Gewichte für die Verbindungen festlegt; dadurch kann man bestimmen, welche Knoten einander beeinflussen, wie stark dieser Einfluß ist und ob er, je nach Vorzeichen, erregend oder hemmend sein soll. (Vgl. geoffrey e. hinton: Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen, in: Gehirn und Bewußtsein, 138.) So hat der finnische Ingenieur teuvo kohonen (geb. 1934) Netzwerke konstruiert, die im einfachsten Fall nur aus zwei Schichten bestehen: einer Input- und einer Outputschicht (der sog. kohonen-Schicht). Jedes Neuron der Inputschicht ist mit jedem Neuron der kohonen-Schicht verbunden, wie Abb. C 26 es darstellt. Zu sehen sind die Verbindungen zwischen einer Inputschicht, die aus 5 mal 7 Neuronen besteht, und einer kohonen-Schicht, die 10 mal 10 Neuronen umfaßt; zur besseren Übersicht sind nur die Verbindungen eines Inputneurons zu allen Outputneuronen (oben) und von allen Inputneuronen zu einem Outputneuron (unten) dargestellt – so wie auch die golgi-Färbung nur etwa 1 %

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Abb. C 26: Ein einfaches kohonen-Netzwerk

aller Fasern sichtbar macht (vgl. Bd. I 192 –193). Entscheidend ist nun, daß in der kohonen-Schicht jedes Neuron mit jedem anderen Neuron verbunden ist, und zwar so, daß Verbindungen zu benachbarten Neuronen anregend wirken, während Verbindungen zu weiter entfernt liegenden Neuronen hemmend wirken. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 103–105.) Abb. C 27 zeigt diese Funktion im Querschnitt (oben) und in dreidimensionaler Ansicht (mitte) sowie die gesamte Umgebung des aktiven Neurons in der Fläche des kohonen-Netzwerkes (unten). Man spricht auch von der Center-Surround-(engl.: Mittelpunkt-Umgebung-)Architektur innerhalb der kohonen-Schicht. (Vgl. manfred spitzer: A. a. O., 105–106.) Die Wirkung dieses Center-Surround-Prinzips liegt auf der Hand: Wird ein Muster in der Inputschicht repräsentiert, so erhält jedes Neuron der kohonen-Schicht eine Kopie dieses Musters, allerdings modifiziert durch die unterschiedlichen Synapsengewichte. Auf diese Weise findet ein Wettbewerb unter den Neuronen der kohonen-Schicht statt: Eines von ihnen wird durch den

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Abb. C 27: Center-Surround-Architektur innerhalb der kohonen-Schicht

Input am stärksten aktiviert. Dieses «gewinnende» Neuron, dessen Synapsengewichte am besten zu dem Eingangssignal passen, sorgt dafür, daß seine unmittelbaren Nachbarn leichter aktiviert werden und alle anderen Neuronen gehemmt werden. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 107–108.) Durch «seine hemmenden Verbindungen zu fast allen anderen Neuronen der Kohonen-Schicht sorgt das gewinnende Neuron vor allem dafür, daß nur es selbst aktiv wird und somit bei gegebenem Input ‹gewinnt›.» (manfred spitzer: A. a. O., 105) Um zu einem echten Lerneffekt in einem kohonen-Netzwerk

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zu gelangen, genügt es, daß zwischen Input- und Outputschicht die hebbsche Lernregel herrscht (vgl. Bd. I 288), die wir bereits mit der molekularen Struktur neuronaler Rezeptoren in Verbindung gebracht haben (vgl. Bd. I 312– 315). Lernen, so sahen wir, beruht auf einer Verstärkung der Verbindungen zwischen Neuronen durch gemeinsame Aktivierung (durch eine Verstärkung des neuronalen Übertragungsmechanismus bzw., technisch ausgedrückt, durch eine Veränderung des Synapsengewichtes). Dann können wir sagen: Diejenigen Neuronen, die in der Inputschicht das Eingangsmuster repräsentieren, müssen mit dem gewinnenden Neuron in der Outputschicht zugleich aktiv sein. Auf diese Weise verstärken sich die Verbindungen zwischen den aktiven Eingangsneuronen und dem gewinnenden Neuron; oder umgekehrt: die Verbindungen des gewinnenden Neurons in der kohonen-Schicht zu den aktiven Neuronen der Inputschicht nehmen zu, indem sich seine Synapsengewichte in Richtung des Eingangsmusters verschieben; seine Verbindungen zu den inaktiven Neuronen der Inputschicht bleiben demgegenüber unverändert gering. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 107.) Doch die Sache geht noch weiter. Wir haben gesehen, daß das Gehirn Karten anlegt, die Körperteile repräsentieren (vgl. Abb. A 28) oder Worte speichern (vgl. Bd. I 149 –152). «Ähnlicher Input wird auf der Karte nahe beieinander repräsentiert, unähnlicher Input findet sich an weiter entfernt liegenden Punkten der Karte. Mindestens ebenso bedeutsam ist, daß häufiger Input auf einer größeren Fläche repräsentiert wird als seltener Input.» (manfred spitzer: Geist im Netz, 111–112) Und auch das hat zu tun mit dem «kompetitiven Lernen», wie es sich in kohonen-Netzwerken darstellen läßt. Der Grund ist klar: Wenn jedes Eingabemuster denjenigen Knoten in der kohonen-Schicht am stärksten aktiviert, dessen Eingabegewichte dem Muster der Repräsentation am nächsten liegen, und umgekehrt die Gewichte des «gewinnenden» Knotens in Richtung des Satzes von Eingabemustern angeglichen werden, die ihnen am ähnlichsten sind, so lernt ganz von selbst jeder Knoten in der kohonenSchicht eine Gruppe von Eingabemustern zu repräsentieren, die einander ähnlich sind, und ihre Ähnlichkeit durch räumliche Nähe auf der «Gedächtniskarte» kenntlich zu machen; – die Assoziationstests von francis galton und carl gustav jung belegten auf ihre Weise diese Tatsache, lange bevor die Neurologie derartige Annahmen zu bestätigen und zu erklären vermochte (vgl. Bd. I 319– 321; geoffrey e. hinton: Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen, in: Gehirn und Bewußtsein, 142–143), und speziell das «schizophrene» Denken basiert, wie vorhin noch gesagt, auf Störungen derartiger Repräsentationen. Abb. C 28 zeigt schematisch die Verteilung bestimmter Muster (Begrif-

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Abb. C 28: Zuordnung ähnlicher Begriffe im (abstrakten) Raum der Repräsentationen durch kompetitives Lernen in einem kohonen-Netzwerk. Kompetitives Lernen in einem kohonen-Netzwerk führt zur Repräsentation einer Gruppe ähnlicher Eingabemuster durch denjenigen internen Knoten, dessen Eingabegewichte den jeweiligen Eingabemustern am besten entsprechen.

fe) entsprechend der Aktivierung, die jedes Eingabemuster in der Inputschicht auf den Knoten in der kohonen-Schicht ausübt, dessen Synapsengewichte es am genauesten codieren. Nun ist die Evolution nicht bei Nervensystemen stehengeblieben, die, wie bei unserer Aplysia (vgl. Abb. B 1; B 3), nur über sensorische Neuronen als Inputschicht und motorische Neuronen als Outputschicht verfügen, um ihre Umwelt «intern» zu repräsentieren. Der nächste Schritt in der Entwicklung des Lebens bestand naturgemäß in dem Aufbau neuronaler Zwischenschichten mit erheblich erweiterten Leistungsmöglichkeiten; – das ganze menschliche Gehirn läßt sich als eine gigantische Ansammlung solcher Zwischenschichten verstehen. Schon 1969 zeigten marvin minsky und seymour papert (Perceptrons, in: James A. Anderson – Edward Rosenfeld: Neurocomputing, 157–169), daß eine

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einfache logische Operation wie die des ausschließenden Oder (engl.: exclusive or problem, abgekürzt: das EXOR-Problem) sich in einem zweischichtigen Netzwerk nicht durchführen läßt. Dafür ein Beispiel. – Nehmen wir an, wir säßen als Geologen in der südalgerischen Sahara und benötigten sowohl Trinkwasser als auch Cyanid (um vermutetes Gold aus dem Gestein zu laugen); es käme aber nur einmal im Monat ein LKW, der lediglich einen Container transportieren könnte: einen für Wasser oder einen für Cyanid; beides in einen Behälter zu füllen ergäbe ein tödliches Gemisch. Wir müssen dem Spediteur also mitteilen, daß er beim nächsten Mal entweder Wasser oder Cyanid liefern soll. Nun sprechen wir leider kein Arabisch, und unser Spediteur versteht kein Deutsch (oder Französisch); die Sprache der Chemie aber ist international; wir bedienen uns daher der chemischen Formeln für Wasser (H2O) und Cyanid (CN) und erläutern auf einer Tabelle, was wir wollen: entweder gar keine Lieferung oder nur Wasser oder nur Cyanid, aber auf gar keinen Fall beides zusammen. In dieser (zugegeben etwas skurrilen Situation) stünden uns die Wahrheitstafeln zur Verfügung, die der deutsche Philosoph ludwig josef johann wittgenstein (1889 –1951) entworfen hat. (Tractatus logico-philosophicus, 4.442, S. 54.) Unsere Bestelliste sähe dann so aus wie in Abb. C 29: H2O 0 1 0 1

CN 0 0 1 1

liefern 0 1 1 0

Abb. C 29: Das EXOR-Problem, dargestellt in Form einer Wahrheitstafel

Diese Tabelle läßt sich auch als Funktion darstellen, welche die Aktivierung von bestimmten Inputneuronen in die Aktivierung oder Nicht-Aktivierung eines Outputneurons überführt. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 127.) Abb. C 30 zeigt die EXOR-Funktion in Form von Vektoren und in Form von aktiven und nicht-aktiven Neuronen. Es ist nun nicht möglich, die EXOR-Funktion in einem zweischichtigen Netzwerk zu realisieren. Wir brauchen dazu eine dritte Schicht. Denn das Neuron in der Mittelschicht «repräsentiert weder direkt den Input noch den Output, sondern eine Verallgemeinerung des Input» (manfred spitzer: Geist im

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Abb. C 30: Die EXOR-Funktion, dargestellt in Vektorenschreibweise (links) und durch aktive und nicht-aktive Neuronen in einer Input- und in einer Outputschicht (mitte und rechts)

Netz, 127); es repräsentiert den Inhalt H2O und CN, und stets, wenn dieser Inhalt aktiviert wird, wird das Outputneuron gehemmt. In unserem Beispiel der Funktion des ausschließenden Oder besteht die Inputschicht aus zwei Neuronen, während die Zwischenschicht und die Outputschicht durch jeweils nur ein Neuron gebildet werden. Es ergibt sich von selbst, welche Möglichkeiten ein solches Netzwerk bei geeigneter Festlegung der Aktivierungsschwellen und der Synapsengewichte bietet: Die Aktivierungsschwelle des Outputneurons soll bei 0,5 liegen; das Neuron der Mittelschicht soll eine Schwelle von 1,5 haben. Der Output eines Neurons der Inputschicht soll über das Synapsengewicht eins das Outputneuron aktivieren; der Output eines Neurons der mittleren Schicht soll über ein negatives Synapsengewicht von minus zwei hemmend auf das Outputneuron wirken. (Vgl. manfred spitzer: A. a. O., 127–128.) Abb. C 31 zeigt schematisch den Aufbau dieses dreischichtigen Netzwerkes. Falls beide Inputneuronen nicht aktiv sind, passiert gar nichts, wie man in der Abbildung sieht; ist das obere (H2O) oder das untere (CN) Inputneuron aktiv, sendet es jeweils ein Ausgangssignal aus, das über das Synapsengewicht eins das Outputneuron aktiviert; das Neuron der Mittelschicht wird auf Grund seiner hohen Aktivierungsschwelle nicht von einem einzelnen der beiden Inputneuronen aktiviert. Wenn aber beide Inputneuronen gleichzeitig aktiv sind, aktivieren sie das Neuron in der mittleren Schicht; dessen Output beträgt eins und wirkt durch das negative Synapsengewicht von minus zwei hemmend auf das Outputneuron. Das gewünschte Ergebnis tritt ein: Bei gleichzeitiger Aktivierung beider Inputneuronen bleibt das Outputneuron inaktiv; – es kommt zu

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Abb. C 31: Ein dreischichtiges Netzwerk mit geeigneten Werten für die Aktivierungsschwellen und Synapsengewichte, das die Funktion des ausschließenden Oder zu realisieren vermag

keiner Bestellung von H2O und CN! (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 128.) Und was, bitte schön, hat das alles mit den Problemen von Autismus-Kindern zu tun? mag man fragen. Nun, wir wollten wissen, welche Folgen ein Zuviel an Neuronen in bestimmten Hirnarealen nach sich ziehen kann. Ganz so weit sind wir zwar noch nicht, doch lernen wir gerade, daß ein einzelnes Mittelschichtneuron genügt, um alternative Entscheidungen zu ermöglichen, zu denen eine Outputschicht allein nicht imstande wäre. Diese Fähigkeit besitzt es, weil es den Inhalt «Ereignis 1 und Ereignis 2» (in unserem Falle H2O und CN) darstellt; in gewissem Sinne leistet es damit genau das, was sich als Abstraktion bezeichnen läßt: es repräsentiert die Außenwelt in allgemeinerer Weise. Und es ist erstaunlich, was sich bereits mit einer solchen einfachen EXOR-Funktion biologisch alles anstellen läßt; zum Beispiel lassen sich Verhaltensregeln aufstellen wie diese: «Eßbar sind die Beeren, sofern sie rot oder klein sind, nicht aber die roten kleinen.» Oder: «Das Alpha-Männchen einer Horde reagiert mit Aggression, wenn es auf das Beta- oder das Gamma-Männchen trifft, nicht aber, wenn beide anwesend sind.» (manfred spitzer: Geist im Netz, 128) Doch natürlich liegen die Verhältnisse in der biologischen Umwelt meist weit komplizierter, als daß sie sich so simpel wiedergeben ließen; und so war es evolutiv offensichtlich von Vorteil, Zwischenschichten mit mehreren Neuronen sowie mehrere Zwischenschichten mit einer Vielzahl von Neuronen zu entwickeln, um die Außenwelt genauer erfassen und angemessener auf sie reagieren zu können. Wenden wir, um das Gemeinte zu verdeutlichen, die Möglichkeiten eines zweischichtigen und eines dreischichtigen Netzwerkes einmal auf das Rot-

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käppchen-Märchen an, wie william p. jones und josiah hoskins es vor etwa 20 Jahren vorgemacht haben (Back-Propagation. A generalized delta learning rule, in: BYTE, 10/1987, 155 –162); aus der Geschichte, die sich im Amerikanischen etwas anders erzählt als in der grimmschen Fassung, läßt sich ein Katalog folgender Verhaltensnormen gewinnen: «Rotkäppchen muß lernen, wegzulaufen, zu schreien und den Holzfäller aufzusuchen, wenn sie einem Wesen mit großen Ohren, großen Augen und großen Zähnen (dem Wolf) begegnet. Sie muß lernen, sich Wesen anzunähern, die freundlich und faltig sind und große Augen haben (die Großmutter), sie muß sie auf die Wange küssen und ihnen Essen anbieten. Weiterhin muß sie lernen, sich Wesen, die hübsch und freundlich sind und große Ohren haben (der Holzfäller), anzunähern, ihnen Essen anzubieten und mit ihnen zu flirten.» (A. a. O., 156; zit. n. manfred spitzer: Geist im Netz, 129.) Um ein neuronales Netz auf die «richtigen» Verhaltensweisen zu trainieren, werden der Inputschicht die Eigenschaften von Rotkäppchens Interaktionspartnern angeboten; hernach werden die gewünschten Outputmuster – Rotkäppchens Verhaltensweisen – mit dem tatsächlichen Output verglichen und die Differenz zwischen gewünschtem und tatsächlichem Output errechnet; um die gewünschten Outputmuster zu erzeugen, werden die Synapsengewichte (die Verbindungsstärken zwischen den jeweiligen Inputneuronen und den entsprechenden Outputneuronen) erhöht oder erniedrigt, je nachdem, ob eine Aktivierung oder Hemmung des Outputneurons zu dem «richtigen» Verhalten paßt. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 129–130.) Das heißt, im Prinzip überläßt man den Lernprozeß dem Netzwerk selber; bei zweischichtigen neuronalen Netzwerken spricht man von der Delta-Regel (der griechische Großbuchstabe Delta ist das mathematische Symbol für Differenz) und bei mehr als zwei Neuronenschichten von der Backpropagations-Regel (engl.: back-propagation of errors – Fehler-Rückmeldung) und meint damit, daß der Fehler der noch untrainierten Outputschicht (die Differenz zwischen gewünschtem und tatsächlichem Ausgabemuster) dem Netzwerk zurückgemeldet wird, um die Synapsengewichte graduell in die gewünschte Richtung zu verändern. (Vgl. manfred spitzer: A. a. O., 53; 56; 133; 339.) – Im Prinzip haben wir eine solche Form von Lernen schon früher in dem Wechselspiel von «Bottom-up»- und «Top-down»-Prozessen bei der (visuellen) Informationsverarbeitung kennengelernt (vgl. Abb. B 56), als wir sahen, wie Gestaltwahrnehmung durch den Abgleich zwischen «niederen» (den Sinnesorganen näher liegenden) und «höheren» Gehirnarealen (in denen die eingegangenen Signale zusammengeführt werden) zustande kommt. – Etwa um das Jahr 1974 fand

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Abb. C 32: Ein zweischichtiges und ein dreischichtiges Netzwerk, das Rotkäppchens Funktionen realisiert

paul j. werbos, während seiner Promotionsarbeit in Harvard einen Algorithmus für die Backpropagation, der zu einem der wichtigsten Hilfsmittel für das Training neuronaler Netzwerke geworden ist (vgl. hierzu geoffrey e. hinton: Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen, in: Gehirn und Bewußtsein, 139 –141). Deutlich wird dabei: Alle Verhaltensweisen (Funktionen) von Rotkäppchen können bereits in einem zweischichtigen Netzwerk realisiert werden; allerdings ist dazu eine Vielzahl von Verbindungen erforderlich. Mit weniger Verbindungen, also «kostengünstiger», läßt sich demgegenüber mit einem dreischichtigen Netzwerk arbeiten. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 130 – 131.) Abb. C 32 zeigt ein zweischichtiges Netzwerk, das die Funktionen von

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Rotkäppchen erfüllt (oben), und ein dreischichtiges Netzwerk mit drei Zwischenneuronen, das die gleichen Funktionen realisiert (unten). Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, daß wir die Anzahl der Neuronen in der Zwischenschicht relativ klein (im angegebenen Beispiel nur drei) halten müssen, damit die Mittelschichtneuronen ihre synaptischen Verbindungen so einstellen, daß sie den Input verallgemeinern, indem sie Cluster (engl.: Haufen) von Inputeigenschaften bilden, die dann über den Output entscheiden. Als Regel gilt, daß die Clusterung von Inputeigenschaften um so stärker ausfallen wird, je weniger Zwischenschichtneuronen zum Einsatz kommen. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 130.) «Hat die Zwischenschicht drei Neuronen, so werden die Inhalte ‹Wolf›, ‹Großmutter› und ‹Holzfäller› spontan im Verlauf des Trainings generiert. Gewiß waren diese Inhalte in den dargebotenen Inputmustern implizit als regelhafter Zusammenhang von Eigenschaften vorhanden. In der Mittelschicht jedoch sind es einzelne Neuronen, die diese Eigenschaftscluster repräsentieren und damit die Außenwelt sehr ökonomisch abbilden.» (manfred spitzer: A. a. O., 130) In diesen knappen Worten steckt im Prinzip die Lösung für unser AutismusProblem! Alles läuft jetzt nämlich auf die Frage der Optimierung der Anzahl von Neuronen in der Mittelschicht hinaus: Wie viele sind geeignet für welch eine Aufgabe? Angenommen, die Mittelschicht in Abb. C 32 wiese nur zwei Neuronen auf, so würde sich bei entsprechendem Training wohl ein Vermeidungs- und ein Annäherungsneuron herausbilden – der Input würde in noch «abstraktere» Cluster zusammengefaßt; aber es wäre nicht möglich, im Verhalten einen Unterschied zwischen der Annäherung an die Großmutter und an den Holzfäller zu machen. Andererseits würden zu viele Neuronen dahin führen, daß anstelle einer sinnvollen Abstraktion so etwas wie ein Telephonbuch über jeden einzelnen Input erstellt würde; eine solche Überrepräsentation der Außenwelt wäre aber nicht nur mit (zu) hohen Energiekosten verbunden, sie wäre auch in gewissem Sinne gefährdeter: schon geringfügig abgewandelte neue Inputmuster könnten sie nachhaltig irritieren. (Vgl. manfred spitzer: Geist im Netz, 132.) Und plötzlich verstehen wir das eigentümliche Verhalten von Autismus-Patienten, wenn wirklich ihre Schwierigkeiten mit einem Zuviel an Neuronen in den gedächtnisrelevanten Cortexarealen zu tun haben: Natürlich müssen sie die Nähe anderer Menschen als eine schwer erträgliche Störung erleben und sich nach innen verkriechen – so wie eine Katze, die etwa zwanzigmal besser hört als ein Mensch, augenblicklich das Weite suchen wird, wenn wir krachend einen Porzellanteller auf den Steinboden der Küche fallen lassen. Natürlich müssen

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sie eine Menge von «Inputs» (Informationen, Verhaltensweisen, Aufforderungen) als sinnlose Zumutungen erleben, weil sie bei überdetaillierter Wahrnehmung keinen Sinnzusammenhang mehr bilden können – so wie wenn edvard munchs Melancholie auf Tafel 2 auf – sagen wir – die Ausmaße eines Hochhauses vergrößert wäre: wir stünden dicht davor und könnten jeden einzelnen Farbstrich übergenau erkennen, aber wir könnten das Ganze nicht mehr betrachten; wir sähen dann keinen Tisch, keine Blumen, kein Gesicht, kein Kleid, kein Fenster mehr, wir sähen bloß noch eine Reihe farbiger (Raster)Punkte, die nur schwer (oder gar nicht) einander zuzuordnen wären. Jedenfalls ist es jetzt leicht verstehbar, wie aus einem Zuviel an Neuronen eine schwere psychische Störung entstehen kann, deren Merkmale mit dem Autismus-Syndrom deckungsgleich sind: «Sowohl die Unfähigkeit zur Generalisierung als auch der übertriebene Hang zu belanglosen Details entpuppen sich als unmittelbare Konsequenz eines einzigen Sachverhalts, der suboptimalen Lösung des Generalisierungsproblems durch ein Zuviel an neuronaler Verarbeitung.» (manfred spitzer: Geist im Netz, 146) Das Gute an brauchbaren Theorien ist der überprüfbare Nutzen bei ihrer praktischen Anwendung sowie die Anregungen zu weiterer Forschung, die sie enthalten. Aus der vorgeschlagenen Deutung des Autismus-Problems ergibt sich auf der Stelle ein handfestes Therapiekonzept: Es sollte «die Aufmerksamkeit des Kindes auf eine vergleichsweise größere und variablere Menge an Erfahrungen» gelenkt werden. «Dann können diese vielen unterschiedlichen Erfahrungsmuster immer von neuem wiederholt werden, und es sollte dem Kind gespiegelt werden, wie es darauf reagiert. Hierdurch sollten bereits vorhandene . . . Verbindungen (im Netzwerk), die krankhafte Verhaltensweisen bewirken, vermindert und solche Verbindungen, die gesundes Verhalten bewirken, gestärkt werden.» (ira l. cohen: An artificial neural network analogue of learning in autism, in: Biological Psychiatry, 36/1994, 18, zit. n. manfred spitzer: Geist im Netz, 146) Für die weitere medizinische Forschung aber präzisiert sich jetzt die Fragestellung etwa so: An welchen genetischen oder embryonalen Einflüssen könnte es liegen, daß der programmierte Zelltod, von dem wir anläßlich der Hirnentwicklung bereits gesprochen haben (vgl. Bd. I 272 –273), nicht genügend greift? Oder umgekehrt: Wie kommt es, daß im Gehirn zu viele Neuronen entstehen? Dem wird man nachgehen. Philosophisch und theologisch indessen enthält die Beschäftigung mit dem Autismus-Problem eine Reihe wichtiger Einsichten und neuer Fragen. Die wohl wichtigste Lektion ergibt sich für die philosophische Erkenntnistheorie (beispielsweise für die Erkenntnismetaphysik). Die Fähigkeit zur Generalisie-

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rung von Wahrnehmungsinhalten (zur «Abstraktion») wurde den Tieren in der abendländischen Philosophiegeschichte «klassischerweise» abgesprochen – das Abstraktionsvermögen galt als eine Auszeichnung des menschlichen Geistes, ja, es galt für einen Beweis der Unendlichkeit des menschlichen Geistes; denn – so lehrte insbesondere karl rahner (Geist in Welt, 3. Kap., § 9, S. 210– 232: Der intellectus agens als Vermögen des excessus auf das esse) – nur im «Vorgriff» auf das Unendliche könnten die Gestalten des Endlichen dem menschlichen Geiste erkennbar werden: die Bildung einer «species intelligibilis» (lat.: einer erkennbaren Form; eines intentionalen Bildes des zu erkennenden Gegenstandes) sei nur möglich, indem der «intellectus agens» (lat.: der handelnde Verstand; der Geist im Erkenntnisvorgang) alles Endliche in das Licht des Unendlichen halte und so der Umrisse seiner Begrenztheit gewahr werde; nur der excessus ad esse (lat.: der Überstieg auf das – unendliche – Sein hin) begründe daher die Erkennbarkeit des Seienden; in letzter Konsequenz: man müsse immer schon das Sein (Gottes) voraussetzen, um im (menschlichen) Bewußtsein die Dinge der Welt «setzen» zu können. Von all diesen überaus verklausuliert vorgetragenen Versuchen, die Erkenntnistheorie des «engelgleichen» Kirchenlehrers thomas von aquin (1225 – 1274) mit dem Deutschen Idealismus des 19. Jhs. und mit dem Existentialismus des 20. Jhs. ins Gespräch zu bringen (und so in die Gegenwart zu «retten»), dürfte nach der Lektüre der letzten fünf Seiten kaum mehr etwas übrig geblieben sein. Nicht länger erscheint das Abstraktionsvermögen als die Verbindungsstelle der menschlichen Geistnatur mit dem Übernatürlichen (Göttlichen); es zeigt sich vielmehr, daß das menschliche Erkenntnisvermögen sich – wie der gesamte menschliche Organismus – geformt hat um bestimmter Vorteile im Kampf ums Überleben willen: es sollte gewährleisten, die Außenwelt angemessen «intern» zu repräsentieren, um sich in ihr zurechtzufinden. Der Evolution konnte es dabei nicht darum zu tun sein, mit dem menschlichen Gehirn ein Organ zu erstellen, das zu einer möglichst detailgenauen Wiedergabe der Wirklichkeit befähigte: – eine solche wäre, wie der Fall der Autismus-Erkrankung lehrt, energetisch sehr aufwendig, wenig hilfreich und im ganzen schwer erträglich. Ein (zu) hoher Abstraktionsgrad andererseits erscheint jetzt nicht mehr als das Resultat einer besonderen Intelligenzleistung, sondern eher als das Ergebnis einer suboptimalen (zu geringen) Neuronenanzahl. georg wilhelm friedrich hegel schrieb einmal, abstrakt denke nicht er, sondern die «Marktfrauen», – womit der Philosoph wohl nicht einen ehrbaren Berufszweig beleidigen, gewiß aber dartun wollte, daß ein gut gedachter Begriff so abstrakt gefaßt sein mag, als er muß, – er wird dennoch genug Konkretion zum Erfassen der Realität enthal-

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ten, wohingegen die «Begriffe» des alltäglichen Geredes nur sehr wenig an Wirklichkeit widerspiegeln. (Vgl. georg wilhelm friedrich hegel: Wer denkt abstrakt?, in: Werke, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Bd. 2: Jenaer Schriften, 575 –581, S. 579.) Was würden (intelligente) Autisten darum geben, durch eine solche «Abstraktionsfähigkeit» vor dem geradewegs als aggressiv empfundenen Andrang der Wirklichkeit besser geschützt zu sein, mit anderen Worten: über ein «dickeres Fell» zu verfügen! Wenn wir die Schizophrenen vorhin noch als Menschen charakterisiert haben, die ihre Gefühle vor der Roheit der Welt zu bewahren trachteten, versteht man an dieser Stelle die innere Gemeinsamkeit des Problems, das sie mit den Autisten teilen. Was aber ist es dann überhaupt mit der «Einheit der Person», mit der Identität des «Ich denke», mit der Möglichkeit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein – mit dem, was theologisch stets als die Wirkung einer geistigen Substanz, einer (unsterblichen) Seele interpretiert wurde? Die Anatomie des Gehirns, die Physiologie neuronaler Prozesse, welche Wahrnehmen, Lernen und Gedächtnis ermöglichen, ein Gefühlshaushalt, der miteinander einigermaßen kompatible Erfahrungen vereinigt, und jetzt: eine optimale Dichte der Neuronen im «Netz» – fast scheint es, als verdankte die Bildung eines persönlichen Bewußtseins sich dem Zusammenschluß einer geradezu wunderbaren Häufung glücklicher Voraussetzungen. Gleich im nächsten Abschnitt (D 1) werden wir uns dieser ebenso wichtigen wie spannenden Frage der Entstehung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein zuwenden; doch um eine rechte Vorstellung von der Zerbrechlichkeit dessen zu gewinnen, was wir als «Person» bezeichnen, sollten wir noch ein altes Versprechen einlösen (vgl. Bd. I 254) und unser Wissen über eine andere rein hirnorganisch bedingte Krankheit mit schwerwiegenden psychischen Folgen vertiefen, die auf der Unterfunktion eines einzigen Neurotransmitters, des Dopamin, basiert: über die parkinson-Erkrankung.

b) Morbus parkinson oder: Der Mangel eines einzigen Neurotransmitters Die Krankheit (lat.: der morbus) selbst, benannt nach dem bereits erwähnten Londoner Arzt james parkinson (1755 –1824, vgl. Bd. I 79), der sie im Jahre 1817 zum ersten Mal beschrieb, fällt – zumindest in fortgeschrittenem Stadium – auch einem Laien durch drei äußerlich wahrnehmbare Merkmale auf: 1) die Akinesie (von griech.: a – nicht, die kíne¯sis – Bewegung; Bewegungslosigkeit),

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kenntlich an der mangelnden oder fehlenden Mimik («Maskengesicht»), an der Verlangsamung aller Bewegungen (man spricht auch von Bradykinese – von griech.: bradýs – langsam), an der Beugehaltung des Oberkörpers, an dem schlurfenden Gang sowie an der monotonen, nur mühsam artikulierenden Sprache; 2) der Rigor (lat.: Steifheit) – eine Versteifung der Muskulatur, die allerdings an verschiedenen Körperstellen auftreten kann, zum Beispiel als Nakkensteifigkeit; und 3) der Tremor (lat.: Zittern) – grobschlägige Bewegungen von 4– 6 Schlägen pro Sekunde im Ruhezustand, die unterschiedlich stark ausfallen können und bei Bewegung, etwa beim Schreiben oder Gehen, kurzzeitig ganz aufhören; bei Aufregung können die Zitterbewegungen zunehmen, doch ist das Erscheinungsbild nicht zu verwechseln mit dem «hysterischen» Zittern (oder mit dem «Kriegszittern», wie es im Ersten Weltkrieg mitunter Soldaten nach einem überstandenen «Trommelfeuer» aufwiesen, die man in aller Regel – ein medizingeschichtlicher Skandal – für «Simulanten» erklärte und als «kriegsverwendungsfähig» wieder zurück an die Front schickte). Die parkinson-Krankheit beginnt in schweren Fällen im Alter von etwa 50 Jahren und kann bei unterschiedlich schnellem Fortschreiten zu recht divergierenden Schweregraden im Endzustand führen: «Die Krankheit kann bloß als fast nebensächliche Komplikationen des Alterns in Erscheinung treten oder eine rasch fortschreitende Invalidisierung bis zur furchtbarsten Hilflosigkeit bedeuten.» «In den schwersten Endzuständen sind die Kranken steif wie ein Stock, sie sind nützlicher Bewegungen nicht mehr fähig, sie können nicht mehr verständlich sprechen und haben Mühe zu kauen und zu schlucken.» (eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 11. Aufl. 1969, 247) Einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde das Erscheinungsbild der parkinson-Erkrankung durch die zahllosen Fernsehreportagen über Papst johannes paul ii. (1920 – 2005, Papst 1978– 2005), wenngleich die offizielle Darstellung des Vatikans über fast ein Jahrzehnt hin den schließlich dramatischen physischen und psychischen Verfall des Kirchenoberhauptes zu verleugnen und statt dessen das Bild eines «Athleten Gottes» (wie die italienische Presse mit Vorliebe schrieb) zu malen suchte; erst als die Folgen der Krankheit auch öffentlich unübersehbar und für jedermann augenscheinlich wurden, stilisierte man das Portrait zu einem Akt der «Nachfolge Christi am Kreuz» um – Held oder Heiliger, nur nicht einfach ein Mensch, geschlagen mit einer grausamen Krankheit. Doch warum darf das nicht sein? Wieso ist es «ehrenrührig», am Morbus parkinson zu erkranken? Eine ganz andere Frage ist es, ob und wie lange eine zentralistische Staatsform wie die der Kirche Roms es aushält, ihren Ersten Mann von einer Krankheit heimgesucht zu sehen, die, je nach Fall,

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psychopathologisch unkalkulierbar schwere Folgen nach sich zieht; und deren sind eine Menge. Am einfachsten verständlich im Erleben eines parkinson-Kranken sind die häufigen, meist reaktiven Depressionen. Vor allem zu Beginn und im mittleren Stadium der Krankheit gelingt es heute, durch eine entsprechende Medikation die Entwicklung der Krankheit zu verlangsamen und die Symptome stundenweise fast gänzlich zu unterdrücken (vgl. hierzu die Fallgeschichte bei john p. j. pinel: Biopsychologie, 85– 86); läßt dann aber die Wirkung der Medikamente mit der Zeit nach, ist insbesondere bei Personen des öffentlichen Lebens (nach einem ihrer Auftritte) der Zusammenbruch, die faktische Ohnmacht und Hilflosigkeit von erschütternder Eindrücklichkeit, um so mehr, als die ärztliche Prognose auf Dauer kaum etwas anderes verheißen kann als eine schleppende Zunahme der Krankheit. (Vgl. john p. j. pinel: A. a. O., 156.) Völlig falsch wäre es, hinter der Starre von Mimik und Gesicht im Verhalten eines parkinson-Kranken eine affektive Leere zu vermuten; im Gegenteil kann dahinter eine starke Erregung und eine hohe emotionale Sensibilität sich verbergen, die nur in ihrem motorischen Ausdruck aufs äußerste eingeschränkt ist, wobei allerdings die Irritationen der Umgebung natürlich wieder auf den Kranken zurückwirken und bei ihm unter Umständen das Gefühl wachsenden Funktionsverlustes, einer sich ausdehnenden Einsamkeit und eines Mißtrauens gegenüber unkontrollierbaren Machenschaften anderer noch verstärken können. Überhaupt macht sich der Abstand des Kranken zu den Menschen in seiner Nähe aus begreifbaren Gründen immer schmerzlicher bemerkbar. In der Literatur kaum beschrieben, aber für Menschen, die parkinson-Kranke begleitet haben, sehr quälend, ist das Leiden der Betroffenen allein schon an dem Unterschied in der motorischen Dynamik: Das elementare Bedürfnis des Kranken geht eigentlich dahin, in Ruhe zu bleiben und in Ruhe gelassen zu werden, – schon die Bewegungsübungen (Federball, Tennis, Korbball etc.), die dem Patienten verordnet werden, wirken wie eine zwar notwendige, doch zunehmend quälende Gesundheitsmaßnahme ohne ersichtlichen Erfolg; umgekehrt kann aus der Perspektive eines Menschen, der nach und nach erstarrt, alles ringsum, was sich bewegt und verändert, als irgendwie unheimlich, bedrohlich, ja, wie unerlaubt und verboten erscheinen. In leitenden Positionen werden parkinson-Kranke deshalb wie instinktiv dazu neigen, die Welt anzuhalten, und ihr oft hohes Verantwortungsbewußtsein gerade dahin geltend machen. «Früher oder später», schreibt eugen bleuler (Lehrbuch der Psychiatrie, 11. Aufl. 1969, 247), «stellt sich aber doch auch ein hirnlokales Psychosyndrom mit Einschränkungen der Interessen und Antriebsarmut ein. Die Apathie kann unter-

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brochen sein durch Erregungszustände oder durch unberechenbare Triebe und Begierden, z. B. im Sinne taktloser Neugierde. Die intellektuellen Vorgänge sind verlangsamt (Bradyphrenie). . . In einer kleinen Minderheit entwickeln sich halluzinatorisch-paranoide Psychosen ähnlich wie bei vielen Hirnkrankheiten.» Eine Form angstbesetzter Fehlwahrnehmungen kann sich zum Beispiel daraus ergeben, daß schließlich sogar unbewegte Bilder und Gegenstände als in Aktion befindlich erlebt werden: das Blumenmuster der Tapeten gewinnt die Gestalt züngelnder Flammen, ein bläulicher Teppich verwandelt sich in einen wogenden See usw. Um die Gründe zu verstehen, die zu einem derart schweren Erkrankungsbild führen, müssen wir uns noch einmal an die Bedeutung das dopaminergen Systems (vgl. Abb. A 9) bei der Steuerung motorischer Vorgänge über das extrapyramidale Nervensystem erinnern (vgl. Abb. A 12) und uns dabei die Rolle der Basalganglien (vgl. Abb. A 10) vergegenwärtigen. Denn bei der parkinson-Erkrankung handelt es sich zentral um eine Reduktion der dopaminergen Übertragung, und dieser Dopaminmangel im Gehirn geht zurück auf ein Absterben von Zellen in der Substantia nigra pars compacta. Daß es sich so verhalten könnte, entdeckte man 1982 bei Studenten, die nach dem Konsum eines neuen verunreinigten «synthetischen Heroins» jene Trias motorischer Störungen aufwiesen, die für eine parkinson-Erkrankung typisch ist. (Vgl. hierzu das Fallbeispiel bei john p. j. pinel: Biopsychologie, 163 –164.) Als der entscheidende Wirkstoff für die Symptombildung wurde das Neurotoxin MPTP (1-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin) identifiziert. (Vgl. j. william langston: MPTP and Parkinson’s disease, in: Trends in Neurosciences, 8/1985, 79 –83.) In der Folge experimentierte man mit MPTP in Tierversuchen mit Primaten und Nagern und fand, daß letztere nur ein leichtes und nur wenige Wochen dauerndes parkinson-ähnliches Syndrom ausbildeten, während bei Primaten speziell die Substantia nigra stark geschädigt wurde. (Vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 162–163.) Die Substantia nigra pars compacta ist, wie wir wissen, das Dopamin produzierende Organ im Gehirn schlechthin (so wie der Locus coeruleus für das Noradrenalin, die Raphe-Kerne für das Serotonin und der Nucleus basalis meynert für das Acetylcholin); ein Mangel an diesem wichtigen Neurotransmitter betrifft nach allem, was wir gehört haben, natürlich nicht nur die Motorik. Wir brauchen uns nur noch einmal in Abb. A 9 die Bahnen anzuschauen, die das dopaminerge System zum Frontallappen und zum Striatum unterhält, und in Abb. B 75 die dopaminabhängigen Lustzentren im Gehirn zu betrachten; dann können wir ohne Mühe vorhersagen, welche Folgen ein weitgehender Ausfall gerade dieses Transmitters

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für das Denken und Fühlen von parkinson-Kranken zeitigen wird. «Vielfach wird eine allgemeine Reduktion der Denk- und Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit bei Parkinson-Patienten beschrieben. Jüngere Arbeiten fokussieren auf Einbußen exekutiver Funktionen, die häufig mit frontalen Funktionsminderungen assoziiert werden . . . Schwierigkeiten der Patienten bei Leistungen, die üblicherweise mit dem dorsolateralen präfrontalen Cortex in Verbindung gebracht werden (sc. vgl. Abb. B 94, d.V.), sind insofern nicht verwunderlich, als dass diese Region des Frontallappens Projektionen striataler Nervenzellen erhält und weitere (wechselseitige) Verbindungen mit Teilen der Basalganglien hat (frontostriatale Schaltkreise). Dysfunktionen dieser Schaltkreise bei Patienten mit Morbus Parkinson stehen zudem im Zusammenhang mit sogenannten set-shifting-Defiziten (Beeinträchtigungen beim Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben oder Kategorien). Diverse exekutive Defizite von Parkinson-Patienten gehen vermutlich auch mit einer verminderten Aktivität (z. B. einem reduzierten cerebralen Blutfluss) des dorsolateralen präfrontalen Cortex einher. Gedächtnisfunktionen sind bei Parkinson-Patienten ebenfalls beeinträchtigt, wobei insbesondere das verbale und figurale Neugedächtnis sowie Arbeitsgedächtnisleistungen betroffen sind.» (monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 523) Erstaunlich ist, daß von den emotionalen Ausfällen im Erleben von parkinson-Kranken auf Grund des Dopaminmangels in der Literatur sehr wenig die Rede ist; dabei kann man sich eigentlich gut vorstellen, wie die Gemütslage eines Menschen sich verändern wird, dessen «Belohnungszentrum» (vgl. Abb. B 75) nur noch sehr eingeschränkt funktioniert: sowohl die Motivation, sich etwas Lohnendes vorzunehmen, als auch das Gefühl einer verdienten Belohnung, im Falle man es erreicht hat, sind nicht mehr ausreichend gegeben; was Wunder deshalb, daß die betreffenden Patienten sich um so mehr auf ein Durchhalteprogramm routinierter beziehungsweise ritualisierter Dienstvorschriften und Pflichterfüllungen einschränken? Die depressiven Gestimmtheiten, die sich bei parkinson-Kranken finden, dürften unter anderem ihren Ursprung in diesem Grauwerden und Abblassen jeglicher Freuden, Überraschungen, spontanen Beglückungen und erarbeiteten Erfolgserlebnisse haben. Zudem muß man bedenken, daß bei einer parkinson-Erkrankung durch die Unterfunktion des dopaminergen Transmittersystems auch die anderen Systeme: das cholinerge, das noradrenerge und das serotonerge System, in Mitleidenschaft gezogen werden – mit den entsprechenden zusätzlichen Funktionsstörungen. Obwohl man sich über die Auswirkungen des Dopaminmangels bei parkinson-Kranken neurologisch inzwischen ein recht zutreffendes Bild machen

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kann, ist die Frage nach wie vor nicht wirklich beantwortet, wie es zu der zentralen Schädigung der dopaminergen Zellen in der Substantia nigra kommt – das MPTP-Modell der Tierversuche hat ja nur zu dem «Herd» der Erkrankung geführt, es selbst aber bietet noch keine Erklärung dafür, wie sich das «Feuer» entzündet. Wie stets, wenn man in der Pathologie nicht recht weiter weiß, favorisierten vor allem Psychiater eine hereditäre (von lat.: hereditarius – erblich) Ursache: – eugen bleuler ordnete den Morbus parkinson richtungweisend denn auch gleich unter «Vererbte Hirnkrankheiten» ein und schrieb: «Sie (sc. die Krankheit, d.V.) beruht wahrscheinlich (sic! d.V.) auf dominanter Vererbung mit geringer Penetranz (sc. prozentualer Häufigkeit, mit der ein Erbfaktor bei Individuen gleichen Erbguts im äußeren Erscheinungsbild wirksam wird; von lat.: penetrare – durchdringen, d.V.) der Anlage.» (Lehrbuch der Psychiatrie, 11. Aufl. 1969, 247) Gleichwohl wird die Beteiligung genetischer Faktoren bei der «Entstehung des Morbus Parkinson . . . nach wie vor kritisch diskutiert». (monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 523; vgl. john p. j. pinel: Biopsychologie, 156.) Da ein Neurotoxin wie MPTP parkinson-Symptome erzeugen kann, nimmt man derzeit eine cytotoxische «Wirkung freier Radikale» an, «die beim Dopaminstoffwechsel entstehen». (monika pritzel u. a.: A. a. O., 523) Die eigentliche Frage aber ist auch damit nicht beantwortet, nur verschoben: warum werden gerade bei parkinson-Patienten im Dopamin-Stoffwechsel charakteristisch mehr freie Radikale gebildet? Immerhin kann man therapeutische Hilfestellungen auch dann schon geben, wenn die Ursachenkette, die zu einer Krankheit führt, (noch) nicht vollständig aufgeklärt ist. Rein symptomatologisch kommen physikalische und physiotherapeutische Maßnahmen in Betracht, um die Bewegungsstörungen der parkinson-Erkrankung einzuschränken; gegen das Zittern empfehlen sich Anticholinergika. (Vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl. 1983, 242 –243.) Seit Ende der 60er Jahre des 20. Jhs. indessen ging man dazu über, die parkinson-Erkrankung kausal zu behandeln, indem man den DopaminMangel zu reduzieren suchte. Die einzige Möglichkeit dazu bietet freilich nur der letzte Schritt des Dopamin-Biosynthesewegs, wie wir ihn aus Abb. A 72 vor Augen haben: Um das fehlende Dopamin bei den Patienten zu substituieren, ist es nicht möglich, Dopamin direkt, oral oder intravenös, zu verabreichen, – der Neurotransmitter würde erst gar nicht ins Gehirn gelangen, da er die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann; auch mit Tyrosin-Gaben kommt man nicht weiter, da bei parkinson-Kranken die Umwandlung der Aminosäure Tyrosin in L-Dopa durch das Enzym Tyrosin-Hydroxylase ebenfalls gestört ist; unbeeinflußt aber durch die Krankheit ist die Umwandlung von L-

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Dopa in Dopamin durch die aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase, und dieser Syntheseschritt kann von Neuronen auch außerhalb der Substantia nigra durchgeführt werden; zudem ist L-Dopa «liquorgängig» – es kann die BlutHirn-Schranke überwinden. Was also läge näher, als mit Hilfe von L-Dopa den Dopaminmangel bei parkinson-Kranken zu beheben? Allerdings läßt das theoretische Konzept die Dinge leichter erscheinen, als sie sind: Die Dopamin-Substitution von außen kann bewirken, daß die noch vorhandene körpereigene Dopamin-Synthese weiter abnimmt, so daß die zu verabreichende Menge an L-Dopa sukzessiv gesteigert werden muß. Die dann auftretenden Nebenwirkungen (Trockenheit im Mund, Schwindelgefühle, Brechreiz u. a.) stellen eine erhebliche Belastung dar; zudem besteht bei allen hormonalen und neuronalen Ersatzstoffen das Problem der Feinabstimmung in der Dosierung. Wir hörten vorhin noch von der Dopamin-Hypothese der Schizophrenie: – Tatsächlich kann ein Zuviel an Dopamin zu Visionen und Halluzinationen führen; anstelle der motorischen Verlangsamung kann es zu übersteigerten motorischen Aktivitäten (Hyperkinesien) sowie zu unkontrollierten Bewegungsabläufen kommen. (Vgl. monika pritzel u. a.: Gehirn und Verhalten, 524.) Fest steht: Was «zuviel» oder «zuwenig» an Dopamin-Gaben ist, muß in jedem Einzelfall und während des individuellen Verlaufs der Krankheit immer neu herausgefunden werden. Ein zusätzlicher Behandlungsweg leitet sich mittlerweile aus Versuchen mit dem MPTP-Syndrom ab: Wie james w. tetrud und j. william langston (The effect of Deprenyl [Selegiline] on the natural history of Parkinson’s disease, in: Science, 245/1989, 519– 522) entdeckten, läßt sich die Wirkung von MPTP mit Hilfe von Deprenyl blockieren: Deprenyl ist ein MAO-Hemmer, – es hemmt die Aktivität der Monoaminoxidase und erhöht dadurch den Spiegel von Dopamin und anderen Monoaminen (vgl. Abb. A 76). «Wie sich herausgestellt hat, können Deprenylgaben im Frühstadium der Parkinson-Krankheit die Progression der Krankheit stark verzögern.» (john p. j. pinel: Biopsychologie, 163) Schließlich versucht man auch mit postsynaptischen Dopamin-Agonisten vor allem an den D2-Rezeptoren mit Hilfe von Mutterkorn-Alkaloiden den Zustand von parkinson-Kranken zu verbessern. (Vgl. christiane gleixner – markus müller – steffen wirth: Neurologie und Psychiatrie, 73.) Und was lernen wir aus all dem? Die beiden letzten Beispiele (Autismus und Morbus parkinson) reichen aus, um uns etwas zu zeigen, das uns andeutungsweise schon bei der Besprechung anderer hirnorganischer Erkrankungen wie des korsakow-Syndroms (vgl. Bd. I 332; 545– 546), der alzheimer-Erkrankung (vgl. Bd. I 39; 88; 241; 244 –245; 338– 341; 537) oder der Aphasie-Folgen

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eines Schlaganfalls (vgl. Bd. I 152) sichtbar wurde (und was die Beschäftigung mit anderen Erkrankungen wie der Epilepsie [vgl. Bd. I 32; 36; 244– 245; 309 –310; 354], der Chorea huntington [vgl. Bd. I 899], dem down-Syndrom u. a.m. nur bestätigen würde): wie vollkommen abhängig das, was wir als «Geist» bezeichnen, von den Funktionsleistungen des Gehirns in seinen Teilbereichen und im ganzen ist. Umgekehrt haben wir bei der Erörterung von psychosomatischen Erkrankungen aber auch die folgenreiche Rückwirkung kennengelernt, die das, was wir «Psyche» nennen, auf zahlreiche «somatische» Funktionsabläufe ausübt; und auch eine Reihe von Vorgängen im Gehirn selbst erwiesen sich als ebenso steuerbar wie störbar durch die Inhalte und Erfahrungen, welche die «Seele» eines Menschen in der Biographie ihrer eigenen Genese in sich aufnehmen mußte, angefangen bereits mit der embryonalen Entwicklung des Gehirns, über die prägenden Eindrücke der frühen Kindheit (insbesondere im Kontakt von Mutter und Kind), bis hin zu den Lernerfahrungen, die sich aus den Folgen eigener Entscheidungen und eigener Verhaltensweisen ergeben. Offenbar haben wir es bei allem «Seelischen» mit einem Geflecht von Ursachen zu tun, deren Wirkungen wieder verändernd auf ihre eigenen Ursachen zurückwirken – mit einem komplexen Geschehen also, das aus zum Teil chaotischen Prozessen (wie bei den Vorgängen des Riechens z. B., vgl. Bd. I 476 –477) durch Selbstorganisation «Ordnung» (in der Wahrnehmung ebenso wie in den entsprechenden verarbeitenden und erfahrungspeichernden Cortexarealen) entstehen läßt. Mit diesem – nur erst «provisorischen» – Eindruck nähern wir uns einem der größten Geheimnisse, womöglich dem größten, vor welches der menschliche Geist sich gestellt sieht: was er denn selbst ist. Alle Religionen, alle philosophischen Schulen der Menschheitsgeschichte haben sich mit dieser Frage beschäftigt; wir aber beginnen zu ahnen, daß es genügen könnte, das Problem der Entstehung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein mit den gleichen Untersuchungsverfahren und Erklärungsmodellen anzugehen, die bereits bei der Frage nach der Entstehung von Leben und der Evolution der verschiedenen Formen des Lebens hilfreich waren (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 659– 668). Nur: um welche Formen der «Rückkopplung», der «Selbstorganisation», der Ausbildung eines «Selbst» handelt es sich im (tierischen wie menschlichen) Gehirn? Schon daß wir, wie sich gleich zeigen wird, den Tieren «Seele», Bewußtsein, womöglich auch Selbstbewußtsein zutrauen müssen, ist geeignet, das Bild des Menschen von sich selbst entscheidend zu verändern. Die Folgen, die sich daraus religiös, ethisch, juristisch – auf allen Ebenen der «Anthropologie» – ergeben (müßten), sind kaum zu überschätzen.

D Was ist der Mensch? Oder: Von Bewußtsein, Geist, Person, Unsterblichkeit und Freiheit

Noch bis weit in die Mitte des 20. Jhs. hinein konnten Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an kirchlichen Hochschulen und Fakultäten ihre Vorlesungen über (metaphysische) Anthropologie mit der aristotelischen Dreiteilung der Seele in eine anima vegetativa, sensitiva und rationalis (lat.: in eine pflanzliche, eine empfindungsfähige – tierische – und eine vernunftbegabte – menschliche – Seele) bestreiten; die Wirklichkeit des Lebendigen schien in dieser Betrachtung durch drei verschiedene Seelensubstanzen in klar voneinander getrennte Bereiche gegliedert zu sein: So wie es bei diesem Konzept für unmöglich galt, daß aus Pflanzen Tiere würden, so schien es ausgeschlossen, daß aus Tieren Menschen würden. Der Grund: Pflanzen haben keine Gefühle, und Tiere haben keine Gedanken; nur der Mensch, der «in gewissem Sinne alles» (lat.: quodammodo omnia) ist, integriert in seinem Bewußtsein sämtliche Seinsstufen des Lebens. Dabei sind (und waren) durchaus auch andere Einteilungen der psychischen Vorgänge möglich. Das interessanteste Beispiel dafür lieferte schon vor 400 Jahren der weniger philosophisch als empirisch arbeitende englische Mediziner thomas willis (1621–1675) in seiner richtungweisenden Arbeit Cerebri Anatome cui accessit Nervorum descriptio et usus (London 1664; lat.: Hirnanatomie nebst Beschreibung der Nerven und ihrer Funktionen). Sein Gedankengang war dieser: Was Tiere und Pflanzen in der Tat wesentlich voneinander unterscheidet, ist der Umstand, daß nur die ersteren über ein Nervensystem verfügen, dem folglich in der Gesamtheit seiner Funktionen die anima sensitiva zuzuordnen ist. Nun läßt sich beobachten, daß der Bau des Kleinhirns bei vielen Tieren mit dem des Menschen weitgehend übereinstimmt, wohingegen das Großhirn sich sehr deutlich unterscheidet. willis zog daraus den Schluß, daß es im Grunde nur zwei Seelen gebe: eine Körper- oder Tierseele (lat.: eine anima brutorum), die zugleich die anima sensitiva wie auch die anima vitalis (lat.: die Lebensseele, die er im Blut existent fand) umfaßte – diese anima brutorum hielt willis zwar zur Wahrnehmung von Sinneseindrücken, doch nicht zu deren Verständnis für fähig –, und daneben die Vernunftseele, die auch willis – gemäß der aristotelischen Metaphysik – für immateriell und unsterblich ansah; allein sie wies seiner Meinung nach das Vermögen zur Ordnung und Deutung der Erscheinungen auf sowie zur Beherrschung und Lenkung der Affekte und Begierden. (Vgl. erhard oeser: Geschichte der Hirnforschung, 60 –64.) Es ist an dieser Stelle nicht so wichtig, daß die Bedeutung des Kleinhirns in dieser «neuen Theorie», wie willis sie nannte, entschieden überbewertet und die der diencephalen Schichten vollkommen unterbewertet wurde; bemerkenswerter ist vielmehr die Feststellung, daß willis mit seinem «dualen» Konzept

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Was ist der Mensch?

der Seele die «Maschinentheorie» des descartes ebenso überwand wie die (mittelalterliche) Lehre von den Ventrikeln: die psychischen Funktionen wurden nicht länger mehr in die «Leerräume» des Gehirns verlagert, sondern in die Hirnsubstanz selbst, und zwar so, daß deren Strukturen mit den Funktionsweisen beziehungsweise mit den «Seelenvermögen» (lat.: den spiritu¯s – Seelengeistern) korrelierten. Dieser Neuansatz war im Prinzip richtig. Um seiner Theorie empirisch nachzugehen, erschlug willis nun allerdings «ganze Hekatomben von beinahe allen Tierarten», wie er selber gestand, und führte, obwohl er den Tieren – im Gegensatz zu descartes – durchaus eine Leidensfähigkeit zusprach, ungerührt die grausamsten Vivisektionen an ihnen durch. (erhard oeser: Geschichte der Hirnforschung, 66) Gleichwohl überwand er mit seinem Konzept die descartessche Trennung von Tier und Mensch und «eröffnete . . . bereits die Möglichkeit, Gehirnvorgänge zu physiologischen Erklärungen psychischer Vorgänge heranzuziehen. Genau das war . . . die Zielsetzung, die Willis mit seiner vergleichenden Psychologie (sc. zwischen den Wirbeltieren und Menschen, d. V.) verfolgte. Denn die Seele der Tiere ist für ihn zugleich auch die sensitive und vitale Seele des Menschen, die dieser mit den Tieren gemeinsam hat. Damit wird der Mensch zu einem doppelt beseelten Wesen, denn er besitzt wie die Tiere eine Körperseele und darüber hinaus eine Vernunftseele (anima rationalis).» (erhard oeser: A. a. O., 67) Es scheint nicht zu gewagt, wenn wir dieses Prinzip einer Schichtung psychischer Funktionen im 17. Jh. in direkte Verbindung bringen mit paul macleans Konzept im 20. Jh. von dem «dreieinigen Gehirn», in dem der «Reptilienkomplex», das limbische System und der Neocortex wie drei biologisch untereinander verbundene Computer betrachtet wurden, von denen jeder «seine eigene spezielle Intelligenz, seine eigene Subjektivität, seinen eigenen Sinn für Raum und Zeit, sein eigenes Gedächtnis, seine eigene Motorik und andere Funktionen» haben sollte. (Zit. n. carl sagan: Die Drachen von Eden, 67.) Obwohl, wie wir sahen, macleans Theorie in ihrer vereinfachten Form sich weder evolutionsbiologisch noch neurologisch halten läßt (vgl. Bd. I 68), erfreut sie sich selbst in Fachkreisen einer zumindest didaktisch auch heute noch ungebrochenen Beliebtheit, und sie wirft insbesondere die folgende Frage auf: Wenn Tiere über Empfindungen und über Gefühle verfügen, was ist es dann mit der ihnen eigenen «Subjektivität»? Besitzen auch sie ein Bewußtsein und, wenn ja, wie läßt sich feststellen, daß es sich so verhält? Und vor allem: Welche Funktionen des (Säugetier)Gehirns müssen aktiviert und zusammengeschaltet werden, um den Zustand von Bewußtheit zu erzeugen?

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1. Bewußtsein

Wir haben mehrfach schon den offiziellen Standpunkt der katholischen Kirche zum Thema «Geist» und «Seele» wiedergegeben, wie er im Erbe einer langen Tradition ebenso feierlich wie falsch von Papst johannes paul ii. in jener eingangs erwähnten Stellungnahme aus dem Jahre 1996 verkündet worden ist: die Evolution sei wohl «mehr als eine Hypothese», doch eine Evolution der Seele könne es nicht geben (vgl. Bd. I 20). Eine solche Auffassung mutet schon deshalb bizarr an, weil die Entwicklung des «Körpers» naturgemäß auch die Entwicklung des Gehirns umfaßt – und eben damit zugleich die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Wenn aber auch die «Seele» des Menschen aus der Evolution der Tiere hervorgegangen ist, so bleibt zu untersuchen, von welch einer Stufe an wir damit zu rechnen haben, daß Tiere nicht nur dies und das zu tun vermögen, sondern daß sie zugleich wissen, was sie tun, – daß sie sich ihrer Aktivitäten bewußt sind. Auf die Ähnlichkeit, ja, Gleichheit wesentlicher geistiger Tätigkeiten bei Mensch und Tier verwies immerhin bereits im Jahre 1748 david hume (1711–1776): «. . . unser Staunen (sc. über die Leistungen tierischer Instinkthandlungen, d. V.) wird vielleicht aufhören oder nachlassen», schrieb er, «wenn wir bedenken, daß unser Folgern aus der Erfahrung, das wir mit den Tieren gemein haben und von dem die ganze Lebensführung abhängt, selbst nichts anderes ist als eine Art Instinkt oder mechanische Kraft, die – uns selbst unbekannt – in uns wirkt und in ihren Hauptfunktionen nicht von solchen Beziehungen oder Vergleichungen von Vorstellungen geleitet wird, die den eigentlichen Gegenstand unserer geistigen Tätigkeiten ausmachen. Mögen auch die Instinkte verschieden sein, so ist es dennoch ein Instinkt, der einen Menschen lehrt, das Feuer zu meiden, ebenso wie der, welcher einen Vogel mit solcher Genauigkeit die Fertigkeit des Brütens lehrt und die ganze Einrichtung und Ordnung der Brutpflege.» (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 9. Abschn.: Über die Vernunft der Tiere, S. 139 –140)

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Was ist der Mensch?

a) Das Bewußtsein von Tieren «Wenn kein organisches Wesen außer dem Menschen irgendwelche geistigen Fähigkeiten besessen hätte, oder wenn seine (sc. des Menschen, d. V.) Fähigkeiten von einer völlig verschiedenen Natur wären im Vergleich mit denen der niederen Thiere, so würden wir nie im Stande gewesen sein, uns zu überzeugen, daß unsere hohen Fähigkeiten allmählich entwickelt worden sind. Es läßt sich aber deutlich nachweisen, daß kein fundamentaler Unterschied dieser Art besteht. Wir müssen auch zugeben, daß ein viel weiterer Abstand in den geistigen Fähigkeiten zwischen einem der niedrigsten Fische, wie . . . einem Amphioxus (sc. Lanzettfischchen; vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, Abb. 41, S. 118, d. V.) und dem der höheren Affen besteht, als zwischen dem Affen und dem Menschen; und doch wird diese Lücke durch zahllose Abstufungen ausgefüllt.» Nach diesen Worten, die charles darwin in seinem zweiten Hauptwerk Die Abstammung des Menschen (1. Theil, 3. Capitel, S. 72) äußerte, ist es ein und dasselbe, die Herkunft des Menschen aus der Tierreihe zu erforschen und den Werdegang der psychischen Fähigkeiten der Lebewesen zu untersuchen. «Unter allen Fähigkeiten des menschlichen Geistes steht . . . der Verstand oben an», fuhr darwin fort. «Es bestreiten (sc. aber, d. V.) nur wohl wenige Personen noch, daß (sc. auch, d. V.) die Thiere eine gewisse Fähigkeit des Nachdenkens haben. Fortwährend kann man sehen, daß Thiere zuwarten, überlegen und sich entschließen. Es ist eine bezeichnende Thatsache, daß, je mehr die Lebensweise irgend eines besonderen Thieres von einem Naturforscher beobachtet wird, dieser ihm desto mehr Verstand zuschreibt und desto weniger die Handlungen nicht angelernten Instincten beilegt.» (A. a. O., 82) «Ohne Bezugnahme auf irgendwelche directen Beweise behaupten zu wollen, daß kein Thier im Verlaufe der Zeit in Bezug auf den Intellect oder andere geistige Fähigkeiten fortgeschritten sei, heißt die Frage von der Entwicklung der Arten überhaupt verneinen.» (A. a. O., 89) – Es wird gleich noch zu untersuchen sein, ob die Alternative «Verstand» (= Lernen durch Einsicht) oder «Instinkt» (= angeborenes Verhalten ohne Einsicht) wirklich so besteht, wie sie an dieser Stelle von darwin – und seither immer weiter bis in die Gegenwart hinein – formuliert wurde; und wie steht es überhaupt mit der Beteiligung des Bewußtseins an kognitiven Prozessen im Leben der Tiere? Wenn sich beobachten läßt, daß Tiere «überlegen», ist dadurch bereits ein sicheres Kriterium dafür gegeben, daß sie es auch mit Bewußtsein tun? Und ähnlich stellt sich die Frage bezüglich der Gefühle. «Die Thatsache»,

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schrieb darwin (Die Abstammung des Menschen, 76; 77), «daß die niederen Thiere durch dieselben Gemüthsbewegungen betroffen werden wie wir, ist so sicher festgestellt, daß es nicht nöthig ist, den Leser durch viele Einzelheiten zu ermüden.» «Man hat von einem Hunde berichtet», fuhr darwin fort, «der noch im Todeskampfe seinen Herrn geliebkost hat, und Alle haben davon gehört, wie ein Hund, an dem man die Vivisection ausführte, die Hand seines Operateurs leckte. Wenn nicht dieser Mann ein Herz von Stein hatte, so muß er, wenn die Operation nicht durch Erweiterung unserer Erkenntnis völlig gerechtfertigt war, bis zur letzten Stunde seines Lebens Gewissensbisse gefühlt haben.» Tatsächlich sollte man glauben, es sei nicht schwer, Gefühle bei Tieren zu erkennen und anzuerkennen. Doch inwieweit sind Gefühle ein sicherer Indikator für Bewußtsein? Kann man etwas nur fühlen, wenn man weiß, daß man es fühlt? Wenn es um die Gedanken und Gefühle von Tieren geht, so ist es im 20. Jh. nicht mehr das philosophische Präjudiz des rené descartes gewesen, das den Tieren alle Subjekthaftigkeit absprach, sondern es waren die methodischen Grenzziehungen des Behaviorismus, die es nicht gestatteten, den Tieren ein eigenes Denken und Fühlen zuzusprechen. (Bd. I 22 –23; 299– 300) Wohl hatte heini hediger (1908 –1992) im Jahre 1948 bereits die – für ihn als Zoodirektor und Tierfreund eher rhetorische – Frage aufgeworfen: Ist das tierische Bewusstsein unerforschbar? (in: Behaviour, 1/1948, 130–137); doch schienen die Zweifel, ob Tiere überhaupt ein Bewußtsein haben, nach wie vor so groß, daß konrad lorenz rund 15 Jahre später die Frage erneut aufgriff und diesmal grundlegend formulierte: Haben Tiere ein subjektives Erleben? (In: Jahrbuch der Technischen Hochschule München, 1963, 57–68) Unter den Kautelen des Behaviorismus mußte es einem Tabubruch gleichkommen, als der amerikanische Biologe donald r. griffin (1915 – 2003), der 1958 mit seinem Buch Listening in the dark (engl.: Hören im Dunkeln) über die Echolot-Orientierung der Fledermäuse berühmt geworden war, das Wagnis einging, das allzu enge methodische Dogma beiseite zu räumen. «Was . . . die . . . Behavioristen wirklich meinen dürften», schrieb er, «sieht ungefähr so aus: Gedanken und Gefühle sowie das Verhalten, das aus ihnen zu resultieren scheint, müssen vorangegangene Ursachen haben, und wenn man diese erst einmal verstanden hat, kann man das Verhalten voraussagen, ohne sich um die störenden Gedanken oder Gefühle zu kümmern. Ein behavioristischer Psychologe wird gewöhnlich sagen, daß man, wenn man nur die ‹Verstärkungsmöglichkeiten› (sc. zum Beispiel die Mechanismen operanter Konditionierung erfolgreichen Verhaltens, d. V.)

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genügend verstanden hat, das Verhalten voraussagen kann, ohne das subjektive Erleben, das dabei auftreten mag, irgendwie zu beachten.» (donald r. griffin: Wie Tiere denken, 41) «Hier steht zur Debatte», meinte er zu Recht, «ob Tiere nichts weiter sind als mechanische Apparate. Die meisten Biologen und Psychologen neigen dazu, ausdrücklich oder stillschweigend die Tiere (sc. immer noch, d. V.) als Maschinen anzusehen, sicherlich sehr komplexe Maschinen, aber nichtsdestoweniger eben nur nicht-denkende Roboter.» (donald r. griffin: A. a. O., 25) «Die Ablehnung geistig-seelischer Vorgänge als Kausalfaktoren wird in erster Linie damit begründet, daß subjektive Gedanken und Gefühle von niemandem beobachtet werden können, außer von der denkenden oder fühlenden Kreatur selbst. Aber der Reproduktionserfolg oder -mißerfolg infolge bestimmter Verhaltensweisen der Vorfahren in grauer Vorzeit kann von überhaupt niemandem beobachtet werden (sc. und trotzdem genießt die evolutionsbiologische Betrachtungsweise bei Behavioristen eine unwidersprochene Akzeptanz, d. V.).» (donald r. griffin: A. a. O., 44 –45) Entschieden vertrat donald r. griffin die «Arbeitshypothese . . ., daß ein Tier, das bewußt die meistversprechende von mehreren Alternativen vorhersehen und wählen kann, öfter erfolgreich sein wird als eines, das nicht darüber nachdenkt oder nachdenken kann, was es gerade tut». (Wie Tiere denken, 63) Mit anderen Worten: Warum sollten nicht gerade die Fähigkeiten zu Intelligenz und Vorausplanung von der Selektion ebenso, ja, noch mehr begünstigt worden sein als die Anpassung der Körperformen und der Lebensweisen? Ist die Erfolgsgeschichte der Entstehung des Menschen überhaupt anders zu erklären? Es ist gerade die Frage, an welcher der «Spezies-Solipsismus» (a. a. O., 47), die Überzeugung also, nur der Mensch sei zu Fühlen und Denken imstande, sich selbst widerlegt. Vor etwa 30 Jahren war es nick k. humphrey (Nature’s psychologists, in: New Scientist, 78/1978, 900 –903), der die These vertrat, das Bewußtsein habe sich im Verlaufe der Evolution der Primaten entwickelt, als die Gruppenbildung weit genug vorangeschritten gewesen sei, um den Austausch von Gefühlen, Gedanken und Absichten für die Gruppenmitglieder überlebenswichtig werden zu lassen; von diesem Moment an seien Tiere zu «psychologischen Naturtalenten» geworden; jedoch – wenn diese Ansicht zutrifft, gilt sie dann wirklich erst und nur für die Primatenevolution und nicht genauso für andere Ordnungen sozial lebender Tiere? «Aus alldem», folgerte donald r. griffin, «ergibt sich die einfache Idee, daß Tiere, wenn sie sich untereinander verständigen, einander etwas über ihre Gedanken und Gefühle mitteilen können.» (Wie Tiere denken, 61) Und er schlug vor: «Wenn dem so ist, könnte für uns das Belauschen der Verständigungsmittel der Tiere untereinander zu

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einer brauchbaren Quelle für Angaben über ihr seelisches Erleben werden.» (A. a. O., 61) Jedenfalls werde die «Annahme eines menschlichen Monopols auf bewußtes Denken . . . immer schwieriger zu vertreten, je mehr wir über die Findigkeit von Tieren bei der Auseinandersetzung mit Aufgaben im normalen Leben erfahren». (donald r. griffin: A. a. O., 70) Die «intuitive Erkenntnis unserer Verwandtschaft mit anderen Tieren», die uns «ein tiefverankertes Mitgefühl für Tiere als empfindende Geschöpfe» auferlegt (a. a. O., 33), läßt sich heute tatsächlich durch eine Fülle von Beobachtungen bestätigen, wenn nur erst die behavioristische Scheu vor der Verwendung mentalistischer Begriffe (von spätlat.: mentalis – geistig, vorgestellt; aus Gedanken und Überlegungen hervorgegangene Begriffe) bei der Beschreibung ihres Verhaltens schwindet (vgl. a. a. O., 172–173); und in diesem Punkte war griffin entschlossen, als Rammbock zu wirken. So zögerte er nicht, seine Kollegen mit Fragen wie diesen zu provozieren: was wohl in einem Regenpfeifer, einem Säbelschnäbler oder einem Stelzenläufer vor sich gehe, wenn ein Raubfeind sich seinem Nest nähere. Diese Tiere reagieren auf eine solche Bedrohung für ihr Gelege bekanntlich mit Scheinbrüten an einem entlegeneren Ort, oder sie laufen vom Nest fort, indem sie eine Verletzung – einen gebrochenen Flügel etwa – vortäuschen. (Vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 118 –121; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1357.) Von den Verhaltensforschern wird dieses Feind-Verleitungsverhalten zumeist mit einem Motivationskonflikt erklärt: der Vogel habe Angst vor dem Feind und wolle fliehen, zugleich aber wolle er auch das Gelege schützen und den Gegner angreifen; doch wenn das so wäre, sollte, wie griffin geltend macht, daraus «eine Art von unkoordinierter Zuckung resultieren, die den Vogel sinnlos und aufs Geratewohl agieren läßt». Statt dessen aber «hat der Vogel sein Verhalten unter Kontrolle und paßt es in allen Einzelheiten den Reaktionen des Störenfriedes an». (donald r. griffin: Wie Tiere denken, 120) «Die große Schlauheit und Flexibilität der Feind-Ablenkungstaktiken legen (sc. deshalb, d. V.) nahe, daß die Vögel etwas von dem, was sie tun, und von den möglichen Ergebnissen ihres Tuns – nämlich, die Vernichtung ihrer Eier oder Jungen zu verhindern – begreifen müssen.» Wäre es unter diesen Umständen nicht möglich, daß «diese Vögel . . . denken . . .: ‹Ich werde diesen schrecklichen Kerl von meinen Jungen weglocken›?» (donald r. griffin: A. a. O., 122) Und wenn der Raubfeind sich nicht ohne weiteres weglocken läßt, überlegen sie dann: « ‹Der Kerl folgt mir nicht, also fliege ich zurück und versuche, ihn in eine andere Richtung zu führen›?» (A. a. O., 123) Tatsächlich bietet die Annahme einer bewußt gewählten Strategie der Feindablenkung die einfachste Er-

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klärung für das überaus geschickte und zielstrebige Verhalten der Vögel, wohingegen die Unterstellung unbewußter Instinkthandlungen zu einer Reihe recht widersprüchlicher (und beobachtungswidriger!) Zusatzhypothesen nötigen würde. Freilich ist bei solchen Folgerungen Vorsicht geboten, denn daß uns eine Erklärung am einfachsten erscheint, bedeutet an sich noch nicht, daß sie wirklich zutrifft. Dafür ein anderes Beispiel: Vor mehr als einem halben Jahrhundert ging die Geschichte von Kohlmeisen (Parus major), Blaumeisen (Parus caeruleus) und Tannenmeisen (Parus ater) um die Welt, die in England herausgefunden hatten, wie man die weiche Metallfolie der Verschlußkappen von Milchflaschen öffnen und den Rahm der nicht-homogenisierten Milch sich zueigen machen konnte. (Vgl. james fisher – robert a. hinde: The opening of milk-bottles by birds, in: British birds 42/1949, 347– 357.) Bis man irgendwann stabilere Verschlüsse für Milchflaschen einführte, gelang es offenbar Tausenden von Vögeln durch einfaches Beobachten ihrer Artgenossen, sich diese lukrative Nahrungsquelle zu erschließen. donald r. griffin nun hielt diese Tatsache für ein hervorragendes «Beispiel erfindungsreichen Denkens und unerwarteten Lernens». (Wie Tiere denken, 94) Dieser Schluß auf ein planendes kreatives Verhalten ist aber durchaus nicht zwingend. Denn: «Meisen ernähren sich von Insekten, die sich auf Bäumen und anderen Pflanzen finden. Es gehört daher zu ihrem Verhaltensrepertoire, Baumrinde abzuziehen, um darunter nach Insektenlarven zu suchen; dieses Verhalten ist derart verwurzelt, daß von Menschen aufgezogene, als Haustiere gehaltene Blaumeisen zwanghaft die Tapete von den Wänden ihres Pflegeheimes ziehen – ohne die Aussicht auf irgendeine Belohnung.» (james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 89) Im Falle der Blaumeisen entstand also wohl aus einem angeborenen Verhalten durch bloßen Zufall eine höchst effiziente Form der Nahrungsbeschaffung; und da Vögel augenblicklich die Nahrungsquellen anderer Vögel zu erkunden pflegen, kann es nicht weiter wundernehmen, daß sich die ungeplante Entdeckung eines einzelnen Tieres lawinenartig über große Flächen ausbreitete. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 90.) Vor allem bei «niederen» Tieren wird man geneigt sein, selbst erstaunlich zweckmäßige (also «vernünftige») Handlungsabfolgen rein «mechanistisch» zu interpretieren. Als ein quasi «klassisches» Beispiel dafür kann das Nestbauverhalten einer australischen Grabwespenart gelten. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: The insect mind: Physics or metaphysics?, in: D. R. Griffin: Animal Mind – Human Mind, 1982, 269 –297) «Diese Art hebt einen rund

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Abb. D 1: Das vollständige Trichternest einer australischen Grabwespenart (oben) und experimentelle Manipulationen am Trichternest (unten)

acht Zentimeter langen Tunnel mit einem Durchmesser von acht Millimetern aus und kleidet diesen mit Schlamm aus. Bevor sie aber mit der Aufzucht von Nachkommen beginnt, baut die Wespe einen komplizierten Trichter, der über den Boden hervorragt. Dieser Trichter dient dazu, einen bestimmten Schmarotzer (eine andere Wespenart) davon abzuhalten, in das Nest einzudringen und seine Eier auf jener Beute abzulegen, welche die Grabwespe für ihre eigenen Jungen bereithält. Der Trichter besteht aus einem Stiel, einem Hals, einem Flansch und einem Kelch.» (james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 47) Abb. D 1 zeigt das vollständige Trichternest dieser Grabwespenart, bestehend aus dem Tunnel, der als erstes ausgehoben wird, dem Trichter sowie den verschlossenen Brutkammern, die als letzte gebaut und mit Raupen als Nahrung für die Wespenlarven versehen werden; in der Kammer, die zuerst fertiggestellt wird, hat die Larve sich schon verpuppt,

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wenn die Larve in der letzten Kammer noch aus dem Ei schlüpfen muß; der Trichter wird von der Wespe zerstört und der Tunneleingang verschlossen, sobald alle Brutzellen gefüllt sind. Um die phantastische Bauleistung eines «primitiven» Insekts zu verstehen, schlug donald r. griffin als die – im Sinne von wilhelm von ockham, vor 1300–1349 – «sparsamste» Erklärung vor, die Grabwespe verfüge (ähnlich wie Weberameisen oder wie Webervögel u. a.) über ein geistiges Konzeptbild ihres späteren Bauwerkes und überlege sich dann die Einzelschritte, die unter gegebenen Umständen zur Erreichung dieses Ziels führten (vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 138 –141; 143); damit verwahrte er sich gegen die Präsumtion, «daß so ein Insekt auf keinen Fall bewußt denken kann» und «daß dieses Tier nichts weiter als eine geistlose Maschine ist». (donald r. griffin: A. a. O., 144) Genau zu diesem Ergebnis aber wird man geleitet, wenn man der Wespe bei ihren Bauarbeiten genauer zusieht: sie vollführt «sklavisch eine Reihe angeborener Befehle», behaupten james l. gould und carol grant gould (Bewusstsein bei Tieren, 47). Man erkennt das daran, daß die Wespe, die zum Beispiel den Bau des etwa drei Zentimeter langen Stiels in jedem Falle rechtwinklig zum Boden anlegt, egal, ob das Nest an einem Hang gelegen ist oder nicht, prinzipiell entlang der einmal gewählten Achse weiterbaut, selbst wenn man nachträglich das bereits begonnene Nest dreht oder den Stiel abbricht und in einem ganz anderen Winkel wieder anbringt. Gräbt man den Stiel, während sie an ihm arbeitet, ein, so verlängert sie ihn einfach immer weiter (vgl. Abb. D 1 unten). Hat sie aber erst einmal mit dem Bau des Halses begonnen, ignoriert sie jegliche Manipulation am Stiel. «Würde die Wespe den Zweck des (sc. späteren, d. V.) Trichters verstehen oder wüßte sie, wie er fertig aussehen soll, dann sollte man annehmen, daß sie den Hals wieder zerstört und den Stiel verlängert oder das Bauwerk gänzlich aufgibt», wenn man den Stiel eingräbt, nachdem sie mit dem Bau von Hals oder Flansch begonnen hat, argumentierten die goulds (a. a. O., 49). Sie schlugen deshalb vor, die Bauleistungen der Wespe nach Art eines Computerprogramms zu interpretieren, in dem die Konstruktion des Stiels als Unterprogramm enthalten sei; dieses Unterprogramm laufe an, sobald der Tunnel fertiggestellt sei, und bestehe in einer mechanischen Folge identischer Verrichtungen. Ist der Stiel in einer Länge von etwa 3 cm vollendet, bei deren Festlegung offenbar die Körpergröße des Insekts als «Maßeinheit» verwandt wird, erfolge die Fertigstellung des Halses als nächstes Unterprogramm, das erneut in Teilschritten abgearbeitet werde. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 48.) Daraus folgt: «Die Strategie der Wespe besteht . . . darin, eine komplexe Aufgabe in eine Reihe einfacherer Auf-

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gaben zu unterteilen, von denen jede eine Anzahl sich wiederholender Verhaltensweisen erfordert, bis ein angeborenes, bestimmtes Teilziel erreicht ist. Der erfolgreiche Abschluß eines jeden Unterprogramms führt die Wespe zum nächsten Schritt, bis ihre Aufgabe insgesamt erledigt ist. Es gibt fast kein Zurück; als einzige Ausnahme besteht offenbar die Möglichkeit, mit dem völligen Verlust des Trichters fertig zu werden – in diesem Fall beginnt die Wespe von neuem mit dem Bau.» (james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 50) «Was das Verhalten der Wespe dem eines Computers ähnlicher macht als dem eines Architekten, ist, daß sie überhaupt nichts über das Ziel weiß. Statt dessen konzentriert sich das Insekt auf eine Reihe unmittelbarer Aufgaben. Diese Unterscheidung zwischen ‹lokalen› Aufgaben, die allein durch angeborene Programme erfüllt werden können, und ‹globalen› Zielen, die eine vollkommenere Sichtweise und ein Verständnis für die Notwendigkeit erfordern, der ein Verhalten dient, ist ganz entscheidend, wenn wir komplexeres Verhalten analysieren wollen.» (A. a. O., 51) Doch auch solche Vergleiche der Arbeitsweise eines Insekts (oder der Bauleistungen von Vögeln) mit den Programmen von Computern können in die Irre führen. Wohl scheint es klar, daß eine Grabwespe von dem «Ziel» ihrer Tätigkeit keine Kenntnis hat, – das Weibchen, das mit seinen Aktivitäten alles unternimmt, um die künftigen Larven mit Schutz und Nahrung zu versorgen, stirbt lange, bevor diese ihr Nest verlassen, – es wird niemals den Erfolg seiner Mühen zu Gesicht bekommen; und daß die Wespe sich an ihr eigenes Larvenstadium erinnern könnte, indem bestimmte Gedächtnisinhalte den Umbau des Zentralnervensystems während der Metamorphose von der Larve zur Imago (zum ausgewachsenen Tier) überdauern würden, ist zwar nicht völlig unmöglich, aber doch recht unwahrscheinlich. (Vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 146–147.) Und doch: obwohl mithin alles dafür spricht, daß die Bautätigkeiten von Grabwespen angeborene Instinkthandlungen darstellen, «sollten wir uns fragen», meint donald r. griffin, «ob die Endergebnisse eines Verhaltens notwendigerweise verstanden sein müssen, um bewußte Gedanken während der Ausführung dieses Verhaltens zu haben. Die Gedanken und Gefühle einer . . . nestbauenden Wespe könnten sich auf die unmittelbare Situation beschränken, ohne die Langzeitkonsequenzen in Rechnung zu stellen . . . In Wirklichkeit», macht griffin weiter geltend (a. a. O., 147), «werden ja (sc. auch, d. V.) viele Arten menschlichen Verhaltens in Gedanken an die gegenwärtigen Umstände ausgeführt, aber ohne irgendwelche Gedanken an die Langzeitergebnisse. Wenige von uns denken an unsere Nachkommen im Jahre 3000, obgleich unser Verhalten entscheidend für ihre Existenz ist. Und das Anzünden

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von Zigaretten und der Genuß des Rauchens sind selten von Gedanken an die Endstadien des Lungenkrebses begleitet.» Auch das «Argument», die Grabwespe müßte doch sehen, daß ihre Tätigkeiten sinnlos werden, wenn man zum Beispiel den Stiel oder den Trichter ihres Nestes experimentell manipuliert, verfängt nicht unbedingt, wenn man bedenkt, wie sinnlos gerade wir Menschen atavistischen Programmen folgen können, obwohl die Umstände unseres Verhaltens sich längst geändert haben – die unselige Tradition militärischer Rüstung und nicht endender Kriege haben wir vorhin noch als Formen eines gesellschaftlichen Wahns beschrieben! (Vgl. donald r. griffin: A. a. O., 145 –146.) – Objektiv sinnlose Aktivitäten beweisen also keineswegs, daß sie bewußtlos ablaufen müssen, und daß Handlungen bewußt vollzogen werden, schließt durchaus nicht ein, daß sie sinnvollen Zielen entsprechen. Selbst wenn Tätigkeiten objektiv sinnvoll sind, setzt das nicht voraus, daß dieser «Sinn» dem Handelnden auch subjektiv bewußt ist. In der Philosophie georg wilhelm friedrich hegels lag bekanntlich die Ausrichtung der gesamten Natur- wie Menschheitsgeschichte darin, daß die Vernunft, die «an sich» in der Natur bereits sei, «für sich selbst» in denkenden Wesen bewußt werde; ein solcher Prozeß kann freilich nur stufenweise ablaufen, in unterschiedlichen Graden der Übereinstimmung zwischen dem, was subjektiv als Ziel begriffen und objektiv als Zweck erreicht werden soll, und so ist es möglich, daß ein hohes Maß planender Vernunft ohne Bewußtsein realisiert ist oder erst in den Endstadien ins Bewußtsein gelangt. Objektiv «vernünftig» zum Beispiel sind die Züge eines leistungsfähigen Schachcomputers – sie können so zweckmäßig ausfallen, daß sie selbst Leute in die Enge treiben, die ihr Leben lang sich mit den Eröffnungsvarianten und Strategien des «königlichen Spiels» beschäftigt haben und die nun stundenlang ihr Bewußtsein dafür anstrengen, alles, was sie in Hunderten von Stunden an Stellungen gelernt haben und sich an Zugmöglichkeiten vorstellen können, gegen die Spielweise einer solchen Maschine aufzubieten, von der niemand behaupten wird, sie handle mit Bewußtsein und sie tue etwas anderes, als ein raffiniert ersonnenes Programm rein mechanisch auszuführen; dabei läßt sich nicht leugnen, daß eine Schachmaschine tatsächlich ihre Entscheidungen hinauszögert, um Zeit zum «Nachdenken» zu gewinnen; ja, der Computer kann aus seinen eigenen Fehlern lernen – seine Spielstärke wächst mit der Anzahl der Spiele, und das alles ist möglich ohne jedes subjektive Bewußtsein. Den Unterschied zwischen den «Überlegungen» eines Schachcomputers und eines Menschen kann man am einfachsten daran erkennen, daß ein menschliches Gehirn eine Fülle von «an sich» bestehenden Möglichkeiten von vornherein als ir-

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relevant ausschließen wird, wohingegen der Computer – allerdings in einem unglaublichen Tempo – alle nur möglichen Züge durchspielt. Das liegt daran, daß bewußtes Planen von einer Zielvorstellung ausgeht und von dort her in Teilschritten eine mögliche Annäherung arrangiert, während ein Computerprogramm nichts weiter tut, als stufenweise seine Arbeitsanweisungen abzuarbeiten; ob diese Arbeitsanweisungen zum Resultat haben, eine gegnerische Spielfigur «schachmatt» zu setzen oder ein menschliches Herz zu operieren, ein Auto zu montieren oder einen Atomkrieg auszulösen, weiß der Computer nicht und ist ihm auch vollkommen egal; eben das heißt: er handelt unbewußt. Die Einsicht, daß es auch ohne Bewußtsein möglich ist, komplexe Handlungen auszuführen, die über viele Stufen zielgerecht der Erreichung eines sinnvollen Zweckes folgen, läßt sich in erstaunlichem Umfang nun aber auch auf tierisches wie menschliches Verhalten beziehen: Mauersegler (Apus apus) etwa können ganze Abschnitte ihrer 1000e von Kilometern langen Flüge von Südafrika bis zum Nordkap schlafend zurücklegen; wir selber können entlang eines Flusses eine lange Strecke spazierengehen, ohne einen einzigen Gedanken auf die motorische Fortbewegung zu verschwenden; und sogar die Vorgänge des Sprechens und Denkens, die sich, wie wir sahen, einer komplizierten Verschaltung der Assoziationscortices verdanken (vgl. Abb. A 35; A 40; A 41), verlaufen am meisten ungestört, wenn sie nicht bewußt gesteuert werden. heinrich von kleist (1777–1811), der in seinem Traktat Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden um 1805/1806 zum ersten Mal seine Verwunderung über die sonderbare Eigenart kreativen Überlegens ausdrückte, meinte, es lasse der Satz der Franzosen: «Der Appetit kommt beim Essen» sich durchaus dahin parodieren: «Die Idee kommt beim Reden.» (Gesamtausgabe, V 53) Denn: «weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.» (heinrich von kleist: A. a. O., V 54) Kann es sein, daß, wie beim Denken, so auch beim Handeln eine nur erst «verworrene Vorstellung» den Anfang zu einem Projekt macht, dessen Ziel sich mit seinem Ergebnis zugleich allererst ausarbeitet? Auf die meisten künstlerischen Schöpfungen in Literatur, Malerei und Musik, aber auch auf viele Entdeckungen im Bereiche der Wissenschaften trifft diese Erklärung wohl zu. Die Unterscheidung jedenfalls, die wir gottfried wilhelm leibniz zwischen dem kausalen Wirken der materiellen und dem finalen Wirken der

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immateriellen Substanzen vornehmen sahen (vgl. Bd. I 24), scheint jetzt ebenso wenig mehr aufrechterhalten zu sein wie jene zugehörige Unterscheidung zwischen einem rein «körperlichen» und einem rein «geistigen» Geschehen selbst. Vor allem müssen wir jetzt zugeben, daß auch bei uns Menschen das Bewußtsein weniger als planende Vernunft in Erscheinung tritt denn als eine zusätzliche Prämie unserer geistigen Bemühungen, die sich zu unserer Zufriedenheit – oder zu unserem Schrecken! – irgendwann einstellen mag, aber durchaus nicht immer einstellen muß. So besehen, ist es zum einen weder möglich, auch nur den niederen Tieren bei ihren vielfachen Tätigkeiten jegliches Denken und Fühlen kategorisch abzusprechen, noch zum anderen möglich, selbst mit den höchsten Funktionen unserer Geistestätigkeit, wie Denken und Sprechen, in jedem Falle eine Funktion des Bewußtseins zu verbinden. Um die notwendige Vorsicht im Urteil zu schärfen, brauchen wir nur auf die Tanzsprache der Honigbienen zu verweisen, die von karl von frisch (1886 –1982) in seinen Büchern Aus dem Leben der Bienen (61959) und Tanzsprache und Orientierung der Bienen (1965) analysiert und entziffert wurde: – donald r. griffin beschrieb sie ausführlich (Wie Tiere denken, 221–232; vgl. auch e. drewermann: Im Anfang . . ., 691– 693; samuel anthony barnett: Instinkt und Intelligenz, 135 –140; james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 112 –121). Besonders beeindruckt zeigte er sich dabei von den Forschungen, die martin lindauer (geb. 1918) mitte der 50er Jahre über die Staatengründung von Bienen angestellt hatte (Schwarmbienen auf Wohnungssuche, in: Zeitschrift für vergleichende Physiologie, 37/1955, 263 –324; ders.: Orientierung der Tiere in Raum und Zeit, in: K. Immelmann [Hg.]: Verhaltensforschung, 138–152; ders.: Die Bienensprache, in: A. a. O., 495– 505; ders.: Botschaft ohne Worte, 224 –232); folgendermaßen ereignet sie sich: Nimmt die Kopfzahl eines Honigbienenvolkes so stark zu, daß sie im Stock keinen genügenden Platz mehr finden, füttern Arbeiterinnen aus einigen Larven mittels einer besonderen Ernährung neue Königinnen heran; die bisherige Königin stellt die Eiablage ein und zieht mit etwa der Hälfte der Arbeiterinnen aus. Und nun begibt sich etwas Außerordentliches: Die älteren Arbeiterinnen suchen nach einer neuen Unterkunft – einem hohlen Baum zum Beispiel. «Man muß sich vor Augen halten», hebt donald r. griffin in diesem Zusammenhang hervor, «daß dieses Verhalten wie auch das Suchbild, das in den Zentralnervensystemen der Bienen vorhanden sein muß, nunmehr zu einer Situation gehören, die diese Arbeiterinnen nie zuvor kennengelernt haben. Die Königin kann diesen Vorgang schon durchlaufen haben, aber die Arbeiterinnen leben nur für ein paar Wochen während der wär-

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meren Monate des Jahres, und seit dem letzten Schwärmen können Monate oder gar Jahre vergangen sein. Das Schwärmen stellt also die Arbeiterinnen vor eine für sie beispiellose Situation.» (Wie Tiere denken, 227–228) Gesucht werden muß von ihnen – in oft beträchtlicher Entfernung – eine Höhlung mit nur einem kleinen Zugang am unteren Ende, die frei von Ameisen und anderen Insekten ist und nicht naß werden darf. Hat eine Arbeiterin eine solche geeignet erscheinende Behausung gefunden, so zeigt sie diese ihren Schwestern mit den gleichen symbolischen Tanzfiguren an, mit denen sie auch die Richtung und Ergiebigkeit einer Futterstelle anzeigen würde, wobei sie den Grad der Eignung der neuen Behausung durch Unterschiede in der Intensität ihrer Bewegung verdeutlicht. Die Arbeiterinnen suchen tagelang die gefundenen Höhlen auf und tauschen die Informationen darüber untereinander aus, was ihnen Gelegenheit gibt, herauszufinden, ob die Eigenschaften der geeignet erscheinenden Höhlen sich konstant erhalten – daß sie zum Beispiel auch bei Regen trocken bleiben. Weist eine Biene auf eine besonders empfehlenswerte Behausungsmöglichkeit hin, werden mehr Suchbienen in diese Richtung geschickt. Wie lindauer fand, hört eine Biene beim Anblick des «leidenschaftlicheren» Tanzes einer ihrer Schwestern auf, mit eigenen Tanzbewegungen auf ihre Höhle hinzuweisen; sie nimmt vielmehr die ihr fremde Höhle selber in Augenschein, und erst wenn sie sich von deren besserer Eignung überzeugt hat, plädiert auch sie nach ihrer Rückkehr für diese andere Behausung, indem sie in angemessener Tanzintensität nun deren Richtung und Entfernung anzeigt. (Vgl. donald r. griffin: A. a. O., 228 –229; martin lindauer: Botschaft ohne Worte, 230– 231.) Umgekehrt ignorieren die Suchbienen wohl jene Tanzinformationen anderer Tiere, die mit ihren eigenen übereinstimmen. Das alles bedeutet, schreibt donald r. griffin, «daß sie in gewisser Weise die Tänze erkennen, die die gleiche Bedeutung wie ihre eigenen haben». (Wie Tiere denken, 231) Eine solche Annahme fällt allerdings innerhalb des herrschenden Wissenschaftsbetriebs nicht weniger als revolutionär aus. «Trotz akribischer Aufzeichnungen über Dutzende von Schwärmen weisen einige Forscher – damals wie heute – Lindauers Ergebnisse einzig und allein aus dem Grund zurück, daß sie nicht glauben wollen, das Verhalten der Spurbienen könnte derartig flexibel sein.» (james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 122) «Das ganze Thema der Bienenverständigung durch Tänze», meint griffin, «liegt so weit außerhalb von allem, was wir von Insektenverhalten erwarten, daß die Psychologen es praktisch ignoriert haben . . . Wir hängen verbissen an der alten Überzeugung, daß Insekten genetisch programmierte Roboter sind, und schließen damit auch Bewußtseinsvorgänge bei ihnen aus, obwohl die

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Gleichsetzung von genetischem Einfluß mit dem Fehlen bewußten Denkens auf äußerst wackligen Beinen steht.» (donald r. griffin: Wie Tiere denken, 231) Schon Anfang der 50er Jahre hatte carl gustav jung auf ähnliche Weise (wenn auch in sehr verschiedener Absicht) argumentiert; in einer seiner sonderbarsten und strittigsten Schriften unter dem Titel Synchronizität als Prinzip akausaler Zusammenhänge wies er darauf hin, daß «Bewußtsein, reproduzierbare Vorstellungen, Urteilsakte und Wahrnehmungen» «gegen alle Erwartungen» auch «in Ohnmachtszuständen» auftreten können, und schloß daran die Frage an, «ob in uns noch ein anderes nervöses Substrat als das Cerebrum (sc. hier als anatomische Bezeichnung für Großhirn verwendet, d. V.) denken und wahrnehmen kann». (carl gustav jung: Synchronizität als Prinzip akausaler Zusammenhänge, in: Gesammelte Werke, VIII 566 –567) jung wollte darauf hinaus, daß es Phänomene geben könne, die «in keiner kausalen Verbindung mit organischen Prozessen stehen» (a. a. O., VIII 567); doch das ist eine andere Frage. Hier geht es um die, wie jung schrieb, «beinahe axiomatisch» vertretene Überzeugung, «daß Bewußtseinsvorgänge an das Großhirn gebunden seien, und daß alle niederen Zentren nur Reflexverbindungen, die an sich unbewußt sind, beherbergen. Vollends», fuhr er fort, «gilt dieses Axiom für den Bereich des Sympathikus.» (A. a. O., VIII 567) Doch trifft diese Annahme wirklich zu? Um das zu prüfen, kam carl gustav jung auf karl von frisch und die Insekten zu sprechen, denn gemäß jenem Axiom kann man «Insekten, die überhaupt kein cerebrospinales Nervensystem (sc. kein Zentralnervensystem wie das der Wirbeltiere, d. V.), sondern nur ein Strickleitersystem (sc. ein Strickleiternervensystem mit einem Gehirn – ohne Großhirn! – und Ganglien, vgl. Abb. A 48, d. V.) besitzen, (sc. natürlich nur, d. V.) für Reflexautomaten» halten. Aber, wandte jung ein: «Diese Ansicht ist nun allerdings durch die Bienenforschungen, die k. v. frisch in Graz unternommen hat, einigermaßen ins Wanken geraten. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die Bienen ihren Stammgenossen durch einen eigenartigen Tanz nicht nur mitteilen, daß sie eine Futterstelle gefunden haben, sondern auch, in welcher Richtung und Distanz. Durch diese Mitteilung werden die Neulinge in den Stand gesetzt, die Futterstelle direkt anzufliegen. Diese Mitteilung läßt sich im Prinzip von einer Information unter Menschen nicht unterscheiden. Wir würden im letzteren Fall (sc. eine solche Form der Mitteilung bei uns Menschen, d. V.) zweifellos als ein bewußtes und intendiertes Handeln auffassen und könnten uns kaum vorstellen, wie zum Beispiel ein Angeklagter oder dessen Verteidiger einem Gerichtshof beweisen könnte, daß eine derartige Handlung unbewußt erfolgt sei. Man

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könnte zur Not, unter Berufung auf psychiatrische Erfahrungen, noch zugeben, daß die Mitteilung einer sachlichen Information auch ausnahmsweise einmal in einem Dämmerzustand erfolgt, würde es aber ausdrücklich ablehnen, Mitteilungen dieser Art für normalerweise unbewußt zu halten. Trotzdem wäre die Annahme möglich, daß der geschilderte Vorgang bei den Bienen unbewußt sei. Damit ist aber für die Lösung der Frage nichts gewonnen, denn nach wie vor sind wir mit der Tatsache konfrontiert, daß das Strickleitersystem (sc. das Strickleiternervensystem, d. V.) im Prinzip anscheinend dasselbe leistet wie unsere Großhirnrinde. Man kann übrigens auch nicht beweisen, daß die Bienen unbewußt sind. – Damit ist man zum Schlusse gedrängt, daß ein vom Cerebrospinalsystem (sc. Zentralnervensystem, d. V.) in puncto Herkunft und Funktion so verschiedenes nervöses Substrat wie der Sympathikus (sc. des peripheren Nervensystems, d. V.) offenbar ebensogut Gedanken und Wahrnehmungen erzeugen kann wie ersteres. Was soll man nun vom Sympathikus bei Vertebraten (sc. Wirbeltieren, von lat.: der vertex – Wirbel, d. V.) halten? Kann auch er spezifisch psychische Vorgänge erzeugen oder vermitteln? Die Beobachtungen v. frischs beweisen das Vorhandensein transzerebralen Denkens und Wahrnehmens. Man muß diese Möglichkeit wohl im Auge behalten, wenn man die Existenz einer Bewußtheit innerhalb der Bewußtlosigkeit einer Ohnmacht erklären will. Der Sympathikus ist nämlich während einer Ohnmacht nicht gelähmt und könnte daher möglicherweise als Träger psychischer Funktionen in Betracht kommen.» (carl gustav jung: A. a. O., VIII 567– 568) Worte wie «Möglichkeit», «wenn man . . . will» und «könnte» zeigen deutlich, daß es sich in jungs Abhandlung um Gedanken handelt, die in der damaligen Zeit rein spekulativ bleiben mußten. Die Aufforderung aber, die darin liegt, ist zwiefach: Zum einen läßt sich tatsächlich vorstellen, daß die Evolution das Strickleiternervensystem von Insekten auf eine höchstmögliche Stufe seiner Entwicklung getrieben hat, bis dahin, daß es in einigen Punkten durchaus vergleichbare Leistungen hervorzubringen vermag wie das Zentralnervensystem der Wirbeltiere, so wie die Evolution auch die Augen von Weichtieren zu Spitzenleistungen befähigt hat – zum Beispiel die Augen des Tintenfisches – oder eben bei den Insekten das Facettenauge, das sich bewegende Objekte um vieles schneller registriert als ein Wirbeltierauge und das speziell die Polarisation des Lichtes zur Orientierung zu nutzen vermag, anders als unsere Augen. (Bd. I 375 –387) Damit diese Denkmöglichkeiten indessen nicht länger rein hypothetisch erörtert werden, braucht es Untersuchungen speziell über die Fähigkeiten, die mit bestimmten neuronalen Verschaltungen des Strickleiternervensystems gegeben sind. randolf menzel (Begabte Brummer, in: Gehirn und

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Geist, Dossier: Intelligenzbestien, 2/2006, 41) zum Beispiel weist darauf hin, daß Honigbienen sogar über die Fähigkeit zur Abstraktion verfügen: «Belohnt man die Hautflügler auf ständig wechselnden Mustern, die als einzige gemeinsame Eigenschaft eine ‹Spiegelsymmetrie› besitzen, dann bevorzugen sie anschließend beliebige spiegelsymmetrische Muster . . . Das Gleiche leisten sie, wenn Nichtsymmetrie Belohnung verspricht.» Aber er betont, daß solches kategoriales Lernen und Abstrahieren den Bienen möglich ist, «natürlich ohne dass wir dafür ‹bewusste› Prozesse annehmen müssten.» Und zum zweiten: Anders als noch vor 50 Jahren, können wir heute recht genau prüfen, was für Hirnregionen zusammenwirken müssen, um Bewußtseinszustände zu erzeugen, und so ergibt es sich wie von selbst, dieser Frage unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Hilfreich zum Verständnis des menschlichen Bewußtseins mag es vorab sein, in der Stammesgeschichte Stufen aufzufinden, auf denen – per Analogieschluß – mit einiger Sicherheit von Bewußtsein die Rede sein darf. Dabei wird man davon ausgehen können, daß es phylogenetisch verschiedene Grade bewußter Wahrnehmung gibt, so wie in unserem Alltagserleben eine ganze Skala unterschiedlicher Intensität von Bewußtheit sich verschiedenen Aktivitäten zuordnen läßt: Wir können uns die Zähne putzen, indem wir dabei an alles mögliche oder an «gar nichts» denken, wir können aber natürlich auch ganz bewußt uns die Empfehlungen des Zahnarztes zur «Putztechnik» beim letzten Besuch in Erinnerung rufen. «Bewußtsein» ist so etwas wie ein «Arbeitsraum», innerhalb dessen wir jeder nur möglichen Aufgabe nachgehen können, oder wie eine Lichtquelle, die wir auf jeden gerade interessanten Gegenstand richten. Die Frage stellt sich dabei, wie «groß» dieser «Arbeitsraum» oder wie «hell» diese Lichtquelle ist. (Die Definition des Bewußtseins als eines «globalen Arbeitsraumes» stammt von bernard baars; zum Modell von baars vgl. élisabeth pacherie: Mehr als ein Bewusstsein, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 10.) Während es durchaus strittig sein mag, ob und wie Grabwespen oder Bienen zu denken vermögen, duldet es doch keinen vernünftigen Zweifel, daß bestimmte Säugetiere über ein Bewußtsein verfügen. Widmen wir uns also dem Bewußtsein von Wirbeltieren.

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b) Kriterien und Formen von Bewußtsein bei Wirbeltieren Schon 1932 konnte edward c. tolman zeigen, wie Ratten, die gelernt hatten, in einem Labyrinth nach einer Reihe von Rechts- und Linksabbiegungen Futter vorzufinden, überrascht, verwirrt und enttäuscht reagierten, wenn sie plötzlich leer ausgingen (Purposive behavior in animals and men; vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 90; 173–174.) Andere Versuchsanordnungen sahen vor, daß die Ratten, wenn sie fressen wollten, eine von vier Tasten drücken mußten, wenn sie sich putzen wollten, eine andere usw. (Vgl. edward c. tolman: The acquisition of string-pulling by rats – conditioned reflex of signgestalt, in: The Psychological Review, 44/1937, 195 –211.) «Ratten können demnach ihre eigenen Aktivitäten wahrnehmen und bewusst voneinander unterscheiden. Sie wissen also, was sie gerade tun und . . . dass sie es selbst tun.» (ernst meckelburg: Das geheime Leben der Tiere, 125) Bezeichnenderweise war den Tieren allerdings nicht zu vermitteln, eine «Kratztaste» zu drücken. «Die Kratztätigkeit erfolgt bei ihnen offenbar unbewußt (und bei uns Menschen sicher auch!)». (A. a. O., 125) Gilt aber, was bei Ratten zutrifft, auch bei anderen Tieren, und an welchen Kriterien läßt sich generell die Existenz von Bewußtsein ablesen? Es war der kanadische Psychologe donald olding hebb (1904 –1985), dessen «Lernregel» uns schon bekannt geworden ist (vgl. Bd. I 288), der vor rund 50 Jahren bereits sich um eine Antwort auf gerade diese Frage bemühte. hebb stellte drei Kriterien auf, an denen man bewußtes Verhalten bei Tieren sollte erkennen können: Feststellbar sein müßte als erstes ein steigender «Grad der Unabhängigkeit von Außenreizen und der Umwelt»; dadurch ergebe sich «ein eigengesteuertes Verhalten, das sich immer schwerer vorhersehen lässt und zunehmend Vorgänge beinhaltet, bei denen das Tier Informationen ‹in eine Warteschleife nimmt›, sie also zunächst speichert und sich ihrer später bedient»; ein zweites Kriterium sah hebb in dem wachsenden «Interesse an immer mehr Objekten»; und schließlich sollten vorsätzliche Handlungen beobachtbar sein, «die nicht nur an intelligentes Verhalten wie das Herstellen von Werkzeugen gemahnen, sondern auch die Fähigkeit zur Antizipation (sc. von lat.: die anticipatio – vorgefaßte Meinung; die Vorwegnahme von zukünftigem Geschehen, d. V.) implizieren». (pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 27)

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So einfach diese Kriterien scheinen, so deuten sie doch bereits auf eine wichtige Unterscheidung hin: Mit den ersten beiden Kriterien läßt sich eine Form des Bewußtseins verbinden, die wesentlich in dem Erfassen von Fakten besteht, mit denen das Individuum konfrontiert ist, – es beinhaltet die bewußten Repräsentationen der Umgebung und des Körpers, wie zum Beispiel: «Ich spüre den kalten Regen in meinem Gesicht.» «Ich bin hungrig auf die Bananen, die vor mir liegen.» «Ich fühle die Wärme des Sonnenscheins auf meiner Haut.» Das nennen wir das primäre Bewußtsein; das dritte Kriterium indessen verweist auf ein höheres Niveau von Bewußtsein, auf ein «Bewusstsein, bewusst zu sein», – sprechen wir von reflexivem Bewußtsein (oder auch sekundärem oder introspektivem Bewußtsein); zu verstehen ist darunter «die Fähigkeit, die eigenen Empfindungen, Gedanken, Überlegungen, Gefühle, Wünsche, Begierden und Überzeugungen zur Kenntnis zu nehmen». (pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 27) Erst dieses reflexive Bewußtsein ermöglicht es, sich selber inmitten der Umgebung wahrzunehmen und Informationen als kausale Folgen zu interpretieren sowie umgekehrt die Konsequenzen eigener Verhaltensweisen in der Vorstellung vorwegzunehmen. (Vgl. pierre buser: A. a. O., 27; Élisabeth pacherie: Mehr als ein Bewusstsein, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 6; 8.) Mit Hilfe dieser Unterscheidung läßt sich sagen, daß es primäres Bewußtsein wohl auch bei Tieren gibt und es sich phylogenetisch stufenweise entwickelt hat; einmal entstanden, muß die Selektion nach und nach dann auch die Entstehung reflexiven Bewußtseins begünstigt haben, die mit der Entwicklung der menschlichen Species Hand in Hand gegangen sein dürfte. Die Übergänge bleiben dabei gleitend. So «fällt die Zäsur zwischen Mensch und Tier, selbst dem höchst entwickelten, (sc. vielleicht, d. V.) nicht mit dem Erwerb des zweiten Typs bewussten Denkens zusammen». (pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 28) Gleichwohl: «Auch wenn es mehr als wahrscheinlich ist, dass Tiere mentale Repräsentationen haben . . ., so bedeutet dies nicht gleichzeitig, dass sie sich dieser Funktion ihres Geistes bewusst wären. Anders ausgedrückt: Die mentalen Repräsentationen könnten zwar der Beweis für ein primäres Bewusstsein sein, aber nicht notwendigerweise der für ein komplexeres, reflexives Bewusstsein.» (pierre buser: A. a. O., 28) Auf der Suche nach Indizien für das Vorkommen reflexiven Bewußtseins bei Tieren haben sich die folgenden drei Kriterien bewährt (vgl. pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 28 –29):

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Ein erstes Indiz, das immer wieder geltend gemacht wird, ist der Werkzeuggebrauch; allerdings ist gerade hierbei erneut Vorsicht geboten. Darwinfinken zum Beispiel ernähren sich von Insekten, die sie mit Hilfe eines Kaktusdorns oder eines kleinen Zweiges aus Ritzen hervorholen; der Dorn oder der Zweig wird eigens zurechtgestutzt und nicht selten wiederverwandt – er dient zweifellos als «Werkzeug»; auch Finkenarten, bei denen Werkzeugherstellung und Werkzeuggebrauch im Freileben nicht beobachtet worden waren, entwickelten in Gefangenschaft derartige Techniken, indem sie werkzeugbenutzende Vögel nachahmten. (Vgl. george c. millikan – robert i. bowman: Observations on Galápagos tool-using finches in captivity, in: The Living Bird, 6/1967, 23 –41; donald r. griffin: Wie Tiere denken, 156–157.) Solche Tiere scheinen also zu wissen, was sie tun – sie handeln bewußt; doch ist es nicht nötig anzunehmen, daß sie auch wissen, daß sie es wissen – daß sie also über ein reflexives Bewußtsein verfügen. Wie aber steht es mit komplexeren Handlungsabläufen? Ende der 50er Jahre beobachtete harry b. lovell (Baiting of fish by a Green Heron, in: The Wilson bulletin, 70/1958, 280 –281) einen Grünreiher (Butorides virescens), der Brotstückchen aufsammelte, nicht um sie selber zu verzehren, sondern um sie ins Wasser zu werfen und damit Fische anzulocken. «Der Reiher schien den Köder, den er aus einiger Entfernung herangeholt hatte, da auszulegen, wo er Fische gesehen hatte, und er holte ihn zurück, als er abgetrieben wurde.» (donald r. griffin: Wie Tiere denken, 158) Zweifellos überlegte sich der Reiher, wozu er die Brotstücke nutzen konnte. – Oder ein anderes Beispiel: Die meisten Leser werden in Fernsehfilmen schon mal gesehen haben, wie Seeotter Steine als Werkzeuge verwenden, um, auf dem Rücken schwimmend, damit Muscheln aufzuschlagen. (Vgl. donald r. griffin: A. a. O., 160.) «Vielleicht», schlägt griffin (a. a. O., 159) vor, «sollten wir grundsätzlich bereit sein, bewußtes Denken immer dann in Erwägung zu ziehen, wenn ein Tier . . . ein geniales Verhalten zeigt, ganz gleich, welcher taxonomischen Gruppe es angehört.» – Der letzte Zusatz hat es wieder in sich; denn selbst eine «primitive» Raubwanze kann ein so kompliziertes Nahrungserwerbsverhalten zeigen, daß man sich nur sehr schwer vorzustellen vermag, wie ihr ohne bewußte Planung so etwas möglich sein soll: Sie schiebt das Außenskelett eines Termitenarbeiters, den sie soeben verspeist hat, als Köder in die Öffnung eines Termitenbaus und lockt damit so lange, bis ein anderer Termitenarbeiter den Körper seines Artgenossen zu «entsorgen» versucht, um diesen dann als nächsten zu fangen und zu verspeisen. (Vgl. e. a. mcmahan: Bait-and-capture strategy of termite-eating assassin bug, in Insectes Sociaux, 29/1982, 346– 351; do-

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nald r. griffin: Wie Tiere denken, 158 –159.) Es scheint dabei zu bleiben, daß auch Raubwanzen unter Umständen wissen könnten, was sie tun; jedenfalls kann ihre Vorgehensweise an Arglist und Durchtriebenheit sich durchaus mit der von Grünreihern messen. Doch begeben wir uns schnell zurück auf das vertrautere Gelände der Wirbeltiere. Berühmt wurden die Versuche, die wolfgang köhler (1887–1967) mit neun Schimpansen unterschiedlichen Alters um 1914 auf Teneriffa durchgeführt hat. (Vgl. Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 1963) Die Tiere in seinen Experimenten sollten sich Nahrung beschaffen, die nicht in ihrem Sichtbereich lag und nur über einen längeren Umweg zugänglich wurde. Beispielsweise warf köhler Bananen aus einem Fenster, das er sogleich wieder verschloß; – was würde passieren? Die Schimpansen hatten kein Problem damit, durch die Tür hinaus sich die Früchte draußen unter dem Fenster zu holen, – sie handelten zweifellos überlegt; freilich auch ein Hund, wenn er erst einmal mit der Räumlichkeit vertraut ist, zeigt sich zu der gleichen Leistung imstande, und sogar einige Insekten beweisen ähnliche Fähigkeiten: – die Planung eines Weges zu einem Ziel, das sich nur indirekt erreichen läßt, ist nicht so spezifisch für Schimpansen, wie köhler ursprünglich gemeint hatte. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 90– 92.) In anderen Versuchen sollte ein Schimpanse eine Banane erlangen, die für ihn mit der bloßen Hand unerreichbar aufgehängt war; nach einer gewissen Frustrationsphase aus vergeblichen Versuchen und Ärgerreaktionen begann das Tier «nachzudenken» und versuchte schließlich, mit Hilfe zweier Stangen, die es ineinander steckte, die Frucht auf der anderen Seite des Zauns zu erreichen. Anderen Schimpansen gelang es, Kisten unter einer Banane aufzuschichten, bis sie diese herunterholen konnten. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 92 –94.) «All diesen Versuchen gemeinsam war, daß die Schimpansen das Problem allem Anschein nach durch eine . . . kognitive Form von Versuch und Irrtum lösten, als würden sie im Geist experimentieren, bevor sie mit den Werkzeugen hantierten. Diese Verhaltensmuster – Mißerfolg, Innehalten, Betrachten der potentiellen Werkzeuge und dann erneuter Versuch – scheinen Einsicht und Planung zu beinhalten, zumindest beim ersten Mal.» (james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 93) Und doch ist festzuhalten, daß speziell die «Strategie des Kistenstapelns . . . auch nach drei Jahren Praxis lächerlich ungeschickt» bleibt, indem die Tiere nach wie vor versuchen, «auf einer Ecke zu balancieren, oder sogar, die Kisten so anzuordnen, daß die offene Seite nach oben zeigt; das macht es zum einen schwierig, weitere Kisten darauf zu stapeln, zum anderen, stabilen Halt auf dem bestehenden Sta-

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pel zu finden.» (james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 93) Zudem zeigten spätere Untersuchungen Ende der 40er Jahre, daß entscheidend für den Erfolg der Schimpansen beim Bananenholen nicht eigentlich ihr Nachdenken, sondern ihre spielerische Erfahrung im Umgang mit den vorhandenen Geräten (Stöcken, Kisten) war: Bietet man Schimpansen zum Beispiel Stöcke an, so werden sie auch ohne irgendeine Zielvorstellung damit herumschlagen, stochern oder sie zusammenstecken; ebenso gern klettern die Tiere auf Kisten und stapeln sie zum Spaß aufeinander, springen darauf herum und recken sich nach der Decke. Einem menschlichen Beobachter fällt es bei diesem Anblick «schwer zu glauben, daß sich über ihnen kein Futter befand, das sie erreichen wollten». (james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 93) Aber spricht nicht gerade der Spieltrieb der Tiere für ihre bewußte Intelligenz? Ganz einfach formulierte es heini hediger (1908 –1992): «Maschinen spielen nicht.» (Tiere verstehen, 316– 368) Ein überzeugendes Beispiel für bewußt vollzogene Denkleistungen sollten Situationen bieten, in denen es auf völlig neue Problemlösungen ankommt. Ein solcher Fall fand sich 1953 auf der japanischen Insel Koshima unter Makaken. (Vgl. masao kawai: Newly-acquired pre-cultural behavior of the natural troop of Japanese monkeys on Koshima Islet, in: Primates, 6/1965, 1–30.) Die Tiere wurden mit zahlreichen Nahrungsmitteln versorgt, so auch mit Süßkartoffeln und Weizen, «die einfach am Strand abgeladen» wurden und dadurch «oft mit Sand verschmutzt» waren. Ein junges Makakenweibchen, Imo genannt, verfiel nun darauf, seine Kartoffel ans Ufer zu tragen und den Sand abzuwaschen. «Mit der Zeit breitete sich diese Gewohnheit auf ihre Spielkameraden aus, danach auf sämtliche jungen Makaken, anschließend auf die älteren Weibchen und zuletzt auf die dominanten Männchen des Trupps.» (james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 96) Allem Anschein nach verträgt sich Machtbesitz nicht gut mit Neugier und Lernbereitschaft. Die Tiere der Gruppe schienen sich Imos Erfindung durch eine Art kultureller Tradition angeeignet zu haben. 1959 ging Imo dazu über, auch den Weizen ins Wasser zu werfen und dann die obenauf treibenden Körner, gereinigt vom Sand, aufzufischen. Auch diese Erfindung breitete sich in der gleichen Weise aus wie das Süßkartoffelwaschen: wiederum waren die ältesten Männchen am wenigsten bereit, die neue Technik zu übernehmen. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: A. a. O., 97.) Da es in beiden Fällen dasselbe Tier war, das die Innovation auslöste, dürfte es ausgeschlossen sein, auch in diesem Falle die behavioristische Theorie von der operanten Konditionierung eines ursprünglich zufälligen erfolgreichen Verhaltens als Erklärung heranzuziehen; unter ihres-

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gleichen war Imo ganz offensichtlich ein kreatives Genie, befähigt zu Handlungen bewußter Intelligenz, von der sie mehr besaß oder besseren Gebrauch zu machen wußte als alle anderen Gruppenmitglieder. Ein zweites Kriterium für reflexive Formen des Nachdenkens ergibt sich aus der Kommunikation von Artgenossen miteinander; hier zeigt sich die Fähigkeit zur Abstraktion und zur Verarbeitung von Informationen besonders deutlich – nicht zufällig erbrachten unsere Honigbienen ihre höchsten Intelligenzleistungen gerade auf diesem Gebiete! Im Umgang mit Schimpansen wollten Ende der 70er Jahre david premack und guy woodruff (Does the chimpanzee have a theory of mind?, in: The Behavioral and Brain Sciences, 1/1978, 515-526) herausfinden, inwieweit das Schimpansenweibchen Sarah imstande sei, sich in das Problem eines anderen hineinzudenken und einen Lösungsvorschlag anzubieten. Sie zeigten dem Tier Filme von der Länge einer halben Minute, in denen ein Mensch an eine Banane zu gelangen oder aus einem Käfig auszubrechen versuchte; dann boten sie Sarah eine Reihe Photos an, von denen eines die richtige Lösung zeigte; das Experiment gelang: Sarah wählte das passende Bild. «Dieser Verständnistest zeigt, wie weit Schimpansen wahrscheinlich die mentale Repräsentation einer Situation (sc. ihr primäres Bewußtsein, d. V.) nutzen können, um zu einer (sc. mit reflexivem Bewußtsein vollzogenen, d. V.) Lösung zu gelangen.» (pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 29; vgl. volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 231– 234.) Ein drittes Indiz für komplexe Denkabläufe zeigt sich an Interaktionen zwischen Individuen, die eine Art strategischen Verhaltens offenbaren. So testeten premack und woodruff Schimpansen nicht nur auf ihre Fähigkeit zu Werkzeuggebrauch, sondern sie gingen der Frage nach, inwieweit die Tiere ihre eigenen Handlungen absichtsvoll einzusetzen vermögen und dabei auch dem Verhalten anderer Absichten und mentale beziehungsweise emotionale Zustände zuschreiben können; – wenn jene bereits von charles darwin entwickelte «Signaltheorie» der Gefühle als emotionales Ausdrucksverhalten zur innerartlichen Kommunikation zutrifft (Bd. I 563 –564), sollte es klar sein, daß Tiere, in dem Maße sie selber Gefühle entwickeln, auch die Gefühle von Artgenossen (und anderen Tieren) zu verstehen vermögen. Dazu gehört freilich die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. Schimpansen können das: premack und woodruff stellten die Tiere vor eine Aufgabe, wie wir sie ähnlich bereits von einem der Tests mit autistischen Kindern kennengelernt haben (vgl. Abb. C 24): Was autistische Kinder nicht können, vermögen Schimpansen sehr gut – zu unterscheiden nämlich zwischen einer Person, die weiß,

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wo Nahrung sich befindet, und einer anderen, die das nicht wissen kann, weil die Nahrung in ihrer Abwesenheit anderswohin gelegt wurde. (Vgl. pierre buser: Bewusstsein bei Tieren, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 29; volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 237– 239.) Aber geht es denn immer nur ums Essen, und sollte das Auffinden von Nahrungsquellen den einzigen Vorteil bieten, den das reflexive Bewußtsein mit sich gebracht hat? Natürlich nicht; vielmehr ist es immer wieder der Stupidität von Tests unter wissenschaftlich kontrollierbaren Laborbedingungen zuzuschreiben, daß wir uns von den Intelligenzleistungen der Tiere eine oft grotesk reduzierte Vorstellung machen. Um so größer ist dann die Überraschung über das, was wir in Freilandstudien zu sehen bekommen. Da gibt es im tropischen Tai-Wald der afrikanischen Elfenbeinküste Schimpansengruppen, die nach einer eigenen tradierten Technik Nüsse nach dem Prinzip von Hammer und Amboß aufschlagen (vgl. volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 245– 246), – welch ein Versuchsleiter käme schon darauf, die Anwendung derartiger Fähigkeiten in seiner Primatenversuchsanstalt auch nur zu ermöglichen? «De facto wissen wir», schreibt frans de waal (geb. 1948), «daß Primaten alle möglichen Verhaltensweisen und Fähigkeiten voneinander lernen, und daher agieren Gruppen derselben Spezies manchmal ziemlich unterschiedlich. Kein Wunder, daß Primatologen immer häufiger von einer ‹kulturellen› Variabilität sprechen . . . Aber auch von einer sozialen Kultur zu sprechen ist eindeutig möglich.» (Der Affe in uns, 204) Zu was für einer Raffinesse Schimpansen insbesondere im Umgang miteinander fähig sind, mögen abschließend drei Beispiele zeigen, die ohne ein reflexives Bewußtsein wohl kaum zu erklären sein dürften. Das erste Beispiel wurde von jane goodall an Schimpansen (Pan troglodytes) beobachtet: Der junge Figan hatte bei der Futtersuche eine Banane entdeckt, die von den anderen übersehen worden war, doch unmittelbar unterhalb davon saß der mächtige Schimpansenmann Goliath. «Figan ließ seine Augen kurz von der Banane zu Goliath wandern, zog sich dann zurück und ließ sich auf der anderen Seite des Zelts nieder, so daß er die Banane nicht mehr sehen konnte. Fünfzehn Minuten später, als Goliath sich erhob und davonzog, lief Figan, ohne eine Sekunde zu zögern, zu dem Baum und holte sich die Banane. Es war ganz offensichtlich, daß er die Situation blitzschnell erfaßt hatte: Wäre er früher in den Baum geklettert, um sich die Frucht zu holen, hätte ihm Goliath seine Beute mit ziemlicher Sicherheit weggeschnappt. Wäre er in der

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Nähe der Banane geblieben, hätte er vermutlich dann und wann zu ihr hinaufgespäht. Schimpansen aber bemerken und deuten sehr rasch die Augenbewegungen ihrer Artgenossen, so daß Goliath unter diesen Umständen wahrscheinlich selber die Frucht entdeckt hätte. Deshalb hatte Figan nicht nur darauf verzichtet, seinen Wunsch unverzüglich zu befriedigen, sondern hatte sich außerdem noch zurückgezogen, um sein Geheimnis nicht durch Blicke verraten zu können.» (jane van lawick-goodall: Wilde Schimpansen, 84) Man kann auch sagen, daß Figan seinen mächtigen Rivalen absichtlich hinters Licht geführt hat: – er setzte sein eigenes Verhalten, strategisch klug kalkuliert, als «Werkzeug» (als «Waffe») ein: «Sein vorgetäuschtes Desinteresse hatte . . . Goliaths Meinung in eine bestimmte, und zwar falsche, Richtung gelenkt: Hier gibt es nichts Besonderes. Figan hatte sich Gedanken über die Gedanken eines anderen gemacht und sie ins Kalkül gezogen, als wären es reale Gegenstände.» (volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 263) Ein zweites Beispiel für «strategisches Verhalten» stammt aus dem Buch Wilde Diplomaten (1989) von frans de waal und handelt von Bärenmakaken (Macaca arctoides). Man muß wissen, daß diese Tiere sexuell sehr aktiv sind (nicht selten 10mal pro Tag) und ihren Lustgefühlen durch Mundstellung und langgezogenes Grunzen deutlichen Ausdruck verleihen. Joey nun, ein Bärenmakaken-Männchen, hatte es auf das vielseits begehrte Weibchen Honey abgesehen; doch da er in der Rangordnung der Gruppe nur die Nummer drei einnahm, galt es, den beiden Vorgesetzten gegenüber sein Tun zu verheimlichen, und so nutzte das Paar den von der Gruppe verlassenen Außenkäfig für ein Rendezvous; dicht vor dem Höhepunkt aber, als Joey eben zu einer Reihe von Lustschreien ansetzte, verwies ihm Honey mit einer abrupten Kopfwendung und einem drohenden Blick noch gerade rechtzeitig den allzu unvorsichtigen Verrat ihrer Mesalliance. Ein paar Tage später in der gleichen Situation – nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg! – hielt Honey ihrem ungestümen Liebhaber bereits vor seinem Orgasmus einfach kurz die Hand auf den Mund, und der verstand sofort: er verkniff sich jegliche Lautkundgabe seiner Seligkeit – eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, wie schwer es manchen menschlichen Liebhabern fällt, ihr sehnsüchtiges Stöhnen in hellhörigen Wohnungen oder engen Hotelzimmern zu unterdrücken. (Vgl. frans de waal: Wilde Diplomaten, 168; volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 197–198; zum Verhalten des berühmt gewordenen männlichen Schimpansen Dandy, der sein erregtes Genitale vor einem ranghöheren Tier mit der Hand zu verbergen suchte, vgl. frans de waal: Der Affe in uns, 164; volker sommer: Die Affen, 147–148.)

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Ein drittes Beispiel stammt noch einmal von frans de waal und handelt wiederum von besagtem Schimpansen Dandy (vgl. james l. gould – carol grant gould: Spuren des Denkens im Tierreich, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Intelligenz, 1/2000, 59): Er verstand es meisterlich, die Aufmerksamkeit der Gruppe auf irgendwelche ungewöhnlichen Objekte oder Ereignisse zu lenken, um sich, wie schon sein Name sagt, an den dominanten Männchen vorbei zu einem Stelldichein mit seinem Lieblingsweibchen zu begeben; seine ganze Meisterschaft als Schwerenöter aber bewies er, als er eines Tages entdecken mußte, wie sich sein Gschpusi mit einem rangniederen Männchen paarte. «Normal» für einen enttäuschten und eifersüchtigen Schimpansen (und wohl auch für die meisten Menschen männlichen Geschlechts) wäre es gewesen, vor Wut in die Luft zu gehen; Dandy aber behielt einen kühlen Kopf und setzte seinen Groll auf eine höchst wirkungsvolle Weise in die gezielte Strafe für seinen Konkurrenten um: Eilends holte er das nächste dominante Männchen herbei, um ihm das lose Treiben der zwei in flagranti unter die Augen zu reiben, und sogleich sorgte das besagte Männchen denn auch auf seine Weise für die Wiederherstellung von Sitte und Ordnung; – «es gibt keinen Grund für die Annahme», schreiben angesichts dieses Verhaltens james l. gould und carol grant gould (Bewusstsein bei Tieren, 190), «daß Boccaccios Charaktere (sc. in seinem Dekameron, d. V.) sich ihrer Ziele bewußter sind als Paviane oder Schimpansen.» Die Beispiele ließen sich nun schier endlos vermehren, in denen bereits die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Hunger und Sexualität manchen Tierarten geistige Anstrengungen abverlangt, die ohne reflexives Bewußtsein nicht zu bewältigen wären. Doch reicht das Gesagte aus, um die Schlußfolgerung als wohlbegründet zu akzeptieren, die james l. gould und carol grant gould in ihrer Studie über Bewusstsein bei Tieren (S. 191) schon vor jetzt über zehn Jahren gezogen haben. Ihr Resümee lautete: «Es gibt keine vernünftige Erklärungsmöglichkeit für einen großen Teil des Verhaltens von Primaten (und insbesondere von Schimpansen), ohne die Annahme, daß diese Tiere eine Menge darüber wissen, was sie tun und zu tun versuchen, und aus den Absichten und Einstellungen ihrer Artgenossen fast genauso gut wie wir Menschen ihre Rückschlüsse ziehen können.» – Was sich an ethischen Konsequenzen aus einer solchen Feststellung ergibt, liegt auf der Hand: Es läuft darauf hinaus, daß wir unsere gesamte Einstellung gegenüber den Tieren ändern müssen – oder wir müssen mutwillig, mit reflexivem Bewußtsein, unsere Arroganz ins Unverschämte treiben, wie james dewey watson (geb. 1928), der Mitentdecker der DNA-Doppelhelix, es vorgemacht hat: Gefragt nach den

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Rechten, die man Tieren zusprechen sollte, erklärte er: «Die logische Folge ist, wir werden keine Forschung mehr betreiben und all unsere Mittel verbrauchen, um Affen glücklich zu machen. Ich mag keine Affen.» (In: Time, 22. 3. 1993; zit. n. volker arzt – immanuel birmelin: Haben Tiere ein Bewußtsein?, 279) Dabei sind wir noch nicht einmal bei der Frage angelangt, ob das reflexive Bewußtsein von Tieren auslangt, um so etwas wie ein Selbst-Bewußtsein zu bilden; doch ehe wir dazu kommen, stellt sich jetzt zuerst das Problem, wie eigentlich das Zentralnervensystem in den Köpfen von Tieren und Menschen Bewußtsein zu erzeugen vermag:– wie kann, (in der Sprache der überkommenen Metaphysik) aus Materie Geist hervorgehen?

c) Neuronale Grundlagen des Bewußtseins An keiner Stelle, an der es um die Funktionsweise des Gehirns geht, wird heute ein Hinweis auf die bildgebenden Verfahren (vor allem auf die PET und fMRT) fehlen dürfen: Wir können dem Gehirn bei seiner Arbeit zuschauen! Doch was für Aktivitäten lassen sich als «Bewußtsein» identifizieren? Das ist offenbar nicht einfach zu sagen. Schon bei den unbewußten Tätigkeiten des Gehirns im Traum haben wir gesehen, wie kompliziert die verschiedensten Bereiche des Gehirns (Hirnstamm, Diencephalon und Assoziationscortices) wechselwirken (vgl. Bd. I 353 –358); bei der Beschäftigung mit dem Schlafen und Wachen sowie mit der Dopamin-Theorie der Schizophrenie sahen wir zudem, wie ein Zusammenspiel von Noradrenalin, Serotonin, Acetylcholin und Dopamin den Traum beendet und den Wachzustand einleitet oder umgekehrt (Bd. I 349– 351; s. o. S. 227– 230). In all dem liegt zweifellos ein erster Hinweis: Um zu verstehen, wie Bewußtsein zustande kommt, sollten wir uns um die Funktion der verschiedenen Hirnareale und ihrer Transmittersysteme kümmern. Ferner müssen wir uns erinnern an die außerordentliche Störbarkeit des Bewußtseins in drogeninduzierten oder psychogenen Zuständen – seien es affektive Störungen oder schizophrene Psychosen –, und wieder kommt dabei die Wirkung bestimmter Neurotransmitter, insbesondere von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin, ins Spiel. Auch unsere alltägliche Erfahrung zeigt, daß das Bewußtsein sich nicht per Knopfdruck nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip ein- oder ausschalten läßt wie die Deckenbeleuchtung unseres Wohnzimmers; eher gleicht der Übergang vom Unbewußten zum Bewußtsein dem allmählichen Aufstieg auf einer Treppe, die aus einem fast dunklen Keller Stufe für Stufe dem Licht entgegenführt. Für eine solche «Stufenschaltung» stellen die Neuromodulato-

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ren gerade die geeigneten Wirkstoffe dar. Welche Hirnareale also müssen in welcher Weise zusammenarbeiten, um Bewußtsein zu erzeugen? Nach Klärung dieser Frage sollte es uns auch möglich werden, eine Theorie des Bewußtseins zu erstellen, über deren philosophische Konsequenzen sich begründet nachdenken läßt.

α) Bilder, die das Bewußtsein selbst erzeugt oder: Von PET und fMRT Man könnte meinen, daß Untersuchungen des Bewußtseins mit Hilfe der modernen Techniken eine an sich einfache Sache seien; doch eine Hauptschwierigkeit liegt bereits in dem, was wir gerade gesagt haben: Bewußtsein ist kein klar abgrenzbarer Zustand, und die Frage ist daher, wodurch sich der (relative) «Ruhezustand» des Bewußtseins (das bewußte Nichtstun) von einer Vergleichssituation mit einer erhöhten Gehirnaktivität, etwa beim Lösen einer gestellten Aufgabe, unterscheidet. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Gehirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 61.) Zu Nutze machen läßt sich in jedem Falle die Tatsache, daß aktive Neuronen, die über die Synapsen Informationen austauschen, mehr Glucose und Sauerstoff verbrauchen und deshalb darauf angewiesen sind, daß die betreffenden Hirnregionen stärker durchblutet werden; eben dies untersuchen die beiden Verfahren, die wir immer wieder erwähnt haben, um anatomische und funktionale Zusammenhänge auf dem Gebiet der modernen Neurologie darzustellen: die PET und die MRT. (Vgl. bernard mazoyer: A. a. O., 54.) Da diese beiden Methoden nicht unwesentlich zu der Schlüsselrolle beigetragen haben, die der Neurologie heute im Gespräch zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften zukommt, ist dies jetzt wohl die geeignete Stelle, kurz zu schildern, was es mit ihnen auf sich hat. (Vgl. zum Folgenden bernard mazoyer: A. a. O., 54 –61.) Um den Blutfluß zu messen, setzt die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) radioaktiv markierte Verbindungen, zum Beispiel radioaktiv markierte Wassermoleküle, ein, die statt des üblichen Sauerstoff-16 (16 8 O, mit einem Kern aus 8 Protonen und 8 Neutronen) das radioaktive 15 O (mit nur sieben Neutro8 nen) enthalten. Dieses (künstlich in einem Zyklotron gemäß der Reaktionsglei15 chung 14 7 N + p ® 8 O hergestellte) Isotop zerfällt mit einer Halbwertzeit von 123 Sekunden quasi in Umkehrung der Bildungsreaktion wieder in stabilen Stickstoff, wobei eines seiner Protonen (p, 1H) sich unter Abgabe eines Positrons (e+) und eines Neutrinos (ν) in ein Neutron umwandelt (p ® n + e+ + ν,

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15 + also 15 8 O ® 7 N + e + ν). Die Emission des Neutrinos ist für alles weitere belanglos; das Positron aber ist das Antiteilchen des Elektrons, und da Materie und Antimaterie einander vernichten, sobald sie aufeinandertreffen, werden das gebildete Positron und ein Elektron (von denen es im Gewebe überall ausreichend gibt) augenblicklich zu einem Paar Gammaquanten (mit einer Energie von genau 511 Kiloelektronenvolt) zerstrahlen, die – entsprechend den Erhaltungssätzen von Impuls und Energie – in entgegengesetzter Richtung auseinanderfliegen. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 54– 55; monika pritzel: Gehirn und Verhalten, 122–124; zu Kernumwandlungen vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 94 –95; 100–102; 104; zur Antimaterie vgl. ders.: A. a. O., 99; 822.) Je stärker eine Hirnregion durchblutet wird, je öfter wird dieser Vorgang dort stattfinden. Mit Hilfe eines Rings von Detektoren lassen sich nun die Gammaquanten der entsprechenden Energie von 511 keV ermitteln, die zur gleichen Zeit in zwei genau entgegengesetzten Detektoren ankommen; sie müssen aus einem Zerstrahlungsprozeß stammen, der auf der Verbindungslinie der beiden Detektoren sich ereignet hat; aus den zahlreichen Emissionsgeraden lassen sich dann – bei einer mathematischen Bearbeitung der möglichen Verfälschungen einer solchen Analyse durch Ablenkung oder Absorption von Gammaquanten oder durch das simultane Eintreffen mehrerer Gammaquanten in einem Detektor – die Orte des radioaktiven Zerfalls ermitteln. (Zu den Verfahren medizinischer Visualisierung vgl. udo jendoysiak: Segmentierung von Schnittbildern, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Wissenschaftliches Rechnen, 2/1999, 94– 98.) Das Ergebnis ist eine Serie von Schnittbildern des Gehirns, die punktweise die 15 8 O-Konzentration und damit die lokale Blutzufuhr im Gehirn widerspiegelt – also die Stellen unterschiedlicher Hirnaktivität sichtbar macht. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 55 –56.) Nachdem die erste PET-Kamera in den 70er Jahren von gordon brownell entwickelt worden war, gelang einer Forschergruppe um marcus e. raichle in Saint Louis im Jahre 1983 mit einem verbesserten Verfahren die Herstellung von Hirnkarten, die sich innerhalb von zwei Minuten aufnehmen ließen und vor allem durch den Vergleich der Hirndurchblutung bei verschiedenen Aufgabenstellungen sich zur Untersuchung kognitiver Prozesse eigneten. (Vgl. bernard mazoyer: A. a. O., 57; marcus e. raichle: Bildliches Erfassen von kognitiven Prozessen, in: Spektrum der Wissenschaft, 6/1994, 56– 63.) Die räumliche Auflösung der PET liegt jedoch «nur» bei 8 mm, und die zeitliche Auflösung ist erst recht unzureichend; hinzu kommen die praktischen Ein-

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schränkungen auf Grund der kurzen Zerfallszeit von Sauerstoff-15; daran liegt es, daß die PET bei der Erforschung kognitiver Prozesse mit Hilfe der Hirndurchblutung heute immer weniger eingesetzt wird. Unerläßlich bleibt die PET indessen, wenn es darum geht, die Beziehungen zwischen kognitiven Prozessen und den Transmittersystemen zu erforschen. Man markiert dazu Transmittermoleküle mit radioaktivem Kohlenstoff-11 (11 6 C), der mit einer Halbwertzeit von 20 Minuten zerfällt und ebenfalls ein «Positronenstrahler» ist. Auf diese Weise kann man die Verteilung der entsprechenden Rezeptoren herausfinden und damit eine Art anatomischer Karte des Gehirns erstellen; zugleich läßt sich die wichtige funktionelle Frage klären, an welchen Stellen bestimmte Transmitter bei der Lösung einer gestellten Aufgabe freigesetzt werden. Die zelleigenen Neurotransmitter konkurrieren nämlich mit den radioaktiv markierten Transmittern um die Bindungsstellen an den Rezeptoren; infolge dieser Verdrängung nimmt die Menge der radioaktiv markierten Transmittermoleküle gegenüber dem Ruhezustand ab; daher verrät das Differenzbild die Orte im Gehirn, an denen der fragliche Neurotransmitter vermehrt freigesetzt worden ist und an denen synaptische Aktivität verstärkt stattgefunden hat; wegen der relativ langen Halbwertzeit von 11 6 C beansprucht jede Aufnahme zwischen 20 bis 40 Minuten Zeit; infolgedessen lassen sich mit der PET nur geistige Aktivitäten untersuchen, die über so lange Zeit hin einigermaßen konstant bleiben: Lesen, Schreiben oder Reden zum Beispiel. Freilich ist, wie wir wissen, mit einer erhöhten neuronalen Aktivität ein erhöhter Blutzufluß verbunden, der die betreffenden Hirnregionen zwangsläufig auch mit mehr markierten Transmittermolekülen versorgt; um diesen Einfluß der Durchblutung berücksichtigen zu können, muß vorab in einer zusätzlichen PET-Messung die Veränderung des lokalen Blutdurchsatzes bestimmt werden. Die maximal zulässige Strahlendosis wiederum zwingt bei der Vielzahl der nötigen Aufnahmen dazu, die für jede einzelne Messung zu injizierende Menge an radioaktiver Substanz möglichst klein zu halten, was natürlich die Qualität der Bilder nicht erhöht. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 57.) Gerade um diese Begrenzungen zu überwinden, wurde in den 90er Jahren die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT, auch funktionelle Kernspintomographie genannt) entwickelt, die auf ein Verfahren von paul c. lauterbur (geb. 1929) aus den 70er Jahren zurückgeht: Die MRT setzt keine radioaktiv markierten Stoffe ein, sondern beruht auf dem Element Wasserstoff, das überall im Körper vorkommt: Das eine Proton seines Kerns weist auf Grund seiner Eigendrehung (seines «Spins») ein magnetisches Moment auf

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und verhält sich ähnlich einem kleinen Stabmagneten. An sich sind diese Kernspins (darstellbar als Pfeile längs der Rotationsachse) unterschiedslos in alle Richtungen orientiert – die Summe ihrer magnetischen Momente beträgt deshalb nach außen hin Null. Mit Hilfe eines äußeren Magnetfeldes (B0) aber lassen sich die Kernspins entlang den Feldlinien ausrichten, so daß makroskopisch ein magnetisches Moment in Längsrichtung des Feldes gemessen werden kann. Genau betrachtet kreiseln oder «präzessieren» die Kernspins längs der Feldlinien (der Ausdruck «präzessieren» stammt von der «Torkelbewegung» der Erde um ihre eigene Achse, die die Sternbilder scheinbar «vorrücken» läßt, von lat.: praecedere – vorrücken). Die Präzessionsfrequenz (oder auch die Geschwindigkeit der Kreiselbewegung) ist dabei abhängig von der Stärke des angelegten Magnetfeldes (B0 ) und von der Art des rotierenden Teilchens. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 58.) Eigentlich mißt die MRT nichts weiter als die «Magnetisierung», die auf diese Weise im Gewebe erzeugt wird; da der Wassergehalt im Körpergewebe unterschiedlich verteilt ist (also auch die Dichte der Wasserstoffkerne spezifisch divergiert), läßt sich so innerhalb weniger Sekunden eine Magnetisierungskarte erstellen, die Strukturen im Bereich von 3 bis 4 mm sichtbar macht. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Gehirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 57– 58.) – Doch nichts ist technisch so einfach, wie es sich physikalisch anhört. Das im Gewebe durch die Ausrichtung der Kernspins erzeugte Magnetfeld ist so schwach, daß es sich von dem äußerlich angelegten Magnetfeld (B0 ) nicht unterscheiden läßt. Deswegen legt man ein zweites Magnetfeld (B1) an, das auf dem ersten senkrecht steht und gerade mit der Frequenz um dessen Achse rotiert, mit der vorher die Kernspins um die Achse präzessierten; man läßt B1 so lange eingeschaltet, bis die Kernspins um 90 Grad ausgelenkt sind. Wie beim Anschieben einer Schaukel, bei der man die Kraft «in Phase» mit der Schwungbewegung ausüben muß, läßt sich das rotierende magnetische Wechselfeld (B1) so einrichten, daß es jeweils in Resonanz (von lat.: resonare – wieder ertönen, mitschwingen) zu der Frequenz (lat.: die frequentia – Häufigkeit; die Anzahl von Wellen in der Sekunde; hier: die Anzahl von Umdrehungen in der Sekunde) der kreiselnden Kernspins wirkt: es kommt zu einem Gleichtakt (einer Phasenkohärenz). Wird nun dieses zweite Magnetfeld (B1) wieder abgeschaltet, so kehren die Kernspins in ihre Ausgangslage (parallel zu dem statischen ersten Magnetfeld B0 ) zurück; dabei strahlen sie eine elektromagnetische Welle ab, deren Amplitude (lat.: die amplitudo – Größe; der größte Ausschlag einer Schwingung) sich messen läßt: sie

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wird um so kleiner, je mehr die Kernspins in den Ausgangszustand zurückkehren. Dieser Prozeß ist durch zwei Zeitkonstanten beschreibbar: die erste (T1, die sogenannte longitudinale Relaxationszeit) gibt die Zeit an, in der die zum magnetischen Feld B0 parallel ausgerichtete Komponente des magnetischen Moments jedes Kernspins wieder ihren alten Zustand erreicht, die zweite (T2, die sogenannte transversale Relaxationszeit) gibt die Zeit an, in der die Phasenkohärenz sich auflöst – in der also die zum magnetischen Feld B0 senkrecht stehende Komponente des globalen magnetischen Moments verschwindet. Entscheidend ist nun, daß T1 und T2 je nach Gewebe unterschiedlich ausfallen. In der grauen Substanz zum Beispiel beträgt T1 etwa eine Sekunde, T2 nur 1/10 davon; immer ist T2 kleiner als T1. Dementsprechend lassen sich die verschiedenen Gewebetypen untersuchen, indem man T1- oder T2-gewichtete Bilder erstellt. T1-gewichtete Bilder besitzen ein Auflösungsvermögen bis unter 1 mm, es dauert aber relativ lange (mehrere Minuten), um sie aufzunehmen; T2-gewichtete Bilder hingegen zeigen Details nur bis zu einigen Millimetern, dafür aber lassen sie sich rascher anfertigen. Seit den 80er Jahren spielt die Kernspintomographie eine große Rolle, um einen Tumor zu lokalisieren oder das Ausmaß der Schäden nach einem Schlaganfall zu diagnostizieren. (Vgl. bernard mazoyer: A. a. O., 58– 59.) Doch das alles langt nicht aus, um dem Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen, zum Beispiel also herauszufinden, wie Bewußtsein entsteht. Eine «funktionale» Untersuchungsmethode wurde die MRT erst, als 1991 john belliveau und sein Team in Boston das Sehsystem untersuchten und dabei eine Substanz injizierten, die über die Blutbahn lokal die magnetischen Eigenschaften des Gewebes veränderte; damit ließ sich der Blutdurchfluß und folglich die neuronale Aktivität der verschiedenen Hirnregionen sichtbar machen. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Gehirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 59 –60.) Der nächste Schritt erfolgte dann schon 1992, als ken kwong mit der gleichen Gruppe die fMRT in der bis heute gebräuchlichen Form vorstellte. Um den lokal unterschiedlichen Sauerstoffgehalt im Blut messen zu können, ging kwong von magnetischen Eigenschaften aus, die das Hämoglobin besitzt – jener rote Blutfarbstoff in den roten Blutkörperchen, der zu 94% aus Globin (Eiweiß, von lat.: der globus – Klumpen) und zu 6% aus eisenhaltigem Häma (von griech.: das haı˜ma – Blut) besteht –, das den Sauerstofftransport übernimmt. Ist an dieses Molekül kein Sauerstoff gebunden (man spricht dann von Desoxyhämoglobin), so richtet sich sein magnetisches Moment nach dem äußeren Magnetfeld aus (es ist paramagnetisch, von griech.: pará – daneben, ent-

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lang); umgekehrt verhält sich vollständig mit Sauerstoff besetztes (vollständig oxygeniertes) Hämoglobin, dessen magnetisches Moment sich gegen die Richtung des von außen angelegten Magnetfeldes einstellt (es ist diamagnetisch, von griech.: diá – entzwei, hindurch). Für die fMRT ausschlaggebend ist die Tatsache, daß Desoxyhämoglobin als Störfaktor wirkt, indem es die Kernspins außer Phase geraten läßt und damit die T2-Werte (die Relaxationszeit der senkrecht zu B0 orientierten Komponente des globalen magnetischen Moments) im venösen (sauerstoffarmen) Blut gegenüber dem arteriellen (sauerstoffreichen) Blut verkürzt. Nun fand marcus e. raichle, als er die auf einen Sehreiz hin erfolgenden Veränderungen im Gehirn untersuchte, daß die aktivierten Hirnareale zehnmal mehr Sauerstoff als nötig zugeführt bekommen; trotz des erhöhten Sauerstoffverbrauchs kommt es in den betreffenden Regionen also zu einer Sauerstoffanreicherung, und das wiederum vermindert den störenden Einfluß des Desoxyhämoglobin im venösen Blut; mithin steigen dort die T2-Werte fast auf den gleichen Wert an wie im arteriellen Blut. – Damit ist alles gesagt, was man im Prinzip über die fMRT wissen muß: Um einen kognitiven Prozeß zu untersuchen, werden Punkt für Punkt im Gehirn die Unterschiede der T2Werte kartiert, die beim Lösen einer gestellten Aufgabe gegenüber einer Kontrollsituation auftreten. Mit Hilfe dieses Verfahrens läßt sich die innerhalb von 1– 2 s stattfindende Reaktion der Hirngefäße auf neuronale Aktivitäten gerade noch erfassen, bei einer räumlichen Auflösung von nur wenigen Millimetern. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Gehirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 60.) «Heute untersucht man mit der fMRT alle Regionen der Hirnrinde und die darunter liegenden Strukturen, ebenso alle kognitiven Funktionen.» (bernard mazoyer: A. a. O., 60) Und was ergibt sich daraus nun für die Antwort auf unsere Frage nach der Entstehung des Bewußtseins? Gerade hier können PET und fMRT unverzichtbare Dienste leisten. Wir hörten schon, daß die PET 1997 von allen braun benutzt wurde, um die ersten Bilder vom menschlichen Gehirn während des REM-Schlafs anzufertigen. (Vgl. Bd. I 356.) Die ersten, die PET zu neurologischen Untersuchungen während des Träumens und während des Wachens einsetzten, waren – der uns gleichfalls schon bekannte (Bd. I 358) – pierre maquet und sein Team. Indem sie die unterschiedlichen Stufen des Wachseins (der Vigilanz, von lat.: die vigilia – Wachsamkeit) anhand der Positronen-Emission tomographierten, fanden sie, was wir bei der Besprechung von Schlaf und Traum bereits gehört haben: Im Tiefschlaf geht der Blutdurchfluß im Hirnstamm, im Mittelhirn (im Mesencephalon) und im Thalamus (im Diencephalon) deutlich zurück; Tief-

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schlaf (Bewußtlosigkeit) bedeutet also, daß diese Hirnareale ihre Tätigkeit teilweise einstellen; in der REM-Schlafphase dagegen und während des Träumens werden diese Gebiete – und andere Areale (vgl. Abb. B 18; B 21) – wieder aktiviert, bis hin zur Umschaltung in den Wachzustand. (Vgl. bernard mazoyer: Dem Gehirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 60.) Um herauszufinden, welche Bereiche des Gehirns speziell mit der Entstehung von Bewußtsein zu tun haben, versuchten bernard mazoyer und sein Team in Caen, vor allem den Bewußtseinszustand «Ruhe» neurologisch über eine genügende Menge von möglichst verschiedenen Referenzsituationen zu erfassen: Sie setzten ihre Probanden Lichtflecken, Mustern, Worten und Geschichten aus, auf die sie demgemäß unterschiedlich reagieren mußten; für die Untersuchung des Ruhezustandes galt stets der Hinweis, es komme nicht darauf an, eine Aufgabe zu lösen, sondern sich zu entspannen, Ruhe zu halten, die Gedanken ziehen zu lassen und keinerlei systematischer Tätigkeit (wie Nachdenken, Rechnen etc.) nachzugehen. Als erstes nahm man anatomische MRT-Bilder auf und überlagerte sie dann mit PETAufnahmen. Das Ergebnis bestätigte, was wir anläßlich der Lateralisation des Gehirns schon gelernt haben (vgl. Abb. A 39): «Im bewussten Ruhezustand ist vor allem ein Verband von Regionen in der linken (sc. der dominanten, d. V.) Hemisphäre aktiv, hinzu kommen zwei kleinere Areale in der rechten Hirnhälfte . . . Verschiedene Versuche weisen darauf hin, dass all diese Hirngebiete tatsächlich an aktiven Prozessen beteiligt sind, die dem bewussten Denken unterliegen. Interessanterweise sind die Areale aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht jung. Diese Entdeckung untermauert die Hypothese, dass das bewusste Denken im Tierreich erst sehr spät entstanden ist und wahrscheinlich nur beim Menschen und dessen nächsten Verwandten vorkommt.» (bernard mazoyer: Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 61) Die letztere Aussage ist, wenn nicht einfach falsch, so doch zumindest verkürzt, denn sie versetzt nicht nur – erneut – unsere eigene Species in die Aura des Exklusiven, sie verführt auch dazu, Bewußtsein mit den Aktivitäten bestimmter Hirnregionen zu identifizieren, ohne daß wir bisher verstanden hätten, wie denn die verschiedenen Hirnregionen miteinander zusammenwirken; genau das aber müssen sie tun. Erinnern wir uns nur daran, wie notwendig das Corpus callosum ist, um die optische Wahrnehmung zu einem einheitlichen Bild zu integrieren (Bd. I 430 –439)! Vergegenwärtigen wir uns vor allem, daß eine Reihe wichtiger Informationen auf zwei getrennten Bahnen das Gehirn aktivieren, deren eine ohne

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jedes Bewußtsein eine reflexartige Antwort erzwingt, während deren andere Bahn gerade den Zweck verfolgt, die unbewußte Reaktion noch einmal auf ihre Realitätsangepaßtheit hin überprüfen zu können. Die beiden Schmerzbahnen (vgl. Abb. B 68) etwa tragen schon die evolutionsbiologisch korrekten Bezeichnungen: Tractus palaeospinothalamicus (griech./lat.: die alte vom Rückenmark zum Thalamus ziehende Nervenfaser) und Tractus neospinothalamicus (griech./lat.: die neue vom Rückenmark zum Thalamus ziehende Nervenfaser); es scheint schwer vorstellbar, daß diese doppelte Anlage etwas anderes bewirken sollte, als eine bewußte Stellungnahme zu den wahrgenommenen Informationen der Umgebung zu ermöglichen; insofern dürfte es eine sinnvolle These bilden, daß sich das Schmerzbewußtsein ineins mit der schnellen Schmerzbahn entwickelt hat, sich also von der Stufe der einfacheren Wirbeltiere an aufwärts herausgebildet hat, – keinesfalls existiert sie nur bei Hominoiden. Desgleichen fanden wir, daß es zwei Verarbeitungsleitungen von Angst gibt (vgl. Abb. B 114; B 115): eine, die direkt vom Thalamus (vom Corpus geniculatum) zur Amygdala führt – sie ist schnell, aber ungenau und hat offenbar nur die Funktion, augenblicklich, zur Sicherheit, «auf alle Fälle», egal was sein mag, zu reagieren –, und eine andere, die über den (auditorischen oder visuellen) Cortex zur Amygdala führt – sie ist langsamer, aber genauer und ermöglicht nicht nur ein präziseres Verständnis der Situation, sondern unter Umständen auch eine Korrektur der unmittelbaren Angstreaktion; auch die Anlage dieser zweiten corticalen Bahn scheint identisch mit der Entwicklung bewußter Formen der Angstverarbeitung, und auch hier muß der entscheidende Schritt weit unterhalb der Evolution der Primaten erfolgt sein: Wenn die Entwicklung der Säugetiere vor über 200 Millionen Jahren im Übergang von der Trias zum Jura (mit dem Zerbrechen des Superkontinents Pangäa) begonnen hat, so dürfte es nicht ganz falsch geschätzt sein, die Entstehung von Bewußtsein bei Tieren unserer eigenen Klasse (der Säugetiere, lat.: der Mammalia) zumindest in diese Zeit vor über 200 Millionen Jahren zurückzuverlegen, in der die Unterklasse der Prototheria (von griech.: pro¯tos – erster, das the¯ríon – wildes Tier, Säugetier), auch Kloakentiere (Monotremata, griech.: Tiere mit nur einer Öffnung für Geburt und Ausscheidung) genannt, sich von der Linie getrennt hat, die zu den Theria überleitete – mit den Beuteltieren (den Metatheria oder Marsupialia) und den höheren Säugetieren (den Eutheria oder Placentalia), deren letzter gemeinsamer Vorfahre – gemäß molekularer Uhren – vor mindestens 125 Millionen Jahren lebte. (Vgl. Bd. I 361–363; e. drewermann: . . . und es geschah so, 572; neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 844; david macdonald: Die große Enzyklopädie der Säugetiere, S. XVI.) Von den Vögeln, die vor etwa

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140 Millionen Jahren im Jura entstanden sind (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 579), und deren Vorfahren, den Sauriern, oder von Tieren außerhalb des Stammes der Wirbeltiere können wir im Rahmen unserer Themenstellung jetzt nicht weiter sprechen – immerhin, so viel sei erwähnt: Papageien besitzen eine Kommunikationsfähigkeit, die vermuten läßt, daß ihre Intelligenz die von Menschenaffen oder Delphinen erreicht! (Vgl. irene m. pepperberg: Unterhaltung mit Alex, dem Graupapagei, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Intelligenz, 1/2000, 60 –64; christine scholtyssek: Pfiffige Plauderer, in: Gehirn und Geist, Dossier: Intelligenzbestien, 2/2006, 20– 25; mila hanke: Doktor Flipper, in: Gehirn und Geist, a. a. O., 90 –95.) Für uns sind andere Fragen vorrangig: Wie läßt sich die Erforschung des Zusammenspiels der Neurotransmitter mit Hilfe der bildgebenden Verfahren nutzen, um das Problem der Entstehung des Bewußtseins zumindest im Säugetiergehirn zu klären? Da die Meßgenauigkeit von PET und fMRT heute im Bereich von Millimetern und Sekunden liegt, lassen sich Gehirnzentren identifizieren, deren erhöhte Aktivität mit bestimmten psychischen Funktionen wie Wahrnehmung, Kognition, Gefühl, Sprache oder Bewegung korreliert. Wie nicht anders zu erwarten, zeigt zum Beispiel das Gehirn einer Versuchsperson, die Objekte, Gesichter oder Szenen anschaut, eine erhöhte Hirnaktivität im Übergangsbereich des unteren Okzipital- und Temporallappens; beim Analysieren eines Satzgefüges wird das broca-Sprachzentrum aktiv (vgl. A 35); Erregungen bei Schmerzempfindungen lassen sich im Gyrus cinguli, einem wichtigen Teil des limbischen Systems (vgl. Abb. A 21; A 22; A 24), ablesen; komplexere Handlungsentscheidungen werden getroffen bei Aktivierung des präfrontalen Cortex (vor allem des dorsolateralen und orbitofrontalen Cortex, vgl. Abb. B 94) usw. (Vgl. gerhard roth: Gleichtakt im Neuronennetz, in: Gehirn und Geist, 1/2002, 45.) Von daher sollte es möglich sein, so etwas wie eine anatomische Karte der Orte zu erstellen, an denen Bewußtsein entsteht. Daran schließen sich weitere Fragen an: Wie vollzieht sich die Integration von Sinneseindrücken zu einer bewußten Form der Wahrnehmung? Und wie entwickelt sich bei uns selber, in der frühen Kindheit, das Bewußtsein – eine Frage, die ganz von allein überleitet zu der Entwicklung von Selbstbewußtsein und Personwerdung. Vorerst bleibt philosophisch beziehungsweise theologisch ein Gedanke erwähnenswert, der sich im Bewußtsein vieler (wenn nicht der meisten) Neurologen mit dem Durchbruch der bildgebenden Verfahren in den letzten 20 bis 30 Jahren wie selbstverständlich nahezulegen scheint: Diese Verfahren «bekräftigen die materialistischen Theorien des Geistes», resümiert bernard ma-

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zoyer (Dem Hirn beim Denken zuschauen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 61) und fährt fort: «Das Bewusstsein scheint nichts anderes als eine besondere Form der Hirnaktivität zu sein. Das widerspricht dem cartesianischen Denken, nach dem diese geistige Funktion von jeder stofflichen Grundlage unabhängig ist.» Doch ist diese These so selbstverständlich? Nehmen wir an, Bewußtsein sei eine spezielle Form von Hirnaktivität und es sei an eine stoffliche Grundlage gebunden, so bliebe es doch immerhin möglich, daß Bewußtsein noch «etwas anderes als» das sei: Könnte es nicht sein, daß mit der Bewußtwerdung ein Prozeß beginnt, der seinerseits wieder auf die neuronalen Vorgänge in bestimmter Weise zurückwirkt und keinesfalls mehr in ihnen aufgeht? Und könnte es nicht des weiteren sein, daß mit dem Auftauchen des Bewußtseins zugleich Fragen entstehen, auf welche die Natur (vor allem in der Art, wie die Naturwissenschaften sie heute betrachten) definitiv keine Antworten zu geben vermag?

β) Was passiert im Koma oder: Die Anatomie des Bewußtseins Nachdem wir in etwa wissen, wie es möglich ist, Bewußtseinszustände im Gehirn (höherer Säugetiere) zu erforschen, stoßen wir wie von selbst auf einen Anwendungsbereich der neuen Techniken, in dem je nach Ausmaß des Vorhandenseins bewußter Formen der Informationsverarbeitung der Übergangsbereich zwischen Leben und Tod erforscht werden kann: Nach einem Schlaganfall oder nach einem Unfall kann es sein, daß ein Patient tagelang im Koma (von griech.: das ko¯ma – tiefer Schlaf) liegt und es dem behandelnden Arzt nicht möglich ist, eine auch nur einigermaßen sichere Prognose zu stellen; alles im weiteren Verlauf der Erkrankung scheint möglich. Manchmal wachen Patienten so plötzlich auf, als habe jemand in jenem dunklen Keller doch noch einen Schalter gefunden, um Licht zu machen; in anderen Fällen schleppt sich die Bewußtwerdung über längere Zeit und über mehrere Stufen hin; es kann aber auch sein, daß ein plötzlicher Hirntod eintritt, indem alle Aktivität verlischt; und dazwischen, zwischen Genesung und Tod, kann ein Koma sich in all die verschiedenen Zustände hinein entwickeln, die in der Übersicht von Abb. D 2 dargestellt sind. Die fünf klinischen Kategorien, nach denen man Patienten mit schweren Hirnschäden einteilt, richten sich dabei nach den unterschiedlichen Stufen der Bewußtheit, der Wachheit und der Kommunikationsfähigkeit:

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Abb. D 2: Übersicht über die verschiedenen Zustände eines Komas

1) Bei einem (tiefen) Koma sind Patienten weder wach noch bewußt; 2) im sogenannten Wachkoma sind Patienten zwar wach, doch ohne Bewußtsein, – man spricht in diesem Falle auch von einem «vegetativen Zustand»; wichtig in unserem Zusammenhang ist die Feststellung, daß Wachsein nicht identisch mit Bewußtsein ist (so wie es umgekehrt im Traum ein Bewußtsein ohne Wachsein gibt); 3) Patienten mit Minimalbewußtsein sind zwar wach, aber sie weisen nur vorübergehende Anzeichen für Bewußtsein auf; 4) Patienten mit einem Locked-in-Syndrom (von engl.: locked-in – eingeschlossen) sind wach und vollständig bei Bewußtsein, doch körperlich vollkommen gelähmt; und schließlich 5) Patienten sind hirntot, nachdem alle Funktionen des Gehirns irreversibel erloschen sind und das Leben (der Stoffwechsel des Körpers) nur noch mit künstlicher Beatmung aufrechtzuerhalten ist; der Hirntod wird medizinisch und juristisch heute im allgemeinen mit dem Tod des Patienten gleichgesetzt. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusst?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 82; 85– 86.) Anhand dieser fünf Unterteilungen lassen sich nun auch verschiedene Bewußtseinszustände voneinander abheben und – wie stets in der Läsionsfor-

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schung – mit der Aktivität beziehungsweise mit dem Ausfall bestimmter Hirnareale in Verbindung setzen. Um von Bewußtsein im eigentlichen Sinne (außerhalb des Schlafs bzw. des Traumbewußtseins) zu sprechen, müssen nach dem gerade Gesagten zwei Faktoren zusammenkommen: es muß ein Zustand des Wachseins vorliegen und zugleich damit eine Wahrnehmung (ein Bewußtsein) seiner selbst und der Umgebung. Dabei gleicht das Wachsein insofern dem Bewußtsein, als es eine ähnliche Stufenfolge beschreibt: vom Tiefschlaf bis zur vollständigen Vigilanz; daß letztere auch im Schlaf nicht verlorengeht (und auch nicht verlorengehen darf), zeigt sich an der Möglichkeit, jederzeit durch ein Alarmsignal (eine Erschütterung, einen Schmerz, ein Geräusch) hellwach zu werden. Bewußtsein (als Fähigkeit zur Wahrnehmung seiner selbst und der Umgebung, das primäre Bewußtsein, wie wir es auch schon genannt haben) und Vigilanz gehen bezeichnenderweise beide im Koma verloren: anders als im Schlaf, führen bestimmte Reize nicht zum Aufwachen; die Reflexe indessen können durchaus intakt sein. Den Grund dafür können wir selbst bereits angeben, wenn wir uns nur daran erinnern, daß die Formatio reticularis (jene netzwerkartige – retikuläre –, in lose Kerne gegliederte Struktur, die sich von der Medulla oblongata über den Pons bis zum vorderen Mittelhirn zieht, vgl. Abb. A 16) unter anderem auch den Schlaf-Wach-Rhythmus reguliert (vgl. Bd. I 95); genau das tut sie in komatösen Zuständen nicht mehr, entweder weil sie selbst (der Hirnstamm) direkt geschädigt ist oder weil der Cortex der beiden Hirnhälften beziehungsweise die neuronale «Verkabelung» – die weiße Substanz – weitgehenden Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 82; 84.) Eine solche Abschaltung des Bewußtseins im Koma ist wohl erneut als ein biologisch sinnvoller Überlebensmechanismus anzusehen: Wenn Hirnschädigungen derart gravierend sind, daß eine erfolgreiche Selbststeuerung zu Nahrungsbeschaffung und Feindvermeidung für längere Zeit nicht möglich ist, kann es am ratsamsten sein, vollständige Ruhe zu «verordnen», einmal um möglichst unentdeckt zu bleiben, dann aber auch um Energie zu sparen, also den Glucoseverbrauch zu verringern. Mit der PET läßt sich zeigen, daß bei einem Koma, das durch ein Hirntrauma oder durch einen Schlaganfall hervorgerufen wird, der Glucoseumsatz in der grauen Substanz um 40 bis 50 % zurückgeht; bei einem Koma infolge von Sauerstoffmangel fällt der Hirnstoffwechsel häufig auf unter 25 % des normalen Wertes ab. Mit diesem rigorosen

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Sparprogramm, das einer Notverordnung zum Dauerschlaf ähnelt (auch im Schlaf sinkt bisweilen der Glucoseumsatz um die 60% ab), rettet das Gehirn sich selbst und bietet dem restlichen Körper eine gewisse Überlebenschance; ob eine solche freilich in der Realität tatsächlich noch besteht oder nicht, kann das Gehirn selbst nicht mehr entscheiden, – das muß sich zeigen. Alle Wege, die in Abb. D 2 eingezeichnet sind, stehen der weiteren Entwicklung eines KomaZustandes offen. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 84.) So mag eine Bahn vom Koma ins Wachkoma führen, das man als «Wachsein ohne Wahrnehmung» definieren kann. (steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 87) In diesem Zustand bleibt die selbständige Atmung erhalten, und auch die Reflexe (Pupillenreflex bei Lichteinfall, Würgereflex bei Berührung im Rachen usw.) funktionieren nach wie vor; auch spontane Regungen (unkoordinierte Bewegungen der Gliedmaßen, Zähneknirschen, Brummen, unmotiviertes Lächeln etc.) lassen sich beobachten – wie bei Kindern, die nahezu ohne Gehirn zur Welt kommen. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: A. a. O., 87–88.) All das ist möglich, weil, wie PET-Untersuchungen zeigen, der Hirnstamm, also auch die Formatio reticularis, unversehrt ist und normal weiterarbeitet, desgleichen der Hypothalamus und der basale Bereich des Großhirns. «Da diese Strukturen weiterhin ihre Aufgaben erfüllen, bleiben bestimmte Funktionen intakt, darunter die Atmung und die Prozesse, die den Wachzustand aufrechterhalten.» (steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 88) Daß es trotz Wachheit zu Bewußtlosigkeit kommt, liegt offenbar daran, daß die übergeordneten (sekundären) Cortices sowie die Assoziationscortices (vgl. Abb. A 40; A 41) funktional gestört sind, vor allem der präfrontale Cortex beider Hemisphären, «das Broca-Areal sowie Bereiche im Grenzgebiet von Schläfen- und Scheitellappen, im hinteren Scheitellappen und im Präcuneus (sc. mit Praecuneus bezeichnet man ein großes, etwa rechtekkiges Gebiet des Scheitellappens dorsal vom hinteren Gyrus cinguli; der Ausdruck kommt von lat.: prae – vor, voran; der cuneus – Keil, d. V.).» (steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: A. a. O., 88) Damit fallen die für ein bewußtes Erleben so wichtigen Funktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache und bewußte Wahrnehmung aus. Näherhin

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zeigen PET-Aufnahmen, daß im Wachkoma der Stoffwechselumsatz insbesondere in den lateralen und medianen übergeordneten (sekundären) Cortices und Assoziationscortices des Parietallappens beider Hemisphären deutlich niedriger liegt als im Normalzustand, genauer im Praecuneus sowie im hinteren Gyrus cinguli. «Diese Erkenntnisse unterstreichen, welche wichtige Rolle die hinteren Assoziationsregionen (sc. die hinteren übergeordneten Cortices und Assoziationscortices, d. V.) der Hirnrinde bei der Entstehung des Bewusstseins spielen.» (steven laureys – marie élisabeth faymonville – pierre maquet: A. a. O., 88) Wie wir bereits gesehen haben (vgl. Bd. I 161–164), stehen die übergeordneten Cortices mit den Assoziationscortices und diese untereinander über weite Strecken in Verbindung, so bei gesunden Menschen der linke präfrontale Cortex und der Praecuneus. Auch Verbindungen von der Hirnrinde zum Thalamus, zum Beispiel vom Praecuneus zu den thalamischen Nuclei intralaminares (vgl. Bd. I 108; 125; 510; 512; 516), bilden eine Voraussetzung für die Entstehung von Bewußtsein. Im Wachkoma sind gerade diese Verbindungen geschädigt. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: A. a. O., 88– 89.) Obwohl die Wahrnehmung der Umwelt somit komplett ausfällt, zeigen PET-Studien, daß Schmerzreize im Wachkoma gleichwohl noch eine Reihe von Hirnarealen erreichen, und zwar das Mittelhirn (Mesencephalon), den Thalamus und den primären somatosensorischen Cortex. «Trotz des insgesamt niedrigen Hirnstoffwechsels erreicht also die neuronale Aktivität die primäre ‹Körperfühlrinde› – den letzten Schritt aber, ohne den es keine bewusste Wahrnehmung gibt, schafft die Reizinformation nicht: das Überspringen vom primären Cortex auf ein höheres Assoziationsareal.» (steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 89) Dasselbe zeigt sich auch bei einer Aktivierung des primären auditiven Cortex der beiden Hirnhemisphären: Im Wachkoma ist die Hörrinde anscheinend vom hinteren Scheitellappen, vom anterioren Gyrus cinguli und vom Hippocampus abgekoppelt. Die Signale erreichen mithin «nicht mehr die . . . Assoziationsregionen der Hirnrinde, wo mehrere Arten von Reizen zusammengeführt werden. Die isolierte, verbliebene Verarbeitungsleitung im Cortex genügt daher nicht, um jenen Integrationsprozess zu tragen, der für das Bewusstsein als notwendig erachtet wird.» (steven laureys – marie élisabeth faymonville – pierre maquet: A. a. O., 89) Klarer läßt sich auf negativem Wege (durch Läsionsforschung) und durch PET nicht zeigen, auf welch einer Aktivität des Gehirns Bewußtsein beruht: Es ist gebunden an die oberste Stufe der Informationsver-

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Abb. D 3: Hirnregionen, die am Zustandekommen von Bewußtsein wesentlich beteiligt sind

arbeitung in den übergeordneten (sekundären) Cortices sowie in den Assoziationscortices. Bestätigt wird dieses Resultat auch durch die Erforschung des Minimalbewußtseins. Trotz ihrer Wachheit liegen die Patienten in diesem Zustand stumm und regungslos da. Ihre Stummheit geht offenbar auf beidseitige Schädigungen des frontalen Cortex im mittleren Bereich zurück; die Regungslosigkeit läßt sich wohl darauf zurückführen, daß die Hirnrinde auf Grund von Störungen der Schaltkreise zwischen Formatio reticularis und Cortex sowie limbischem System nicht genügend aktiviert wird. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 85.) – Abb. D 3 gibt in schematischer Darstellung zusammenfassend die Hirnregionen wieder, die nach dem bisher Gesagten am Zustandekommen von Bewußtsein wesentlich beteiligt sind: die Formatio reticularis, der Thalamus, die übergeordneten Cor-

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tices sowie die Assoziationscortices (insbesondere der mittlere Bereich des frontalen Cortex, der hintere Gyrus cinguli und der Praecuneus). – Auf die Rolle, die insbesondere der Thalamus sowie die Substantia nigra, der Locus coeruleus und die Raphe-Kerne spielen, kommen wir gleich noch kurz zu sprechen (vgl. Abb. D 5; D 6). Summarisch können wir sagen, daß ein Koma auf Störungen der Formatio reticularis beziehungsweise des gesamten Cortex zurückgeht; ein Wachkoma betrifft die übergeordneten (sekundären) Cortices und die Assoziationscortices (sowie Verbindungen von der Hirnrinde zum Thalamus); im Minimalbewußtsein unterliegt vor allem der mittlere Bereich des frontalen Cortex Schädigungen. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 84.) Wie eine Umkehrprobe dazu verhält sich bei der Suche nach den Hirnregionen, deren Funktionen Bewußtsein ermöglichen, das sogenannte Locked-inSyndrom. Der Ausdruck wurde von fred plum und jérôme posner erst im Jahre 1966 geprägt, der Krankheitszustand selbst aber war schon im 19. Jh. bekannt. In seinem berühmten Roman Der Graf von Monte Christo beschrieb alexandre dumas (1802 –1870) bereits im Jahre 1845/1846 in makabrer Detailgenauigkeit das äußere Erscheinungsbild von Noirtier de Villefort, der nach einem Schlaganfall vollständig gelähmt liegt. Ihn besucht Edmond Dantès, der von dem Sohn des Schwerkranken eines verräterischen Briefes wegen, den seine Gegner ihm unterschoben hatten, aus reinem Karriereehrgeiz als Bonapartist in das Gefängnis von Château d’If geworfen worden war; als ihm nach 14 Jahren die Flucht gelang, brachte er sich in den Besitz des unermeßlichen Reichtums eines Schatzes, den ihm der treue Abbé Faria noch in der Haft verraten hatte; und nun, zurückkehrend, sinnt Dantès auf Rache. Unter diesen Umständen muß ihm (und dem Leser) der Schlaganfall des alten de Villefort wie ein gerechtes Gottesurteil erscheinen, und erst eine psychoanalytische Deutung entzaubert die düstere Faszination dieses rätselhaften Krankheitszustandes als eine (zwangsneurotisch-sadistische) Regression zu dem kindlichen Glauben an die Allmacht der Gedanken, – eine magische Wunscherfüllung, die nach einem urtümlichen Jus talionis die langwährende Gefangenschaft auf der Felseninsel vergilt mit einer bis auf den Tod währenden Gefangenschaft im eigenen Körper; denn dies ist der Anblick, der sich dem haßerfüllten Rächer – mithin dem gottgleichen Richter – Edmond Dantès, alias dem Grafen von Monte Christo, bietet:

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«Monsieur Noirtier saß in seinem großen Rollstuhl, in den man ihn morgens setzte und aus dem man ihn abends hob, vor einem Spiegel, der das ganze Zimmer widerspiegelte, und ihm gestattete, selbst ohne den Versuch einer ohnehin unmöglich gewordenen Bewegung, zu sehen, wer in sein Zimmer trat, wer es verließ, und was man um ihn herum tat. Regungslos wie ein Leichnam, schaute er mit intelligenten und lebhaften Augen seine Kinder an . . . Der Seh- und der Gehörsinn waren die einzigen zwei Sinne, die noch wie zwei Funken diesen schon zu zwei Dritteln dem Grab anheimgefallenen Körper beseelten. Und von diesen zwei Sinnen konnte nur ein einziger das innere Leben nach außen offenbaren, das noch in dieser Statue waltete, und der dieses innere Leben verkündende Blick glich einem jener fernen Lichter, die dem in einer Wüste verirrten Wanderer verraten, daß noch ein Wesen darin existiere, das in dieser Stille und in dieser Finsternis wacht. – . . . Freilich fehlten die Bewegung des Arms, der Ton der Stimme, die Haltung des Körpers; aber dieses mächtige Auge ersetzte alles: Er befahl mit den Augen, er dankte mit den Augen. Er war ein Leichnam mit lebendigen Augen, und nichts war bisweilen schrecklicher als dieses Marmorantlitz, auf dessen Stirn ein Zorn entflammte oder eine Freude leuchtete . . . Auf diese stumme . . . Sprache antwortete sie (sc. seine Enkelin Valentine, d. V.) mit ihrer ganzen Stimme, mit ihrer ganzen Physiognomie, mit ihrer ganzen Seele, so daß sich belebte Gespräche zwischen diesem jungen Mädchen und jenem vermeintlichen, beinahe wieder Staub gewordenen Tongefäß entsponnen, das aber noch ein Mann von unermeßlichem Wissen war, von einer unerhörten Scharfsichtigkeit und von einem so mächtigen Willen, als es nur immer die in einem Leib eingeschlossene Seele sein kann.» (alexandre dumas: Der Graf von Monte Christo, Kap. 58, Bd. II, S. 22– 23) dumas’ Darstellung gibt eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was wir heutigentags als Locked-in-Syndrom bezeichnen, und sie geriet literarisch so eindrucksvoll, daß kein geringerer als émile zola (1840 –1902) wenig später (im Jahre 1867) in seinem Roman Thérèse Raquin das Motiv erneut aufgriff: Die alternde, ehedem treusorgende Madame Raquin muß, vollkommen gelähmt, erfahren, daß ihr Sohn Camille nach einer Vernunftheirat mit ihrer Nichte Thérèse von dieser und dem skrupellosen Laurent ermordet worden ist; nur mit den Augen kann sie ihrem Erschrecken, ihrem Abscheu und ihrem Haß Ausdruck verleihen, ansonsten ist sie diesen menschlichen Ungeheuern völlig hilflos ausgeliefert; es ist am Ende erneut eine Art magisch sich erfüllender Wunschtraum, wenn die unerträglichen Schuldgefühle Thérèse und Laurent dahin treiben, sich wechselseitig ermorden zu wollen und schließlich gemeinsam in den Tod zu gehen. In dem Bemühen um eine möglichst natura-

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listisch-naturwissenschaftlich präzise Schilderung beschreibt zola den Zustand von Madame Raquin so: «Sie sah, sie hörte, sicherlich konnte sie klar und deutlich denken, aber sie verfügte über keine Gestik mehr, über keine Stimme, um der Außenwelt die Gedanken verständlich zu machen, die in ihr entstanden. Vielleicht wurde sie von ihren Gedanken erstickt. Sie hätte nicht die Hand heben oder den Mund auftun können, auch wenn eine ihrer Bewegungen, eins ihrer Worte die Geschicke der Welt entschieden hätte. Ihr Geist war wie einer jener Lebenden, die aus Versehen begraben worden sind und zwei oder drei Meter unter der Oberfläche in der Dunkelheit der Erde erwachen; sie schreien, sie schlagen um sich, und man schreitet über sie hinweg, ohne ihre grausigen Klagerufe zu hören.» (Kap. XXVI, S. 200) Der Eindruck, den man bei der Lektüre solcher Schilderungen gewinnt, kann kaum anders als grausig sein, und das zu Recht: Im Locked-in-Syndrom bleiben Patienten sich ihrer selbst und ihrer Umgebung vollkommen bewußt, doch gleichzeitig sind sie «eingeschlossen» in einen Körper, der sie nahezu so stumm und reglos macht wie im Zustand des Komas. Es ist eine Situation, die wie geschaffen scheint, die alte (cartesianische) Überzeugung zu bestätigen, der Geist sei etwas vom Körper vollkommen Verschiedenes, ja, es sei, wie platon in einem Wortspiel formulierte, der Körper (griech.: das so¯ma) das Gefängnis (griech.: das se¯ma) der Seele. (platon: Kratylos, 400 c, Kap. 17, in: Sämtliche Werke, II 143) Neurologisch allerdings zeigt sich gerade im Falle des Locked-in-Syndroms, wie das Gehirn beides hervorzubringen vermag: (primäres) Bewußtsein und die vollständige Abkopplung des Körpers. Des näheren weisen Untersuchungen mit Hilfe der MRT im Fall des Lockedin-Symdroms auf Schädigungen im unteren Bereich des Pons hin, die von einer Hirnblutung, einem Trauma (griech.: das trauma – Verletzung, Wunde), einem Gefäßverschluß, einem Tumor oder auch von einer Infektion herrühren können; damit ist die neurale Verbindung zwischen Zentralnervensystem und Peripherie an einer entscheidenden Stelle unterbrochen: kein motorischer Befehl kann mehr vom Gehirn in die Peripherie weitergeleitet werden. Ein solches Syndrom kann auch durch eine Degeneration der motorischen Nervenzellen hervorgerufen werden; es tritt dann ein Zustand ein, wie er vorübergehend bei einer unsachgemäß durchgeführten Narkose vorkommen kann, welche die Muskeln lähmt, doch den Patienten nicht zum Einschlafen bringt. Andererseits ist der hintere Teil des Mesencephalon ebenso wenig beschädigt wie die übergeordneten Cortices und die Assoziationscortices. Deshalb bleiben die Patienten bei vollem Bewußtsein; sie können alles verstehen und geistig auf alles reagieren, und da sie immerhin ihre Augen und Augenlider bewegen können, verfügen sie

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gerade noch über die Möglichkeit, mit ihren Augen nach Art eines Morsealphabetes sich ihren Mitmenschen verständlich zu machen. (Vgl. steven laureys – marie-élisabeth faymonville – pierre maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 86.) Damit bestätigt sich noch einmal die «Anatomie» des Bewußtseins, die sich in den verschiedenen Zuständen von «Koma» (griech.: tiefem Schlaf) zu erkennen gibt.

γ) Wie es funktioniert oder: Die physiologische Seite des Bewußtseins Indem wir die wichtigsten Hirnareale benennen und untersuchen, an deren Zusammenarbeit das Auftreten von Bewußtsein geknüpft ist, verfahren wir – nach dem Modell des Gehirns als einer (kybernetisch arbeitenden) Maschine – so ähnlich wie jemand, der die verschiedenen Teile eines Autos in Augenschein nimmt, um zu verstehen, wie ein solches Gerät sich zu bewegen vermag: – er wird so lange nicht dahinterkommen, als er sich nicht für das «Gleitmittel» interessiert, das die «reibungslose» Kraftübertragung vom Kolben über die Pleuelstange auf die Kurbelwelle überhaupt erst ermöglicht, deren Bewegungen dann auf die Räder wirken . . . Ohne Öl kein fahrendes Auto. Als das «Gleitmittel» des Gehirns haben wir längst schon die exakt aufeinander abgestimmten exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmitter kennengelernt. Im letzten Abschnitt noch haben wir bei der Beschäftigung mit den affektiven Störungen, mit der Schizophrenie und mit der parkinsonErkrankung gesehen, welch eine bewußtseinverändernde, die Persönlichkeit auflösende Wirkung ein falsch eingestellter NA-Spiegel (vgl. Bd. I 84; 693 –694; s. o. S. 227– 230) und ein Zuwenig an Serotonin (Bd. I 87; 694; s. o. S. 229 –230), ein Zuviel oder auch ein Zuwenig an Dopamin (Bd. I 76; 86; s. o. S. 217; 222– 226) haben kann; – ein Zuwenig an Acetylcholin, so hörten wir, kann die alzheimer-Erkrankung verursachen (Bd. I 88; 241; 244 –245; 537). Zuvor bereits hat uns die Beschäftigung mit den Drogen gezeigt, wie eine Belegung oder Blockierung der Rezeptoren bestimmter Neurotransmitter euphorische Glückszustände oder schwere Depressionen, Halluzinationen und Wahnzustände hervorrufen kann (Bd. I 558– 560). Um in dem Bilde zu bleiben: So wie die «Explosionen» im Zylinder eines Autos kontrolliert erfolgen müssen und die Kraftübertragung «reibungslos» vonstatten gehen muß, um einen geordneten Bewegungsablauf zu ermöglichen, so ist ein funktionsfähiges Bewußtsein auf sehr sensible Weise abhängig von der richtigen Feineinstellung im Zusammenspiel der Neurotransmitter. Sie sind es, welche die Aktivi-

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täten der Neuronen synchronisieren, und dieser Gleichtakt ist Bewußtsein. So wie nach der hebbschen Regel das gleichzeitige Feuern von Neuronen auf der untersten Stufe – bei der Meeresschnecke Aplysia – Lernen ist (Bd. I 288– 293; vgl. Abb. B 3; B 4), so werden offenbar Vorgänge bewußt, «wenn sich Nervenzellen vorübergehend zu einem Verband zusammenschließen». (jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 76) Dabei hängt das eine anscheinend auf direktem Wege mit dem anderen zusammen; denn nachdem wir wichtige Merkmale des schizophrenen Erlebens damit erklärt haben, daß durch ein Zuviel an Dopamin in den subcorticalen Strukturen des Gehirns dem präfrontalen Cortex sein Einfluß als Koordinator auf die subcorticalen Strukturen entzogen werde und er seine Kontrollmöglichkeiten verliere, brauchen wir zum Verständnis einer geordneten Form bewußten Erlebens den Sachverhalt nur umzukehren und uns zu fragen, was denn passiert, wenn die vordere Hirnrinde ihre Aufgabe durch Bereitstellung der richtigen Mengen an Neuromodulatoren (und der geeigneten Rezeptorendichte) erfüllen kann. Ein Bewußtsein seiner selbst und der Umgebung kann nur zustande kommen, wenn das Zentralnervensystem sich mit dem Datenstrom der «Realität» auseinanderzusetzen vermag; – und dazu braucht es eine Weile! Die eingehenden Daten müssen zu diesem Zweck über eine bestimmte Zeit hin durch entsprechende neuronale Verarbeitungsprozesse festgehalten werden; immer wieder haben wir bisher schon den schnellen, «analogen», unbewußten Verarbeitungsweg zu unterscheiden gelernt von der langsamen, bewußten Verarbeitungsweise. In dem analogen Modus, wie er uns zum Beispiel bei Aplysia begegnete, verstärken Neuronen ihre Kontakte, wenn sie wiederholt gemeinsam durch denselben Reiz erregt werden; trifft später dann erneut ein Reiz der gleichen Art ein, löst er unmittelbar die «codierende» Reaktion aus: es hat sich ein analoges Gedächtnis gebildet, das eine gleiche oder ähnliche «Erfahrung» augenblicklich wiedererkennt und nach der alten Erfahrung beurteilt. Der zweite Modus – die langsame, bewußte Art der Informationsverarbeitung (Bd. I 507–512) – basiert, wie wir von unseren Betrachtungen der Schizophrenie her schon wissen, auf dem Aufbau eines Arbeitsgedächtnisses unter der Steuerung des präfrontalen Cortex. Entscheidend für diesen bewußten Modus ist also die zeitliche Organisation in der Verarbeitung der eingehenden Informationen: Es gilt, alle Daten (aus dem Körperinneren wie von der Außenwelt) wegzublenden, die irrelevant sind, und nur diejenigen zusammenführen, die für die Bearbeitung der Wahrnehmung, die Bewertung der Situation und die Kontinuität des Verhaltens wesentlich sind. Die Leistung des präfrontalen Cor-

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tex besteht nun gerade darin, daß er die eingegangenen Informationen über den Zeitraum, der für ihre «bewußte» Bearbeitung nötig ist, aktiv festhält – wir hörten schon: für mehr als einige Hundertstel Sekunden (vgl. unten Abb. D 11). Blieben die eingegangenen Informationen über einen Gegenstand oder eine bestimmte Situation nicht über diesen Zeitraum hin gegenwärtig, so würde das Gehirn von allen möglichen Sinneseindrücken überschwemmt – ohne sie deuten zu können. (Vgl. jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 76; 78.) «Faktisch kann man davon ausgehen, dass das Stirnhirn die Information just so lange vorhält, bis die externen Reize aus ihrem unmittelbaren Zusammenhang entnommen, analysiert, eingeordnet und mit einer Bedeutung belegt wurden. Dann kann das Gehirn die betreffenden Daten sowohl mit früher gespeicherten Erfahrungen vergleichen als auch mit der aktuellen Situation in Beziehung setzen.» (jean-pol tassin: A. a. O., 78) Unter der Kontrolle des präfrontalen Cortex gelingt es dem Zentralnervensystem also, einen Zwischenspeicher in der Informationsverarbeitung, eben das «Arbeitsgedächtnis», aufzubauen und sich damit von dem zeitlichen Druck aus Schnelligkeit des Eingangs von Informationen und Langsamkeit ihrer Verarbeitung ein Stück weit frei zu machen; es kann gegenwärtiges Erleben von vergangenem Erleben unterscheiden, – es trägt mithin ein geschichtliches Element in das Erleben ein; und es kann im Vergleich des erinnerten Materials mit der Gegenwart «überlegen» (im Deutschen ein treffendes Wortbild!), welch eine Bedeutung das jetzt Wahrgenommene besitzt. (Vgl. jean-pol tassin: A. a. O., 76; 78.) Dieser im eigentlichen Sinne «kognitive» Modus der Informationsverarbeitung macht das aus, was wir Bewußtsein nennen, und es scheint, als liege der selektive Vorteil der Verbesserung der Leistungen des präfrontalen Cortex während der Entwicklung der Säugetiere, insbesondere der Primaten in den letzten 30 –40 Millionen Jahren der Evolution, gerade darin, eine immer bessere Situationsanalyse – und damit eine immer geschicktere Problembewältigung – zu ermöglichen. Mit einem Wort: Der präfrontale Cortex sorgt für die Aufrechterhaltung gerade derjenigen Prozesse im Gehirn, die seine eigene Weiterentwicklung vorangetrieben haben; und die Frage bleibt nur, wie das Zusammenwirken zwischen dem evolutiv neuen, langsamen, bewußten Modus und dem evolutiv älteren, schnelleren, «analogen», unbewußten Modus neuronal zustande kommt. Die Antwort darauf kennen wir bereits von der Erörterung der Schizophrenie: Der präfrontale Cortex kann sich in die analogen (unbewußten) Schaltkreise der Informationsverarbeitung einklinken mit Hilfe von Dopamin und Noradrenalin, die beide in der Modulation der bewußten Informationsver-

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arbeitung einen entscheidenden Einfluß besitzen. Wie dies im einzelnen geschieht, können wir vorab schon vermuten, wenn wir uns in Erinnerung rufen, was wir alles längst über das Dopamin-System gelernt haben (vgl. Abb. A 9): Zum einen schicken Neuronen im ventralen Tegmentum des Mittelhirns, vor allem im Ventralen Tegmentalen Areal (VTA), Nervenbahnen zur Großhirnrinde und zu Regionen des limbischen Systems (besonders zu präfrontalem Cortex, Septum, Nucleus accumbens, Amygdala, entorhinalem Cortex und Hippocampus). Zum zweiten projizieren DA-haltige Nervenzellen in der Substantia nigra zu den Basalganglien, darunter zum Striatum (zum Streifenkörper). Mit diesem Vorwissen ausgestattet sind wir nicht überrascht zu hören, daß der präfrontale Cortex von den dopaminergen Zellkörpern im VTA in den Stand gesetzt wird, die eingehenden Informationen so lange präsent zu halten, wie es für die Analyse und Bewertung (im Vergleich mit Daten aus dem Gedächtnis oder aus der Umgebung) nötig ist; danach erst werden die so bearbeiteten Informationen (die gewonnenen Erkenntnisse) im Gedächtnis abgespeichert. Damit das geschehen kann, bedarf es, wie mehrfach erwähnt, speziell der (basolateralen) Amygdala und des Hippocampus – Strukturen, mit denen der präfrontale Cortex ebenso in Verbindung steht wie mit dem Septum, dem Nucleus accumbens und dem Striatum. Es ist nach dem bisher Gesagten klar, daß all diese Hirnareale von dopaminergen Neuronen innerviert werden, allerdings so, daß das Dopamin hier nicht als Neurotransmitter wirkt (es überträgt keine Informationen von einem Neuron zum anderen), sondern als Neuromodulator: es verstärkt, je nach freigesetzter Menge, den Einfluß der jeweiligen Hirnregion und sorgt damit für eine ausgewogene Hierarchie in der Funktionsweise der einzelnen «dopaminergen» Strukturen. Der präfrontale Cortex ist so Teil eines Systems wechselseitiger Kontrolle. (Vgl. jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 78; 79.) Abb. D 4 faßt in einer schematischen Darstellung diejenigen Hirnstrukturen zusammen, die mit ihren dopaminergen Neuronen die Funktionen des präfrontalen Cortex ermöglichen (nach oben gerichtete Pfeile) und auf welche der präfrontale Cortex seine Kontrolle ausübt (nach unten gerichtete Pfeile). Auch von Noradrenalin ist uns das Wesentliche bereits bekannt (vgl. Abb. A 13). Das NA-System projiziert von ein paar kleinen Ansammlungen im Hirnstamm (im Locus coeruleus) zu fast allen Regionen im Gehirn und wirkt unspezifisch: NA ist vor allem von Bedeutung, wenn es gilt, auf äußere Ereignisse zu reagieren und sie zu bearbeiten. NA verschiebt, wie wir gleichfalls aus unseren Erörterungen zur Schizophrenie schon wissen, das Kräfte-

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Abb. D 4: Hirnstrukturen, deren dopaminerge Neuronen die Funktion des präfrontalen Cortex ermöglichen und auf welche der präfrontale Cortex seine Kontrolle ausübt

gleichgewicht zwischen dem präfrontalen Cortex weg in Richtung der subcorticalen Regionen. Eine solche Verschiebung kann lebenrettend sein, zum Beispiel wenn wir – nach Art einer cannonschen Notfallreaktion (Bd. I 679– 680; 697) – auf eine drohende Gefahr reflexhaft, «instinktiv», ohne jede weitere Überlegung sofort antworten müssen; aber dann brauchen wir uns nur noch einmal in Abb. B 115 anzuschauen, wie bereits der Anblick einer Spinne das Angstsignal auszulösen vermag, und wir können nur wünschen, daß bald schon wieder «die Vernunft», mithin der ordnende Einfluß des präfrontalen Cortex, die Oberhand über «die Panik», mithin über die Verarbeitungsmechanismen der subcorticalen Regionen, gewinnen möge. Wir haben schon im Zusammenhang mit unseren Überlegungen zur Schizophrenie gehört, daß die Pyramidenzellen des Cortex neben D1-Rezeptoren für Dopamin auch Alpha-1b-Rezeptoren für NA besitzen und daß NA über seine Bindung an die Alpha-1 b-Rezeptoren DA daran hindert, seine Wirkung über die D1-Rezeptoren zu entfalten. (S. oben S. 227.) Es ist diese Kopplung der DA- und der NA-Bahnen im präfrontalen Cortex, die eine Balance zwischen Nachdenklichkeit und Impulsivität erstellt. (Vgl. jean-pol tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 79 –80.) Chance wie Gefährdung des (menschlichen) Bewußtseins liegt in dieser Konstruktion, welche auf die archaischen Flucht- und Angriffsmechanismen als Verhaltensreserve offenbar nach wie vor nicht Verzicht tuen kann,

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Abb. D 5: Die Wirkung der Neuromodulatoren Dopamin und Noradrenalin auf den präfrontalen Cortex

während sie gleichzeitig den Spielraum von Überlegung, Einsicht, Selbstkorrektur und Planung immer mehr erweitert. Die Chance liegt in dem Faktor einer allmählich wachsenden Intelligibilität, die Gefährdung in Zuständen, wie wir sie in Gestalt der Schizophrenie erlebt haben. In vereinfachter Form läßt sich die unterschiedliche Wirkung von DA und NA als ein neuromodulatorischer Antagonismus darstellen, indem die Ausschüttung von DA über Nervenfasern, die aus dem unteren Bereich der Mittelhirnhaube (also aus dem VTA) kommen, die langsame, bewußte, kognitive Informationsverarbeitung im präfrontalen Cortex ermöglicht, wohingegen NA, das vor allem vom Locus coeruleus an die Hirnrinde abgegeben wird, die schnelle, analoge Verarbeitung unterstützt, die sich dem Bewußtsein entzieht. Abb. D 5 versucht schematisch diesen Zusammenhang darzustellen. Ergänzend hinzufügen müssen wir, daß auch das Serotonin-System (vgl. Abb. A 14) an der Ein- oder Abschaltung des Bewußtseins mitwirkt, indem es etwa den Schlaf-Wach-Rhythmus mitgestaltet und im Schlafen die traumreiche

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REM-Phase beeinflußt (Bd. I 350 –351); was passiert, wenn zum Beispiel LSD die Serotoninneuronen veranlaßt, das Feuern einzustellen (und mittelbar auf die NAergen Neuronen im Locus coeruleus einwirkt, noch schneller zu feuern), haben wir bereits bei der Besprechung der Psychedelika gesehen (Bd. I 559 –560).

δ) Wie real ist, was man sieht? Oder: Von Wahrnehmungssteuerung, Blindsehen, Synästhesie und Präsenz im Cyberraum Der Aktivität des präfrontalen Cortex also ist es zu danken, daß bestimmte Informationen aus der eingehenden Datenflut herausgelöst und für die Dauer des «Arbeitsgedächtnisses» (maximal 2 bis 3 Minuten lang) festgehalten werden, um sie analysieren und bewerten zu können; auf diese Weise allererst ist bewußte (erkennende, «kognitive») Wahrnehmung möglich. Was aber sagt dem Bewußtsein, was es bewußt wahrnehmen soll? Wie erkennt das Bewußtsein überhaupt ein «Problem»? Und woher weiß es, was im Datenstrom als «relevant» für die Problemlösung zu erachten ist? – Darüber entscheiden gewisse Vorgaben früherer Erfahrungen, die durch Vermittlung des Hippocampus in den Gedächtnisspeicher überführt wurden und jetzt abrufbar sind (vgl. Bd. I 311– 317), darüber entscheidet ferner die Bewertung dieser Erinnerungen zum Beispiel durch die dopaminerge Bahn des «Belohnungssystems» vom VTA zum Nucleus accumbens (vgl. Abb. B 75; B 76); darüber entscheidet ganz wesentlich die Amygdala mit ihrer hohen Ansprechbarkeit auf ängstigende Erlebnisse (Bd. I 331; 582; 673– 674; 687– 690); darüber entscheiden die Basalganglien (vgl. Abb. A 10 –A 12), – kurz: es liegt offenbar nur sehr begrenzt in der Macht des Bewußtseins, selbst darüber zu befinden, was überhaupt uns bewußt werden soll; zur Not, wie gerade noch gezeigt, kann der präfrontale Cortex durch Ausschüttung von Noradrenalin sogar zugunsten der subcorticalen Verarbeitungsweisen ganz einfach abgeschaltet werden. Unter diesen Umständen scheint es, als sei das Bewußtsein eine Art Luxus der Natur, den die Evolution sich nur leisten kann, wenn gerade nichts Wichtigeres zu tun ist, – ein Mußephänomen im Überlebenskampf sozusagen. Doch so betrachtet, erscheint die ganze menschliche Kultur – eine reine Bewußtseinsleistung! –, mithin wir selbst, als ein einzigartiger Luxus, als eine Freisetzung von den unmittelbaren Zwecken und Zwängen des biologischen Daseins. Andererseits haben wir nur allzu gut gesehen, wie stark das Bewußtsein von den subcorticalen Hirnarealen nicht einfach nur abgeschaltet, sondern geradewegs

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in Dienst genommen werden kann: In solchen Momenten «sind» wir nur noch, was Angst, Schmerz, Haß und Hunger oder Geborgenheit, Lustgefühl, Liebe und Behaglichkeit uns vorschreiben, und die Macht dieser Vorschriften kann jederzeit in die neurotische Realitätsverleugnung oder in den Realitätsersatz des Wahnsinns treiben. Doch nicht erst bei der Auswahl des Wahrgenommenen machen sich vorbewußte Entscheidungen geltend. Recht ausführlich haben wir die Mechanismen des Gesichtssinnes betrachtet und dabei so erstaunliche Feststellungen getroffen wie die, daß unser Gehirn – etwa beim Betrachten der Kimm durch ein einäugiges Tubusfernrohr – den Informationsstrom eines Auges ohne Schwierigkeiten wegblenden kann: wir sehen etwas, das gar nicht erst ins Bewußtsein gelangt (Bd. I 438– 439); – in diesem Falle ist es offenbar eine Konzentrationsleistung des Bewußtseins selbst, daß die Aufmerksamkeit auf die nur eine Hälfte des Gesichtsfeldes beschränkt wird. Wenn wir aber vor der Aufgabe stehen, ein Reizangebot deuten zu müssen, dessen Musterbildungen miteinander nicht vereinbar sind (vgl. Abb. B 50), so nützt keine Konzentrationsleistung des Bewußtseins, und wir müssen akzeptieren, daß die visuelle Verarbeitung in den verschiedenen Sehzentren eigentümlicherweise dahin führt, eine einzige Deutung als Inhalt der Wahrnehmung ins Bewußtsein treten zu lassen: wir beobachten «lieber» eine gewisse «Unwahrheit» als die wahre Ungewißheit! Wir können auch mit keiner Konzentrationsleistung verhindern, daß allein durch die Ermüdung der Sehzellen die räumliche Wahrnehmung «springt» und unser Gehirn nah und fern in fast rhythmischen Schwingungen entgegengesetzt interpretiert (vgl. Bd. I 444– 445). Ja, daß es überhaupt möglich ist, räumlich (dreidimensional) zu sehen, geht, wie damals erläutert (vgl. Bd. I 430– 437; Abb. B 49), auf die Integrationsleistung beider Hirnhemisphären zurück, die über das Corpus callosum und die Commissura anterior miteinander verbunden sind. Ohne den visuellen Input in den verschiedenen Sehzentren (vgl. Abb. B 43; B 44), mithin ohne die neuronale Erzeugung von Helligkeitswerten, Formen, Bewegungen, Farben und perspektivischen Festlegungen, wäre ein bewußtes Sehen unmöglich. Hierzu gibt es näherhin zwei Hauptbahnen, in denen die weitere Informationsverarbeitung sich bündelt: die ventrale Bahn, die zum Schläfenlappen verläuft und die Frage beantwortet, was es zu sehen gibt, und die dorsale Bahn, die zum Scheitellappen führt und auf die Frage antwortet, wo das Gesehene sich befindet (vgl. Abb. B 46). Vor allem aber ist das Bindungsproblem zu lösen: welche Daten gehören eigentlich zu einem Gegenstand (vgl. Abb. B 55) oder richtiger gefragt, wie erzeugt das Gehirn inmitten der eingehenden Informationen «sein» Wahrnehmungsobjekt (vgl. Bd. I

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452 –456)? Das ist möglich, sagten wir damals, durch die Synchronisation von Schwingungen zwischen einer Vielzahl neuronaler Verbände in beiden Hirnhälften, und wir vermuteten bereits, daß – entsprechend der Erkenntnistheorie immanuel kants – die Konstituierung der Einheit eines Gegenstandes identisch sei mit der Konstituierung der Einheit des Bewußtseins selbst (vgl. Bd. I 439 –440; 446– 451; 457–458). Daran schließt sich natürlich direkt die Frage an, wie wir uns ein Sehen ohne Bewußtsein überhaupt vorstellen müssen: Wie sehen Lebewesen ohne ein Bewußtsein, das es ihnen ermöglichen könnte, ihre visuellen Wahrnehmungen (ihre internen Repräsentationen) in den «Arbeitsraum» eines Bewußtseins zu stellen? – Uns selber eingeschlossen: Wie sehen wir ohne Bewußtsein? – das Sehen in dieser Frage stellvertretend für alle anderen Sinne genommen. Was muß unbedingt an Prozessen ablaufen, damit ein bewußtes Erleben zustande kommt? Daß es möglich ist, ohne Bewußtsein im Sinne einer Integrationsleistung des Cortex zu sehen, demonstrieren zum Beispiel die Frösche: wie alle Lurche (Amphibien) besitzen sie keine Hirnrinde (Cortex), doch das hindert sie nicht, ein vorüberfliegendes Insekt wahrzunehmen und seine Geschwindigkeit, Flugrichtung und Entfernung so präzise zu bestimmen, daß sie durch Vorschnellen der Zunge die begehrte Beute einfangen können. (Vgl. volker storch – ulrich welsch: Systematische Zoologie, 514.) «Niedere Säugetiere können Objekte auch dann noch aufgrund visueller Anhaltspunkte lokalisieren, wenn ihnen der Neocortex vollständig entfernt wurde.» (richard f. thompson: Das Gehirn, 464) Warum soll es also nicht auch dem Menschen möglich sein, etwas zu sehen, ohne sich dessen bewußt zu sein? – Tatsächlich existieren vielfältige Formen echten Blindsehens, doch bedürfen sie differenzierter Erklärungen. (Vgl. lionell naccache – stanislas dehaene: An der Schwelle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Gehirn und Erleben, 2/2006, 14 –21.) 1974 veröffentlichten larry weiskrantz und sein Team den Fall eines jungen Mannes, der als D. B. bekannt wurde: Durch einen operativen Eingriff am Hinterhauptslappen der rechten Hirnhälfte hatte er so gut wie seine gesamte rechte primäre Sehrinde (das Feld V 1) verloren, und so zeigte er – wegen der Kreuzung der Sehbahnen im Chiasma opticum – eine linke Hemianopsie (griech.: he¯mi – halb, an – nicht, die ópsis – Sehen): er konnte in der linken Hälfte seines Gesichtsfeldes nicht sehen. Damit hatte man rechnen müssen. Doch überraschenderweise, obwohl D. B. (bewußt) nichts sah, «konnte er im blinden Bereich seines Gesichtsfeldes auf Lichter deuten, Bewegungen entdekken, die Orientierung von Gitterlinien bestimmen und einfache Formen wie X

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und O unterscheiden». (michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 39) Deutlicher läßt sich nicht zeigen, daß wir etwas sehen können, ohne zu wissen, daß wir es sehen; anders gesagt: die visuelle Wahrnehmung ist nicht identisch mit der subjektiven Verfügbarkeit des Wahrgenommenen, – Wahrnehmung und Bewußtsein sind wohl zu unterscheiden. Die Frage, die sich aus diesem eigentümlichen Tatbestand ergibt, lautet natürlich, wie dieses Phänomen erklärt werden kann und was spezifisch dazu gehört, um das Sehen zu einem bewußten Vorgang zu machen. (Zur Fallbeschreibung von D. B. vgl. auch richard f. thompson: Das Gehirn, 464.) Die Deutung, die derzeit für das Blindsehen am meisten favorisiert wird, nimmt an, daß die visuellen Informationen ihren Weg nicht unbedingt über das primäre Sehzentrum (V 1) im Okzipitallappen nehmen müssen, sondern daß es Pfade gibt, die von subcorticalen Strukturen direkt zu den sekundären visuellen Rindenfeldern führen, möglicherweise von einem Hirnkern in der Nähe des seitlichen Kniehöckers (des Corpus geniculatum laterale), über den, wie wir wissen, die Fasern des Sehnervs (des Tractus opticus) ziehen (vgl. Bd. I 274 –275; Abb. B 33; zur Projektion vom Colliculus superior zum Pulvinar und von dort zum posterior-parietalen Cortex vgl. richard f. thompson: Das Gehirn, 464– 465). Das könnte erklären, wieso Informationen von der Netzhaut zumindest teilweise die übergeordneten (sekundären) Cortices und Assoziationscortices des visuellen Systems zu erreichen vermögen, ohne (über die ventrale und dorsale Bahn) die corticalen Areale zu passieren, in denen das bewußt wahrgenommene Bild (das Was und das Wo der visuellen Wahrnehmung) erzeugt wird. (Vgl. michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/ 2004, 40.) Diese Annahme läßt sich durch weitere Befunde der Läsionsforschung erhärten. Anders als beim Blindsehen (auf Grund einer Schädigung der primären Sehrinde) gibt es Fälle von Agnosie (griech.: a – nicht, die gno¯sis – Erkennen; auf Grund einer Schädigung außerhalb der primären Sehrinde), die auf Störungen im unteren Temporallappen basieren und die ventrale Was-Bahn betreffen. Manche dieser Patienten sind außerstande, Gesichter zu erkennen, – sie leiden unter einer Prosopagnosie (griech.: das próso¯pon – Gesicht). Wie fMRT-Untersuchungen ergeben haben, liegt hier eine Störung der ventralen Bahn an einer genau bestimmbaren Stelle vor: an der fusiformen Windung (dem Gyrus fusiformis, lat.: fusus – ausgedehnt; die langgestreckte Windung; Bd. I 417). Das Merkwürdige ist, daß ein Prosopagnostiker beim Anblick eines vertrauten Gesichtes, etwa seiner Geliebten, physiologisch deutlich bemerkbare Veränderun-

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gen zeigt, die ganz dem Zustand freudiger Erregung entsprechen: sein Herz schlägt schneller, die Leitfähigkeit seiner Haut verändert sich, und doch weiß er explizit nicht, daß es das Gesicht seiner Geliebten ist, das er sieht: «der Körper . . . erkennt – obgleich der Geist nicht weiß.» (michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 41; zur Prosopagnosie vgl. auch john p. j. pinel: Biopsychologie, 207–209.) Eine zweite Form der Agnosie besteht in der Unfähigkeit, unbelebte Objekte (in Größe, Form und Orientierung) bewußt zu erkennen, obwohl es doch möglich ist, den nicht mit Bewußtsein wahrgenommenen Gegenstand zu ergreifen und mit ihm sachgemäß zu hantieren. (Eine entsprechende Fallbeschreibung ist dargestellt bei john p. j. pinel: Biopsychologie, 206– 207.) Deutlich wird dabei, daß die optische Wahrnehmung selbst zwei an sich getrennte Aspekte zusammenführt, die offenbar in den beiden dorsalen und ventralen Bahnen repräsentiert sind: Es geht einmal darum, eine direkte Interaktion mit dem Objekt selbst zu ermöglichen, zum anderen darum, das Objekt im Bewußtsein zu repräsentieren. a. david milner und melvyn a. goodale (The visual brain in action) haben 1995 deshalb das duale Modell von der oberen und unteren Sehbahn, wie wir es schon kennengelernt haben (vgl. Abb. B 46), zu modifizieren versucht: Ihnen zufolge beantwortet die ventrale Bahn nach wie vor die Frage, was ich sehe, die dorsale Bahn aber beantwortet nicht die Frage nach dem Wo, sondern nach dem Wie. (Vgl. michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 41.) Auch hier sehen wir – wie bei der Schmerzempfindung, wie beim Angsterleben – zwei Bahnen in Funktion, deren eine für Bewußtsein wesentlich ist. Noch einmal wird dieser Dualismus der Informationswege durch ein gewissermaßen konträr zur Objektagnosie gelagertes Phänomen bestätigt: Es geht um Personen, bei denen nicht der Schläfenlappen, sondern bei denen beidseitig der Parietallappen geschädigt ist; solche Patienten können einen Gegenstand sehr wohl bewußt erkennen, doch leiden sie unter optischer Ataxie (griech.: a – nicht, die táxis – Bewegungssteuerung): sie haben große Schwierigkeiten, ihre Konzentration lokal auf einen Punkt ihres Gesichtsfeldes zu lenken und die räumlichen Informationen zu nutzen: «Daher können die Patienten ihre Hand dem Gegenstand nicht mehr nähern und die Finger (sc. nicht mehr, d. V.) an dessen Größe, Form und Orientierung anpassen.» (michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 42) Die Objektagnosie ebenso wie die optische Ataxie passen also gleichermaßen in das duale Modell von der ventralen und der dorsalen Sehbahn.

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Aus all dem läßt sich die Frage nach der Konstituierung von Bewußtsein wieder ein Stück genauer beantworten. Ein Frosch kann nach einer Fliege schnappen, ohne bewußt zu wissen, worum es sich bei dem Zielobjekt handelt: bei vollkommener «Objektagnosie» kann er den Ort, da sich das kleine sich bewegende Insekt befindet, hinreichend genau lokalisieren, um es zu fangen – das genügt; wohl irgendwie vergleichbar im Gehirn eines höheren Säugetiers ist die Situation bei einer Störung der ventralen Sehbahn (in den übergeordneten – sekundären – visuellen Cortexarealen sowie in den Assoziationscortices im Grenzbereich zwischen Okzipital- und unterem vorderem Temporallappen); eine Störung der dorsalen Bahn (in den entsprechenden übergeordneten – sekundären – visuellen Cortexarealen im Grenzbereich zwischen Okzipitalund Parietallappen) hingegen erschwert oder verhindert die Antwort auf das Wo eines wahrgenommenen Objektes und das Wie der direkten Interaktion mit ihm. In jedem Falle zeigt sich, daß visuelle Wahrnehmung etwas anderes ist (oder sein kann) als das Bewußtsein von dem, was man sieht. Wie und Wo aber entsteht dann Bewußtsein? Im Falle des Blindsehens von D. B. führte eine Läsion der primären Sehrinde (Feld V 1) zu einem kompletten Ausfall der bewußten Wahrnehmung, und so könnte man – fälschlich – denken, das Bewußtsein werde im Feld V 1 selbst erzeugt; doch eine Bedingung von etwas ist nicht schon die Ursache von etwas, und es spricht alles dafür, daß das Korrelat des bewußten Sehens in einer gleichzeitigen Aktivierung der ventralen Sehregionen und bestimmter Bereiche des frontalen Cortex zu finden ist. (Vgl. michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 43.) So trainierte der uns schon von der Synchronisationstheorie her bekannte nikos k. logothetis (Bd. I 457–458) in Tübingen Affen darauf, nach einem wahrgenommenen Reiz (Gesichter oder Blüten) je einen von zwei Knöpfen zu drücken. Da für die Wahrnehmung des Was einzig die ventrale Sehbahn im unteren Schläfenlappen in Frage kommt, leitete logothetis in diesem Gebiet mit Elektroden die Aktivität von Neuronen ab, die auf die Erkennung von Gesichtern spezialisiert sind (im Areal VTE); und tatsächlich reagierten die Neuronen genau dann, wenn der Affe den Knopf für Gesichter drückte, und sie blieben stumm, wenn er den Knopf für Blumen betätigte. «Man könnte sagen, die betreffenden Zellen des unteren Schläfenlappens antworteten ‹genau wie der Affe›. Offenbar codieren sie dieselbe Information wie das Bewusstsein des Tieres.» (michel imbert: Sehen ohne zu wissen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 43) Andererseits kommt das Bewußtsein nicht allein durch eine Aktivierung der ventralen Bahn zustande; vielmehr zei-

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gen die bildgebenden Verfahren (bei Sprachexperimenten mit Menschen), daß «ein Denkinhalt dann bewusst» wird, «wenn gleichzeitig ventrale Sehregionen und bestimmte Areale des Stirnhirns aktiviert werden. – Demnach sitzt das Bewusstsein nicht in einer bestimmten Region der Hirnrinde. Es beruht vielmehr darauf, dass sich neuronale Repräsentationen von Objekten für kurze Zeit zusammenschließen. Diese Repräsentationen sind selbst wieder dynamischer Natur: Sie beruhen auf Neuronenensembles, die nach einem räumlich-zeitlich exakt definierten Muster aktiv werden und sich über das gesamte Gehirn erstrecken.» (michel imbert: A. a. O., 43) Es scheint, als sei in unserem Kopf auf drei weit verteilten Bahnen der gesamte Weg noch erhalten, der in der Evolution einmal vom Sehen «Wo» (oder «Wie») zum Sehen «Was» und schließlich zum bewußten Sehen geführt haben mag. Mit all dem könnten wir schon recht zufrieden sein, wenn wir bislang nicht die Farbwahrnehmung außer acht gelassen hätten, von der wir schon wissen, daß sie auf den höheren Stufen der Entwicklung der Säugetiere sozusagen ein zweites Mal erfunden werden mußte, – sie trat gewissermaßen als eine neue Erscheinung in das bereits vorhandene Bewußtsein (Bd. I 384 –386). Daran liegt es vielleicht, daß gerade die Beschäftigung mit dem Farbsehen zu einer Einsicht geführt hat, die sich auf alles bewußte Erleben ausdehnen läßt und die Besonderheit von Bewußtseinsvorgängen in einem noch einmal anderen Licht erscheinen läßt; es zeigt sich nämlich, daß für ein visuelles Erleben die Aktivierung bestimmter neuronaler Areale völlig ausreichend ist und daß diese Aktivierung – ähnlich wie beim Blindsehen – auch ohne die Tätigkeit des primären visuellen Cortex (Feld V 1) zustande kommen kann: es ist möglich, etwas zu sehen, ohne sich bewußt zu sein, daß man es sieht, und es ist möglich, etwas bewußt zu sehen, ohne es «wirklich» (auf Grund eines externen Inputs) zu sehen. (Vgl. jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 66.) Zur Untersuchung dieser These besonders geeignet sind Wort-Farb-Synästhetiker – Menschen also, die Worte in Farben sehen (von griech.: syn – zusammen, die aísthe¯sis – Wahrnehmung, Empfindung; Verschmelzung zweier Sinnesreize). Als 1995 eraldo paulesu mit seinem Team in London mit Hilfe der PET die Hirnaktivität von Wort-Farb-Synästhetikern untersuchte, fand er den Grund für dieses eigenartige Phänomen: bei Wort-Farb-Synästhetikern werden – im Unterschied zu Nicht-Synästhetikern – beim Hören von Worten die übergeordneten (sekundären) Cortexareale und die Assoziationscortices des visuellen Systems aktiviert. (Vgl. jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 63.) Menschen, die

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so empfinden, erleben die Welt auf charakteristische Weise verschieden vom «normalen» Vernehmen von Worten und Sehen von Farben. «Was mich an einem Menschen als Allererstes in Bann schlägt», erklärte ein Synästhetiker, «ist die Farbe seiner Stimme. V. hat eine gelbe, bröckelige Stimme, wie eine Flamme, aus der winzige Feuerfäden herausfasern. Manchmal bin ich davon so gefesselt, dass ich den Inhalt der Worte nicht erfasse.» (Zit. n. jeffrey gray: A. a. O., 64.) Nun sind eigentlich nur zwei Möglichkeiten zur Begründung einer solchen Erlebnisweise denkbar: Entweder stellt eine Synästhesie das Resultat erlernter assoziativer Verknüpfungen zwischen den Verarbeitungsbereichen für (gelesene oder gehörte) Wörter mit den visuellen Regionen der Farbwahrnehmung dar, oder es bestehen – auf Grund einer genetischen Mutation – von vornherein anomale Nervenverbindungen zwischen auditivem und visuellem System. Obwohl die letztere Hypothese sich experimentell bislang nicht direkt überprüfen läßt, wird sie doch indirekt durch assoziative Trainingsversuche bestätigt, die man mit Nicht-Synästhetikern gemacht hat: sie führten zu nichts! Ausschließen läßt sich des weiteren auch die Möglichkeit, daß Synästhetiker vielleicht eine besondere Begabung für das assoziative Lernen besäßen. Mithin bleibt nur die Annahme, daß die Hör- und Sehwahrnehmung bei Wort-FarbSynästhetikern von Geburt an durch feste Bahnen miteinander verknüpft werden oder schon sind. Wie diese angenommenen Bahnen verlaufen, ließ sich mit fMRT-Studien genauer bestimmen. (Vgl. jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 64– 65.) Danach aktivieren gesprochene Worte im Gehirn von Synästhetikern tatsächlich gerade diejenige Region des visuellen Cortex, die für die Farbwahrnehmung zuständig ist, also ein Feld im Gyrus fusiformis, das dem visuellen Areal V 4 bei Makaken entspricht (lat.: fusus – ausgedehnt; «die langgestreckte Windung»; vgl. Bd. I 417; vgl. semir m. zeki: Das geistige Abbild der Welt, in: Gehirn und Bewußtsein, 35). Dabei bleiben das Feld V 1 (die primäre Sehrinde) sowie das Feld V 2 (im sekundären visuellen Cortex) vollkommen stumm; beim Anblick farbiger Sehreize aber werden diese Areale – natürlich – aktiv; die bloße Vorstellung von Farben hingegen aktiviert keines der genannten Felder. (Vgl. Abb. A 30; B 39, B 43 und B 44; vgl. jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 66.) Präziser noch: es ist bei Synästhetikern das linke Feld V 4, das beim Hören von Worten erregt wird, während Farben erstaunlicherweise dieses Feld nicht aktivieren; statt dessen reagiert das rechte Feld V 4 bei Synästhetikern auf Farben, nicht aber auf Worte; bei «normalen» Personen wird das Feld V 4 beidseitig beim Hören von Worten in keiner Weise «angesprochen», aber er-

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wartungsgemäß beidseitig beim Farbsehen. (Vgl. jeffrey gray: A. a. O., 64 –66.) In unserem Zusammenhang bestätigt sich damit nicht nur die Vorstellung von semir m. zeki über das System für die Wahrnehmung von Farbe (und von Form und Farbe) im Feld V 4, die wir früher bereits dargestellt haben (vgl. Abb. B 43 und B 44); für unsere Suche nach Bewußtsein besagt dieses Resultat, daß es zur bewußten Wahrnehmung eines visuellen Eindrucks (in unserem Falle von Farbe, aber entsprechend auch für die bewußte Wahrnehmung etwa von Bewegungen) vollauf genügt, daß «das dafür zuständige Modul des visuellen Systems aktiviert wird». (jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 66) Darin liegt offenbar auch die Erklärung dafür, wie visuelle Halluzinationen (zum Beispiel im LSDRausch, bei – religiös gedeuteten – visionären Erlebnissen oder in schizophrenen Erscheinungen) möglich sind: Es genügt zur Erzeugung von Farbhalluzinationen eine Erregung des Areals V 4; Objekthalluzinationen gehen einher mit der Aktivierung eines anderen Bereichs der fusiformen Windung in der ventralen Was-Bahn; Trugbilder von Gesichtern entstehen bei Aktivierung einer Hirnpartie ganz in der Nähe des Gyrus fusiformis (im VTE); Bewegungen werden vorgetäuscht bei einer Aktivierung des Areals V 5; und in all dem bleibt die primäre Sehrinde (V 1) gänzlich unbeteiligt. (Vgl. Abb. A 30; B 39; B 43 und B 44; jeffrey gray: A. a. O., 66– 67.) Ganz vergleichbar kann es zu akustischen Halluzinationen kommen, indem die primäre Hörrinde (die in der heschlschen Querwindung – nach dem Wiener Anatomen richard heschl, 1824–1881 – in der oberen Temporalwindung liegt; vgl. Abb. A 25; A 32) der linken (sprachdominanten) Hirnhemisphäre vermutlich durch Rückkopplungsschleifen aus höheren Cortexarealen aktiviert wird. (Vgl. wolf singer: Vom Gehirn zum Bewußtsein, in: W. Singer: Der Beobachter im Gehirn, 72.) «Wenn dieses primäre Areal in der sprachkompetenten Hemisphäre mit aktiviert wird, werden die selbsterzeugten Erregungsmuster offenbar so wahrgenommen, als kämen sie von draußen. Werden diese primären Areale nicht mit aktiviert, wie es bei Gesunden der Fall ist, wenn sie stumme Sprache sprechen, bleibt die Wahrnehmung des Gesprochenen als Selbsterzeugtes erhalten.» (wolf singer: A. a. O., 72) Aus diesen Befunden nun ergibt sich eine wichtige Folgerung für die Neurologie ebenso wie für die philosophische Frage nach der «Wahrheit» unserer Erkenntnis. Unter dem Einfluß des Behaviorismus, aber auch unter dem Vorbehalt eines rein «funktionalistischen» (oder reduktionistischen) Grundkonzeptes in der Neurologie, schien es geboten, die subjektiven Wirkungen von

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Wahrnehmungen (die Qualia – Plural von lat.: das quale – das wie Beschaffene; also die subjektiven Aspekte der mit den Wahrnehmungen verbundenen Erfahrungen, mithin die Eigenschaften der Erfahrung, die nur dem wahrnehmenden Subjekt zugänglich sind und sich anderen kaum mitteilen lassen) bei der Erforschung des Bewußtseins auszuklammern, da sie einer objektiven naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht zugänglich seien; für beobachtbar galten – wie schon erläutert – einzig die Verhaltensreaktionen einer Person auf eine bestimmte Wahrnehmung; die Person selber hatte dabei als ein funktionales System aus «Inputs» und «Outputs» zu gelten – als «ein Bündel von Perzeptionen», hätte david hume gesagt (vgl. Bd. I 46; vgl. david hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 12. Abschn., S. 192); vorausgesetzt war stillschweigend, daß unterschiedliche Qualia – wie Worte und Farben – auch verschiedenen Eingaben und Ausgaben von Informationen und Reaktionen entsprächen. (Vgl. jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 68; élisabeth pacherie: Mehr als ein Bewusstsein, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 6.) An dieser Stelle aber zeigt das Phänomen der Synästhesie nun etwas ganz anderes: «Wenn eine visuelle und eine auditive Funktion auf dasselbe Quale konvergieren . . ., kann man unmöglich weiter behaupten, dass die Qualia nichts weiter seien als die ihnen zu Grunde liegenden Funktionen und Prozesse. Genauso absurd wäre es zu sagen, die Temperatur sei identisch mit dem Flüssigkeitsstand in einem Thermometer. Alles deutet vielmehr auf eine eigenständige Existenz der Qualia hin . . . Demnach existiert der bewusste Zustand ‹Sehen› auf irgendeine Weise per se, unabhängig von der visuellen Wahrnehmung durch das Auge.» (jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 68) Mit anderen Worten: Es existiert ein bewußtes (Farb)Sehen unabhängig von der visuellen Wahrnehmung – eine Tatsache, die jeder auf Grund seiner eigenen Erfahrungen im Traum wird bestätigen können. Oder noch anders gesagt: Bewußte Wahrnehmungen sind möglich, indem das Gehirn sich unabhängig von äußeren Reizen einfach mit sich selbst beschäftigt; und das wiederum offenbart uns eine andere wichtige Seite des Bewußtseins überhaupt: Es bildet die erste Stufe eines geistigen Vorgangs (in philosophischem Sinne), der losgelöst von äußeren Einflüssen aufzutreten vermag. Dieser Feststellung kommt eine prinzipielle Bedeutung zu. Bisher haben wir betont, daß im Bewußtsein die Verarbeitung verschiedener Sinnesreize in getrennten Modulen des Gehirns integriert werde, indem der präfrontale Cortex bestimmte Wahrnehmungsinhalte aus dem Datenstrom isoliere und für die

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(kurze) Zeit des Arbeitsgedächtnisses festhalte, um sie analysieren, bewerten und gegebenenfalls im Gedächtnisspeicher ablegen zu können; jetzt aber zeigt sich, daß mit dem Bewußtsein eine Loslösung von der äußeren Realität und der Aufbau einer inneren Realität einhergeht, die – in Form von Traum, Halluzination oder eben: von Synästhesie – ins geradewegs Phantastische geraten kann. Die Evolution ist offenbar nicht dabei stehengeblieben, im Gehirn von Säugetieren Strukturen auszubilden, die aus Lichteinfall und Lauten eine Reihe von Informationen über die Außenwelt zu gewinnen erlauben; sie ermöglicht es unter Umständen auch, daß die an sich getrennte Wahrnehmungen verarbeitenden Module derart miteinander verknüpft werden, daß verschiedene Aspekte der Realität sich auf eine neue, überraschende Weise zusammenfügen. Ja, womöglich offenbart uns das Phänomen der Synästhesie sogar etwas von der Art und Weise, wie die Evolution gerade dabei ist, den «Arbeitsraum» des Bewußtseins um einen neuen Zustand zu erweitern, und sie zeigt uns damit zugleich, wie sie wohl auch in der Vergangenheit den Radius bewußter Wahrnehmung ständig ausgedehnt hat. «Logisch betrachtet haben Wort-Farb-Synästhetiker vielleicht nur den ersten Schritt zu einer evolutiven Entwicklung hinter sich gebracht, durch die es zukünftig ganz normal wird, Wörtern Farbqualia zuzuordnen – wenn dieser Weg nicht bereits mit der Entstehung des Sehsinns begonnen hat. – Die Erforschung von Synästhesien . . . offenbart vor allem, dass die Bewusstseinszustände wahrscheinlich eine eigene Existenz führen und ihrer eigenen evolutiven Dynamik unterliegen.» (jeffrey gray: Mit den Ohren sehen, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 69) Doch auch das ist noch nicht alles. Selbst wenn es sein kann, daß die Synästhesie das Beispiel einer gerade beginnenden Bewußtseinserweiterung des menschlichen Gehirns darstellt, so hat ein Synästhetiker doch mit seinem Bewußtsein selbst keinen Einfluß darauf, wie er Worte wahrnimmt – ob er ihre «Realität» als rot, blau oder wie auch immer zu betrachten gewillt ist. Andererseits haben wir bereits gehört, daß das Gehirn über die Enkephalin-Interneuronen und die absteigenden Schmerzkontrollbahnen in einem gewissen Rahmen «entscheiden» kann, wieviel Schmerzinformation es aufnimmt (vgl. Abb. B 70). Wir wissen des weiteren schon um die Bedeutung des präfrontalen Cortex für die bewußte, kognitive Informationsverarbeitung, durch die Reize allererst analysiert und interpretiert werden können (vgl. Abb. B 114, B 115 sowie Abb. D 4). Wir sind also jetzt gut darauf vorbereitet, zu hören, daß das Bewußtsein in gewissem Umfang tatsächlich über die Möglichkeit verfügt, selbst zu entscheiden, was es für «wirklich» nehmen will und was nicht; dabei geht es nicht nur, wie bislang, im wesentlichen um die Auswahl und Bearbeitung des

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Wahrgenommenen, sondern recht eigentlich um die Konstituierung des Realitätscharakters des Wahrnehmens insgesamt. Das klassische Probierfeld für die Unterscheidung von (bloßer) Vorstellung und (tatsächlicher) Wahrnehmung bietet heute die virtuelle computererzeugte Cyberwelt (von engl.: cybernetics – Kybernetik; lat.: gubernare – steuern) an. Wenn Bewußtsein darin besteht, uns selbst und die Welt ringsum wahrzunehmen, woher wissen wir dann, wann wir gerade uns selbst und wann wir etwas außerhalb von uns wahrnehmen? Dieses quer durch die Jahrhunderte der Philosophiegeschichte zwischen erkenntnistheoretischen Idealisten («Bewußtsein ist Sein») und Realisten («Sein ist Bewußtsein») hin und her diskutierte, doch mit logischen Argumenten offenbar nicht zu lösende Problem läßt sich erneut mit den experimentellen (empirischen) Verfahren neurologischer Forschung einer Klärung näher bringen; denn es zeigt sich, wie sehr die Kriterien, nach denen unser Bewußtsein «Realität» definiert, durch vorgängige Erfahrungen verändert werden können. Im Jahre 1973 bereits konnte gunnar johansson in Stockholm zeigen, daß wir eine natürliche Bewegung ohne Mühe von einem Animationsvorgang unterscheiden können. Wenn wir zum Beispiel sehen, wie Lichtpunkte sich im Dunkeln bewegen, wissen wir sogleich, ob sie sich auf dem Körper eines Lebewesens befinden oder ob sie von einer künstlichen Mechanik in Bewegung versetzt werden; offenbar gibt es so etwas wie ein Gesetz der biologischen Bewegung, und der Realitätsgrad einer Animation (oder unserer Vorstellung!) hängt unter anderem vom Ausmaß der Übereinstimmung mit diesem «Gesetz» ab. Insbesondere gilt dies für unsere Eigenwahrnehmung (für unsere Propriorezeption, von lat.: das proprium – das Eigene, recipere – aufnehmen). Man kann im Cyberraum einen «Avatar», eine im Computer generierte Menschenfigur (von sanskr.: avata¯ra – «Herabstiege», Inkarnation), erzeugen, der den Körper der Versuchsperson in der virtuellen Welt repräsentieren soll. Damit der Proband sich mit seinem «Avatar» eins fühlt, müssen seine eigenen Bewegungen und die seines Doppelgängers möglichst genau miteinander verknüpft werden; je mehr diese Verschmelzung gelingt, spricht man von Präsenz: sie ist das Gefühl, sich in der virtuellen Cyberwelt aufzuhalten und nicht in der realen physikalischen Wirklichkeit. Allerdings berechnet unser Gehirn jeweils im voraus die Veränderungen, die in der wahrgenommenen Umwelt eintreten werden, wenn unser Körper diese oder jene Bewegung vornimmt, und es vergleicht jeweils seine Voraussagen mit den tatsächlichen Wahrnehmungen. Daher kann es im Cyberraum leicht zu einer Art Seekrankheit kommen, wenn die eingehenden Informationen widersprüchlich werden. Stets aber wird das Gehirn

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versuchen, Kohärenz herzustellen, indem es notfalls die Unstimmigkeiten in den Eingangsinformationen einfach überspielt. (Vgl. isabelle viaud-delmon – roland jouvent: Zwischen virtuell und real, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 71–73.) «Der Organismus passt sich an und rekalibriert seine Systeme der Wahrnehmung, ohne dass uns dies bewusst ist.» (isabelle viaud-delmon – roland jouvent: A. a. O., 73) So werden Versuchspersonen zum Beispiel die Größe eines Objektes, das sie einerseits auf einem Bildschirm sehen und das sie andererseits gleichzeitig verdeckt mit den Händen ertasten, für gerade so groß einschätzen, wie es einem Wert zwischen gesehener und ertasteter Größe entspricht (selbst die von zwei unterschiedlichen Objekten stammenden widersprüchlichen Größeninformationen werden dabei nicht als miteinander unvereinbar erkannt). Das Gehirn schafft sich auf diese Weise einen eigenen Referenzrahmen für die Interpretation seiner Wahrnehmungen, der von dem «realen» Rahmen deutlich abweicht. Aus dem Cyberraum zurückgekehrt, nehmen wir die Erfahrungen aus der virtuellen Welt mit. (Vgl. isabelle viaud-delmon – roland jouvent: A. a. O., 73–74.) Und eben darin liegen die psychomanipulativen und -therapeutischen Möglichkeiten: Da die virtuelle Welt an die Stelle der realen Welt tritt, kann es, wie in schizophrenen Wahnzuständen, zu einer Derealisation und zu einer Depersonalisation kommen; – es ist gerade der Weg, auf dem man im amerikanischen Militär Piloten, Panzerschützen und Infanteristen in realitätsenthobene Killerprofis verwandelt; es kann aber auch sein, daß die virtuellen Erfahrungen sich (verhaltens)therapeutisch nutzen lassen; – ein Patient, der unter einer Spinnenphobie leidet (vgl. Abb. B 115), sieht sich (seinen Avatar) mit einer Spinne auf der Schulter, und er kann nun lernen, selbst darüber zu entscheiden, welch einen Realitätsgrad beziehungsweise welch eine Bedeutung er dem Anblick der Spinne beimessen will. (Vgl. isabelle viaud-delmon – roland jouvent: Zwischen virtuell und real, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 74.) Wenn wir früher schon immer wieder betont haben, die langsame, corticale Angstbahn habe den Zweck, die von der «Expreßleitung» Thalamus-Amygdala eingeleitete Reaktion noch einmal «bewußt» auf ihre Realitätsangemessenheit hin zu überprüfen, so ist es jetzt offensichtlich, daß diese Funktion mit der Arbeit des Bewußtseins identisch ist. Es war sigmund freud, der die Funktion des (bewußten) Ich als Realitätskontrolle bezeichnete, und so entsteht hier schon die Frage, wie denn Bewußtsein und Ich(bewußtsein) miteinander zusammenhängen; doch davon wenig später erst.

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ε) Komponenten des Bewußtseins oder: Das Erwachen des Spiegels Nachdem wir das Bewußtsein als eine Art «globalen Arbeitsraum» betrachtet haben und das «Arbeitsgedächtnis» (nach der Theorie von patricia s. goldman-rakic) als eine wesentliche Bedingung für die Entstehung des Bewußtseins hervorgehoben haben, überrascht es uns nicht, daß subjektiv zum Bewußtsein eigentlich nur das Gefühl der «Präsenz» gehört (selbst wenn, wie im Fall eines «Avatars», dieses Empfinden täuschen kann und man nicht bei sich selbst, sondern bei einem imaginativen Ich sich aufhält); dann aber läßt sich mit jean delacour (Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 12) recht hilfreich unterscheiden zwischen den «‹großen Bewusstseinszuständen› einerseits und den darin auftretenden Gedanken und bewussten Einzelwahrnehmungen andererseits». Die großen Bewußtseinszustände «wiederholen sich im Rahmen des Tag-NachtZyklus und können Stunden dauern», und sie können in zwei Formen auftreten: im Wachen wie im Träumen. Demgegenüber währen die Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, deren wir im Rahmen eines großen Bewußtseinszustandes inne werden, zumeist nur Sekunden; und es ist daher die Frage, was man untersuchen will: das «große» Bewußtsein oder das «Bewußtsein von etwas». Klar ist, daß zwischen dem großen Bewußtsein und den bewußten Einzelwahrnehmungen ein Zusammenhang besteht: ohne das große Bewußtsein gibt es keine bewußten Einzelwahrnehmungen, und diese wiederum beeinflussen jenes; zudem wirkt das Bewußtsein auf unbewußte Prozesse ein, die ihrerseits das Bewußtsein mitgestalten. Ganz deutlich ist dieser Zusammenhang beim Sprechen, wo «der bewusste Gebrauch der Sprache den unbewussten Einsatz von linguistischen Subprozessen» aktiviert, «die automatisch die Syntax festlegen und das Vokabular für das Gespräch bereitstellen». (jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 12) Oder nehmen wir als ein anderes Beispiel einen «einfachen» Bewegungsvorgang – wir laufen einen Weg hinunter: zweifellos erfolgt die motorische Steuerung, so komplex sie auch ist, ohne Bewußtsein. (Vgl. christof koch: Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 349 –350.) Spätestens jedoch wenn die Maschinerie ins Stocken kommt, zum Beispiel weil wir uns versprechen oder verstolpern, müssen wir das Bewußtsein dem Sprachvorgang oder dem Bewegungsablauf selbst zuwenden, um den Störfall zu beheben. Wirklich von Bewußtsein begleitet sein müssen wohl stets «die ersten

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Schritte beim Erlernen komplizierter motorischer Fertigkeiten, etwa das Erlernen des Klavierspiels oder der Bedienung der Computertastatur. Diese motorischen Fertigkeiten schleichen sich aber um so mehr aus unserer Aufmerksamkeit und unserer Bewußtheit heraus, je besser sie gelernt werden, bis sie schließlich ‹automatisch› . . . ablaufen. Lernen aufgrund gesprochener oder geschriebener sprachlicher Information, also das Aneignen von Inhalten des deklarativen Gedächtnisses (sc. hingegen, d. V.), ist ohne Bewußtsein und Aufmerksamkeit ebensowenig möglich wie Nachahmungslernen.» (gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 220) Überhaupt, sagten wir bereits, ist das Bewußtsein nicht einfach da oder nicht da, sondern es tritt graduell – gestuft – auf; es kann des weiteren konzentriert-verengt einem bestimmten Inhalt gewidmet sein, es kann aber auch ungerichtet ins Weite schweifen; es kann dabei spontan oder absichtsvoll seinen Inhalt wechseln; und so bleibt im Zusammenhang mit dem Auftreten von Bewußtsein vorerst zweierlei zu untersuchen: einmal die Kontinuität, die Dauer in der Zeit, die es möglich macht, längerfristig in die Zukunft hinein zu planen und in die Vergangenheit hinein Gedächtnisinhalte miteinander zu verknüpfen, und dann die Festlegung auf einen bestimmten Bewußtseinsinhalt. Generell wäre es energetisch zu kostspielig und oft sogar hinderlich, alle möglichen Aktivitäten ins Bewußtsein zu heben. Schon weil der Wachzustand einen hohen Stoffwechselumsatz verlangt, kann er keinen Dauerzustand bilden: – immer wieder müssen wir «abschalten», schlafen, uns regenerieren; zudem sind uns auch im Wachzustand die meisten physischen und psychischen Vorgänge nicht bewußt. Am Beispiel der beiden Angstbahnen sahen wir bereits, warum das so ist: Unsere bewußten Reaktionen, auf eine bestimmte Gefahr zum Beispiel, fallen in der Regel viel zu langsam (und womöglich sogar fehlerhaft) aus. Was wir da sagen, stellt im Grunde nur die Kehrseite der «Zeitlichkeit» (bzw. der Kontinuität) des Bewußtseins dar: Um eine bewußte Repräsentation bestimmter Inhalte (der Erinnerung, der visuellen Wahrnehmung, einer Schmerzempfindung etc.) zu ermöglichen, greift das Gehirn allem Anschein nach auf ein serielles Verarbeitungsverfahren zurück, das nur eine geringe Kapazität besitzt und relativ langsam abläuft. «Im Gegensatz hierzu funktioniert das Gehirn im unbewussten Modus wahrscheinlich eher parallel, viel schneller und mit einem viel größeren Datendurchsatz.» (jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 15) Dem entspricht, daß die Prozesse im Wachzustand (bzw. im REM-Schlaf) – wie schon erörtert – sowohl einen höheren Stoffwechsel als auch ein «desynchronisiertes» Elektroencephalogramm (EEG) aufwei-

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sen: weil die Neuronen unsynchronisiert feuern, bleiben die Amplituden der Hirnstromkurven kleiner und die Frequenzen werden höher; das Muster der einzelnen Aktionspotentiale (also die elektrischen Entladungssalven der Nervenzellen) ist «zufälliger» Natur; es ist nicht möglich, aus den vergangenen Entladungsintervallen vorherzusagen, wie lange das nächste Entladungsintervall ausfallen wird. «Diese Art der neuronalen Aktivität eignet sich am besten für die Übertragung von Informationen.» (jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 16) Demgegenüber ist das EEG im Non-REM-Schlaf – wie wir wissen – synchronisiert, mit großen Amplituden und geringen Frequenzen, die Entladungssalven der Nervenzellen erfolgen rhythmisch. Welch eine Rolle insbesondere der Thalamus und der Hypothalamus sowie der Hirnstamm beim «Umschalten» von Wachen auf Schlafen und umgekehrt spielen, haben wir bereits gehört, als wir uns mit dem Zwischenhirn und später mit dem Sinn von Schlafen und Träumen beschäftigt haben. (Vgl. Bd. I 102; 105; 342 –358.) Entscheidend beteiligt an allen Formen bewußten Handelns sind natürlich auch, wie wir nicht oft genug wiederholen können, die frontalen Hirnregionen. All diese Hirnstrukturen müssen zusammenarbeiten, um die Kontinuität des Bewußtseins (die «diachrone» Einheit, von griech.: diá- durch, hindurch; der chrónos – Zeit) sowie seine synchrone Einheit (auf jeden Zeitpunkt bezogene Einheit, von griech.: syn – mit; der chrónos – Zeit; gleichlaufend) zu gewährleisten. (Vgl. jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 16 –17.) Nach allem Gesagten können wir das Zusammenwirken der verschiedenen Organisationsebenen des Gehirns (schematisch vereinfacht) in der Weise darstellen, wie es in Abb. D 6 geschieht. Wie man in Abb. D 6 sieht, sind es vor allem zwei Organisationsebenen, die an der Ermöglichung von Bewußtsein beteiligt sind. Da ist einmal die aus Milliarden auf- und absteigender Nervenfasern bestehende thalamo-corticale Ebene: sie umfaßt die Relaiskerne (6) des Thalamus (4) sowie den sensorischen Cortex (2), also den hinter der Zentralfurche gelegenen (postcentralen) Cortex (vgl. Abb. A 25; A 40 und A 41); zu den Relaiskernen des Thalamus zählen das Corpus geniculatum laterale, das Corpus geniculatum mediale, der Nucleus ventralis posteromedialis und der Nucleus ventralis posterior (vgl. Abb. A 19); vor allem mit dem lateralen und dem medialen Kniehöcker haben wir uns schon mehrfach befaßt, da über ihn die visuellen (vgl. Abb. B 33) sowie auditiven (vgl. Abb. A 32) sensorischen Bahnen laufen. Alle thalamischen Kerne werden, wie man neuerdings fand, von einem System aus sogenannten Matrixzellen durch-

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Abb. D 6: Verschiedene Systeme des Gehirns, die an der Erzeugung eines bewußten Zustandes beteiligt sind

zogen, deren Ausläufer in die oberen Cortexschichten ziehen und – wie die intralaminären Kerne – diffus (großflächig) mit dem Cortex verbunden sind (während die thalamischen Umschaltkerne nur eng begrenzte sensorische Gebiete des Cortex erreichen); auf diese Weise regulieren die Matrixzellen (wie die intralaminären Kerne) den allgemeinen Aktivitäts- und Bewußtseinszustand des Cortex. (Vgl. gerhard roth: Gleichtakt im Neuronennetz, in: Gehirn und Geist, 1/2002, 40.) Im ganzen können wir also festhalten, daß die wechselseitigen Verbindungen zwischen Thalamus und Cortex (3), die sogenannten Regelschleifen des thalamo-corticalen Systems, nicht nur eine große Bedeutung bei der Informationsverarbeitung besitzen, sondern gerade auch bei der Entstehung von Bewußtsein. Zu ergänzen ist auf dieser ersten Organisationsebene auch noch ein

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Regelkreis innerhalb des Thalamus, nämlich zwischen den Relaiskernen und dem Nucleus reticularis thalami (lat.: dem Retikularkern des Thalamus), der «wie eine Schale den gesamten seitlichen Teil des Thalamus» umhüllt und «für das Zustandekommen von Aufmerksamkeit und Bewusstsein wesentlich» ist. (gerhard roth: Gleichtakte im Neuronennetz, in: Gehirn und Geist, 1/2002, 40) Der Nucleus reticularis thalami erhält Afferenzen vor allem vom Globus pallidus, aber auch aus anderen Hirnregionen, und leitet sie zu den einzelnen Thalamuskernen weiter – es kommt ihm also eine wichtige Integrationsfunktion thalamo-corticaler und cortico-thalamischer Aktivitäten zu (vgl. jochen fanghänel u. a.: Waldeyer – Anatomie des Menschen, 407–408; alfred benninghoff – detlev drenckhahn: Anatomie, II 447). Auf diesem intrathalamischen Regelkreis zwischen Relaiskernen und Retikularkern basieren insbesondere die beiden großen Bewußtseinszustände des Wachens und des Träumens während des REM-Schlafs. Eine Hemmung der Relaiskerne läßt im Thalamus und im Cortex eben jene rhythmischen Entladungssalven entstehen, die für den Schlafzustand (den Non-REM-Schlaf) charakteristisch sind; Wachen (Bewußtsein) und Träumen (REM-Schlaf) umgekehrt hängen von einer starken Erregung der Thalamus- und Rindenneuronen ab. (Vgl. jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 17.) Anders verhält es sich auf der zweiten, der subthalamischen Ebene: Hier sind die (Regulations)Mechanismen für das Wachen (Wachbewußtsein) und das Träumen (Traumbewußtsein) deutlich unterschieden. Für das Träumen spielt die Aktivität des pontinen Anteils der Formatio reticularis, wie wir seinerzeit gezeigt haben, eine große Rolle: die dort befindlichen REM-On-Neuronen, die den REM-Schlaf erzeugen, senden über Acetylcholin als Transmitter erregende Impulse in viele Hirngebiete, insbesondere ins limbische System und ins Vorderhirn (vgl. Bd. I 350 –351; Abb. B 17 und B 18). Eine Hemmung dieser Aktivität durch die Ausschüttung von Serotonin aus den Raphe-Kernen (13) und von Noradrenalin aus dem Locus coeruleus (14) bewirkt das Aufwachen, – es ist fast überflüssig, daran zu erinnern, daß diese inhibitorischen serotoninergen und noradrenergen REM-Off-Neuronen in den Raphe-Kernen und im Locus coeruleus in den Traumphasen stumm bleiben. Wachbewußtsein und Traumbewußtsein beruhen also auf zum Teil unterschiedlichen Mechanismen; in beiden Fällen aber hängt das Bewußtsein von der Aktivierung der vorderen Hirnrinde ab. Der für das Wachbewußtsein grundlegende Vorgang erfolgt durch «das aufsteigende retikuläre System (sc. ARAS; vgl. Bd. I 344; 529, d. V.) der medialen Formatio reticularis»; dadurch

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«wird der Neocortex ‹wach› gehalten, sofern im Innern des Körpers sowie in der Umwelt genügend passiert; ist alles ruhig in und um uns, so haben wir oft Mühe, die Augen aufzuhalten. Geschieht aber etwas, dann wird dies im ersten, völlig unbewußt ablaufenden, präattentiven (sc. von lat.: prae – vor, die attentio – Aufmerksamkeit; vor der Aufmerksamkeit liegenden, d. V.) Abschnitt der Wahrnehmung von den Sinnesorganen erfaßt und vom Raphe-System und vom Locus-coeruleus-System nach zwei Kriterienpaaren vorsortiert, nämlich ‹bekannt – unbekannt› und ‹wichtig – unwichtig›. Hierzu muß alles, was die Sinnesorgane erfassen, mit den Gedächtnisinhalten und deren Bewertungskomponenten (sc. im limbischen System, vor allem in Hippocampus und Amygdala, d. V.) verglichen werden.» Nur das als «unbekannt» oder als «wichtig» Eingestufte wird ins Bewußtsein weitergeleitet. (gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 229) Daß im präfrontalen Cortex wirklich alle Informationen aus den verarbeitenden Assoziationscortices beider Hirnhälften zu einem globalen einheitlichen, zeitlich und räumlich strukturierten Bewußtseinsfeld integriert werden können, das ein planvolles, situationsgerechtes Handeln ermöglicht, ist, wie wir noch einmal erinnern sollten, entscheidend dem Corpus callosum zu verdanken. (Vgl. jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 16–17; michael s. gazzaniga: Rechtes und linkes Gehirn: Split-Brain und Bewußtsein, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 28 –33.) Viel mehr läßt sich von seiten der heutigen Neurologie zur Entstehung der großen Bewußtseinszustände im wesentlichen nicht sagen. Eine andere Frage bleibt, wie es zu der selektiven Aufmerksamkeit und der bewußten Repräsentation einzelner Objekte kommt. Dabei ist natürlich die Wahrnehmung von Details gleichermaßen wichtig wie die Erfassung der Bedeutung des Gegenstandes. Allem Anschein nach bieten die bisher genannten Mechanismen – wie die Aktivierung thalamo-corticaler Neuronen oder das desynchronisierte EEG – zwar eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung, um die Erzeugung einer bewußten Aufmerksamkeitslenkung auf einzelne Inhalte zu erklären. Wir wissen bereits von den Neuronen der primären Sehrinde, daß durch ihre Verschaltung auf sogenannte Detektorzellen (zum Beispiel für senkrechte Kanten) Verarbeitungsmodule zur Erfassung einzelner Merkmale gebildet werden (vgl. Abb. B 34; B 35; B 36 und B 37). Um ein Objekt als solches zu erkennen, müssen – wie schon erörtert – besondere Felder in der ventralen Was-Bahn aktiviert werden: zum Beispiel das Feld V 4 für die Wahrnehmung von Farbe (und von Form und Farbe) oder das Feld VTE beim Anblick eines speziellen Objektes wie eines Gesichtes oder einer erhobenen Hand. (Vgl. Abb. A 30, B 43 und

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B 44.) Andererseits – wir erinnern uns – genügt eine Aktivierung von Feld V 4 oder von Feld VTE, um im Bewußtsein farbige Halluzinationen oder Trugbilder von Gesichtern zu erzeugen. Die Kombination der Einzelmerkmale wird dabei immer von einer Vielzahl gleichzeitig aktiver Zellen repräsentiert. Nicht einzelne Zellen und Zellverbände, sondern ganze Neuronen-Ensembles werden also nach einem räumlich-zeitlich exakt definierten Muster aktiv und erstrecken sich – uns auch nicht mehr neu – über das gesamte Gehirn. Gesehen haben wir zum Beispiel vorhin noch bei der Besprechung des «Blindsehens», daß ein bewußtes Sehen realer Objekte nur möglich ist, wenn zusätzlich zur Aktivierung der primären Sehrinde (Feld V 1) und der ventralen Was-Bahn des visuellen Systems gleichzeitig bestimmte Areale des frontalen Cortex aktiviert werden (vgl. Abb. B 46). Einem einzelnen Zellverband oder einer einzelnen Hirnregion ist es also nicht möglich, einen Gegenstand gleichzeitig in seinen Details zu erfassen und in seinen verschiedenen Bedeutungen zu repräsentieren. (Vgl. gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 253– 254.) «Die Wahrnehmung eines konkreten Objektes erfordert (sc. immer, d. V.) die simultane Aktivität vieler Zellverbände, die jeweils nur sehr begrenzte Aspekte kodieren, seien es Detailaspekte oder Kategorienaspekte . . ., und diese Zellverbände sind weit über das Gehirn verstreut. Nirgendwo gibt es ein einziges Zentrum, in welchem all diese Informationen zusammenlaufen.» (gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 254) Abb. D 7 versucht, die Integration der Wahrnehmung einmal am Beispiel eines Stuhls zu verdeutlichen, indem sie die getrennt in verschiedenen Modulen verarbeiteten Aspekte auflistet, die zusammenkommen müssen, um den Wahrnehmungsinhalt «Stuhl» zu erzeugen. Unter diesen Voraussetzungen meldet sich gerade im Kontext mit der Frage nach der Bildung eines einheitlichen Bewußtseins das bekannte «Bindungsproblem» noch einmal zu Wort (Bd. I 447– 448). Zu seiner Lösung folgten wir bisher der Synchronisationshypothese von Neurologen wie christoph von der malsburg; man kann in dem Zusammenhang aber auch, wie gerald m. edelman (geb. 1929) es vorschlägt (Das Licht des Geistes, 50), von Reentry (engl.: Wiedereintritt) bzw. von reziproker (lat.: reciprocus – auf demselben Weg zurückgehend) Kopplung sprechen; im Unterschied zum gewöhnlichen Feedback (engl.: Rückkopplung), das in der Regelungstechnik innerhalb eines Systems eine Abweichung korrigiert, die ein Fehlersignal im Output selbst anzeigt, erfolgt ein Reentry zwischen Systemelementen, die parallel zueinander operieren, also durch große Stränge reziproker Fasern miteinander verknüpft sind; gemeint ist mit Synchronisation oder Reentry jeweils derselbe Vorgang, jedoch im letzteren Falle mit deutlicher Betonung des Ergebnisses neuronaler

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Abb. D 7: Integration der Wahrnehmung am Beispiel eines Stuhles (V = visuelles Feld; IT = inferiorer temporaler Bereich; MT = mediotemporales Areal = V 5; MST = medio-superior-temporales Areal = brodmannsches Areal 5 a; 7 a = brodmannsches Areal 7 a = parietales Areal, vgl. Abb. A 33; A 34; B 43)

Synchronisation in Gestalt dauerhafter Verschaltungen: benachbarte oder weit auseinander liegende Neuronen bilden reziproke (wechselseitige) Verbindungen aus, die einen fortlaufenden rekursiven Austausch (ein reentry) paralleler Signale zwischen verschiedenen Hirnarealen erlauben und es ermöglichen, die Aktivitäten der verschiedenen Hirnareale räumlich und zeitlich zu koordinieren. Vorausgesetzt ist in jedem Falle, daß Nervenzellen, die an der Codierung desselben Objektes beteiligt sind, ihre Entladungen synchronisieren. Dieses Konzept von der «Bindung durch Synchronisation» enthält «drei Aspekte», von denen der letzte unmittelbar beim Aufbau bewußter Wahrnehmung zum

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Tragen kommt: «(sc. erstens, d. V.) wie Zellen durch die Modulation ihrer Aktivität sich als zum selben Verband und damit zum selben Vorstellungsbild oder Gedanken gehörend identifizieren, – (sc. zweitens, d. V.) warum die Synchronisierung so gut geeignet ist, Neuronen zu Funktionseinheiten zusammenzufassen und die Interaktion zwischen verschiedenen Einheiten zu organisieren, – (sc. und drittens, d. V.) wie die Synchronisation dazu beitragen könnte, Wahrnehmungsinhalte in das Bewusstsein zu heben.» (wolf singer: Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 20) Wie das visuelle System zum Beispiel von Katzen es schafft, verschiedene Elemente der optischen Wahrnehmung zu einem einzigen Gegenstand zusammenzufassen, konnte eine Forschergruppe um wolf singer am maxplanck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt demonstrieren: Man zeigte einer Katze zwei rechtwinklig übereinander liegende Muster aus parallelen Streifen, von denen das eine sich nach links oben, das andere nach rechts oben bewegte; unter dieser Vorgabe besteht für die Katze nur eine Möglichkeit, das angebotene Bild zu interpretieren – sie sieht zwei Streifenmuster, die in verschiedenen Richtungen übereinander weggleiten; anders wenn die Kreuzungspunkte der Streifenmuster während des Experimentes aufgehellt werden – dann nimmt die Katze ein einziges Rastermuster wahr, das sich in die genau dazwischen liegende Richtung (senkrecht nach oben) bewegt. Natürlich wollte man nun wissen, wie die Neuronen im visuellen Cortex auf die eine oder die andere Form der Wahrnehmung reagieren. Das Ergebnis war eindeutig: «Solange die Streifenmuster als getrennt und übereinander gleitend gesehen werden», reagieren die Nervenzellen, die bevorzugt auf Bewegungen nach links oben oder nach rechts oben ansprechen, unabhängig voneinander, – sie bleiben unkoordiniert; wird hingegen ein einziges Rastermuster wahrgenommen, werden erneut beide Zellgruppen aktiviert, jetzt aber synchronisieren sie ihre Entladungen. «Dieses Synchronisationsphänomen könnte dem gesuchten Mechanismus für den vorübergehenden Zusammenschluss von Neuronen entsprechen: Alle Zellen, die im selben Takt feuern, gehörten dann zu dem Verband von Neuronen, der das gleiche Objekt repräsentiert.» (wolf singer: Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 22) Angenommen, diese These trifft wirklich zu, so bleibt die Frage, ob eine solche synchrone Aktivität von Neuronen als Hinweis für eine bewußte Form der Wahrnehmung zu interpretieren ist oder nicht. Um diesem Problem nachzugehen, stellten die Frankfurter Forscher längs der Nasenlinie der Katzen einen doppelseitigen Spiegel auf, der ihr Gesichtsfeld zweiteilte; sodann zeigte man einem der Tiere zwei verschiedene Objekte (ver-

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schieden orientierte, sich bewegende Gittermuster), eins in jeder Gesichtshälfte; wenn die Katze nun mit dem rechten Auge nach dem Objekt in ihrem rechten Gesichtsfeld schaute, bewegte sich natürlich ihr linkes Auge mit, und sie sah dann zwangsläufig auf der linken Seite des Spiegels gleichzeitig das andere Objekt; das Gehirn der Katze empfing mithin zwei Bilder, die sich überlagerten, aber nicht zusammenpaßten; das Tier mußte sich also entscheiden, auf welches Objekt es seine Aufmerksamkeit lenken wollte, und dabei zeigte sich derselbe Synchronisationseffekt: wenn die Katze ihre Aufmerksamkeit auf das linke Muster richtete, synchronisierten diejenigen Neuronen ihre Entladungen, die zum linken Auge gehörten, und entsprechend bei einer Verschiebung der Aufmerksamkeit auf das rechtsseitige Objekt. Dabei nimmt die Synchronisierung der Neuronenaktivität mit der Aufmerksamkeit zu. Die «binokulare Rivalität» (zwei verschiedene Bildangebote, in jeder Gesichtshälfte eines) nötigt mithin das Tier, eine Entscheidung zu treffen. (Vgl. wolf singer: Ein Spiegel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 22– 24; zu ähnlichen Versuchen mit Affen und Menschen vgl. nikos k. logothetis: Das Sehen – ein Fenster zum Bewusstsein, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2000, 37–43.) Doch damit nicht genug. singer und sein Team trainierten Katzen darauf, mit der Pfote einen Hebel zu drücken, sobald sie eine Änderung in der Orientierung des Streifenmusters beobachteten; auf diese Weise ließ sich feststellen, daß nicht nur die Neuronen des Sehsystems, sondern auch die an der Pfotenbewegung beteiligten Nervenzellen in Gleichtakt fielen. Synchronisiert werden mußten im Kopf der Katze zu diesem Zweck Nervenzellen in weit entfernt voneinander liegenden Hirnarealen – der visuelle Cortex im Okzipitallappen mußte in Verbindung treten mit Regionen im parietalen und frontalen Cortex. Ja, es ließ sich nachweisen, daß «die visuellen, assoziativen und motorischen Hirnrindenregionen schon während der Erwartung der Aufgabe im Gleichtakt zu schwingen beginnen». (wolf singer: Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 23) Die Synchronisation beginnt also bereits, wenn die trainierten Katzen vor dem Bildschirm sitzen und auf ihre Aufgabe warten. (Uns wird diese Feststellung später noch einmal wichtig werden, wenn wir auf bestimmte Experimente zur Freiheit des Willens zu sprechen kommen werden!) Wofern wir uns an die nicht nur parallele, sondern auch hierarchische und funktionell untergliederte Organisation sensorischer Systeme erinnern (vgl. Abb. B 45), können wir uns gut vorstellen, daß auf den letzten Stufen der Verarbeitung (zum Beispiel innerhalb des ventralen visuellen Pfades, vgl. Abb. B 46) zahlreiche Neuronen «nicht mehr auf elementare Seh-

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reize, sondern bevorzugt auf komplexe, multidimensionale Objekte» reagieren, eben wie etwa im VTE auf ein Gesicht oder eine erhobene Hand. (jean delacour: Was kann die Neurobiologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 18) Dabei ist klar, daß exzitatorische synaptische Potentiale sich in synchronisiertem Zustand effektiver addieren, als wenn sie unsynchronisiert blieben; mit anderen Worten: «Wenn die Zellen eines Neuronenverbandes der Hirnrinde gleichzeitig feuern, gewinnen sie mehr Einfluss auf ihresgleichen in anderen Rindenregionen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Sinnessignale von sensorischen zu motorischen Rindenarealen durchgeschaltet werden.» «Die Vorsynchronisierung (sc. die beginnende Synchronisation während der Vorphase des Versuchs, in der die Katze sich auf die erwartete Aufgabe konzentriert, d. V.) stellt die schnelle Synchronisation der neuronalen Netze sicher und bewirkt damit eine effizientere Signalübermittlung zwischen den Ensembles.» (wolf singer: Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 23) Indem also die Aktivität der vorgeschalteten Neuronen schon in der Erwartungsphase unterschwellig synchronisiert wird – indem mithin die Konzentration auf die zu lösende Aufgabe zunimmt –, lassen sich die nachgeschalteten corticalen Neuronen leichter aktivieren. (Vgl. wolf singer: A. a. O., 23.) In gewissem Sinne wiederholt sich folglich bei der Synchronisation in Gestalt einer Gesamtleistung großer Neuronengruppen lediglich der gleiche Vorgang, den wir in der hebbschen Regel bereits auf der untersten Ebene beim Zusammenwirken von auch nur zwei oder drei Neuronen (am Beispiel von Aplysia, beim Vorgang des impliziten Lernens, vgl. Bd. I 287–288; 291– 293; 297– 298) beobachten konnten: Durch die Synchronisation bilden sich verstärkte Verknüpfungen zwischen einzelnen Neuronen-Ensembles heraus. Wie wolf singer (Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 24) resümiert, könnte die Synchronisation demnach drei wichtige Aufgaben erfüllen: sie könnte «(sc. erstens, d. V.) als Signatur der Zusammengehörigkeit von Neuronenverbänden dienen, – (sc. zweitens, d. V.) die aufmerksamkeitsabhängige Selektion von Sinnessignalen vermitteln, – (sc. und drittens, d. V.) zur lernbedingten Verkoppelung von Neuronenensembles beitragen.» Indem die Assoziationscortices im weiteren die Aktivität der verschiedenen neuronalen Verbände synchronisieren, gelingt es dem Gehirn, die vielfältigen Eigenschaften eines Objektes zu vereinigen, also Form, Farbe, Bewegung usw. zu einer einzigen Gestaltwahrnehmung zusammenzuführen. (Vgl. wolf singer: A. a. O., 24.) Dabei wollen wir nicht vergessen, daß sogar die Farbkonstanz sowie die Richtungs- und Bewegungskonstanz im Raum von

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der Verarbeitungsweise des Gehirns selbst erzeugt wird (Bd. I 401– 402; 440 –441): daß wir zum Beispiel unser Auto den ganzen Tag über in seiner roten Farbe trotz unterschiedlicher Beleuchtungsverhältnisse identisch wahrnehmen, liegt, wie wir sahen, nicht an den physikalischen Gegebenheiten, sondern an der (transzendentalphilosophisch subjektiven) Art unserer Wahrnehmung und an der Konstruktion «unserer eigenen Welt» durch das visuelle System in unserem Kopf (Bd. I 441; 458). Wir sind also bestens darauf vorbereitet zu hören, daß die Synchronisation der Aktivität von Neuronen-Ensembles nicht nur der Verarbeitung des sensorischen Inputs (oder der Koordination des motorischen Outputs) dient, sondern auch der internen Repräsentation der wahrgenommenen Objekte. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Denn erst die Synthese der verschiedensten Informationen aus den weit verstreuten sensorischen Modulen zu einem einzigen Wahrnehmungsgegenstand erlaubt eine präzise Erinnerung an das Wahrgenommene und ermöglicht die Kombination der Wahrnehmungsinhalte mit entsprechenden emotional getönten Bewertungen im limbischen System; aus der Wahrnehmung wird auf diese Weise ein Erlebnis, das als solches wiederum im Gedächtnisspeicher niedergelegt wird; bei uns Menschen kann das Wahrgenommene und Erlebte zudem mit Worten verknüpft und damit erzählbar werden; es bildet sich ein – mehr oder minder – kohärenter Strom innerer Informationen aufgenommener und erlebter Inhalte und Zusammenhänge, die als eine eigene Geschichte reproduzierbar sind. Wenn wir vorhin noch sagten, das Bewußtsein beginne mit der relativen Loslösung von dem eingehenden Datenstrom durch den kurzzeitigen Aufbau eines Arbeitsgedächtnisses, so vollendet sich das, was wir Bewußtsein nennen, offenbar in dem Augenblick, in dem uns ein «Gegenstand» auch gegenwärtig sein kann, wenn er nicht mehr materiell gegenwärtig ist, sondern nur «im Geiste» – für das Bewußtsein und im Bewußtsein – existiert. «Das Bewusstsein», schreibt demgemäß wolf singer, «vereint offenbar zwei Arten von Vorgängen: die Konstruktion mentaler Bilder, also interner Repräsentationen externer Objekte, sowie die Aktivierung dieser Repräsentationen auch in Abwesenheit des ursprünglichen Reizes. Dank dieser beiden Funktionen kann das Gehirn die internen Repräsentationen (sc. sogar, d. V.) den reinen Sinneseindrücken entgegenstellen und auf der Grundlage dieses Vergleichs Entscheidungen fällen. Reale Situationen werden so mit geistigen Bildern verglichen, die anlässlich von früheren, mehr oder weniger ähnlichen Erfahrungen entstanden sind. Bestimmte evolutionsgeschichtlich junge Regionen des Gehirns dürften dabei die Aufgabe übernommen haben, Metarepräsenta-

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tionen zu erstellen, also Repräsentationen von Repräsentationen, was zunehmend abstraktere Codierung ermöglicht. – . . . Trotz weiter Entfernung von den primären Wahrnehmungsarealen spielen sie (sc. die evolutionsgeschichtlich jungen Regionen, d. V.) wohl die Rolle eines Spiegels, der in den sensorischen Feldern bewahrte frühere Bilder zurückspiegelt.» (wolf singer: Ein Spiel von Spiegeln, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 25) Damit in Übereinstimmung steht das soeben erwähnte Konzept von gerald m. edelman (Das Licht des Geistes, 64). Nach ihm bildet sich das primäre Bewußtsein durch eine reentrante (von engl.: reentry – Wiedereintritt) Kopplung, durch die ein spezielles Werte-Kategorien-Gedächtnis, das in Stirn-, Schläfen- und Scheitellappen-Arealen niedergelegt ist, mit der aktuellen Wahrnehmungskategorisierung von Signalen aus der Außenwelt verknüpft wird, die sich ihrerseits aus der Verarbeitung des externen Inputs in den primären und sekundären Cortexarealen ergibt; in das spezielle Werte-KategorienGedächtnis geht neben diesem externen Input zum zweiten der interne Input ein, der im Hirnstamm, im Hypothalamus und in den autonomen Zentren verarbeitet wird; beide Arten von Signalen werden im Septum, in der Amygdala, im Hippocampus, aber auch in anderen Hirnregionen miteinander korreliert. Abb. D 8 verdeutlicht schematisch dieses Konzept. Wie in Abb. D 8 besonders anschaulich hervorgehoben, ist es nach edelman eben diese reentrante Kopplung, die den entscheidenden Schritt zum primären Bewußtsein bedeutet und zugleich dessen neue Reaktionsmöglichkeiten erklärt: «Wenn sie in vielen Modalitäten (Sehen, Berühren und so weiter) zugleich erfolgt», schreibt er, «kommt im primären Bewusstsein eine ‹Szene› zustande, die eine Vielzahl von Reaktionen auf Objekte und Ereignisse in sich vereinigt. Manche der Objekte und Ereignisse stehen nicht notwendigerweise in einem Kausalzusammenhang zueinander, aber ein Tier mit einem primären Bewusstsein kann sie (sc. ganz in Übereinstimmung zu den soeben gehörten Ausführungen von wolf singer, d. V.) anhand seiner Erinnerungen an frühere, mit Bewertungen versehene Erfahrungen einordnen und in Bezug zueinander setzen. Dies bedeutet einen Überlebensvorteil.» (gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 64) Keine Frage also mehr, daß sich, wie früher schon vermutet, das Bewußtsein und damit der subjektive Faktor unter dem Druck der Selektion genauso herausgebildet haben können wie Körperformen und Verhaltensweisen, die von den Behavioristen als einzig «legitimer» Forschungsgegenstand gelten gelassen wurden. Gleichgültig nun, ob wir von «Zurückspiegeln» oder von «reentranten Kopplungen» sprechen, allem Anschein nach ist das Bewußtsein identisch mit

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Abb. D 8: Reentrante Verschaltungswege, die das primäre Bewußtsein entstehen lassen

dem Aufbau eines «Spiegels», in dem das Bild, das das Gehirn sich auf Grund der einströmenden Sinnesdaten zusammenfügt, eine Art Eigenleben gewinnt; es entsteht eine innere Repräsentation, die einen Vergleich zwischen dem als «Realität» konstruierten Wahrnehmungsgegenstand mit dem als «Vorstellung» davon abgetrennten Inhalt ermöglicht: Ich sehe etwas, aber ich kann mir auch vorstellen, was ich gesehen habe; ich kann etwas mit offenen Augen, aber auch mit geschlossenen Augen sehen; ich habe eine sinnliche Wahrnehmung, und ich habe ein inneres Bild von dieser Wahrnehmung, und so kann ich jetzt ganz unabhängig von jeder Wahrnehmung beginnen, diese inneren Bilder zu einer eigenen Welt zu verknüpfen, wie es etwa im Traum geschieht. Indem das Gehirn seinen Gegenstand erzeugt und zugleich eine Vorstellung (eine interne Repräsentation) von diesem Gegenstand, bildet es eben dadurch das so rätselhaft erscheinende Bewußtsein. Von diesem Moment an sehe ich nicht nur etwas, sondern ich kann auf das, wovon ich weiß, daß ich es sehe, reagieren: Ich beschließe zum Beispiel, meine Aufmerksamkeit von diesem Gegenstand abzuwenden

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Abb. D 9: Kreislauf zwischen Verhalten, Wahrnehmung, Bewertung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung

und mich mit einem anderen Wahrnehmungs- oder Vorstellungsinhalt zu beschäftigen. Abb. D 9 verdeutlicht den Kreislauf zwischen den Aktivitäten der Hirnrinde und der subcorticalen Zentren, die Verhalten und Wahrnehmung steuern, des limbischen Systems, das die Bewertung vornimmt, des Hippocampus und der Cortexareale, die für den Aufbau des Gedächtnisses und den Vergleich zwischen Gedächtnisinhalten zuständig sind, sowie der Formatio reticularis, welche die Aufmerksamkeit steuert und Wachbewußtsein und Aufmerksamkeitserregung über das aufsteigende retikuläre System (ARAS; vgl. Bd. I 344; 529) ermöglicht. (Vgl. gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 240 –241.) Es bleibt noch zu betonen, daß die Synchronisationstheorie zur Begründung bewußten Sehens beziehungsweise von Bewußtsein überhaupt zwar in sich plausibel und experimentell gut begründet, aber damit doch nicht schon zweifelsfrei bewiesen ist. Denn die Synchronisationen (die sogenannten GammaOszillationen, deren Frequenz zwischen 30 –70 Hz liegt; vgl. Bd. I 448), die in der Sehrinde jener Katze vor dem Spiegel in der Mittellinie ihres Gesichtsfeldes als Korrelat einer bewußten Aufmerksamkeitslenkung interpretiert worden sind, lassen an sich vielleicht auch noch andere Erklärungen zu: Unter Umständen dienen sie nur dazu, eine Figur von ihrem Hintergrund zu unterscheiden oder den Mechanismus der Aufmerksamkeitslenkung selbst zu unterstützen, ohne ein eigenes Bewußtsein davon zu bilden. (Vgl. francis crick – chri-

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stof koch: Das Problem des Bewußtseins, in: Gehirn und Bewußtsein, 170; wolf singer: Vom Gehirn zum Bewusstsein, in: W. Singer: Der Beobachter im Gehirn, 68–70.) In jedem Falle dürfte klar sein, daß die Funktionen, die Bewußtsein erzeugen, sich nicht in einer bestimmten Hirnregion (wie in descartes’ Epiphyse) lokalisieren lassen, sondern auf der Zusammenschaltung und Integration der Arbeitserträge ganz verschiedener, weit gefächerter Module basieren. Gleichwohl könnte es doch sein, daß es spezielle Neuronentypen gibt, die – zum Beispiel zur Erzeugung bewußten Sehens – über den visuellen Cortex verteilt sind und mit ihren Aktivitäten den Inhalt des bewußten Sehens darstellen. In einem Aufsatz über Die physiologischen Bedingungen des phänomenalen Bewußtseins (in: Forum für interdisziplinäre Forschung, 1/1992, 49– 55) hat hans flohr die Überlegung angestellt, daß es wesentlich die Aktivität von corticalen NMDA-Synapsen sei, die nach der hebbschen Regel corticale Neuronen-Ensembles entstehen lasse. (Vgl. gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 238– 240.) Diese Theorie von der Bedeutung der corticalen NMDA-Synapsen jedenfalls würde zu der Vorstellung spezieller Neuronentypen zur Bildung des Bewußtseins gut passen. Näherhin sollen – sehr vereinfacht – die Aktivitäten der oberen corticalen Schichten (vgl. Abb. A 29; B 57) weitgehend unbewußt bleiben, wohingegen die Aktivitäten der tieferen Schichten V und VI mit bewußten Vorgängen in Verbindung gebracht werden. Eine solche Annahme geht davon aus, daß insbesondere die größeren Pyramidenzellen in Schicht V der Großhirnrinde die einzigen corticalen Neuronen sind, die nicht in die Großhirnrinde oder in den Thalamus zurückprojizieren, sondern direkt aus dem corticalen System hinausführen. «Wenn visuelles Bewußtsein das Ergebnis von Berechnungen im Cortex ist, liegt die Vermutung nahe, daß das, was der Cortex nach außen sendet, diese Ergebnisse symbolisiert. Außerdem neigen die Neuronen in Schicht 5 (sc. Schicht V, d. V.) dazu, in Salven zu feuern, was recht ungewöhnlich ist. Der Gedanke, daß diese Neuronen selbst visuelle Bewußtseinsinhalte symbolisieren könnten, ist also attraktiv, bislang jedoch reine Spekulation.» (francis crick – christof koch: Das Problem des Bewußtseins, in: Gehirn und Bewußtsein, 170) Um die genannten Arbeitshypothesen über das Zustandekommen von (primärem, phänomenalem) Bewußtsein in etwa zusammenzufassen, können wir uns, rein neurologisch, weitgehend dem Weg anschließen, den christof koch (gemeinsam mit francis crick) in einer Reihe von «Annahmen» zu formulieren versucht hat: So haben wir stets die Bedeutung des frontalen Cortex als der Stelle hervor-

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gehoben, an welcher die vorverarbeiteten Informationen aus den Assoziationscortices zusammengeführt werden. Insofern kann man «sich das Verhalten der Großhirnrinde insgesamt so vorstellen, als ob der vordere Bereich des Cortex den hinteren ansieht». (christof koch: Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 335) Dabei wissen wir, daß es energetisch wie funktional nur von Vorteil ist, daß die meisten auf äußere Reize hin erfolgenden motorischen Abläufe, die rasch und stereotyp vor sich gehen, nicht bewußt sind. «Bewusstsein beschäftigt sich mit . . . weniger alltäglichen und stärker fordernden Aspekten der Welt oder einer Reflektion derselben in Form von Bildern . . . Bewusstsein ist notwendig für Planung und die Auswahl zwischen zahlreichen Handlungsmöglichkeiten . . . Die Aufgabe des Bewusstseins besteht darin, den aktuellen Zustand der Welt in einer kompakten Repräsentation zusammenzufassen und dieses ‹Abstract› . . . den Planungsstadien zugänglich zu machen . . . Der Inhalt dieser Zusammenfassung ist der Inhalt des Bewusstseins.» (christof koch: A. a. O., 335) Zudem müssen wir den Gedanken von der Synchronisation der Entladung von Neuronen (bei der «Bindung» verschiedener Informationen zur Konstituierung eines «Objekts») erneut «darwinistisch» interpretieren; – vom neuronalen darwinismus als einer globalen Hirntheorie, mithin als einem methodischen Grundsatz in der Interpretation neuronaler Vorgänge, spricht denn auch gerald m. edelman. (Vgl. Unser Gehirn – ein dynamisches System, 51– 53; ders.: Das Licht des Geistes, 43 –56.) Der Grund: Welche NeuronenEnsembles sich durchsetzen und ihre Nachricht ins Bewußtsein stellen, ist das Ergebnis von Konkurrenz und Selektion. Eine Neuronenkoalition «verstärkt – wahrscheinlich durch Synchronisation . . . – die Feueraktivität ihrer Mitgliedsneuronen und unterdrückt konkurrierende Neuronenkoalitionen». (christof koch: Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 336) Auch hier herrscht ein Alles-oder-Nichts-Prinzip (Bd. I 198; 212; 215). In den Worten von christof koch: «In jedem Augenblick wird die Siegerkoalition, die den aktuellen Gehalt des Bewusstseins ausdrückt, ein wenig gestärkt.» (A. a. O., 336) Für die bewußte Wahrnehmung muß die neuronale Aktivität dazu einen Schwellenwert überschreiten. Dabei dürften die Neuronen-Ensembles, die eine Vorstellung vermitteln, weniger weit in der Hirnrinde verstreut sein, als diejenigen, die von einem externen Input erzeugt werden; um die neuronale Aktivität, die für eine bewußte Wahrnehmung ausreicht, oberhalb der für die bewußte Wahrnehmung erforderlichen Schwelle zu halten, bedarf es vermutlich eines ständigen Feedbacks von seiten frontaler Strukturen wie dem vorderen cingulären und dem präfrontalen Cortex. (Vgl. christof koch: A. a. O., 336.) So läßt es sich verstehen, daß manche Wahrnehmungen und Vorstellungen (als die «stärk-

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sten») sich dem Bewußtsein förmlich aufdrängen, daß aber das Bewußtsein selbst darüber entscheidet, wie intensiv und wie lange es bestimmten Inhalten seine Aufmerksamkeit widmet. Wie schon die Informationsverarbeitung im Verlauf der Gestaltbildung eines Objekts in einem Wechselspiel von Bottomup- und Top-down-Prozessen erfolgt (vgl. Abb. B 56), so läßt sich auch die bewußte Aufmerksamkeit in eine von unten nach oben und eine von oben nach unten gerichtete unterscheiden; die erstere erfolgt rasch und unwillkürlich (automatisch), die letztere untersteht einer willkürlichen Kontrolle und ist abhängig von der aktuellen Aufgabe. Wahrscheinlich bedarf es einer kontrollierten Top-down-Aufmerksamkeit, um die Aktivität getrennter Module (bei der Wahrnehmung neuartiger oder seltener Objekte oder Ereignisse) miteinander zu verknüpfen. (Vgl. christof koch: A. a. O., 339; 340.) «Aufmerksamkeit», schreibt koch, «könnte den Wettbewerb zwischen Koalitionen (sc. von gemeinsam entladenden Neuronen, d. V.) beeinflussen, indem sie den Grad der Synchronie zwischen Neuronen innerhalb einer Koalition moduliert und die postsynaptische Schlagkraft der Gruppe stärkt. – Sobald eine erfolgreiche Koalition bis ins Bewusstsein vorgedrungen ist, ist eine Synchronisation der Spikeaktivität (sc. der Entladungsaktivität, d. V.) vielleicht nicht mehr nötig, weil sie sich dann möglicherweise zumindest für eine Weile ohne die Hilfe der Synchronie selbst erhalten kann.» (christof koch: A. a. O., 340) Bei all dem bleibt wesentlich, daß die Art von Bewußtsein, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, durchaus ohne eine Sprache auskommt – sie ist im Grunde «prälinguistisch»; und sie ist auch nicht an die Repräsentationen eines Ich oder eines Selbst gebunden, das über die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung (Introspektion) verfügt. Selbstbewußtsein und Sprache konnten offenbar von der Evolution erst hervorgebracht werden, als es und weil es das Phänomen bewußter Wahrnehmung und bewußter Verhaltenssteuerung bereits gab. Unsere Frage von Anfang des 4. Teils dieser Arbeit noch einmal aufgreifend, ob auch Tiere ein Bewußtsein haben und wie weit hinab in der Entwicklung der Arten es sich ihnen zuschreiben läßt, dürfen wir jetzt allein schon unter Hinweis auf die homologen Strukturen der Gehirne von Säugetieren als überaus wahrscheinlich annehmen, daß Affen, Katzen, Hunde, Ratten und andere ihnen verwandte Tiere nicht nur sehen, hören, riechen, tasten und schmecken können, daß sie nicht nur Lust und Schmerz zu empfinden vermögen und daß sie nicht nur zu Gefühlen von Angst und Wut, Glück und Trauer imstande sind, sondern daß sie all das (in unterschiedlichen Graden) mit Bewußtsein tun. Und warum soll man nach allem, was wir eingangs über die Leistungen von Vögeln, Bienen und Raubwanzen gesagt haben, bei den Säugetieren haltmachen und statt des

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von uns Stelle um Stelle bekämpften Spezies-Solipsismus jetzt eine Art von «corticalem Chauvinismus» vertreten? Auch wenn wir – heute noch – nicht mit Gewißheit sagen können, was es mit dem Bewußtsein von niederen Wirbeltieren und Invertebraten auf sich hat, darf doch jedes Tier, das nicht nur rein instinktive Verhaltensweisen an den Tag legt und das darüber hinaus imstande ist, die Bedeutung vom Symbolen zu verstehen (wie die Bienen beim Schwänzeltanz), als ein möglicher Träger von Bewußtsein infrage kommen. (Vgl. christof koch: Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 352 –353.) gerald m. edelman (Das Licht des Geistes, 62) sieht den entscheidenden Schritt für die Entstehung von Bewußtsein darin, daß «etwa zur Zeit des Übergangs zwischen Reptilien und Vögeln und zwischen Reptilien und Säugetieren im thalamokortikalen System eine neue Art von reziproker Konnektivität (sc. von lat.: connectere – verbinden, d. V.) auftrat», die das «Werte-Kategorien-Gedächtnis» mit der aktuellen «Wahrnehmungskategorisierung» verbunden habe.

ζ) Die Zeitlichkeit des Bewußtseins – ein philosophisches wie neurologisches Problem Eine Frage, die wir zwar immer wieder berührt, aber bisher nicht konsequent in ihrer Bedeutung gewürdigt haben, liegt in der zeitlichen Struktur des Bewußtseins. Wohl haben wir wiederholt auf die Funktion des Arbeitsgedächtnisses hingewiesen – auf die Notwendigkeit, bestimmte Informationen aus dem Datenstrom herauslösen und sie mit Erinnerungen aus dem Gedächtnis vergleichen zu können, um dadurch eine bessere Situationsanalyse zu gestatten; damit Wahrnehmungs- oder Erinnerungsinhalte uns bewußt werden können und damit das Bewußtsein planvolle Handlungen zu ermöglichen vermag, müssen bestimmte interne Repräsentationen der Wirklichkeit (oder dessen, was wir dafür halten) zumindest kurzzeitig auf Dauer gestellt werden, und es muß das so entstehende Bewußtsein seinerseits eine gewisse Zeitlichkeit aufweisen. martin heidegger (1889 –1976) hatte insofern recht, als er «Zeitlichkeit» als «vorlaufende Entschlossenheit» charakterisierte und von der «Sorge» her beschrieb (Sein und Zeit, § 65, S. 323). Doch von welcher Art eigentlich ist die Zeitstruktur, die Bewußtsein ermöglicht? Diese Frage kehrt in gewissem Sinne die heideggersche Betrachtungsweise um; denn sie richtet sich nicht darauf, wie das Dasein selbst in der Zeit sich auslegt und damit seine eigene Zeitlichkeit konstituiert, sondern sie verlangt zu wissen, was für Zeitstrukturen Bewußtsein allererst ermöglichen: Ist das Bewußtsein ein Zeitenstrom, ein Kontinuum, oder ist es zusammengesetzt aus diskreten Einheiten?

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Erneut stehen wir damit vor einem Problem, das mit den Mitteln philosophischer Spekulation oder mit Hilfe phänomenologischer Untersuchungen nicht zu beantworten ist. Wohl jedem kommt sein Bewußtsein als etwas in sich Zusammenhängendes vor: außerhalb gewisser neurotischer, neuropathischer oder psychotischer Erlebnisweisen erscheint das Bewußtsein als eine Einheit in der Zeit; ja, es muß diesen Eindruck von sich gewinnen, wenn es wirklich Vergangenes mit Gegenwärtigem verschmelzen und auf zukünftige Verhaltensmöglichkeiten hin bewerten will. Unter diesen Umständen kann man sich nicht wundern, daß in weiten Teilen der abendländischen Philosophie eine eigene geistige Substanz postuliert wurde, die als ein metaphysisches Subjekt die Kontinuität des Bewußtseins (selbst im Wechsel von Wachen und Schlafen, von Wahrnehmen und Träumen, von Bewußtheit und Bewußtlosigkeit) gewährleisten sollte. Doch der Eindruck einer Kohärenz in der Zeit läßt sich auch ohne die Annahme einer quasi überzeitlichen, rein geistigen Substanz erklären. Bereits der Buddhismus betrachtete das menschliche Bewußtsein (ebenso wie die Wirklichkeit draußen) als eine Aneinanderreihung von dharmas: «Wir sehen die Welt so, wie sie in Wahrheit ist, wenn wir erkennen, daß ‹es nur Dharmas gibt›», zitiert edward conze (Der Buddhismus, 154) den großen ceylonesischen Kommentator der kanonischen Palischriften aus dem 5. Jh. n. u. Z., buddhaghosa. (Vgl. helmuth von glasenapp: Die Philosophie der Inder, 327.) Auf diese Weise erstellte der Buddhismus «eine praktische Psychologie, die unter Verzicht auf die Seelenhypothese alle Phänomene des geistigen Lebens unter dem Gesichtspunkt von nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung miteinander kooperierenden Gegebenheiten zu erklären sucht». (helmuth von glasenapp: A. a. O., 331) Im Abendland war es – von demokrit und den Atomisten der Antike einmal abgesehen – erneut wieder david hume, der auch in der Frage nach der Kontinuität des Bewußtseins bereits in der Mitte des 18. Jhs. eine von der christlichen Theologie abweichende Ansicht verfocht; nach Meinung des führenden Kopfes der englischen Aufklärungsphilosophie ist uns nichts gegeben «als Perzeptionen (sc. sinnliche Wahrnehmungen als erste Stufe der Erkenntnis, von lat.: percipere – erfassen, wahrnehmen, d. V.) des Geistes und flüchtige Abbilder oder Darstellungen anderer existierender Dinge . . ., die sich gleich und selbständig bleiben». (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 12. Abschn.: Über die akademische oder skeptische Philosophie, 1. Teil, S. 192) Demnach wird das Bewußtsein aus einzelnen Momentaufnahmen der Wahrnehmung gebildet; dann aber erhebt sich natürlich die Frage, wie aus solchen gewissermaßen «stehenden» Bildern ein dynamischer Fluß von (Bewußtseins)Vorstellungen in der Zeit entstehen soll.

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william james (1842 –1910) war es, der – unter Verzicht auf alle SubstanzTheorien der «Seele» – das Bewußtsein für einen Prozeß, als ein bruchloses Gleiten, erklärte; nach james ändern sich zwar die Bewußtseinsinhalte ständig, doch reihen sie sich im Strom des Bewußtseins aneinander wie Wellen in einem Fluß. Diese Ansicht gibt einfach wieder, was die Selbstwahrnehmung uns nahelegt; die Darlegungen humes aber irritierten den amerikanischen Psychologen und Philosophen am Ende des 19. Jhs. nicht minder, als sie im 18. Jh. bereits immanuel kant wachgerüttelt hatten. In seiner religions-psychologisch bahnbrechenden Arbeit Die Vielfalt religiöser Erfahrung in den Gifford Lectures in Edinburgh von 1901/02 zog james zur Lösung des Problems den Begriff des «Bewußtseinsfeldes» heran; er meinte: «Bis vor kurzem war die am häufigsten anzutreffende Einheit des bewußten Lebens die einzelne ‹Vorstellung›, die für eine genau umrissene Sache gehalten wurde. Aber gegenwärtig tendieren die Psychologen erstens zu dem Zugeständnis, daß die wirkliche Einheit wahrscheinlich eher der Gesamtzustand des Bewußtseins ist, das ganze der Bewußtseinswelle oder des Feldes von Objekten, das dem Bewußtsein zu irgendeinem Zeitpunkt gegenwärtig ist; und zweitens zu der Einsicht, daß es unmöglich ist, diese Welle, dieses Feld irgendwie definitiv abzugrenzen. – Bei der Aufeinanderfolge unserer Bewußtseinsfelder hat jedes einzelne von ihnen sein eigenes Interessenzentrum, um das herum die Gegenstände, auf die wir weniger aufmerksam achten, zu einem Rand verschwimmen, der so schwach ist, daß seine Grenzen nicht angegeben werden können. Einige Felder sind enge Felder und andere sind weite Felder. Gewöhnlich jubeln wir, wenn wir ein weites Feld haben, denn wir sehen Massen von Wahrheit zusammen und erhaschen oft einen kurzen Einblick in Beziehungen, die wir mehr erahnen als klar erkennen, denn sie schießen über das Feld hinaus in entferntere Gegenstandsbereiche, in Bereiche, die wahrzunehmen wir eher im Begriff zu sein scheinen als daß wir sie wirklich schon wahrnähmen. Zu anderen Zeiten, bei Traurigkeit, Krankheit oder Müdigkeit, können unsere Felder sich fast zu einem Punkt verengen und wir erleben uns dementsprechend bedrückt und eingeschränkt.» (william james: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Vorlesung X, S. 223) Nach william james erscheint das Bewußtsein mithin als eine Art Horizont, der uns immer weiter vorangeht, je weiter wir uns im Gelände bewegen; was wir in seinem Umkreis zu sehen bekommen, mag völlig unterschiedlich sein, doch ist es unmöglich anzunehmen, daß seine (scheinbare) Grenze ein wirkliches Ende in der Zeit (und im Raum) markiere; allenfalls kann uns die Weite des Horizonts eingeengt werden durch die sichtbaren Gegenstände selbst oder durch die subjektive Gestimmtheit: manche Bewußtseinsinhalte

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ziehen eine größere Aufmerksamkeit auf sich, so daß andere Inhalte daneben verschwimmen oder verschwinden, oder wir selber sind auf Grund bestimmter Interessen oder gefühlsmäßiger Vorgaben nur für einen besonderen Bereich möglicher Bewußtseinsinhalte aufnahmebereit. Im Bilde gesprochen, erscheint der Horizont weiter oder enger, je nachdem, ob wir in der Steppe oder zwischen den Hochhäusern einer Großstadt umherwandern; ja, es kann die Weite unseres Bewußtseinsfeldes auch charakterbedingt sich größer oder kleiner gestalten. In jedem Falle aber wird es keinen Punkt geben, an dem der Horizont (unser Bewußtsein) eine Lücke aufwiese oder einen Sprung machen müßte, um in der Zeit voranzuschreiten. Und dennoch, so konträr die Ansicht des buddha oder die Auffassung humes sich logisch zu einem Konzept wie dem von william james auch verhalten mag, so ist es doch mühelos vorstellbar, daß eine Folge diskreter Augenblicksaufnahmen zu dem Eindruck einer kontinuierlichen Abfolge im Bewußtsein führt. Ein Spiel, an dem bereits Kinder das größte Vergnügen finden, kam um 1830 in Gestalt des sogenannten Zoetrops (von griech.: die zo¯e¯ – Leben; die trope¯ – Wendung, Wechsel), der «Wundertrommel», wie sie damals hieß, in Mode: Stehende Bilder, in genügend dichter Folge dem Auge dargeboten, erzeugen die Illusion einer Bewegung beziehungsweise eines kontinuierlichen Ablaufs. – Desselben Verfahrens bedient sich bekanntlich das Kino (Kurzform von Kinematograph, griech.: das kíne¯ma – die Bewegung, die graphe¯ – Malerei, Schrift), in welchem Filmstreifen aus Einzelaufnahmen mit einer Frequenz von 24 Bildern pro Sekunde abgespult werden. Eine solche Bildfolge reicht aus, um in unserer Wahrnehmung den Eindruck von Kontinuität in der Zeit entstehen zu lassen. Der französische Philosoph henri bergson (1859 –1941), auf dessen Betrachtungen zum Leib-Seele-Problem wir im nächsten Abschnitt noch ausführlicher zu sprechen kommen werden, zog in seinem Buch Schöpferische Entwicklung von 1912 die entsprechende Konsequenz aus diesem Phänomen, indem er schrieb: «Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen Momentbilder auf, und weil es (sc. sie, d. V.) diese Realität charakteristisch zum Ausdruck bringen, so genügt es uns, sie längs eines abstrakten, gleichförmigen, unsichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnisapparats liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden, was das Charakteristische dieses Werdens selbst ist . . . wir tun nichts weiter, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Derart also, daß alles . . . sich in den Worten zusammenfaßt: der Mechanismus unseres gewöhnlichen Denkens ist kinematographischen Wesens.» (A. a. O., 303– 304) Wenn diese Worte zutreffen, so sollte es möglich sein, herauszufinden, wie

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lang die «Belichtungszeit» sein muß, um die «Bilder» aufzunehmen, deren Abfolge im Bewußtsein dann die Vorstellung von Kontinuität erzeugt. Anders gefragt: was muß wie lange passieren, um ins Bewußtsein zu dringen und aus an sich diskreten Bewußtseinszuständen subjektiv einen ununterbrochenen Strom von Inhalten zu formen? Und: ist eine solche Frage überhaupt sinnvoll zu stellen? Daß sie es ist, wird nicht ohne weiteres schon belegt durch die moderne Quantenphysik. Tatsächlich rechnet man heute damit, daß im Hintergrund des uns vertrauten Raum-Zeit-Kontinuums sich die planck-Zeit in diskontinuierlichen, dekohärenten Einheiten fortsetzt. (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 1058 –1061.) Demnach bildet die Zeit nicht eine stetig strömende Welle, sondern sie tritt «gequantelt» auf, wie Perlen, die auf einer Kette aufgereiht erscheinen, obwohl die Kette selbst (durch zu starke Kräfte, die auf sie wirken) zerrissen ist. Doch Quantenphysik ist nicht Neurologie oder Psychologie. Einzig roger penrose (geb. 1931) hat die Einheit des Bewußtseins aus einer «Quantenparallelität» ableiten wollen (Computerdenken, 388 –390); selbst wenn seine Spekulationen (vielleicht!) für die Erforschung Künstlicher Intelligenz von einem gewissen Nutzen sein sollten, – zum Verständnis der Neurologie des Bewußtseins tragen sie unmittelbar wenig Hilfreiches bei. Wir müssen nach einem anderen Weg suchen, um die Zeitstruktur des Bewußtseins zu erforschen, und da sind es, wie fast immer in der Hirnforschung, erneut gewisse Störungen, welche die Eigenart der Zeitlichkeit des Bewußtseins zu Tage treten lassen. So hat der Neurologe oliver sacks (geb. 1933) bei Migräne-Patienten festgestellt, daß heftige Kopfschmerzen den gewohnten Eindruck visueller Kontinuität in eine Serie aufflackernder Standbilder auflösen können (vgl. Migräne, 126 –127); es ist, als bekämen die Patienten einen Film zu sehen, der zu langsam (mit nur 6 bis 12 Bildern pro Sekunde) vorgeführt wird. (Vgl. oliver sacks: Im Strom des Bewusstseins, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 34.) sacks fragte sich daher, «ob unsere visuelle Wahrnehmung nicht ganz konkret mit dem Film verwandt ist; ob sie nicht tatsächlich auf kurzen Momentaufnahmen von der Umgebung beruht, die dann – normalerweise – miteinander verschmolzen werden, um unserem visuellen Bewusstsein die vertraute Kontinuität zu vermitteln». (oliver sacks: A. a. O., 34) Bestärkt wurde sacks in dieser Vermutung durch die Tatsache, daß epileptische Anfälle, aber auch LSD-Intoxikationen den gleichen Effekt zeitigen können. Und auch eine erste Erklärung legte sich Ende der 60er Jahre schon nahe: Patienten, die an einer Hirnhautentzündung (an einer Encephalitis) erkrankt waren und die seither an einem postencephalitischen Syndrom leiden (wie es nach einer Virusencephalitis bei Erwachsenen sich in

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Form von Lethargie, Affektverödung und Willenlosigkeit bemerkbar macht), wirken wie eingefroren in einem tranceähnlichen Zustand; offenbar ist ihr Dopamin-System stark geschädigt. (Vgl. oliver sacks: A. a. O., 34– 35.) Dementsprechend versuchte man, mit Hilfe von L-Dopa, das damals zur Behandlung von parkinson-Erkrankungen eingesetzt wurde (vgl. eugen bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl., 242– 243), die Patienten aus ihrer seelischen Erstarrung herauszuführen; dabei kam es jedoch vor allem bei einer Übererregung durch L-Dopa zu kinematographischen Visionen; andere Patienten dagegen «gerieten in außergewöhnliche, zuweilen stundenlange Wahrnehmungsstillstände, in denen nicht nur die visuelle Kontinuität verloren ging, sondern auch der Fluss ihres Handelns und Denkens immer wieder stockte.» «Diese Beobachtungen zeigten, dass das Bewusstsein für etliche Zeit erstarren kann, während automatische, unbewusste Funktionen wie die Atmung oder die Körperhaltung aufrechterhalten werden.» (oliver sacks: A. a. O., 35) Wie sich eine solche Erstarrung der Wahrnehmung geltend macht, läßt sich in einem einfachen Versuch beobachten, den wir bereits kennen: Schauen wir uns in Abb. B 54a noch einmal den necker-Würfel an, so erleben wir selber, wie die Perspektive unwillkürlich in einem Rhythmus von wenigen Sekunden springt: mal sehen wir den Würfel hinter, mal vor der Papierebene; dieser Wechsel der räumlichen Wahrnehmung ergibt sich aus den normalen Hirnaktivitäten; Patienten mit einem postencephalitischen Syndrom hingegen können minuten- oder sogar stundenlang eine einmal «gewählte» Perspektive beibehalten. (Vgl. A. a. O., 35.) Die Folgerung, die sich aus diesem Befund für die Zeitstruktur des Bewußtseins ergibt, ist eindeutig: Wenn es möglich ist, daß der Strom des Bewußtseins sich in filmähnliche Einzelbilder zerlegt, ja, wenn er sich sogar anhalten oder «einfrieren» läßt, so ist der Eindruck eines kontinuierlichen Bewußtseinsstroms ebenso ein Produkt des Gehirns wie die gesamte Wahrnehmung sonst. Auch die kantische «Einheit des Bewußtseins» wird durch Gehirnfunktionen hervorgebracht, die charakteristischen Störungen unterliegen können. In Abb. B 43 zum Beispiel haben wir gesehen, daß die Wahrnehmung dynamischer Formen in dem visuellen Feld V 3 zustande kommt und die Wahrnehmung von Bewegung im Feld V 5 generiert wird; was passiert, wenn durch einen Schlaganfall gerade diese Areale geschädigt werden, zeigte sich charakteristischerweise an dem Fall der Patientin L. M., den josef zihl und seine Mitarbeiter 1983 in München veröffentlichten: Die Patientin sah sekundenlang erstarrte Bilder und war außerstande, Bewegungen ringsum wahrzunehmen. (Vgl. oliver sacks: Im Strom des Bewusstseins, in: Gehirn und Geist, 4/2005,

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35; bryan kolb – ian q. whishaw: Neuropsychologie, 215.) Dieser Fall einer «Bewegungsblindheit» ist ursächlich gänzlich verschieden von dem kinematographischen Sehen etwa bei postencephalitischen Patienten; gleichwohl belegt auch er, daß unser Bewußtsein wohl wirklich sich aus einer Bildfolge in «richtiger» Frequenz zusammensetzt («Bilder» hier verstanden als die zeitlich kleinsten Einheiten möglicher Erfahrung über alle zur Verfügung stehenden Sinnesorgane). Daß es sich so verhält, hätten wir uns eigentlich schon denken können, als wir seinerzeit auf die Arbeitsweise der Assoziationscortices (vgl. Abb. A 40; A 41) und später auf die getrennten Nervenbahnen zu sprechen kamen, die für die Signalübertragung in der Sehrinde zuständig sind (vgl. Abb. B 43); denn was auch immer im einzelnen sich im Gehirn abspielen mag, – es wird Zeit verbrauchen. Sodann hörten wir vorhin noch, daß die Synchronisation ganzer Neuronen-Ensembles, die darüber entscheidet, welche Wahrnehmungen als bedeutungsvoll genug ins Bewußtsein vordringen, einem «neuronalen darwinismus» unterliegt. Noch bevor eine Wahrnehmung bewußt wird, müssen deshalb bereits eine Reihe von Attributen, die wir dem jeweiligen Gegenstand zuschreiben, durch das vereinheitlichte Feuern großer Neuronengruppen in den entsprechenden sensorischen Cortexarealen miteinander verknüpft werden; – allein bei den visuellen Wahrnehmungen ist, wie dargestellt, die Zusammenführung der Arbeitsresultate einer Vielzahl getrennt arbeitender Module erforderlich, um etwa zu sehen, wie eine Frau in einem roten Kleid sich in einem tapezierten Zimmer zwischen den Möbeln bewegt (und in dieser Person womöglich die eigene Frau oder Freundin wiederzuerkennen). «Unser Erleben einer Einheit in der Wahrnehmung legt somit nahe, daß das Hirn auf irgendeine Weise all diejenigen Neuronen in einer wechselseitig kohärenten Weise zusammenbindet, die aktiv auf verschiedene Aspekte eines wahrgenommenen Objekts reagieren», schreibt francis crick (1916 –2004) in seiner schon mehrfach zitierten Arbeit Was die Seele wirklich ist (a. a. O., 256; vgl. Bd. I 103). Damit die synchronisierte Aktivität eines (oder mehrerer) Neuronen-Ensembles ins Bewußtsein gelangen kann, bedarf es allerdings eben nicht nur der Überschreitung einer gewissen Intensitätsschwelle, sondern es muß die gemeinsame Aktivität ganzer Neuronen-Ensembles mindestens ca. 100 Millisekunden lang auf diesem Niveau gehalten werden (vgl. christof koch: Kintopp der Sinne, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 42); – es kommt zu Rhythmen von etwa 10 Hertz (zu Alpha-Rhythmen); benjamin libet (geb. 1916) spricht sogar von 500 Millisekunden (Mind time, 147). Eine solche Zeiteinheit entspricht der Dauer dessen, was der Psychologe j. m. stroud vor etwa 50 Jahren als ein

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Abb. D 10: Die Korrelation des salvenartigen Feuerns von Neuronen erlaubt es, unterschiedliche Wahrnehmungen zu synchronisieren

«perzeptives Moment» bezeichnete. Abb. D 10 zeigt einmal (sehr vereinfacht) Neuronen, die salvenartig alle 100 Millisekunden feuern. Jede kurze senkrechte Linie stellt das Feuern von Neuronen dar: auf der oberen waagerechten Linie ist das Feuern eines Neurons gezeigt, das die Farbe «Rot» signalisiert, darunter das Feuern eines Neurons für «kreisrund», darunter das Feuern eines für «blau», darunter das Feuern eines für «quadratförmig»; indem das Feuern für «rot» und «kreisrund» ebenso miteinander korreliert auftritt wie das Feuern für «blau» und «quadratförmig, kann das Gehirn herausfinden, daß der kreisrunde Gegenstand rot und das quadratförmige Objekt blau ist. (Vgl. francis crick: Was die Seele wirklich ist, 259– 260.) Nun muß man der Zeit, die für die Synchronisation des Feuerns vieler Milliarden von Nervenzellen nötig ist, nur noch den Effekt der neuronalen Trägheit hinzufügen, um zu verstehen, wie der Eindruck der Kontinuität des Bewußtseins zustande kommt. Vor allem christof koch verweist darauf, daß unser Leben stets ein Stück weit der Realität hinterherhinkt, – man spricht von Hysterese («Verzögerung»; griech.: die hystére¯sis – eigentlich: Fehlen, Mangel; von hystereı˜n – später sein) und meint damit, daß die Aktivität eines Neuronen-Ensembles über den aktuellen Reiz hinaus nachwirkt. (Vgl. oliver sacks: Im

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Strom des Bewusstseins, in Gehirn und Geist, 4/2005, 39.) Einen solchen Effekt haben wir alle schon einmal beobachtet, wenn wir im Kino einen Film angeschaut haben, in dem ein Auto mit einem Speichenrad anfuhr: mit einem Mal sah es so aus, als liefen die Räder rückwärts oder als stünden sie beinahe still; ein solcher Eindruck entsteht, weil die Bildfrequenz des Films (24 Bilder pro Sekunde) nicht mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Räder des Autos synchronisiert ist: sie bleibt hinter der Wirklichkeit zurück. Etwas Vergleichbares ereignet sich auch neuronal. In Versuchen, die benjamin libet (Mind time, Kap. 2: Die zeitliche Verzögerung unseres sensorischen Bewusstseins, S. 57–82) zur Untersuchung der Zeitstruktur des bewußten Erlebens unternahm, ergab sich zum Beispiel, daß die Reizung des somatosensorischen Cortexareals, an dem die Empfindung der Hand verarbeitet wird, mit rund 500 Millisekunden (einer halben Sekunde) Verzögerung das Empfinden eines Kribbelns auf der Haut erzeugt, wohingegen eine direkte Hautreizung praktisch sofort die entsprechende Empfindung auslöst; auch als libet in einem Abstand von einer Viertelsekunde erst das Hirnareal der einen Hand und dann die andere Hand direkt reizte, stellte sich das Empfinden des Kribbelns zuerst an der unmittelbar stimulierten Hautstelle ein; wenn indessen die Hautreizung um eine Viertelsekunde der Hirnstimulation vorausging, unterblieb an der direkt gereizten Hautstelle die Kribbelempfindung; der «zweite Reiz hatte den ersten ‹maskiert› – wurde dafür selbst jedoch früher wahrgenommen. Das Gehirn datierte ihn offenbar zurück.» (christof koch: Kintopp der Sinne, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 44) Abb. D 11 gibt das libetsche Experiment und das Phänomen der Zeittäuschung der Wahrnehmung schematisch wieder. Solche Experimente zeigen, daß die «zeitliche Auflösung unserer Wahrnehmung begrenzt» ist. «Sie vollzieht sich vermutlich in einer Abfolge einzelner Momentaufnahmen. Der entscheidende Punkt dabei ist: Ereignisse, die in ein und dasselbe Zeitfenster fallen, erleben wir als synchron. Fallen sie dagegen in aufeinander folgende Perioden, erscheinen sie als nacheinander stattfindend. – Die jeweilige Dauer solcher ‹Schnappschüsse› schwankt je nach Studie zwischen 20 und 200 Millisekunden . . . – Angenommen, die Dauer jeder Momentaufnahme nimmt zu, sodass weniger Schnappschüsse pro Sekunde aufgenommen werden – dann erschiene jedes äußere Ereignis für sich kürzer und die Zeit rast. Werden die Einzelbilder dagegen kürzer – treten also mehr davon pro Zeiteinheit auf –, verstreicht die Zeit subjektiv langsamer.» (christof koch: Kintopp der Sinne, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 45) Daran liegt es, daß uns die Zeit in euphorischen Momenten wie im Nu zu verfliegen scheint, während sie in Gefahrenaugenblicken wie in Zeitlupe dahinzukriechen scheint; of-

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Abb. D 11: Sinnestäuschung in der Datierung einer Empfindung: a) die Hirnreizung erzeugt die entsprechende Empfindung auf der Haut mit einer Verzögerung von einer halben Sekunde; b) eine direkte Hautreizung führt (fast) sofort zu einer Hautempfindung; c) geht die Stimulation des somatosensorischen Hirnareals einer Hand der direkten Hautreizung der anderen Hand um eine Viertelsekunde voraus, so wird die direkte Hautreizung zuerst registriert; d) im umgekehrten Falle (erst der direkte Hautreiz der einen Hand, dann im Abstand einer Viertelsekunde die durch Hirnstimulation erfolgende Reizung der anderen Hand) wird an der direkt gereizten Stelle gar kein Kribbeln empfunden; dafür wird der durch Hirnstimulation verursachte Reiz als früher wahrgenommen.

fenbar verändern die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin, die für «Nachdenklichkeit» und «Impulsivität» stehen, entscheidend auch das Zeiterleben bewußter Wahrnehmungen. Wie aber, wenn unser Bewußtsein aus «Schnappschüssen» sich zusammensetzt, entsteht dann der Eindruck von Kontinuität? benjamin libet, der die Diskontinuität der Wahrnehmung für einen «Filtermechanismus» hält, der das Bewußtsein daran hindere, «durcheinander ge-

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Abb. D 12: Eine Überlappung diskontinuierlicher geistiger Ereignisse konstituiert den Eindruck eines gleichmäßigen Bewußtseinsstroms

bracht zu werden» (Mind Time, 151), begründet die Kontinuität des bewußten Erlebens mit einer Überlappung der einzelnen Ereignisse, wie Abb. D 12 sie darstellt. Wie man in der Darstellung libets sieht, beginnt eine Wahrnehmung plötzlich bewußt zu werden, wenn der unbewußt einleitende Prozeß der Aktivität entsprechender Neuronen-Ensembles 500 Millisekunden lang andauert. «Das bewusste geistige Ereignis M-2 kann nach seinen unbewussten einleitenden Prozessen, aber vor dem Ende von M-1 einsetzen. Das gleiche gilt für M-3 und M-4. – Die Überlappung der aufeinanderfolgenden bewussten geistigen Ereignisse verhindert Brüche im Bewusstseinsstrom.» (benjamin libet: Mind Time, 150) Oder umgekehrt gesagt: Der Eindruck von Kontinuität ergibt sich aus einem steten hystére¯sis-bedingten Überlappen einzelner aufeinanderfolgender perzeptiver Momente. Die von sacks «beobachteten Formen des kinematographischen Sehens» demgegenüber beruhen wohl «auf einer veränderten Erregbarkeit von Neuronenkoalitionen, das heißt einem Zuviel oder Zuwenig an Hysterese». (oliver sacks: Im Strom des Bewusstseins, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 39) Wenn wir bedenken, was mit dem Aufbau eines solchen Bewußtseinsstroms in der Evolution erreicht worden ist, so besteht der Vorteil eines kohärenten Zeiterlebens nicht nur in der Möglichkeit, eine gegenwärtige Wahrnehmung mit bestimmten Gedächtnisinhalten zu vergleichen; mit der kontinuierlichen Aufeinanderfolge einzelner Eindrücke (Wahrnehmungen, Episoden) entsteht als «Ordnung des Nacheinanders», wie immanuel kant sich ausdrückte, zugleich auch die Vorstellung von kausaler Gesetzmäßigkeit. (Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Analytik, B. Zweite Analogie, Werke in 12 Bden., III 226– 242) Zum ersten Mal in der Entwicklung des Lebens muß es mit dem Auftreten einer kontinuierlichen Zeitstruktur bewußten Erlebens zugleich

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möglich geworden sein, Ereignisse in einem Geflecht von Ursache und Wirkung miteinander zu verbinden und vor allem auch das eigene Verhalten auf seine Konsequenzen hin zu befragen. Egal, ob wir donald r. griffin folgen und eine gewisse Bewußtheit schon bei den komplexen Aktivitäten von Insekten als gegeben annehmen wollen, – der Schritt zu einem fließenden Bewußtsein, zu einer zeitlichen Kohärenz des Erlebens, dürfte sich wohl erst beim Übergang von den Amphibien zu den Reptilien entwickelt haben; setzen wir die Evolution der Reptilien im Karbon an, also in der Zeit zwischen 360– 286 Millionen Jahren, und ihre Radiation im Perm (zwischen 286 –248 Millionen Jahren), so dürfte sich «unsere» Art von zeitgebundenem Bewußtsein jetzt selbst zeitlich in seiner Entstehung festlegen lassen: es ist gerade eben etwa 300 Millionen Jahre alt. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 547– 557: Der großartige Aufstieg des Lebens im Karbon und Perm.) Als ein «Beweis» für diese These mag das Verhalten von Fröschen dienen: «Die meisten Froschlurche haben ein sogenanntes ‹Beuteschema›, nach dem sie sich beim Nahrungserwerb richten. Man kann es kurz mit folgenden Worten kennzeichnen: ‹Kleines, sich unregelmäßig bewegendes Ding löst Zuschnappen aus.› Wie wichtig und entscheidend die Bewegung der Beute ist, sieht man sehr schön, wenn man im Terrarium einer Erdkröte einen langen Regenwurm vorsetzt. Bewegt sich das Vorderteil des Wurmes, so fährt die Kröte herum und zielt genau auf das Vorderende; ruht der Wurm dann vorn und ringelt sich hinten, so gibt die Kröte das Vorderende auf und wendet ihre Aufmerksamkeit dem Hinterende zu. Es sieht so aus, als ob sich die Kröte nicht mit einem, sondern mit zwei verschiedenen Beutetieren beschäftige – und vermutlich wird es von der Kröte auch so erlebt.» (hans rudolf heusser: Die Froschlurche, in: Grzimeks Tierleben, V 369– 370) Offenbar reagiert die Kröte nur von Fall zu Fall auf den für sie spezifischen auslösenden Reiz, und sie ist außerstande, die Wahrnehmung des sich bewegenden Vorderendes eines Wurms mit der Wahrnehmung des sich bewegenden Hinterendes in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu stellen: – es gibt keinen Bewußtseinsstrom, der die «Momentaufnahmen» miteinander verschmelzen könnte. In diesem Sinne sind Amphibien wohl wirklich reine «Augenblickswesen». Erst mit der bewußt erlebten Kohärenz der Zeit entsteht ein Empfinden von Dauer; zugleich damit beginnt allerdings wohl auch das Leiden an der Vergänglichkeit der Zeit, mithin die Sehnsucht nach zeitenthobenem Fortbestand, nach Ewigkeit, wie sie dann, Jahrhunderte von Millionen Jahren später, in den Religionen der Menschheit thematisiert werden wird. An dieser Stelle genügt es, auf den subjektiven Charakter auch der Zeitlichkeit des Bewußtseins hinzuweisen;

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denn erneut finden wir, wie recht immanuel kant hatte, als er nicht nur die räumliche Wahrnehmung (den «äußeren Sinn»), sondern auch die Zeit (den «inneren Sinn») für eine «Anschauungsform» des (transzendentalen) «Subjekts» erklärte (Bd. I 440; 470– 471). Zeit, soviel wissen wir jetzt, gibt es nicht «an sich», vielmehr wird sie durch die Eigenart neuronaler Aktivitäten in die Wahrnehmung der Wirklichkeit eingetragen. Ein Wort noch sollten wir sagen über Menschen, die über kein Zeitempfinden mehr verfügen, weil ihr Erinnerungsvermögen (ihr biographisches Gedächtnis) gestört ist. So können bei Schädigungen des Temporallappens (z. B. durch eine Virus-Entzündung, durch einen Schlaganfall oder durch die alzheimer-Erkrankung) Jahrzehnte der persönlichen Erinnerung einfach verlorengehen: auf Grund einer Schädigung von Teilen des Temporallappens rund um den Hippocampus tritt eine retrograde Amnesie ein (vgl. Bd. I 331; 336), bei der vor allem die Erinnerung an Zeit und Ort eines Ereignisses abhanden kommt. Bei einer Schädigung des Hippocampus geht, wie wir wissen (vgl. Bd. I 330), die Fähigkeit, sich etwas Neues zu merken, verloren – es kommt zu einer anterograden Amnesie. Bei Schädigung des basalen Vorderhirns erlischt die zeitliche Zuordnung der erinnerten Ereignisse; das basale Vorderhirn (vgl. Abb. B 12) ist offenbar diejenige Region des Gehirns, die «bei der Rekonstruktion von Zeitfolgen früherer Geschehnisse» entscheidend beteiligt ist. (antonio r. damasio: Wenn das Zeitempfinden verloren geht, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Gehirn und Erleben, 2/2006, 79) Ein weniges in unserem Gehirn also genügt, und der vom Gehirn selber erzeugte Zeitstrom reißt ab.

d) Die philosophisch-theologische Frage oder: Zur Herkunft des Geistes Indem wir bisher versucht haben, die Herkunft auch nur des primären Bewußtseins mit den Mitteln der modernen Neurologie zu erklären, haben wir – beabsichtigterweise, aber dennoch unvermerkt – eine rote Linie überschritten, die von vielen abendländischen Philosophen rigoros gezogen wurde und von allen Theologen, die dem Kirchendogma unterstehen, auch in der Gegenwart noch vehement verteidigt wird. Ihr Argument muß als ein metaphysisches bezeichnet werden und bedient sich formal des «Kausalitätsprinzips», wonach nichts geschieht ohne eine zureichende Ursache. So heißt es im «Weltkatechismus»

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der katholischen Kirche von 1992: «Die Existenz des Schöpfergottes kann mit Sicherheit (sic!, d. V.) dank dem Licht der menschlichen Vernunft aus seinen Werken erkannt werden.» (Catéchisme de l’Église catholique, Nr. 287) Wie diese «Vernunft» näherhin zu verstehen ist, erläutert – immer wieder – der Wiener Kardinal christoph schönborn: «Es ist völlig der Vernunft entsprechend, Sinnhaftigkeit, Plan (sc. in der Natur, d. V.) anzunehmen, auch wenn die naturwissenschaftliche Methode diese Frage ausgrenzt. Aber mein Hausverstand darf nicht durch die naturwissenschaftliche Methode ausgegrenzt werden. Die Vernunft sagt mir, dass es Plan und Ordnung, Sinn und Ziel gibt, dass eine Uhr nicht zufällig entstanden ist und noch viel weniger der lebendige Organismus einer Pflanze, eines Tieres oder gar des Menschen.» (Findet sich in der Natur Gottes Plan oder ist alles nur Zufall?», in: Werte und Wandel, Nr. 48, Westfalen Blatt, 18. 3. 06, S. 3) «Wir», spricht der römische Katechismus verbindlich für etwa 1 Mrd. Menschen, «glauben, dass Gott die Welt nach seiner Weisheit erschaffen hat. Sie ist nicht das Ergebnis irgendeiner Notwendigkeit, eines blinden Schicksals oder des Zufalls.» (Catéchisme de l’Église catholique, Nr. 295) Niemals also kann etwas ontologisch Höheres von etwas ontologisch Niederem abgeleitet werden; ergo, daß Geist allein durch Geist (von oben her), nicht aber durch etwas Ungeistiges, Materielles (von unten her) erklärt zu werden vermag. Die Existenz von Geist im Menschen bewiese demnach zugleich zweierlei: Es müßte notwendigerweise eine oberste geistige Ursache geben, einen Schöpfergott, der den Geist des Menschen in strengem Sinn geschaffen hat oder erschafft, und es müßte dieser Geist selbst als eine immaterielle Substanz dem Körper innewohnen. Zubilligen muß man diesem Gedankengang eine immanente Logik: Wenn man erst einmal annimmt, daß sich die phänomenale Ordnung der Welt in klar voneinander abzugrenzende Schichtungen einteilen läßt und daß diese Abgrenzungen als unveränderbare («geschaffene») Zustände zu betrachten sind, deren Eigenart im letzten nur einer geistigen Begründung zugänglich ist, so erscheint es bloß als folgerichtig, immaterielle Substanzen einzuführen, die der verschiedenen Seinsart der Dinge zu Grunde liegen; und all dies erst einmal vorausgesetzt, ergibt sich die aristotelische Lehre wie von selbst, daß es zwischen den Substanzen keine Übergänge geben könne: Aus Totem kann nichts Lebendes entstehen, aus nur Lebendigem nichts Geistiges, – vielmehr kann Leben einzig hervorgehen aus der Verbindung der Materie mit einer eigenen (von Gott geschaffenen) Seelen-Substanz, und ebenso entsteht Geist durch die Verbindung von Lebendem mit einer eigenen (von Gott geschaffenen) Geistseele. Wir sahen schon in der Einleitung (Bd. I 17; 27– 28), daß dieses Konzept nicht

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unbedingt als «dualistisch» in platonischem Sinne abqualifiziert werden muß: die «Geistseele» kann so geschaffen sein, daß sie auf den Körper hingeordnet ist und seiner, wie ein Musiker seiner Geige, bedarf, um sich mit seiner Hilfe selber aufzuführen; und doch besteht ein prinzipieller Dualismus im Erklärungsansatz: alles «Geistige» ist wesensverschieden von allem Stofflichen, oder anders gesagt: von rein materiellen Prozessen her ist es grundsätzlich nicht möglich, geistige Vorgänge zu begreifen. Beide gehören verschiedenen Ordnungen an, und beide sind inkommensurabel (spätlat.: incommensurabilis – unvergleichbar) miteinander. – Doch gerade dieses Weltbild mußte mit dem Beginn der Neuzeit in eine Krise geraten, und als die Sollbruchstelle erwies sich sein vermeintlich stärkster Punkt: die zeitlose Festgefügtheit.

α) Variationen der Neuzeit Der enorme Vorteil des bis in die Anfänge der Neuzeit hinein gültigen Weltbildes lag nicht allein in seinem Ordnungsdenken, das allem Seienden einen klar umschreibbaren (von Gott vorgegebenen) Platz zuwies, sondern vornehmlich in seiner unerschütterlichen Solidität: Die Dinge sind, wie sie sind; sie brauchen sich nicht zu verändern, ja, sie können sich im wesentlichen gar nicht verändern, – eine unerhört beruhigende Versicherung, die ein Grundeinverständnis mit der Welt voraussetzte und ermöglichte. Und doch begründete die scheinbare Kompaktheit dieses Weltbildes in Wahrheit seinen Niedergang: Spätestens von dem Moment an mußte es seine Konsistenz verlieren, in dem sich erstmals zeigte, daß die Dinge keinesfalls immer so waren, wie sie (heute) sind. Man mag den Schrecken begreifen, der die vatikanischen Theologen zu Anfang des 17. Jhs. überkam, als galileo galilei (1564 –1642) ihnen die Bewegung der Planeten um die Sonne demonstrierte (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 18 –24); doch die rein mechanische Bewegung von Himmelskörpern stellte an sich noch keine wirklich metaphysische Herausforderung dar; sie veränderte die sinnliche Vorstellung von der Position des Menschen im All, doch über seine Bedeutung inmitten der Schöpfung besagte sie eigentlich gar nichts. Anders, ganz anders bestellt war es um die Vision des giordano bruno (1548 –1600) von einer Welt, die in Raum und Zeit (!) nur unendlich sein könne, um als Spiegel eines unendlichen Gottes zu dienen (vgl. e. drewermann: Giordano Bruno oder Der Spiegel des Unendlichen, 136–137): Trifft diese Lehre zu, ist nichts mehr feststehend, unterliegt alles einem ewigen Werden, vermag ein jedes es selbst und ein anderes seiner selbst zu werden; die Unterschiede heben sich auf von Diesseits und Jenseits, von Hölle und Himmel,

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von Zeit und Ewigkeit. In giordano brunos Worten: «Denn die Materie und Substanz der Dinge ist unzerstörbar und muß in all ihren Teilen alle Formen annehmen, damit die Materie . . . alles werde, alles sei, wenn auch nicht zur gleichen Zeit und in ein und demselben Augenblick der Ewigkeit, so doch wenigstens nacheinander und wechselweise zu verschiedenen Zeiten und Augenblikken der Ewigkeit.» (Das Aschermittwochsmahl, 5. Dialog, S. 207) Die Welt als ein unendliches Werden – so abstrakt, als eine reine Idee, bruno seine große Intuition auch vortrug, sie enthielt eine innere Dynamik, die in letzter Konsequenz auch die Entgegensetzung von Materie und Geist hätte hinwegräumen müssen. Wenn das All selbst (in) «Bewegung», das heißt jetzt: in ständiger Wandlung begriffen ist, so ist es unmöglich, zwischen dem «Höheren» und dem «Niederen» unübersteigbare metaphysische Hürden zu errichten; – dann kann es auch keine Ideen (Dogmen) geben, die mit dem Anspruch auf Wahrheit unwandelbar blieben. Die päpstliche Inquisition ahnte in gewissem Sinne das Richtige: brunos Gedanken waren ihr Tod, und so tötete sie, was sie tödlich bedrohte; am 17. Februar 1600 ließen Kardinal robert bellarmin (1542 – 1621), dieser heilig gesprochene Verteidiger der katholischen Lehre in der Gegenreformation, und seine Mitstreiter auf dem Blumenmarkt Roms bei lebendigem Leibe bruno verbrennen und zeitgleich auf den Stufen von Sankt Peter all seine Bücher. Heutigentags (das heißt seit etwa 50 Jahren) bemüht sich wohl auch das katholische Lehramt um eine Aussöhnung mit dem evolutiven Denken der Naturwissenschaften; seine neuerlich bekundete Überzeugung klingt dabei denkbar einfach: Warum sollte Gott, der Allmächtige, der Ewig-Seiende, nicht auch eine werdende Welt geschaffen haben können? Ja, warum auch nicht? Wir lassen einmal die Schwierigkeit beiseite, die gottfried wilhelm leibniz (1646 –1716) in seiner Theodizee von 1710 hatte lösen wollen: wie ein in sich vollkommener Gott eine in sich unvollkommene, zu ihrer Vollkommenheit allenfalls noch sich entwickelnde Welt geschaffen haben könne; aber selbst insofern wir annehmen, eine werdende Welt vermöchte – wenn auch nur in einem absoluten Gegensatz – das geeignete Abbild einer in sich unveränderlichen Gottheit zu sein, so existiert dieser «Burgfriede» zwischen Theologie und Naturwissenschaft doch nur so lange, als man sich zutraut, die Welt von Gott her, aus der Perspektive des Allerhöchsten selbst (philosophisch: rein deduktiv), zu betrachten (vgl. zu dem nötigen Perspektivenwechsel e. drewermann: Glauben in Freiheit I 244 –267); die umgekehrte Perspektive hingegen, induktiv, von der Welt aus gedacht, besitzt keinen Erklärungswert! Natürlich wäre es an sich auch in einer werdenden Welt denkbar, daß alle «substantiellen» Veränderun-

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gen ihren Grund in einem «Eingreifen» der Gottheit fänden; – eben in diesem Konzept von dem ständigen «Eingreifen» Gottes in die Geschichte der Natur sowie in die Geschichte des Menschen besteht denn auch unverbrüchlich bis zum heutigen Tage die theologische Betrachtungsweise der Wirklichkeit: daß es Leben gibt, bewirkte Gott, indem er der Materie seinen Atem einhauchte, wie er es besonders bei Adam tat (Gen 2,7), und von der menschlichen Vernunftseele wissen wir bereits, daß sie nach kirchlicher Lehre in jedem Falle eine besondere Schöpfung Gottes darstellt. Der Evolutionsgedanke der Naturwissenschaften indessen hat mit solch einem Glauben an permanente göttliche Eingriffe absolut nichts zu tun; er versucht, wie bereits immanuel kant in seiner Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 oder wie pierre simon de laplace (1749 –1827) in seiner Mechanik des Himmels (frz.: Celestial mechanics) von 1799, die Welt als das Ergebnis eines Prozesses zu begreifen, zu dessen Erklärung nichts weiter vonnöten sein soll und darf als eine genügende Kenntnis der Gesetze der Natur (wie isaac newton, 1643–1727, sie begründet hat). Jede Einmischung Gottes in den Gang der Welt erschien bereits in der Zeit der Aufklärung im 18. Jh. nicht nur als überflüssig, sondern als etwas Willkürliches, Unvernünftiges, das seine Herkunft gemeinhin der Unwissenheit und Wundersucht der Menschen verdankte. Das 19. Jh. dann entdeckte, darauf aufbauend, Schritt für Schritt die Tiefe der Zeit, in welcher die Gebirge und die Meere entstanden waren und in welcher auf dieser Bühne auch die Geschichte des Lebens begonnen haben mußte. charles lyell (1797–1875), der in seinen Grundlagen der Geologie von 1830 –1833 als erster die Formation der Erde als das Resultat einer geschichtlichen Entwicklung zu begreifen versuchte, öffnete damit zugleich das Fenster der Zeit, durch welches sein Schüler charles darwin (1809 –1882) in der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl von 1859 auch die vielfältigen Formen des Lebens als das Ergebnis einer allmählichen Evolution zu betrachten vermochte. In darwins Weltsicht gibt es zwei zentrale Punkte, die mit der dogmatischen Schöpfungslehre der Kirche prinzipiell unvereinbar sind; das ist zum einen: das Problem des Leids in der Welt. Nach theologischer Auffassung sollen die physischen Übel der Welt ihre Ursache in der Auflehnung von Engeln haben, die durch ihren Ungehorsam zu Teufeln wurden und seither die «geistige Natur und indirekt sogar die physische Natur» mit schweren Schäden heimsuchen; warum Gott «das diabolische Treiben» überhaupt zuläßt, bleibt auch bei allem theologischen Nachsinnen «ein großes Geheimnis», doch dient diese Auskunft als einzig mögliche Erklärung dafür, daß eine Welt, die von einem gütigen und weisen Gott geschaffen sein soll, derart gräßliche und grau-

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same Züge aufweist. (Vgl. Weltkatechismus, Nr. 395; vgl. dazu e. drewermann: Der sechste Tag, 15 –30; 33 –55; 213 –231; ders.: . . . und es geschah so, 130 –144.) Einer solchen nicht nur metaphysischen, sondern hochgradig mythologischen «Begründung» des Zustands der Welt zeigt sich die darwinsche Lehre als weit überlegen; denn deren Erklärung der Evolution aus ungerichteten Zufällen (Mutationen) und der Auswahl der Tauglichsten durch die wechselnden Umstände der Lebensbedingungen weist gerade jene Kälte und Gleichgültigkeit auf, die dem Eindruck der sinnlosen Mechanik des Leidens in der Natur auf das genaueste entspricht; vor allem: das «Böse» erscheint in darwins Konzept nicht länger mehr als ein an sich vermeidbares, schuldhaftes Randphänomen der Weltwirklichkeit, sondern es erweist sich als Motor der gesamten Entwicklung. Wir müssen nur noch einmal daran denken, wie selbst in unserem Kopf die Überlebenschancen von Neuronen durch einen darwinistischen «Kampf ums Dasein» bestimmt werden, wie die Verknüpfungen zwischen den Neuronen einem Sieg der Erfolgreichsten entstammen und wie selbst ganze Neuronen-Ensembles darum konkurrieren, welch eine Information schließlich als wichtig genug empfunden wird, um ins Bewußtsein durchgeschaltet zu werden, und wir sind längst der Tatsache inne, daß sogar die Prozesse, die an der Entstehung von «Geist» beteiligt sind, denselben Mechanismen folgen, die der Entwicklung des Lebens im ganzen zu Grunde liegen. Funktionale Durchsetzungsstrategien, nicht aber Mitleid und Güte bestimmen die Organisationsprinzipien der natürlichen Welt bis hinein in den Aufbau der Grundlagen unseres eigenen Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Handelns. Und zum zweiten: Das evolutive Denken folgt notwendigerweise einem methodischen Atheismus. Es muß versuchen, die Welt zu erklären, wie wenn es Gott nicht gäbe; keine Erklärung kann als naturwissenschaftlich korrekt auftreten, die einen Gott benötigt, um ein bestimmtes Naturphänomen (oder die Natur als ganze) begreifbar zu machen, und sei das betreffende Ereignis in der Natur (oder die Tatsache der Existenz der Natur insgesamt) auch noch so rätselhaft. Naturwissenschaftlich ist es schlechthin nicht statthaft, zu sagen, der Mensch existiere, weil Gott ihn geschaffen habe (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 56 –63), oder zu sagen, etwas Geistiges (Seelisches) im Menschen gebe es nur, weil Gott es so gefügt habe. Zwar erklärt der Weltkatechismus der katholischen Kirche ausdrücklich, daß «die Einheit von Seele und Körper so grundlegend» sei, daß man ein Recht habe, «die Seele als ‹Form› (sc. gestaltgebendes Prinzip, d. V.) des Körpers» zu betrachten, «das heißt, es geschieht dank der Geistseele, daß der aus Materie bestehende Körper ein menschlicher, lebender Körper ist» (Nr. 365); und er betont ferner: «Der Mensch besteht aus

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Körper und Seele. Die Lehre des Glaubens bestätigt, daß die geistige und unsterbliche Seele unmittelbar von Gott geschaffen wird» (Nr. 382); mit mehr Emphase kann man nicht rund 1 Mrd. Menschen zum Glauben vorschreiben, daß die «Seele» des Menschen – sein Bewußtsein, sein Selbstbewußtsein, sein Personsein – sich evolutiv eben nicht erklären lasse noch überhaupt erklärt werden dürfe, sondern daß in dieser Frage allein der Kreationismus als die (dem Dogma) «angemessene» Betrachtungsweise zu gelten habe; doch genau diese Einstellung bedeutet einen diametralen Bruch – einen schweren Regelverstoß – gegenüber dem naturwissenschaftlichen Denken der Neuzeit. Wir haben nicht über viele Seiten hin uns klarzumachen versucht, wie Neuronen gemäß den Forschungsergebnissen von charles scott sherrington und vielen anderen ihre Informationen weitergeben, wie die Verknüpfung bestimmter Neuronen miteinander in der Beschreibung von eric r. kandel identisch ist mit den ersten Lern- und Gedächtnisprozessen, wie die Arbeitsweise der Neuronen in der primären Sehrinde in der Darstellung von david h. hubel mit den Anfängen optischer Wahrnehmung einhergeht oder wie die Zusammenarbeit von Hippocampus und Amygdala im limbischen System in der Vorstellung von joseph e. ledoux das gegenwärtige Erleben von Angst mit der Erinnerung an vergangene Angstsituationen verbindet, um uns jetzt sagen zu lassen, dieser Evolutionsweg des Geistes in unserem eigenen Gehirn könne (vielleicht) gewisse materielle Korrelate des Geistes, doch eben nicht den «Geist» selber erklären. Kein evolutives Denken kann eine Vorstellung akzeptieren, nach welcher ein «Geist» als ein prinzipiell unbegreifliches Gespenst in der Neuronenmaschine Allotria treibt. Der «darwinismus» der Naturwissenschaften ist nicht einfach eine façon de parler (franz.: eine bloße Sprechweise), die man auch durch eine ganz andere Darstellungsart ersetzen könnte; der «darwinismus» hat sich inzwischen bewährt nicht nur in der Biologie, er hat sich auch bewährt bei der Erklärung der Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 659– 668; 679 –692), ja, er scheint mittlerweile sogar in der Kosmologie bei der Frage nach der Existenz und Eigenart «unseres» Universums brauchbare (quantenphysikalische) Antworten zu liefern. (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 1047–1061.) Insofern ist der ideologische Abwehrkampf der katholischen Kirche (und anderer ihr nahestehender fundamentalistischer Gruppen) gegen die «Abstammungslehre» zwar verständlich und (innerhalb ihrer tradierten Denkvoraussetzungen) in sich konsequent, doch ist die Auseinandersetzung im Grunde längst verloren: Wenn erst einmal die Heraufkunft des heutigen Menschen aus der Tierreihe durch reine Zufallsprozesse vor 5 –6 Mio. Jahren (oder auch nur in

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den letzten 300 000 Jahren!) angesichts der erdrückenden Beweisfülle der Paläontologie eingestanden werden muß (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 255 –257), so ist es nur folgerichtig, die darwinschen Gedanken erst recht in der Cerebralentwicklung jedes einzelnen Menschen rekapituliert zu finden. (Vgl. gerald m. edelman: Unser Gehirn – ein dynamisches System, 113 –115.) Wenn es – ohne göttliche Eingriffe – möglich war, daß aus Protozellen Eukaryoten wurden (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 735–760), aus Eukaryoten vielzellige Lebewesen, die, wie wir sahen, der «Arbeitsteilung» von Immunologie, Endokrinologie und Neurologie noch voraus liegen, wenn aus Vielzellern Chordatiere und Wirbeltiere sich bilden konnten (vgl. a. a. O., 118 –119) mit Nervensystemen, in denen die Grundeinrichtungen des Zentralnervensystems der viel späteren Säugetiere und Primaten um rund 450 Millionen Jahre (im Ordovizium mit der Entstehung der ersten Fischartigen) vorweggenommen wurden (a. a. O., 100 –106; 535 –544), so sollte es eigentlich für selbstverständlich gelten, das Auftreten des Bewußtseins im Kopfe heutiger Menschen durch die gleichen Prozesse für erklärbar zu halten, denen die Bildung der Arten selbst sich verdankt. Dann aber ist es nicht länger mehr möglich, Geist (Bewußtsein) und Materie (Gehirn) als zwei voneinander wesensverschiedene Substanzen anzusehen; vielmehr scheint es unvermeidbar, die (aristotelischen) Vorstellungen von der «passiven», an sich «amorphen» Materie von Grund auf zu korrigieren und ihr selber «Geist» zuzusprechen. – Freilich kann der Abschied vom Kreationismus sogleich in eine neue Totalanschauung führen: Wenn Geist sich nicht anders erklären läßt, als indem man die Materie selber als «geistig» begreift, liegt es dann nicht nahe, Geist und Materie als miteinander identisch zu verstehen? Einer der Hauptvertreter eines solchen panpsychistischen Identismus war der Münsteraner Biologe bernhard rensch (1900 –1990). In seinem Buch Das universale Weltbild von 1977 vertrat er nicht nur die Ansicht, daß «die psychischen und die ihnen jeweils unmittelbar entsprechenden hirnphysiologischen Abläufe das gleiche» seien (a. a. O., 278), er wollte mit dieser These vor allem auch die Schwierigkeit lösen, wie denn immaterielle, psychische Erscheinungen im Verlaufe der Stammesgeschichte ebenso wie in der embryonalen Entwicklung des Menschen zustande kommen können, wenn zuvor nichts «Seelisches» existiert haben soll. rensch nahm an, daß die Elementarteilchen, Atome, Moleküle usw. selber eine «protopsychische Natur» besäßen, so daß von vornherein «eine Entwicklungsmöglichkeit gegeben» gewesen sei, «die bei einer Entstehung und Höherentwicklung von Lebewesen, speziell von Tieren, zu psychischen Vorgängen führen konnte. Dabei handelte es sich um systemge-

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setzlich zustande kommende Erscheinungen, um eine epigenetische Manifestation.» (A. a. O., 278) «Da im Sinne eines panpsychistischen Identismus die physikalischen Eigenschaften zugleich die protopsychischen Eigenschaften darstellen, war es möglich, daß sich im Laufe einer langen Stammesgeschichte schließlich systemgesetzlich die von uns Menschen erlebten zahllosen Qualitäten unserer Empfindungen und Vorstellungen entwickelten.» (A. a. O., 279) Also: Damit «Geist» als Entwicklungsmöglichkeit der Materie gegeben sein kann, muß es ihn immer schon gegeben haben; die Systemgesetze der Materie (die Grundkräfte der Gravitation, des Elektromagnetismus, der starken und schwachen Wechselwirkung, vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 951; 959; die drei Symmetriegesetze der Invarianz bzw. der Äquivalenz von linksherum und rechtsherum, von Materie und Antimaterie sowie der Zeitumkehrung, vgl. ders.: A. a. O., 846 –865; 953; der Energieerhaltungssatz sowie der Impulserhaltungssatz, wonach in einem abgeschlossenen System die Summe der Energie sowie die Summe der Impulse konstant bleibt, vgl. ders.: A. a. O., 482– 490; 586 –587) enthalten selber die hinlänglichen Bedingungen zur Hervorbringung von Leben und Bewußtsein, – sie sind insofern selber «protopsychisch». «Geist» ist deshalb nicht etwas, das von außen (kreationistisch) an die Materie hätte herangetragen werden müssen, oder etwas, das sich als ein völlig neuer («emergenter») Seinszustand aus der Materie hätte entwickeln müssen oder können, – Geist ist vielmehr etwas, das ein Wesensattribut der Materie selber darstellt. Eine vergleichbare Ansicht, nur vom anderen Ende her, vertrat in den 50er Jahren des 20. Jhs. auch der Paläontologe pierre teilhard de chardin (1881–1955) in seinem Buch Der Mensch im Kosmos (frz. 1947); danach wohnt der Materie (jedem Atom) eine «radiale» Energie inne, die notwendigerweise (nach Gottes Plan) den Menschen hervorgebracht hat. Mit dieser Auffassung suchte der französische Jesuit das kircheneigene «Mißtrauen gegen alles, was Materie ist», worin er «weniger . . . eine Reserve des Geistes denn . . . ein Prinzip des Falls» (des Sündenfalls der Engel und des Menschen) erblickte, zu überwinden. (Was erwartet die Welt von der Kirche, in: Mein Glaube, 258) «Weil es der Evolutionsforschung gelingt», schrieb teilhard de chardin, «die höheren Bewußtseinszustände Stufe um Stufe mit anscheinend unbeseelten Antezedenzien (sc. vorhergehenden Zuständen, von lat.: antecedere – vorhergehen, d. V.) zu verknüpfen, haben wir weithin der materialistischen Illusion nachgegeben, die darin besteht, die Elemente der Analyse für ‹wirklicher› zu halten als die Ergebnisse der Synthese. Es mochte zu diesem Zeitpunkt scheinen, daß die Entdeckung der Zeit, indem sie die Deiche niederriß, hinter denen eine statische

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Philosophie die Transzendenz der ‹Seelen› schützte, den Geist in den Strömen der materiellen Partikeln (sc. Partikel, d. V.) auflöste: kein Geist mehr – nichts als Materie. Meine Überzeugung ist es, daß dieses rückwärtige Eintauchen (sc. der Reduktionismus, d. V.) beendet ist, und daß wir von jetzt an wieder aufsteigen, getragen von demselben evolutionistischen Strom, in Richtung entgegengesetzter Konzeptionen: keine Materie mehr – nichts als Geist.» (Mein Glaube, in: Mein Glaube, 126) Also: um den Dualismus ebenso zu überwinden wie den materialistischen Monismus, gründete teilhard de chardin seine Zuversicht auf ein idealistisches Konzept, wonach Geist nicht aus Materie entsteht, sondern umgekehrt die Materie sich als eine Objektivation des Geistes (bzw. eines in «Christus» fleischgewordenen Gottes) erweist. Noch ist dieser Zustand («Omega») nicht erreicht, in dem Gott «alles in allem» sein wird (1 Kor 12,6; vgl. Eph 4,6), doch allein von einem solchen Zielpunkt her, meinte teilhard de chardin, gewinne die Evolution der Welt, des Lebens und des Menschen ihren Sinn. Wie rensch die Wesensidentität von Geist und Materie als Grundvoraussetzung der Evolution begriff, so sah teilhard de chardin in ihr das Ziel der Entwicklung; doch ob als Wirk- oder als Finalursache verstanden, – in beiden Konzepten erschien der Geist als eine alles erklärende Kausalität. Wozu aber soll Geist sich entwickeln, wenn er immer schon ist, und wie kann er sich entwikkeln, wenn er eigentlich erst noch kommt? Weder ein philosophischer «Panpsychismus» noch ein inkarnationstheologischer «Panchristismus» löst das wirkliche Paradox der Natur: daß kein Atom, keine Amöbe und wahrscheinlich auch noch keine Qualle oder Küchenschabe über so etwas wie Bewußtsein verfügt, daß es aber von einer bestimmten Stufe der Evolution an unvermeidbar wird, die Aktivitäten der Lebewesen als Ausdruck ihres Wissens um die Ziele des eigenen Tuns zu betrachten. Ohne daß teilhard de chardin sich indessen selbst davon Rechenschaft gegeben hätte, stand seine Vision allerdings in großer Nähe zu den Gedanken eben desjenigen Philosophen, der – in Analogie zu giordano bruno, doch ohne eigentliche Anknüpfung an den als Ketzer verurteilten Dominikanermönch – über 150 Jahre zuvor bereits Geist als Prozeß zu begreifen versuchte hatte: zu georg wilhelm friedrich hegel (1770 –1831). Die gesamte Natur betrachtete dieser Hauptvertreter des Deutschen Idealismus als die Entwicklung der absoluten Idee (der Weltvernunft Gottes) zu sich selbst: Um sich zu verwirklichen, muß das Absolute (die unendliche Vernunft) sein «Anderssein» setzen, um darin seiner selbst bewußt zu werden. «Die Natur», schrieb hegel in der Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie (zwischen

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1802 –1807), «ist der sich auf sich selbst beziehende absolute Geist . . . So ist die Natur für uns von der Idee des Geistes aus schon der absolute Geist als das Andere seiner selbst.» (A. a. O., 187) Von daher lehnte hegel die «gewöhnliche» (naturwissenschaftliche) Betrachtung der Natur «in quantitativen Unterschieden . . . und in ursächlicher Beziehung» zugunsten einer philosophischen Auffassung ab, für welche die Natur «ein Erscheinen des Geistes» ist. (A. a. O., 189) Von vornherein gilt es mithin für das Wesen der Natur, für «ihre Realität . . ., daß sie lebendige Natur, in sich reflektierte Unendlichkeit, Erkennen ist.» (A. a. O., 189) Statt die Natur panpsychistisch (oder panchrististisch) zu deuten, betrachtete hegel sie panlogistisch (oder pantheistisch). Insbesondere das Bewußtsein bedeutete deshalb für ihn nur «das Erscheinen des Geistes». (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 414, S. 345) Demgegenüber bezeichnete hegel die Seele als die «Unmittelbarkeit des Geistes»; doch gerade diese Unmittelbarkeit des Geistes hat die Seele verloren, sobald sie «ihr Sein sich entgegengesetzt . . . und als das ihrige bestimmt hat» (§ 412, S. 343), wie es im Akt der Bewußtwerdung geschieht: Das Bewußtsein, so hegel, «macht die Stufe der Reflexion oder des Verhältnisses des Geistes, seiner als Erscheinung, aus». (§ 413, S. 344) Aus dem Bewußtsein als Erscheinung des Geistes für sich selbst wiederum geht das Ich hervor: «Ich ist die unendliche Beziehung des Geistes auf sich, aber als subjektive, als Gewißheit seiner selbst» (§ 413, S. 344), als «das Subjekt des Bewußtseins.» (§ 415, S. 345) Mit dieser Bestimmung setzte hegel sich von der Erkenntnislehre immanuel kants insofern ab, als er ihm vorwarf, das Ich nur «als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes» (auf das Ding an sich) bestimmt zu haben; deswegen sei kant «nicht zum Geiste, wie er an und für sich ist, sondern nur, wie er in Beziehung auf ein Anderes ist», gelangt. (§ 415, S. 345) Tatsächlich ergibt sich Bewußtsein indes auch für hegel unmittelbar durch «seine Beziehung auf den Gegenstand» (§ 418, S. 346). – Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas; doch geht das Bewußtsein (des Menschen) notwendig über die unmittelbar sinnliche Gewißheit hinaus, denn es «will den Gegenstand in seiner Wahrheit nehmen, nicht bloß als unmittelbaren, sondern als vermittelten, in sich reflektierten und allgemeinen. Er (sc. der Gegenstand im erkennenden Bewußtsein, d. V.) ist somit eine Verbindung von sinnlichen und von erweiterten Gedankenbestimmungen konkreter Verhältnisse und Zusammenhänge. Damit ist die Identität des Bewußtseins mit dem Gegenstand nicht mehr die abstrakte der Gewißheit, sondern die bestimmte, ein Wissen.» (§ 420, S. 347) Eben das war die Stelle, an welcher nach hegel die kantische Erkenntniskritik stehen geblieben war: in ihr, meinte hegel, werde das Bewußtsein bloß als ein «Wahrnehmen» aufgefaßt, dessen sinnliche

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Gewißheiten dann durch Reflektieren «nach bestimmten Kategorien . . . zu etwas Notwendigem und Allgemeinem, zu Erfahrungen», würden. (§ 420, S. 347– 348) Was aber geschieht, wenn der wahrgenommene Gegenstand selbst als Erscheinung des Geistes begriffen wird? Dann wird das Bewußtsein eines Gegenstandes selbst zum Verstand: die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen hebt sich im Erkenntnisakt auf, und «das Reich der Gesetze der Erscheinung» tritt hervor. (§ 422, S. 348) Das Bewußtsein, das bis dahin auf der «Selbständigkeit des Subjekts und Objekts gegeneinander» beruhte, wird damit zu einem Ich, das sein Urteil über einen Gegenstand fällt, «der nicht von ihm unterschieden ist» (§ 423, S. 349); das Ich als Träger des Bewußtseins wird sein eigener Gegenstand, – es wird zu Selbstbewußtsein; in hegels Worten: «Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, und dieses ist der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines andern Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir.» (§ 424, S. 349) Das Erkennen eines Anderen ist nicht möglich ohne ein Erkennen seiner selbst. Daher gilt: «Das Ziel des Geistes als Bewußtsein ist, diese seine Erscheinung (sc. den Gegenstand, d. V.) mit seinem Wesen (sc. als bestimmt durch Gesetze des Verstandes, d. V.) identisch zu machen, die Gewißheit seiner selbst (sc. in der sinnlichen Wahrnehmung, d. V.) zur Wahrheit (sc. zur Erkenntnis, d. V.) zu erheben.» (§ 416, S. 346) «Die Stufen dieser Erhebung der Gewißheit zur Wahrheit sind, daß er (sc. der Geist, d. V.) a: Bewußtsein überhaupt ist, welches einen Gegenstand als solchen hat, b: Selbstbewußtsein, für welches Ich der Gegenstand ist, c: Einheit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, daß der Geist den Inhalt des Gegenstandes als sich selbst und sich selbst an und für sich bestimmt anschaut; – Vernunft, der Begriff des Geistes.» (§ 417, S. 346) Diese wenigen Aussagen des wichtigsten Systemdenkers eines «objektiven» Idealismus, in welchem Logik (Denken), Ontologie (Sein) und Theologie (Gott, die Einheit von An-und-für-sich-Sein) ein und dasselbe sind, liefern uns nicht nur erste wichtige Hinweise darauf, wie es mit der Analyse des Bewußtseins weitergehen wird, indem die Begriffe Geist, Seele, Wahrnehmung, Wahrheit (Erkennen), Bewußtsein, Ich, Selbstbewußtsein und selbstbewußter Geist sich wie von selbst zueinander vermitteln, sie zeigen uns zugleich, wie in hegels Betrachtung alle Begriffe des Geistes ebenso wie alle Formen der «Natur» ineinander übergehen; alle Erscheinungen der Natur sind in diesem Verständnis nichts als die Selbsthervorbringungen der Stufenabfolge, die der Geist durchschreiten muß, um sich selbst in seinem Anderssein zu erkennen. Somit

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ist das Auftreten des Bewußtseins nur ein Zwischenschritt in der Entwicklung des Geistes zu sich selbst. Da insofern die gesamte Weltwirklichkeit «geistförmig» (geistgestaltet) ist, auch und insbesondere die materielle Welt mit den ihr zugrunde liegenden Gesetzen, ist es kein Wunder, daß die gesamte Natur in hegels Philosophie als in einer Entwicklung befindlich begriffen wird, die von einem bestimmten Moment an dahin führt, daß der Geist sich selber begegnet – daß, mit anderen Worten, Bewußtsein sich bildet: ein Zustand also, in dem Geist (ein kognitiver Prozeß) sich selbst (einem erkennbaren Inhalt) gegenübertritt, in dem der Unterschied von Innen und Außen sich (in der externen Wahrnehmung) bestätigt und zugleich (in der internen Repräsentation) aufhebt, – in dem die Natur für sich selbst das wird, was sie an sich immer schon war: – realisierte Vernunft. Neurologen oder Biologen, die diese Zeilen lesen, werden sich womöglich stirnrunzelnd fragen, was um Himmels willen sie mit derartigen Spekulationen anfangen sollen; doch hegel wäre nicht der Philosoph der sich selbst zu immer neuen Synthesen des Widerspruchs aufhebenden Gegensätze, wenn er nicht (immer noch) auch Naturwissenschaftlern Wesentliches zu sagen hätte. Man muß, statt von «objektiver Vernunft» oder von dem «an sich seienden» «Geist» zu sprechen, nur diejenigen Begriffe verwenden, die von heutigen Systemtheoretikern benutzt werden, und man wird unschwer verstehen, was hegel zu seiner Zeit ausdrücken wollte und worin seine bleibende Aktualität liegt: Geist kann nur entstehen in einer geistgeformten Materie, Intelligenz nur in einem Körper, der intelligent genug ist, um Intelligenz zu erzeugen. Und das ist ein Gedanke, dem selbst eine rein materialistische Philosophie oder eine rein reduktionistische Naturbetrachtung im Grunde wird zustimmen müssen, wenn auch sozusagen vom anderen Ende her. Es waren die «Materialisten» insbesondere bereits des 18. und 19. Jhs., die jede «idealistische» Spekulation aus der Naturbetrachtung verbannen wollten: Wir hörten zum Beispiel schon von dem französischen Arzt und Philosophen julien offray de lamettrie (1709 –1751), der in seinem berühmten Buch L’homme machine von 1748 (dt.: Maschine Mensch, 1875) die genau entgegengesetzte Auffassung vertrat: nicht daß der Körper Geistigkeit, sondern daß die Seele Körperlichkeit sei, war seine Ansicht, die ihm seine Stellung als Militärarzt kostete und ihn dazu nötigte, im aufgeklärten Preußen bei Friedrich II. (1712 –1786, König 1740 –1786) Unterschlupf zu suchen. Ein hochgradiges Fieber hatte ausgereicht, in ihm die Evidenz zu gründen, daß alles, was wir denken, von der körperlichen Verfassung abhänge; alles Lebendige, schon seiner Körperlichkeit wegen, sei fähig zu Empfindungen, ganz wie der Mensch, der

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sich von den Tieren nur dadurch unterscheide, daß die Feinheit seiner Gehirnwindungen auch seine Bedürfnisse und die Art seines Denkens verfeinere; nicht in irgendeiner «Seele», sondern in den kleinsten Fasern des Körpers liege das Prinzip des Lebens verborgen. (Vgl. karl vorländer: Philosophie der Neuzeit, V 54 –55.) Wie aber ist es möglich, daß Materie so organisiert ist, daß sie geistige Funktionen hervorbringt? Diese Frage stellte und stellt sich an de lamettrie genau so wie an alle nachfolgenden Vertreter eines materialistischen Monismus: Das «Geheimnis» der idealistischen Philosophie bleibt es, wie die (logische) Selbstbewegung von Ideen materielle Strukturen hervorbringen soll; das «Geheimnis» der materialistischen Philosophen aber ist nicht geringer – wie gelangt die Materie zu ihrer Ordnung? An dieser Stelle setzte de lamettrie selbst ganz offensichtlich viel mehr voraus, als es im Rahmen einer (vulgär) materialistischen Theorie statthaft sein kann: Wenn die Vernunft des Menschen durch das mechanische (maschinelle) Wirken körperlicher Abläufe hervorgebracht wird, so mag rein assoziativ in einer solchen Vorstellung etwas sehr Rohes und Abträgliches mit der «Seele» verbunden sein und sogar absichtlich über sie ausgesagt werden; doch wichtiger ist, daß eine derartige «Erklärung» schnell tautologisch wird; denn was ist eine Maschine anderes als die sinnreiche Zusammenfügung verschiedener materieller Strukturen zu einer Funktionseinheit, die bei entsprechendem Energiedurchfluß imstande ist, sich so zu bewegen, daß damit ein bestimmtes Resultat (ein Produkt, eine Dienstleistung) zu erzielen ist? Eine Maschine setzt einen Konstrukteur voraus, der die verschiedenen Komponenten ihres Gefüges strukturell günstig aufeinander abgestimmt und ihr Zusammenwirken möglichst effizient (möglichst energiesparend) eingerichtet hat. Insofern ist das Modell von der Maschine tatsächlich nicht übel geeignet, um zu beschreiben, wie Leben – oder wie geistiges Leben – funktioniert; andererseits beantwortet ein solches Konzept in keiner Weise die Frage, wie es denn nun dazu kommt, daß es so wunderbare (lebende und denkende) «Maschinen» überhaupt gibt. Immerhin verhilft das Maschinen-Modell uns dazu, eine wichtige Unterscheidung zu treffen, die sich in etwa mit hegels «Logik» berührt: Wir können die «Maschine» des Lebens beziehungsweise des Denkens (den menschlichen oder tierischen Körper bzw. das Zentralnervensystem) als «objektive Vernunft» bezeichnen und das Bewußtsein entsprechend als «subjektive Vernunft» begreifen. (hegel selbst verstand unter «objektiver Vernunft» die Objektivationen des Geistes in der menschlichen Geschichte in Gestalt der staatlichen Gesetzgebung, der kulturellen Schöpfungen wie Kunst, Religion, Philosophie usw., doch das muß uns hier nicht beschäftigen.) Unter Bewußtsein ist demnach nur

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dies zu verstehen, daß die Vorgänge, die das Leben ermöglichen und tragen, an sich selbst zurückgemeldet werden, – daß mithin, in der Ausdrucksweise hegels, das An-sich-sein der Vernunft zur Wahrnehmung seiner selbst, zum Für-sich-sein gelangt. Anders gesagt: Wohnte den Lebensvorgängen nicht selber eine geistig-«vernünftige» (zweckmäßige, funktional sinnvolle) Ordnung inne, so wäre es völlig unmöglich, daß in einem tierischen oder menschlichen Organismus das Phänomen des Bewußtseins sich bilden könnte. Ob idealistisch, materialistisch oder dualistisch gedacht, bleibt diese Voraussetzung unverändert in Geltung; die Zersplitterungen der philosophischen Deutungsansätze brechen sich also nicht an der Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Bewußtsein, sie bilden sich schon an der (damit in Verbindung stehenden, jedoch weit fundamentaleren) Frage nach dem Zusammenhang von Materie und Geist oder genauer nach der Möglichkeit (oder Herkunft) einer materiellen Konfiguration, die Leben und Bewußtsein ermöglicht: entsteht sie durch die Organisation eines Schöpfers, der seine planende Vernunft dem Stoff einfügt, um, gleich einem Ingenieur, die «richtigen» Maschinen zu konstruieren, oder verfügt die Materie über die Fähigkeit zur Selbstorganisation auf immer höheren Stufen, und benötigt man zur Begründung einer solchen Fähigkeit den Gedanken eines Schöpfers oder nicht? Um für einen Augenblick noch einmal der philosophischen Intuition (oder Spekulation) genügenden Raum zu geben, läßt sich en passant auf jean baptiste rené robinet (1735 –1820) hinweisen, der in den Considérations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’être (Philosophische Betrachtungen zur natürlichen Stufenfolge) von 1768 nicht, wie sein Zeitgenosse de lamettrie, das Geistige aus dem Materiellen beziehungsweise das Organische aus dem Anorganischen abzuleiten suchte, sondern der umgekehrt einen universellen Vitalismus verfocht, indem er spinozas Pantheismus weiterentwickelte: spinoza hatte descartes’ Dualismus von res cogitans und res extensa (lat.: von Denkendem und Ausgedehntem) überwinden wollen, indem er Denken und Ausdehnung als zwei der unendlich vielen, doch unserem Erkennen einzig zugänglichen Attribute der einen göttlichen Substanz interpretierte; robinet sah daran anknüpfend die eine Substanz spinozas in die «unendliche Masse der Teilchen» zersplittert, «von denen jedes die beiden Attribute . . . Ausdehnung und Bewußtsein . . . in sich vereinigt»; als «Urtatsachen» betrachtete er deshalb nicht – wie etwa demokrit – die materiellen Atome, sondern – ganz wie leibniz in seiner Monadologie – vorstellende Kräfte, die den vermeintlichen Gegensatz von Leib und Seele gar nicht erst aufkommen ließen. Die Frage freilich, woher diese «Urtatsachen» aller Wirklichkeit stammen (ob

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sie selber als etwas Irreduzierbares, Absolutes, Göttliches verstanden werden müssen oder ob sie, wie leibniz glaubte, als Teil einer göttlichen Schöpfung zu deuten seien), ließ robinet bemerkenswerterweise offen: die Existenz eines Gottes galt ihm für unerkennbar. (karl vorländer: Philosophie der Neuzeit, V 56) – Diese «theologische Ambivalenz» aller Naturphilosophie oder, anders gesagt, dieser naturphilosophische Agnostizismus bezüglich der Gottesfrage wird sich quer durch die Jahrhunderte als eine innere Konstante hindurchziehen und somit deutlich genug darauf hinweisen, daß die Theologie sich offenbar in einem Teufelskreis bewegt, wenn sie versuchen will, aus der Einrichtung und Eigenart der Welt auf die Existenz und auf die Eigenschaften eines Schöpfergottes zu schließen. Naturphilosophisch jedenfalls wird sich robinets Konzept bis ins 20. Jh. hinein in einem besonders prominenten Vertreter erhalten: in dem französischen Philosophen henri bergson (1859 –1941). Bereits seiner Arbeit Matière et mémoire (Materie und Gedächtnis) von 1896 legte bergson die Zweiheit von Psychologie (Naturwissenschaft) und Metaphysik (Philosophie) zu Grunde, die er schon methodisch für unumgänglich hielt: die Psychologie habe zu untersuchen, wie der menschliche Geist «nützlich für die Praxis» funktioniere, die Metaphysik aber, wie er «als reine schöpferische Kraft» zu erfassen sei. (Materie und Gedächtnis, S. VII) Dahinter aber steht ein Dualismus, der für bergsons Denken in allen Fragen, denen er sich auch späterhin widmen sollte, kennzeichnend blieb: der Gegensatz von Praxis und Theorie, von Verstand und Intuition, von fixierender Festsetzung und offenem Schauen. Der Verstand (in kantischem Sinne: als ein Instrument der Naturerkenntnis nach klaren Kategorien) unterhält nach Meinung des französischen Philosophen eine enge Beziehung zur unbelebten Materie, aus der er – in Form der praktischen Intelligenz – Werkzeuge gewinnt oder die er – in theoretischer Absicht – im Rahmen der Naturwissenschaften zu begreifen sucht; entscheidend dabei ist die anorganische Starre der Gegenstände, deren isoliertes Begreifen eben deswegen identisch ist mit einer kompletten Verständnislosigkeit gegenüber dem Leben. Demgegenüber stellt die Intuition für bergson eine theoretische Erkenntnis dar, die bis zu dem wahren Wesen der Wirklichkeit (der konkreten Zeit, der realen Dauer, der Lebensschwungkraft) vordringt; allein die Intuition offenbart das Innere des Lebens, wenn auch nur in Form einer Ahnung. Diese Grundüberzeugung von den beiden unterschiedlichen Quellen der Erkenntnis im Werke bergsons durchzieht auch seine Arbeit über Materie und Gedächtnis, ohne daß sie dort als solche thematisiert würde; statt von Intuition ist hier vielmehr die Rede von einer «reinen Wahrnehmung» und von einem «reinen Gedächtnis».

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Ein wichtiger Baustein des Bewußtseins ist, wie wir sahen, das Gedächtnis (zumindest in der Form eines «Arbeitsgedächtnisses»); für bergson bildete das Gedächtnis sogar «den Schnittpunkt zwischen Geist und Materie» (Materie und Gedächtnis, S. V); um so wichtiger freilich war es für seine Vorstellungen, daß er die «neurologischen» (oder materialistischen) Theorien seiner Zeit rundum ablehnte, wonach Erinnerungen in den Gehirnzellen aufbewahrt sein könnten. (Erinnern wir uns gerechterweise allerdings, daß santiago ramón y cajal – 1852 –1934 – erst gegen Ende des 19. Jhs. nach camillo golgis – 1843 –1926 – unfreiwilliger «Färbung» eines Stücks Nervengewebes um das Jahr 1870 darauf kam, die Neuronen als die eigentlichen Aktionseinheiten des Nervensystems zu betrachten; vgl. Abb. A 49.) Demgegenüber vertrat bergson eine nicht «idealistische», aber auch nicht «spiritualistische» Auffassung, vielmehr eine Position, die den Materialismus von Grund auf überwinden wollte. Es liege «im Wesen des Materialismus», schrieb bergson, «das Bewußtsein mit allen seinen Funktionen einzig und allein aus dem Spiel der materiellen Elemente» hervorgehen zu lassen. «Eine Materie, die derart die elementaren Tatsachen des Bewußtseins erzeugen könnte, müßte natürlich auch die höchsten intellektuellen Vorgänge hervorbringen können.» Von daher sei es innerhalb eines materialistischen Ansatzes unvermeidbar, zu glauben, daß die sinnlichen Qualitäten unserer Wahrnehmung vom Gehirn selber hervorgebracht würden. «Der Spiritualismus aber», fuhr bergson fort, «ist in einer merkwürdigen Verblendung dem Materialismus auf dieser Bahn immer gefolgt. Weil er glaubte, der Geist würde reicher, wenn die Materie ärmer würde, hat er niemals gezögert, die Materie der Qualitäten, mit denen sie in unserer Wahrnehmung ausgestattet ist, zu berauben und lauter subjekte Erscheinungen daraus zu machen. Er hat damit nur zu oft aus der Materie eine mystische Wesenheit gemacht, die, gerade weil wir sie nicht selber, sondern nur ihre ‹Erscheinung› kennen, so gut wie alle andern Phänomene auch die des Denkens gebären könnte. – In Wahrheit gibt es nur ein einziges Mittel, den Materialismus zu widerlegen: daß man die Materie absolut für das nimmt, was sie zu sein scheint.» (Materie und Gedächtnis, 60 –61) Um diesem Programm nachzukommen, versuchte bergson, dem Phänomen des Bewußtseins mit Hilfe des Begriffs des Bildes näherzukommen. Unter «Bild» verstand er etwas, das die Dinge der Außenwelt (ihre Präsenz) ebenso bezeichnen kann wie die inneren Zustände (die Repräsentanzen der Dinge). Insofern ist jedes Ding ein Bild, das sich unserer Wahrnehmung öffnet, während in den Bildern der Wahrnehmung sich die Dinge mitteilen. (Wäre statt von frz.: image von lat.: species die Rede, so wäre der Einfluß des erkenntnistheoreti-

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schen Realismus der mittelalterlichen Erkenntnislehre auf bergsons Denken an dieser Stelle offenkundig.) Die Farbe zum Beispiel, in der wir einen Gegenstand wahrnehmen, ist nach bergsons Meinung die Farbe dieses Gegenstandes selbst: die Phänomene sind die Realität, denn die Realität liegt in den Phänomenen. (Wir wissen inzwischen, daß es sich so nicht verhält! Vgl. Bd. I 440 –441.) Allerdings weisen nach bergson die Bilder, die dem System der Dinge zugehören, einen Unterschied gegenüber den Bildern auf, die zur Welt unserer Wahrnehmungen zählen: jene sind azentrisch – es gibt kein einzelnes Bild, das auf alle anderen verweisen würde –, diese sind allesamt zentriert um ein einziges Bild: – das unseres Leibes, der die Möglichkeit besitzt, auf die Reize, die er empfängt, auf eigene (unvorhersehbare) Art zu reagieren. Dementsprechend unterschied bergson zwischen Wahrnehmung (perception), die von außerhalb des Körpers erzeugt wird, und Empfindung (affection), die im Körper zustande kommt: Gegenstände werden außerhalb von mir wahrgenommen, Empfindungszustände aber in meinem Körper. Wichtiger noch als diese Differenzierung ist die Unterscheidung, die bergson zwischen Wahrnehmungen und Erinnerungen vornahm und die für sein frühes Hauptwerk kennzeichnend ist. Danach sind Wahrnehmungen Bilder des Heute, Erinnerungen aber Bilder des Vergangenen; erstere sind von lebenspraktischer Bedeutung, letztere eher kontemplativ wie im Traum. Wahrnehmungen sind objektiv und unpersönlich, Erinnerungen hingegen subjektiv und persönlich. In der Wahrnehmung geht das Ich-Bewußtsein gewissermaßen in den Gegenstand über; eine Erinnerung aber bietet stets ein Bild meiner Vergangenheit und schafft eine Distanz zwischen dem Ich und der Wahrnehmung in der Gegenwart; letztlich, meinte bergson, sei alle Wahrnehmung materiell, alle Erinnerung geistig, und so wurde für ihn die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist zu einer Frage nach dem Verhältnis der beiden Bilder von Wahrnehmung und Erinnerung. Freilich, nachdem bergson bis hierher «den Dualismus bis zum Äußersten getrieben» hatte, widmete er sich im folgenden «einer Annäherung zwischen dem Unausgedehnten und dem Ausgedehnten, zwischen Qualität und Quantität», wie er in deutlichem Anschluß an descartes formulierte. (Materie und Gedächtnis, 177) Er tat dies, indem er das Zusammenwirken und die Durchdringung von Wahrnehmung und Gedächtnis für praktisch unvermeidbar erklärte; diese «Annäherung» aber führte ihn zu einer weiteren Unterscheidung im Bereich des Gedächtnisses: zwischen einem Gedächtnis, das zu einer Gewohnheit in der Gegenwart geworden ist und nur aus Wiederholungen besteht (a. a. O., 70), und einem Gedächtnis, das vorstellt (a. a. O., 71); ersteres dient –

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erneut – einem praktischen Zweck: der «Nutzbarmachung vergangener Erfahrung für das gegenwärtige Tun» (a. a. O., 66), letzteres vermittelt – erneut – eine kontemplative Vergegenwärtigung von Bildern des Vergangenen, unabhängig von den Fragen der Bewältigung des Gegenwärtigen. «Um die Vergangenheit in Form eines Bildes wachzurufen, muß man vom gegenwärtigen Tun abstrahieren können», schrieb bergson, «muß man dem Nutzlosen einen Wert geben können, muß man träumen wollen. Vielleicht ist nur der Mensch einer Leistung dieser Art fähig.» (A. a. O., 72) Diese Aussage trifft allerdings nur begrenzt zu, wie wir angesichts des Träumens von Säugetieren (vgl. Bd. I 361– 363; Abb. B 19; B 20) bereits wissen; gleichwohl wurde die Auffassung von der Zeit, die bergson sich durch diese Unterscheidung der zwei Arten des Gedächtnisses erarbeitete, zu einer entscheidenden Anregung für die Philosophie des Existentialismus, der wir nachher bei der Phänomenologie des Selbstbewußtseins wieder begegnen werden. Bemerkenswert bleibt indessen die eigentümliche, «descartessche» Gefühllosigkeit, mit der bergson sich dem Gedächtnis als einem – neben der Wahrnehmung – entscheidenden Moment des Bewußtseins zuwandte: selbst wenn er von «Traum» sprach, glaubte er – vier Jahre vor freuds großer Arbeit über Die Traumdeutung von 1900 – gerade in diesen unbewußten Schichten der Selbstwahrnehmung und des Gedächtnisses an eine zweckfreie, kontemplative, in wörtlichem Sinne «theoretische» (von griech.: theo¯reı˜n – schauen, betrachten) Zugangsart zur Wirklichkeit. Dabei ahnte er offenbar selber, daß gerade die Verschränkung von Wahrnehmung und Gedächtnis, von Gegenwart und Vergangenheit, von «Materie» und «Geist» das «Leben» selber ausmacht; und eben diese Frage nach der Eigenart und Entfaltung des Lebens stellte bergson sich in all seinen folgenden Schriften. Insbesondere in seinem Hauptwerk L’Évolution créatrice (Schöpferische Entwicklung) von 1907 entwickelte bergson den gleichen Dualismus von Materie und Leben (Geist), Naturwissenschaft und Metaphysik, den er auf der anderen Seite gerade zu überwinden trachtete. So stellte er die – von den Naturwissenschaften gedeutete – materielle Welt als räumlich ausgedehnt, der kausalen Notwendigkeit unterworfen, zählbar in der Mannigfaltigkeit ihrer Einheiten und als durch eine quantitative abstrakte Zeit bestimmt dar, wohingegen das Seelenleben (bereits der Tiere) für ihn weder einen räumlichen Charakter besaß noch als zähl- oder meßbar galt; vor allem aber: es zeichnete sich seiner Meinung nach durch eine konkrete Zeit aus, durch eine schöpferisch wirkende Dauer, in welcher in einem unumkehrbaren geschichtlichen Fließen die spontane Selbstentfaltung des Lebens in (wachsender) Freiheit sich vollzog. Alle Le-

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benserscheinungen entstammen nach bergson der allmählichen Entwicklung aus einem einheitlichen Ursprung, einer Art Urleben, das als élan vital (frz.: Lebensschwungkraft), als ein schöpferisches Prinzip, von innen her in allem wirkt, ohne dabei nach Zwecken ausgerichtet zu sein. (Vgl. henri bergson: Schöpferische Entwicklung, 133.) Damit schloß auch bergson – wie der darwinismus – vorgegebene Ziele und Planungen in der Evolution aus; gleichwohl war seine «Lebensschwungkraft» von der rein kausalen Mechanik aus Mutation und Selektion in der darwinschen Evolutionslehre des Aufstiegs des Lebens unendlich weit entfernt, ja, sie bot geradewegs eine attraktive Alternativtheorie zu dem blinden und stumpfen Getriebe einer rein biologischen Weltsicht. Insbesondere verfügte bergson über eine logisch unerläßliche Voraussetzung dafür, die Entwicklung des Lebens als «schöpferisch» deuten zu können: seinem élan vital kamen all die Eigenschaften zu, die er für das «Seelenleben» in Anspruch nahm, auch wenn er es letztlich offen ließ, ob die Lebensschwungkraft seelischen Charakter, womöglich Bewußtsein, besaß oder nicht. In jedem Falle läßt sich bergsons Auslegung der Lebensvorgänge an dieser Stelle geradewegs wie eine Warnung an all diejenigen Naturphilosophen verstehen, die der Ungerichtetheit der Evolution in ihrem durchweg grausam anmutenden «Spiel» aus Versuch und Irrtum eine «kreative» Kraft nach Art einer künstlerischen oder schöpferischen Gestaltung zuschreiben möchten, jedoch ohne sich zu einem ebensolchen spiritualistischen Prinzip in oder hinter dem Geschehen zu bekennen. Gerade in diesem Punkte folgte bergson konsequent seinem «Lehrer» émile boutroux (1845 –1921), der in seinem Werke De la contingence des lois de la nature (Die Kontingenz der Naturgesetze) von 1874 an dem kausalen Determinismus des naturwissenschaftlichen Denkens heftige Kritik geübt hatte. Nach boutroux konnte der Determinismus allenfalls auf den unteren Schichten der Wirklichkeit eine gewisse Gültigkeit beanspruchen; mit diesem Konzept nahm der französische Philosoph um nahezu 50 Jahre die von uns schon erwähnte Schichtenlehre von nicolai hartmann (1882 –1950) vorweg (vgl. Bd. I 83 –84); dem französischen Philosophen erschienen die höheren Seinsformen zwar gebunden, aber doch relativ unabhängig gegenüber den niederen: das organische Leben also gegenüber der anorganischen Materie, das geistige Leben gegenüber den Gesetzen der organischen Chemie. Von daher war es boutroux gerade um die Sicherung der menschlichen Freiheit zu tun – ein Problem, das uns in einem späteren Abschnitt (s. u. D 4) noch ausführlich beschäftigen wird –, und so nutzte auch er bereits die offensichtliche Kontingenz des Daseins der Dinge und des Naturverlaufs als ein

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Argument, um allem Seienden eine schöpferische Macht zuzusprechen, die am deutlichsten im Menschen zur Erscheinung komme; und gleichermaßen betrachtete er die schöpferische Kraft als eine Lebensmacht, die in einer ständigen Dynamik, als ein göttliches Prinzip, die endlichen Gebilde nötige, in unendlicher Differenzierung das Unendliche nachzuahmen. – All das erinnert erneut an hegel und den Deutschen Idealismus, gibt sich aber weit weniger spekulativ als instrospektiv. Für boutroux wie für bergson erwies sich – ganz wie in descartes’ Meditationen – die Schau auf die Evidenz des eigenen Bewußtseins als der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der gesamten Wirklichkeit: was Leben, was Geist ist (oder besser: bedeutet) – hier lasse es sich erfahren. Näherhin stellt sich der Gegensatz und die Einheit von Leben (Bewußtsein) und Materie, von Metaphysik und Naturwissenschaften, von Intuition und Verstand bei bergson als ein innerer Kampf zwischen Geist und Materie dar: es ist möglich, daß das Leben sich bis zur Dumpfheit, bis zur Unbewußtheit an die Materie verliert, es kann aber auch sein, daß das Leben die Widerstände der Materie durchbricht und seine Freiheit erobert; – viele Gedanken, die ludwig klages (1872 –1956) später zu seinem dreibändigen Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (1929 –1932) anregen sollten, wurden in bergsons Formulierungen intoniert; andererseits konnte bergson der Materie auch eine gewisse Teilhabe an der Geistigkeit zuerkennen und sie betrachten als «fallenden» Geist, ist sie doch selbst von jener «Lebensschwungkraft» durchzogen, die in ihr gestaltend und vorantreibend wirkt; – hans driesch (1867–1941), der ursprünglich Zoologe und Schüler des monistisch denkenden Naturforschers ernst haeckel (1834 –1919) war, vertrat zeitgleich in seinem damals berühmten Werk Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre (1905) ein ganz ähnliches Verständnis des Lebens, wenn auch auf Grund anderer, der biologischen Beobachtung näherstehender Argumente. (Vgl. hans driesch: Alltagsrätsel des Seelenlebens, 19 –21: Die psycho-physischen Probleme.) Insgesamt wird es jetzt die Frage sein, nach welchen wissenschaftlich vertretbaren Kriterien sich die gedanklichen Anregungen so vieler genialer, tiefdenkender Philosophen ordnen, bewerten und nutzbar machen lassen. Im Vordergrund dabei steht zweifellos das Problem der «Vernünftigkeit» des Materiellen, ohne dessen immanente «Intelligenz» Leben und Bewußtsein niemals zur Erscheinung hätten gelangen können. Um eine Art Übersicht über die verschiedenen Visionen zur Lösung des Leib-Seele-Problems zu geben, mag die schematische Darstellung in Abb. D 13 hilfreich sein. (Vgl. j. f. spittler: Der Bewußtseinsbegriff aus neuropsychiatrischer und in interdisziplinärer Sicht, in: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie, 60/1992, 54 –65.)

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Abb. D 13: Verschiedene Sichtweisen auf das Leib-Seele-Problem in der Philosophiegeschichte, geordnet nach den Achsen Dualismus – Monismus sowie Materialismus – Idealismus

Man sieht bei einer solch schematischen Übersicht allerdings sogleich, wie schwer es ist, derart originäre Denker wie bruno, hegel, bergson und de chardin oder in ihrer Art auch de lamettrie und robinet in ein solches Rahmenwerk von -«ismen» zu zwängen. Wohin zum Beispiel sollen wir arthur schopenhauer (1788 –1860), unseren ständigen Lehrer und Mahner, stecken, der – ebenfalls «instrospektiv» – einen (unbewußten) Willen (zum Leben) als das eigentliche Ding an sich, als das transzendente Wesen im Herzen allen Lebens ansah? Oder wohin dessen «Schüler» friedrich nietzsche (1844 –1900) mit seiner Vision vom «Willen zur Macht»: «Und wißt ihr auch, was mir ‹die Welt› ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen?» schrieb er. «Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß . . ., ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heim-

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kehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs . . .: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste . . ., ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat . . .» (Der Wille zur Macht, Nr. 1067, S. 696 –697) Solche Worte verdichten eine bewußt subjektive, hoch poetische, zutiefst religiöse, wenn auch antichristliche Weltsicht von mythischer Größe, ebenso jenseits von Gut und Böse wie jenseits von «Dualismus» und «Monismus», von «Materialismus» und «Idealismus». Ganz sicher ist die Wahrheit nicht mit solchen Festlegungen einzufangen. Aber es gibt immerhin eine Reihe von – naturwissenschaftlichen! – Konzepten und Argumenten, die uns nach allem Gesagten helfen können, die Frage nach der Entstehung von Bewußtsein (das Leib-Seele-Problem) auch philosophisch (und theologisch) durchsichtiger zu machen.

β) Von Systemtheorie und Informatik sowie von einer nicht zu schließenden Erklärungslücke Man kann nicht oft genug betonen, daß sich die Fortschritte der modernen Naturwissenschaften nicht länger wie in den Tagen bergsons (um 1900) mit dualistischen Entgegensetzungen oder wie in den Tagen teilhard de chardins (um 1950) mit integralistischer (Christus)Mystik beantworten lassen; eben deshalb besitzt ja die Neurologie heute eine so große Bedeutung auch für die Geisteswissenschaften, weil sie mit naturwissenschaftlichen Mitteln die uralten Menschheitsfragen nach Geist, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Person, Seele, Freiheit usw. aufgreift und zu lösen verheißt. Dabei führt sie freilich nur fort, was sich in anderen Wissenschaftsgebieten längst durchgesetzt hat. Wie kann unser Denken der Wirklichkeit gemäß sein? wie sind Mathematik und Physik als Wissenschaften möglich? fragte vor 225 Jahren immanuel kant (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Werke V 142–158, § 6 § 13; S. 159–191, § 14 –38); – wir sind dieser Problemstellung in Zusammenhang mit Fragen der modernen Kosmologie bereits ausführlich nachgegangen (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 339 –358, vor allem S. 350– 354). Wie «vernünftig» ist die Materie? woher kommen die Naturgesetze? Auch auf das Verhältnis von Mathematik und Natur (wissenschaft) sind wir im Rahmen von Physik und Kosmologie zu sprechen gekommen (a. a. O., 373– 414); dabei ist es durchaus denkbar, daß selbst die fundamentalen Naturgesetze «unserer» Welt in sich kontingent sind und sich der

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Zufallsauswahl eines funktionstüchtigen Universums unter beliebig vielen anderen möglichen oder wirklichen «Multiversen» verdanken (a. a. O., 979– 990; 1031–1061); jedenfalls bedarf es nicht notwendig einer planenden Vernunft, um die Vernünftigkeit der Naturordnung zu begründen. Mit anderen Worten: Es ist nicht mehr möglich, das Dasein und Sosein der Welt als «Beweis» für die Existenz eines weisen, gütigen und allmächtigen Schöpfers zu interpretieren, – die Spekulationen der Metaphysik von einst beziehungsweise der dogmatischen Theologie in der Gegenwart sind de facto längst ersetzt durch die Spekulationen (mehr freilich ist es – noch – nicht) moderner Quantenphysik und Kosmologie (insbesondere der Stringtheorie). Und auch die zweite Stufe der Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit von Leben und Bewußtsein, die noch bis in die 50er Jahre des 20. Jhs. hinein das Hauptrückzugsgebiet der theologischen Apologetik zu bleiben vermochte, darf «im Prinzip» für beantwortet gelten. «Im Prinzip» heißt, daß es bei der Suche nach der Entstehung des Lebens – noch – nicht gelungen ist, anhand der eingefrorenen Zufälle in den Zellstrukturen unter all den an sich denkbaren Wegen den historischen Werdegang schlüssig nachzuzeichnen, den die Evolution des Lebens konkret genommen hat (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 677–760); doch ist es von seiten der Thermodynamik immerhin möglich, die Erscheinung des Lebens als einen Zustand fernab des Gleichgewichts durch Prozesse der Selbstorganisation der Materie verständlich zu machen (a. a. O., 630 –638; 643– 651) – ilya prigogine (1917–2003), der diesen Paradigmenwechsel maßgebend eingeleitet hat, wurde nach eigenem Bekunden nicht zuletzt von henri bergson beeinflußt (vgl. erik oger zu: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, S. LV). Vor allem von seiten der Biochemie lassen sich inzwischen ganze «Boulevards der Wahrscheinlichkeit» ausdenken, die von Chaos zu Ordnung, von der unbelebten zur belebten Materie geführt haben könnten (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 659– 668: Autokatalyse und Boolesche Zufallsnetzwerke). Dabei sind es zwei Begriffe, die wie Leuchttürme zur Orientierung dienen können – der Begriff der Komplexität und der Begriff der Information: Der Aufstieg zum Leben ist identisch mit dem Auftreten immer komplexerer Strukturen, und er ist identisch mit der Selektion von Information (vgl. a. a. O., 679– 692). Einer der ersten, die den Begriff der Komplexität und den der Information zusammengebracht und zugleich mit der Frage nach der «Natur des Geistes» verknüpft haben, war der von uns schon anläßlich der Schizophrenieforschung erwähnte gregory bateson ; – wir sagten damals bereits, daß die Überlegungen dieses wahrhaft interdisziplinären Denkers uns bei der Suche nach Be-

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wußtsein, Selbstbewußtsein und Personalität noch würden beschäftigen müssen. In einem kleinen Vortrag über Krankheiten der Erkenntnistheorie von 1969 (und in manch anderen Arbeiten wie in Geist und Natur, Kap. 4: Kriterien des geistigen Prozesses, 113–162) zeigte bateson in der Tat wie nebenbei auf, woran unsere ganze Diskussion über das Bewußtsein bis zu dieser Zeile hier krankt: Wir haben viel Zeit, Mühe und Papier verbraucht, um uns klarzumachen, wie die Signalübertragung an den Synapsen von Neuronen funktioniert, und Belege dafür gesammelt, daß geistige Störungen mit Störungen dieser Übertragungen (infolge eines Zuwenigs oder Zuviels bestimmter Neurotransmitter oder Neuromodulatoren und deren Rezeptoren) einhergehen müssen; und dann haben wir psychoanalytisch und theologisch geltend gemacht, daß es zu all dem oder in all dem auch inhaltliche Komponenten geben werde, die zu ungünstigen neuronalen Verschaltungen im Gehirn oder zur Über- oder Unterfunktion bestimmter Hirnareale führen; postuliert haben wir also Rückkopplungen von Somatik und Semantik, von Körper (Gehirn) und Geist (Bewußtsein); dabei haben wir uns nicht zuvor noch ausführlich mit Fragen der Psychosomatik beschäftigt, um jetzt nicht deutlich vor Augen zu sehen, wie solche Rückkopplungen zum Beispiel über bestimmte Interleukine oder über bestimmte Hormone im Falle von Krankheit oder von Streß auf das Zentralnervensystem funktionieren (vgl. Abb. C 5; B 120). Und doch haben wir all die Zeit so getan, als wenn hier die biochemischen oder elektrochemischen Vorgänge abliefen und irgendwo und irgendwie anders die geistigen Inhalte. Diese (methodische) Zweiteilung von Biologie und Psychologie blieb uns ungeschmälert erhalten, als wir vorhin nach den hirnorganischen Korrelaten für das Bewußtsein gesucht haben: – auch da folgten wir der in (nicht wenigen) neurologischen Standardwerken und Fachzeitschriften verbreiteten Vorstellung, es sei möglich, die Funktion bestimmter Hirnstrukturen zu beschreiben und diese dann als organische Entsprechungen von Bewußtseinsvorgängen zu betrachten; zwar wird in der Fachliteratur immer wieder betont, daß die Zweiteilung von Gehirn und Geist durch die moderne Hirnforschung (vor allem durch die bildgebenden Verfahren) heutigentags überwunden sei, doch nach wie vor ist es eines, zu zeigen, wie die Formatio reticularis, der Thalamus und der frontale Cortex zusammenarbeiten, und ein ganz anderes, zu erklären: Das ist Bewußtsein. So viel steht fest: Die neuronalen Korrelate psychischer Vorgänge sind selber nicht psychisch. Was aber ist dann psychisch? Zu dieser Frage haben wir soeben eine Reihe neuzeitlicher Philosophen vernommen und von ihnen eine Menge brauchbarer Hinweise, kluger Gedanken und neuer Fragestellungen einsammeln können; doch wird es wohl keinen Le-

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ser geben, der nicht den Eindruck gewonnen haben dürfte, daß wir noch Dutzende anderer Autoren in jeder beliebigen Länge und Menge hätten zu Wort kommen lassen können und uns doch nur immer weiter und immer schneller im Kreise gedreht haben würden. Ob im Sinne eines erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Dualismus (beziehungsweise im Sinne einer dialektischen Einheit von Erkenntnistheorie und Metaphysik) oder ob im Sinne eines idealistischen oder materialistischen Monismus, sei er erneut dialektisch oder undialektisch, – keine dieser Theorien erklärt wirklich, was wir wissen wollen: wie und von welcher Stufe der Entwicklung an Materie Bewußtsein zu bilden vermag; vielmehr verschieben die philosophischen Konzepte logischerweise die ganze Fragestellung und untersuchen lieber, wie geistig die Materie «immer schon» sein könne und ob sie als eine intelligente das Werk eines Schöpfers oder die Manifestation eines geistigen Prinzips oder nichts von alledem sei. Merkwürdigerweise bleibt dabei ausgerechnet der Begriff Geist, der in allen philosophischen Reflexionen eine zentrale Rolle spielt, am meisten unklar und definiert sich eher durch den Kontext des jeweiligen philosophischen Systems, als daß er als etwas an und für sich klar Gedachtes zum Ausgangspunkt weiterer luzider Darlegungen genommen würde, – von den Ausführungen der Theologen über den Heiligen Geist und die besondere Art seines innergöttlichen Personseins ganz zu schweigen. Der Eindruck täuscht nicht: So kommen wir nicht weiter. Dabei liegt die Lösung all die Zeit auf dem Tisch, das heißt sie steckt verborgen zwischen den Zeilen, und das ist es eigentlich, worauf bateson vor rund 35 Jahren schon hinweisen wollte. In seinem genannten Vortrag (und bei manch anderer Gelegenheit) nämlich griff er eine gnostisch klingende Unterscheidung auf, die carl gustav jung 1916 in einem Aufsatz unter dem Titel Septem Sermones ad Mortuos – Sieben Predigten an die Toten vornahm, den er während einer psychotischen Krise verfaßt hatte (vgl. gregory bateson: Form, Substanz und Differenz, in: Ökologie des Geistes, 584– 585): es ist die Unterscheidung zwischen dem ple¯ro¯ma (griech.: die Fülle, die ideelle Ganzheit des Alls) und der creatura (lat.: die Schöpfung, die wirkliche Welt). (Das ple¯ro¯ma ist ein Ausdruck, der in gnostisch beeinflußten Stellen einiger der dem Apostel Paulus zugeschriebenen Briefe vorkommt; vgl. Eph 1,10.23; 3,19; 4,13; Kol 1,19; 2,9; carl gustav jung hatte bekanntlich ein großes Interesse an gnostischen, alchimistischen und esoterischen Überlieferungen.) Für bateson nun stellte sich dieser Unterschied so dar: «In der (sc. dem, d. V.) Pleroma gibt es nur Kräfte und Einwirkungen. In der Creatura herrscht der Unterschied. Mit anderen Worten, die (sc. das, d. V.) Pleroma ist die Welt der Naturwissenschaften, während die Creatura die Welt

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der Kommunikation und der Organisation ist.» (gregory bateson: Krankheiten der Erkenntnistheorie, in: Ökologie des Geistes, 617) In der Welt der Naturwissenschaften (im Pleroma) werden Wirkungen durch eine der vier Grundkräfte beziehungsweise durch die Wechselwirkung der Austauschteilchen dieser Kräfte vermittelt; in der Welt der Creatura aber werden «Wirkungen durch Ideen, insbesondere durch Unterschiede, hervorgebracht.» (A. a. O., 618) «Das ist die erkenntnistheoretische Grundlage der Informationstheorie. Die Informationseinheit ist ein Unterschied» (a. a. O., 618), näherhin ein Unterschied, der einen Unterschied macht: – es kommt auf ihn an, er bedeutet etwas. Nehmen wir, um das Gemeinte zu verdeutlichen, als Beispiel zwei verschiedene Farben. Eine bestimmte Frau, stellen wir uns vor, trägt am liebsten die Farbe Rot – es steht ihr gut, glaubt sie, und verleiht ihr eine bestimmte «Ausstrahlung»; eines Tages aber zieht sie einen grauen Pulli an, und diese Tatsache verunsichert ihren Liebhaber: Was ist passiert? Der Unterschied zwischen beiden Farben ist nicht im Raum zu lokalisieren, er kommt nicht vor in den Erklärungen der Physik (die Differenz zwischen den Wellenlängen elektromagnetischer Strahlung im Bereich des sichtbaren Lichtes ist in diesem Zusammenhang irrelevant, weil sie als solche nicht die Ursache von etwas anderem bildet); er ist der Unterschied einer «Idee» (im Sinne von david hume, der Sinneswahrnehmungen für simple ideas, für einfache Repräsentationen erklärte). Und dieser Unterschied, der eine Information enthält (zum Beispiel: «Ich fühle mich nicht gut», oder: «Du bist mir gleichgültig»), kann in der Welt der «Creatura» allerhand bewirken, obwohl er im «Pleroma» gar nicht vorkommt. In der Welt der Creatura kann auch etwas wirken, das gar keinen Unterschied bildet, sondern nur mit sich identisch ist, denn Selbstidentität unterscheidet sich von Verschiedenheit; es kann in der Welt der «Creatura» sogar etwas wirken, das überhaupt nicht vorhanden ist: ein Wort, das nicht gesagt, ein Anruf, der nicht getätigt wurde . . . «Diese erstaunlichen Relationen», fährt bateson fort, «bestehen, weil wir als Organismen (ebenso wie viele der von uns gemachten Maschinen) zufällig in der Lage sind, Energie zu speichern. Wir verfügen zufällig über die notwendige Kreislaufstruktur, so daß unser Energieverbrauch eine umgekehrte Funktion der Energieeingabe sein kann. Tritt man gegen einen Stein, dann bewegt er sich mit der Energie, die er durch den Tritt bekommen hat. Tritt man einen Hund, dann bewegt er sich mit der Energie, die er von seinem Stoffwechsel bezieht. Eine Amöbe wird sich für ziemlich lange Zeit mehr bewegen, wenn sie Hunger hat. Ihr Energieverbrauch ist eine umgekehrte Funktion der Energieeingabe. Diese erstaunlichen Wirkungen der Creatura . . . beruhen ebenfalls

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auf einer Kreislaufstruktur, und ein Kreislauf ist eine geschlossene Bahn (oder ein Netz von Bahnen), auf der Unterschiede (oder Umwandlungen von Unterschieden) übertragen werden.» (Krankheiten der Erkenntnistheorie, in: Ökologie des Geistes, 618– 619) Es war bereits in der Hochblüte des Deutschen Idealismus der Gedanke friedrich wilhelm joseph von schellings (1775 –1854), den er im System des transzendentalen Idealismus von 1800 äußerte, eine «Organisation» – wir können auch sagen: ein Organismus (etwas Lebendes) – sei eine Kausalität, die auf sich selbst zurückwirke; sie sei «nicht nur als Ursache oder Wirkung, sondern . . . beides zugleich von sich selbst» (a. a. O. 162–163), ein kausaler Kreislauf also; für von schelling (ebenso wie für seinen Lehrmeister johann gottlieb fichte, 1762 –1814) war damit gegeben, daß ein belebter Körper etwas Geistiges (eine «Seele») in sich trage; aber wieso? Heute können wir mit den Mitteln von Kybernetik und Informatik zu beschreiben versuchen, was «Geist» ist. Welche «Minimalforderungen an ein System» zu stellen sind, damit es den «Charakterika des Geistes» genügt, läßt sich nach bateson entsprechend dem Gesagten in vier einfachen Punkten auflisten: «1) Das System soll mit und auf der Grundlage von Unterschieden arbeiten. 2) Das System soll aus geschlossenen Schleifen oder Netzen von Bahnen bestehen, auf denen Unterschiede und Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden. . . . 3) Viele Ereignisse innerhalb des Systems sollen eher durch den reagierenden Teil als durch den Einfluß des auslösenden Teils mit Energie gespeist werden. 4) Das System soll Selbstregulation in Richtung auf Homöostase und/oder in Richtung auf ein Durchdrehen zeigen. Selbstregulation umschließt Versuch und Irrtum.» (gregory bateson: Krankheiten der Erkenntnistheorie, in: Ökologie des Geistes, 619) Wir brauchen uns wieder nur an die kybernetische Erklärung bestimmter Motivationszustände wie des Hungers zum Beispiel (vgl. Abb. B 66) oder des Blutdrucks (vgl. Abb. C 1) zu erinnern, und wir wissen, was mit «Selbstregulation in Richtung auf Homöostase» gemeint ist. Doch wirklich neu ist jetzt, daß wir die Funktion der Neuronen dahin stellen, wohin sie gehört: in den Zusammenhang der Informationstheorie und nicht länger mehr (nur) in die Domäne der Biochemie oder Biophysik. In der Sprache batesons: «Was durch ein Neuron übertragen wird, ist nicht ein Impuls, sondern die Nachricht von einem Unterschied.» (gregory bateson: Krankheiten der Erkenntnistheorie, in: Ökologie des Geistes, 619) So sahen wir etwa, daß das Kreislaufzentrum der

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rostro-ventro-lateralen Medulla oblongata (RVLM in Abb. C 1) bei einem Blutdruck oberhalb des Sollwertes von den blutdrucksenkenden Neuronen in der caudalen-ventro-lateralen Medulla oblongata (CVLM) gehemmt wird, indem Blutdruckfühler in der Halsschlagader über die aufsteigenden Nervenstränge des IX. und X. Hirnnervs Neuronen im Nucleus tractu¯s solitarii (NTS) aktivieren, die wieder die blutdrucksenkenden Neuronen im CVLM aktivieren. Wie in der Kybernetik auch sonst, haben wir da einen Sollwert und einen Istwert, und es ist die Differenz zwischen beiden, die ein Stellglied auf den Plan ruft, um die Abweichung nach Möglichkeit zu korrigieren (Bd. I 483). Am Beispiel dieser absolut lebenswichtigen Erhaltung einer «Homöostase» (eines Gleichgewichtszustandes) läßt sich mit Händen greifen, wozu Neuronen (und Nerven) eigentlich gut sind: Sie sind dazu gemacht, Unterschiede festzustellen und weiterzumelden, also Informationen zu übertragen. Der Sache nach ist uns auch dieser Gedanke nicht neu. Schon das Hormonsystem, schon das Immunsystem erwies sich als ein internes Informationssystem, und wir sagten, daß der Aufstieg von der Einzelligkeit zur Vielzelligkeit überhaupt nur möglich geworden sei durch eine noch schnellere und präzisere Signalübertragung zwischen den funktional sich immer weiter ausdifferenzierenden Körperzellen (Bd. I 175 –180). Für nichts anderes aber als für den Aufbau eines derartig leistungsfähigen internen Kommunikationsnetzes wurden die Nervenzellen herangebildet; und eben damit sind sie die bevorzugten Funktionseinheiten von «Geist» und die unerläßliche Basis von Bewußtsein. Denn einzig in den Neuronen liegt die Fähigkeit verborgen, etwas abzubilden (bzw. zu repräsentieren). Die chromaffinen Zellen im Nebennierenmark etwa können, wie wir sahen (vgl. Abb. B 112; B 117; B 120), dazu veranlaßt werden, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten – ein Vorgang, der im Rahmen einer Streßantwort auf etwas Wahrgenommenes reagiert, doch diese Zellen selber nehmen absolut nichts wahr; sie erfüllen ihre Aufgabe in der Welt der naturwissenschaftlichen Erklärungen rein «auf Befehl hin», ohne irgend etwas abzubilden (zu repräsentieren). Ganz anders die Nervenzellen: Sie vermitteln Informationen über Ereignisse, die sich irgendwo anders im Körper zutragen. «Sie sind so konstruiert», schreibt antonio r. damasio, «daß sie quasi von etwas anderem handeln (sc. als von sich selbst, d. V.). Sie sind geborene Kartographen der Geographie des Körpers und der Ereignisse, die darin stattfinden (sc. vgl. den «Homunculus» in Abb. A 27 und A 28, d. V.).» (Wie das Gehirn Geist erzeugt, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 10) Eben daran liegt es, daß wir Bewußtsein stets «intentional» (von lat.: die intentio – Ausrichtung; gegenstandsgerichtet), als Bewußtsein von

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etwas erleben. «Die philosophische Verzweiflung», fährt damasio fort, «die diese Hürde der ‹Intentionalität› umgibt, löst sich auf, wenn man das Gehirn mit den Augen Charles Darwins betrachtet: Die Evolution hat ein Gehirn geschaffen, das den Organismus unmittelbar und die Außenwelt, zu der er in Beziehung tritt, mittelbar zu repräsentieren vermag.» (antonio r. damasio: A. a. O., 10) Damit sind wir jetzt in der Lage, die Begriffe «Geist» und Bewußtsein klar von einander zu unterscheiden und anzugeben, was mit beiden gemeint ist (oder sein sollte). Unter Geist können wir ganz allgemein eine Struktureigenschaft komplexer (sich selbst organisierender, nicht-linearer) Systeme verstehen. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 123 –130.) Derartige Systeme brauchen an sich keine Neuronen. Unser Immunsystem beispielsweise ist ein hochkomplexes System (vgl. Abb. C 3; C 4; C 6), es selbst besitzt keinerlei Bewußtsein und auch werden seine Vorgänge an unser Bewußtsein nur sehr summarisch, wenn überhaupt, weitergemeldet – in Form von Unwohlsein, Müdigkeit, Schmerz usw.; doch jetzt können wir sagen, daß in ihm Geist ist, und zwar nicht weil mystischerweise eine Geistsubstanz von außen (durch einen göttlichen Schöpfungsakt) dem Körpergeschehen hinzugefügt worden wäre, sondern weil das Körpergeschehen selbst die Minimalcharakteristika für ein komplexes System erfüllt. Allein schon dieser Gedanke verändert unser Weltbild erheblich. Statt darüber nachzusinnen, ob die Materie als ganze (panpsychistisch, panchrististisch, pantheistisch, geistmetaphysisch, idealistisch oder wie auch immer) geistdurchwirkt sei, können wir nunmehr anhand reiner Strukturkriterien beziehungsweise rein funktionaler Rückkopplungsschleifen angeben, wann bestimmte materielle Konfigurationen die Kennzeichen von Geist aufweisen. Die These liegt bereit, daß Geist nicht immer war, sondern im Verlauf der Evolution hervorgebracht wurde. Zugleich mit dieser Annahme können wir auch den unterschiedlichen philosophischen Lösungswegen (nach dem Schema von Abb. D 13) Gerechtigkeit widerfahren lassen; denn in gewissem Sinne haben sie alle recht, und in gewissem Sinne haben sie alle unrecht: Die Monisten haben recht, wenn sie sich weigern, Geist als eine eigene substantielle Entität gelten zu lassen; aber sie haben unrecht, wenn sie die Meinung verfechten, Geist sei mit Materie identisch. Das allermeiste in der Natur muß, wenn nicht durch die Hintertür wieder ein neuer Mystizismus eingeführt werden soll, durchaus als Materie ohne «Geist» in angegebenem Sinne bezeichnet werden; nur im Verlauf einer Jahrmilliarden währenden Entwicklung vermochte die Materie Strukturen hervorzubringen, die geistige Merkmale aufweisen. – Die Dualisten haben

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recht, wenn sie hervorheben, die Materie «an sich» sei nicht Geist; aber sie haben unrecht, wenn sie das Geistige als etwas Immaterielles, von der Materie Unabhängiges supponieren; das «Andere» der Materie, das den Geist bedingt, ist die Konfiguration des Materiellen und wird durch materielle Prozesse («autokatalytisch») selber hervorgebracht. – Deshalb ist den Materialisten zuzustimmen, wenn sie es für überflüssig und irrig erklären, einen eigenen ursächlichen Wirkungsfaktor, genannt Geist, anzunehmen, von dem einer an sich toten und passiven Materie Leben und Aktivität allererst eingesenkt werden müßten; doch sie haben unrecht mit ihrer Behauptung, Leben und Bewußtsein seien «nichts anderes als» eine Begleiterscheinung materieller Prozesse; denn in einem Meer von toter Materie erheben die Formen des Lebens sich selbst auf dem besonders begünstigt erscheinenden Planeten Erde nur wie winzige Inseln, und es kommt sehr darauf an, die Bedingungen zu benennen, unter denen materielle Prozesse imstande sind, Leben und Bewußtsein hervorzubringen. – Die Idealisten haben recht, wenn sie dieses Spezifische des Geistes in einer «Idee», in einem geistigen Inhalt, im Bereich der Informationen und Bedeutungen festmachen; aber sie haben unrecht, wenn sie die «Idee», den geistigen Inhalt, die Information vom Materiellen trennen und für etwas erklären, das «ursprünglicher», «früher» sei als alles Materielle. Was wir gerade sehen, ist die Einheit des Materiellen und des Konfigurativen (des vom Materiellen Gestalteten). Was die Neuronen bei ihren Signalübertragungen vermitteln, sind wirkliche «Informationen», das heißt, die Informationen (der geistige Gehalt) sind identisch mit der Art der Signalübertragung selbst. Ob Adrenalin oder Serotonin als Neurotransmitter eingesetzt wird, ist nicht bloß eine quasi technische Varietät im Wirken der Neuronenmaschine, es ist in sich selbst schon der «Brief» mitsamt seinem Inhalt, den das Gehirn an sich selbst versendet oder von der Peripherie empfängt. Der alte Satz des schon mehrfach zitierten Konzils von Vienne aus dem Jahre 1312: die «Seele» sei die Form des Leibes, ist genial richtig, wenn wir ihn von seiner kreationistischen Ideologie befreien und in die Aussage umkehren: die Konfiguration des Materiellen sei der Geist. Freilich, wenn es so steht, ist es nicht länger mehr nötig, Geistiges exklusiv für neuronale Prozesse zu reklamieren. Tiere können, wie gezeigt, höchst intelligent handeln, auch wenn sie kein Zentralnervensystem aus Gehirn und Rückenmark besitzen und wir nicht sicher sein können, ob sie über ein Bewußtsein verfügen, das ihnen sagt, was sie tun, oder nicht. Und nicht einmal nur von lebendigen Strukturen, die von einer festen Membran oder Haut umschlossen sind, läßt sich sprechen als «geistig». In seiner Vorlesung über Form, Substanz

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und Differenz aus dem Jahre 1970 wies gregory bateson darauf hin, daß es ein Fehler sei, zu glauben, «daß sich die Codierung und Übertragung von Unterschieden außerhalb des Körpers stark von der Codierung und Übertragung im Innern unterscheidet . . . Gewöhnlich denken wir, die äußere ‹physische Welt› sei irgendwie von einer inneren ‹geistigen Welt› getrennt.» (gregory bateson: Form, Substanz und Differenz, in: Ökologie des Geistes, 583) Tatsächlich aber bedeutet es keinen wesentlichen Unterschied, ob die Prozesse von Codierung und Übertragung innerhalb oder außerhalb eines Körpers ablaufen. So läßt sich zeigen, wie auch in einem ökologischen System (einem Teich, einem Fluß, einem Waldgebiet) sich die Biozönose (griech.: der bíos – Leben, die koino¯sis – Gemeinschaft; Lebensgemeinschaft) auf eine bestimmte Energiebilanz einstellt, um funktionstüchtig zu bleiben, und dieses Gleichgewicht gegen Störungen zu verteidigen bestrebt ist. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 240 –257.) Die theoretische Folgerung, die sich daraus ergibt, ist sehr wichtig: «Geist» ist nicht einfach identisch mit «Materie», aber er fängt auch nicht erst an mit «Leben» und «Bewußtsein». Vielmehr dürfen wir annehmen, daß sich ein lebender Organismus überhaupt nur entwickeln kann, wenn in der Umwelt Strukturen realisiert sind, die den genannten Charakteristika von «Geist» genügen. So viel also war richtig an dem Gedanken, daß Leben (und Bewußtsein) nur habe entstehen können in einer Materie, die «Geist» schon aufweist, nur daß wir jetzt nicht länger mehr mystisch-metaphysischer Verschleierungen bedürfen, um diese Vorstellung als konkret tauglich zur Erklärung des fundamentalen Zusammenhangs von Leben und Umwelt bestätigen zu können. Und die praktischen Konsequenzen, die sich aus dieser «ökologischen» Grundbeziehung von Leben und Umwelt herleiten, müßten in unserem alltäglichen Verhalten zu weitestreichenden Änderungen im Umgang mit Tieren, Pflanzen, Wäldern, Meeren, mit dem Wasser und mit der Luft usw. führen. Der anthropozentrische Monotheismus des Christentums war hier offenbar ebenso schädlich wie das einseitig auf die «Selektion der Fittesten» abzielende Bild einer blinden «Umwelt» im darwinismus. «Wenn man Gott», schreibt bateson, «nach außen verlegt und ihn seiner Schöpfung gegenüberstellt, und wenn man die Vorstellung hat, daß man nach seinem Bild geschaffen ist, dann wird man sich selbst logisch und natürlich als außerhalb von und entgegengesetzt zu den Dingen um einen herum sehen. Und wenn man sich selbst allen Geist anmaßt, dann wird man die Welt um sich herum als geistlos ansehen und ihr jeglichen Anspruch auf moralische oder ethische Erwägungen absprechen. Die Umgebung wird sich so darstellen, als sei sie nur für die Ausbeutung da. Die Überlebenseinheit wird man selbst und die eigenen Angehörigen oder Artge-

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nossen sein, im Gegensatz zu der Umgebung anderer sozialer Einheiten, anderer Rassen und der Tiere und Pflanzen.» (Form, Substanz und Differenz, in: Ökologie des Geistes, 593) Es gibt also Geist in der Materie, sobald Strukturen sich bilden, die komplex genug sind, um sensibel zu werden für einen «Unterschied, der einen Unterschied macht», – das heißt für Informationen; doch dieser Geist spielt eigenartigerweise nicht in den intelligenten Theorien und Gesetzen der Naturwissenschaften (im «Pleroma»), sondern in der wirklichen Welt (in der «Creatura»). Der entscheidende Unterschied ist daher nicht, wie es Naturphilosophen und Theologen gleichermaßen nahelegten, ein Unterschied zwischen zwei verschiedenen Substanzen: Geist und Materie, oder Gott und Welt; er liegt vielmehr innerhalb der gleitenden Grenze entsprechender Komplexitätsgrade der Selbstorganisation der Materie; er ist, wie hegels Naturphilosophie es spekulativ behauptete, zunächst quantitativer Natur, ehe er als etwas qualitativ Neues in Erscheinung tritt. Der allmähliche Übergang von der RNA-Welt zur DNAWelt, von den Protozellen zu den Eukaryoten, bietet hierfür das wohl anschaulichste Beispiel im Verlauf der Entwicklung des Lebens über einen Zeitraum von mehr als 2 Milliarden Jahren. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 708 –760.) Was aber ist es dann mit dem Bewußtsein? Wir haben es als Kriterium seines Vorhandenseins gelten lassen, daß ein Lebewesen imstande ist, über bestimmte genetisch festgelegte Arbeitsprogramme hinaus etwas Neues zu lernen und für die Erreichung eines (vorgegebenen) Ziels unter wechselnden Voraussetzungen flexible Strategien einzusetzen; – in einem solchen Falle sollte es irgendwie wissen, was es tut und wozu es das tut. Ein Zentralnervensystem wie unseres mit Gehirn und Rückenmark wird dazu, wie das Beispiel der Bienen uns lehrte, offenbar nicht erfordert. Andererseits ist für den Aufbau einer größeren Speicherkapazität von Informationen (im Langzeitgedächtnis) und zum Aufbau eines umfangreichen «Arbeitsraumes», der zur Interpretation der eingehenden Informationsmenge aus den verschiedensten vorverarbeitenden Modulen imstande ist, ein neuronales Netzwerk unerläßlich, wie es sich in den Köpfen der Chordatiere und Vertebraten (Wirbeltiere) von den Fischen bis zu den Säugetieren entwickelt hat – zumindest gilt dies allem Anschein nach unter den Bedingungen der Evolution auf dem Planeten Erde; wie es auf anderen Planeten zugehen mag, vermögen wir uns schlechterdings nicht vorzustellen; alle Phantasieerzeugnisse der Kinoindustrie über außerirdische Intelligenzen weisen eine fatale Ähnlichkeit zu dem auf, was uns als denkenden Säugetieren auf dieser Erde am meisten fremd vorkommt: zu gewissen Insekten und Crustaceen

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(Krebstieren). Tatsächlich genügt es jetzt, sich nur noch einmal in Abb. A 52 die Vielzahl hochspezialisierter Neuronentypen anzuschauen, und wir können in etwa ahnen, wie mühsam der Evolution der Aufbau eines funktionierenden Zentralnervensystems gefallen sein muß. Zudem sahen wir vorhin noch, daß das Bewußtsein sich den verschiedensten Inhalten zuwenden kann oder, vermutlich richtiger, daß es nur den «erfolgreichen» Neuronenverbänden gelingt, ihre Information ins Bewußtsein dringen zu lassen; das Maß der Konzentration (der Aufmerksamkeitslenkung) ist graduell schwankend, – wirklich nötig scheint es nur beim Erlernen neuer Inhalte, wie zum Beispiel der Abfolge motorischer Verrichtungen (wie Schwimmen, Fahrradfahren oder Tennisspielen), die später dann von den unbewußten Steuerungen vor allem durch Kleinhirn und Basalganglien übernommen werden. Auch hat sich gezeigt, daß das Bewußtsein selbst graduell unterschiedlich auftritt: das Traumbewußtsein ist etwas anderes als das Wachbewußtsein, und beide beruhen, wie wir sahen, auf zum Teil verschiedenen neuronalen Aktivitäten. Das aber ist jetzt der entscheidende Punkt: Wir lernen, daß es nicht ein und dasselbe sein kann, von «Geist» und von «Bewußtsein» zu sprechen. «Geist» ist durchaus nicht an Bewußtsein gebunden: ein «Geist» muß nicht periodisch schlafen gehen, um Energie zu sparen, wie unser Bewußtsein; «Geist» ist auch nicht mit Alkohol oder LSD durcheinanderzubringen – unser Bewußtsein schon. Sagen wir so: Das, was wir Bewußtsein nennen, ist eine Sonderform von Geist, die entwickelt wurde, weil sie im Überlebenskampf auf dem Planeten Erde offensichtlich erhebliche Vorteile bietet. Insofern ist Bewußtsein gebunden an den Körper eines einzelnen Lebewesens, während «Geist» als Struktureigenschaft komplexer Systeme zwar als gebunden an materielle Prozesse erscheint, aber nicht in notwendiger Bindung an einen einzelnen Körper steht. So hindert uns nichts, Bewußtsein als den konfigurierten Zustand von Geist in einem individuellen Körper zu definieren; und wieder ist damit klar, daß diese Formulierung, die sprachlich an die Ausdrucksweise der alten Metaphysik erinnert, mit dieser in Wahrheit nichts mehr gemein hat: Was «Bewußtsein» von «Geist» unterscheidet, ist die Einführung einer neuen Rückkopplungsschleife der Komplexität. «Eine komplexe Struktur, die über Informationen, die sie über sich selbst erhält, auf sich zurückgekoppelt ist» – lautet die womöglich einfachste und griffigste Definition von Bewußtsein. Bei der «komplexen Struktur» handelt es sich auf der Erde, wie wir gerade hörten, um ein Lebewesen, einen Organismus; dieser kann nicht sein ohne ständigen Einstrom von Energie und Informationen aus der Umgebung; insofern ist Bewußtsein stets intentional nach außen gerichtet; andererseits ist es als Zustand dynamischer

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Selbstreferenz stets gebunden an den Datenstrom aus dem eigenen Körperinneren und an die Verarbeitung und Verknüpfung all dieser Mitteilungen. Bewußtsein ist die Wahrnehmung der Außenwelt und deren Repräsentanz in der Innenwelt, ist der Vergleich zwischen den aktuellen externen Eindrücken und den gespeicherten Gedächtnisinhalten, ist die Wahrnehmung der Innenwelt im Vergleich mit den gegenwärtigen und erinnerten internen und externen Erfahrungsinhalten. – Für all diese Funktionen finden sich, wie dargestellt, neuronale Korrelate; daß es sich dabei um psychische (geistige) Aktivitäten handelt, wird aber erst klar, wenn man diese Tätigkeiten als einen Teil der «Creatura» betrachtet, in der Informationen als Ursachen wirken und dadurch wirklicher sind denn die Welt der physikalischen und biochemischen Kausalzusammenhänge. So erklärt sich vor allem die sonderbare Andersartigkeit aller psychischen beziehungsweise mentalen Vorgänge sowie die Versuchung, ihnen eine Substanz ganz eigener Art zu unterlegen, obwohl damit eigentlich nichts erklärt wird, sondern nur der Geist durch den Geist und das Bewußtsein durch einen individuellen Geist (eine Seele) begreifbar gemacht werden soll – eine Tautologie, versteckt unter oft vielen Worten, unklaren Begriffen und abergläubigen Riten. Können wir uns damit der Erwartung von antonio r. damasio anschließen, «daß sich bis 2050 so viel Wissen über biologische Phänomene ansammeln wird, daß die überkommenen dualistischen Trennungen von Körper und Gehirn, Körper und Seele, Gehirn und Geist verschwinden werden» (Wie das Gehirn Geist erzeugt, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 11)? In gewissem Sinne ja, wofern wir akzeptieren, daß der alte «Dualismus» von Subjekt und Objekt damit nach wie vor noch nicht überwunden sein wird. Wohl versichern uns nicht wenige Neurologen, daß sie gerade das getan hätten oder im Begriff seien, es zu tun: – kann eine objektive Erkenntnis denn noch subjektiver sein, als wenn jemand die Darstellung seiner eigenen Hirntätigkeit auf dem Bildschirm einer fMRT betrachten kann? In Wirklichkeit indes verhält es sich keinesfalls so, als ob die Differenz von Subjekt und Objekt durch die modernen neurologischen Verfahren verschwunden sei. david j. chalmers (Das Rätsel des bewußten Erlebens, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest: Rätsel Gehirn, 4/2004, 13) macht zu Recht geltend, daß in der Neurologie bislang eigentlich nur die einfachen Probleme des Bewußtseins bearbeitet worden seien: «Wie vermag ein Mensch Sinnesreize zu unterscheiden und angemessen auf sie zu reagieren? Wie faßt das Gehirn Informationen aus vielen verschiedenen Quellen zusammen und nutzt sie zur Steuerung des Verhaltens? Wie ist es möglich, daß Menschen ihre internen Zustände in Worte fas-

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sen? Obwohl all diese Fragen mit Bewußtsein zusammenhängen, betreffen sie stets die objektiven Mechanismen des kognitiven Systems . . . – Das schwierige Problem ist hingegen, wie physikalische Prozesse im Gehirn subjektives Erleben hervorbringen.» An dieser Stelle genügt es nicht länger, zu erklären, wieso bestimmte Systeme eine bestimmte Struktur aufweisen und warum sie deshalb spezifische Funktionen durchführen können; um Geist und Bewußtsein in ihrer Eigenart zu begreifen, haben wir bisher uns über die Betrachtungsweise von Biophysik und Biochemie hinaus mit bateson eine Welt vorgestellt, in der Informationen als Ursachen wirken; dadurch sind wir dahin gelangt, Struktur und Funktion (Komplexität und Informationsverarbeitung) als jene Einheit zu betrachten, die mit Geist und – unter bestimmten körpergebundenen Bedingungen – mit Bewußtsein identisch ist. Damit dürfen wir uns dem Glauben hingeben, definiert zu haben, was Geist und Bewußtsein «objektiv» sind. Aber zum Bewußtsein gehört gerade die Eigenart, daß der «Geist» in einem Individuum seiner selbst inne wird; und diese Dimension – was das Bewußtsein von etwas für das Bewußtsein selbst ist – läßt sich nicht mit objektiven (naturwissenschaftlichen) Forschungsmethoden klären; an jeder Stelle unserer Ausführungen zu bestimmten Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen hat diese Einsicht sich vorbereitet. Recht ausführlich zum Beispiel haben wir untersucht, wie das Gehirn zu der Wahrnehmung einer roten Farbe gelangt (vgl. Abb. B 43; B 44); aber ein Neurologe, der von Geburt an farbenblind wäre, könnte über das Zustandekommen dieses Eindrucks als Wissenschaftler noch so gut Bescheid wissen – er bliebe prinzipiell außerstande zu begreifen, was in jemandem vor sich geht, der eine solche Farbe (oder andere Farbgebungen) auf einem Kleid, auf einer Blume, auf einer Wand zu sehen bekommt. – Wir haben ebenfalls dargestellt, wie die Empfindung von Schmerz zustande kommt (vgl. Abb. B 68); doch wie schwer, wie fast unmöglich es ist, sich in die Lage sogar eines nahestehenden Menschen wirklich hineinzuversetzen, der an Bandscheibenvorfall, Hexenschuß, Rheuma, Migräne oder was auch immer leidet, hat wohl jeder selbst schon erlebt, wenn ihm ein anderer davon klagte; man nimmt ja nicht einmal eine äußere Ursache für derlei Leiden wahr, und alles Wissen, selbst wenn es zum Teil aus eigener Erfahrung gewonnen wurde, nutzt wenig, um mitzuempfinden, was der andere empfindet. Insbesondere die Gleichgültigkeit und Grausamkeit, mit denen wir aus allen möglichen Anlässen Tiere in der Massentierhaltung, in den Labors, in den Schlachthöfen, in ihren von uns zerstörten Lebensräumen den qualvollsten Bedingungen aussetzen, wäre kaum möglich, wenn wir mit ihnen spüren könnten, was Schmerz jedem einzelnen von ihnen

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bedeutet; offenbar aber hat die Evolution eine derartige Sensibilität gar nicht vorgesehen – sie würde sich höchstwahrscheinlich als hinderlich im Überlebenskampf erweisen. – Desgleichen haben wir dem Gefühl von Angst und dem Erleben von Streß große Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Abb. B 107; B 108; B 109; B 115); aber haben wir damit verstanden, wie ein Geängsteter fühlt? Wir haben beschrieben, wie chronischer Streß in die Depression führen kann; aber wissen wir deshalb, wie edvard munchs Schwester Laura empfand (vgl. Tafel 2)? Wir haben uns mit dem Auseinanderfallen der Person in der Schizophrenie beschäftigt; aber langt irgendeine der neurologischen Theorien aus, uns ein Bild wie das von Tafel 4 oder von Tafel 5 verständlich zu machen? Selbst die beschwörende Kraft derartiger expressiver Darstellungen vermag allenfalls, unsere Empathie und Imagination ein Stück weit zu steigern; über die Art und Weise aber, wie ein einzelner Mensch sich fühlt, kann nur das betreffende Subjekt selbst Bescheid wissen und, so gut als möglich, davon anderen Mitteilung zu machen versuchen. – Oder: Wie fühlt es sich an, verliebt zu sein? Was neurologische Untersuchungen zu dieser Frage heute sagen können (Bd. I 614 –618), mutet schlicht inadäquat, wo nicht geradewegs grotesk an. In allen Fällen starker Gefühle bedarf es einer künstlerischen, das heißt absolut lyrischen, ganz und gar subjektiven Ausdrucksweise in Worten (Dichtung), Tönen (Musik), Bildern (Malerei) oder motorischen Darstellungen (Tanz), um sich anderen Personen verstehbar zu machen. Nur das Subjekt selbst kann wissen und (im günstigsten Falle) sagen, wie es sich fühlt. – Beim Austausch von Gedanken steht es nicht anders. Obwohl man dem Denken den Charakter der Allgemeingültigkeit zuzusprechen geneigt ist, können doch bestimmte Gedanken eine unheimliche Macht über die Person gewinnen, die von ihnen in Besitz genommen wird: herman melvilles Kapitän Ahab mag dafür als Beispiel gelten (Moby Dick, CXXXII 818– 823; CXXXV 849– 853), fjodor michailowitsch dostojewskis Raskolnikow als ein anderes (Schuld und Sühne, 3. Teil, 5. Kap., S. 277–289). Eigentlich bedürfte jeder eines melvilles, eines dostojewskis, der seine Gefühle und Gedanken in dichterische Sprache übersetzte, so wie freud zu seinem eigenen Erstaunen feststellte, daß seine Krankenberichte, auf dem Wege, Menschen zu helfen, eine immer größere Ähnlichkeit zur Romanliteratur annahmen. Selbst wenn die Sphäre aller Erklärungen, inklusive der Welt der «Creatura», geschlossen würde, so träte – hoffentlich! – die Aufgabe der «Hermeneutiker» (der Dichter, der Priesterärzte, der einfühlsamen Mitmenschen – der Liebenden!) nur um so deutlicher in Erscheinung: das Subjekt zu stärken und ihm zu helfen, sich selber zu wagen. Damit aber verweist das Phänomen des Bewußtseins auf eine Infragestel-

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lung, an welcher die Neurologie ihre Zuständigkeit abgeben muß an die Philosophie und die Religion. Halten wir vorläufig fest: Die Erklärung des Bewußtseins ist nicht das Bewußtsein; die Erklärung, wie die Farbe Rot im Kopfe eines Menschen zustande kommt, hat nichts zu tun mit dem Erleben einer Rose; die Erklärung einer Halluzination ist weit entfernt von der Verzückung oder von dem Grauen, die von einer solchen Erfahrung ausgehen kann. Mit der Bewußtwerdung ist etwas eingetreten, mit dem die Natur beginnt, sich selbst zu riskieren.

γ) Die Infragestellung durch das Bewußtsein oder: Von der Möglichkeit einer buddhistischen Antwort Jemand, der dieses Buch (wie auch die vorangegangenen über Paläontologie – Der sechste Tag –, über Biologie – . . . und es geschah so – oder über Kosmologie – Im Anfang . . .) nur kursorisch liest, mag zu dem Eindruck gelangen, daß in all diesen Ausführungen eines Theologen (!) Gott «auf der Strecke» bliebe, wie ein «Kritiker» sich einmal recht waidmännisch auszudrücken beliebte. Doch ein solcher Eindruck wäre ganz falsch. Wahr ist, daß Gott nicht länger mehr benötigt wird, um irgend etwas an der Welt und in der Welt erklären zu können, – auch nicht die psychischen Vorgänge im Gehirn, auch nicht das Bewußtsein. Diese Erkenntnis bedeutet zweifellos einen Schock für all diejenigen, die im System des dogmatisch fixierten Welt- und Gottesbildes groß geworden sind, das die kirchenabhängige Theologie gegen alle Offensichtlichkeit ihren «Gläubigen» vorzuschreiben sucht: eine Welt, deren stufenweise Entwicklungsschritte vorgeblich nur durch das unmittelbare «Eingreifen» eines allmächtigen Gottes zustande gekommen sein können und innerhalb deren dieser Gott just in den letzten 3000 Jahren durch eine Kette unerhörter Wundertaten die Geschichte der Menschheit durch die spezielle Unterstützung (oder vielmehr durch die absolut parteiische Bevorzugung) eines einzigen Volkes und hernach einer einzigen Kirche inmitten eines ganz bestimmten Kulturkreises in eine entscheidende Richtung von «Heil» und «Erlösung» zu lenken unternommen hat. Lassen wir die oft schon erörterte Frage für diesmal beiseite, ob eine falsche Wörtlichnahme alter mythischer Darstellungsweisen und die Etablierung einer dogmatisch garantierten «Heilsgewißheit» über die «Machttaten» einer solchermaßen «geschichtlich» sich «offenbarenden» Gottheit heutigentags nicht eher geeignet sind, einem reaktiven Enttäuschungsatheismus das Wort zu reden als ein tragfähiges Vertrauen in einen väterlichen Hintergrund des Daseins zu vermitteln; stellen wir nur einfach fest, daß die gesamte Naturwissenschaft sich

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weigern wird, sich weigern muß, irgend etwas für eine «Erklärung» zu nehmen, das einen Gott als Ursache eines bestimmten Phänomens herbeibemüht. Den erkenntniskritischen Grund dafür hat schon david hume (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 11. Abschn., S. 173) geradezu klassisch formuliert: «Wenn wir irgendeine bestimmte Ursache aus einer Wirkung herleiten, müssen wir die eine zur anderen ins Verhältnis setzen, und es ist uns niemals erlaubt, der Ursache andere Qualitäten zuzuschreiben, als sie genau zur Hervorbringung der Wirkung ausreichen.» Aus einer endlichen Welt läßt sich nicht auf einen unendlichen «Schöpfer» schließen. Auch die Frage speziell nach der Möglichkeit von Bewußtsein bei Tieren und Menschen läßt sich nicht ohne einen fundamentalen Verstoß gegen die methodischen Spielregeln naturwissenschaftlichen Denkens mit der Aussage beantworten, Gott habe bestimmten Lebewesen eine bewußtseinsfähige «Seele» eingehaucht (Gen 2,7) oder er habe den Menschen «nach seinem Bilde» geschaffen (Gen 1,27). Selbst wenn die Denkmodelle heutiger Naturwissenschaften gerade in den Fragen von Psyche und Bewußtsein zweifellos noch eine Menge an Lücken aufweisen und vielleicht für lange oder sogar für alle Zeit behalten werden, ist es wissenschaftlich nicht zulässig, diese Lücken mit «Gott» füllen zu wollen. Insbesondere theologisch sollte, recht verstanden, derlei nicht angehen: Gott ist keine «Ursache», er bietet keine «Erklärung», er bildet keine Wirkkraft unter Kräften, er stellt sich nicht aus als Ding unter Dingen, und jede Geschichte, die Gott als einen innerweltlich handelnden zeigt, wie zum Beispiel die Bibel es vielerorts tut, gibt sich gattungsgeschichtlich schon eben dadurch als Mythos zu erkennen: als eine Erzählung, die Menschen- und Naturgeschichte als Gottesgeschichte verklärt (nicht erklärt). Die Rede von Gott, soll sie nicht allen Sinn verlieren, ist als ein Beitrag symbolischer Daseinsdeutung zu vernehmen und nicht zu verwenden als ein System dogmatischer «Klarstellungen» letzter «objektiver Tatsachen» in der Wirklichkeit der Welt. Einer solchen symbolischen Daseinsdeutung aber bedarf das Bewußtsein seit seinem Entstehen allemal und im Verlauf seiner eigenen Entwicklung sogar immer mehr. Zwei Gründe sind dafür maßgebend. Der erste ergibt sich als eine unmittelbare Folgerung aus den Entstehungsbedingungen des Bewußtseins selbst. Geist, sagten wir gerade, ist nicht zu verstehen aus einem Spiel von Kräften und Materieteilchen, Geist entsteht aus (oder besser: besteht in) dynamischen Mustern sich selbst organisierender Rückkopplungen, in denen Informationen (Mitteilungen über bedeutsame Unterschiede) die Funktion von Ursachen übernehmen. Wird dieser «objektive Geist» seiner selbst bewußt, wird er tun, wozu er entstanden ist: er wird auf die

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Suche gehen nach Bedeutungen und Bedeutsamkeiten. Noch wäre es viel zu früh, von einer eigentlichen Suche nach Sinn zu sprechen; und doch stehen wir mit dem Auftreten des Bewußtseins am Anfang eines Prozesses, der unausweichlich dorthin führen wird. Man muß nur betrachten, wie eine Katze immer wieder ihr Frauchen oder Herrchen dazu verlockt, vor allem das Köpfchen des Tieres zu streicheln, und man begreift, daß sich dahinter gewiß nicht nur die Erinnerung an das zärtliche Gelecktwerden durch das Muttertier verbirgt, sondern die Sehnsucht nach einem lebendigen Zusammensein und Zusammenhalt, nach Einheit und Geborgenheit. In der Welt einer Katze scheint ein solches Verlangen begrenzt erfüllbar, doch der Zeitpunkt wird kommen, da die Evolution durch die «Erfindung» des Bewußtseins eine Frage, ein Bedürfnis in den Strom des Lebens hineintragen wird, der weder Antwort noch Befriedigung innerhalb des Flusses selbst zu finden vermag. Damit zusammen hängt ein zweites, inhaltlich Geprägtes. Soeben noch haben wir miterlebt, wie eine Biozönose sich um den Erhalt einer bestimmten Energiemenge formt; wie viele einzelne Lebewesen und welche Lebensformen in diesen «Haushalt» der Natur eingehen, ist dabei vollkommen gleichgültig, wenn nur die Energiebilanz stimmt. Schmerz, Leid und Qual tauchen als Einzelposten bei der Erstellung der Kosten eines solchen Systems nicht auf. Und doch haben wir einer solchen alles verschlingenden kybernetisch gesteuerten Maschinerie die Charakteristika von Geist nicht abzusprechen vermocht, ja, wir haben sogar die Annahme vertreten, daß nur in einer derartig geformten «Ökologie des Geistes» die Entstehung von Bewußtsein möglich (gewesen) sei. Doch eben damit beginnt ein Drama, das als erster – und einziger – arthur schopenhauer (1788 –1860) als ein zentrales philosophisches und religiöses Thema begriffen hat. Bewußtsein, so hörten wir, ist «Geist», der in einem individuellen Körper sich selber zum Subjekt wird, und es wurde entwickelt, um im Kampf ums Überleben überlegter und überlegener reagieren zu können, als es im Rahmen von unbewußt ablaufenden Reflexmechanismen möglich ist. Notwendigerweise tritt damit der Widerstand der individuellen Lebensformen gegen ihre zwangsweise Auflösung in ein neues Stadium: Kein Lebewesen, das seiner bewußt wird, kann damit einverstanden sein, daß es anscheinend nichts weiter sein soll als der Träger einer bestimmten Energiemenge, die über kurz oder lang anderweitig verwertet wird, als Teil einer Bilanz, die ohnehin in der Summe plus-minus Null ergibt. Einen Moment lang mag man an dieser Stelle noch einmal hegel folgen, wenn er in der Phänomenologie des Geistes davon spricht, daß der «Unterschied als allgemeiner (sc. das Bewußtsein in seiner Un-

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mittelbarkeit, d. V.) . . . das Einfache an dem Spiele der Kraft» sei, ja, «das Gesetz der Kraft» selbst (A III, S. 114), in dem der Verstand das «Gesetz der Erscheinung» erfahre, «daß Unterschiede werden, die keine Unterschiede sind, oder daß das Gleichnamige sich von sich selbst abstößt» (A. a. O., A III, S. 120); denn in der Tat: das «Gesetz» des «Rechts» des Stärkeren, die Dauerkonkurrenz gerade von Artgenossen um die Basis ihrer physischen Existenz, der permanente Kampf um Rang, Revier und Beute bilden die erste Erscheinungsform eines Bewußtseins, in welchem die «verschiedenen Dinge . . . für sich gesetzt» sind, und zwar so, daß ein jedes von ihnen «nicht von sich selbst, sondern nur von dem andern verschieden ist.» (A. a. O., A II, S. 98) In kompakter Ungebrochenheit und gänzlich unreflektierter Einheit mit sich selbst ist das Bewußtsein als erstes offenbar eine bloße Waffe zur Selbstdurchsetzung eines jeden Einzelnen gegen alle anderen. schopenhauer, der im Hintergrund aller Erscheinungen (als das «Ding an sich») einen Urwillen sah, welcher, seiner selbst unbewußt, über die verschiedenen Lebensformen hinweg sich bis zum Bewußtsein (des Menschen) entfalte, erblickte eben darin die Quelle des unendlichen Leids der Kreaturen, daß die Natur «Alles nur für die Gattung und nichts bloß für das Individuum» tue, «weil ihr Jene Alles, Dieses nichts» sei. (Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, in: Sämtliche Werke, Bd. V: Parerga und Paralipomena, I 220) Daß das Bewußtsein selbst primär vom Willen (zum Sein, zum Leben) gestaltet wird, zeigte sich schopenhauer darin, daß «das Bewußtseyn . . . bedingt durch den Intellekt» sei, dieser aber (mit seiner kognitiven, wahrnehmenden Funktion) «ein bloßes Accidenz (sc. lat.: etwas Hinzutretendes, d. V.) unsers Wesens» bilde: «denn er (sc. der Intellekt, d. V.) ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängenden Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja, in sofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.» Eben deshalb sei «der Wille . . . metaphysisch, der Intellekt physisch». (Sämtliche Werke, Bd. III: Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Kap. 19, S. 224) Im Bewußtsein wird demnach als erstes der Wille zum Leben seiner selbst gewahr und dadurch gewissermaßen potenziert, denn er erkennt noch nicht das objektiv Wahnhafte, das ihn subjektiv antreibt: Wozu all die Mühsal und Qual? Die «Nichtigkeit und Vergeblichkeit des Strebens der ganzen Erscheinung», meinte schopenhauer – ganz in dem Sinne, in dem wir ihn schon einmal zitierten (vgl. Bd. I 503) –, werde «am einfachen, leicht übersehbaren Leben

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der Thiere» am besten «faßlich. Die Mannigfaltigkeit der Organisationen, die Künstlichkeit der Mittel, wodurch jede ihrem Element und ihrem Raube angepaßt ist, kontrastirt hier deutlich mit dem Mangel irgend eines haltbaren Endzweckes; statt dessen sich nur augenblickliches Behagen, flüchtiger, durch Mangel bedingter Genuß, vieles und langes Leiden, beständiger Kampf, bellum omnium (sc. lat.: Krieg aller, d. V.), Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, Mangel, Noth und Angst, Geschrei und Geheul darstellt: und das geht so fort, in secula seculorum (sc. lat.: in die Jahrhunderte der Jahrhunderte, in alle Zeit, d. V.), oder bis ein Mal wieder die Rinde des Planeten bricht.» (Sämtliche Werke, Bd. III: Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Kap. 28, S. 404) Wenn in eine solche Welt Bewußtsein hineinkommt, so ist dessen Verschmelzung mit den Erlebnissen von Schmerz und Angst wohl unvermeidbar; ja, es spricht gerade neurologisch alles dafür, daß das Bewußtsein sich wesentlich im Umfeld solcher Erfahrungen gebildet hat – wie denn das Nervensystem insgesamt zu dem Zwecke der Feindvermeidung und des Nahrungserwerbs entstanden sein dürfte. Wir sahen bereits, wie die langsame Schmerzbahn (vgl. Abb. B 68), der Tractus palaeospinothalamicus (griech./lat.: die alte vom Rückenmark zum Thalamus ziehende Nervenfaser), im Verlaufe der Evolution durch eine zweite schneller leitende (weil voll myelinisierte) Schmerzbahn ergänzt wurde, die eine rasche Reaktion auf stechende Schmerzempfindungen ermöglicht, während die alte langsamere Bahn der Wahrnehmung dumpfer Schmerzempfindungen vorbehalten blieb und eine bewußte Untersuchung und Abwehr der Schmerzursachen zuläßt. Ganz vergleichbar, so hörten wir schon, hat die Evolution beim Erleben von Angst ebenfalls zwei Verarbeitungswege etabliert, indem auch hier eine Expreßleitung vom Thalamus zur Amygdala eine unmittelbare unbewußte Antwort auslöst, während eine langsamere cortical geschaltete Bahn noch einmal eine bewußte Stellungnahme ermöglicht (vgl. Abb. B 114; B 115). Das alles weist darauf hin, daß Schmerz und Angst (neben Hunger und Sexualität) wohl tatsächlich die ersten Bewußtseinsinhalte bilden; ja, das Bewußtsein selbst scheint sich vor allem zugunsten der Fähigkeit entwickelt zu haben, derartige Erfahrungsmomente möglichst vermeiden oder möglichst rasch abstreifen zu können (bzw. sie möglichst effektiv zu nutzen). Das Bewußtsein, mit anderen Worten, entstammt überhaupt nur dem selektiv begünstigten Protest schmerzempfindender, geängsteter Individuen dagegen, als ein bloßes Austauschprodukt in den Energiehaushalt der Natur zurückgenommen zu werden. Von daher läßt sich die weitere Entwicklung in etwa bereits voraussehen: Je

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weiter das Bewußtsein sich entwickelt, indem es eine eigene zeitliche Kontinuität gewinnt, und je umfangreicher die Wahrnehmungsinhalte werden, die eine individuell und situativ variable Reaktion zulassen, desto rascher wird der Teufelskreis von Schmerz und Angst, von Angstvermeidung und Schmerzabwehr vorangetrieben werden. Irgendwann müssen Lebewesen, die ihrer Lage bewußt werden, den Eindruck gewinnen, in der Falle zu sitzen. Und von diesem Augenblick an wird die Unzufriedenheit mit den naturgegebenen Lebensbedingungen die Sehnsucht nach einer ganz anderen «übernatürlichen» Wirklichkeit wachrufen, in der Schmerz und Angst, Angstverbreitung und Grausamkeit sich nicht immer neu, wie die beiden Bügel eines Fangeisens um den Fuß eines Fuchses, um die Existenz legen. Indem das Bewußtsein, wie ludwig von bertalanffy (1901–1972) meinte, den Beginn der Angst darstellt (Die Evolution der Organismen, in: D. Schlemmer: Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, 53– 66), bildet es ineins damit zugleich auch den Anfang von Religion. (Vgl. zu dem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode mircea eliade: Geschichte der religiösen Ideen, I 20– 24; hermann müller-karpe: Geschichte der Steinzeit, 248– 261.) Gott, mit anderen Worten, wird nicht benötigt, um irgendwelche innerweltlichen Fragen zu beantworten; er wird indessen dringend gebraucht, um eine Infragestellung zu beruhigen, mit der die gesamte Natur im Verlauf der Evolution sich selber riskiert hat, weil sie darauf prinzipiell keine Antwort zu geben vermag: Wozu das alles? Nicht wie das Bewußtsein zustande kommt, erklärt die Gottheit, sondern wie es dahin kommt, an sich selber nicht irre zu werden. Doch Religion oder Metaphysik ist nicht ohne weiteres identisch mit dem Glauben an einen Gott. Eine geniale Lösung des Problems des Bewußtseins fernab von allen theistischen Implikationen hat der Buddhismus vor rund 2500 Jahren gefunden, – schopenhauers idealistische Metaphysik zur Befreiung vom Leid verdankte sich wesentlich diesem Vorbild. Ohne in unserem Zusammenhang jener großen asiatischen Weltreligion auch nur annähernd gerecht werden zu können, ist es doch unerläßlich, eine theologische Diskussion über das Bewußtsein in der Tradition abendländischer Philosophie und angesichts mancher Forschungsergebnisse der modernen Neurologie mit eben derjenigen Weisheitstradition zu vergleichen, die mit dem gautama buddha (ca. 560 –480) begann und sich zentral zum Ziel setzte, durch eine Veränderung des Bewußtseins den leidenden Wesen Erlösung zu bringen. Zu Recht meinte der große Indologe heinrich zimmer (1890 –1943) von den Anfängen des Buddhismus: «In den buddhistischen Texten findet sich kein Wort, das unzweifelbar und sicher dem Gautama Sha¯kyamuni (sc. sanskr.:

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der muni – schweigender Weiser, die Sha¯kyas – die aus dem königlichen Hause der Sha¯kyas, d. V.) zugeschrieben werden könnte. Wir erhaschen nur den erleuchtenden Schatten seiner Persönlichkeit; das aber genügt, um uns in eine geistige Atmosphäre ohnegleichen einzutauchen (sc. ein Satz, der inhaltsgleich auch von den Evangelien und der Person und Botschaft Jesu gesagt werden könnte, d. V.). Denn obwohl Indien zu jener Zeit, nämlich ein halbes Jahrtausend vor Christus, ein wahres Schatzhaus religiös-magischer Überlieferungen – für unseren Blick ein Urwald mythologischer Systeme – war, hat die Lehre des Erleuchteten keine mythologische Schau weder von der gegenwärtigen noch von der jenseitigen Welt und kein faßbares Glaubensbekenntnis aufzuweisen. Sie wurde empfohlen als ein Heilverfahren . . . Offensichtlich hat Gautama, zumindest in seiner Terminologie, mit allen populären Formen und allen in Indien üblichen Methoden religiöser und philosophischer Unterweisung gebrochen. Er bot seinen Rat wie ein geistiger Arzt an; es ist, als habe durch ihn die Kunst der indischen Medizin den Bezirk geistiger Probleme betreten – jene riesige alte Arena, wo seit Jahrhunderten Magier aller Art sich Kräfte abgezapft hatten, mit deren Hilfe sie und ihre Schüler sich zu den Höhen der Gottheit emporschwangen.» (Philosophie und Religion Indiens, 417) Tatsächlich ging der Buddha methodisch ganz so vor, wie die Ärzte seiner Zeit es zu tun pflegten, nur daß ihm nicht ein einzelner Mensch, sondern das Menschsein selbst als behandlungsbedürftig erschien. Seine berühmte Diagnose, der Inbegriff der buddhistischen Lehre, bestand in den Vier Edlen Wahrheiten, deren erste lautet: Alles Leben ist leidvoll. Gerade diese Feststellung erörterte der Buddha bezeichnenderweise weder moralisch (als Schuld) noch mythologisch (als Verhängnis der Götter oder als Erbsünde); es ging ihm praktisch-psychologisch allein darum, wie die Last des Leidens von den Schultern der Menschen zu nehmen sei; und so ergab sich für ihn die zweite Wahrheit: Die Ursache des Leidens ist unwissendes Begehren. Ähnlich der Psychoanalyse, für die das Unbewußte als Ursache allen Unglücks gilt, liegt auch dem Buddhismus zufolge die «Wurzel der Weltkrankheit» im «Nichts-Besseres-Wissen (avidya¯) . . . Solche Unwissenheit ist eine natürliche Funktion des Lebensprozesses . . . Wir wissen . . . nicht, daß wir uns in einer Welt bloßer Konventionen bewegen und daß unser Fühlen, Denken und Handeln von ihnen bestimmt wird. Wir bilden uns ein, unsere Vorstellungen von den Dingen stellten ihre letzte Wirklichkeit dar, und so sind wir in sie verfangen wie in die Maschen eines Netzes. Dabei wurzeln sie in unserem eigenen Bewußtsein und in unserer persönlichen Einstellung; sie sind bloß Schöpfungen unseres Verstandes, konventionelle, unwillkürlich entstandene Modelle, die Dinge anzusehen, zu urtei-

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len und uns zu verhalten; unsere Unwissenheit aber nimmt diese Modelle in jeder Einzelheit und ohne zu fragen an und hält sie und ihre Inhalte für Fakten des Daseins. Dieser Irrtum aber über das wahre Wesen der Wirklichkeit, er ist die Ursache aller Leiden, die unser Leben ausmachen.» (heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 418) Die Unbewußtheit unserer Wünsche und Bedürfnisse wird auch im Buddhismus – erneut wie in der Psychoanalyse – auf bestimmte Begebenheiten in der Vergangenheit zurückgeführt, allerdings so, daß das Nichtwissen des Heilsweges (avidya¯) nicht mehr nur die frühe Kindheit des jetzigen Daseins betrifft, sondern sich aus den kausalen Festlegungen früherer Daseinsformen (aus sanskara – den karma-gestaltenden Triebkräften) ergibt. Damit sind bereits die ˙ ersten beiden (vorgeburtlichen) Ursachen der 12-gliedrigen Kausalkette benannt, die der Tragödie des menschlichen Lebens zu Grunde liegt: avidya¯ und sanskara. Am Anfang des gegenwärtigen Daseins steht 3) vignyana, das Be˙ wußtsein, das im Schoß der Mutter den Kern des neuentstehenden Wesens bildet und damit 4) nama-rupa – die Geistleiblichkeit der neuen Persönlichkeit – formt; über die sechs Sinne (5. shad-ayatana), das heißt die Organe der Sinnes˙ wahrnehmungen und des Denkens, kommt es zu 6) sparsha – der Berührung der sechs Sinne mit der Außenwelt, die bei der Geburt eintritt; so bildet sich 7) vedana – die Empfindung von Lust oder Unlust infolge des Kontakts der Sinne mit der Objektwelt; doch eben dadurch entsteht 8) trishna – die Begierde, insbesondere, bei Eintritt der sexuellen Reife, der Geschlechtstrieb, der wiederum 9) upadana – den intensiven Lebenshang – hervorruft; die Folge ist 10) bhava – das Werden, das heißt die Begründung des Karmas für 11) dschati – eine neue Geburt in einem zukünftigen Leben, das naturgemäß erneut geprägt ist durch 12) dschara-marana – Altern und Sterben. (Vgl. helmuth von glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, 79.) Dieser 12-gliedrige Kausalzusammenhang beginnt, wie man sieht, mit einer Unwissenheit, die dem gesamten Dasein ursächlich zugrunde liegt, die aber durch die rechte Lehre aufgeklärt und beseitigt werden kann. Die Dritte edle Wahrheit des Buddhismus lautet daher: «Die Überwindung des Leidens kann erreicht werden; und die letzte der Vier Wahrheiten gibt den Weg an: Der Weg besteht im Edlen Achtfachen Pfad – Rechte Anschauung, Rechte Gesinnung, Rechtes Reden, Rechtes Handeln, Rechte Lebensführung, Rechtes Streben, Rechtes Aufmerken und Rechte Versenkung.» (heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 419) All diese Mittel sollen dahin führen, aus dem Strudel herauszugelangen, «wo die Lebenskraft durch ihre eigenen gegensätzlichen Affekte der Furcht und der Begierde in Unwissenheit gebannt ist».

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(heinrich zimmer: A. a. O., 429) Löst die Unwissenheit sich nur endlich auf, so erwacht das Bewußtsein zu seiner Wahrheit, so gelangt es «zu der Einsicht . . ., daß es kein wesenhaftes Ich noch sonst irgendwelche Objekte gäbe, die von Dauer wären, sondern nur aufwallende und wieder nachlassende seelische Vorgänge: Empfindungen, Gefühle, Visionen. Diese Vorgänge können unterdrückt oder in Bewegung gehalten und nach Wunsch beobachtet werden. Die Idee, daß das Feuer der Wollust, Bosheit und Unwissenheit ausgelöscht werden müßte, verliert allen Sinn, wenn der Mensch sich jene psychische Kraft und jenen Standpunkt zu eigen gemacht hat; denn der Lebensprozeß wird nun gar nicht mehr als ein brennendes Feuer erfahren.» (heinrich zimmer: A. a. O., 429) Er ist in sich selber erloschen. Diese erstaunliche Lehre, daß da «kein wesenhaftes Ich» sei, wirft das Bewußtsein gewissermaßen auf sich selber zurück und macht es zu dem, was es eigentlich ist: zu einem bloßen Spiegel, den es zu reinigen gilt. Denn die Verführungskraft der Empfindungen, aus welcher die Begierde und das Verlangen hervorgehen, besteht darin, dem Wahrgenommenen ebenso wie dem Wahrnehmenden eine «dauernde Seinsform» zuzusprechen; eine solche aber existiert gar nicht. «Was allein als wirklich existent angesehen werden kann, sind nur die Dharmas: kleine kurzfristige Wirklichkeiten, die, wenn in Gruppen und zur Kette von Ursache und Wirkung zusammengeschlossen, den Eindruck von Pseudo-Individuen schaffen. Es gibt keinen Denker, es gibt nur das Denken; keinen der fühlt, sondern nur das Fühlen; keinen der handelt, sondern nur sichtbare Handlungen.» (heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 458) Das Bewußtsein erlöst sich mithin von dem Problem seiner eigenen Wahrnehmungen (wie Hunger, Schmerz und Angst), indem es begreift, daß in seinem Widerschein sich nichts anderes zu zeigen vermag als bloße Phänomene – Erscheinungen ohne Substantialität und Individualität, denen keine letzte Wirklichkeit zukommt. Anders aber nun als bei schopenhauer, der als den Grund in oder hinter der Welt der Erscheinungen den unbewußten Willen zum Leben ansah, zerfällt in buddhistischer Betrachtung die gesamte Wirklichkeit in jene flüchtigen Daseinsformen, die man dharmas nennt und die, kaum entstanden, auch schon wieder vergehen – kurzlebig, wie die Elementarteilchen der modernen Quantenphysik. Was ist damit gemeint? Das Sanskrit-Wort dharma ist abgeleitet von der Wurzel dhri, die, verwandt mit dem lat.: ferre – tragen, soviel bedeutet wie halten, befördern; dharma ist also «‹das, was zusammenhält, erhält, aufrechterhält›». (heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 156) Das ganze Dasein nach buddhistischer Lehre geht zurück auf die Verkettung solcher rasch vorübergehender dharmas,

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die nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung ohne Anfang und Ende in alle Ewigkeit aufeinander folgen wie die Wellen eines unendlichen Ozeans und sich dabei zu Gebilden zusammenfügen, «die den Anderen, in manchen Fällen auch den betreffenden Wesen selbst, als Individuen erscheinen: als Götter, Tiere, Meere, Menschen, Steine oder Bäume. Jedes Erscheinungswesen muß als solch ein Dahinströmen von Teilchen betrachtet werden, die ihrerseits nur kurzlebig sind. Durch die Verwandlung von Geburt, Wachstum, Alter, Tod und durch die endlose Kette der Wiedergeburten hindurch ist das sogenannte Individuum nichts weiter als der Wirbel einer solchen Kausalfolge – nie ganz das, was es soeben noch war oder was es im Begriff ist zu werden, und trotzdem auch nicht davon unterschieden.» (heinrich zimmer: A. a. O., 457) Eingefügt in unser Konzept einer möglichen Begründung von Geist und Bewußtsein mit den Mitteln heutiger Neurologie, Systemtheorie und Informatik, können wir jetzt im Gespräch mit dem Buddhismus auch so sagen: Das Bewußtsein bildet sich als der subjektive Reflex eines Organismus, der sich in der ursächlichen Verknüpfung einer Reihe von dynamischen Prozessen (eben jener dharmas) zusammengesetzt hat; da die Systemeinheit, die auf diese Weise erzeugt wird, sich für eine (kurze) Zeit zu etablieren vermag, tritt sie mit dem Anschein auf, als wenn sie selber etwas Stabiles wäre; und diese Illusion muß noch verstärkt werden, indem das Bewußtsein – nach darwinistischer Deutung – wesentlich zu dem Zweck entstanden ist, den individuellen Körper, innerhalb dessen es sich als etwas Eigenes wahrnimmt und mit dessen Mitteln es sich interne Repräsentanzen der Dinge draußen verschafft, in seinem Bestand zu bewahren: alle Schmerz- und Angstwahrnehmungen dienen ja vornehmlich dem Ziel, Schaden und Gefahr von der individuellen Existenz, die sich im Bewußtsein selber begegnet, fernzuhalten und dadurch die Vergänglichkeit in der Zeit auf größtmögliche Dauer zu stellen. Insofern versteht man die Erlösungsbedürftigkeit, die der Buddhismus allen Wesen zuspricht, die dem Schleier der maya, der Täuschung des Bewußtseins, unterliegen. Unmittelbar genommen, kann das Bewußtsein gar nicht anders, als, getreu dem Zweck seiner Einrichtung, den Kampf ums Dasein noch effizienter voranzutreiben und eben diejenigen Mechanismen noch zu verstärken, aus denen es selber hervorging: Schmerz, Angst, Aggression, Hunger und (sexuelle) Gier treiben die Albtraum-Welt der Dullen Griet (vgl. Tafel 3) nur immer weiter an. Der Zwang, so fortzufahren, erlischt tatsächlich erst, wenn man den Trug durchschaut: Nichts, was entsteht, hat Bestand; die Konfigurationen der Dinge sind ohne wirkliche Konsistenz; alles Zusammengesetzte löst sich wieder auf; alles Werdende ist ein Vergehendes. Worum also kämpfen? Wovor sich noch fürchten? Das Indi-

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viduelle, das, reflektiert im Bewußtsein, seine Vergänglichkeit, seine Zerstörung, seine Zersetzung fürchtet, ist selbst etwas Unwirkliches, phänomenal Trügerisches, das einen Seinsbestand (eine Substantialität) vorgibt, die ihm nicht zukommt: unvermeidlich wird es vergehen, wird es zerstört werden, wird es zersetzt werden. Insbesondere unter dem Aspekt der Wiedergeburten, der speziell der indischen Religiosität in (nahezu) allen ihren Ausprägungen eigen ist, muß es für unmöglich gelten, dem Bewußtsein Glauben zu schenken, wenn es sich selbst als ein individuelles Sein reflektiert. «Alle Dinge sind ohne ein Selbst (an-atta¯)», lautet eine der Grundlehren des Buddhismus. (heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 457) «Gleich wie im weiten Ätherraume Sterne und Finsternis, Licht und Spiegelungen, Tau, Schaum, Blitze und Wolken auftauchen, sichtbar werden und wie Traumgestalten wieder verschwinden – so soll man alles betrachten, was individuelle Gestalt angenommen hat», heißt es in einem der Meditationstexte des Maha¯ya¯na – des Großen Fahrzeugs (im Vajracchedika¯ – Das Diamantschiff – 32, zit. n. heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 434). «Aus dem ungreifbaren Stoff, der das Weltall erfüllt, tauchen greifbare Formen als seine kurzlebigen Verwandlungen auf. Aber ihr Eintritt ins Dasein und ihr Wiederverschwinden hat keine Wirkung auf die tiefe durchsichtige Klarheit des Grundelementes, dessen Raum sie für eine kurze Daseinsweile ausfüllen. Ähnlich werden die Erleuchteten in unerschütterlicher Gelassenheit ihre eigenen Empfindungen, Gefühle und sonstigen Erfahrungen der Außen- und Innenwelt betrachten; sie werden unbewegt über den sich ständig in ihnen vollziehenden Veränderungen stehen wie der ruhevolle Äther über den Gestalten, die sich in seinem unendlichen Raume bewegen.» (heinrich zimmer: A. a. O., 434) Um diese buddhistische Zentralvorstellung vom an-atta¯ (sanskr.: a – atman), vom Nicht-Selbst (oder vom Nicht-Atman) zu verstehen, lohnt es sich, noch einmal auf das eingangs erwähnte Gespräch im Milindapañha zu sprechen zu kommen. (Vgl. Bd. I 45– 46.) König Milinda selbst war, so wird uns berichtet, in einem früheren Leben ein junger Mönch gewesen, der aus Abscheu vor Schmutz seinem Sauberkeitsdienst im Kloster nur unzureichend nachkam. Ein älterer Mönch stieß ihn deswegen mit einem Besen zu Boden, worauf hin er ein Reinigungsbad im Ganges nahm; dadurch erhielt er die Gelegenheit, einen Wunsch zu äußern, der ihm in Erfüllung gehen werde, und so wünschte er, in einem künftigen Leben Fragen stellen zu können, so klug, daß niemand imstande sein würde, sie zu beantworten. Doch auch der alte Mönch, der ihn beaufsichtigte, hatte im Ganges gebadet und so einen Wunsch frei, und er

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wünschte sich, in einer künftigen Inkarnation auf alle Fragen des jungen Mönches eine Antwort bereit zu haben, um den Hochmut seines Ego zu brechen. Tatsächlich ward er jedoch zunächst in den Götterhimmel hineingeboren, während der junge Mönch als König Milinda zur Welt kam. Auf Weisung Indras wurde der alte Mönch dann wieder vom Himmel der Götter zur Erde gesandt und inkarnierte dort in der Familie eines Brahmanen; nach langer Unterweisung war er schließlich soweit, als Mönch Nagasena König Milinda gegenüberzutreten. (Vgl. frederic spiegelberg: Die lebenden Weltreligionen, 323 –326.) – Wer, muß man fragen, ist unter diesen Umständen Milinda, und wer Nagasena, wenn sie in so verschiedenen Gestalten wie Mönch und König, Gott und Guru auftreten können? In Wirklichkeit kann man nicht sagen, Milinda sei als König inkarniert; die Frage lautet vielmehr: Ist «die Kerzenflamme, die man an einer anderen, nachts niedergebrannten Kerze entzündet hat, noch dieselbe Flamme, die man von der anderen Kerze genommen hat? Sie hat jedenfalls ihren Ursprung in der früheren Flamme. Dieser Kausalnexus wirkt aus sich selbst und ist das Gesetz des Karma. Folglich bleibt die Frage, wer sich inkarniert und wer die Frucht des Karma erntet, unbeantwortet, weil sie gar keiner Antwort bedarf. Vielmehr sollte man sich auf die Wirkung oder den Prozeß des Karma konzentrieren, darauf, wie er zu beenden ist.» (frederic spiegelberg: A. a. O., 328) In der Entwicklung des Buddhismus war es um 100 n. u. Z. einer der Hauptbegründer des indischen Mahayana: ashvagosha, der in seiner Abhandlung über das Erwachen des Glaubens im Mahayana der Illusion des Bewußtseins von der Seite des Gedächtnisses aus beikommen wollte. Wir hörten schon, daß das Bewußtsein wesentlich ermöglicht wird über den Beitrag des Arbeitsgedächtnisses; ashvagosha nun betrachtete vornehmlich die Erinnerung (das Langzeitgedächtnis) «als das Hauptelement des Bösen . . ., denn ohne Erinnerung gäbe es keine Illusion (oder Maya). Es gäbe nicht den Irrtum, jeder von uns sei ein besonderer Mensch, der in einer besonderen Zeit, an einem besonderen Ort lebe.» (frederic spiegelberg: Die lebenden Weltreligionen, 329) Wie henri bergson die Welt der Materie mit der Macht des Gedächtnisses in Zusammenhang brachte, indem, wie er meinte, die Materie «so existiere, wie wir sie beschreiben», so sah auch ashvagosha die «Materie . . . als Gemächte des Gedächtnisses» an. Der Grund: Wenn «wir nur dem Augenblick leben könnten, gedächtnislos, wäre uns die unbedingte Qualität von Existenz immerdar offensichtlich. Wenn wir aufhören könnten, den ewigen Augenblick an dem zu messen, was wir von der Vergangenheit erinnern, würde das Sein des Seienden (sc. sanskr.: tatha¯ta¯ – Diessein oder Sosein, d. V.) sich uns nicht entzie-

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hen. Religiös gesehen, sind alle Dinge ewig; nicht langlebig, sondern jenseits von Zeit. Sie gehören einer anderen Seinsordnung als der zeitlichen an, sie sind ewig im Nirvana . . . Religiös könnte man diesen Gedanken auch dahin interpretieren, daß wirkliche Erfahrung immer nur gegenwärtig sein kann, nie vergangen oder zukünftig. Gott ist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten.» (frederic spiegelberg: Die lebenden Weltreligionen, 329– 330) – Den Hinweis, der darin liegt, wollen wir nicht vergessen: daß es eine Mystik des Augenblicks gibt (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 398 –429); doch der Begriff des Nirvana als einer Art göttlicher Gegenwart im Großen Fahrzeug, wie ashvagosha ihn lehrte, entfernt sich bereits beträchtlich von dem Konzept der ursprünglicheren Vorstellung im Hinayana – im Kleinen Fahrzeug, in dem der Begriff des Nirvana (verstanden als logischer Gegensatz zu sam ˙ sa¯ra – dem Strudel der Wiedergeburten) im Grunde seinen Sinn verliert. (Vgl. heinrich zimmer: Philosophie und Religion Indiens, 430.) Im Gedanken des Nirvana versteht man, daß nur «ein unbelehrter Alltagsmensch» «den Körper als das Selbst» ansehen kann, «oder das Selbst als körperartig, oder den Körper als abhängig von einem Selbst, oder das Selbst als abhängig vom Körper», wie der Buddha in seiner Lehrrede an Nakulapita (Nakulapita-Sutta, Samyutta-Nikaya III, 1, in: paul dahlke: Buddha. Die Lehre des Erhabenen, 401– 403) erklärt; demgegenüber sieht «ein wohlbelehrter Hörer des Edlen . . . den Körper nicht als das Selbst an . . . das Gefühl nicht als das Selbst an . . . die Wahrnehmung nicht als das Selbst an . . . das Unterscheidungsvermögen nicht als das Selbst an . . . das Bewußtsein nicht als das Selbst an, noch das Selbst als bewußtseinsartig, noch das Bewußtsein als abhängig von einem Selbst, noch das Selbst als abhängig vom Bewußtsein.» Was praktisch sich aus dieser Auffassung ergibt, ist klar – besonders prägnant legte es der Buddha in seiner Lehrrede an Anuradha (Anuradha-Sutta) dar: «Daher, Anuradha, was es auch immer an Körperlichem, an Empfindung, an Wahrnehmung, an Unterscheidungen, an Bewußtsein geben mag, Vergangenes, Zukünftiges, Gegenwärtiges, Inneres oder Äußeres, Grobes oder Feines, Gemeines oder Edles, sei es fern oder nah – alles Körperliche, alle Empfindung, alle Wahrnehmung, alle Unterscheidungen, alles Bewußtsein ist eben so wirklichkeitsgemäß mit vollendeter Weisheit anzusehen: Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst. Wenn er so durchschaut, Anuradha, wird der Hörer des Edlen des Körperlichen überdrüssig, wird der Empfindung überdrüssig, wird der Wahrnehmung überdrüssig, wird der Unterscheidungen überdrüssig, wird des Bewußtseins überdrüssig; überdrüssig wird er frei von Sucht; in der Suchtfreiheit wird er befreit; im Befreiten ist das Wissen vom Be-

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freitsein; versiegt ist Geburt, ausgelebt das Reinheitsleben, vollbracht die Aufgabe, . . . so erkennt er.» (Anuradha-Sutta, Samyutta-Nikaya IV, 44,2, in: paul dahlke: Buddha. Die Lehre des Erhabenen, 391–392) Es kommt also darauf an, der Suggestion des Bewußtseins nicht zu folgen und die Illusion, die es unvermeidlich erzeugt, zu durchschauen: alle Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen und Bewußtseinszustände scheinen etwas Individuelles und Substantielles widerzuspiegeln, und augenblicklich beginnt die Angst, die Beunruhigung, die Gier, der Egoismus, die Selbstdurchsetzung, der Kampf, die Gewalt, die Beanspruchung von Macht, die Ausübung von Herrschaft. Wer indessen imstande ist, sich aus der (Fehl)Identifikation mit dem Bewußtsein und den Bewußtseinsvorstellungen zu lösen, wird erlöst von dem Problem, das mit der Entstehung des Bewußtseins notwendig einhergeht. Buddhistisch betrachtet, ist auch das Bewußtsein nur ein Teil eben jener Selbstorganisationsprozesse, die zustande kommen, ohne daß es ein Selbst gibt, das sie organisiert und initiiert. Deshalb ist kein höchster Schöpfer notwendig, um das All zu verstehen, ist Bewußtsein möglich ohne ein Selbst, das gegen die Auflösung in den sich wandelnden Zusammenfügungen der dharmas um seinen Erhalt kämpfen müßte, und bleibt auch die buddhistische Gemeinde notwendigerweise ohne einen Organisator: «Was denn, Ananda», fragt der Buddha in der Großen Lehrrede vom endgültigen Verlöschen (Maha-Parinibbana-Suttanta) seinen Lieblingsschüler, «erwartet die Mönchsgemeinde von mir? Gezeigt, Ananda, habe ich die Lehre als eine, die frei ist von dem Unterschied einer inneren und einer äußeren Auffassung. Nicht gibt es da, Ananda, unter den Eigenschaften des Vollendeten die geschlossene Lehrerfaust. Wer da, Ananda, so dächte: ‹Ich werde die Mönchsgemeinde leiten›, oder ‹Auf mich stützen soll sich die Mönchsgemeinde›, der, Ananda, würde wohl mit Rücksicht auf die Mönchsgemeinde irgendwelche Anordnung treffen.» Genau das aber tut nicht der Vollendete; seine Weisung lautet vielmehr: «selber seid euch Schutz, selber Zuflucht, nicht seien andere eure Zuflucht; die Lehre sei euch Schutz, die Lehre Zuflucht, nicht seien andere eure Zuflucht.» (Maha-Parinibbana-Suttanta, Digha-Nikaya 16, in: paul dahlke: Buddha. Die Lehre des Erhabenen, 106 –107) Das Auftauchen des Bewußtseins bedeutet mithin den Beginn eines Problems, das sich nur mit religiösen oder metaphysischen Mitteln lösen läßt. Doch zu diesen religiösen oder metaphysischen Mitteln muß, wie der Buddhismus zeigt, nicht notwendig der Glaube an einen persönlichen, seiner selbst bewußten Gott gehören. Es ist möglich, die ganze Aufregung, die mit der Idee eines Subjekts einhergeht, von vornherein abzublasen, indem man sie als eine

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Täuschung betrachtet. Selbst und Selbstbewußtsein, Ich, Person, Seele und Unsterblichkeit sind dann überflüssige und unbeweisbare, ja, schädliche Vorstellungen, die den «Strudel» immer gleicher Qualen nur immer weiter antreiben. – Oder (und auf dieses Oder kommt es uns entscheidend an) wir betrachten Selbst, Ich, Person und Seele nicht als Illusionen; dann aber müssen wir nicht nur fragen, in welchem Sinne diese Worte zu verstehen sind, sondern wir müssen uns – in steter Gegenwart des so anderen Lösungswegs des Buddhismus – zugleich auch die Frage vorlegen, wie denn ein Selbst, ein Ich, eine Person, die sich als existierend betrachten, in dem Getriebe einer Welt zurechtzukommen vermögen, die sie ganz offensichtlich nur als Übergangsmaterial in ihren Stoffwechselkreisläufen hervorgebracht hat. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 251– 257.) Fragen wir daher als nächstes, was es mit den an sich so vertrauten Vokabeln Selbstbewußtsein und Ich auf sich hat: – bezeichnen sie eine Realität und, wenn ja, von welcher Art ist diese? Von welch einer Stufe der phylo- wie ontogenetischen Entwicklung an wird sich ein Selbstbewußtsein, ein Ich «irgendwie» voraussetzen lassen und welche Kriterien sollen darüber entscheiden? Und dann erneut: unter welchen (religiösen) Voraussetzungen ist ein personales Selbstbewußtsein, ein Ich, überhaupt lebbar, ohne an der Heraufkunft seiner Existenz zu Grunde zu gehen?

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2. Subjektivität und Selbstbewußtsein

Wie es möglich ist, daß Bewußtsein sich bildet, haben wir hoffentlich, so gut es heute geht, geklärt; wir haben aber auch gelernt, welche Gefahren mit der Entstehung von Bewußtsein verbunden sind; dabei beziehen sich die Warnungen, die insbesondere der Buddhismus ausspricht, vor allem auf die Entstehung nicht eigentlich des «primären», sondern im Kern auf die Bildung des «sekundären» Bewußtseins: des Bewußtseins vom Bewußtsein, durch welches Reflexion zur Selbstreflexion wird. Könnte es sein, daß der Buddhismus recht hat und das «Selbst» und das «Ich» nichts weiter sind als Illusionen des Bewußtseins – trügerisch wie dieses selbst? Und was ist gemeint, wenn wir sagen: «Ich» oder: «Ich selbst»? Wie kommt es überhaupt dahin, daß ein Subjekt sich bildet, das seiner Subjekthaftigkeit inne wird? Unabweisbar erscheint wohl jedem von uns die Vorstellung von einem inneren Zuschauer, der in uns empfindet, wahrnimmt, fühlt, denkt, entscheidet, handelt; doch die Frage stellt sich, was es mit dieser Vorstellung auf sich hat: Wie erklärt sich ihr Zustandekommen? Und welch einen Realitätswert besitzt sie? Von alters her hat es an philosophischen (und theologischen) Versuchen nicht gefehlt, auch und gerade solche Fragen zu beantworten; doch wieder müssen wir uns nach Theorien umschauen, die einer empirischen Überprüfung zugänglich, mithin naturwissenschaftlich diskutierbar sind; dann erst läßt sich der Beitrag der Geisteswissenschaften (Philosophie, Anthropologie, Theologie) entsprechend würdigen. Da keine naturwissenschaftliche These heute noch ernst genommen werden kann, die nicht evolutiv denkt, ist es erneut am einfachsten, wie schon bei der Frage nach dem Bewußtsein, nun auch die Entstehung der Vorstellung eines eigenen Selbstbewußtseins von der Tierreihe her zu begründen. Fragen wir also: Haben Tiere Subjektivität? Verfügen auch sie über ein Selbstbewußtsein? Welche Kriterien lassen sich aufstellen, um eine solche Frage zu bejahen? Von welcher Stufe der Evolution an darf oder muß man Tiere als eigene Subjekte betrachten? – Die Frage nach den neuronalen Grundlagen eines möglichen Selbstbewußtseins stellt sich dann von ganz allein.

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a) Subjektivität und Selbstbewußtsein bei Tieren Natürlich könnten wir wieder mit den Leistungen von Bienen beginnen, die ohne Bewußtsein (ohne daß sie wissen, was sie tun und wozu sie es tun) schwer erklärbar sind (vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 257– 259); kann es sein, daß es auch schon bei Bienen eine Rolle spielt, wer etwas tut? Dann müßte man voraussetzen, daß es den Mitgliedern eines Bienenvolkes nicht egal ist, ob eine bestimmte Handlung von dieser oder von jener Biene ausgeführt wird, und daß es sogar für das betreffende Individuum von Bedeutung ist, daß es selbst und nicht irgendein anderes diese spezielle Tätigkeit übernimmt. Ob so etwas – außerhalb der Stellung der Königin – bei Bienen gegeben ist, steht dahin; vielleicht sind Bienen innerhalb ihrer Rollenzuweisung im Bienenvolk (als Arbeiterinnen zum Beispiel) gegeneinander ohne Schaden auswechselbar, und es kommt auf die Individualität eines einzelnen Tieres innerhalb solcher Klassenzuweisungen absolut nicht an. Ganz sicher aber lassen sich Situationen in der Kooperation von sozial lebenden Tieren denken, in denen die Differenzierung (die Arbeitsteilung) einen solchen Grad an Spezialisierung voraussetzt, daß es einen bedeutenden selektiven Vorteil darstellt, wenn sich ein Bewußtsein auch für die Besonderheit und die Bedeutung der eigenen individuellen Existenz bildet. Eine kochkomplexe Form der Zusammenarbeit von Tieren, die uns als Säugetiere weit näher stehen als Insekten, stellt der Dammbau der Biber dar, wie er von lars wilsson (My beaver colony, 1968) eingehend untersucht wurde. (Vgl. auch hope ryden: Neue Biberteiche, neue Biberburgen, in: Giuliana Broggi Beckmann: Das gesellige Tier, 76 –94; vitus b. dröscher: Wiedergeburt, 62 –70.) Da Biber ursprünglich in kalten Klimazonen mit strengen Wintern zu Hause sind, dient ihnen der Bau eines Dammes vor allem dazu, eine Wassertiefe zu erzeugen, die auslangt, um auch bei geschlossener Eisdecke zu ihrer Schlafkammer schwimmen zu können, deren Eingang unter Wasser liegt. (Vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 164.) Uns erinnernd an unsere australische Grabwespe, die während ihrer beeindruckenden Bautätigkeit über keinerlei Einsicht in Konzept und Zweck ihres Trichternestes verfügte (vgl. Abb. D 1), stellt sich als erste Frage natürlich, ob die Biber über den Zweck ihrer umfangreichen Bauvorhaben auch subjektiv Bescheid wissen – ob sie bewußt handeln oder ob sie rein instinktiv vorgehen. Fest steht: «Wenn Biber in bereits bestehenden Seen oder in tiefen Flüssen leben (einschließlich künstlicher, von Menschen aufgestauter Gewässer), bauen sie keine Dämme. Statt-

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dessen graben sie Höhlen am Uferrand, die unter Wasser eine Eingangsröhre zu der unterirdischen, aber oberhalb des Wasserspiegels gelegenen, trockenen Schlafkammer haben.» (donald r. griffin: A. a. O., 167) Dieses Verhalten könnte im Prinzip immer noch darauf beruhen, daß die Tiere so etwas in sich trügen wie die Schablone von einem Gewässer mit passender Tiefe und daß, falls sie keine entsprechenden Bedingungen vorfinden, sie geeignete Maßnahmen ergreifen, um ihre reale Umwelt an ihre ideale Vorstellung anzupassen. (Vgl. donald r. griffin: A. a. O., 168.) Doch «das Geeignete» ist in diesem Falle gar nicht so einfach: Es müssen schnell nachwachsende Bäume wie Pappeln und Weiden gefällt werden, die zum See – und sei es über eigens hierfür gerodete Biberpfade – transportabel sind; der Damm selbst muß an den Uferseiten so konstruiert sein, daß sich das Wasser nicht an den Rändern vorbei seinen Weg graben kann; die Strömungsgeschwindigkeit des Flusses muß in etwa verraten, daß das Wasser sich in der Nähe der Dammkrone nicht bis zum Überfließen aufstauen wird (Gebirgsbäche kommen für Biberdämme gar nicht erst in Frage); und um den Staudruck günstig zu verteilen, muß die Führung des Dammes eine gegen die Fließrichtung des Gewässers gerichtete bogenförmige Krümmung von entsprechendem Radius aufweisen. All diese technischen Details werden so sachkundig auf die Voraussetzungen des jeweiligen Gewässers abgestimmt, daß sie schwerlich einer «Schablone» entstammen können; sie verdanken sich einem praktisch erworbenen Erfahrungswissen über eine Fülle von Zusammenhängen, die es nicht zulassen, daß eine Lösung, die in dem einen Gewässer günstig war, rein mechanisch auf ein anderes Gewässer mit anderen Bedingungen übertragen wird. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 152.) Mit anderen Worten: es muß in einer Bibergruppe ein Wissen um die Fertigungsverfahren von Dämmen geben, das in einer Art Kulturtradition von Generation zu Generation weitergegeben wird. Tieren, die so handeln, wird man Bewußtsein kaum absprechen können – sie sind keine Baumstämme zernagenden Roboter. Aber auch Selbstbewußtsein wird ihnen eigen sein, und zwar deshalb, weil es in jeder Gruppe einzelne Tiere, «Meisterbiber», geben muß, welche die Bauleitung übernehmen, indem sie die Aktivitäten der anderen Tiere koordinieren und in eine wünschenswerte Richtung lenken. Fällt ein solches erfahrenes Tier durch Tod, Krankheit oder Gefangenschaft aus, so geben sich die anderen wohl weiterhin alle Mühe, den Damm zu erstellen, doch fehlt dem Gebilde, das dann entsteht, die nötige Stabilität und Funktionalität – wenn es überhaupt zustande kommt. Und diese Tatsache läßt sich kaum anders verstehen, als daß die besondere Bedeutung dieses einen Tieres von den übrigen Gruppenmitgliedern auch

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als solche erkannt wird. Dieses eine Tier ist mithin nicht austauschbar gegen ein anderes; es besitzt eine unverzichtbare Individualität; und es gibt neben ihm andere Individuen, die dank seines Wissens gut genug in die Kunst des Dammbaus eingearbeitet werden, um eines Tages an seine Stelle treten zu können. Kurz: neben diesem einen Individuum gibt es andere Individuen mit unterschiedlichen, unverwechselbaren Merkmalen in den Augen aller anderen; und so ist es nur noch die Frage, ob ein Tier in bezug auf das, was alle anderen von ihm wissen, selbst unbewußt sein kann. Theoretisch wäre das möglich: Alle Welt weiß, wie hervorragend der neue Schachcomputer Mephisto III arbeitet, nur der Computer selbst hat davon keine Ahnung. Doch diese Möglichkeit besteht wohl nicht bei einem Tier, das sein Verhalten ständig mit seinen Familienangehörigen abstimmen muß; ja, allein schon der Umstand, daß dieses eine Tier sich in den Arbeitsvorgang der anderen Gruppenmitglieder auf spezifische Weise einbringt, scheint schwer begreifbar ohne die Annahme, daß dieses Tier um seine besondere Rolle im Gruppenverband auch selber weiß, und vor allem, daß es auch um sein Wissen weiß, das es zu seiner Sonderrolle befähigt. Wissen aber vom eigenen Wissen, Bewußtsein vom eigenen Bewußtsein – das ist Selbstbewußtsein in seiner einfachsten Definition. Es ist nicht vonnöten, daß ein solcher Biber imstande ist, sich – entsprechend manchen Versuchen mit Primaten – in einem Spiegel selbst zu erkennen; es genügt, daß er sich selbst, seine besondere Fähigkeit und Beauftragung, im «Spiegel» der anderen Gruppenmitglieder wahrzunehmen vermag. Was an diesem Beispiel besonders beeindruckt, ist die Verknüpfung rein kognitiver Fertigkeiten mit der Wahrnehmung der eigenen Individualität, zeigt sich doch, welch einen selektiven Vorteil der Erwerb von Selbstbewußtsein für das Überleben einer Gruppe von Tieren haben kann. Denn ein ähnliches läßt sich wohl bei allen sozial lebenden Säugetieren unterstellen: sie alle haben einen «Führer», der der Gruppe in besonderer Weise von Nutzen ist, sei es, daß er sich in der Wahl der ergiebigsten Futterquellen auskennt oder die Gefahr möglicher Beutegreifer abzuschätzen weiß, und dessen Dominanz oder Kompetenz allgemein anerkannt wird. Wir haben zuvor schon die These von nick k. humphrey referiert, Bewußtsein habe sich als Bedingung und Folge des Lebens in Gemeinschaft entwickelt – als eine Fähigkeit, die anderen und sich selbst beim Austausch (emotionaler) Signale besser verstehen zu können; ob diese Theorie wirklich ausreicht, um zu erklären, warum es Bewußtsein gibt, haben wir damals offengelassen; vom Selbstbewußtsein aber müssen wir jetzt sagen, daß es anders kaum begründbar ist als durch die wechselseitigen Abgrenzungen, die unter Artgenossen innerhalb der gleichen Gruppe schon durch

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entsprechende (hierarchisch verteilte) Rollenzuweisungen vorgenommen werden. Doch auch jenseits der Rolle wird die individuelle Eigenart immer bedeutungsvoller. Insbesondere bei unseren unmittelbaren Verwandten, den Schimpansen, hat bemerkenswerterweise frans de waal die wichtige Beobachtung gemacht, daß diese sich von den Tieraffen gerade dadurch unterscheiden, daß ihre Rollenzuweisungen hierarchisch weniger starr sind. «Tieraffen», schreibt er, «neigen dazu, Sieger zu unterstützen, was bedeutet, daß dominante Individuen kaum auf Widerstand treffen. Im Gegenteil, die Gruppe hilft ihnen noch. Kein Wunder, daß Tieraffen so strenge und stabile Hierarchien haben. Schimpansen sind grundsätzlich anders, da sie, wenn sie in einen Kampf eingreifen, Verlierer genauso oft unterstützen wie Sieger. Daher kann ein Aggressor niemals sicher sein, ob man ihm beistehen oder ihm Widerstand leisten wird. Das ist der entscheidende Unterschied zu einer Tieraffengesellschaft. Die Tendenz der Schimpansen, sich um den Unterlegenen zu scharen, schafft eine inhärent (sc. damit gegebene, von lat. inhaere¯re – an etwas hangen, d. V.) instabile Hierarchie, bei der die Macht an der Spitze auf wackligeren Füßen steht als bei jeder anderen Gruppe von Tieraffen.» (frans de waal: Der Affe in uns, 107) Es scheint nicht zu viel behauptet, wenn wir demnach bereits den Schimpansen die Fähigkeit zutrauen, nicht nur individuelle Rollenidentitäten wahrzunehmen, sondern darunter auch Merkmale, die dem einzelnen Artgenossen und Gruppenmitglied als solchem zukommen, so daß diese Wahrnehmung des Individuellen sich sogar gegen die Funktion richten kann, die ein Einzelner auf Grund seiner hierarchischen Position in dem jeweiligen Gruppenverband einnimmt. Doch wir brauchen unsere Betrachtungen zur Wahrnehmung eines Einzelnen in seiner Gruppe keineswegs auf den Umkreis sozial lebender Säugetiere zu beschränken. Bei Hühnern zum Beispiel konnte th. schjelderupp-ebbe (Zur Soziologie der Vögel, in: Zeitschrift für Psychologie, 95/1924) vor rund 80 Jahren bereits die Beobachtung machen, daß das Zusammenleben dieser Tiere entlang einer bestimmten Rangpyramide (aus Alpha-, Beta-, Gammaund Omega-Tieren) geregelt wird; ja, man hielt diese Entdeckung der Verhaltensbiologie seinerzeit für derart aussagekräftig, daß man sie ohne Zögern als Schlüssel auch für das Funktionieren menschlicher Gruppen verwenden zu können glaubte (vgl. raoul schindler: Über den wechselseitigen Einfluß von Gesprächsinhalt, Gruppenposition und Ich-Gestalt in der analytischen Gruppentherapie, in: Psyche, 14/1960 –1961, 382 f.; anneliese heigl-evers: Die Gruppe unter soziodynamischem und antriebspsychologischem Aspekt, in: Hans G. Preuss: Analytische Gruppenpsychotherapie, 44 –72): Auch im Zu-

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sammenleben von Menschen läßt sich die Dominanz eines Einzelnen (Alpha) beobachten, dem als Berater die Betas und als ausführende Organe die Gammas zur Seite stehen. Unterstellt wurde in den entsprechenden sozialpsychologischen Konzepten, daß jede Gruppe vor dem Problem stehe, wie sie zur Wahrung des gemeinsamen Zusammenhalts mit der innerartlichen («intraspezifischen») Aggressivität umgehe. (Vgl. konrad lorenz: Das sogenannte Böse, Kap. 10: Die Ratten, 225– 237.) Bewährtermaßen könne der Führer seiner Gruppe eine gemeinsame Aufgabe stellen oder ihr einen Feind nennen, gegen den sie zu kämpfen habe, oder es werde die Aggression aller von oben nach unten sich ersatzweise an den Schwächsten des eigenen Sozialverbandes (den Omegas) entladen. Nun sei es dahingestellt, in welch einem Umfang es angängig ist, die Hackordnung eines Hühnerhofes auf das Verhalten von menschlichen Gruppen zu übertragen; die Tatsache selbst indes, daß es möglich ist, die unterschiedliche Wahrnehmung einzelner Tiere innerhalb ihres Sozialverbandes – und damit die Triebfeder für die Entwicklung von Selbstbewußtsein – auch bei Nicht-Säugetieren zu beobachten, demonstriert uns gleich zweierlei. Zum einen: Auch Selbstbewußtsein ist in der Entwicklung der Arten ein graduelles Phänomen. Mehr oder minder weiß das ein jeder: was er von sich hält, wie er sich vorkommt, wie stark oder wie schwach sein «Selbstbewußtsein» (in qualifiziertem Sinne: als Bejahung seiner selbst) ist, schwankt je nach Situation und Stimmung; aber auch rein formal (als Fähigkeit zur bloßen Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber) kann Selbstbewußtsein – ähnlich dem Bewußtsein – je nach dem Grad der «Wachheit» eingeschränkt oder erweitert sein. Beide Faktoren können sich wechselseitig verstärken: Manche neurotisch oder psychotisch kranke Persönlichkeiten standen ihr Leben lang geradewegs unter dem Verbot, sich selber «Beachtung» (als Achtsamkeit wie als Achtung) zu schenken; entsprechend gering ist ihr Selbstbewußtsein. Oder man hat sie gelehrt, daß ihr Ich etwas durch und durch Minderwertiges oder gar Ablehnenswertes sei; dann entwickeln sie zwar ein Bewußtsein von sich selbst, doch stets wie von etwas Vertriebenem, Fremdbesetztem, Preisgegebenem – die neutestamentliche Erzählung von dem Besessenen von Gerasa in Mk 5,1-20 bietet dafür ein eindringliches Beispiel. (Vgl. e. drewermann: Das Markus-Evangelium, I 360 –365; ders.: Tiefenpsychologie und Exegese, II 247– 277.) Hinzu kommt erneut die energetische Betrachtung: Wenn es schon einer Art «Luxus» gleichkommt, Bewußtsein zu entwickeln, so ist die biopsychische Anstrengung, ein Selbstbewußtsein zu bilden, noch weit kostspieliger. Wir werden bei der nachfolgenden philosophischen Betrachtung noch einmal erörtern, wieviel Angst mit der Individuation einer selbstbewußten Persönlichkeit einhergeht, und wir

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werden dann gut verstehen, welch eine Erleichterung es zu bieten vermag, in ein bloßes Gruppenbewußtsein zurückzufliehen, das es erlaubt, nichts weiter zu sein als Mitglied einer Gang, einer Horde, einer Partei, einer Kirche, einer Nation – nur nicht ein eigenes Selbst im Bewußtsein seiner Einmaligkeit, seiner Unersetzbarkeit, seiner Zuständigkeit. Und zum zweiten: Wir sahen, daß die Entstehung von Selbstbewußtsein auf das engste zusammenhängt mit innerartlicher Konkurrenz und Aggression. Man möchte meinen, es sei einfach eine Frage der Klugheit und des Könnens, wer als ein «Alpha» sich zu behaupten vermag; doch man muß nur an die endlosen Rechthabereien und Streitereien in unserer politischen «Kultur» denken, und es wird sogleich klar, daß es in der Auseinandersetzung um die Anerkennung von seiten der Gruppenmitglieder um alles mögliche gehen kann, nur nicht um Klugheit und Können. Es geht um die effizientesten Mittel, Macht zu erobern. Natürlich kann dazu auch ein Vorsprung an Wissen in überlebenswichtigen Bereichen zählen, doch selbst innerhalb unserer «Kultur» sind zum Beispiel Geld und Skrupellosigkeit zur Manipulation der öffentlichen Meinung weit wichtiger als Kompetenz und Kenntnis. In der «Natur» spielt die physische Kraft in den Kommentkämpfen unter den Männchen der Gruppe eine überragende Rolle; ja, wir fanden die Mechanismen des Kampfs um Reviergrenzen bereits bei Flußkrebsen wirksam (s. o. S. 117–118). Grundlegender noch als die Differenzierung in die verschiedenen Tierstämme scheint in der Geschichte des Lebens dieses «Prinzip» vom «Recht» der Stärkeren zu sein, so sehr, daß es bei Arthropoden (Gliederfüßer) nicht minder etabliert ist als im Verhalten von Vertebraten (Wirbeltieren). Dann allerdings steht der Annahme nichts mehr im Wege, daß es in den Hunderten von Millionen Jahren der Evolution immer wieder von Belang war, welch ein Tier aus einem Vergleichskampf als Sieger hervorging. Es müssen diese aggressiven Auseinandersetzungen gewesen sein, die der Frage eine zunehmend größere Bedeutung zumaßen, wer vor den Augen anderer als Gewinner oder Verlierer zu betrachten sei; und wenn derartige Fragen erst einmal von Bewußtsein begleitet waren, so dürfte bald schon der Erfolg oder Mißerfolg in aggressiven Auseinandersetzungen einen direkten Hintergrund bei der Bildung auch von Selbstbewußtsein abgegeben haben. Nicht zu Unrecht, wenn es so steht, sprach sigmund freud deshalb von der Aggression als von einem «Ichtrieb» (vgl. Triebe und Triebschicksale, in: Gesammelte Werke, X 210– 232), sehen wir doch, wie die «Definition» des eigenen Ich unmittelbar einhergeht mit der Abgrenzung von (den) anderen und mit der Durchsetzung gegen (die) andere(n). Allerdings verstand freud diese «Ichtriebe» als etwas, das er später gerade-

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wegs als «Todestrieb» deutete (vgl. Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, XIII 40– 42) und das er den «libidinösen» Estrieben gegenüberstellte (a. a. O., XIII 56– 58); die Gottheiten der griechischen Mythologie: Thanatos (Tod) und Eros (der kindliche Sohn der Liebesgöttin Aphrodite) erschienen ihm nunmehr als die polaren Urkräfte, welche das Leben in einen nicht endenden Widerspruch hineintrieben. Dabei war ihm die Verschränkung, die «Mischung» beider Triebe nicht nur bewußt, sondern sie galt ihm als Zeichen von Gesundheit und als Ziel einer jeden Therapie. Denn in der Tat: Die meisten aggressiven Auseinandersetzungen zwischen den Männchen einer Gruppe gelten der Frage, wer sich das Zugangs«recht» zu einem bestimmten Weibchen (oder gleich zu allen Weibchen der Gruppe) zu erstreiten vermag. Aggressivität und Sexualität gemeinsam dienen der Weitergabe des Lebens, indem nur der Stärkere dahin gelangt, seine Gene an die nächste Generation weiterzugeben, und indem nur er imstande ist, ein bestimmtes Revier für sich und seine Nachkommen wirksam zu verteidigen. Auf der anderen Seite werden die Neigungen und Vorlieben der Weibchen bei der Wahl ihrer Geschlechtspartner eine immer größere Rolle in der Entwicklung der Arten gespielt haben; wo aber eine Wahl getroffen wird, ist es eben nicht mehr gleichgültig, wer jemand ist, und die Auswahlkriterien werden notwendigerweise immer individueller ausfallen. Noch bei Versuchen mit Fischen genügen bestimmte Attrappen, um die Tiere zu ihren (ritualisierten) Kampf«spielen» zu veranlassen (vgl. walter heiligenberg: Der Einfluß spezifischer Reizmuster auf das Verhalten der Tiere, in: Klaus Immelmann: Verhaltensforschung, 250– 253); weder Bewußtsein noch Selbstbewußtsein wird für ein solches Verhalten benötigt. Doch was ist es mit der Schönheit einer Pfauenfeder, die sogar einem menschlichen Auge ohne weiteres «einleuchtet»? Sie hat biologisch keinerlei erkennbare Funktion, außer daß sie beim Balzverhalten das Wohlgefallen eines Weibchens erregen soll, und augenscheinlich bildet sie denn auch wirklich das Ergebnis einer viele Jahrzehntausende währenden «Zuchtwahl» nach dem Geschmack der auswählenden Weibchen. «Daß das Weibchen die Wahl trifft, ist die Triebkraft hinter der sexuellen Auslese», schreibt william h. calvin ; «möglicherweise bevorzugt sie (sc. es, d. V.) lange, glänzende Federn. Der Wettbewerb der Männchen untereinander (bei den Paarungssystemen nach Art eines Harems geht es darum, andere Männchen auszuschließen) selektiert hinsichtlich der Varianten der Testosteronproduktion. Das kann zu männlichen Gorillas führen, die doppelt so groß sind wie die Weibchen; die Auswirkungen der weiblichen Wahl sieht man bei den Pfauen ins Extrem getrieben (vielleicht fing das ganz vernünftig an, daß prächtige Federn die Ge-

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sundheit eines Männchens oder Gene für Resistenz gegenüber Parasiten anzeigten und dann das simple Mehr-ist-besser-Kriterium in endlosen Durchläufen die Dinge auf die Spitze trieb).» (william h. calvin: Die Sprache des Gehirns, 158) Angelehnt waren die Kriterien zur Prämierung des «Besten» gewiß einmal an die rein äußerlichen Merkmale der Zeugungs- und Gebärfähigkeit: – der «Egoismus der Gene» behauptete sich als individueller Geschmack; doch eine individuelle Wahl erzeugt wählbare Individuen, und so wird es wesentlich die Entwicklung der Sexualität gewesen sein, die – gemeinsam mit der Entfaltung innerartlicher Aggressivität – die Individualisierung der Lebewesen bis hin zu Selbstbewußtsein und Ichbildung vorangetrieben hat. (Vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 339 –348.) Ursprünglich einmal entstanden, um den Reparaturdienst der Gene bei auftretenden Schädigungen der DNA zu verbessern und das Spektrum möglicher Antworten gegenüber dem Angriff von Viren und Bakterien zu verbreitern (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 327– 341), wandelte sich die Sexualität mit dem Aufstieg des Lebens in den wichtigsten Antrieb zu Partnersuche und Partnerwahl; aus den Vorlieben von einst erwuchs die Fähigkeit zum Lieben, aus den Trägern primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale wurden zunehmend Subjekte voll Sehnsucht auf der Suche nach der Zuneigung anderer Subjekte, aus dem Triebziel sexuellen Verlangens zum Austausch von Geschlechtszellen formte sich nach und nach der Wunsch nach vitaler, emotionaler und mentaler Übereinstimmung. Es bildeten sich Persönlichkeiten. Vorhin noch haben wir Makaken und Schimpansen, die derart wählerisch, eifersüchtig und listig in ihrem Liebesleben zu Werke zu gehen vermögen, als Wesen mit einem eigenen Bewußtsein betrachtet; jetzt sollte uns nichts davon abhalten, ihnen auch Selbstbewußtsein zuzusprechen. Zu dem nämlichen Resultat führt auch eine andere Argumentationslinie, die – wieder – von heini hediger in einem Aufsatz unter dem Titel Proper names in the animal kingdom (in: Experientia, 32/1976, 1357–1364; vgl. ders.: Tiere verstehen, 66 –73) stammt und der Untersuchung gewidmet ist, inwieweit Tiere die Namen verstehen, mit denen Menschen sie zu rufen pflegen. Jeder Hundehalter wird bestätigen, daß «sein» Hasso oder Wuffi augenblicklich versteht, daß mit dieser Lautfolge er und kein anderer gemeint ist. Und ist das so wunderlich? Im sozialen Zusammenleben von Tieren kommt es nicht nur darauf an, Mimik und Gestik von Artgenossen richtig zu interpretieren, sondern auch ihre Lautkundgebungen: alle emotionalen Gestimmtheiten lassen sich in Form von Tönen mitteilen (die Verführungskraft der Musik beruht wesentlich auf dieser unbestreitbaren Tatsache). Und wenn es anfangs ausreichend sein mochte, einigermaßen klar zu erfassen, was ein anderes Gruppenmitglied (oder auch

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das Lebewesen einer anderen Species) zu «sagen» hat, so wurde es mit der stärkeren Strukturierung und Hierarchisierung des Zusammenlebens in Gruppen zunehmend wichtiger, darauf zu achten, wer etwas sagt. Es kommt also darauf an, bereits an der Stimme (oder am Geruch; vgl. heini hediger: Tiere verstehen, 73 –76) die Individualität des anderen zu erkennen. Katzen«besitzer» berichten, daß ihr kleiner Liebling, als sie ihn während einiger Urlaubstage in Pflege geben mußten, mit großem Interesse der Stimme seines Frauchens auf dem Tonband gelauscht habe. Außer Zweifel stehen dürfte jedenfalls, daß Tiere einander individuell kennen. (Vgl. donald r. griffin: Wie Tiere denken, 256.) heini hediger vermutete sogar, daß sie nicht nur die Namen verstehen, die Menschen ihnen geben, sondern daß sie auch untereinander Namen verwenden (Tiere verstehen, 71; 77–79). An sich scheint es sogar recht einfach, eine solche These nachzuprüfen. Immerhin wäre es für eine Pavianmutter zum Beispiel von Vorteil, wenn sie ihre allzu munteren und kecken Kleinen mit einem individuellen Anruf erreichen könnte; wenn es so wäre, müßte sich dergleichen mit den heutigen Möglichkeiten audio-visueller Aufzeichnungen eigentlich ohne Schwierigkeiten gut dokumentieren lassen. – In der Verhaltensforschung gäbe es eine Fülle solcher wunderbaren Themen, denen sich nachgehen ließe, wenn nur erst die Zylinderhut-Ideologie des Behaviorismus von den Köpfen genommen wäre. – Daß (ein anderes Beispiel) Wale auf mindestens 60 Seemeilen Entfernung einander durch ihre «Lieder» wiedererkennen und sich in den Weiten der Weltmeere verabreden können, steht außer Frage. (petra deimer: Das Buch der Wale, 140–142) Ob sie sich dabei mit Namen anreden, ist eigentlich egal. Sie sind Individuen, und sie wissen von sich und von anderen, daß sie es sind. Sie besitzen zweifelsohne Selbstbewußtsein. Die klassisch gewordene Prüfungsfrage, mit der man objektiv feststellbar untersuchen wollte, ob Tiere ihrer selbst als Individuen bewußt sind, bestand darin, wie Tiere auf ihre eigenen Spiegelbilder reagieren. wolfgang köhler bereits hatte beschrieben, daß manche seiner Schimpansen im Verlauf von etwa vier Tagen damit aufhörten, ihre Spiegelbilder als die Bilder anderer Schimpansen zu behandeln; «statt dessen verwendeten sie den Spiegel, um sich selbst das Fell zu pflegen.» (james l. gould – carol grant gould: Bewusstsein bei Tieren, 183) Daran anknüpfend, untersuchte gordon g. gallup jr. (Self-recognition in primates: Comparative approach to the bidirectional properties of consciousness, in: American Psychologist, 32/1977, 329– 338) die Spiegel-Reaktionen bei Orang-Utans, Gorillas und Pavianen – und fand Verwirrendes: Während Orang-Utans sich ähnlich wie Schimpansen verhielten, erkannten

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Gorillas, die stammesgeschichtlich dem Menschen weit näher stehen (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 67), sich in dem Spiegel ebenso wenig wie Paviane. Doch wie vorsichtig muß man solche Beobachtungen interpretieren! Der direkte Augenkontakt (das Anstarren) gehört bei Gorillas zum Drohverhalten (vgl. dian fossey: Gorillas im Nebel, 87; 191–192), und wir haben schon gesehen, wieviel Angst das Fixiertwerden auslösen kann (vgl. Abb. B 109); es ist daher sehr naheliegend, daß es für Gorillas weit wichtiger ist, die Konfrontation mit dem Augenpaar eines Artgenossen zu vermeiden, als sich in einem Spiegel wiederzuerkennen. So ist es schön und gut, daß Schimpansen Forschern den Gefallen tun, Farbflecken, die man ihnen in Narkose aufgetragen hat, von Stirn und Ohren zu putzen, wenn sie sich im Spiegel betrachten; doch so sicher es ist, daß Schimpansen über Selbstbewußtsein verfügen, so wahrscheinlich ist es nach dem Gesagten, daß viele andere Tierarten es gleichermaßen tun, nur daß sie als ihre «Spiegel» lieber die Augen, die Mimik, den Geruch und die Stimme ihrer Artgenossen verwenden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der berühmte Gorilla Koko, der in sehr vertrauter Umgebung lebte, einen Spiegel benutzte, um Make-up aufzutragen – also sehr wohl im Spiegel-Test Selbstbewußtsein unter Beweis stellte. (Vgl. james l. gould – carol grant gould: Bewußtsein bei Tieren, 183 –185.) Die ethischen Folgerungen, die sich im Umgang mit Tieren aus dieser Feststellung ergeben, sind erneut immens, laufen sie doch darauf hinaus, auch in Tieren Rechtssubjekte zu erkennen. Es ist, wie ein indianisches Weisheitswort es formuliert: «Wenn Menschen denken, daß Tiere nicht fühlen können, fühlen Tiere, daß Menschen nicht denken können.»

b) Wie ein Kind zu Selbstbewußtsein kommt oder: Die Kommunikative Entwicklungstheorie von daniel n. stern Wenn es zutrifft, daß das Selbstbewußtsein in der Evolution herangebildet wurde in einem Feld sozialer Kommunikation, so sollte zu erwarten stehen, daß in der Kindheitsentwicklung sich dieser Prozeß «irgendwie» in einer Art Schnelldurchlauf wiederholt, und so ist es von besonderem Interesse, zu untersuchen, wie ein Kind zu einem Bewußtsein von sich selbst gelangt. Inwieweit Tiere dahin kommen, ihrer selbst bewußt zu werden, wird von Fall zu Fall zu untersuchen bleiben; daß indessen Kinder von einem bestimmten Alter an ein

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«Selbstkonzept» gewinnen, das sie von jedem «Selbstobjekt», wie wir in der Sprache von heinz kohut gesagt haben, unterscheidet, dürfte außer Zweifel stehen. Nur: in welcher Weise entwickelt sich das Selbstbewußtsein eines Kindes, und was kann speziell die Psychoanalyse dazu beitragen, diese Frage zu beantworten? Alle von uns erwähnten Theorien zur Ich-Entwicklung (von abraham bis mahler) hatten gemeinsam, daß sie als klinische Modelle psychischer Krankheitsformen konzipiert und konstruiert wurden, um das Erscheinungsbild einer gegenwärtigen psychischen Störung als verursacht durch bestimmte Deformationen in der stufenweise verlaufenden Psychogenese verständlich zu machen. Eine große Rolle spielte dabei der Ansatz freuds vom «Urnarzißmus» des Kindes, wonach ein Neugeborenes zunächst nichts weiter wolle, als – mit Hilfe seiner Mutter – in einer möglichst spannungslosen Einheit mit sich selber zu verbleiben; erst durch eine Kette von Enttäuschungen lerne das Kind, sich selbst von den anderen (vor allem von seiner Mutter) zu unterscheiden und aus der «Dualunion» von Mutter und Kind herauszuwachsen; so betrachtet, erschien das Kind als ein primär asoziales Wesen, das erst durch eine Reihe schmerzhafter Verzichte zur Gemeinschaft mit anderen fähig werde. Es ist augenfällig, daß solche Auffassungen hervorragend dazu geeignet sind, das Fremdheitsgefühl, die latente Feindseligkeit und das freudsche «Unbehagen» wiederzugeben, die neurotische Persönlichkeiten im Zusammenleben mit anderen Menschen zu empfinden pflegen; andererseits aber ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, daß die Natur von Haus aus unsere seelische Entwicklung unter einen solch neurotischen Unstern gestellt haben sollte. Blumen gedeihen nur bei Sonne, und auch Kinder reifen wohl eher durch positive soziale Interaktionen als durch Enttäuschungen und Entbehrungen. Als einer der wichtigsten Vertreter einer weniger «frustrationsorientierten» denn kommunikativen Entwicklungstheorie des kindlichen Bewußtseins darf in der psychoanalytischen Literatur daniel n. stern (geb. 1934) gelten, indem er, unter erheblichen Modifikationen der tradierten Vorstellungen, vor nun schon etwa 20 Jahren eine Fülle konkreter Beobachtungen und Einzeluntersuchungen an Kindern in den ersten Lebensjahren zu einem eigenen Konzept von der Entwicklung des Selbst zu integrieren suchte, – insbesondere die Arbeiten von d. w. winnicott (vgl. u. a.: Ich-Verzerrung in der Form des wahren und des falschen Selbst, in: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, 182–199) konnten dabei den Weg weisen; auch eine Reihe von neurologischen Theorien über die Syntheseleistung des Bewußtseins bei der Verarbeitung von (polymodalen) Sinneseindrücken gewinnen in sterns Studien noch einmal eine neue Relevanz; haben wir die Entstehung des «Ich» (in Übereinstimmung

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Abb. D 14: Die vier Entstehungsphasen der Selbstempfindung nebst den ihnen zugeordneten Bereichen der Bezogenheit in schematisierter Darstellung

etwa zu der Erkenntniskritik kants) bislang im Gegenüber der (vor allem visuellen) Wahrnehmung eines Gegenstandes zu verstehen gesucht, so werden wir jetzt auf die wesentlich interpersonale Seite der Entwicklung eines Selbst aufmerksam. Wie überhaupt kann man herausfinden, was ein Säugling fühlt und denkt, «welche Art von Selbst oder Selbstempfinden ein Säugling im präverbalen Stadium besitzen kann» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 20)? Gemeint ist hier ein «Selbstempfinden, wie es sich in interpersonalen Begegnungen äußert» (a. a. O., 52). Feststellen läßt sich, «daß das subjektive Sozialleben des Säuglings durch die folgenden Merkmale charakterisiert ist. Der Säugling verfügt über beobachtbare, angeborene Fähigkeiten, die heranreifen. Sobald er über sie verfügen kann, werden sie innerlich in Quantensprüngen zu organisierenden subjektiven Perspektiven in bezug auf das Empfinden des

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Selbst und des Anderen organisiert und transformiert. Jede neue Selbstempfindung definiert einen neuen Bereich der Bezogenheit . . . diese Bereiche der Bezogenheit . . . sind . . . Formen des sozialen Erlebens, die das ganze Leben hindurch gewahrt bleiben. Dennoch stellt ihre Entstehungsphase ein sensibles Entwicklungsstadium dar.» (daniel n. stern: A. a. O., 57–58) Näherhin heben sich vier Entstehungsphasen der Selbstempfindung voneinander ab, die mit spezifischen Bereichen der Bezogenheit einhergehen, wie es in schematischer Zeitfolge in Abb. D 14 zu sehen ist. (Vgl. auch martin dornes: Der kompetente Säugling, 80 –101.)

α) Die Stufe der Empfindung des auftauchenden Selbst Schauen wir uns diese vier Bereiche der Reihe nach an, so hat als erstes das Empfinden eines auftauchenden Selbst vor allem damit zu tun, daß der Säugling eine Organisation von Beziehungen zwischen isolierten Erfahrungen herzustellen beginnt. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 71–74.) In diesem Zusammenhang können wir daran erinnern, wie viele Aktivitäten in getrennt arbeitenden Modulen zusammenkommen müssen, um einen Gegenstand visuell wahrzunehmen (vgl. Bd. I 424 –430), daß die Integration der verschiedenen Informationen (vermutlich) durch eine weiträumige Synchronisation neuronaler Entladungen zustande kommt und daß bereits das Erleben eben dieser Synchronisation mit dem Aufbau eines «Subjekts» einherzugehen scheint, das der Wahrnehmung eines Objekts entspricht (vgl. Bd. I 427– 430; 447– 450). Trotz dieser unserer bisherigen Erörterungen verweist die Säuglingsforschung gleichwohl eher in die umgekehrte Richtung: zu beginnen ist nach ihren Ergebnissen bei der Entwicklung des Selbst nicht mit Einzelvorgängen, die auf immer höheren hierarchischen Ebenen miteinander vernetzt würden, wie Abb. B 45 es nahelegt, – auszugehen ist vielmehr von einer Gesamterregung, die nach und nach zu besonderen Wahrnehmungsleistungen ausdifferenziert wird. Im Bilde gesprochen, ähnelt das Erleben eines Neugeborenen einer Glocke, die, egal an welcher Stelle man sie anschlägt, als ganze zu schwingen beginnt und einen vollständig reinen Ton erzeugt. Schon anläßlich der Gehirnentwicklung des Kindes hörten wir davon, daß die Encodierung einer Vielzahl von Gedächtnisinhalten verbunden sei mit dem Absterben von Neuronen, deren Verknüpfungen an sich möglich (gewesen) wären, aber nicht zustande kamen (vgl. Bd. I 272 –273). Ursprünglich ist im Gehirn eines Kindes enorm viel mehr an Möglichkeiten angelegt, als dann tatsächlich verwirklicht wird. So muß ein Kind zum Beispiel jede Sprache der Welt mit

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ihrem oft sehr speziellen Lautbestand lernen können; die Sprache aber, die es als seine «Muttersprache» erwirbt, benötigt nur noch etwa ein Viertel der phonetischen Vielfalt, zu welcher der menschliche Sprechapparat (und das dazu gehörige Gehirn) an sich imstande ist. Ähnlich wie in der Evolution des Lebens im Kambrium verläuft auch die Psychogenese offenbar nicht nach dem «Gesetz» des «immer höher», «immer besser» und «immer mehr», sondern weit stärker nach der Strategie einer rigorosen Entfaltungsbeschränkung mit dem Resultat der Herausbildung einiger weniger «Gewinner». (Zur Vielfalt der Lebensformen im Kambrium vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 489– 504.) In der Säuglingsforschung war es besonders rené arpad spitz (1887–1974), der in seiner nach wie vor lesenswerten Arbeit Vom Säugling zum Kleinkind auf das Phänomen der coenästhetischen Organisation des Wahrnehmungssystems (von griech.: koinós – gemeinsam, die aísthe¯sis – Wahrnehmung) hinwies: Kinder erleben ganzheitlich, mit allen Sinnen, und sie antworten ganzheitlich, mit ihrem gesamten Körperich. (Vgl. rené arpad spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, 62 –63; 91– 92.) Spätere Experimente konnten diese Auffassung nur vielfältig bestätigen. So bot man drei Wochen alten Kindern, deren Augen verbunden waren, einen von zwei Schnullern an: einen glatten, kugelförmigen und einen unebeneren; nachdem die Säuglinge eine Weile lang an «ihrem» Schnuller gelutscht hatten, nahm man ihnen den Schnuller fort und legte ihn neben den anderen; dann zog man die Augenbinde ab, und es zeigte sich, daß die Kinder die beiden Schnuller kurz visuell miteinander verglichen und hernach intensiver den Schnuller betrachteten, an dem sie gesaugt hatten (vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 74–75); offenbar besaßen sie angeborenermaßen die Fähigkeit, «eine Entsprechung zwischen haptischem (sc. griech.: háptein – berühren, d. V.) und visuellem Eindruck zu erkennen», also «einen Informationstransfer von einem Modus (sc. der Wahrnehmung, d. V.) in einen anderen vorzunehmen» (daniel n. stern: A. a. O., 75 –76). Diese Feststellung ist um so erstaunlicher, als jean piaget (1896 –1980) in seinem Buch Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde im Jahre 1959 einen ganz anderen Aufbau der Wahrnehmung wahrscheinlich gemacht hatte; danach sollte als erstes ein haptisches, dann ein visuelles Schema erstellt werden, die beide anschließend durch Austausch oder Wechselwirkung (durch reziproke Assimilation) zu einem koordinierten haptisch-visuellen Schema verschmolzen würden (vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 75); auch die lernpsychologischen Ansätze der Assoziationstheorie vermögen – weil die Säuglinge auf keine bereits gemachten Erfahrungen zurückgreifen können – es

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nicht, die nicht-konstruktionistische Art der frühkindlichen Wahrnehmung zu erklären, die stern (a. a. O., 79) mit einem guten Wort als amodal bezeichnet (von griech.: a – nicht, lat.: der modus – die Art und Weise; hier: nicht auf eine Art der Wahrnehmung beschränkt). Auch Zuordnungen zwischen visuellen und auditiven Reizen, also etwa zwischen der Leuchtstärke weißen Lichts und den Lautstärkegraden eines Geräuschs im Hintergrund legen sich Kindern wie selbstverständlich nahe. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 76.) Besonders wichtig ist diese Fähigkeit, Informationen von einer Wahrnehmungsmodalität in eine andere zu übertragen, zum Beispiel, wenn der Säugling die Lippenbewegungen der Mutter (also die visuell dargebotenen Sprachlaute) mit den Lauten ihrer Sprache (mit den auditiv dargebotenen Sprachlauten) in Verbindung bringt. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 77–78.) Säuglinge können des weiteren zeitliche Informationen rasch in allen Wahrnehmungsmodalitäten erkennen und sie von einer Wahrnehmungsmodalität in eine andere übersetzen. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 76–77.) Diese angeborene transmodale Übertragungsfähigkeit von einer Wahrnehmungsart in eine andere könnte auch einen Beitrag zu der Frage leisten, wie ein Säugling sich selbst – seinen Körper, seine Bewegungen – wahrnimmt, wie es also um die propriozeptive Modalität seiner Wahrnehmung bestellt ist. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 78.) Neurologisch wissen wir längst, daß gerade die Rückmeldung der Bewegungsabläufe an die somatosensorischen und an die motorischen Zentren und deren Vergleich mit den geplanten Handlungsabfolgen dafür wesentlich sind, etwa die Bewegung der Hand als eine vom eigenen Körper ausgeführte Tätigkeit identifizieren zu können (vgl. Abb. A 11; A 12; A 27; A 28); nun aber läßt sich beobachten, wie drei Wochen alte Säuglinge die Mimik Erwachsener imitieren – also den Mund öffnen oder die Zunge herausstrecken wie die Mutter. Solche frühen Imitationsleistungen verweisen (erneut) auf die ursprüngliche Einheit, in der ein Säugling die «Welt» und darinnen sich selbst und die Mutter erlebt; «in letzter Konsequenz», schreibt stern, «besagen diese Untersuchungen, daß es eine angeborene Entsprechung zwischen dem, was die Säuglinge sehen, und dem, was sie tun, gibt. Weitere Experimente zeigten, daß schon das Vorstrecken eines Bleistifts oder ähnlichen Gegenstands den Säugling veranlassen kann, seine Zunge herauszustrecken.» (Die Lebenserfahrung des Säuglings, 78) Auch hier (genauso wie bei der Imitation des Lächelns der Mutter) wird eine visuelle Sinnesmodalität mit einer anderen (in diesem Falle somatosensorischen) verknüpft, und es ist offenbar diese amodale Form der Wahrnehmung, die wesentlich zu dem Empfinden eines auftauchenden Selbst sowie zu dem Empfinden eines auftauchenden Anderen beiträgt. Der Säugling sieht nicht die

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Brust seiner Mutter, riecht, fühlt, saugt nicht die Brust seiner Mutter, um aus all diesen getrennten Wahrnehmungen sich ein «Objekt» zu konstruieren, sondern er verfügt anscheinend von Geburt an über eine «integrierte Wahrnehmung (eines Teils) des Anderen, als Resultat der nicht-erlernten Verknüpfung visueller und haptischer (sc. und anderer, d. V.) Eindrücke». (daniel n. stern: A. a. O., 80– 81) Das Kind, einfach gesagt, sieht etwas und stellt sich augenblicklich vor, wie es sich anfühlen wird (oder umgekehrt), und die Übereinstimmung zwischen Sehen und Fühlen wirkt so, «als entspräche die gegenwärtige Erfahrung einem Erleben aus früherer Zeit . . . Diese primitive Form eines Déjà-vu-Erlebnisses bedeutet etwas ganz und gar anderes als das Herstellen assoziativer Verknüpfungen, das vielleicht eher den Charakter einer Entdeckung hat – der Entdeckung, daß zwei Dinge, die man bereits wahrgenommen hat, tatsächlich zusammengehören. Insofern sich allmählich eine Struktur abzeichnet, die nur verschwommen wahrgenommen wird, umfaßt dieser Bereich des auftauchenden Erlebens vermutlich auch die Vorahnung einer verborgenen Zukunft.» (daniel n. stern: A. a. O., 82) Eine besondere Art amodaler Wahrnehmung läßt sich als «physiognomische Anschauungsweise» bezeichnen. Gemeint damit ist, daß in der unmittelbaren Wahrnehmung eines Säuglings nicht so sehr äußere Eigenschaften (wie Form, Intensität oder Anzahl) eine Rolle spielen, sondern kategoriale Affekte (wie traurig, froh, zornig, freundlich); eine solche gefühlsmäßige Wahrnehmung ist nicht an eine bestimmte Wahrnehmungsmodalität gebunden – ein und derselbe Affekt kann durch Informationen jeder beliebigen Wahrnehmungsmodalität ausgelöst werden. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 82 –83.) Wichtiger, wenn diese Vorstellung der Säuglingsforschung zutrifft, ist es für ein kleines Kind offenbar, sich mit dem Wahrgenommenen affektiv abzustimmen, als es in seinen «objektiven» Eigenschaften zu erfassen. Was etwas emotional bedeutet, wird anscheinend früher erfahren, als was etwas an sich ist; oder anders gesagt: es ist das Feld affektiver Wahrnehmungen, innerhalb dessen das Empfinden eines auftauchenden Selbst und eines auftauchenden Anderen sich allererst gestaltet. Neben der amodalen Wahrnehmung und der physiognomischen Anschauungsweise wird eine dritte Art des Erlebens durch etwas geprägt, das man als Vitalitätsaffekte bezeichnen kann. Auch hierbei handelt es sich um Gefühle, doch nicht um die kategorialen Affekte, wie charles darwin als erster sie verhaltenspsychologisch zu erfassen suchte (vgl. Bd. I 563 –564), sondern um Affekte, die sich am ehesten mit kinetischen Begriffen beschreiben lassen: ob eine Handlung explosionsartig oder wie ersterbend ausgeführt wird, ob sie stamp-

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fend oder schleppend erfolgt, aufwallend oder versinkend, hinspringend oder zögernd, sagt dem Kind etwas über die vitale Gestimmtheit seiner Umgebung. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 83 –84.) «Wie der Erwachsene den Tanz», schreibt stern, «so erlebt der Säugling seine soziale Welt in erster Linie als Welt der Vitalitätsaffekte, bevor sie sich zu einer Welt formaler Handlungen entwickelt.» (daniel n. stern: A. a. O., 87–88) Der Vitalitätsaffekt «Beruhigung» zum Beispiel teilt sich mit durch eine Sequenz von Tönen oder Streichelbewegungen, die am Anfang stark betont ist und gegen Ende abfällt: «Ist ja schon gut» oder «Ja, ja, ja, ja». (Vgl. a. a. O., 90.) Die umgekehrte Betonungsabfolge drückt den Vitalitätsaffekt Ansporn aus: «Jetzt mach aber zu!» Festzuhalten in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, daß alle drei Prozesse: die amodale Wahrnehmung, die physiognomische Wahrnehmung kategorialer Affekte sowie die Wahrnehmung korrespondierender Vitalitätsaffekte, «sämtlich Formen der direkten, ‹globalen› Wahrnehmungsweise» darstellen, «in der die Verknüpfung unterschiedlicher Eindrücke von einem charakteristischen subjektiven Erleben begleitet wird». (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 93) «Diese globale, subjektive Welt auftauchender Organisation ist und bleibt der grundlegende Bereich menschlicher Subjektivität. Außerhalb des Gewahrseins (sc. ohne daß es bewußt erlebt würde, d. V.) schafft er die Erfahrungsmatrix, aus der später Gedanken, wahrgenommene Formen, identifizierbare Handlungen und verbalisierte Gefühle hervorgehen. Er liegt auch der kontinuierlichen affektiven Bewertung aller Vorgänge zugrunde. Und schließlich wird er zum Urquell schöpferischen Erlebens. – Jegliches Lernen und schöpferisches Tun nimmt seinen Ausgang im Bereich der auftauchenden Bezogenheit.» (daniel n. stern: A. a. O., 103)

β) Die Stufe der Empfindung des Kern-Selbst Eine zweite Stufe der Entwicklung des Säuglings wird im Alter von zwei bis drei Monaten erreicht. «In der sozialen Interaktion wirken die Säuglinge jetzt vollständiger integriert, so daß man das Gefühl hat, als ob ihre Aktionen, Absichten, Affekte, Wahrnehmungen und Erkenntnisse nun alle ins Spiel gebracht und für eine Weile auf eine interpersonale Situation konzentriert werden könnten . . . Und die Menschen seiner Umgebung beginnen das Baby nun so zu behandeln, als sei es eine ‹richtige Persönlichkeit› mit einem integrierten Selbstempfinden.» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 104) Diese Konzentration auf eine interpersonale Situation beginnt in dem psycho-

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analytischen Konzept, das wir etwa bei margaret mahler kennengelernt haben, erst im Anschluß an die Phase der undifferenzierten Verschmelzung (der «Dualunion» oder der «Symbiose»), die nach mahler zwischen dem zweiten und siebten oder neunten Lebensmonat sich erstrecken soll, aus welcher sich der Säugling erst langsam durch das allmähliche Auftauchen des Selbst zu lösen vermag. Gerade umgekehrt scheint nach stern die Fähigkeit zu Verschmelzungserlebnissen «von einem bereits vorhandenen Empfinden des Selbst und des Anderen abhängig und ihm gegenüber sekundär» zu sein. (daniel n. stern: A. a. O., 105) Um (im Alter von etwa zwei bis sechs Monaten) ein organisiertes KernSelbst-Empfinden zu ermöglichen, bedarf es – so stern weiter – der Integration von vier elementaren Arten der Selbsterfahrung, die bereits auf der Stufe des auftauchenden Selbst grundgelegt worden sein müssen. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 106 –107.) Die ersten beiden sind das Empfinden der Urheberschaft der eigenen Handlungen, die zu voraussehbaren Konsequenzen führen (wenn ich die Augen schließe, wird es dunkel), sowie das Empfinden der Selbst-Kohärenz, das sich vor allem darauf bezieht, «ein vollständiges körperliches Ganzes zu sein». Als dritte Konstante tritt das Erleben der Selbst-Affektivität hinzu, also die Erfahrung «regelmäßiger innerer Gefühlsqualitäten (Affekte)», und zum vierten das Erleben der Selbst-Geschichtlichkeit, mithin «das Gefühl eines ‹fortwährenden Seins›», einer «Einbindung in die eigene Vergangenheit, . . . so daß man sich durchaus verändern kann und doch dieselbe Person bleibt». (daniel n. stern: A. a. O., 106) «Aus der Vereinheitlichung dieser vier elementaren Selbsterfahrungen zu einer subjektiven sozialen Perspektive geht das Empfinden eines Kern-Selbst hervor.» (daniel n. stern: A. a. O., 107) Die Frage ist nur, wie die Interaktionen von Mutter und Kind «in dieser Blütezeit der Soziabilität» «so angelegt» werden, «daß der Säugling in der Lage ist, die Invarianten (‹Inseln der Konsistenz›) zu bestimmen, die schließlich zum Charakteristikum eines Kern-Selbst und eines Kern-Anderen werden». (daniel n. stern: A. a. O., 108 –109) Ein Verfahren dazu stellt die Übertreibung der Babysprache durch die Pflegeperson dar: die Tonlage der Stimme ist deutlich erhöht, die Syntax vereinfacht, das Sprechtempo verlangsamt; desgleichen nimmt auch die Mimik der Mutter eine übertriebene Ausdrucksstärke an und verweilt länger in derselben Stellung; dadurch nähert sich das Verhalten der Pflegeperson optimal den Vorlieben des Säuglings an, und dieser wiederum wird befähigt, die «Verhaltens-Invarianten wahrzunehmen, an denen das Selbst oder der Andere zu erkennen sind». (daniel n. stern: A. a. O., 109) Im einzelnen ergibt sich dabei folgendes Bild:

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Was das Erleben der Urheberschaft angeht, so wird es wesentlich durch drei Faktoren (Invarianten) bestimmt: 1) Allen Bewegungen der willkürlichen (gestreiften) Muskulatur geht ein Wille, ein motorischer Plan, voraus, der die Koordination einer Vielzahl von Muskelgruppen festlegt. 2) Ein propriozeptives Feedback, das die Aktionen des Säuglings schon in den ersten Lebensmonaten begleitet, erlaubt zusammen mit dem Erleben des eigenen Willens eine klare Unterscheidung zwischen eigengewolltem und fremdgewolltem Handeln. 3) Ein dritter Faktor ist die Voraussagbarkeit der Konsequenzen einer Handlung: «Bei so gut wie allen selbst-initiierten, auf das Selbst bezogenen Handlungen wird eine Handlungskonsequenz wahrgenommen.» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 119 –120; vgl. auch 114 –119.) Das Empfinden der Urheberschaft, das auf diese Weise zustande kommt, ermöglicht es indessen nicht nur, zwischen Selbst und Anderem zu unterscheiden, es bildet auch die Grundlage von Kausalschlüssen, die ein Kind im Alter von drei bis vier Monaten bereits zu ziehen vermag; denn es ist in diesem Alter fähig, drei Hauptmerkmale kausaler Strukturen zu erkennen: erstens ist im Falle der Kausalität zwischen zwei Ereignissen eine zeitliche Beziehung des Nacheinanders der Abfolge gegeben; zweitens besteht eine sensorische Beziehung, also eine Korrelation zwischen der Intensität oder Dauer eines Verhaltens und der Wirkung desselben; und drittens existiert eine räumliche Beziehung zwischen einer Handlung und ihrer Wirkung. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 121.) Die fünf Komponenten, die als invariante Merkmale interpersonalen Erlebens des weiteren zusammenkommen müssen, um das Erleben der Selbst-Kohärenz zu ermöglichen, lassen sich als die Einheit des Ortes, als die Kohärenz der Bewegung, als die Kohärenz der zeitlichen Struktur, als die Kohärenz der Intensitätsstruktur und als die Kohärenz der Form bestimmen. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 121–131.) Wie exakt vier Monate alte Säuglinge beispielsweise Zeitstrukturen zu erfassen vermögen, demonstrierten Experimente mit zwei gleichzeitig nebeneinander projizierten Zeichentrickfilmen, denen ein Ton unterlegt war, der nur zu einem der beiden Filme synchron lief: die Kinder konnten erkennen, welcher Film zu dem gebotenen Ton paßte, und schauten diesen lieber an; außerdem erfassen Säuglinge beim Lippenlesen eine Diskrepanz bereits von 400 Millisekunden. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 125 –126.) Die Identifizierung einer sprechenden Person nach der (visuell wahrnehmbaren) Zeitstruktur ihrer (Mund)Bewegungen trägt zweifellos mit dazu bei, des Anderen als einer vom Selbst getrennten Person gewahr zu werden. Desgleichen kann die Intensitätsstruktur als Kriterium für die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem dienen. Bei wachsendem

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Gefühl von Unlust etwa nimmt das Schreien eines Kindes zu und gleichzeitig auch seine Arm- und Beinbewegungen, – und diese Übereinstimmung der Intensitätsstrukturen aller vom Selbst (im Unterschied zum Anderen) ausgehenden propriozeptiven Empfindungen sagt dem Säugling: «Das bist du selbst.» (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 121–131.) Die Selbst-Affektivität – mithin das Erleben von Freude, Wut, Kummer, Überraschung u. a. – wird dem Säugling durch das propriozeptive Feedback seiner Muskelaktivitäten in Mimik, Atmung und Stimmführung bewußt, aber auch durch die inneren Empfindungen der Erregung (Herzschlag, Magendruck, Luftnot etc.) sowie durch das emotionale Erleben bestimmter Gefühlsqualitäten. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 132.) Dabei tritt die «selbst-invariante Konstellation, die zu jeder diskreten Emotion des Säuglings gehört, . . . in einer Reihe verschiedener Kontexte und meist auch in Verbindung mit verschiedenen Personen auf». Das ermöglicht dem Säugling die Feststellung: Diese «Affekte gehören zum Selbst, sie sind nicht Teil der Person, die sie vielleicht ausgelöst hat». (daniel n. stern: A. a. O., 132; 133) Das wohl wichtigste Empfinden eines Kern-Selbst ist die Kontinuität in der Zeit beziehungsweise die Selbst-Geschichtlichkeit, basierend auf den sich entwickelnden Fähigkeiten eines Gedächtnisses, das die Erfahrungen der Urheberschaft, der Selbst-Kohärenz und der Selbst-Affektivität zu erinnern vermag. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 133; vgl. auch martin dornes: Der kompetente Säugling, 106 –131: Die diskreten Affekte.) Da das Erleben der Urheberschaft, wie gesagt, insbesondere motorische Pläne und Aktionen nebst deren Folgen betrifft, steht zu prüfen, inwieweit Säuglinge überhaupt ein motorisches Gedächtnis besitzen, – über was für ein phantastisches Gedächtnis für Gesichter bereits drei Tage alte Kinder verfügen, haben wir schon gehört. (Vgl. Bd. I 321– 322; oliver pascalis: Woran ein Säugling sich erinnert, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Gedächtnis, 2/2003, 58 –59.) Um diese Frage zu klären, zeigte man drei Monate alten Kindern Mobiles, die sie über Strampeln in Bewegung setzen konnten, was die Säuglinge denn auch schnellstens lernten und woran sie sich noch nach Tagen erinnerten. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 134–135.) Auch «daß Kinder zwischen fünf und sieben Monaten ein erstaunliches LangzeitWiedererkennungsgedächtnis für visuelle Eindrücke haben», ist bekannt: Säuglinge, die das Bild des Gesichts einer fremden Person weniger als eine Minute lang gezeigt bekommen haben, vermögen es noch nach über einer Woche wiederzuerkennen. (daniel n. stern: A. a. O., 135) Keine Frage also, daß ih-

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nen ihr Gedächtnis auch das Erleben von Selbst-Kohärenz ermöglicht. Ebenso vermögen Säuglinge affektive Ereignisse wiederzuerkennen; zum Beispiel reagieren sie auf den Anblick einer Handpuppe, die sie eine Woche zuvor in dem beliebten «Guck-Guck»-Spiel kennengelernt haben. (daniel n. stern: A. a. O., 137) Wie aber werden diese vier Selbst-Invarianten (Urheberschaft, Selbst-Kohärenz, Selbst-Affektivität und Selbst-Geschichtlichkeit) zu einer einzigen organisierenden subjektiven Perspektive integriert? Die Antwort lautet: durch das episodische Gedächtnis, von dem wir früher schon gesagt haben, daß es im wesentlichen das biographisch bedeutsame Erinnerungsmaterial abspeichere (vgl. Bd. I 324). Eine Episode kann man definieren als eine in sich geschlossene Einheit erlebter Erfahrungen, bestehend aus Empfindungen, Wahrnehmungen, Handlungen, Gedanken, Affekten und Zielen, «die in einem zeitlichen, räumlichen und kausalen Verhältnis zueinander stehen». (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 139) Entscheidend zum Verständnis jedes episodischen Gedächtnisses ist die Tatsache, daß es allgemeine Erinnerungsstrukturen bildet – generalisierte Episoden, die als Prototypen durchschnittlicher Erfahrungen dienen; insbesondere bilden sich «generalisierte Interaktionsrepräsentationen» (engl.: representations of interactions that have been generalized: RIGs), die mit bestimmten Erwartungen an Interaktionen der gleichen Art einhergehen. Und nun scheint es, daß diese RIGs «eine Grundeinheit der Repräsentation des Kern-Selbst bilden». (daniel n. stern: A. a. O., 143) Mit ihrer Hilfe «werden die verschiedenen Invarianten des Selbsterlebens integriert: das Selbst, das handelt, das Selbst, das fühlt, und das Selbst, das den eigenen Körper und dessen Handlungen auf seine ihm eigene Weise wahrnimmt . . . Ähnlich werden die Mutter, die mit dem Kind spielt, diejenige, die es tröstet, sowie die ‹Mütter›, die das Kind wahrnimmt, wenn es zufrieden oder unglücklich ist, aus all dem herausgefunden und erkannt. Es bilden sich ‹Inseln der Konsistenz›, die zusammenwachsen. Dies geschieht, weil das Episoden-Gedächtnis, dessen Grundeinheiten die RIGs bilden, einen dynamischen Charakter hat.» (daniel n. stern: A. a. O., 144) Aus diesem Ansatz ergeben sich nun eine Reihe wichtiger Konsequenzen für die Interpretation der Verhaltensweisen eines Säuglings im Alter von zwei bis sechs Monaten. An die Stelle von mahlers «Dualunion» tritt ein interpersonales Geschehen, innerhalb dessen alle Vorgänge, welche über die Gefühle der Bindung, der Nähe und der Geborgenheit entscheiden, gemeinsam geschaffen werden: Blickkontakt, Lächeln, Kuscheln, Umarmen etc. bilden «Selbsterfahrungen in der Gemeinschaft mit einem Anderen» und «gehören zu den im

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höchsten Grad sozialen Momenten unseres Erlebens». (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 149) Indem man in den psychoanalytischen Theorien der frühen Kindheit ursprünglich besonders den körperlichen Zuständen des Säuglings die größte Aufmerksamkeit schenkte, mußte sich in der Tat der Eindruck einer passiven Verschmelzung von Kind und Mutter nahelegen; doch bereits im Umgang mit Tierkindern kann man sehen, daß nicht das Stillen oder Schlafenlegen selbst das Wesentliche im Erleben eines Säuglings darstellt, sondern die Art, wie es geschieht. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 151.) Sehr eindringlich haben etwa die Bilder von den harlow-Äffchen (Abb. B 107; B 108) uns gezeigt, daß die Nähe eines Objekts, das als Ort der Geborgenheit erlebt wird, für ein Primatenkind weit wichtiger ist als die Verfügbarkeit einer Milchquelle; die Beobachtungen der Säuglingsforschung an Menschenkindern weisen naturgemäß in die gleiche Richtung. Worum es sich in der Mutter-Kind-Beziehung auf der Stufe des Kern-SelbstErlebens handelt, ist mithin eine interpersonale Interaktion, in welcher das Empfinden von Kern-Selbst und Kern-Anderem klar voneinander abgegrenzt bleiben. Gleichwohl erlebt jetzt schon der Säugling auf Grund der RIGs, über die er verfügt, nicht nur den gegenwärtigen Anderen, sondern es haben sich aus seinen unterschiedlichen Erinnerungen (aus den verschiedenen RIGs) verschiedene generalisierte «Arbeitsmodelle» gebildet, die nun als «evozierte Gefährten» (von lat.: evocare – herausrufen; hier:) aus der Erinnerung auf den Plan gerufen werden oder als halluzinierte Objekte zugleich mit dem aktuellen Geschehen auftauchen. (So könnte sich in etwa die Theorie melanie kleins von der «guten» und der «bösen» Brust im Erleben des Säuglings erklären!) Wenn wir als Erwachsene später viel Zeit mit «imaginierten Interaktionen», mit Phantasien über erinnerte oder zukünftige Ereignisse und mit Tagträumereien zubringen, so sollten wir nicht vergessen, daß diese Beschäftigungen sich über einer Basis erheben, die schon im Alter von zwei bis sechs Monaten grundgelegt wurde. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 163; 171.) «All dies», resümiert stern, «kann man auch anders formulieren: Das Leben des Säuglings hat einen durch und durch sozialen Charakter, so daß die meisten Dinge, die er tut, fühlt und wahrnimmt, sich in verschiedenartigen Formen sozialer Beziehungen abspielen. Der evozierte Gefährte, die innere Repräsentation, das Arbeitsmodell oder das phantasierte Einssein mit der Mutter sind allesamt nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte spezifischer Beziehungsformen.» (daniel n. stern: A. a. O., 171) «Dieses Konzept eines nahezu ununterbrochenen Zusammenseins mit realen Partnern und evozierten Gefährten berücksichtigt auch eine Beobachtung, die man für gewöhnlich mit

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der Formulierung zum Ausdruck bringt, der Säugling habe gelernt, die Welt um ihn her vertrauensvoll oder von innerer Sicherheit geleitet zu erforschen.» (daniel n. stern: A. a. O., 172) Da die Herausbildung eines Kern-Selbst und eines Kern-Anderen somit nur zu verstehen ist als Teil eines interpersonalen Geschehens, scheint es überlegenswert, ob es noch sinnvoll ist, in der Psychoanalyse die Terminologie sigmund freuds von den «Objekten» beizubehalten und nach wie vor von «Libidoobjekt», «Selbst-Objekt» etc. zu sprechen. Fest steht, daß Säuglinge schon vor Ende des sechsten Lebensmonats zwischen Belebtem und Unbelebtem, zwischen Personen und Dingen zu unterscheiden vermögen, das heißt, sie können die invarianten Merkmale wahrnehmen, welche die einen und die anderen gegeneinander abheben. Wird ein Gegenstand (eine Puppe zum Beispiel) als eine Person vorgeführt, so betrachtet der Säugling ihn als ein Mischwesen, das Merkmale von einem Ding und von einem Menschen (oder von einem lebenden Tier) auf sich vereinigt. Der Eindruck eines solchen persongewordenen Gegenstandes ergibt sich aber nicht aus einem Mangel an Differenzierungsfähigkeit in der Wahrnehmung, sondern stellt sich her als das Ergebnis einer gelungenen Integrationsleistung. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 177.) Wir berühren damit bereits die Sphäre von Spiel, Symbolbildung und Ritualisierung, die der übernächsten Stufe der Entwicklung des Selbst vorbehalten sind.

γ) Die Stufe der Empfindung des subjektiven Selbst «Der nächste Quantensprung in der Entwicklung des Selbstempfindens findet statt, wenn der Säugling entdeckt, daß er ein Seelenleben besitzt und dies auch auf andere Personen zutrifft», schreibt daniel n. stern (Die Lebenserfahrung des Säuglings, 179), und er beschreibt damit, was seiner Meinung nach in der Psychogenese eines Säuglings zwischen dem siebten und dem fünfzehnten Monat passiert (jener Phase also, die – wir erinnern uns – nach karl abraham durch oral-sadistische und beginnende anal-sadistische Konflikte gekennzeichnet sein sollte). Entscheidend für diesen Abschnitt der Entwicklung ist nach stern die Tatsache, daß der Säugling nun «über eine neue organisierende subjektive Perspektive in bezug auf sein soziales Leben» verfügt (a. a. O., 180), die es ihm erlaubt, die inneren (subjektiven) Zustände im eigenen wie im fremden Erleben wahrzunehmen und mitzuteilen. Voraussetzung dafür ist die im Erleben des Kern-Selbst bereits vollzogene physische Trennung von Selbst und Anderem, doch wird diese nun ergänzt durch das Erlebnis der Empathie der Be-

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zugsperson. (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 180–181.) Was wir bisher im Hintergrund als wesentliche Bedingung für die Reifung des Selbst-Erlebens vorausgesetzt haben, wird dem Säugling jetzt zu einem eigenen Erfahrungsinhalt: die Mutter bemüht sich immer wieder, die inneren Befindlichkeiten ihres Kindes zu verstehen und ihnen zu entsprechen. «In diesem Stadium», so stern, «kann man dem Säugling zum ersten Mal die Fähigkeit zur psychischen Intimität zuschreiben – der Bereitschaft, sich zu öffnen und eine wechselseitige Durchdringbarkeit oder Ergründbarkeit zweier Menschen zu erleben.» (daniel n. stern: A. a. O., 181) Die Bedeutung dieses Satzes ist schwer zu überschätzen. Denn die empirische Säuglingsforschung erlaubt diesen Worten nach die Klärung eines Problems, das sich in Philosophie (und Theologie) wohl immer schon gestellt hat, doch mit spekulativen Mitteln natürlich nicht zu lösen war: von wann an beginnt eigentlich das, was begrifflich als «Subjektivität» und «Intersubjektivität» bezeichnet wird (a. a. O., 182)? Zugleich damit wird auch gegenüber den traditionellen psychoanalytischen Theorien die seelische Entwicklung des Säuglings zu einem Selbst einer Neubewertung unterzogen: die wachsende Selbständigkeit des Kindes, seine fortschreitende Individuation, ergibt sich, so betrachtet – wie das Erleben des Einsseins! –, aus dem Empfinden der Intersubjektivität selbst (a. a. O., 183); sie erscheint nicht länger mehr als der erzwungene Schritt der Anpassung an eine (notgedrungen) verweigernde «Realität». Der britische Psychoanalytiker und Autismusforscher peter hobson betont zu Recht, «daß die Fähigkeit eines Kindes, sich in andere hineinzuversetzen, sich besser entwickelt, wenn es zuvor ‹sichere› Bindungen erlebt hat. Ein ‹sicher gebundenes› Kind scheint besser in der Lage zu sein, die Perspektive eines Gegenübers zu erfassen . . . – . . . Das Kind beginnt, die eigene Perspektive auf die Welt sozusagen von außen zu betrachten . . . Denken ist keine Sache, die sich nur im Individuum abspielt.» (Wie wir denken lernen, 148) Wohl jede Mutter wird davon berichten können, mit welch einer Freude sie entdeckt hat, daß ihr Kind im Alter von etwa neun Monaten selber bemerkt hat, wie sie sich ihm zuwandte, indem sie ihr Interesse auf eine bestimmte Tätigkeit oder einen bestimmten Körperteil des Kindes konzentrierte, und wie umgekehrt auch das Kind seine Aufmerksamkeit in Korrespondenz dazu ausrichtete. Zum ersten Mal entsteht in diesem Alter eine intentionale Gemeinsamkeit bzw. eine «Inter-Attentionalität» (von lat.: die attentio – Aufmerksamkeit). Sehr wichtig dabei ist die Vermittlungsfunktion, die der mütterlichen Aufmerksamkeitslenkung in bezug auf das Wirklichkeitserleben ihres Kindes zukommt. Beispielsweise sprachen wir früher bei der Beschäftigung mit den neuronalen Grundlagen der Angsterfahrung davon, daß nicht wenige Menschen sich nicht

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eigentlich vor einer gegenwärtigen Gefahr fürchten, sondern sich förmlich ängstigen in der Angst ihrer Mutter (ihres Vaters) (vgl. Bd. I 674 –676); grundgelegt aber, so sehen wir jetzt, wird ein solches Phänomen psychologisch (bzw. psychoanalytisch) bereits in eben dieser Zeit des anfanghaften Erlebens eines subjektiven Selbst. Nehmen wir, um den Zusammenhang zu verdeutlichen, nur einmal an, irgend etwas geschehe, das unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehe: der Wasserkessel beginnt zu pfeifen, die Standuhr schlägt, eine Tasse fällt zu Boden; der Säugling blickt auf, die Mutter blickt auf; doch nicht nur das Ereignis an sich ist wert der Beachtung. Die Mutter schaut das Kind an und sieht, wie es seinerseits sie selbst mit fragenden Augen betrachtet: Hat sich gerade etwas «Schlimmes» zugetragen? Muß man Hilfe herbeiweinen oder herbeischreien? Nein, denn die Mutter lächelt das Kind an, und beruhigt lächelt das Kind zurück. Alles ist gut; kein Grund zum Fürchten besteht. Es ist, sagten wir seinerzeit schon, die Deutung der «Wirklichkeit» durch die Mutter, die im Erleben des Kindes die Bedeutungen festlegt, die seiner «Realität» zukommen, und es sind, sehen wir jetzt, solche alltäglichen Szenen, die, in serieller Verstärkung mit jedem beliebigen Faktor, Stunde um Stunde und Tag für Tag in die Wahrnehmungsgewohnheiten des Kindes (in seine RIGs) Eingang finden. Was sich aus dieser intersubjektiven Bezogenheit in theoretischer wie praktischer Sicht ergibt, stellt nicht mehr und nicht weniger dar als eine Revolution in der gesamten Sicht auf die Wirklichkeit nicht nur eines Kindes, sondern des Menschen überhaupt. Denn was sich in solchen Beispielen zeigt, ist die Möglichkeit, daß «Intersubjektivität» (oder «Interpersonalität») so etwas darstellt wie ein « ‹Grundbedürfnis› oder ‹motivationales System›», das allem Anschein nach mit dem Verlangen des Kindes nach Sicherheit durch Bindung und Zugehörigkeit zu tun hat. (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 195) «Teleologisch (sc. zielbezogen, von griech.: das télos – Ziel, d. V.) ausgedrückt, würde ich annehmen», erklärt stern, «daß die Natur im Laufe der Evolution verschiedene Möglichkeiten hervorgebracht hat, die das Überleben sozialer Arten durch Gruppenzugehörigkeit sichern . . . Ich behaupte, daß die Natur auch die Mittel und Möglichkeiten zu all jenen subjektiven Verflechtungen geschaffen hat, die dem Überleben dienlich sind.» (daniel n. stern: A. a. O., 196) Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch deutlicher sprechen: Daß es für die Sicherheit eines Primatenjungen von elementarer Wichtigkeit ist, die Nähe seiner Mutter zu suchen und in ihrer Nähe zu bleiben, ist augenscheinlich; – bernhard hassensteins (geb. 1922) Begriff von den «Traglingen» (vgl. Bd. I

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668) wies bereits von seiten der Verhaltensforschung auf diesen Sachverhalt hin. Ebenso einfach läßt sich der psychoanalytische Begriff der «Oralität» als ein triebhaft zu nennendes (instinktives, angeborenes, biopsychologisches) Bedürfnis nach Wärme, Nahrung, Geborgenheit und Umfangenwerden verstehen. (Vgl. franz renggli: Angst und Geborgenheit, 88– 92.) Darüber, daß es so etwas gibt und daß es biologisch sinnvoll für das Überleben des Kleinkindes (bzw. für den «Brutpflegeerfolg» der Mutter) ist, kann also kaum kontrovers diskutiert werden. Was aber jetzt ins Spiel kommt, ist weit mehr als die Befriedigung von vorwiegend körperlichen Notwendigkeiten. Intersubjektivität bedeutet das Verlangen eines sich selbst als solches wahrnehmenden Selbst nach Gemeinsamkeit mit einem anderen als solches wahrnehmbaren Selbst; oder anders gesagt: was im Alter eines Kindes zwischen sieben und zwölf Monaten erscheint, ist der Wunsch, jene Nähe, die körperlich bereits auf der Ebene des Kern-Selbst bestand, nun auch psychisch als Kommunikation zwischen zwei getrennten «Seelen» fortzusetzen. Für das Kind selbst wird es jetzt auch subjektiv erlebbar, daß die «emotionale Sättigung» ihm noch weit wesentlicher ist (und allezeit vorher schon war) als die physiologische Ernährung. Oder noch dramatischer ausgedrückt: kein Kind hat eine Chance zu überleben ohne eine Mutter, die es (so «defizitär» auch immer und aus was für Gründen auch immer) im eigentlichen Wortsinne «liebt». Dabei genügt es, unter dem Wort «Liebe» vorerst nichts weiter zu verstehen als die ständige Bereitschaft zu wechselseitigem Austausch, als die sich selbst verstärkende Freude am Erleben von Verbundenheit, als ein gemeinsames Bedürfnis nach intentionaler und emotionaler Abstimmung. Es ist klar, daß die jeweiligen kulturellen Bedingungen das Erleben einer derartigen «Intersubjektivität» sehr stark modifizieren können, je nachdem, ob sie eher die Gemeinsamkeit oder die Abweichung zwischen den Individuen hervorheben (Ethnologen machen diese Unterscheidung manchmal an den Begriffen «matriarchal» oder «patriarchal» fest, Wirtschaftstheoretiker sprechen in diesem Zusammenhang von «sozialistisch» oder «kapitalistisch»); doch sollten solche gesellschaftlichen Festlegungen uns nicht den Blick für das Wesentliche trüben: die Entwicklung des Selbst ist identisch mit dem Wollen nach dem Erleben eines anderen Selbst, sowie umgekehrt das Erleben eines anderen Selbst sich widerspiegelt in den Wahrnehmungen des eigenen Selbst (die psychoanalytischen Begriffe dafür haben wir in Worten wie «Identifikation» und «Introjektion» kennengelernt). Die Art und Weise, in der die Abstimmung zwischen Mutter und Kind sich von Fall zu Fall gestaltet, kann sehr unterschiedlich sein; sie kann bewußt als Ziel der Interaktionen erscheinen, sie kann aber auch «unthematisch» erfolgen.

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«Ich sehe was, was du nicht siehst» oder «Mein Teekesselchen ist blau» sind beliebte Spiele allerdings schon älterer (sprachfähiger) Kinder zur Herstellung einer solchen gemeinsamen Aufmerksamkeit, und auch Erwachsene (wenn sie frisch verliebt sind) können an derlei Aufmerksamkeitsabstimmungen noch ihre Freude haben. Und nun muß man einer Mutter nur bei der Betreuung ihres Kindes zuschauen, um die Mechanismen zu entdecken, mit denen sie das Erleben der Einheit mit ihrem Kind herstellt. Daß sie sprachlich (durch Übertreibung) in Tonhöhe und Tempo die Lautkundgebungen ihres Kindes nachahmt und ebenso seine Mimik übernimmt, haben wir vorhin schon gesagt; doch auch hierbei handelt es sich nicht nur um eine rein äußere Angleichung im Verhalten. Die Sprache, die Mimik ist ein Mittel, Gefühle und Affekte auszudrükken; und die Abstimmung affektiver Zustände wiederum stellt zweifellos die wichtigste Form des Aufbaus von Bindung zwischen Personen dar. Dabei geht es nicht darum, daß der eine die Verhaltensformen des anderen sozusagen mechanisch nachahmt oder «spiegelt»; eher kann man von Affekt-Angleichung oder Affekt-Ansteckung sprechen, denn gemeint ist «die automatische Auslösung eines Affekts durch das Sehen oder Hören der Affektäußerungen eines anderen Menschen». (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 205) Insofern unterscheidet dieser Vorgang sich von der Empathie, die «eine Vermittlung durch kognitive Vorgänge» voraussetzt (a. a. O., 207), während die Affektabstimmung unbewußt (eben: automatisch) zustande kommt: Die Mutter schaut ihr Kind an, dieses erkennt sie und lächelt, und sein Lächeln erzeugt unwillkürlich ein Antwortlächeln der Mutter; beide finden sich wieder in dem Einklang einer wechselseitigen Zustimmung und Bejahung. Näherhin lassen sich die Mechanismen, die der Abstimmung von Gefühlszuständen zugrunde liegen, an drei Erfahrungsqualitäten festmachen, die, wie wir sahen, bei verschiedenen Sinneswahrnehmungen gleichermaßen Geltung besitzen (die also «intermodal übertragbar» sind). Da ist zum einen das Intensitätsniveau: die Mutter etwa paßt die Lautstärke ihrer Stimme der Beschleunigung oder Verlangsamung der körperlichen Bewegungen des Kindes an etc. Sodann wird zum zweiten das Zeitmuster (also Takt, Rhythmus und Dauer) von Verhaltensweisen als ein wichtiges Mittel zur Abstimmung zwischen Mutter und Kind genutzt: so erfolgen etwa das Kopfnicken der Mutter und die Armbewegungen des Kindes in derselben Taktfolge; desgleichen wird auch die unterschiedliche Akzentuierung (der Rhythmus) der Bewegungen einander angepaßt; und auch die Länge (die Dauer) der jeweiligen Aktionen gleicht sich an. Beide, Intensität und Zeit, repräsentieren dabei die quantitativen Eigenschaften von Wahrnehmung und Stimulation; eine dritte, qualitative Komponente zur

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Abstimmung von Gefühlszuständen stellt darüber hinaus die Wahrnehmung der Gestalt bzw. die Entsprechung bestimmter räumlicher Merkmale des Verhaltens dar, – so, wenn die Mutter die Auf- und Ab-Bewegung des Arms ihres Kindes in die eigene Kopfbewegung übernimmt. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 208 –210; 218– 220.) Insgesamt scheint es nicht übertrieben, wenn wir die Affektabstimmung als eine Art kunstvoller Choreographie beschreiben, aufgeführt nach einer «Musik», die nur im Inneren erklingt. Diese «Musik» muß allem Anschein nach nicht ausschließlich harmonisch sein; sie muß nur überhaupt eine starke emotionale Bedeutung besitzen. Noch bei Erwachsenen läßt sich beobachten, wie die erwähnten Mechanismen wirksam werden, sobald zwei miteinander eng verbundene Partner sich in Rage reden. Von daher versteht man, daß sich zum Beispiel auch bei einer situativ überforderten Mutter die gleichen, nur jetzt negativ getönten Verhaltensweisen der Affektabstimmung einstellen werden, wenn sie das Geschrei und Gestrampel ihres Kindes nicht anders mehr zu beantworten weiß, als indem sie selber das Gesicht verzieht, mit den Armen rudert, mit den Füßen stampft und ebenfalls herumzubrüllen beginnt. Ein Tröstliches liegt immerhin darin, daß nur eine menschlich sehr enge Beziehung, in welcher der eine dem anderen (fast) so wichtig ist, wie ein Kind seiner Mutter und eine Mutter ihrem Kind, derartige Angleichungen des emotionalen Ausdrucksverhaltens auf den Plan rufen wird. In gefühlsintensiven Augenblicken ist es denn auch «normal», daß – wie in der Kunst oder in religiösen Ritualen – die primären Sinneswahrnehmungen (Intensität, Zeit und Gestalt) miteinander «amodal» verschmolzen werden. Gefühle gehen in motorisches Ausdrucksverhalten über, verbinden sich mit visuell vorstellbaren Szenen, «evozieren» Gefährten und Begleitumstände der Vergangenheit, kombinieren sich mit halluzinierten oder realen Wahrnehmungen von Geräuschen und Gerüchen etc. All dies entspringt unserer Neigung, «automatisch . . . Wahrnehmungsqualitäten in Gefühlsqualitäten zu übersetzen» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 225) Wir sehen zum Beispiel jemanden mit dem Arm eine rasche und ausladende Bewegung durchführen, und wir verstehen sofort; für gewöhnlich analysieren wir den motorischen Prozeß nicht bewußt nach den Eigenschaften Intensität, Zeitmuster und Gestalt, wie es Ballettlehrer, Schauspieler oder Tanztherapeuten zu tun pflegen; wir erleben eine solche Bewegung ganz einfach nach ihrem Vitalitätsaffekt als «heftig». (Vgl. daniel n. stern: A. a. O., 225.) Bei all dem verbleiben wir wohlgemerkt auf einem Niveau der Intersubjektivität, das «präverbal» (von lat.: prae – vor; das verbum – Wort; also: vorsprach-

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lich) ist, wiewohl es durch die Mechanismen der Angleichung von Mimik, Motorik und Phonetik bereits wichtige Voraussetzungen zum Erlernen von Sprache bietet. Wenn wir nun akzeptieren, daß in der Entwicklung eines Kindes zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein noch einmal die Stadien durchlaufen werden, die in der Evolution von der Tierreihe her zu der spezifisch menschlichen Form eines an Sprache gebundenen Bewußtseins geführt haben, so dürften wir jetzt über ein wichtiges Vergleichskriterium für die Beantwortung der Frage verfügen, inwieweit Tiere Bewußtsein oder gar Selbstbewußtsein besitzen. daniel n. stern (Die Lebenserfahrung des Säuglings, 107, Anm. 2) meint, es gebe «Grund genug anzunehmen, daß auch zahlreiche höhere Tierarten . . . ein Kern-Selbst-Empfinden ausbilden.» In der Tat: wenn wir sehen, wie etwa unsere Katze zwischen den Kakteen auf der Fensterbank sich hindurchbewegt, ohne auf engstem Raum einen der Töpfe anzustoßen, so scheint es außer Frage zu stehen, daß dieses Tier in all seinen Bewegungen, die es sorgfältig steuert und kalkuliert, auf das genaueste um sich selbst weiß – alle Kriterien für ein KernSelbst-Empfinden scheinen deshalb geradewegs beispielhaft in ihm verkörpert. Und wenn wir des weiteren sehen, wie dieses Tier uns anschaut, wenn wir hören, wie es mit klagender Stimme miaut, um zur rechten Zeit seine Nahrung zu erbetteln oder ins Freie gelassen zu werden, so dürfte es schwerfallen, ihm nicht auch das Empfinden eines subjektiven Selbst zuzusprechen. Gewiß, es ist eine menschliche Reaktion, wenn wir – verführt auch wohl durch das «Kindchenschema» – mit einer Katze so umzugehen beginnen wie mit einem kleinen Kind; doch zeigte die Katze nicht ein Verhalten, das dem eines Kindes ähnelte, so würden wir nicht derart bereitwillig auf ihr Gebaren antworten. Die Katze verhält sich wie ein Subjekt, und wir reden mit ihr als mit einem Subjekt, und wir täuschen uns wohl dabei nicht – sie ist ein Subjekt, und sie weiß zugleich um ihre Subjektivität, die sie allerorten und zu allen Zeiten geltend macht: wenn sie zum Setzen ihrer Duftmarken zur Begrüßung «ihres» Frauchens oder Herrchens, die sie an Gestalt, Schrittempo und Stimmlage schon von weitem zu erkennen vermag, «Köpfchen gibt» oder wenn sie mit größter Sorgfalt oftmals am Tage ihren ganzen Körper – mit Ausnahme des Schwanzes – ableckt, soweit ihre Zunge reicht, oder wenn sie wie selbstverständlich «ihre» Schlafgelegenheit beansprucht oder wenn sie verlangt, daß man «ihre» Zeit für das Frühstück oder das Abendessen einhält . . . Und was der Katze recht ist, muß dem Hund, dem Pferd, aber auch den Wildtieren: dem Fuchs, dem Reh, ja, welchen höheren Säugetieren eigentlich nicht, nur billig sein. Und was etwa ist es mit dem Graupapagei, der bei entsprechender Übung viele Dutzende von menschlichen Wörtern mit bestimmten Gegenständen zu verknüpfen vermag?

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Kürzen wir die Debatte ab: Wenn es ein sicheres Kriterium für das Empfinden des subjektiven Selbst bildet, daß ein Lebewesen imstande ist, die Gefühle eines anderen Lebewesens zu begreifen, so hat das Verhalten von Affen uns hinreichend gezeigt, daß zumindest Primaten die Gefühle ihrer Artgenossen nicht nur verstehen, sondern sogar virtuos, bis hin zur bewußten Irreführung, mit ihnen umzugehen vermögen. Und auch unterhalb solcher Spitzenleistungen wird man, je nach Spezialisierung der einzelnen Tierarten, verschiedene Formen von Subjektsein und Selbstbewußtsein annehmen dürfen beziehungsweise müssen. Die mittelalterliche Definition war so uneben nicht, die den Menschen als «animal rationale» (lat.: als «vernunftbegabtes Lebewesen») bestimmte (vgl. Bd. I 22 –23; 26 –27); statt durch «Vernunft», die wir nach allem Gesagten auch Tieren nicht absprechen sollten, erscheint es lediglich passender, den Menschen durch die Sprache zu kennzeichnen und ihn als ein «animal verbale» – als ein sprechendes Säugetier zu charakterisieren. Nur: was ist so Besonderes an der menschlichen Sprache und was bedeutet es, wenn ein Kind sie erlernt?

δ) Die Stufe der Empfindung eines verbalen Selbst Im Alter vom achtzehnten bis zum dreißigsten Lebensmonat befindet sich ein Kind «in der Entstehungsphase der verbalen Bezogenheit», die es ihm ermöglicht, «Erfahrungen der verschiedenen Bereiche der Bezogenheit zu integrieren. Zum Beispiel kann es nun das verbale Äquivalent von Kern-Erfahrungen aussprechen, etwa: ‹Ich will dich nicht ansehen›; ‹Ich will nicht, daß du mich ansiehst›; oder: ‹Ich will nicht nahe bei dir sein.› . . . Es kann nun auch das verbale Äquivalent der intersubjektiven Erfahrungen aussprechen, etwa: ‹Halt’ du dich aus meinem erregenden Spiel heraus!›» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 377) Schon rené arpad spitz hatte in seiner Arbeit Nein und Ja gezeigt, daß um die Zeit von anderthalb Jahren der Erwerb der NeinVokabel einhergeht mit der Betonung erwachender Autonomie, Selbständigkeit und Unabhängigkeit. (Vgl. a. a. O., 111.) Von dem «ersten Trotzalter» sprach die Entwicklungspsychologie alter Schule bei Kindern zwischen zweieinhalb bis dreieinhalb Jahren. (Vgl. heinz remplein: Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter, 111–117.) stern aber, um diesen Tatbestand wirklich zu verstehen, verweist in seiner Darstellung der Entwicklung des Selbst zu Recht darauf, daß Kinder im zweiten Lebensjahr (mit fünfzehn bis achtzehn Monaten) die Fähigkeit erwerben, Handlungen, die sie zum ersten Mal sehen, zeitverzögert nachzuahmen, und das bedeutet, daß sie imstande sind, die Verhaltensweisen anderer korrekt zu repräsentieren

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und aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen (vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 232 –234); zudem müssen sie das, was sie gesehen haben, mit dem vergleichen können, was sie selber tun, – es muß eine «‹Reversibilität› der Koordination zwischen einem inneren Schema und einem motorischen Plan» geben (daniel n. stern: A. a. O., 234); und schließlich muß das Kind selbst die Beziehung wahrnehmen können, die es mit dem Vorbild, das es nachahmt, verbindet (vgl. daniel n. stern: A. a. O., 234). «Die drei Konsequenzen dieser Fähigkeit (sc. des Kindes, innerliche Schemata mit Operationen zu koordinieren, die außerhalb, in Aktionen oder Worten, existieren, d. V.), die das Empfinden des Selbst und folglich auch die Möglichkeit, sich auf andere zu beziehen, (sc. jetzt, vom 18. Monat an, d. V.) am gravierendsten verändern, sind die Fähigkeit, das Selbst zum Objekt der Reflexion zu machen, die Fähigkeit, symbolisch zu handeln (etwa im Spiel), und der Spracherwerb.» (daniel n. stern: A. a. O., 235) Für Kinder scheint es – anders als zum Beispiel für Primaten und andere höhere Säugetiere – ein sicheres Kriterium für ihre Fähigkeit zu sein, sich selber objektiv wahrzunehmen, daß sie sich im Alter von achtzehn Monaten in einem Spiegel wiedererkennen können. Für dieses neue, objektivierbare Selbst, das außerhalb des subjektiv empfundenen Selbst existiert, haben michael lewis und jeanne brooks-gunn (Social cognition and the aquisition of self ) im Jahre 1979 den Begriff des «kategorialen Selbst» eingeführt – im Unterschied zu einem «existentiellen Selbst»; diese Gegenüberstellung läßt sich in etwa auch mit den Worten das «objektive» und das «subjektive Selbst» wiedergeben beziehungsweise mit der Differenzierung zwischen dem «konzeptionellen» und dem «auf Erfahrung beruhenden Selbst». (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 235– 236.) Wir werden sehen, wie diese Unterscheidung sich phänomenologisch als Differenz von «Bewußtsein» und «Ich» darstellen läßt. Zum Tragen kommen jetzt im zweiten Lebensjahr des Kindes vor allem die ersten empathischen Verhaltensweisen: das Kind ist imstande, sich vorzustellen, wie ein anderer seinen inneren Zustand (sein Selbst als Objekt) wahrnimmt, und es kann sich nicht minder den subjektiven Zustand des Anderen (das fremde Selbst als Objekt) vorstellen. (Vgl. daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 236.) Damit verfügt es über alle Voraussetzungen, die es braucht, um seine «interpersonale Weltkenntnis und -erfahrung mit anderen Menschen zu teilen und in ihrer Vorstellung oder in der Realität zu bearbeiten». (daniel n. stern: A. a. O., 238) So kann es jetzt der «Realität» einen eigenen Wunsch entgegensetzen, – eine Fähigkeit, von der es denn auch, wie der Ausdruck «Trotzalter» andeutet, ausgiebig Gebrauch zu machen pflegt.

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Alles bisher Gesagte wird man in etwa auch höheren Tieren zuschreiben müssen: Ein Hund ist selbstredend imstande, sich die Wut seines Herrchens oder eines Artgenossen vorzustellen, und er verfügt über beeindruckende Möglichkeiten, seine Lagebeurteilung bzw. seine eigene innere Gestimmtheit anderen «objektivierbar» zu machen; desgleichen lassen zwei zornentbrannte Schimpansenmännchen, die kreischend und Knüppel schwingend voreinander stehen, an ihrer Fähigkeit zur Empathie keine berechtigten Zweifel aufkommen; jetzt aber betreten wir ein Terrain, in dem in der Tat nur Menschen zu Hause sind: den Erwerb der Sprache. Was ein Tier nur durch Verhalten und Lautkundgabe kenntlich machen kann, beginnt ein Kind im zweiten Lebensjahr erstmals als ein eigenes Wort zu sagen: «Ich», und, parallel dazu: «Du». Das reichhaltige innerlich gespeicherte Erfahrungswissen wird fortan in einem sprachlichen Code zusammengefaßt. Und nun darf man nicht vergessen, daß Wörter und syntaktische Strukturen alsbald ein Eigenleben entfalten: sie erlauben es, die reale Welt symbolisch zu transzendieren. In den magischen Beschwörungsritualen kündet die Religionsgeschichte der Menschheit bis heute von dieser «Macht» des Wortes. (Vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3erw. 2004, 614 –619.) Der Überlebensvorteil, den die Evolution der Sprache der menschlichen Species geboten haben dürfte, liegt wohl vor allem in der Intensivierung der sozialen Zusammengehörigkeit sowie in der (explosionsartigen!) Vervielfältigung und zeitübergreifenden Absicherung aller möglichen Formen von Information und Kooperation. «Nach gängigem Modell bestand . . . Protosprache (sc. die Vorform grammatikalisch strukturierter Rede, d. V.) . . . im Ausdruck von Gefühlen, in der Möglichkeit, Menschen gezielt anzusprechen; sie unterstützte die Organisation der Jagd oder die Herstellung von Werkzeugen.» (bernard victorri: Die Debatte um die Ursprache, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Die Evolution der Sprache, 4/2001, 19) Ein Hinweis auf solch eine «Protosprache» scheint sogar noch in der Art und Weise zu liegen, wie ein Kind heutigentags die menschliche Sprache durch die Bildung eigener konkret-anschaulicher «Begriffe» erlernt. Der russische Sprachforscher lew semjonowitsch wygotski (1896 –1934) wies vor jetzt schon über 70 Jahren darauf hin, daß ein Kind ja nicht nur Lautgebilde von den Personen seiner Umgebung übernimmt, sondern daß es zusätzlich die Bedeutung lernen muß, die den Wörtern zukommt, und er betonte zugleich, daß das Kind auf dem Wege zur Begriffsbildung (im Vorschulalter) Pseudobegriffe verwende, die zwar komplex und allgemein sind, denen aber «zum Unterschied von den Begriffen die hierarchischen Beziehungen der Merkmale (fehlen). Alle Merkmale sind in ihrer Bedeu-

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tung grundsätzlich gleich.» (lew semjonowitsch wygotski: Denken und Sprechen, 130) Der Pseudobegriff ist daher dem komplexen Denken zuzuordnen, das vom begrifflichen Denken zu trennen ist. «Der Komplex steht im Gegensatz zum Begriff nicht über seinen Elementen», in ihm sind «durch diffuse, unbestimmte Verbindungen die anschaulich-konkreten Gruppen von Bildern und Dingen vereinigt.» (lew semjonowitsch wygotski: A. a. O., 130) «Die Pseudobegriffe», erklärte wygotski, «sind die verbreitetste und oft fast ausschließliche Form des komplexen Denkens im Leben des Vorschulkindes. Ihre Verbreitung und Vorherrschaft hat ihre Ursache darin, daß sich die der Wortbedeutung entsprechenden Komplexe nicht frei, nicht spontan in irgendwelchen vom Kinde selbst umrissenen Bahnen entwickeln, sondern in Richtung der in der Sprache der Erwachsenen bereits festliegenden Bedeutungen der Wörter.» (lew semjonowitsch wygotski: A. a. O., 132) «Die Sprache der sozialen Umwelt lenkt die eigene Aktivität des Kindes auf eine genau umrissene Bahn. Aber während das Kind diesen vorgezeichneten Weg geht, denkt es gemäß seiner Entwicklungsstufe des Intellekts. – Die Wege der Verbreitung und Übertragung der Wortbedeutungen werden von den Menschen der Umgebung dem Kind im sprachlichen Umgang gegeben. Aber das Kind kann sich nicht gleich die Denkweise der Erwachsenen aneignen, und so entsteht ein Produkt, das dem der Erwachsenen ähnlich ist, das aber mit andersartigen intellektuellen Operationen erzielt worden ist. Und das ist der Pseudobegriff. Er fällt äußerlich mit den Wortbedeutungen der Erwachsenen zusammen, ist aber innerlich von ihnen grundverschieden.» (lew semjonowitsch wygotski: A. a. O., 133) Wir können auch sagen, «daß das Kind Begriffe in der Praxis anwendet und mit ihnen operiert, bevor es sich ihrer bewußt wird.» (lew semjonowitsch wygotski: A. a. O., 135) Der Pseudobegriff bildet auf diese Weise «eine Brücke zwischen dem konkreten, anschaulich-bildhaften und dem abstrakten Denken des Kindes.» (lew semjonowitsch wygotski: A. a. O., 135) Mit diesen Worten hob wygotski nicht nur hervor, daß sich der Wortgebrauch und das Denken eines Kindes von Wortgebrauch und Denken Erwachsener deutlich unterscheidet, er machte außerdem klar, wie stark ein Kind, das zu sprechen lernt, in die Sprachwelt der Kultur der Erwachsenen, unter denen es aufwächst, ein für allemal eingebunden wird. Mit den enorm erweiterten Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit, die mit dem Spracherwerb einhergehen, ergibt sich deshalb zugleich auch die Gefahr einer fortschreitenden Entfremdung. In den Worten von daniel n. stern: «Das Kind findet Eingang in eine größere Kulturgemeinschaft, aber mit dem Risiko,

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die Kraft und Ganzheit des ursprünglichen Erlebens einzubüßen.» (Die Lebenserfahrung des Säuglings, 251) So wie es möglich ist, daß der Gebrauch der Sprache dazu verhilft, die soziale und natürliche Welt immer besser zu verstehen, so ist es auch möglich, daß die Sprache dazu herhalten muß, jede Art von Ideologie und Aberglauben zu produzieren und zu transportieren; so wie sie ein wunderbares Instrument zur Selbstmitteilung und zur Verständigung darstellt, so kann sie zweifellos ebenso hervorragende Dienste zur Verschleierung und Täuschung leisten. Zudem ist die Sprache «das ideale Medium zur Verarbeitung kategorialer Informationen . . ., aber einem analogen System gegenüber, etwa der Ausdrucksstärke, das der Übermittlung abgestufter Informationen angepaßt ist, ist sie stark im Nachteil.» (daniel n. stern: A. a. O., 253) Im Jahre 1963 drehte sidney lumet unter dem Titel Angriffsziel Moskau (Fail Safe) einen Film, der am Beispiel einer Szene in der Zeit des «Kalten Krieges» diese zwei Ebenen der Sprache zur Mitteilung von Sachverhalten und von Gefühlen verdeutlicht: Auf einen Fehlalarm hin haben Bomber des Strategic Air Command (SAC, des Strategischen Luftwaffenkommandos der USA) zu einem atomaren Angriff auf die sowjetische Hauptstadt angesetzt, und allzu spät stellt sich heraus, daß die Betriebsanweisungen für die Piloten an Bord es von einem bestimmten Augenblick des Flugablaufs an nicht mehr zulassen, noch weitere Instruktionen entgegenzunehmen; der amerikanische Präsident (gespielt von henry fonda) muß also versuchen, seinen russischen Kollegen davon zu überzeugen, daß es sich bei der schier unvermeidbaren Zerstörung der sowjetischen Hauptstadt nur um einen Irrtum handele, der um Himmels willen nicht mit einem nuklearen Vergeltungsschlag gegen die US-amerikanischen Großstädte beantwortet werden solle. In dieser Situation dicht am Abgrund des militärischen Infernos, tausendmal geplant und trainiert in den Armeen der beiden Großmächte, kommt es plötzlich, entscheidend über Leben und Tod großer Teile der Menschheit, auf den menschlichen Faktor an. Weit wichtiger als die verbale Information ist in diesem Augenblick die Beachtung der Modulation der Stimme, welche die seelische Gestimmtheit des Gesprächspartners (seine «Vitalitätsaffekte») mitteilt: spricht der andere zornig, traurig, zögernd, entschlossen, verzweifelt, triumphierend – alles hängt ab von der richtigen Übersetzung und dem richtigen Verständnis des Wie der Sprache. Denn eine andere Möglichkeit liegt ebenso auf der Hand: daß Sprache, statt Gefühle angemessen zum Ausdruck zu bringen, auch dazu dienen oder gar nötigen kann, Gefühle zu kaschieren oder eine nur zweckrationale Informationssprache als «vernünftig» zuzulassen. Kriege können entstehen, weil Menschen es verlernt haben, «richtig» miteinander zu reden; Kinder können krank wer-

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den, wenn sie gezwungen sind, mit dem Erlernen der Sprache die eigenen Gefühle und Erfahrungen zu verlernen. gregory bateson hat uns darüber hinaus bereits gezeigt, wie zerstörerisch es auf Abhängige wirken muß, wenn Worte eine andere Botschaft vermitteln als das non-verbale Verhalten der Sprechenden. Noch einmal mit den Worten sterns: «Mit der Entwicklung der Sprache werden die Kinder dem eigenen persönlichen Erleben entfremdet. Die Sprache erzwingt einen Zwischenraum, der die gelebte interpersonale Erfahrung und die sprachlich repräsentierte voneinander trennt. Und über diesen Zwischenraum hinweg können sich jene Konnexionen und Assoziationen entwickeln, die das neurotische Verhalten konstituieren. Durch die Sprache aber kann das Kind nun zum ersten Mal auch sein persönliches Welt-Erleben mit anderen teilen und mit anderen Menschen gemeinsam Nähe, Isolation, Einsamkeit, Angst, Ehrfurcht und Liebe erfahren.» (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 258) Selbstmitteilung und Selbstentfremdung – beide sind als Möglichkeiten im Erwerb von Sprache angelegt. – Doppelbödig kann, wie wir sahen, die Sprache vor allem dadurch wirken, daß es subjektiv nicht mehr möglich ist (oder, wie in kirchlichen Systemen, aus ideologischen Gründen unter dogmatischem Verbot steht), zwischen Metaphern und Begriffen zu unterscheiden; rasch entsteht dann eine verselbständigte Welt, in der Symbole (Metaphern) auf wahnhafte Weise eine eigene Realität annehmen, während dieselben Symbole, recht verstanden, wahre Wunderwelten an Poesie und Weisheit erschließen können. Die wohl wichtigste Folge des Spracherwerbs besteht in der Möglichkeit, nicht nur aktuelle Informationen oder vereinzelte Episoden der persönlichen Erinnerung miteinander auszutauschen, sondern parallel zu dem wachsenden Zusammenhalt mit den anderen auch einen größeren Zusammenhang zwischen den persönlichen Gedächtnisinhalten herzustellen: Es beginnt die Fähigkeit, sich selbst und seinen Mitmenschen die eigene Biographie, soweit erinnerlich, als persönliche Lebensgeschichte zu erzählen; wir werden im nächsten Abschnitt (D 2 e) noch sehen, daß das, was wir als «Person» bezeichnen, auf das engste mit dieser Fähigkeit einhergeht, vor allem weil mit der Art der Erzählung sowie mit den Teilnehmern der Sprachgemeinschaft sich das Bild des Erzählenden von sich selbst jeweils noch einmal verändern wird. Im Unterschied nämlich zu den gedanklichen Operationen beim Lösen eines Problems oder etwa beim Beschreiben eines objektiven Sachverhalts, die sich relativ subjektfern darstellen lassen, kann man die eigene Geschichte nur erzählen, indem man von sich als Träger eigener Empfindungen und Entschlüsse und auch von den anderen Menschen als von den Subjekten eigener Gefühle und eigener

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Selbst-Entwürfe spricht; unvermeidbar ist es deshalb, daß sich beim Erzählen der eigenen Geschichte – wie beim Lesen eines Romans – das Feld der inneren Einsicht und Einheit mit sich und den anderen ständig erweitert. Und nun könnte es sein, daß das «Verfertigen von Geschichten . . . sich als ein universellmenschliches Phänomen» erweist, «das den Bauplan des menschlichen Geistes widerspiegelt . . . Am besten», meint daniel n. stern (Die Lebenserfahrung des Säuglings, 247), «ließe sich der Bereich der verbalen Bezogenheit . . . in ein kategoriales Selbstempfinden, das objektiviert und etikettiert, sowie ein erzählendes Selbstempfinden untergliedern, das in seine Geschichte Elemente aus den anderen Selbstempfindungen (Urheberschaft, Intentionen, Ursachen, Zwecke usw.) einflicht.» Vielleicht hat die Entwicklung der menschlichen Sprache zwischen der Stufe des Homo sapiens neanderthalensis und des Homo sapiens sapiens an gerade dieser Stelle eine entscheidende Veränderung von einer vorwiegend «kategorialen» zu einer zunehmend (auch) «metaphorischen» (spielerisch-phantasievollen, rituell-verträumten) Kommunikationsform durchlaufen (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3erw. 2004, 599– 600; 614 –619); fest steht auf jeden Fall, daß die Möglichkeit zu verbaler Kommunikation die Menschen am meisten von allen Tieren unterscheidet und ihnen zu einer Form von Subjekthaftigkeit verhilft, wie sie selbst den höchststehenden Primaten fremd ist. «Manchmal habe ich, wenn ich Schimpansen beobachte, das Gefühl gehabt», schreibt jane goodall (Ein Herz für Schimpansen, 238 –239), «sie wären, ohne eine Sprache wie die der Menschen, in sich selbst gefangen. Ihre Rufe, Körperhaltungen und Gesten verbinden sich zu einem reichhaltigen Repertoire, einem vielseitigen und differenzierten System von Kommunikation. Aber es ist nonverbal. Wieviel mehr könnten sie erreichen, wenn sie nur miteinander sprechen könnten! . . . Geistig zumindest scheinen Schimpansen an der Schwelle zum Spracherwerb zu stehen. Aber die Kräfte, die wirksam waren, als Menschen zu sprechen begannen, haben offensichtlich keine Rolle bei der Formung des Verstandes der Schimpansen in dieser Richtung gespielt.» Auch Schimpansen, fährt die berühmte Forscherin fort (a. a. O., 272), «haben eine Geschichte, wie Menschen»; doch eben: diese Geschichte muß jane goodall selbst erzählen! «Epidemien von Kinderlähmung und Lungenentzündung und eine Serie von gewalttätigen Interaktionen zwischen den Gesellschaften, die dem menschlichen Krieg nicht unähnlich waren, haben in ihrer Gesellschaft Verheerungen angerichtet. Es gab die finsteren Jahre, wo Mütter mit Neugeborenen nicht mehr sicher durch die scheinbare Friedlichkeit ihres Waldes wandern konnten, weil . . . Kindermörder . . . ihnen auflauerten. Es hat Kämpfe um die Macht ge-

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durchschnittliches Alter

wichtige sprachliche Errungenschaften

wichtige motorische Errungenschaften

6 Monate

Gurren, Wechsel zum deutlichen Plappern durch die Verwendung von Konsonanten. Die Anfänge von Sprachverständnis. Ein-Wort-Äußerungen. Einzelwörter werden verwendet. Repertoire umfaßt 30– 50 Wörter (einfache Substantive, Adjektive und Verben), die noch nicht zu Sätzen verbunden werden können, aber einzeln verwendet werden. Noch kein Gebrauch von Konnektoren, Artikeln und Hilfsverben (und, kann, der, die, das), die für eine Syntax benötigt werden. Guter Fortschritt im Verständnis. Zwei-Wort-Sätze (Telegrammsprache) werden nach syntaktischen Regeln gebildet. Das Vokabular besteht aus 50 bis mehreren hundert Wörtern. Das Kind versteht logische Regeln. Das Vokabular erweitert sich täglich. Drei und mehr Wörter in vielen Kombinationen; Konnektoren, Artikel, Hilfsverben tauchen auf; viele grammatische Fehler und idiosynkratische Ausdrücke werden gebildet; gutes Verstehen von Sprache. Vollständige Sätze; wenig Fehler; Vokabular umfaßt etwa 1000 Wörter.

Sitzt mit Unterstützung der Hände. Einseitiges Greifen.

Nähert sich der Sprachkompetenz von Erwachsenen.

Springt über ein Seil, auf einem Fuß; läuft entlang einer Linie.

1 Jahr 12 bis 18 Monate

18 bis 24 Monate

2 bis 5 Jahre

3 Jahre 4 Jahre

Steht, läuft, wenn es an einer Hand gehalten wird. Greifen und Loslassen sind voll entwickelt. Das Kind läuft und kann Treppen rückwärts herunterkrabbeln.

Rennt (und fällt hin); läuft die Treppen Stufe für Stufe mit demselben Fuß nach oben.

Springt mit beiden Beinen, baut Türme aus sechs Würfeln.

Kann schleichen, steigt Treppen mit beiden Beinen.

Abb. D 15: Die Entwicklung der sprachlichen und motorischen Fähigkeiten eines Kindes

geben, die genauso dramatisch waren wie die um die Nachfolge menschlicher Könige und Diktatoren. Und ich war privilegiert, . . . die Geschichte einer Gruppe von Lebewesen» aufzuzeichnen, «die keine eigene Schriftsprache hat». «Stellen Sie sich vor, wenn die Schimpansen sprechen könnten, was für bewegende Geschichten am Kamin würden . . . erzählt werden». (jane goodall: A. a. O., 272) Womöglich sind Menschen in einer Weise, die sie von allen anderen Tierarten unterscheidet, eben dadurch selbstbewußte Subjekte (geworden),

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daß sie es gelernt haben, sich ihre eigenen Geschichten zu erzählen; individuell gelangen sie dazu mit eben jenem Prozeß der Selbst-Versprachlichung, der in der Kindheit (zwischen 18 bis dreißig Monaten) beginnt. Eine zusammenfassende – bzw. vorgreifende – Tabelle der Entwicklungsschritte eines Kindes zu der Fähigkeit zu sprechen, bietet, parallel zu der Entfaltung der motorischen Errungenschaften, Abb. D 15. Wie sich diese Entwicklungsschritte neurologisch darstellen, bleibt im folgenden zu untersuchen.

c) Neurologische Zugangswege zum Selbstbewußtsein α) Wie Babys zu sich selbst erwachen und was die Neurologie dazu zu sagen hat Wenn es möglich ist, die psychische Entwicklung eines Säuglings und Kleinkindes bis zum Kindergartenalter in klar voneinander abgrenzbaren Stufen zu beschreiben, so stellt sich natürlich die Frage, welche Reifungsschritte der Hirnentwicklung dahinter stehen. Neurologische Untersuchungen an Kindern unterliegen selbstredend sehr engen ethischen Grenzen, und so behilft man sich wieder mit Tierversuchen, nur um erneut auf das alte Problem zu stoßen: Wenn sich Forschungsergebnisse von einem Küken oder von einem Rattenjungen auf Menschen übertragen lassen, müßte dann eine Ethik, die Menschen vor Menschen schützt, nicht zwingend auch auf den Umgang mit Tieren übertragen werden? Wenn es verboten ist, Kinder in qualvolle neurologische Experimente einzubeziehen, wieso kann es dann erlaubt sein, derartige Versuche mit Tieren zu unternehmen, die an den relevanten Stellen ihres Gehirns mit uns Menschen auf bezeichnende Weise übereinstimmen? Anlaß zum Umdenken und zu Respekt und Verantwortung gegenüber den Tieren an unserer Seite sollten gerade auch die aus Tierversuchen gewonnenen Einsichten der Säuglingsforschung geben, darunter die folgenden.

Das Bindungsphänomen Ein erster entscheidender Schritt der nachgeburtlichen Entwicklung eines Kindes besteht in der Bindung an seine Mutter; die Verbindung zwischen beiden ist nicht nur überlebenswichtig für das Kind, sie bildet als die Entstehungsphase der Empfindung des auftauchenden Selbst, wie gerade gezeigt, die unerläßliche

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Basis für alle weiteren Reifungsschritte. Von der Aktivierung eines «Mutterarchetyps» sprach 1938 deshalb carl gustav jung (Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetyps, in: Gesammelte Werke, IX 1, S. 89–123); doch wie läßt sich eine solche Theorie in einer Art formulieren, die eine empirische Nachprüfung zuläßt? Die Verhaltensforschung bedient sich – wie wir schon wissen – bei den ersten instinktiv vorgegebenen Lernschritten des von konrad lorenz eingeführten Begriffs der Prägung, und sie meint damit, daß in bestimmten «sensiblen Phasen» ein relativ kurzer Reiz (ein Objekt, eine Situation) genügt, um den entsprechenden Lerninhalt irreversibel im Gedächtnis zu verankern. (Vgl. Bd. I 278 –279.) Daß es auch bei Menschenkindern solche Prägungsphasen gibt, ist unbestreitbar. (Vgl. etwa lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 295 –296: Sensible Phasen für die visuelle Entwicklung; 354– 358: Formbarkeit und sensible Phasen bei der Entwicklung des Gehörs; 515– 524: Die sensible Phase für sprachliche Erfahrung; 502 –504: Gedächtnistraining – gibt es eine sensible Phase?) So können neugeborene Kinder bereits nach wenigen Tagen die Stimme ihrer Mutter identifizieren: – die Erinnerung an diese Stimme ist ihnen fortan fest «eingeprägt», wobei ihnen vorgeburtliche Erfahrungen akustischer Eindrücke sehr zugute kommen (vgl. lise eliot: A. a. O., 342– 345; 354). Ähnliches gilt für den Geruch der Brust der Mutter. (Vgl. katharina braun – jörg bock: Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 52.) Kurz: wesentliche Erfahrungen, die insbesondere mit Geborgenheit und Nahrungsaufnahme verbunden sind, unterliegen «Prägungen». Da die «eingeprägten» Erfahrungen hochemotional sind, läßt sich von vornherein vermuten, daß bei ihrer Encodierung das limbische System eine zentrale Rolle spielen wird; nur: um welche Strukturen des limbischen Systems wird es sich dabei handeln? Wir haben bereits ausführlich geschildert, daß Rattenbabys, die man in einer «armen» Umgebung aufzieht, ein meßbar leichteres (sowie synapsenärmeres) Gehirn aufweisen als Tiere, die in einem vergleichbar «reichen» Milieu groß werden (vgl. Bd. I 279 –280; 676); wir haben auch bereits auf die lebenslangen Folgen emotionaler Deprivation (lat.: die deprivatio – Beraubung) im frühen Kindesalter etwa bei Primatenbabys hingewiesen – immer wieder sind dabei die Versuche von harry frederick harlow von einer erschütternden Eindringlichkeit. (Vgl. Abb. B 107; B 108; vgl. auch lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 462 –464: Soziale Deprivation und das fehlverschaltete Affenhirn; 464 –465: Das limbische Vermächtnis von Missbrauch.) Die Mechanismen der Angst, die in Augenblicken der Einsamkeit und Ausgesetztheit in den Köpfen

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von Affenkindern und Menschen ablaufen, haben wir (hoffentlich) ausreichend dargestellt (Bd. I 666 –702); wie aber die emotionale Bindung zwischen Kind und Mutter neuronal vermittelt wird, bleibt jetzt nachzutragen. Den Vorgang der emotionalen Bindung zwischen einem Neugeborenen und seiner Mutter bezeichnen Verhaltensforscher als Filialprägung (lat.: der filius – Sohn). Um sie neurologisch zu untersuchen, eignen sich natürlich bevorzugt die Jungen von Tierarten, bei denen das «Phänomen» der Prägung besonders deutlich zu beobachten ist: Hühnerküken zum Beispiel. (Das «Phänomen» wird bislang von Verhaltensforschern, Tierärzten und Neurologen wohl ausschließlich für Forschungszwecke ernst genommen, sonst wäre kaum begreifbar, wie man es zulassen kann, daß Millionen von Küken alltäglich in irgendwelchen Massenzuchtanstalten künstlich ausgebrütet werden, um dann den Rest ihres kurzen Lebens auf Grund der nicht erfolgten Prägung in Angst und Schrecken dahinzuvegetieren – wofern die Küken der Rassen «Legehenne» und «Masthähnchen» mit dem jeweils unrentablen Geschlecht nicht ohnehin sogleich der Viehfutterindustrie zugeleitet werden.) henning scheich in Darmstadt sowie katharina braun und jörg bock in Magdeburg untersuchten also das Prägeverhalten an Haushuhnküken; letztere spielten zum Beispiel den Küken unmittelbar nach dem Schlüpfen künstlich erzeugte Glucklaute vor und stellten ihnen gleichzeitig eine ausgestopfte Henne «zum Ankuscheln zur Verfügung» – «die ersten angenehmen Reize, auf die die Jungtiere in ihrem Leben stießen. Sie assoziierten nun den bisher bedeutungslosen akustischen Stimulus – die künstliche Stimme der ‹Mutter› – mit der emotionalen Situation und wurden dadurch auf das Geräusch geprägt: Die Küken unterschieden den Glucklaut von anderen Tonreizen und liefen gezielt auf ihn zu, sobald sie ihn hörten.» (katharina braun – jörg bock: Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 51) Neurologische Untersuchungen zeigten sodann, daß «innerhalb von neunzig Minuten nach Beginn der Filialprägung . . . sich die synaptischen Kontakte in einer Region des Hühnerhirns, die bei Säugern dem vorderen Teil des sogenannten cingulären Cortex entspricht», deutlich vermehrten. (katharina braun – jörg bock: A. a. O., 51) Später, nach etwa einer Woche, wiesen die assoziativen Areale des Vorderhirns geprägter Küken indessen wesentlich weniger Dornsynapsen (also Synapsen an den apikalen und basalen Dendriten, vgl. Abb. A 51) auf als bei ungeprägten Tieren. (Vgl. katharina braun – jörg bock: A. a. O., 51.) Von den «Dornen» wissen wir, daß sie vor allem der Signalaufnahme dienen; offensichtlich werden also die entstandenen synaptischen Verbindungen wieder ausgedünnt, um nur diejenigen weiter aktiv zu halten, die für die Verarbeitung des emotional so wichtigen Rei-

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zes zuständig sind. Bei Küken, die man (nach harlows Vorbild) in völliger Isolation großzog, fand sich weder eine Synapsenvermehrung noch die nachfolgende Selektion der speziellen Verbindungen. Als wesentlich für die neuronale Grundlage der Filialprägung zeigte sich für die Küken demnach beides: ein akustischer Reiz, der dem Glucklaut eines Muttertieres entspricht, sowie die Anwesenheit einer Hennenattrappe. Waren beide Voraussetzungen gegeben, genügten etwa dreißig Minuten, um in ihren Köpfen die neuronale Selektion anlaufen zu lassen. (Vgl. katharina braun – jörg bock: A. a. O., 52.) Die Folgerung, die sich aus diesen Befunden ergibt, ist nicht nur für die Säuglingsforschung, sondern auch für die Verifizierung psychoanalytischer Ansichten über die Bedeutung der frühen Kindheit von erheblichem Gewicht; denn sie besagt, daß bereits die allerersten emotionalen Erlebnisse eines Kindes «die Grundmuster der neuronalen Verschaltungen im limbischen System» mitbestimmen. «Diese Verdrahtungsmuster legen wiederum fest, welche Verhaltens- und Lernleistungen später überhaupt möglich sind.» (katharina braun – jörg bock: Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 52) Und nicht nur das neuronale Verschaltungsmuster, auch die Biochemie der Neuronen wird durch die Filialprägung auf bezeichnende Weise verändert. Zum Beispiel wird die Produktion von Glutamat durch die Prägung deutlich gesteigert; von Glutamat wissen wir bereits, daß es die für Lernvorgänge so wichtigen NMDA-Rezeptoren aktiviert (vgl. Abb. B 8; B 77). «Offensichtlich knüpft das Gehirn die emotionale Bindung zwischen dem Neugeborenen und seinen Eltern mithilfe von Glutamat und NMDA-Rezeptoren. Kann nämlich Glutamat während des Lernvorgangs nicht an NMDA-Rezeptoren binden – etwa weil sie experimentell blockiert wurden – . . ., assoziieren die Küken Prägeton und emotionale Situation nicht mehr miteinander: Die Tiere sind dann ‹unprägbar›.» (katharina braun – jörg bock: Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 52) Daß sich diese Untersuchungsergebnisse an Vogeljungen auch auf Säugetiere übertragen lassen, zeigen Forschungen an den Jungtieren von Strauchratten (Octodon degus, auch Degus genannt). Entsprechend ihrer wissenschaftlichen Bezeichnung gehören die Degus zur Familie der Trugratten (der Octodontidae), so benannt, weil sie zwar äußerlich den Ratten ähnlich sehen, in Wirklichkeit aber mit Meerschweinchen, Agutis und Chinchillas verwandt sind. In Mittelchile zählen Degus «zu den häufigsten Tieren» und «bevölkern dort zu Hunderten die Hecken und Büsche». «Die Jungen kommen voll behaart und weit entwickelt zur Welt und öffnen bald nach der Geburt die Augen.» (dietrich heinemann: Überfamilie Trugrattenartige, in: Grzimeks Tierleben, XI

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414) Degusjungtiere eignen sich für das Studium des Einflusses, den die ElternKind-Beziehung auf die Hirnentwicklung eines Neugeborenen ausübt, besonders gut, weil sie (anders als die gewöhnlich in Labors verwendeten Ratten und Mäuse) ihre Umgebung von Anfang an mit allen Sinnen wahrnehmen; zudem besitzt bei ihnen die akustische Kommunikation einen großen Stellenwert; und schließlich beteiligen sich auch Degusväter aktiv an der Aufzucht ihres Nachwuchses. Um so folgenschwerer wirkt es sich für ein Degusjunges aus, wenn es in sozialer Isolation aufzuwachsen gezwungen wird: Messungen des Energieverbrauchs ergaben in diesem Falle ein deutliches Nachlassen der Stoffwechselaktivität im limbischen System. Umgekehrt wiesen «normal» aufgewachsene Degusjunge, genau wie die untersuchten Hühnerküken, bei längerfristigem Kontakt mit den Elterntieren zunächst ein Anwachsen der Dornsynapsen im vorderen cingulären Cortex auf und hernach die charakteristische Synapsenselektion. Emotionale Deprivation hingegen führt nicht nur zu einem Synapsenüberschuß im vorderen cingulären Cortex, es kommt auch zu einer verminderten Anzahl an sogenannten Schaftsynapsen, die direkt an den signalaufnehmenden Nervenfortsätzen haften und – im Gegensatz zu den fast ausnahmslos erregenden Dornsynapsen – auch eine hemmende Wirkung ausüben. Übererregbarkeit, Unruhe und Angstbereitschaft dürften die unmittelbaren Folgen dieser Verschiebung des Synapsengleichgewichts zu den exzitatorischen Verbindungen darstellen. Und nicht nur im anterioren cingulären Cortex, auch im Nucleus accumbens (dessen Bedeutung innerhalb des dopaminergen Belohnungssystems wir bereits kennengelernt haben; vgl. Abb. B 75 und B 76), in der Amygdala und im Hippocampus (vgl. Abb. A 23) verändert sich die Synapsenanzahl je nach der emotionalen Befindlichkeit; das gesamte Gleichgewicht zwischen den Strukturen des limbischen Systems (vgl. Abb. A 22) kann sich von daher erheblich verschieben. Desgleichen verändert sich, wie nicht anders zu erwarten, auch die Menge der Nervenfasern von Neuronen, die (in der Substantia nigra pars compacta und in den Raphe-Kernen; vgl. Abb. A 9; A 14) Dopamin und Serotonin produzieren, sowie auch die entsprechende Rezeptorendichte: Schon drei Tage, nachdem Degusjunge wenige Male für kurze Zeit von ihren Eltern und Geschwistern getrennt worden waren, stieg die Anzahl der Rezeptoren für Dopamin und der Rezeptoren für Serotonin in ihren Gehirnen merklich an. (Vgl. katharina braun – jörg bock: Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 52– 53.) Es wundert deshalb nicht, daß solche Jungtiere sich später schwertun, in Ruhe zu lernen und soziale Kontakte aufzunehmen, ganz wie es schwer gestörten Kindern zu ergehen pflegt. «Wenn die Tiere in eine fremde Umgebung ge-

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langen, beginnen sie diese mit ungewöhnlich hoher körperlicher Aktivität zu erkunden. Außerdem reagieren sie viel weniger auf mütterliche Lockrufe. – Auf den ersten Blick scheinen diese Verhaltensänderungen verblüffend den Symptomen von Kindern zu ähneln, die unter der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (sc. unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, ADHS, über das wir schon in Bd. I 527– 528 gesprochen haben, d. V.) leiden. Könnte», fragen katharina braun und jörg bock (Die Narben der Kindheit, in: Gehirn und Geist 1/2003, 53), «diese Verhaltensauffälligkeit bei Menschen damit auch die gleiche Ursache – also Trennung von den Eltern – haben?» Und sie antworten: «Möglich wäre es. Schließlich dürften emotionale Erlebnisse die Gehirnentwicklung von menschlichen Neugeborenen genauso wie bei Tieren beeinflussen. Psychische Belastungen stören daher wohl auch bei ihnen die synaptischen Umbauten in den limbischen Emotionsschaltkreisen.» (Vgl. Abb. A 24 und B 9.) Wenn wir früher die Wirkung von Streß (Angst und Ärger) im Erleben der Mutter auf die vorgeburtliche Hirnentwicklung ihres Kindes beobachten konnten (vgl. Bd. I 623) und uns von den psychischen Folgen sozialer und emotionaler Deprivation im Erleben der frühen Kindheit Rechenschaft gaben (vgl. Abb. B 107; B 108), so können wir jetzt, und zwar bereits auf der Ebene der ersten Entwicklungsschritte – beim «Bindungsphänomen» oder bei der «Filialprägung» –, die neurologischen Voraussetzungen und Folgen einer gelingenden oder mißlingenden Mutter-Kind-Beziehung nachzeichnen. Freilich genügt es an dieser Stelle natürlich nicht mehr, lediglich den Einfluß der Elternbindung eines Kindes auf sein späteres Lernverhalten zu betrachten; die Frage stellt sich jetzt, wie ein Kind lernt, welche Fortschritte sein Erkenntnisvermögen dabei macht, welche neuronalen Vorgänge diese Fortschritte ermöglichen und wie diese dazu beitragen, daß aus Bewußtsein Selbstbewußtsein wird. (Vgl. dazu martin dornes: Der kompetente Säugling, 164–196: Kognitive Entwicklung.)

Die Kategorisierung der Wahrnehmung Ein sehr wichtiger (zum Teil noch vorsprachlicher) Erkenntnisschritt besteht in dem, was lew semjonowitsch wygotski in Denken und Sprechen – wie wir soeben hörten – als die Bildung von «Pseudobegriffen» bezeichnete: es geht um eine rudimentäre Ordnung (bzw. Zuordnung) der Wahrnehmung. (Vgl. dazu auch lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 577– 579.) Um herauszufinden, wie Kinder ihre Eindrücke klassifizieren, bot man Säuglingen im Alter ab zwei

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Monaten paarweise hintereinander mehrere Bilder an, die unterschiedliche Vertreter ein und derselben Kategorie zeigten – verschiedene Katzenbilder zum Beispiel. Die Kinder sollten sich an die Wahrnehmung der Kategorie «Katzen» gewöhnen, und diese Gewöhnung sollte für den Versuchsleiter erkennbar daran sein, daß die kleinen Probanden den angebotenen Bildpaaren nach und nach weniger Aufmerksamkeit widmeten, je mehr Bildpaare derselben Kategorie sie schon gesehen hatten. Hernach legte man den Kindern ein Bildpaar einer anderen Kategorie vor – zwei Bilder von Hunden etwa; sollten die Kinder nunmehr die Hundebilder länger betrachten (also für etwas Unbekanntes einstufen), so könnte man folgern, daß sie den «Hund» einer neuen Kategorie zuordneten. Bei Kindern ab sechs Monaten setzte man Miniaturmodelle aus Plastik zum Spielen ein, um zu prüfen, ob und wann Kinder die Modelle einer Kategorie (z. B. kleine Plastikkatzen unterschiedlicher Rassen) als bereits vertraut wiedererkennen und ihnen weniger Beachtung schenken als den Figürchen einer neuen Kategorie (z. B. kleinen Plastikhunden). Das Ergebnis derartiger Untersuchungen, die am Institut für Psychologie in Magdeburg durchgeführt wurden, demonstrierte, daß Kinder in den ersten Lebensmonaten (also in der Entstehungsphase des Kern-Selbst im Alter von zwei Monaten bis zum siebenten Monat) generell außerstande sind, wahrgenommene Gegenstände zu kategorisieren. (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 45; 47.) «Anders dagegen Kinder in einem Alter von etwa sieben Monaten (sc. also in der Entstehungsphase des subjektiven Selbst ab dem siebenten Monat, d. V.): Diese beschäftigten sich in . . . (den) Versuchsreihen eindeutig länger mit Minimodellen einer neu auftauchenden Kategorie – jetzt können sie zwischen verschiedenen Objektklassen unterscheiden», schreibt sabina pauen (a. a. O., 47). Daß es sich so verhält, verwundert nicht, wenn man sich die Hirnentwicklung eines Säuglings vor Augen stellt, wie sie mit Hilfe der bildgebenden Verfahren in der heutigen Neurologie erforschbar geworden ist. So zeigt sich, daß schon bei Neugeborenen verschiedene Informationen in verschiedenen Hirnteilen verarbeitet werden. Beispielsweise reagiert der linke Temporallappen des Neocortex schon bei Säuglingen auf die Wahrnehmung von Sprache, – die Lateralisierung (vgl. Abb. A 39) beginnt sogar bereits vor der Geburt. So lutschen spätere Linkshänder im Mutterleib vornehmlich am linken Daumen und entsprechend spätere Rechtshänder am rechten. Strukturell weicht der Aufbau des Gehirns eines Neugeborenen kaum von dem eines Erwachsenen ab. Doch obwohl bereits alle wichtigen Hirnstrukturen ausgeprägt sind und auch die Neuronenanzahl sich nicht mehr erhöhen wird, nimmt das Hirngewicht eines

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Abb. D 16: Auf- und Abbau von Synapsen entsprechend der Altersentwicklung bis zum 71. Lebensjahr

Kindes bis zum fünften Lebensjahr um mehr als das Dreifache zu und steigt dann noch weiter bis zum 18. Lebensjahr an. Der Grund dafür liegt in einer dramatischen Vermehrung der Nervenzellfortsätze und der Synapsenanzahl. (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 46.) Andererseits sagten wir gerade noch, daß nach der sprunghaften Vermehrung von Synapsen in einem Hirnareal sogleich wieder eine selektive Ausdünnung beginnt: es soll sich an neuronalen Verbindungen nur erhalten, was sich als nützlich erweist. «Use it or loose it» lautet auf Englisch die Devise, – im Deutschen etwa: «Nutze oder stutze sie (die Synapsen und damit die korrespondierenden Fähigkeiten)». Die Synapsen im visuellen Cortex zum Beispiel nehmen vom zweiten Lebensmonat an sprunghaft zu – mit sechs Monaten erreicht ihre Anzahl ein Maximum –, doch nur, um danach wieder reduziert zu werden. (Vgl. sabina pauen: A. a. O., 46.) Abb. D 16 gibt einmal graphisch den Auf- und Abbau der Synapsen entsprechend der Altersentwicklung bis zum 71. Lebensjahr wieder.

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Der Sinn dieser Verlaufskurve in den ersten Lebensmonaten wird klar, wenn man bedenkt, daß ein Neugeborenes seine Umgebung zum Beispiel nur erst ziemlich unscharf wahrzunehmen vermag, weil die Augenlinse noch ebenso wenig ausgereift ist wie die Sehbahn von der Retina zum visuellen Cortex (vgl. Abb. A 85; B 33). Außerdem vergrößert sich mit dem Wachstum des Kopfes vor allem im ersten Lebensjahr auch der Abstand zwischen den Augen; und schließlich können Neugeborene ihre Augenmuskulatur noch nicht gänzlich kontrollieren. Aus all dem geht hervor, daß Kinder nach ihrer Geburt wohl starke Kontraste und bewegte Reize zu sehen vermögen, jedoch feinere Muster sowie Farbabstufungen und Helligkeitsunterschiede nicht hinreichend erkennen können. Erst mit circa sechs Monaten (also wieder in etwa mit Eintritt in die Entstehungsphase des subjektiven Selbst ab dem siebenten Lebensmonat) erreicht das Sehvermögen eines Kindes das eines Erwachsenen, obwohl bereits gegen Ende des vierten Monats (mitten in der Entstehungsphase des KernSelbst im Alter von zwei Monaten bis zum siebenten Monat) die Umgebung im großen und ganzen richtig wahrgenommen wird und die Informationen aus beiden Augen koordiniert werden. Mit der synaptischen Selektion vom sechsten Lebensmonat an geht insofern nicht nur eine genauere Wahrnehmung der Umwelt einher, sondern zugleich auch eine Festlegung auf die Gegenstände, die ein Kind in seiner Kultur zu sehen bekommt. (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 46.) «Im Unterschied zum Wachsen der Synapsen, das von der Reifung abhängt, baut es (sc. das Gehirn, d. V.) überschüssige Kontaktstellen danach vor allem auf Grund von Lernerfahrungen ab. Nur die häufig genutzten Verbindungen bleiben bestehen, wodurch das Gehirn Informationen effizient und zu den Lebensbedingungen eines Kindes passend verarbeiten kann.» (sabina pauen: A. a. O., 46) Ähnlich verhält es sich mit den Lauten, die ein Kind aus der verbalen Welt seiner Umgebung für den Erwerb der «Muttersprache» aufzunehmen beginnt. Indem nun die Kategorisierung der wahrgenommenen Gegenstände mit eben der Phase beginnt, in welcher die Kinder ihre volle Sehstärke erlangen (mit sechs Monaten), könnte man vermuten, daß Säuglinge sich im wesentlichen an der äußeren Form der Objekte orientieren würden, daß sie also Basiskategorien anlegten, indem sie Objektklassen bildeten wie: Katzen oder Hunde oder: Tische oder Stühle; erst später, sollte man denken, seien sie dann imstande, globale Kategorien zu bilden: wie Tiere oder Möbel. Um so überraschender mutet die Feststellung an, daß Kinder gerade umgekehrt anfangs globale Kategorien bilden und darauf aufbauend zur Bildung von Basiskategorien übergehen. Allem Anschein nach legen sie ihre Kategorien nicht einfach durch Ab-

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straktion der äußeren Erscheinung der wahrgenommenen Gegenstände an; vielmehr kommt hier wohl eine Art erworbenes Vorwissen ins Spiel: Es könnte sein, daß die bei den Übungen verwandten Tiermodelle zum Beispiel die Kinder an jene Tiere erinnern, mit denen sie aufgewachsen sind. Bestätigt wird eine solche Vermutung dadurch, daß Säuglinge, die mit einer Katze oder einem Hund groß wurden, mit neun Monaten zwischen beiden Tierarten unterscheiden können, wohingegen Kinder, die ohne diese Tiere aufgezogen wurden, eine solche Unterscheidung selbst mit elf Monaten noch nicht zu treffen vermögen. Um diese entwicklungspsychologische Tatsache zu verstehen, muß man in jedem Falle annehmen, daß Kinder bereits im Alter von sechs Monaten imstande sind, stabile mentale Objektrepräsentationen zu bilden (also ein Gedächtnis aufzubauen, das den augenblicklichen Sinneseindruck überdauert). Eine solche Annahme würde es denn auch verständlich machen, daß, wie wir hörten, in gerade diesem Alter die Ausprägung des subjektiven Selbst (dessen Entstehungsphase ja zwischen dem siebenten und fünfzehnten Lebensmonat liegt) erfolgt. (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Geist und Gehirn, 1/2003, 47.) Bei all dem handelt es sich wohlgemerkt nicht um eine bloße Hypothese, sondern es läßt sich mit Hilfe geeigneter Versuche tatsächlich der Nachweis erbringen, daß Babys schon mit sechs Monaten imstande sind, sich an Gegenstände zu erinnern, die sich ihrer aktuellen Wahrnehmung entziehen. Einen solchen Nachweis liefert der Drehbrückenversuch, wie Abb. D 17 ihn darstellt. Bei diesem Versuch sitzt ein Kind vor einem Tisch, auf dem eine Platte entweder auf es hin oder von ihm weg geklappt werden kann (a). Ein hinter der Platte befindliches Objekt hindert ein Zurückklappen um 180 Grad (b). Läßt sich nun durch einen Trick (man entfernt das hinderliche Objekt, ohne daß das Kind es bemerken könnte) die Platte dennoch vollständig umklappen (c), staunen bereits 6 Monate alte Kinder über diese «physikalische Unmöglichkeit». (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 47– 48.) Sechs Monate alte Kinder also sind bereits imstande, sich an das stehende Objekt und an seine Wirkung zu erinnern! (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 48.) Überraschend ist diese Feststellung allerdings nicht. Denn daß in diesem Alter Kinder zu Objektrepräsentationen imstande sind, zeigt sich geradewegs dramatisch in der beginnenden Acht-Monats-Angst (vgl. Bd. I 643): ein Kind unterscheidet von sieben Monaten an immer mehr zwischen bekannten und unbekannten Personen und fängt an zu «fremdeln», was allemal voraussetzt, daß es sich an die ihm nicht sicht-

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Abb. D 17: Der Drehbrückenversuch (Beschreibung im Text)

bare Mutter erinnert und ihr Erinnerungsbild mit der gerade sichtbaren Gestalt vergleicht. Allerdings ist die Fähigkeit eines Babys zum Wiedererkennen seiner Mutter noch nicht ein «Erinnern» im Sinne einer aktiven Gedächtnisleistung – als bewußter Zugriff auf gespeicherte Wahrnehmungen und Erlebnisse. Das explizite Gedächtnis bildet sich erst ab dem späten Säuglingsalter ganz allmählich heraus: erst in der späten Kindheit ist dann der Gyrus dentatus des Hippocampus weit genug entwickelt, hat die Myelinisierung wichtiger limbischer Bahnen begonnen und hat der frontale Cortex mit seiner entscheidenden Funktion für das Kurzzeit- wie für das Langzeitgedächtnis seine Arbeit aufgenommen. (Vgl. lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 495.) Das alles geschieht beim Beginn

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der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. «Das Alter von acht Monaten markiert also ebenso wie bei der sozialen und emotionalen Entwicklung einen wichtigen Wendepunkt bei der Entstehung des Gedächtnisses.» (lise eliot: A. a. O., 495) Am interessantesten freilich stellt sich in unserem Zusammenhang die Frage, woher die Bevorzugung jener «globalen Kategorien» im Säuglingsalter eigentlich stammt. Vieles spricht dafür, daß hier nicht erworbene, sondern angeborene, in der Evolution grundgelegte Schemata die Wahrnehmung ordnen. «So interessieren sich bereits Neugeborene besonders für Gesichter und betrachten sie lieber als andere, ähnlich komplexe Gegenstände oder Muster. Auch das angeborene Interesse an Bewegungen in seinem Blickfeld hilft einem Säugling, früh zwischen Lebewesen und unbelebten Sachen zu unterscheiden. So lernt er schon in den ersten Lebensmonaten, dass sich manche Dinge von allein bewegen können, während andere dazu eine Kraft von außen benötigen. Vielleicht sind solche Kriterien sogar wichtiger als Gesichtermerkmale oder andere ‹statische› Eigenschaften, um mentale Repräsentationen ohne Sprache zu bilden. Schließlich zieht alles, was sich bewegt, schon die Blicke von Neugeborenen magisch an. Und bereits mit drei bis vier Monaten schauen Säuglinge dorthin, wo sich ein bewegtes Objekt im nächsten Moment wahrscheinlich befinden wird.» (sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 48) Ja, Kinder beobachten allem Anschein nach sogar recht genau die Details, mittels derer Bewegungen zustande kommen: ob durch Flügel, Räder, Beine . . ., und sie müssen zu diesem Zweck das Aussehen und das Verhalten bestimmter Einzelheiten eines Objektes miteinander verknüpfen. (Vgl. sabina pauen: A. a. O., 48.) Äußerst aufschlußreich ist zum Beispiel die Art und Weise, wie Kinder Spielzeugtieren eine eigene Bewegungsfähigkeit zuschreiben. Man zeigt ihnen etwa ein wurmähnliches Phantasietier, das mit einem Ball verbunden ist; die Bewegungsrichtung und die Geschwindigkeit dieses Gebildes, das von einer Batterie in dem Ball angetrieben wird, ändert sich ruckartig immer wieder, weil der Schwerpunkt des Balles exzentrisch angeordnet ist; die Frage lautet nun, wie die Kinder eine solche Situation beurteilen. Was ein Ball ist, wissen sie bereits, doch was das für ein «Wurm» ist, können sie nicht wissen; dieses Wesen erscheint ihnen allenfalls als etwas generell «Tierähnliches»; doch werden sie nun den «Ball» oder das «Tier» als Ursache der Bewegung interpretieren? Kinder, die etwa drei Jahre alt sind (die sich im Kindergartenalter befinden), geben sich in ihrem Urteil eindeutig: Das «Tier» spielt mit dem Ball (oder es will ihn fressen, oder es verfolgt ihn). Offenbar haben diese Kinder gelernt, spontane Bewe-

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gungen eher mit belebten als mit unbelebten Gegenständen in Verbindung zu bringen, und so setzen sie ihr erworbenes Wissen über Bewegungsabläufe in ihr globales Kategorienschema (belebt oder unbelebt) ein. Entscheidend aber ist jetzt: Bereits sieben Monate alte Kinder (die ihre «Ansichten» noch nicht in Worten mitteilen können) verraten durch ihr ostentativ größeres Interesse an sich bewegenden Gegenständen, daß auch sie schon ganz genauso denken. Bleibt etwa das Gebilde aus «Wurm» und Ball, nachdem es eine Weile lang umeinander herumgerollt ist, plötzlich regungslos liegen, so schauen die Babys gespannt das «Tier» an, erstaunt über seine Regungslosigkeit und voller Erwartung seines nächsten «Bewegungssturms». Daß die Kinder wirklich bereits im Alter von sieben Monaten das äußere Erscheinungsbild eines Gegenstandes mit dem Bewegungsverhalten eines Lebewesens in Verbindung bringen, wird offenkundig, wenn das Phantasietier (der «Wurm») kein Gesicht oder keinen Fellbesatz aufweist; in diesem Falle reagieren die Kleinen kaum noch auf die Bewegungslosigkeit des Objekts, offenbar weil sie das «Tier» nicht mehr als solches erkennen und deshalb auch nicht mehr von ihm erwarten, es könnte sich «von selbst» bewegen. – Diese Deutung wird bestätigt durch eine Abwandlung des gleichen Versuchs: Statt daß «Tier» und Ball umeinander herumjagen, ergreift man das «Gebilde» mit der Hand und bewegt es in angegebener Weise; in diesem Falle betrachten Kinder bereits vom siebenten Monat an die beiden Spielzeugteile in etwa gleich lang, wenn man sie ablegt; allem Anschein nach erkennen sie also schon in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres, daß es die Hand, nicht das «Tier» ist, wodurch die Bewegung ausgelöst wird. (Vgl. sabina pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 47– 49.) Die Folgerung daraus ist ebenso bedeutsam wie weitreichend: Wenn es sich so verhält, fragen Kinder schon mit sieben Monaten nach der Ursache einer Bewegung und finden auf diese ihre eigene Frage eine zutreffende Antwort. (Vgl. sabina pauen: Gehirn und Geist, 1/2003, 48– 49.) Oder genauer gesagt: Ihre globale Kategorisierung (belebt – unbelebt) führt zu einer Deutung der Wahrnehmung, die sie das Belebte (das sich selbst Bewegende) als Ursache der Bewegung von etwas Unbelebtem (von etwas, das sich nicht von selbst bewegt) erkennen läßt. Etwa vom sechsten bis siebenten Lebensmonat an vollzieht ein Kind demnach einen ganz entscheidenden Schritt in Richtung eines reflexiven Bewußtseins: Es erkennt Objekte als Grundeinheiten der Realität, denen im Zeitenstrom des Bewußtseins eine qualitative wie quantitative Beständigkeit (eine «Permanenz», von lat.: permane¯re – beharren, fortdauern) zukommt, und es

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ordnet seine Wahrnehmung nach globalen Klassifikationsschemata. Damit ist bereits die weitere geistige Entwicklung vorgezeichnet: entfalten wird sich der Begriff des Objekts und mit ihm der Begriff der Zahl; und die Fähigkeit, Wahrnehmungsgegenstände zu klassifizieren, wird sich ebenso erweitern wie die Fähigkeit zu schlußfolgerndem Denken. (Vgl. olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 32 –33.) Wohlgemerkt liegen diese Fähigkeiten dem Spracherwerb bereits zugrunde, wenngleich sie durch die Möglichkeiten verbaler und syntaktischer Operationen natürlich entscheidend verfeinert und in gewissem Sinne ins Unendliche gesteigert werden. Um die Intelligenz (und den Grad von Bewußtheit) bei Tieren zu prüfen, versuchen Verhaltensforscher gern herauszufinden, ob und inwieweit Tauben, Katzen, Hunde, Affen u. a. ein Zahlenverständnis aufweisen, nur um regelmäßig festzustellen, daß es nicht ganz gerecht ist, eine Tierart nach einem ihr fremden Parameter zu beurteilen, wiewohl dieser als Maßstab menschlicher Intelligenz allerdings von hoher Bedeutung ist: ein bemerkenswerter Teil der geistigen Entwicklung eines Menschenkindes läßt sich wirklich an der Herausbildung des Zahlenbegriffs festmachen.

Zahlen und Emotionen Erneut war es jean piaget, der das kindliche Zahlenverständnis mit einem berühmt gewordenen Versuch zu erforschen begann: Man legt Kindern zwei Reihen von Steinen (Chips) der gleichen Anzahl, aber mit unterschiedlichen Zwischenräumen vor, so daß eine Reihe länger ist als die andere; im Kindergartenalter (zwischen drei bis fünf Jahren) geben die meisten Kinder an, die längere Reihe enthielte auch mehr Steine; erst mit sieben bis acht Jahren antworten die Kinder sachgemäß richtig. piaget zog daraus den Schluß, daß Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren intuitiv Länge und Anzahl einander gleichsetzen und erst mit etwa sieben bis acht Jahren durch «reflektierende Abstraktion» sich «des Konzepts der Anzahl bewusst werden.» (olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 33) Auf die überragende Autorität piagets hin glaubte alle Welt seinerzeit jahrelang diesem seinem Urteil, – bis der französische Psychologe jacques mehler (geb. 1936) das gleiche Experiment nicht mit Steinchen (Chips), sondern mit Bonbons durchführte; und siehe da: bereits zwei- bis dreijährige Kinder erkannten, daß in einer kürzeren Reihe mehr Klümpchen liegen können als in einer längeren. «Offensichtlich bewirkt die stärkere emotionale

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Ansprache, dass die Kinder viel früher als angenommen über ein reflexives Zahlenbewußtsein verfügen. Man könnte sagen, ihre Naschsucht macht Kinder zu Mathematikern und lässt sie in dem Fall das von Piaget unterstellte rein perzeptive Stadium (sc. das Stadium der sinnlichen Wahrnehmung als erster Stufe der Erkenntnis, d. V.) einfach gewissermaßen überspringen.» (olivier houdé: A. a. O., 33) Doch damit nicht genug. Die amerikanische Psychologin karen wynn wies mit einfachen Mitteln nach, daß Kinder ein reflexives Zahlenbewußtsein längst vor dem Spracherwerb besitzen. In einem Puppentheater mit Mickymaus-Stoffiguren ließ sie eine Maus auf der Bühne tanzen, die dann für die Kinder sichtbar hinter dem Vorhang verschwand; hernach versteckte sie ebenso sichtbar vor den Augen der Kinder eine zweite Maus hinter dem Vorhang; doch wenn sich nun der Vorhang hob, erschienen manchmal nicht zwei, sondern drei (oder mehr oder auch weniger) Puppen-Mäuse; geprüft werden sollte mit diesem Arrangement, ob Kinder schon mit vier bis fünf Monaten die Abweichung von der «richtigen» Anzahl bemerken, – ob sie mithin die mathematisch korrekte Anzahl zu erkennen vermögen. Als Indikator für ihre Überraschung wertete die Forscherin wie üblich die Zeitverlängerung, mit welcher die Kinder das «unmögliche» Ereignis bestaunten: Kein Zweifel, sie verfügten über eine Vorstellung von der Invarianz der Zahl! Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren, denen das Forscherteam um olivier houdé den gleichen Trick der sich vermehrenden (oder vermindernden) Puppen vorführte, zeigten sogar durch ihre sprachlichen Äußerungen, daß sie «so etwas» für «unmöglich» hielten; sie erkannten, daß sie hinters Licht geführt werden sollten. Zur Überraschung von houdé und seinen Kollegen aber waren dieselben Kinder nicht imstande, piagets Versuch mit den verschieden langen Reihen von Objekten gleicher Anzahl richtig zu beantworten, selbst wenn man statt der Steinchen (oder Chips) Elefanten-Figuren verwendete; sogar fünf- und sechsjährige Kinder versagten bei dieser Aufgabe. (Vgl. olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 33– 34.) Ein derartiger Unterschied der intellektuellen (rechnerischen) Leistungsfähigkeit erklärt sich vermutlich einzig und allein durch den Faktor der Verblüffung: – so wie Erwachsene begeistert bei einer Zaubervorführung applaudieren, die anscheinend alle Gesetze der Physik oder Mathematik über den Haufen wirft, so sind offenbar auch Kinder in Situationen, da sie etwas Erstaunliches zu sehen bekommen, weit aufmerksamer bei der Sache; doch damit der Trick mit der abweichenden Anzahl von Stofftieren sie wirklich überraschen kann, müssen sie bereits zuvor «das Prinzip der Objektpermanenz, das

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Gesetz der Anzahl und andere Regeln zutiefst verinnerlicht haben». (olivier houdé: A. a. O., 34) «Man sollte tatsächlich meinen, dass der bewusste neuronale Arbeitsraum (sc. in den Worten des französischen Hirnforschers jeanpierre changeux der Raum, in dem das reflexive Bewußtsein agiert, d. V.) schon im Gehirn eines Babys existiert, und dass dort ein aufmerksames reflexives Bewusstsein am Werk ist, das eine Übertretung des Invarianzgesetzes (sc. der Zahl, d. V.) entdeckt.» (olivier houdé: A. a. O., 34) In unserem Zusammenhang (in der Frage nach der Ontogenese von Bewußtsein und Selbstbewußtsein) sind an dieser Stelle gleich mehrere Aspekte der Beachtung wert. Zum einen ergaben Vergleichsuntersuchungen, die nach karen wynns Testanordnung mit verschiedenen Menschenaffen durchgeführt wurden, daß auch diese bemerken, wenn an der zu erwartenden Anzahl bestimmter Objekte etwas nicht stimmt. Dieser Befund läßt sich kaum anders deuten, als daß schon (höher entwickelte) Tiere über Zahlbegriffe verfügen und damit zweifellos «die erste Stufe des reflexiven Bewusstseins» erreichen (olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 34), mithin in ihrer psychischen Struktur der «Entstehungsphase der Empfindung des subjektiven Selbst» (in der Sprache von daniel n. stern) zuzuordnen sind. Oder anders gesagt: alles, was an Intelligenzleistungen außerhalb (oder «unterhalb») der Empfindung eines verbalen Selbst (eines Selbst, das sich seine eigene Geschichte zu erzählen vermag) zu erbringen ist, wird man zumindest den Mitgliedern unserer eigenen biologischen Familie (der Hominoideae, die die Großen Menschenaffen – Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo – und uns Menschen umfaßt, vgl. neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 847– 848) ohne weiteres (!) zutrauen müssen. Diese am meisten menschenähnlichen («hominoiden») Tiere haben einen Anspruch darauf, als selbstbewußte Subjekte betrachtet zu werden; damit entfällt der Unterschied, den Verhaltensforscher wie f. j. j. buytendijk (Mensch und Tier, 82 –87: Kundgeben und Sprechen) zwischen Mensch und Tier zu ziehen suchten, indem sie die Entstehung der Sprache für eine «Mutation» ohne Vorgeschichte erklären wollten: «Die Sprache hat keinen Ursprung, sondern sie ist ein Ur-sprung.» (85) So kann es nicht stimmen. Vielmehr, nach allem was wir von ihnen gehört haben, sollten wir auch die Gibbons (gleichfalls Menschenaffen) und die Makaken (die zu den Altweltaffen zählen) und die Kapuzineraffen (Cebus, zu den Neuweltaffen gehörend), mithin alle anderen Anthropoiden (Simiae), als mit Selbstbewußtsein begabt betrachten. Doch was, wenn dies zutrifft, könnte es dann rechtfertigen, daß wir just jetzt bereitstehen, in den

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nächsten zehn Jahren schon, einfach indem wir mit der Ausrottung der tropischen Regenwälder so fortfahren wie in den letzten dreißig Jahren begonnen, fast ausnahmslos allen Affen und Menschenaffen ein für allemal die letzten Rückzugsgebiete ihres Lebensraumes zu zerstören? Es handelt sich dabei nicht um Hunde oder Katzen, sondern um Wesen, die uns einen unmittelbaren Einblick in den Werdegang unserer eigenen Art und in unserem Umgang mit ihnen wohl auch einen Einblick in die Höhe unseres ethischen Bewußtseins erlauben. (Vgl. terrel miedaner: Die Seele Marthas, eines Tiers, in: Douglas R. Hofstadter – Daniel C. Dennett: Einsicht ins Ich, 102 –107.) Und ein zweites: Wir erleben noch einmal, wie wichtig nicht nur für die Entwicklung kindlicher Intelligenz, sondern sogar für die «Tests», mit denen man sie festzustellen trachtet, der emotionale Faktor ist. Zu Recht meint peter hobson: «Ich glaube nicht, daß eine Beschreibung des Bewußtseins an dem ansetzen sollte, was im Gehirn des Babys vor sich geht, oder daß wir uns nur darauf, wie das Baby in seinem Handeln auf die Welt einwirkt, konzentrieren sollten, ja nicht einmal darauf, wie es die Welt wahrnimmt. Meiner Ansicht nach sollten wir uns als erstes damit befassen, welche verschiedenen Formen der Verbundenheit zwischen dem Kind und den Dingen und Menschen seiner Umgebung es gibt.» (Wie wir denken lernen, 109) Speziell piagets Konzept von der Entwicklung des reflexiven Bewußtseins kritisiert hobson gerade in diesen beiden Punkten: «Erstens hielt er (sc. piaget, d. V.) das Handeln für die Hauptquelle des Denkens und schenkte deshalb der Gefühlssphäre zu wenig Beachtung. Er sagte einmal, Freud habe sich auf die Emotionen konzentriert, er selbst aber habe die Intelligenz gewählt. Er beschrieb das Denken als eine Art inneres Handeln, und . . . wußte . . . nicht recht, wo er die Gefühle darin unterbringen sollte. Dies war ein gravierendes Manko seiner Theorie. Zweitens konzentrierte sich Piaget ganz auf die Anstrengungen des einzelnen Kindes, die Welt um sich herum zu erkennen, und ließ weitgehend außer acht, inwieweit die Entstehung des Denkens auch ein soziales (sc. interpersonales, d. V.) Phänomen sein könnte.» (peter hobson: A. a. O., 111; zu piagets Theorie des frühen Denkens vgl. martin dornes: Der kompetente Säugling, 164–172.) In Wirklichkeit sehen wir erneut, daß es Gefühle sind, die als wesentliche Motivation zur Entwicklung eines reflexiven Bewußtseins dienen. Insbesondere antonio r. damasio verstärkt diese Ansicht noch, indem er «das Bewusstsein» selbst als «ein Gefühl des Erkennens» bezeichnet und ausführt: Die «Gehirnstrukturen . . . verarbeiten die verschiedensten Körpersignale, die des inneren Milieus ebenso wie die des Bewegungsapparats. Alle diese Strukturen arbeiten mit dem nicht sprachlichen Vokabular der Gefühle. Daher ist es plau-

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sibel, dass die neuronalen Muster, die aus der Aktivität dieser Strukturen erwachsen, die Grundlage für jene Art von Vorstellungen bilden, die wir Gefühle nennen. Damit sind wir vielleicht dem Geheimnis des Bewusstseins auf der Spur: Die Abbildung der Beziehung zwischen einem Objekt und dem Organismus wird zum Fühlen eines Gefühls. Die geheimnisvolle Erste-Person-Perspektive des Bewusstseins entsteht aus einem neu entdeckten Wissen – einer Information . . . –, die als Gefühl zum Ausdruck kommt. – Wenn wir die Wurzeln des Bewusstseins als Gefühle verstehen, haben wir einen Ansatzpunkt zur Erklärung des Selbst-Sinns, des zweiten der beiden Probleme des Bewusstseins . . . – das heißt, der Frage, wie der Besitzer des Films-im-Gehirn in dem Film in Erscheinung tritt (sc. das erste Problem des Bewußtseins liegt darin, wie der Film-im-Gehirn überhaupt entsteht, d. V.).» (Ich fühle, also bin ich, 375) Genauer gesagt, besteht rein neurologisch inzwischen Grund, die gesamte Auffassung piagets von der intellektuellen Entwicklung eines Kindes in einem zentralen Punkt zu revidieren. Nach Meinung des großen schweizer Psychologen sollte der Fortschritt geistiger Reifung wesentlich in der Fähigkeit liegen, Phänomene zueinander in Beziehung zu setzen und das Abstraktionsvermögen (die Begriffsbildung) zu entfalten; das phänomenale (das perzeptive oder, wie wir früher gesagt haben: das primäre) Bewußtsein mit seiner Regel «Länge gleich Anzahl» erwies in dem genannten Experiment mit den Reihen von Steinchen nach Meinung piagets seinen bloßen Übergangscharakter: es wird irgendwann vom reflexiven (oder sekundären) Bewußtsein ersetzt, das seine höchste Entwicklungsstufe zwischen vierzehn oder fünfzehn Jahren in Gestalt des formallogischen beziehungsweise des hypothetisch-deduktiven Denkens erreicht. Doch auch Jugendliche und Erwachsene sind keineswegs rein logische Wesen, und es ist heute möglich, diese Tatsache mit Hilfe der bildgebenden Verfahren «ad oculos» (lat.: vor den Augen, sichtbar) zu demonstrieren. (Vgl. olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 35.) Um herauszufinden, was in piagets Reihenversuchen «wirklich» zum Ausdruck kommt, setzte man in einem ersten Versuchsteil acht Jahre alte Kinder vor unterschiedlich lange Steinreihen, in denen die Anzahl der Elemente nicht der Länge der Reihen entsprach; und erwartungsgemäß ermittelten die Kinder ganz richtig, daß die Regel «Länge gleich Anzahl» hier nicht angewandt werden darf; per Knopfdruck sollten die Kinder dieses ihr Ergebnis mitteilen, und gemessen wurde die Reaktionszeit, die sie für ihr Urteil benötigten. Alsdann zeigte man in einem zweiten Versuchsdurchgang denselben Kindern zwei Rei-

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hen, bei denen die Regel des primären Bewußtseins: «Länge gleich Anzahl» tatsächlich zutraf, und jetzt benötigten die Kinder bemerkenswerterweise mehr Zeit, um die richtige Feststellung zu treffen als Kinder, die am ersten Versuch nicht teilgenommen hatten; anscheinend hatten sie beim ersten Durchgang die Regel des phänomenalen Bewußtseins (Länge gleich Anzahl) unterdrücken müssen zugunsten des korrekten Urteils des reflexiven Bewußtseins, und dieses negative «Priming» (diese Vorbereitung auf eine Aufgabe durch einen vorangegangenen Reiz, von engl.: to prime – vorbereiten, prägen) verzögerte die Freigabe des ursprünglicheren Lösungsweges. (Vgl. olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 34 –35.) Bei Erwachsenen ließ sich sogar auf direktem Wege neurologisch beobachten, was im Gehirn geschieht, wenn uns systematische Verzerrungen des logischen Denkens unterlaufen bzw. wenn das phänomenale Bewußtsein unterdrückt wird, damit die unmittelbare Wahrnehmung das logische Denken nicht verzerrt und schließlich die richtige Lösung gefunden werden kann: «Zuerst arbeiteten Regionen im Hinterkopf, die für die Wahrnehmung zuständig sind (sc. die visuellen Areale im Hinterhauptslappen vgl. Abb. A 25; A 30; B 44, d. V.). Danach meldeten sich Gebiete des Vorderhirns: und zwar für logisches Denken, Abstraktion und Urteilsvermögen unabdingbare Areale im so genannten präfrontalen Cortex (sc. vgl. Abb. A 34; A 40; A 41; B 94, d. V.). Wir werden also in der Jugend mitnichten irgendwann zu rein logischen, ausschließlich präfrontal gesteuerten Wesen, wie Piaget postulierte. – . . . wie unsere Versuche (sc. die Versuche der Arbeitsgruppe um olivier houdé, d. V.) zeigen, kann sich das perzeptive oder phänomenale Bewusstsein mit seiner Hinterkopfaktivität selbst bei Erwachsenen jederzeit in den Vordergrund drängen. Damit wir nicht Irrtümern unterliegen, muß das phänomenale Bewusstsein zurückgedrängt werden. Diese Hemmung ist für den Zugang zum reflexiven Bewusstsein das Entscheidende. Die Unterdrükkung des perzeptiven Bewusstseins ist gewissermaßen der Schlüssel, damit das Stirnhirn übernehmen kann.» (olivier houdé: A. a. O., 35– 36) Offenbar arbeiten bei einem bewußten Akt der Erkenntnis mithin die verschiedenen Hirngebiete auf eine Weise zusammen, durch welche die beiden Formen des Bewußtseins (das phänomenale und das reflexive Bewußtsein) zu einer einzigen Melodie orchestriert werden; interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Aktivität im «rechten präfrontalen Cortex in einer tief gelegenen Region nahe der Mittellinie des Gehirns», einem Areal, das nach antonio r. damasio zwischen Denken und Fühlen vermittelt. (olivier houdé: Wie das kindliche Bewusstsein erwacht, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Be-

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wusstsein, 1/2004, 36) Für die Frage nach dem Selbstbewußtsein aber ist entscheidend, daß bereits das Scheitern eines Lösungsweges (auf der Ebene des phänomenalen Bewußtseins) seinerseits bewußt erlebt wird. «Sich seiner Irrtümer bewusst zu werden, verlangt, sich seiner selbst bewusst zu werden.» (olivier houdé: A. a. O., 36)

Im Alter von acht Monaten Halten wir also als neurologische Einsicht fest, daß das Alter von acht Monaten einen wichtigen «Meilenstein in der kognitiven Entwicklung» darstellt. «Dank der sich entfaltenden Stirnlappenaktivität kann das Baby zum ersten Mal sein Verständnis von der Welt in einen sinnvollen, wenn auch noch sehr einfachen Aktionsplan umsetzen.» (lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 582) Zugleich bildet diese Entwicklungsphase einen wichtigen «Meilenstein in der emotionalen Entwicklung . . ., der ebenso von der Reife der Stirnlappen abhängt: die Entstehung der Bindungsfähigkeit. So wie sich das Baby ab diesem Alter merken kann, wo ein Spielzeug versteckt wurde, und zielgerichtet handelt, um es sich zu holen, so ist es sich jetzt seiner wichtigsten Bezugsperson deutlich bewusst und tut alles, was in seiner Macht steht – quengeln, weinen, sich anklammern –, um sie in seiner Nähe zu halten. Die Bindung ist eine wesentliche Voraussetzung der kognitiven Entwicklung, da sie dem Baby eine sichere Basis verschafft, von der aus es die Welt erforschen kann . . . Mit der Reifung der Stirnlappen während der zweiten sechs Lebensmonate verbessern sich auch die Motivation, die Aufmerksamkeit und die Hemmungsfunktion, und all dies hilft dem Baby, sich – wenn auch nur kurz – auf die aufregenden Herausforderungen zu konzentrieren, die ihm bevorstehen. – Mit acht Monaten beginnt ein wunderbares Jahr begeisterter Erforschung und ungehemmter Zuneigung. In diesem Alter ist alles intensiv und aufregend, und trotzdem haben die Eltern nach wie vor ein anschmiegsames und gefügiges Baby.» (lise eliot: A. a. O., 582 –583) Noch einmal in der Terminologie von daniel n. stern: Der Entstehungsphase der Empfindung des subjektiven Selbst entspricht der Bereich intersubjektiver Bezogenheit. (Vgl. Abb. D 14.)

Zum Spracherwerb mit achtzehn Monaten Aufbauend auf diesen Entwicklungsschritten beginnt nun im Alter von 18 Monaten der Erwerb der Sprache (vgl. Abb. D 15) und damit der Eintritt in völlig neue Formen des Zusammenseins, der «Bezogenheit von Selbst und Ande-

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Abb. D 18: Querschnitt durch das Gehirn, der in den weißen und schwarzen Bereichen die obere Fläche des Schläfenlappens zeigt; das Planum temporale (schwarz) ist auf der linken Seite des Gehirns deutlich größer als auf der rechten Seite.

rem». (daniel n. stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 241; vgl. auch lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 583– 585.) Die Anfänge der Spezialisierung eines Teils der neuronalen Entwicklung auf die Sprache liegen bereits lange vor der Geburt. Abb. D 18 zeigt, wie bereits im sechsten Schwangerschaftsmonat das sogenannte Planum temporale (lat.: das planum – Fläche; temporalis – zur Schläfe gehörend, den Schläfenlappen betreffend; ein breites Dreieck an der Grenze zwischen Schläfen- und Scheitellappen, das – bei den meisten Menschen – linksseitig auch das wernicke-Zentrum einschließt; vgl. Abb. A 25; A 35; A 36; A 37) auf der linken Hirnhemisphäre sich beträchtlich größer entwickelt. Diese Asymmetrie ist bereits in der 29. Schwangerschaftswoche deutlich sichtbar und bei männlichen Babys ausgeprägter als bei weiblichen. (Vgl. lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 525– 526.) Bereits im Alter von etwa sieben bis acht Monaten (ca. 30 Wochen nach der Zeugung) reagieren die beiden Hirnhälften deutlich verschieden auf Laute der menschlichen Sprache, – eine Tatsache, die ebenso auf eine genetische Anlage des Sprachvermögens hinweist wie die Fähigkeit schon von Neugeborenen, zwischen ihrer Muttersprache und einer Fremdsprache zu unterscheiden; des-

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gleichen können Babys von Anfang an die Wortgrenzen erkennen – etwas, das einem deutschsprachigen Erwachsenen schon beim Erlernen des Französischen schwerfallen wird, von den Klangbildern etwa der Festlandsprachen in Südostasien ganz zu schweigen. (Vgl. lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 526; stephen matthew: Süd- und Südostasien, in: Bernard Comrie u. a.: Bildatlas der Sprachen, 62– 65.) Vor allem sind Säuglinge imstande, «praktisch alle Arten von Phonemen (sc. Laute; griech.: die pho¯ne¯ – Laut, Stimme, d. V.) . . . zu unterscheiden und zu kategorisieren». (lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 527) Diese Fähigkeit ist allerdings «kein Vorrecht unserer Spezies; viele andere Primaten und auch einige Säugetiere, die nicht der Ordnung der Primaten angehören, sind dazu ebenfalls in der Lage. Wie sich zeigt, ist das Nervensystem der Säugetiere überaus empfänglich für geringe Variationen in der zeitlichen Abfolge der sprachlichen Komponenten.» (lise eliot: A. a. O., 527) Doch obwohl menschliche Babys somit eigentlich bestens für den Spracherwerb ausgerüstet sind, entwickelt sich diese Fähigkeit in den ersten zwölf bis achtzehn Monaten nur erst wie im verborgenen; in ihren Gehirnen müssen noch etliche Schaltkreise angelegt werden, um ein Wortverständnis zu ermöglichen. (Vgl. lise eliot: A. a. O., 528; sowie Abb. A 35; A 36; A 37.) Gleichwohl erkennen Babys ursprünglich bei weitem mehr Phoneme als Erwachsene; mit dem Erlernen der Muttersprache geht diese Fähigkeit dann allerdings verloren, indem die Anlage spezifischer akustischer Schaltkreise auf Kosten der Verarbeitung fremdsprachlicher Laute erfolgt; erneut herrscht hier der «neuronale darwinismus » des «use it or loose it» – was man nicht braucht, fällt fort. Jenseits der sensiblen Phase des Spracherwerbs in der Kindheit erleben wir diese Tatsache zumeist als äußerst hinderlich für das Erlernen einer Fremdsprache: Bei Erwachsenen wird die linke Hirnhälfte beim Vernehmen einer fremdsprachigen Rede schon gar nicht mehr aktiviert! (Vgl. lise eliot: A. a. O., 530.) Babys hingegen eignen sich durch lallendes Nachahmen die Laute ihrer Umgebung so perfekt an, daß selbst der Akzent lokaler Dialektvarianten in ihre Aussprache Eingang findet. Das Lallen hebt bereits an mit etwa zwei Monaten, wohl weil die verschiedenen Motoneuronen, welche die Muskeln in Kehle, Mund und Zunge innervieren, in dieser Zeit die Myelinisierung aufnehmen. Überall auf Erden beginnen die Babys jetzt mit langen Vokalen wie Aaa oder Ooo, und fügen mit etwa fünf Monaten die ersten Konsonanten hinzu, die sie mit den Saugmuskeln der Lippen und der Zungenspitze bilden können, wie b, d, m, n, w und j. Auf diese Weise entstehen Lautwiederholungen wie mamama oder bababa. Mit zwölf Monaten können Kinder die meisten Vokale und etwa die Hälfte der Konsonanten der Muttersprache erzeugen, und sie fangen jetzt

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auch an, Silben zu mischen und erste echte Worte zu sprechen. Besonders wichtig ist dabei, daß der Unterschied von Laut und Bedeutung schon mit neun bis zehn Monaten überbrückt wird; ausschlaggebend dafür ist wohl die Anlage des menschlichen Gehirns, die dazu prädestiniert, drei Annahmen wie selbstverständlich zu setzen: daß ein Wort sich auf ganze Objekte (nicht auf deren Einzelheiten oder Eigenschaften) bezieht; daß ein Wort Gattungen (nicht besondere Individuen einer Gattung) bezeichnet; und daß Objekte nur einen Namen tragen. (Vgl. lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 532– 535.) «Dank dieser Annahmen erkennen Kinder rasch ein einzelnes Wort, mit dem sich die meisten Gegenstände benennen lassen, und aus einer neuen Bezeichnung für ein bekanntes Objekt, wie Sauger oder lila, können sie dann den Schluss ziehen, dass es sich dabei lediglich um einen Teil oder eine Eigenschaft des besagten Objekts handelt.» (lise eliot: A. a. O., 534) «An seinem ersten Geburtstag versteht das durchschnittliche Kind rund siebzig Wörter, vorwiegend Personennamen und Substantive als Bezeichnung für Gegenstände.» (lise eliot: A. a. O., 535) Zwischen zwei bis sechs Jahren lernt ein Kind täglich die Bedeutung von etwa acht neuen Wörtern (alle zwei Stunden im Wachzustand ein neues Wort!), so daß es im Einschulalter rund 13 000 Worte versteht. (Vgl. lise eliot: A. a. O., 535.) Diese «Wortexplosion» beginnt zwischen zwölf bis vierundzwanzig Monaten (typischerweise mit etwa achtzehn Monaten), begleitet von einem Wachstumsschub im Gehirn, vor allem in den Sprachregionen. (Vgl. lise eliot: A. a. O., 536 –537.) Mit achtzehn Monaten beginnt zudem die grammatikalische Explosion: die Kinder lernen, daß Wortstellung und Flexionsformen die Bedeutung von Worten festlegen. Noch ehe die Kinder selbst Zweiwortsätze bilden, verstehen sie bereits im Alter von sechzehn bis neunzehn Monaten die Bedeutung solcher Unterschiede im Satzgefüge. (Vgl. lise eliot: A. a. O., 537– 538.) Vom Beginn des dritten Lebensjahres an erweitern sie in rasantem Tempo ihre grammatikalischen Kenntnisse und fangen an, die Regeln zu beherrschen, nach denen Substantive, Verben, Adjektive etc. miteinander verbunden werden. (Vgl. lise eliot: A. a. O., 538 –540.) «Die Tatsache, dass alle Kinder auf sehr ähnliche Weise und nach sehr ähnlichem Zeitplan sprechen lernen, zeigt, wie tief die Sprachentwicklung in unserer biologischen Veranlagung verwurzelt ist.» (lise eliot: A. a. O., 540) Die Bedeutung der Sprachentwicklung selbst liegt darin, daß sie den – eigentlich einzigen – Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert und daß sie auch ontogenetisch (in der Entwicklung eines einzelnen Kindes) die entscheidende Schwelle zum symbolischen Denken kennzeichnet. Fortan ist das Kind Mitglied (s)einer Sprach- und Kulturgemeinschaft; es teilt das Verständnis der

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Bedeutungen, auf welche diese sich bei der Verwendung bestimmter Lautfolgen und grammatikalischer Regeln geeinigt hat. Gekoppelt ist dieser Fortschritt offenbar an die Aktivität des präfrontalen Cortex, der vor allem das zeitliche Nacheinander ermöglicht, das zu jeder Satzbildung gehört; verbunden damit ist die wachsende Fähigkeit zu planvollem Handeln, zu Selbstbeherrschung und zur gezielten Hemmung von Handlungsimpulsen. «Tatsächlich geht man davon aus, dass im Alter von achtzehn Monaten eine neue Phase der Selbstbewusstheit einsetzt, vielleicht der Beginn eines ersten echten Selbstverständnisses . . . Ein . . . Merkmal wachsender Selbstbewusstheit ist der Gebrauch von Wörtern wie ich, mich, mir oder mein, der ungefähr mit zwei Jahren . . . einsetzt. Vielleicht spiegelt das aufkeimende Selbstbewusstsein die seit neuestem bestehende Überlegenheit der linken Gehirnhemisphäre wider, die, wie wir von Erwachsenen wissen, in der Regel unser bewusstes Geistesleben beherrscht. Es könnte auch ein Ergebnis des reifenden Gyrus cinguli anterior sein, des limbischen Kerns im Stirnlappen, der . . . in vielerlei Hinsicht als Sitz des Bewusstseins agiert. Auf welcher neuronalen Grundlage das neu erworbene Selbstverständnis auch ruht, es ist ein Zeichen für die Entwicklung eines gesunden Ego, auch wenn es mit der vollkommenen Unschuld der Babyphase nun endgültig vorbei ist.» (lise eliot: Was geht da drinnen vor?, 584 –585)

β) Die Theorien von joseph e. ledoux und gerald m. edelman «Beim Phänomen des Bewußtseins von der eigenen Person stoßen wir also auf eine Variation unseres bekannten Themas: Was im Individuum geschieht, ist eng verknüpft mit dem, was zwischen ihm und anderen Menschen geschieht», resümiert peter hobson (Wie wir denken lernen, 210) seine Erfahrungen mit der Selbstwerdung von Kindern, und er trifft diese Feststellung in deutlichem Unterschied zu der Eigenart autistischer Kinder: «Für einen Autisten», schreibt er, «ist die Erfahrung der eigenen Person . . . offenbar kein fester Bezugspunkt, und er scheint eine relativ große Distanz zu seinem Gegenüber zu haben.» (peter hobson: A. a. O., 210) «Wie wir alle wissen, vergleichen sich die meisten Jugendlichen ständig mit Gleichaltrigen und grübeln darüber nach, ob sie so attraktiv oder stark wie die anderen sind, so viele Freunde haben wie sie oder sich in anderen Punkten mit ihren Freunden oder Mitschülern messen können.» Und er fährt fort, «daß das bei autistischen Jugendlichen nicht so ist, weil sie auf die Haltungen anderer kaum Bezug nehmen.» (peter hobson: A. a. O., 210 –211) «Sie (sc. autistische Jugendliche, d. V.) können ihren Körper beschrei-

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ben, ihr Tun, ihre Vorlieben und (in begrenztem Maße) ihre Gefühle. Aber sie sprechen nicht von nuancierteren Gefühlen und erwähnen vor allem nur selten Familie, Freunde oder Gleichaltrige. Sie ziehen kaum einmal Vergleiche zwischen sich und anderen.» (A. a. O., 217) In diesen Worten verbirgt sich der Hinweis auf einen Zusammenhang, dem wir philosophisch und theologisch bei der Frage nach «Ich» und «Person» unbedingt nachgehen müssen: Könnte es sein, daß mit dem Selbstbewußtsein ein neues spezifisches Problemfeld auftritt, in dem nicht mehr die Konkurrenz um die biologischen Grundlagen des Lebens, sondern die Konkurrenz um soziale Achtung und Beachtung die größte Rolle spielt? Hier stellt sich erst eine andere Frage. Wir haben ausführlich geschildert, wie das Symptom des Autismus durch ein Zuviel an Neuronen in den Hirnarealen, die für das Gedächtnis relevant sind: in Hippocampus, Amygdala und im entorhinalen Cortex, bedingt sein kann. Wir haben ferner gesehen, wie das Zuwenig eines einzigen Neurotransmitters: des Dopamin, die verheerenden Ausfälle der parkinson-Erkrankung nach sich zieht. Umgekehrt lernten wir als mögliche Erklärung einer so schweren psychischen Erkrankung wie der Schizophrenie eine modifizierte Form der Dopamin-Hypothese kennen: eine Überaktivität an den D2-Rezeptoren könnte tatsächlich die «positiven» schizophrenen Symptome verursachen. Demgegenüber ließ eine andere Erkrankung der gesamten Persönlichkeit: die Depression, sich – in der CRH-Hypothese – als (Ursache oder Folge) einer Fehlfunktion der Streßachse interpretieren oder auch – in der Monoamin-Hypothese – mit einer verminderten Aktivität noradrenerger und serotonerger Synapsen in Verbindung bringen (s. o. S. 108–111). All diese Befunde malten uns ein Bild der Persönlichkeit, deren seelisches Gleichgewicht, ja, deren Existenzbedingung in der «richtigen» Balance einer Reihe von Neurotransmittern (beziehungsweise Neuromodulatoren) besteht, die ihrerseits eine geordnete Zusammenarbeit der verschiedenen Hirnstrukturen allererst ermöglicht. Und als reichten all diese neurobiologischen Zusammenhänge nicht längst schon hin, um das, was gemeinhin als Ich, als Selbst oder als Person bezeichnet wird, erscheinen zu lassen wie ein Kerzenlicht, flackernd im Wind, brauchen wir uns nur die verschiedenen psychogenetischen Erklärungsversuche des depressiven oder schizophrenen Erlebens zu vergegenwärtigen (vgl. Abb. C 9; C 13; C 14; C 15 zur Depression; s. o. 227– 228 zur Schizophrenie) und uns zudem noch des Einflusses der prägenden Erfahrungen vor allem der frühen Kindheit auf den Aufbau der späteren Persönlichkeit, wie sie sich in die neuronalen Verschaltungen des Gehirns eingegraben haben, zu erinnern (vgl. Bd. I 278– 280; 674 –676). Wenn es bereits rein neurologisch betrachtet so viele «Fehlfunktio-

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nen» des Gehirns geben kann, die als Persönlichkeitsstörungen bis hin zum Psychotischen imponieren, so stellt sich freilich nur um so mehr die Frage nach dem schmalen Grat, der zwischen den Schluchten drohender Auflösung und Auslöschung zum Selbstbesitz einer sich durchsichtig gewordenen Persönlichkeit als der Aufgipfelung aller (bisherigen) Evolution auf dem Planeten Erde führt. Also fragen wir genauer: Welche neurobiologischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um «Selbstbewußtsein» zu ermöglichen? Oder anders gefragt: Gibt es eine neurologische Theorie, die ausreichend ist, um die Entstehung von Selbstbewußtsein erklärbar zu machen? Einbeziehen müssen wir in ein synthetisches neurologisches Konzept des Selbstbewußtseins jedenfalls diese zwei Aspekte: die Zusammenschaltung bestimmter getrennt arbeitender Module im Gehirn sowie die Art und Weise ihrer Integration durch die Wirkung bestimmter Neurotransmitter (oder Neuromodulatoren). Von der Synchronisation neuronaler Ensembles in den Assoziationscortices war bereits die Rede, um das «Bindungsproblem» der verschiedenen Sinneswahrnehmungen bei der Erfassung eines Gegenstandes zu lösen (vgl. Bd. I 447–450); vom neuronalen darwinismus haben wir gesprochen, mit dem die «stärksten» Erregungszustände sich den Zugang zum Bewußtsein erzwingen (s. o. 375); von der Konstitution des Zeitstroms des Bewußtseins (abhängig erneut von der «richtigen» Menge an Dopamin im Gehirn) hörten wir schon (s. o. 381); desgleichen von der Funktion des Arbeitsgedächtnisses, um auf einen bestimmten Wahrnehmungsinhalt bewußt reagieren zu können (s. o. 369); und schließlich von der Syntheseleistung des präfrontalen Cortex, in dem die Empfindungen und Wahrnehmungen, die inneren Repräsentationen des Wahrgenommenen, die Erinnerungen und Gefühle, die sie begleiten, zusammenlaufen, kurz: in dem die Möglichkeit bewußten Erlebens zustande kommt (s. o. 370). Doch was trägt das alles bei zur Erklärung von Selbstbewußtsein? Wie gelangt man vom primären (phänomenalen) zum sekundären (reflexiven) Bewußtsein? Und wie läßt neurologisch sich dieser Weg verständlich machen? Bestimmte Hirnstrukturen (der Hippocampus zum Beispiel) müssen ausreifen (myelinisiert werden), um in der Entwicklung eines Kindes die Empfindung eines subjektiven Selbst zu ermöglichen; doch warum ist das innerhalb des Aufbaus der «Neuronenmaschine» ein so wesentlicher Schritt für die Bildung von Selbstbewußtsein? Vor allem: Es wird keine rein reduktionistische Erklärung des Selbstbewußtseins (allein von unten nach oben) geben; zu beachten sind auch die Prozesse von oben nach unten, durch welche bestimmte Erfahrungsinhalte, Gefühle und Gedanken auf die neuronalen Vorgänge verändernd einwirken. Zwei Theorien vermögen wohl am besten den heutigen Stand neu-

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rologischer Zugangswege zum Selbstbewußtsein wiederzugeben: das «Zusammenfügen des Selbst» von joseph e. ledoux und die «Evolution» des Selbstbewußtseins, wie gerald m. edelman sie (sich) vorstellt.

I. joseph e. ledoux’ Konvergenzmodell In seinem Buch Das Netz der Persönlichkeit (engl. 2002) hat joseph e. ledoux versucht, die Etablierung des Selbst(Bewußtseins) als einen synthetischen Prozeß begreifbar zu machen, an dem eine Reihe von Einzelvorgängen beteiligt sind, die wir allesamt schon kennen; ledoux’ Konzept ist deshalb besonders geeignet, die Einsichten systematisch zusammenzufassen, die wir bereits über die Bedeutung bestimmter Hirnareale, über die Rolle der Neurotransmitter und über die Verschaltungen neuronaler Bahnen in der Hirnrinde bei der Entstehung bewußten Erlebens gewinnen konnten. Alles, was wir über die Informationsverarbeitung vor allem in den visuellen Cortexarealen zur Ermöglichung bewußter Wahrnehmung gesagt haben, aber auch die Lehren, die wir aus den biochemischen Fehlsteuerungen in Depression, Schizophrenie oder bei der parkinson-Erkrankung ziehen konnten, lassen sich auf diese Weise in ein knappes Resümee bringen. Alles beginnt mit dem uns bekannten Zusammenspiel von genetischen Faktoren, welche die einzelnen Schritte der neuronalen Entwicklung festlegen, und einer Vielzahl von Umwelteinflüssen, die auf Grund der Plastizität des Gehirns entsprechende Lernvorgänge (bzw. Anpassungsvorgänge) einleiten. Von daher dreht sich bei der Suche nach dem Zustandekommen von (Selbst)Bewußtsein alles um die Frage, «wie die synaptische Plastizität der verschiedenen neuralen Systeme, die an Aufbau und Aufrechterhaltung des Selbst beteiligt sind, koordiniert wird.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 404) ledoux formuliert dazu sieben «Prinzipien». 1) Alle neuralen Systeme nehmen spezielle Aufgaben wahr. Sehen, Hören, Riechen – diese Sinnesleistungen kommen durch die Funktion einzelner getrennt arbeitender sensorischer Hirnareale zustande (vgl. Abb. A 25; A 30; A 34; A 85; B 39; B 43; B 44; B 46 zur Verarbeitung visueller Informationen in bestimmten corticalen Arealen; vgl. Abb. A 25; A 32; A 34; A 35 zur Verarbeitung akustischer Informationen; vgl. Abb. A 34 zur Verarbeitung von Geruchsinformationen sowie Abb. B 59 zur Lage des vomeronasalen Organs und Abb. B 61 zum rückgekoppelten Weg von Geruchsinformationen); andere Systeme, wie die Amygdala, signalisieren mögliche Gefahren oder, noch spezieller, sie interpretieren, wie die basolaterale Amygdala, bestimmte Erfahrungen

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als «gut» (lustbringend) oder «böse» (unlustverbreitend). (Vgl. Abb. A 23; B 90; B 91; B 95; B 110; B 114; B 115; B 116.) Alle Organe des Gehirns aber sind natürlich Teile ein und desselben Gehirns, und so verarbeiten sie, wenn auch in verschiedenen Aspekten, ein und dieselbe Erfahrung. (Ganz entsprechend sagten wir schon in Bd. I 689, daß in die Angstkonditionierung im wirklichen Leben immer mehrere Reize gleichzeitig eingehen, und wir erinnerten im Zusammenhang dieser kontextuellen Konditionierung an den Begriff carl gustav jungs von den «Archetypen» als Urszenen des Unbewußten.) Die einzelnen Verarbeitungsmodule verhalten sich – im Bilde gesprochen – zueinander wie die verschiedenen Fabrikationsstätten ein und derselben Firma, die für die Herstellung eines Autos den Motor in Tschechien, das Getriebe in Polen, die Reifen in Frankreich und die Karosserie in Deutschland produzieren läßt: alle getrennt ablaufenden Fertigungsvorgänge machen nur Sinn, wenn sie aufeinander abgestimmt sind – irgendwann müssen sie in einer einzigen Montagehalle zusammengeführt werden. Ganz ähnlich erstellt auch das Gehirn nicht drei verschiedene Erfahrungen: eine visuelle, eine auditorische und eine olfaktorische, sondern es encodiert ein und dieselbe Erfahrung in drei verschiedenen parallel verarbeitenden Systemen. (Vgl. Abb. B 45.) Selbst wenn die verschiedenen «Fabrikationsstätten» im Prinzip dabei voneinander keine Kenntnis nähmen (es bestünde zwischen ihnen kein direkter Informationsaustausch), ergäbe sich schon allein durch die Form ihrer parallelen Verarbeitung gleichwohl eine funktionale Zusammengehörigkeit. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 404– 407.) Daher gilt: «Verschiedene Systeme erfahren dieselbe Welt.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 404) 2) «Neurons wire together, when they fire together» – wir haben diese Regel von donald olding hebb seinerzeit salopp übersetzt mit: «Neuronen kommen zusammen, wenn sie zusammen kommen.» (Vgl. Bd. I 288; 471.) Diese Regel bildet, wie wir sahen, das neuronale Korrelat der Psychologie des Lernens. Etwas Vergleichbares findet indessen nicht nur zwischen einzelnen Neuronen, sondern auch zwischen Neuronen-Ensembles statt: Die «Hebb’sche Plastizität bindet simultan aktive Zellen aneinander, sodass beim nächsten Mal, wenn derselbe oder ein ähnlicher Reiz eintrifft, wieder dieselben Zellen und Verbindungen aktiviert werden.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 409) Auf diese Weise werden ganze Neuronen-Ensembles nach einem räumlich-zeitlich exakt definierten Muster aktiv und repräsentieren so die Kombination von Einzelmerkmalen. Alle Neuronen, die zu einer solchen kollektiven Aktivität zusammengetreten sind, die also im selben Takt feuern, repräsentieren demnach das gleiche Objekt. Wir haben diese Synchronisations-

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hypothese (sowie als ihre Vertreter u. a. christoph von der malsburg, wolf singer und walter j. freeman, vgl. Bd. I 447–450) bereits vorgestellt, um das Bindungsproblem zu lösen (vgl. Abb. B 55) sowie das Auftauchen eines Wahrnehmungsinhaltes im Bewußtsein zu erklären (vgl. Abb. D 10; D 12); jetzt ist von Interesse, daß es zu einer solchen Synchronisierung (einer Abstimmung bzw. Bindung) auch zwischen ganz verschiedenen Netzwerken des Gehirns kommt. Um jene Frau im roten Kleid zwischen den Möbelstücken eines Zimmers als unsere Freundin zu identifizieren, müssen zum Beispiel die visuellen Areale, die Farben und Formen verarbeiten, zusammengeführt werden zu einem räumlichen Sehen (von dynamischen Formen und Bewegung) und (durch Aktivierung des Hippocampus) verknüpft werden mit der Erinnerung an ein «Objekt», und die Identifizierung dieses «Objekts» (der kognitive Akt) muß (durch Aktivierung zum Beispiel des anterioren Gyrus cinguli) mit einer adäquaten emotionalen Bedeutung verbunden werden: die wahrgenommene Frau löst einen Sturm von Gefühlen (der Liebe, der Sehnsucht, des Verlangens etc.) aus, in dem sich vergangene Inhalte mit aktualisierten Interessen und zukunftsgerichteten Erwartungen verbinden. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 407– 409.) «Synchronizität koordiniert parallel wirkende Plastizität», lautet daher das zweite Prinzip. (joseph e. ledoux: A. a. O., 407) 3) Bereits als wir uns mit den Vorgängen des REM-Schlafes und den Vorgängen im Traumbewußtsein beschäftigt haben, fanden wir eine Reihe von Hirnstrukturen, die an der Neurobiologie des Träumens ebenso beteiligt sind wie an der Gedächtnisaufbereitung; dazu zählten vor allem der Hirnstamm, der Hippocampus, der entorhinale Cortex und der präfrontale Cortex (vgl. Abb. B 21); gestoßen sind wir dabei auch auf das Wechselspiel zwischen den Schaltkreisen, die von der (caudalen) Formatio reticularis gesteuert werden: einmal von den exzitatorischen cholinergen REM-On-Neuronen im pontinen Anteil der caudalen Formatio reticularis und dann von den inhibitorischen noradrenergen und serotonergen REM-Off-Neuronen im Locus coeruleus und in den dorsalen Raphe-Kernen. (Vgl. Abb. B 17.) Mit einem Wort: Um zu erklären, wie Traumbewußtsein zustande kommt, bedürfen wir des Einflusses der monoaminen Neurotransmitter (oder Neuromodulatoren). Als wir dann die Hirnregionen betrachteten, die wesentlich am Zustandekommen des Wachbewußtseins beteiligt sind (erneut die Formatio reticularis, dann aber vor allem der Thalamus und die übergeordneten Cortices sowie die Assoziationscortices: der mittlere Bereich des frontalen Cortex, der hintere Gyrus cinguli und der Praecuneus, vgl. Abb. D 3), trafen wir erneut auf die unerläßliche Wirkung der Substantia nigra, des Locus coeruleus und der Raphe-Kerne, mithin der Neurotransmitter

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Dopamin, Noradrenalin und Serotonin; vor allem die Wirkung von Dopamin und Noradrenalin auf den präfrontalen Cortex erwies sich als ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Bewußtseinsvorgängen (vgl. Abb. D 5). Warum diese Monoamine so wichtig sind, um Bewußtsein möglich zu machen, ist klar: Sie modulieren die Stärke der Informationsübertragung an den neuronalen Synapsen, – mit den größten Folgen. Fast erschrocken mußten wir feststellen, wie Gesundheit oder Krankheit des psychischen Geschehens bei Depressionen wie bei Schizophrenien entscheidend von dem modulatorischen Einfluß eben dieser Stoffe abhängt. Hinzu kommt, daß, anders als etwa Glutamat oder GABA, deren Aktivität in Millisekunden mißt, die Effekte der genannten Modulatoren sekundenlang anhalten können (vgl. Bd. I 89– 90); von daher sind sie imstande, eine Vielzahl von Prozessen gleichzeitig zu beeinflussen, also die Aktivität parallel arbeitender Systeme miteinander zu koordinieren. Nur deshalb ist es überhaupt möglich, verschiedene Elemente einer Erfahrung (die visuelle, akustische, olfaktorische, motivationale und emotionale Bedeutung ein und derselben Wahrnehmung) simultan zu erleben und die einzelnen Aspekte aus den verschiedenen parallel verarbeitenden sensorischen Modulen zu einer einzigen Gestaltwahrnehmung zu integrieren (das «Bindungsproblem») sowie das einheitlich Erlebte in mehreren Systemen getrennt abzuspeichern. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 410 –414.) Daraus folgt als das dritte Prinzip: «Parallel wirkende Plastizität wird auch durch modulatorische Systeme koordiniert.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 410) 4) Des weiteren muß es Zonen im Gehirn geben, in denen die Resultate der parallel verarbeitenden und über Neuromodulatoren miteinander koordinierten Systeme zusammenlaufen,– bezeichnen wir sie mit ledoux als corticale Konvergenzzonen. In der Evolution des (Selbst)Bewußtseins stellen solche Konvergenzen eine Art Gradmesser für die Höhe der erreichten Stufe von Bewußtsein dar. «Viele Tierarten», schreibt ledoux, «verfügen über mehrere voneinander unabhängige Lernsysteme, die durch Modulator-Substanzen und synchrone Aktionspotenziale zu simultanem Lernen gebracht werden können, aber nur manche Tierarten haben Konvergenzzonen in ihrem Kortex. Die kognitive Komplexität einer Säugetierart lässt sich gut daran ablesen, wie viel Konvergenz in ihrem Kortex vorhanden ist. Bei Menschen ist sie zum Beispiel in höherem Maße gegeben als bei Affen, und bei Affen geht sie weiter als bei Ratten. Wenn in zwei Regionen, die Impulse in eine Konvergenzzone schicken, simultane Plastizität wirksam wird und es in ihnen zu Neuverschaltungen kommt, werden sich wahrscheinlich auch in der Konvergenzzone Neuverschaltungen bilden, weil sie den hohen Aktivitätsgrad registriert, der bei den

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Neuverschaltungen in den einzelnen Regionen auftritt. Und natürlich wirken auch Synchronizität und Modulatoren auf Konvergenzzonen ein und steigern ihre Fähigkeit, Informationen über Systeme hinweg zu integrieren.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 414) Im Grunde stellt das «Prinzip» der Einführung corticaler Konvergenzzonen in der Evolution nur eine Erweiterung derjenigen Verfahren dar, die wir bereits bei der (Weiter)Verarbeitung von Informationen innerhalb ein und desselben (Wahrnehmungs)Systems beobachten konnten. Führen wir uns nur noch einmal vor Augen, wie die wichtigsten visuellen Cortexareale wechselseitig zusammenarbeiten (vgl. Abb. B 44), um schließlich das gemeinsame Arbeitsergebnis über die ventrale («was») und die dorsale («wo») Bahn an den präfrontalen Cortex zu leiten (vgl. Abb. B 46), so haben wir ein gutes Beispiel, wie parallel arbeitend, funktionell untergliedert und hierarchisch angeordnet die einzelnen Schritte der Informationsverarbeitung innerhalb ein und desselben sensorischen Systems ablaufen (vgl. Abb. B 45). Jede höhere Stufe des Verarbeitungsweges hängt dabei vom Arbeitsertrag der vorherigen ab. So sahen wir, wie orientierungsspezifisch die Neuronen der primären Sehrinde (in der Area striata, in V 1) arbeiten (vgl. Abb. B 34); die meisten Neuronen reagieren in dieser Zone ausschließlich auf Kanten oder Grenzen in bestimmter Ausrichtung, und auch das oft nur, wenn diese sich in einer bestimmten Richtung bewegen; dann aber werden diese grundlegenden Informationen auf komplexe Weise weiterverarbeitet: einmal in komplexen und hyperkomplexen Zellen (vgl. Abb. B 37), dann durch die Anordnung der binokularen Neuronen in Dominanzsäulen (vgl. Abb. B 38). Das alles geschieht bereits in der primären Sehrinde; und Stufe um Stufe geht es dann in anderen visuellen Feldern weiter zur Wahrnehmung von Bewegung, Farbe und Form (vgl. Abb. B 43). Wir sind des weiteren schon darauf vorbereitet, die obere Partie des präfrontalen Cortex als die Konvergenzzone räumlicher visueller Informationen («wo») zu betrachten, während die untere Partie des präfrontalen Cortex die Informationen von Eigenschaften wie Farbe oder Form («was») integriert (vgl. Abb. B 46). Da in den Zellen einer nächsthöheren Stufe also Inputs von Zellen eingehen, die bereits mehrere Elemente eines Objekts wiedergeben, werden jeweils immer größere Ausschnitte des Wahrnehmungsgegenstandes repräsentiert. So kommt es zu einer Konvergenz, die sich aufwärts über alle Hierarchieebenen eines einzelnen (sensorischen) Systems fortsetzt. Ist aber erst einmal Konvergenz innerhalb eines sensorischen Systems, zum Beispiel innerhalb des Sehsystems, erreicht, so stellt sich auch eine Konvergenz zwischen anderen Systemen (zum Beispiel mit dem auditorischen oder olfaktorischen Wahrnehmungssystem) her. Gerade in dieser

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Fähigkeit, ganz verschiedene Arten von Informationen zu einem übergeordneten Ganzen zusammenzufügen, liegt die Bedeutung des präfrontalen Cortex als einer der wichtigsten Konvergenzzonen. Insbesondere bilden die Areale des präfrontalen Cortex mit dem Aufbau des Arbeitsgedächtnisses die Grundlage für planvolles Handeln und Entscheiden, und sie sind entsprechend in die vielschichtigsten kognitiven Hirnfunktionen eingebunden. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 414– 417.) Neben dem präfrontalen Cortex zählt auch der posteriore parietale Cortex zu den besonders wichtigen Konvergenzzonen: linksseitig dienen die in ihm zusammengeführten Resultate dem Sprachverständnis, rechtsseitig der räumlichen Kognition. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 416 –417.) Eine dritte wichtige Konvergenzzone haben wir im Schläfenlappen in Gestalt des Gyrus parahippocampalis kennengelernt (vgl. Abb. A 22; A 23); die Area entorhinalis innerhalb dieser Struktur erhält, wie wir sahen, nicht nur vielfältige neocorticale Afferenzen, sondern auch Zuleitungen aus dem Riechhirn und der Amygdala (vgl. Bd. I 111–112; 114) sowie über das Septum auch Impulse aus dem Hirnstamm (vgl. Bd. I 364 –365; Abb. B 21); auf diese Weise kommen an dieser Stelle eine Fülle von sensorischen Informationen zusammen, während gleichzeitig efferente Faserverbindungen von der Area entorhinalis zum Hippocampus dafür sorgen, daß ein breiter Datenstrom für den Aufbau eines expliziten Langzeitgedächtnisses zur Verfügung gestellt wird (vgl. Bd. I 311– 312; Abb. B 7). Außerdem erhält der Hippocampus – wie wir ebenfalls schon wissen (vgl. Bd. I 114) – afferente Fasern aus dem Thalamus, den wir als «das Ein- und Ausgangstor der Großhirnrinde» bezeichnet haben (vgl. Bd. I 102). Auf die Bedeutung des Thalamus für die Ermöglichung von Bewußtsein haben wir gleichfalls bereits hingewiesen (vgl. Abb. D 6). Der Thalamus zusammen mit dem Hippocampus wird auf Grund dieser Zusammenhänge allgemein als das «Tor zum Bewusstsein» angesehen (vgl. gerhard roth: Gleichtakt im Neuronennetz, in: Gehirn und Geist, 1/2002, 40). Der Hippocampus selbst stellt demnach im medialen Temporallappen eine Konvergenzzone dar, in welcher die ganz verschiedenen Repräsentationen der einzelnen sensorischen Systeme zu einer einzigen Gedächtnisrepräsentation zusammengeführt werden. Auf diese Weise formen sich Erinnerungen, in denen Elemente integriert sind, die gesondert und implizit in anderen Systemen encodiert wurden (vgl. Bd. I 311– 312; 364 –365); diese Erinnerungen können dann als ganze ins Arbeitsgedächtnis gerufen und damit bewußt gemacht werden. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 416– 418.)

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Als viertes Prinzip für die Zusammenfügung des Selbst(Bewußtseins) läßt sich daher festhalten: «Konvergenzzonen stimmen parallel wirkende Plastizität aufeinander ab.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 414) 5) In all dem handelt es sich um Vorgänge, die von unten nach oben verlaufen. (Vgl. Abb. B 45.) Doch ist es nicht möglich, das Bewußtsein bloß als ein Produkt solcher Bottom-up-Prozesse zu verstehen. Bewußtsein, so sagten wir, kommt nur zustande, indem bestimmte Wahrnehmungen aus der Flut eingehender Informationen herausgenommen und in Form des Arbeitsgedächtnisses auf (kurze) Dauer gestellt werden; damit verbunden ist die Möglichkeit, das gegenwärtige Erleben mit erinnerten Situationen zu vergleichen und daraus geeignete Reaktionsweisen abzuleiten. Das aber setzt voraus, daß insbesondere der präfrontale Cortex auf die Verarbeitungshierarchie der sensorischen Systeme zurückwirken und auf die motorischen Zentren Einfluß nehmen kann. Der von unten nach oben verlaufende Verarbeitungsprozeß von Informationen muß daher – ganz entsprechend dem Wechselspiel zwischen niederem und höherem Gehirnareal, wie wir es bei der Verarbeitung visueller Informationen kennengelernt haben, vgl. Abb. B 56 – ergänzt werden durch einen von oben nach unten gerichteten Prozeß. Und an solchen Top-down-Vorgängen hat es keinen Mangel. Immer wieder – bei der Ausbildung einer Suchtproblematik, bei der Entstehung und Verarbeitung von Angst und Streß, bei der Genese psychosomatischer und psychoneurotischer Erkrankungen, vor allem auch bei der Besprechung psychotischer depressiver und schizophrener Bewußtseinszustände – haben wir hervorgehoben, daß eine rein neurologische (objektive, reduktionistische, kausale) Betrachtungsweise ergänzt werden müsse durch eine gebührende Berücksichtigung der inhaltlichen Seite des subjektiven Erlebens: Welche Erfahrungen aus Kindertagen, welche Einstellungen, welche Haltungen und Überzeugungen prägen das Bewußtsein eines Menschen und legen ihm von vornherein bestimmte Reaktionsweisen zur Lösung bestehender Konflikte nahe? Postuliert haben wir dabei stets eine philosophische beziehungsweise theologische Auseinandersetzung mit den betreffenden Infragestellungen. Doch eines ist es, sich mit Bewußtseinsinhalten auseinanderzusetzen, also zu sehen, was an neuen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen dazu beitragen kann, ungünstig wirkende mentale Inhalte zu verändern, und ein anderes ist es, mit neurologischen Mitteln die Wege nachzuzeichnen, auf denen bestimmte «konvergente Repräsentationen» (Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Deutungen, Erinnerungen, Gefühle oder Gedanken) auf die unteren Ebenen der Verarbeitungshierarchie zurückwirken.

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Sehr wichtig ist es an dieser Stelle schon, etwaige mystizistische Implikationen zu vermeiden. Denn zweifellos befinden wir uns jetzt im Zentrum gerade dessen, was philosophisch als das Leib-Seele-Problem diskutiert wird: wie können neuronale («leibliche», materielle) Vorgänge (Selbst)Bewußtsein (also «Seele», «Geist») erzeugen und wie kann das (Selbst)Bewußtsein umgekehrt auf die neuronalen Vorgänge Einfluß nehmen? Die Antwort, die ledoux in seiner Darstellung gibt, erscheint tatsächlich nicht nur als ein plausibler Vorschlag zur Lösung dieses uralten Problems, sie ist nach allem, was wir über die Steuerfunktion des Gehirns bei einer Vielzahl von homöostatischen Prozessen gelernt haben, ganz einfach folgerichtig. So sahen wir zum Beispiel vorhin noch, wie bestimmte synchron schwingende Neuronen-Ensembles sich in Konkurrenz zu anderen synchron schwingenden Nervenzellgruppen Zugang zum Bewußtsein verschaffen; dann aber, sobald im Arbeitsgedächtnis derartige Bewußtseinsinhalte (Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken) sich bilden, legen diese Inhalte selber (beziehungsweise die Bedeutungsverleihungen aus dem limbischen System, die ihnen eine entsprechende – subjektiv empfundene – Gewichtung beimessen) die Aufmerksamkeitslenkung, die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Reizen und Bewußtseinsinhalten sowie den Spielraum möglicher Entscheidungen fest. Insbesondere der cinguläre Cortex, der sozusagen zwischen dem limbischen System und der Großhirnrinde steht, ist für die Aufmerksamkeitssteuerung und für die emotionale Bedeutungsverleihung, zum Beispiel von Schmerzempfindungen oder Gefühlen der Liebe, wie wir wissen, entscheidend. (Vgl. Bd. I 119; 166; 357; 583; 593; 613; 616.) «Diese exekutiven Steuerfunktionen des Arbeitsgedächtnisses . . .», schreibt ledoux, «beruhen darauf, dass der präfrontale Kortex, ebenso wie andere Konvergenzzonen, Projektionen sozusagen erwidert. Das heißt, von ihm laufen zu den Regionen, aus denen die konvergenten Inputs kommen, in umgekehrter Richtung Axone zurück. Das Arbeitsgedächtnis kann dadurch, dass es die richtigen Fäden zieht (also die richtigen Axone aktiviert), das Geschehen in den Regionen lenken, mit denen es verbunden ist, und die Verarbeitung von Reizen, die mit seiner momentanen Aufgabe zu tun haben, anregen und die Verarbeitung anderer Reize unterdrücken.» (Das Netz der Persönlichkeit, 418) Entscheidend, um diese Aussage zu verstehen, ist es allerdings, jeden Rest an kausalem Dualismus aufzugeben, also nicht länger «Gedanken» für etwas «wesenhaft Geistiges» zu erklären, das sich von allem Materiellen (etwa dem Muster synaptischer Übertragungen) prinzipiell unterscheide. Die Art von Kausalität, die wir in der Welt der «Creatura» den Informationen zugeschrieben haben, basierte ja gerade darauf, daß «Geist» sich als eine Eigenschaft von kom-

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plexen Systemen (also von materiellen Strukturen, die in dynamischer Rückbezüglichkeit sich selbst organisieren) begreifen läßt; die Wirkungsweise dieser materiellen Strukturen selbst ist die «geistige» Einwirkung. Oder noch einmal in den Worten von ledoux: «Wenn ein Gedanke ein Muster synaptischer Übertragungen innerhalb eines Netzes von Hirnzellen ist – und das ist er zweifellos –, dann folgt daraus, dass gedankliche Hirnaktivität die Aktivität in anderen Hirnsystemen, die mit Wahrnehmung, Motivation, Bewegung und so weiter befasst sind, beeinflussen kann. Das ist aber noch nicht alles: Wenn ein Gedanke ein Aktivitätsmuster in einem neuralen Netz ist, kann er ein anderes Netz nicht nur zur Aktivität, sondern auch zur Veränderung oder Plastizität anregen. – Um eine Synapse zur Plastizität zu bewegen, ist nur die richtige Art von synaptischer Aktivität erforderlich.» (Das Netz der Persönlichkeit, 419) Da dieser Punkt für die sich anschließende philosophische bzw. theologische Diskussion von ausschlaggebender Bedeutung ist, sollten wir betonen, daß das, wovon wir gerade sprechen, einen Vorgang darstellt, der weit unterhalb bewußter Steuerprozesse vielerorts im Gehirn statthat und seinerseits offenbar allererst die Grundlage dafür bildet, daß es auf einer höheren Ebene der Konvergenz so etwas wie Bewußtsein und Selbstbewußtsein überhaupt geben kann. Erinnern wir uns nur an die folgenden zwei Gegebenheiten. Wir stellten soeben noch fest, daß die Einführung corticaler Konvergenz lediglich diejenigen Verfahren weiterführt, die – unter anderem innerhalb des visuellen Wahrnehmungssystems – den gesamten Verarbeitungsweg von Informationen kennzeichnen; und dasselbe können wir jetzt auch umgekehrt von der Rückwirkung sagen, die das Bewußtsein auf die mit ihm verschalteten Hirnsysteme ausübt: auch sie setzt lediglich von oben nach unten eine Methode fort, die Stufe für Stufe ohnehin in Anwendung steht. Keineswegs erfolgt der Informationsfluß einlinig von unten nach oben, vielmehr haben wir es immer mit dem uns schon bekannten «Ping-Pong-System» der Verarbeitung zu tun, mit dem Wechselspiel zwischen niederen und höheren Gehirnarealen, bei dem das höhere Areal nach Analyse eines Inputs eine Synthese (eine Interpretation) vorschlägt, die es an das niedere System zurückmeldet, bis daß nach einem längeren Hin und Her beide Areale sich auf eine vertretbare «Ansicht» verständigen. (Vgl. Abb. B 56.) Damit ein solcher Dialog zwischen Informationsangeboten und Interpretationsvorschlägen zustande kommt, bedarf es natürlich entsprechender cortico-corticaler Bahnen zwischen dem höheren und dem niederen Cortexareal. (Vgl. Abb. B 57.) Was demgemäß entlang dem gesamten Verarbeitungsweg von (sensorischen) Informationen auf den einzelnen Konvergenzstufen unbewußt geschieht – die Erstellung einer Synthese, die den In-

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put der jeweiligen Verarbeitungsstufe deutet –, genau das geschieht auch im Bewußtsein, nur daß hier, auf der Endstufe des Verarbeitungsweges, die Synthese eine gewisse Endgültigkeit beansprucht und zugleich die entsprechenden Verhaltenskonsequenzen festlegt. Um diese Vorstellung über die Eigenart und Funktionsweise des (Selbst)Bewußtseins zu akzeptieren, ist es gleichermaßen unerläßlich, die philosophisch wie theologisch vielfach überkommene Identifizierung von Geist und Bewußtsein und von Bewußtheit und Freiheit aufzugeben. «Geist» ist nicht identisch mit «Bewußtsein», und «Bewußtheit» ist nicht dasselbe wie Freiheit. Die Rückmeldungen des Bewußtseins an die «niederen» Systeme erfolgen ja im Prinzip nicht anders als die unbewußten (unfreien, automatischen) Ping-Pong-Spiele auf den unteren Verarbeitungsstufen. Mit anderen Worten: es ist nicht nötig, ein Konzept von der Entstehung des Bewußtseins aufzustellen, das sogleich mit der im Grunde ganz verschiedenen Frage nach der möglichen Existenz oder Nicht-Existenz von Freiheit verknüpft ist. Als ein zweites Beispiel legt sich nach allem Gesagten die Dynamik psychotischer Erkrankungen nahe. «Wahnideen» imponieren als erstes als Ideen; sie sind zweifellos etwas Geistiges. Gleichzeitig aber erscheinen sie als Resultate einer Synthese, die das Bewußtsein aus den Elementen einer Fülle von Erfahrungen zu erstellen sucht, die in verschiedenen Hirnsystemen encodiert sind. Die Art dieser «Ideen» entscheidet nicht nur über die Verhaltensweisen eines Patienten, sie verändert auch den «inneren» (hormonellen, biopsychologischen) Zustand eines geistig Kranken und lenkt zudem seine Aufmerksamkeit in eine Richtung, in welcher er weitere zu seinem Wahnsystem passende Informationen zu sammeln vermag. Dabei wissen wir bereits, wie wichtig bei allen seelischen Störungen der Faktor der Angst ist. Und nun brauchen wir uns nur noch zu erinnern: Um ein Angsterlebnis adäquat zu verarbeiten, stehen zwei verschiedene Wege zur Verfügung: eine «Expreßleitung», die vom Thalamus unmittelbar zur Amygdala geschaltet wird, und eine corticale Verarbeitungsbahn, die es erlaubt, auf den Anblick zum Beispiel einer Spinne nicht unbewußt mit Ekel oder Panik zu reagieren, sondern mit «Vernunft» (vgl. Abb. B 115, aber auch Abb. B 114; zu den Gehirnregionen, die Informationen an die Amygdala weitergeben, vgl. Abb. B 116; zum inneren und äußeren Verschaltungsplan der Amygdala selbst vgl. Abb. B 95); anderenfalls genügt es, daß die Amygdala über den Hypothalamus die Reaktion des sympathischen Nervensystems durch Aktivierung der Streßachse (vgl. Abb. B 117, aber auch B 113) einleitet und über das periaquaeductale Grau (PAG) im Mittelhirn geeignet erscheinende Verhaltensreaktionen auslöst (vgl. Abb. B 114), und wir sehen eine

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Fülle von Koordinationen untergeordneter Systeme vor uns. Dieses Beispiel zeigt nicht nur den Mechanismus einer unbewußten, automatisch ablaufenden Angstreaktion auf, es macht auch deutlich, wie wichtig die Veränderungen (die Löschung von Angstreaktionen) sind, die das Bewußtsein (neurologisch: insbesondere der mittlere Bereich des frontalen Cortex) gegenüber den untergeordneten Hirnsystemen (etwa in der Amygdala) hervorrufen kann (vgl. Abb. D 3). Allerdings ist klar, daß dieser Beeinflussungsmöglichkeit von seiten des Bewußtseins (durch Konvergenzzonen im präfrontalen Cortex) Grenzen gesetzt sind. Wenn etwa ein – angstbedingter – Ausstoß von Noradrenalin die bewußte Informationsverarbeitung vom präfrontalen Cortex weg in Richtung der automatisch arbeitenden subcorticalen Regionen verschiebt, so kann die «Realitätskontrolle» des Bewußtseins über die eigenen Gedanken und Verhaltensweisen leicht verloren gehen (vgl. Abb. D 5). Gleichwohl läßt sich generell feststellen: Die Rückkopplungsfunktion des Bewußtseins auf die unteren Verarbeitungssysteme stellt kein zusätzliches Ingredienz des Bewußtseins dar, – sie bildet den «Zweck», für den es überhaupt hervorgebracht wurde. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 418 –419.) In der Sprache von joseph e. ledoux lautet daher das fünfte Prinzip: «Auf untergeordnete Ebenen einwirkende Gedanken koordinieren parallel wirksame Plastizität.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 418) 6) Aber natürlich, wenn wir schon Beispiele für das Zusammenwirken von präfrontalem Cortex und limbischem System wählen, beeinflussen Gefühle die untergeordneten Systeme noch stärker als Gedanken – wenn es denn überhaupt die einen ohne die anderen gibt: Ein Weltbild voller paranoischer Gedanken muß das Gefühl von Angst erzeugen – mit all den psychosomatischen Folgen, die ein chronisches Angstgefühl zwingend nach sich zieht; und ein ständiges Gefühl von Streß wird eine depressiv getönte Weltsicht voller angsterfüllter Gedanken zur Folge haben. Ausführlich haben wir dabei beschrieben, wie vor allem die Amygdala die Nabe im Rad der Angst bildet (vgl. Bd. I 689– 691; Abb. B 116), indem sie über den Hypothalamus und über den Hirnstamm die Effektorsysteme aktiviert und damit psychosomatische Erkrankungen aller Art hervorrufen kann (vgl. Abb. B 117); andererseits sahen wir auch, wie der präfrontale Cortex mit seinen kognitiven und emotionalen Funktionen die neuronale Kontrolle über ein angstbedingtes Verhalten zu übernehmen vermag (vgl. Abb. B 110). Selbstbewußtsein in all seinen Erscheinungsformen läßt sich von daher nicht verstehen ohne die Psychologie und Neuroanatomie bzw. -physiologie von Gedanken und Gefühlen, – bis dahin, daß die Art des Selbstbewußtseins sich qualitativ verändert je nach den mentalen und emotionalen

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Inhalten, die es besetzt halten und die Aktivitäten einer Reihe zugehöriger Subsysteme koordinieren. Auch die entsprechenden Motivationszustände (die Suche nach Nahrung, Ruhe, Sicherheit, Sexualität) sowie die jeweils herrschenden Empfindungen (insbesondere von Hunger und Durst, von Erschöpfung, von Hitze und Kälte oder von Schmerz und Lust) müssen in die Betrachtung einbezogen werden. Noch ehe zum Beispiel eine Schmerzempfindung über die C-Fasern (über die langsam leitenden Schmerzfasern) zum Bewußtsein durchdringt, durchläuft sie, wie wir sahen, ein ausgeklügeltes Kontrollsystem, bei dem eine absteigende Bahn vom Gehirn durch die Ausschüttung von Serotonin exzitatorisch auf ein spinales Interneuron einwirkt, das wiederum mittels der Abgabe von Enkephalin (vgl. Abb. B 69) hemmend die Schmerzübertragung von der Endigung der C-Faser auf das Zielneuron (das reizempfangende Rückenmarksneuron, das Schmerzsignale an das Gehirn weiterleitet) moduliert (vgl. Abb. B 70). Bereits auf lokaler Ebene kommt es demnach zu einem Zusammenwirken von aufsteigenden Informationen und absteigenden Reaktionen. Zugleich – so hörten wir – führt die langsame Schmerzbahn (der Tractus palaeospinothalamicus) auch durch die Strukturen des limbischen Systems (vgl. Abb. B 68), – die Schmerzempfindung formt das Gefühl der Selbstwahrnehmung und veranlaßt eine Fülle von mehr oder minder bewußten Reaktionen, die nur durch eine Koordination der jeweiligen Effektorsysteme möglich sind: die Bewegungsweise, die Körperhaltung, die Nahrungsaufnahme, die Bekleidung, die Einstellung zu sich selbst und zu anderen Menschen, kurz: die gesamte Lebensführung kann sich schlagartig ändern durch einen Unfall, durch einen Bandscheibenvorfall, durch einen Hexenschuß, durch eine Venenentzündung . . . Die «Konvergenzzone», in welcher die Bewertung von Motivationen und Gefühlen erfolgt und die Konsequenzen des eigenen Handelns überprüft werden, ist der orbitofrontale Cortex (vgl. Abb. A 34; B 94), der «auch als ‹Sitz› von Moral und Ethik und damit unseres Gewissens angesehen» wird. (gerhard roth: Gleichtakt im Neuronennetz, in: Gehirn und Geist, 1/2002, 44) Besonderer Beachtung wert ist dabei die Tatsache, daß die verschiedenen Bedürfnisse und Emotionen zum Teil einem zyklischen (circadianen) Rhythmus folgen, während sie andererseits nach dem Grad des jeweiligen Geltungsanspruchs einander überlagern oder gar ausschließen: plötzlicher stechender Schmerz etwa wird als wichtiger bewertet denn das schönste Mittagessen oder der lustvollste Sexualkontakt; Müdigkeit kann als so stark empfunden werden, daß alle anderen Erlebnisweisen und Aktivitäten dahinter ersterben; Hunger und Kälteempfindungen können die Stoffwechselvorgänge so weit einschrän-

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ken, daß ein extremes Schlafbedürfnis die Folge ist; umgekehrt kann der bloße Anblick einer geliebten Person heftigste Gefühle freisetzen, die Hunger und Müdigkeit ausschließen und sogar starke Schmerzempfindungen eine Weile lang «vergessen» lassen. Starke Motivationszustände und Emotionen fokussieren zudem die gesamte Aufmerksamkeit (bei Hunger gilt der Blick nur noch den Nahrungsmitteln, bei Erschöpfung nur noch den Bänken im Park, bei Harndrang nur noch der nächsten «Gelegenheit» . . .), und zugleich blockieren sie andere Empfindungs- und Emotionssysteme; sie besetzen – für eine Weile – das ganze Bewußtsein, – ein Zustand, der sich bei der Beschäftigung mit bloßen Gedanken nur selten einstellen wird. (Vgl. joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 420– 422.) Von daher ergibt sich das sechste Prinzip: «Emotionale Zustände belegen Hirnressourcen mit Beschlag.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 420) Und: «Emotionale (sc. insbesondere positive, d. V.) Zustände fördern die Entwicklung und Vereinheitlichung des Selbst, weil sie parallele plastische Vorgänge im gesamten Gehirn aufeinander abstimmen.» (joseph e. ledoux: A. a. O., 422) 7) Allerdings fällt es – auch außerhalb psychoneurotischer oder psychotischer Erlebniszustände – nicht leicht, die Integrationsleistung aufrechtzuerhalten, die für die Bildung von Selbstbewußtsein unerläßlich ist. Integriert werden müssen die inneren wie äußeren Wahrnehmungen (mithin die Informationen der internen homöostatischen und der propriozeptiven sowie der sensorischen Systeme; vgl. Abb. D 8), die emotionalen Bedeutungen der Wahrnehmungsinhalte (mithin die Botschaften aus dem limbischen System) und die Assoziationen und Folgerungen, die sich als Gedanken, Erinnerungen, Bewertungen und Handlungsabsichten dem Bewußtsein aufdrängen. Der wichtigste Ort im Gehirn, an dem diese Integrationsleistung erfolgt, ist, wie gesagt, der präfrontale Cortex, doch seine Arbeitsweise kann relativ ungestört nur erfolgen, wenn er nicht in seiner Kontrollfunktion vorübergehend außer Kraft gesetzt wird – wie etwa unter Streß durch einen Ausstoß von Noradrenalin (s. o. S. 227) – oder wofern nicht zum Beispiel das System der Erinnerung (die encodierten Inhalte des Langzeitgedächtnisses) eine «Integration» (eine kohärente Interpretation der eigenen Biographie oder des Zusammenhangs der äußeren Erfahrungen in der «Welt») unmöglich macht – wie es im schizophrenen Erleben der Fall ist –, bis hin zum Zerfall der Persönlichkeit im Rahmen zum Beispiel eines Posttraumatischen Streß-Syndroms (PTSD) mit der Gefahr der Entstehung einer «multiplen Persönlichkeit». (Vgl. Bd. I 620; s. o. S. 256 –258.) Entwicklungsbiologisch zeigt sich hier vermutlich eine strukturelle Unreife

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des menschlichen Gehirns: Wenn wir uns noch einmal die millionenfachen Verbindungen zwischen den beiden Hirnhemisphären über das Corpus callosum anschauen (vgl. Bd. I 156 –157) und sie vergleichen mit der Anzahl der Verbindungen zwischen den kognitiven Systemen und den emotionalen und motivationalen Systemen, so erscheinen letztere als eher spärlich. Offenbar, schreibt joseph e. ledoux, müssen wir den Preis dafür zahlen, «dass wir über neuentwickelte kognitive Fähigkeiten verfügen, die noch nicht vollständig in unser Gehirn integriert sind. Auch andere Primaten haben dieses Problem, aber bei uns Menschen ist es besonders akut, denn im Laufe der Eingliederung von Sprachfunktionen wurde das Gehirn unserer Art, insbesondere unser Kortex, in erheblichem Maße neu verschaltet.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 423) So kann es dahin kommen, daß jemand ein hochangesehener Dozent für Physik oder für Neurologie ist, während er ungerührt den Bau einer neuen Wasserstoffbombe betreibt und dabei ohne jedes Mitleid die Ermordung von Millionen von Menschen in Kauf nimmt oder an neuen Nervengasen experimentiert, die im Experimentalstadium bereits den qualvollen Tod von (zumeist für die Öffentlichkeit unbekannt wie vielen) «Versuchstieren» fordern, ehe sie unter Umständen zur «Säuberung» eines Urwaldgebietes oder Wüstenabschnittes von «illegalen feindlichen Kämpfern» militärisch genutzt werden; insbesondere die Kriminalpsychologie weiß ein Lied davon zu singen, wie unter dem Mantel bürgerlicher Wohlangepaßtheit oder gar genialer Leistungen in Kunst und Wissenschaft die Triebpathologie eines Schwerverbrechers sich verbergen kann. (Vgl. thomas müller: Bestie Mensch, 172 –181.) «Unser Gehirn», meint noch einmal joseph e. ledoux, «ist noch nicht so weit entwickelt, dass die neuen Systeme, die komplexes Denken ermöglichen, ohne weiteres die alten Systeme, denen unsere elementaren Bedürfnisse, Motive und Emotionen entspringen, kontrollieren können.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 423) Doch das ist allenfalls die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite der Wahrheit lautet, daß unser kulturbedingter Bewußtseinszustand, wie wir sahen, durchaus wahnhafte Züge annehmen kann, an denen gemessen «die alten Systeme», etwa die Angstverarbeitung in der Amygdala oder die gespeicherten Inhalte im Hippocampus, schon wieder so etwas aufweisen wie eine entspannte, gemütliche «Weisheit» aus dem Erbgedächtnis der Jahrmillionen der Säugetierevolution längst vor der Entstehung von Primaten und Hominiden. Selbst was in der individuellen Biographie an Angstsituationen in dem Zusammenwirken von Amygdala und Hippocampus aufbewahrt wird (vgl. Abb. B 91; B 116), kann zu Fehlreaktionen führen, die wir nur allzu oft nicht einer mangelnden

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«Verdrahtung» im Gehirn anlasten dürfen, sondern als die unglückliche Hypothek einer traumatisierenden Kindheit betrachten müssen. Trotz alledem bleibt eine Art Ungleichzeitigkeit festzustellen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht, mithin zwischen der expliziten Erinnerung an frühere Erlebnisse, die vom Hippocampus vermittelt wird, und der amygdala-abhängigen emotionalen Erregung in der Gegenwart, wenngleich beide simultan auf das Arbeitsgedächtnis (auf das unmittelbare bewußte Erleben) einwirken. (Vgl. Abb. B 91.) Auf diese Weise läßt sich das siebente Prinzip verstehen, das joseph e. ledoux für die Zusammensetzung des Selbstbewußtseins formuliert: «Zwischen impliziten (sc. unbewußten, d. V.) und expliziten Aspekten des Selbst gibt es Überschneidungen, aber sie decken sich nicht.» (joseph e. ledoux: Das Netz der Persönlichkeit, 422) In dem Zusammenwirken von Amygdala und Hippocampus (in den «alten» Systemen) und in den neocorticalen Möglichkeiten des Spracherwerbs liegt – bei aller Gebrochenheit – gleichwohl der entscheidende Grund für die Bildung eines (menschlichen) Selbstbewußtseins. Bewußtsein, so sahen wir vorhin noch, kann nur durch die Etablierung einer kohärenten Zeitstruktur zustande kommen; als zentral dafür erkannten wir wiederum die Aktivitäten, die unter dem Einfluß bestimmter Neurotransmitter (von Dopamin insbesondere) im präfrontalen Cortex stattfinden (vgl. Abb. D 4). Doch bevor dieser Hirnabschnitt seine Integrationsleistung vollbringen kann, muß er auf den Datenstrom zurückgreifen, der von den emotionalen Faserverbindungen zwischen Amygdala und Hippocampus ermöglicht wird (vgl. Abb. B 95; B 116): Erst die Zusammenschaltung einer aktuellen Erfahrung mit früheren Erlebnissen ermöglicht eine wirkliche Diachronie des Bewußtseins (von griech.: diá – durch; der chrónos – Zeit; eine Erstreckung längs der Zeitachse; der Ausdruck wurde in der strukturalistischen Linguistik von dem schweizer Sprachforscher ferdinand de saussure, 1857–1913, eingeführt und setzte sich dann im «Strukturalismus» von Ethnologen, Soziologen und Philosophen in den 60er Jahren des 20. Jhs. durch). Es ist dabei – wie wir schon wissen – der Hippocampus, der die Erinnerungsfähigkeit für episodische Ereignisse der persönlichen Biographie ermöglicht und dadurch das aktuelle Erleben mit einem Ich-Bezug verbindet (vgl. Bd. I 590– 591); gäbe es diese Zeitbindung an frühere Ereignisse im Leben eines Individuums nicht, so wäre eine Einheit des (Selbst)Bewußtseins unmöglich. Dies zu betonen ist wichtig, weil sich logischerweise aus einer solchen Feststellung noch einmal die These ableiten läßt, daß auch höhere Säugetiere, im Besitz der gleichen «alten» Systeme wie Menschen, gleichermaßen über ein Selbst-

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bewußtsein verfügen. Was den Menschen von den Tieren wesentlich trennt und was auch die Art seines Selbstbewußtseins maßgeblich verändert, ist seine Fähigkeit zu sprechen: Sie erlaubt es nicht nur, in einem inneren Monolog einen permanenten Strom wortgebundener Gedanken zu erzeugen, sie stellt vor allem die unerhörte Möglichkeit bereit, die Erinnerungen des episodischen Gedächtnisses noch einmal ganz neu in einer einzigartigen Geschichte sich selbst zurechtzulegen und damit eine persönlich geformte Kohärenz des Erlebens in der Zeit zu erstellen. So scheint es nicht zuviel behauptet, wenn wir sagen, das menschliche Selbstbewußtsein sei identisch mit einer derartigen erzählbaren und erzählten Geschichte, die das gegenwärtige Erleben als ein neues Glied der Kette aller bisherigen persönlichen Erinnerungen einfügt. Die Entdeckung sigmund freuds findet in diesem Zusammenhang ihre nunmehr geradezu dramatische Bestätigung, daß das Ringen um den Aufbau und Erhalt eines gesunden Selbstbewußtseins (der Einheit der Person) wesentlich in der Ermöglichung gründet, daß ein Mensch sich seiner eigenen Geschichte bewußt wird, indem er sie sich (und anderen Menschen) als einen integralen Datenstrom in der Zeit vorträgt. Erst so vermag die Synthese des Selbst zwischen den «alten» und den «neuen» Systemen des Gehirns, zwischen emotionalen (und motivationalen) und kognitiven Systemen, zwischen limbischem System und präfrontalem Cortex, zwischen Empfinden, Fühlen und Denken, sich wirklich zu vollziehen.

II. gerald m. edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion An Hirnstrukturen, die für den Aufbau von Bewußtsein und Selbstbewußtsein von Bedeutung sind, können wir jetzt eine ganze Reihe aufzählen: das Zusammenspiel von Hippocampus (besonders dem Gyrus dentatus) und Amygdala, um Arbeitsgedächtnis, Zeitstruktur und Ich-Bindung von Wahrnehmungsund Erlebnisinhalten zu organisieren (vgl. Bd. I 113 –114; Abb. A 23; B 7; B 90; B 91; B 95); die übergeordneten Cortices sowie die Assoziationscortices (vgl. Abb. A 40; A 41) mit ihren je spezifischen Syntheseleistungen, darunter insbesondere der mittlere Bereich des frontalen Cortex, der hintere Gyrus cinguli und der Praecuneus (vgl. Abb. D 3) sowie im parietal-temporal-okzipitalen Assoziationscortex besonders die Sprachzentren wie der Gyrus angularis (vgl. Abb. A 35; A 36; A 37; A 40; A 41); die Verarbeitungswege der sensorischen Systeme mit ihren von unten nach oben und von oben nach unten arbeitenden «Konvergenzzonen», darunter der posteriore parietale Cortex, der in der lin-

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ken Hirnhälfte entscheidend zum Sprachverständnis beiträgt (vgl. Abb. A 40; A 41), sowie die Konvergenzzonen im präfrontalen Cortex, der die Erträge der verschiedenen parallel verarbeitenden somatosensorischen Systeme zu dem Empfinden ein und desselben Körperich zusammenfaßt (vgl. Abb. A 34; A 40; A 41) und auch die Resultate des sensorischen Inputs zur Wahrnehmung ein und desselben Objekts vereinigt (vgl. Abb. D 7); der anteriore cinguläre Cortex und der Nucleus accumbens, die vor allem den emotionalen Anteil des Selbstbewußtseins, das Gefühl der Bezogenheit sowie das Gefühl der ersten Person ermöglichen; das reentrante Verschaltungssystem, durch welches das spezielle Werte-Kategorien-Gedächtnis in Stirn-, Schläfen- und Scheitellappenarealen mit der aktuellen Wahrnehmungskategorisierung verknüpft wird (vgl. Abb. D 8); des weiteren der Hirnstamm, der Hypothalamus und die autonomen Zentren, die gleichfalls Signale in das spezielle Werte-Kategorien-Gedächtnis leiten und damit an der Bildung von Bewußtsein beteiligt sind (vgl. Abb. D 3; D 8); zu erinnern ist auch an die thalamo-corticale Ebene sowie an die subthalamische Ebene zur Erzeugung eines bewußten Zustandes (vgl. Abb. D 6), deren enorme Vielzahl neuronaler Verschaltungen eng verknüpft ist mit den unbewußt ablaufenden Aktivitäten der Basalganglien (vgl. Abb. A 10; A 11; A 12). Eine unerläßliche «Betriebsvoraussetzung» für all dies ist ein richtig dosiertes System von Neuromodulatoren und Rezeptoren, welche die Aktivierung und Koordination der verschiedenen Hirnstrukturen funktional in Gang halten (vgl. Abb. D 4; D 5). Mechanismen dieser Art helfen uns zu verstehen, wie Bewußtsein und Selbstbewußtsein sich bilden; doch wie sich das «primäre» (phänomenale) und das «sekundäre» (reflexive) Bewußtsein auf neuronaler Ebene voneinander spezifisch unterscheiden, ist damit noch nicht wirklich klar geworden. In den Ausführungen von joseph e. ledoux erscheint das Bewußtsein selbst als ein Konvergenzphänomen – als ein synthetischer Endpunkt der Informationsverarbeitung des internen und externen Inputs sowie als Ausgangspunkt eines koordinierten Outputs in Form von mentalen und emotionalen Reaktionen nebst den entsprechenden motorischen Aktionen. Wie aber kommt es dahin, daß der «Spiegel» des Bewußtseins, dieses System synchronisierter Aktivitäten verschiedener Neuronen-Ensembles, sich verdoppelt zu einem Bild vom Bild seiner selbst, zu dem Gefühl des Gefühls der Beziehung eines Ich zu sich selbst und zu allem, was es nicht selbst ist? Wenn Tier- oder Menschenkinder beginnen, über eine Objektpermanenz zu verfügen, wenn sie einen kohärenten Zeitenstrom zu erstellen vermögen, der Wahrnehmungen im Arbeitsgedächtnis mit Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis verknüpft, wenn sie sich in die

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Gefühlswelt eines anderen Subjekts hineinversetzen können («Empathie»), wenn sie globale Kategorisierungen vornehmen und kausale Zuordnungen finden, wenn sie Rechenoperationen durchzuführen imstande sind, – dann, so glauben wir, handelt es sich um Indizien für die Existenz von Selbstbewußtsein. Ein solches, betonten wir immer wieder, kann höheren Säugetieren und Vögeln nicht abgesprochen werden. Was aber unterscheidet in der Art des Selbstbewußtseins Mensch und Tier (auf dem heutigen Stand der Entwicklung) so überaus deutlich von einander? – Ihr Sprachvermögen, sagten wir bereits. Deshalb müssen wir uns abschließend Klarheit über die Veränderungen schaffen, die der Spracherwerb für die spezifische Form menschlichen Selbstbewußtseins mit sich gebracht hat; und zugleich damit sollten wir den Versuch unternehmen, die Subjektivität, also die Ausprägung einer individuellen bewußt erlebbaren – und erzählbaren – Biographie, von ihren neuronalen Voraussetzungen her zu erklären. Einen recht überzeugenden Vorschlag zum Begreifen gerade dieser Zusammenhänge hat (erneut) gerald m. edelman vorgelegt, dessen Theorien vom «neuronalen darwinismus» und vom Reentry (von den Prozessen eines reziproken Signalaustauschs zwischen parallel geschalteten Verarbeitungssystemen, vgl. Abb. D 8) wir bereits bei der Diskussion über die Entstehung von Bewußtsein kennengelernt haben. edelmans Theorie vom «neuronalen darwinismus» ist von ihm auch als Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) ins Gespräch gebracht worden. Abb. D 19 gibt eine schematische Übersicht über die drei Grundannahmen dieses neurologischen Modells. Gemeint ist mit der TNGS ein konsequentes Konzept neuronaler Entwicklung, das eben denjenigen Mechanismus zugrunde legt, den wir vorhin noch bei der «Prägung» etwa von Küken auf eine Glucke oder bei der Bindung von Kindern in den ersten Lebensmonaten an ihre Mutter beobachtet haben: die Bildung von Synapsen und deren Selektion nach der Devise: «nutzen oder stutzen». edelman unterscheidet drei Selektionsphasen, deren erste wir bereits bei der Besprechung der Embryonalentwicklung als natürlichen «Zelltod» kennengelernt haben (Bd. I 272 –273) und die wir nun auf die Auswahl von Neuronengruppen beziehen müssen – bezeichnen wir sie mit edelman als Entwicklungsselektion: In den ersten Schritten der Hirnentwicklung bilden sich neuroanatomische Strukturen dadurch, daß – auf der Ebene der Synapsen – entsprechend der hebbschen Regel Neuronen sich miteinander verbinden, die zusammen «feuern»; auf diese Weise entstehen Millionen unterschiedlich aufgebauter Schaltkreise: das «primäre Repertoire». In Überschneidung mit dieser ersten Selektionsphase wird das primäre Repertoire in der zweiten, als Erfahrungsselektion bezeichneten Selektions-

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Abb. D 19: Die drei Grundannahmen der Theorie der neuronalen Gruppenselektion

phase durch unterschiedliche Erfahrungsinputs in seinen einzelnen Synapsen unterschiedlich gestärkt (in Abb. D 19 als dicke durchgezogene Linie gezeichnet) oder geschwächt (als gestrichelte Linie wiedergegeben), wobei die in den Neuromodulatoren bereits angelegten Bewertungssysteme (vermittelt unter anderem durch die Amygdala, vgl. Bd. I 110 –112 sowie Abb. B 95) auf die synaptischen Veränderungen einwirken. Die als Ergebnis der ersten beiden Phasen vorliegenden unzähligen Schaltkreise und Bahnen – in der Sprache edelmans: das primäre und sekundäre Repertoire – bilden den Ausgangspunkt für die Selektionsvorgänge der dritten Stufe der Hirnentwicklung – reentrante Kartierung genannt. In ihr kommt es durch eine Abfolge von dynamischen und rekursiven Prozessen zu einer Vielzahl reziproker Verbindungen zwischen dicht beieinander sowie weit auseinander liegenden Neuronen(-Ensembles), die Signalübertragungen zwischen kartierten Arealen ermöglichen (in Abb. D 19 sind die gestärkten Synapsen in den Karten auf der rechten Seite als schwarze

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Punkte dargestellt); unter Karten versteht man vereinfacht Projektionen von Zellen eines Gebietes in ein anderes Gebiet – wie zum Beispiel die Netzhautkarte im Thalamus (im Corpus geniculatum laterale); dieser fortlaufende rekursive Signalaustausch zwischen verschiedenen Hirnarealen (das «Reentry») ermöglicht eine raumzeitliche Synchronisation (oder Koordination) ihrer Aktivitäten. Anders ausgedrückt: Das Reentry der dritten Stufe führt zu einer Kartierung der Karten. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 49 –51.) Eine wichtige Konsequenz der Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) ist das, was (amerikanische) Biologen als Degeneriertheit (engl.: degeneracy) bezeichnen (und was im Deutschen am besten mit Multifunktionalität wiederzugeben wäre); gemeint ist die Fähigkeit von strukturell unterschiedlichen Bestandteilen eines Systems, dieselbe Funktion auszuüben oder dasselbe Resultat (denselben Output) zu erzeugen. – Ein berühmtes Beispiel solcher Degeneriertheit liefert die Synthese von Aminosäuren. Der genetische Code bedient sich dabei eines Tripletts aus drei von vier möglichen Nucleotidbasen, um je eine der 20 Aminosäuren zu definieren; insofern kann (und muß rein rechnerisch bereits) eine Mehrzahl von Basenkombinationen zur Festlegung einer Aminosäure zur Verfügung stehen – Leucin etwa kann auf sechs verschiedenen Tripletts codiert werden. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 90 –91.) Degeneriertheit kommt in der Biologie vielfältig vor – nicht nur in der Genetik, sondern auch in der Immunologie und eben auch in der Neurologie, – eigentlich überall dort, wo komplexe Systeme in Aktion treten. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 53– 55.) Abb. D 20 gibt schematisch wieder, wie drei sich überschneidende Schaltkreise, in denen die Neuronen-Ensembles jeweils synchron feuern, in A, B und C zwar in ihrer Struktur voneinander verschieden sind (die verschiedenen Schaltkreise sind also nicht synchron zueinander), aber auf Grund ihrer Degeneriertheit (für eine gewisse Zeitspanne) einen ähnlichen Output erzeugen können. Dieses Phänomen, daß auf Grund ihrer Degeneriertheit (die drei gezeigten) Schaltkreise, obwohl sie in ihrer Struktur unterschiedlich sind, einen ähnlichen Output erzeugen, bietet erst den eigentlichen Schlüssel zur Lösung des «Bindungsproblems»: Daß zum Beispiel die über dreißig funktionell unterschiedlichen und im Gehirn weit verteilten visuellen Areale (Karten), von denen wir gesprochen haben (vgl. Abb. A 30; B 39), ein kohärentes Bild entstehen lassen, das die Wahrnehmungen von Kontur, räumlicher Ausrichtung, Form, Farbe, Bewegung, räumlicher Tiefe etc. (vgl. Abb. B 43; B 44) zu der Anschauung eines Gegenstandes zusammenfügt, ist nur möglich, weil zu einem bestimmten

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Abb. D 20: Schematische Darstellung zur Degeneriertheit reentranter Schaltkreise im Gehirn

Zeitpunkt Neuronengruppen in jedem Areal der verschiedenen Areale durch wechselseitige reentrante Interaktionen mit Neuronen-Ensembles in anderen Arealen gemeinsame funktionelle Schaltkreise bilden; im nächsten Augenblick aber schließen sich andere Neuronengruppen aus anderen Arealen zu einem Schaltkreis mit einer anderen Struktur zusammen, und auch ihr Output ähnelt dem vorhergehenden. Solange derartige degenerierte Prozesse nacheinander ablaufen und verschiedene Neuronen-Ensembles miteinander verbinden, führen in reentranten Schaltkreisen diese beiden Systemeigenschaften – Synchronizität und Kohärenz – dazu, daß verschiedene Strukturen denselben Output erzeugen, und zwar ohne ein übergeordnetes Exekutivprogramm, wie es bei einem Computer nötig wäre. Anders gesagt: Es ist nicht das Bewußtsein, das seine Wahrnehmungen erzeugt, es sind (unter anderem) Wahrnehmungen, aus denen (intentionales) Bewußtsein entsteht. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 54– 55.) Und nun können wir mit edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) noch einmal wie im Schnelldurchlauf die Abfolge wichtiger Einzelschritte der Hirnentwicklung eines Kindes auf dem Wege zum Bewußtsein

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nachzeichnen. Da ist als erstes die Wahrnehmungskategorisierung. Sie ergibt sich aus einer Interaktion zwischen sensorischen und motorischen Systemen, die sich als globale Kartierung verstehen läßt: Mehrere sensorische Karten mit funktionell unterschiedlichen Eigenschaften werden im thalamo-corticalen System (vgl. Abb. D 6) durch reziproke Kopplung miteinander verknüpft und treten (über nicht reentrante Verbindungen) mit motorischen Karten (im Kleinhirn) und mit subcorticalen Kerngebieten (den Basalganglien, vgl. Abb. A 10; A 11; A 12) in Verbindung. Die Wahrnehmungskategorisierung allein ermöglicht es aber noch nicht, in verschiedenen Signalkonstellationen gemeinsame Merkmale zu erkennen (den «Stuhl» z. B. in Abb. D 7 aus verschiedenen Richtungen als ein und denselben Gegenstand wahrzunehmen). Um eine solche Fähigkeit zu erwerben, muß das Gehirn die eigenen Aktivitäten, die in mehreren globalen Karten repräsentiert sind, in speziellen Karten (in Karten von Wahrnehmungskarten) kartieren; in Parietal-, Temporal- und Präfrontallappen nehmen wohl corticale Karten höherer Ordnung diese Kartierung vor und abstrahieren bestimmte Merkmale dieser Karten, so daß durch diese Generalisierung ein Begriff der eigenen Bewegung oder (und) eines Gegenstandes erstellt wird. Beide Vorgänge: die Wahrnehmungskategorisierung und die Begriffsbildung, gewinnen ihre überlebenswichtige Bedeutung aber erst mit dem Aufbau eines Gedächtnisses. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 57– 59.) In der Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) definiert sich Gedächtnis als «die Fähigkeit, einen bestimmten mentalen oder physischen Akt zu wiederholen oder zu unterdrücken». (gerald m. edelman: A. a. O., 59) Wie wir wissen, basieren Gedächtnisvorgänge auf Veränderungen der Synapsenstärke in neuronalen Schaltkreisen, indem bestimmte Verschaltungen bei der Reproduktion (oder Unterdrückung) eines mentalen oder physischen Aktes bevorzugt aktiviert werden. Die Aktivierung selbst kann erneut auf mehreren Wegen erfolgen – auch sie unterliegt demnach dem Phänomen der Degeneriertheit. Für das Verständnis des Gedächtnisses ergibt sich daraus eine wichtige Folgerung: Gedächtnis basiert zwar auf den Veränderungen von Synapsenstärken, doch ist es damit nicht schon ausreichend beschrieben; vielmehr zeigt sich, daß Gedächtnis eine Systemeigenschaft neuronaler Schaltkreise darstellt, die vom jeweiligen Kontext und von den anderen degenerierten Schaltkreisen (also Schaltkreisen, die einen ähnlichen Output erzeugen können) beeinflußt wird. (Vgl. gerald edelman: A. a. O., 59 –60.) So verstanden ist Gedächtnis «eine Eigenschaft degenerierter, nicht-linearer Interaktionen in einem multidimensionalen Netzwerk von Neuronengruppen . . . Die Interaktionen ermöglichen ein nichtidentisches ‹Nachvollziehen› von früheren Handlungen oder Ereig-

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nissen, das allerdings oft von der Illusion begleitet ist, die Erinnerung gebe das Vergangene exakt wieder.» (gerald m. edelman: A. a. O., 60 –61) Wer aber sagt dem Gehirn, was es behalten soll? Maßgebend dafür ist nach edelman das Werte-Kategorien-Gedächtnissystem, dessen Vorgaben aus dem Bewertungssystem stammen. Im wesentlichen besteht das Bewertungssystem in dem Zusammenspiel des noradrenergen, des dopaminergen, des cholinergen und des serotonergen Systems, aber auch in den Funktionen von Hypothalamus, dem aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem (ARAS) und den Kernen um das periaquaeductale Grau (PAG). Die Vorgaben dieses Bewertungssystems entscheiden darüber, wie intensiv und extensiv etwas behalten wird. Doch auch der Aufbau des Werte-Kategorien-Gedächtnissystems ist nur erst ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zum Bewußtsein, der selbst noch außerhalb bewußter Vorgänge zu erfolgen vermag. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 36– 37; 62; 148.) Entscheidend für die Ermöglichung von Bewußtsein ist es, daß die dynamischen reentranten Interaktionen im thalamo-corticalen System bewirken, daß die Wahrnehmungskategorisierungen reentrant mit dem Gedächtnissystem verkoppelt werden, um die Wahrnehmungskategorisierungen dann selbst dem Gedächtnissystem einzuverleiben. In einer Zeitspanne zwischen Zehntelsekunden bis Sekunden kommt es also zu einer Interaktion zwischen aktueller Wahrnehmung und Gedächtnis, und eben dadurch entsteht, wie in der Theorie vom Arbeitsgedächtnis bereits begründet, das primäre Bewußtsein. Im Rahmen der TNGS können wir auch sagen: Bewußtsein ist das Resultat einer reziproken Kopplung zwischen jenen Hirnregionen, die an der Wahrnehmungskategorisierung beteiligt sind, und jenen, die – unter den modulierenden Einflüssen des Bewertungssystems – das Werte-Kategorien-Gedächtnissystem bilden. So entsteht die Fähigkeit, eine komplexe Szene als ganze zu erfassen und zugleich bestimmte Bestandteile in ihr zu unterscheiden: bewußtes Erleben ist gleichzeitig einheitlich und schier unendlich differenzierbar. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 62– 65; 163.) Ein ständiger Input, der bereits vor der Geburt zu den frühesten Kategorisierungen führt, entstammt, wie wir wissen, dem eigenen Körper und Gehirn und wird von den autonomen und homöostatischen Systemen geliefert sowie von den kinästhetischen (griech.: die kíne¯sis – Bewegung, die aísthe¯sis – Gefühl, Wahrnehmung; die Wahrnehmung von Bewegungen und Positionen von Gelenken, Gliedmaßen oder des ganzen Körpers betreffenden) und propriozeptiven (lat.: das proprium – Eigenes, capere – aufnehmen; die Eigenwahrnehmung des Körpers bezüglich seiner Position im Raum und der Lage der Körperteile

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zueinander betreffenden) Systemen, die ständig aktiv sind und einen zentralen Inhalt des primären Bewußtseins vermitteln; diese Systeme lassen sich denn auch generell als die primären Selbst-Systeme verstehen und bieten die Grundlage des sogenannten Körperich. (Vgl. Bd. I 318– 319.) Das Werte-KategorienGedächtnissystem indessen wird durch eine Fülle von Erinnerungen an Belohnungen und Bestrafungen in Verbindung mit bestimmten Verhaltensweisen geprägt und bildet sich in Abhängigkeit dieser biographischen Erinnerungen. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 65; 158; 163.) Die Fähigkeit, bewußte Szenen zu konstruieren, also eine erinnerte Gegenwart aufzubauen (vgl. gerald m. edelman: A. a. O., 65), ermöglicht es einem Lebewesen, «differenzierter und selektiver auf neuartige und komplexe Umwelten (zu) reagieren. Das Bewusstsein führt zu einer enormen Erweiterung des Unterscheidungsvermögens und trägt zu einer verbesserten Umweltanpassung bei.» (gerald m. edelman: A. a. O., 66) Bewußte Prozesse entstehen demnach durch reentrante Interaktionen zwischen den Systemen des Werte-Kategorien-Gedächtnisses, die wesentlich im vorderen Bereich des thalamo-corticalen Systems (im präfrontalen Cortex, im Temporal- und Parietallappen) liegen, und den Systemen, die der Wahrnehmungskategorisierung dienen und die weiter hinten befindlich sind (wie zum Beispiel die visuellen Cortexareale im Okzipitallappen; vgl. Abb. A 25; A 34; A 40; A 41). Durch dieses System von Interaktionen, auch dynamisches Kerngefüge genannt, kommt es dahin, externen und internen Input (Signale aus der Außenwelt und aus dem Gehirn) in phänomenale Erfahrungen (also in die Erfahrungen von Qualia, sprich: Bewußtsein) umzuformen. Gemäß der Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) entstehen Bewußtseinszustände demnach aus den reentranten Interaktionen des Kerngefüges. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 82– 83; 150; 162.) Diese Transformation ins phänomenale Erleben ist wohlgemerkt eine Systemeigenschaft der neuronalen Aktivität selbst; sie ist «eine simultan gegebene Eigenschaft der Aktivität» der entsprechenden Neuronen-Ensembles. (gerald m. edelman: A. a. O., 83) Philosophisch gesprochen, erklärt edelmans TNGS das Bewußtsein damit ausdrücklich für ein Epiphänomen komplexer Hirnaktivität. (Vgl. gerald m. edelman: A. a. O., 83; 150) Bezeichnen wir die neuronale Aktivität im reentranten dynamischen Kerngefüge als C’ (von engl.: consciousness – Bewußtsein) und das Bewußtsein selbst als C, so ist C eine Phänomeneigenschaft, die an die Aktivität von C’ geknüpft bzw. in der Aktivität von C’ impliziert ist; nur auf der Ebene von C’ werden kausale Wirkungen ausgeübt und werden über neuronale Vorgänge körperliche Funktionen aktiviert. (Vgl. gerald m.

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edelman: A. a. O., 84; 168.) C’ ist also Teil einer kausal geschlossenen Welt – «es gibt in ihr keine Gespenster oder Geister –, und Ereignisse in der Welt können keine Reaktionen auf C sein, sondern nur auf die neuralen Ereignisse, die C’ bilden.» (gerald m. edelman: A. a. O., 84) Nur weil uns die Vorgänge in C’ allein über C zugänglich werden und weil C-Zustände zuverlässig die enorme Unterscheidungsfähigkeit von C’-Zuständen abbilden, ist es widerspruchsfrei möglich, über uns selber so zu sprechen, als wenn C-Zustände kausale Wirkungen ausüben könnten; doch das ist (natürlich) nicht der Fall. (Vgl. gerald m. edelman: A. a. O., 84– 85.) Durch die Überführung ins phänomenale Erleben werden integrierte C’-Zustände subjektiv zugänglich; aber die Aufmerksamkeit, die das Bewußtsein ihnen zuwendet, ist unterschiedlich. Für neu zu lernende Inhalte – etwa für motorische Abläufe – ist bewußte Aufmerksamkeit anscheinend unerläßlich; offenbar müssen Cortex und Basalganglien während der Phasen des bewußten Lernens zusammenarbeiten, um die entsprechenden synaptischen Veränderungen herbeizuführen, die für das prozedurale Lernen (Laufen, Fahrradfahren, Tennisspielen usw.) vonnöten sind; dann aber werden die Bewegungsfolgen automatisiert und über Verschaltungen zwischen Basalganglien und Cortex gesteuert (an die Bedeutung des Kleinhirns für die Feinsteuerung und Encodierung motorischer Abfolgen sei in diesem Zusammenhang nur erinnert – vgl. Bd. I 72 –73; 327 –, da es keine Hinweise dafür gibt, daß es direkt zu Bewußtseinsprozessen beiträgt; vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 35); von jetzt an ist der Cortex nur noch in geringem Maße aktiv; der nicht-bewußte Anteil der Handlungen wird wohl durch Interaktionen zwischen Basalganglien und Cortexarealen, die nicht an den Aktivitäten des Kerngefüges beteiligt sind, ermöglicht. So braucht ein geübter Redner sich um die Wortwahl und den Satzbau bei einem Vortrag kaum mehr zu kümmern, – seine gesamte Aufmerksamkeit kann er der mentalen und emotionalen Botschaft seiner Ausführungen widmen; ein Geigenvirtuose kann weite Passagen eines Konzerts, das er Note um Note eingeübt hat, frei herunterspielen und sich dabei ganz auf die Färbung des Tons konzentrieren, die er mit der Bogenführung erzeugen will. Hinreichend für eine «frei schwebende» Aufmerksamkeit (also einen «frei flottierenden», ruhigen Bewußtseinszustand) sollten ein cortico-corticales Reentry und ein wechselndes thalamo-corticales Reentry sein; bei einer eng fokussierten Aufmerksamkeit aber dürften Interaktionsschleifen zwischen den Basalganglien und den Cortexarealen im Stirn- und Scheitellappen bedeutsam sein, die in die Aktivitäten des Kerngefüges einbezogen sind. (Vgl. gerald m. edelman: A. a. O., 97–98.) Auf diese Weise lassen sich Strukturen, die nicht-be-

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wußten Prozessen zugrunde liegen, wie die Basalganglien und das Cerebellum, unterscheiden von den thalamo-corticalen Formationen des Kerngefüges. «Die Elemente des Kerngefüges sind in höchstem Maße reentrant. Dagegen sind die Elemente der Basalganglien in langen inhibitorischen Schleifen angeordnet. Zwar sind die Orte, an denen in solchen Schleifen Interaktionen stattfinden, vielfältig und weit verteilt, aber die polysynaptischen Schleifen der Basalganglien werden vom dynamischen Kerngefüge an Komplexität weit übertroffen. Das Kerngefüge verhält sich . . . als ein funktionaler Cluster (sc. engl.: Traube, Haufen, d. V.), der vorwiegend mit sich selbst interagiert und so Bewusstseinszustände entstehen lässt. Die Ausweitung oder Einengung der Interaktionen zwischen Kortex und Basalganglien vermag jedoch den Inhalt des Bewusstseins zu modulieren, sodass der Aktionsradius des Kerngefüges beeinflusst und der Aufmerksamkeitszustand dementsprechend verändert wird.» (gerald m. edelman: A. a. O., 99) – Abb. D 21 gibt zu der Frage der Entstehung des Bewußtseins abschließend die drei Grundmuster von neuroanatomischen Systemen im Gehirn wieder; oben: das dichte Geflecht reziproker Kopplungen, die Thalamus und Cortex miteinander verbinden (das thalamo-corticale System, vgl. Abb. D 6) sowie verschiedene Cortexareale untereinander; mitte: die langen polysynaptischen Schleifen, die im allgemeinen ohne reziproke Kopplung den Cortex mit subcorticalen Strukturen verbinden (von den Basalganglien zum Thalamus, von dort zu speziellen Cortexarealen und von dort zurück zu den Basalganglien, vgl. Abb. A 10; A 11; A 12); unten: eines der diffus projizierenden Bewertungssysteme (hier: der Locus coeruleus und die Fasern des NASystems; vgl. Abb. A 13). (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, A. a. O., 32– 38.) Die entscheidende Frage ist nun, wie sich das primäre Bewußtsein von dem sekundären (höheren) Bewußtsein unterscheidet; oder anders gefragt: wie werden Lebewesen sich bewußt, ein Bewußtsein zu haben? Rein deskriptiv besteht der Hauptunterschied zwischen Menschen und Tieren darin, daß unsere Species semantische Fähigkeiten mit Sprache (mit syntaktischen Strukturen) zu verbinden vermag. Semantik (von griech.: se¯maínein – bezeichnen) meint ein Verfahren, mit Hilfe von Zeichen (Symbolen, Gesten) bestimmten Objekten, Handlungen und Ereignissen eine Bedeutung zuzuordnen; wer über einen Vorrat intern repräsentierter Symbole verfügt, ist in der Lage, sich aus der gegenwärtigen Situation herauszulösen und sich in Kontexte zu versetzen, die entweder als Erinnerung im semantischen Gedächtnis (also im eigentlichen Wissenssystem zur Identifizierung von Objekten, Personen, Orten, Kontexten ohne episodische Dimension) auftauchen oder als freie zeitunabhängige Vor-

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Abb. D 21: Drei Grundmuster von neuroanatomischen Systemen Oben: das thalamo-corticale System sowie cortico-corticale Verbindungen; Mitte: Verbindungen zwischen bestimmten Cortexarealen mit subcorticalen Strukturen (den Basalganglien); unten: eines der diffus projizierenden Bewertungssysteme (hier: Locus coeruleus mit NA-System)

stellungen, die in zukünftige Planungen übergehen können. Über derartige semantische Fähigkeiten verfügen bereits höhere Säugetiere (etwa die Primaten), doch ist ihr Verständnis für syntaktische Strukturen (für die Regeln, nach denen sprachliche Einheiten in Sätzen verknüpft werden; von griech.: die sýntaxis – Anordnung) sehr gering; sie entwickeln deshalb über phonetische und semantische Ansätze hinaus keine Sprache im menschlichen Sinne. Es sind in der Tat einzig wir Menschen, die ein Lexikon aus sprachlichen Zeichen und Symbolen

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anlegen (vgl. Abb. C 28) und diese nach syntaktischen Regeln miteinander verbinden. Auch Tiere, die träumen können (vgl. Abb. B 19), werden so etwas aufweisen wie ein episodisches (biographisches) Gedächtnis; doch nur Menschen sind imstande, ihre Erinnerungen narrativ (lat.: narrare – erzählen; erzählerisch) zu strukturieren und – mit Hilfe des Hippocampus – Langzeiterinnerungen zu encodieren, die als Ereignisabfolgen erzählbar sind. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 100–101; 151; 166.) Damit ist ein zentrales Kennzeichen für die Existenz von Bewußtsein höherer Ordnung gefunden: das «Bewusstsein höherer Ordnung ist zum Teil im episodischen Gedächtnis verankert, und kohärente semantische Prozesse kämen ohne ein solches Gedächtnis wohl nicht zustande». (gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 102) Um die Evolution der Sprache zu verstehen (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3erw. 2004, 599– 619), kommt es nicht nur auf die Entwicklung des brocaschen und des wernickeschen Areals in der linken Hirnhälfte an (vgl. Abb. A 35; A 36; A 37); es werden auch subcorticale Strukturen (die der motorischen Seite der Sprache dienen) und eine Erweiterung des präfrontalen Cortex (welche die Sequenzierung der Sprache ermöglicht) dabei mitgewirkt haben. In jedem Falle wurde mit dem Spracherwerb die Tür zu völlig neuen Möglichkeiten des Bewußtseins aufgetan. Die bei den Primaten bereits beobachtbaren semantischen Fähigkeiten lassen nun, zu einer Sprache in eigentlichem Sinne ausgebaut, die Fähigkeiten zur Begriffsbildung förmlich explodieren. Die Art des Gedächtnisses wandelt sich: seine episodischen Inhalte werden zu einem Strom individuell kohärenter Begebenheiten, sozial mitteilbar und tradierbar. Auf diese Weise wird das Individuum seiner selbst und seiner eigenen Vergangenheit (und Zukunft) bewußt, und der Begriff seines Selbst verknüpft sich mit dem primären Bewußtsein: Ein Lebewesen, das dazu imstande ist, wird sich des Bewußtseins von sich selbst bewußt. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 102–103.) – Eine Darstellung der Evolution des Bewußtseins höherer Ordnung bietet (in Erweiterung von Abb. D 8) die schematische Wiedergabe von Abb. D 22. Schauen wir uns noch einmal an, wie ein Kind in den ersten achtzehn Monaten allmählich zum Spracherwerb sich hinentwickelt, so erinnern wir uns, daß es bereits über die Fähigkeit zur (globalisierten) Begriffsbildung und über ein Verständnis zeitlicher (kausaler) Abfolgen verfügt, noch ehe es zu sprechen beginnt; die Schleifen, welche Basalganglien und Cortex miteinander verbinden, sind durch Abfolgen von Gesten wohl längst auf die Erzeugung syntaktischer Sequenzen vorbereitet. Überhaupt darf man die Bedeutung von Bewegung und Bewegungssteuerung für die menschliche Sprache nicht gering veranschlagen;

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Abb. D 22: Evolution des Bewußtseins höherer Ordnung

möglicherweise erfolgte der erste Schritt zur Entwicklung der menschlichen Sprache tatsächlich mit dem aufrechten Gang, als es möglich wurde, Arme und Hände verstärkt zur Kommunikation in Form von Gesten und Gebärden einzusetzen. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 104 –105.) Indem mit dem Spracherwerb narrative Strukturen des Gedächtnisses entstehen, die das Ausdrucks- und Mitteilungsvermögen erheblich erweitern, dehnt sich auch das Zeiterleben in Richtung einer eigenen erlebten und erinnerten Vergangenheit und einer vorgestellten und möglichen Zukunft aus; zudem wird ein Kind mit dem Spracherwerb, wie wir betont haben, zugleich Mitglied der Sprachgemeinschaft, in der es aufwächst und in die es hineinwächst. Das Selbst, das über die Sprache sich seines Bewußtseins bewußt wird, ist «ein sozial konstruiertes Selbst» (gerald m. edelman: A. a. O., 105), das den größten Teil

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seines mentalen und emotionalen «Inputs» zunehmend der Kommunikation mit anderen entnimmt und dessen Selbstbild weitgehend von der Sicht der anderen geprägt sein wird. Was sich philosophisch und theologisch daraus für den Begriff von «Ich» und «Person» ergibt, werden wir gleich im nächsten Abschnitt erörtern; hier bleibt nur erst festzuhalten, wie es zu dem kommen kann, was edelman sehr schön als die heraklitische Illusion bezeichnet: die Vorstellung, da sei ein Punkt (ein Selbst, eine Substanz), der entlang der Zeitachse kontinuierlich (und ohne sich selbst essentiell zu verändern) aus der Vergangenheit durch die Gegenwart der Zukunft zustrebe. (Vgl. gerald m. edelman: A. a. O., 105.) «Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen», meinte um 500 v. Chr. heraklit. (hermann diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Fr. 91, S. 29) Die Illusion, man könnte es doch, entsteht, wenn man übersieht, daß der Erfahrung nur die Gegenwart zugänglich ist, während «Vergangenheit» und «Zukunft» bloße Begriffe (aus Erinnerungen und Planungen) darstellen. Auch für die neurologische und psychologische Erforschung von Bewußtseinszuständen mit Hilfe der bildgebenden Verfahren enthält die Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) einen wichtigen Hinweis. Die Inputs, die extern (aus der Umwelt) oder intern (aus dem Körperinneren) das dynamische Kerngefüge (vorwiegend das thalamo-corticale System) erreichen, sind nach allem Gesagten komplex und degeneriert – sie werden im reziproken Zusammenspiel von wechselnden unterschiedlich strukturierten Neuronen-Ensembles erzeugt; deshalb aber dürfte es nicht möglich sein – wie es versucht wird –, für bestimmte repräsentationale Zustände oder Qualia eine einzige nur ihnen zugeordnete Kartierung aufzufinden; die Kartierungen in C’ selbst sind kontextabhängig und variieren zu stark. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 112.) Desgleichen scheint es, daß «weite Teile der kognitiven Psychologie auf tönernen Füßen stehen. Es gibt im Gehirn keine Funktionszustände, die man definierten oder kodierten Zuständen der Informationsverarbeitung eindeutig zuordnen könnte . . . Statt dessen haben wir ein ungeheuer vielgestaltiges Spektrum an selektionalen Repertoires von Neuronengruppen, deren degenerierte Reaktionen in der Lage sind, auf die unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Außenweltsignalen, individueller Erfahrungsgeschichte und individueller Variation einzugehen und sie zu verarbeiten. Intentionalität und Willensentscheidungen hängen demnach zwar auch von den jeweiligen Kontexten in Außenwelt, Körper und Gehirn ab, können aber nur aufgrund solcher Interaktionen und nicht als präzise definierte Rechenoperationen zustande kommen.» (gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 112 –113)

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Primäres Bewußtsein entsteht mithin dadurch, daß sich auf Grund einer Vielzahl differenzierter Zustände des Kerngefüges die Möglichkeit auftut, bei der aktuellen Wahrnehmung einer Szene auf das Gedächtnis zurückzugreifen. Bewußtsein höherer Ordnung entsteht, indem begriffsbildende Areale, die bereits bei der Bildung des primären Bewußtseins beteiligt sind, auf reziproke Weise mit Arealen verbunden werden, die semantische Fähigkeiten eröffnen. Und dahinein greift nun der Spracherwerb, wie er einzig dem Menschen eigen ist. (Vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 118.) «Die Fähigkeit, die Zeichen in einem Lexikon syntaktisch anzuordnen, erweitert die Bandbreite reentranter Möglichkeiten erheblich. Das hieraus entstehende Bewusstsein höherer Ordnung ist auf das primäre Bewusstsein angewiesen, aber ein Individuum, das über derartige Zeichen und Mittel zur Strukturierung verfügt, ist in der Lage, die Fesseln der erinnerten Gegenwart (sc. der Verknüpfung von Wahrnehmung und Erinnerung im Arbeitsgedächtnis, also den zeitlichen Aspekt einer im primären Bewußtsein gebildeten Szene, d. V.) vorübergehend abzustreifen.» (gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 118) Was die Entstehung des Selbst(bewußtseins) angeht, so bietet die Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS), zusammengefaßt, mithin eine dreistufige Erklärung: Da ist zum einen der ständige Informationsstrom der internen homöostatischen Systeme und der propriozeptiven Signale (vgl. Abb. D 8; D 22); dieser Input aus den Selbst-Systemen (sprich: aus Hirnstamm, Hypothalamus, autonomen Zentren – also aus dem Bewertungssystem, aus den Regulationselementen und deren sensorischen Komponenten) erfolgt unser Leben lang und bildet den Hintergrund aller anderen Sinnesmodalitäten; zum zweiten vermittelt die kinästhetische Wahrnehmung eine elementare (bereits vorgeburtliche) Unterscheidung zwischen Bewegungen, die der Körper selber einleitet, und solchen, die von außen an ihm vollzogen werden; dadurch wird das Selbst vom Nicht-Selbst unterscheidbar (vgl. gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 64 –65; 128); zum dritten kommt es innerhalb des Bewußtseins höherer Ordnung zur Individuation im eigentlichen Sinne – zu der bewußt vollzogenen Entdeckung, daß auch andere «über ein Selbst und ein Bewusstsein verfügen . . . – Lange bevor soziale Einflüsse wirksam werden können, bilden sich ein Empfinden dafür, wie das Individuum in der Welt situiert ist, und ein Empfinden der Vertrautheit mit Situationen heraus . . . Wir wissen . . ., dass Gedächtnissysteme, die mit internen Inputs aus den verschiedenen Regulationssystemen des Körpers interagieren, dafür sorgen, dass solche Kategorisierungen stets im Hintergrund präsent sind. Außerdem nehmen emotionale Reaktionen, die in Wechselwirkung mit Bewertungssystemen und den homöostatischen Funktionen des

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Gehirns stehen, sowohl im primären Bewusstsein als auch im Bewusstsein höherer Ordnung eine Schlüsselrolle ein.» (gerald m. edelman: A. a. O., 129) Wie stark im Bewußtsein darüber hinaus die informationsbezogenen und die subjektiven Eigenschaften sich jeweils bemerkbar machen, ergibt sich aus Schwankungen im Bewertungssystem und in den Mechanismen der Aufmerksamkeit sowie aus den Lernerfahrungen und den Emotionen, die sie begleiten. (gerald m. edelman: A. a. O., 129)

d) Subjekt, Selbst, Ich, Person Wir sind jetzt in der Lage, eine Reihe von Begriffen zu klären und zu erklären, derer wir uns immer wieder bedienen mußten, ohne ihnen bislang einen eindeutig beschreibbaren Sinn zuordnen zu können: Was hat es auf sich mit Worten wie: Subjekt, Selbst, Ich, Person . . .? In dieser unsicheren Lage allerdings befanden wir uns all die Zeit über in offenbar bester Gemeinsamkeit mit dem Sprachgebrauch in manchen Formen der Philosophie und durchweg der Theologie, in welcher die Person des Menschen beziehungsweise Gottes ohne weiteres, als handelte es sich um das Allerselbstverständlichste, die größte Rolle spielt. Daß Gott dasjenige Subjekt ist, das nie zum Objekt werden kann, galt beispielsweise in der protestantischen Theologie des 20. Jhs. als die eine unumstößliche Überzeugung, mit der man sich wohltuend von der Fetischisierung und Verdinglichung Gottes in den magischen Riten und Formeln des römischen Katholizismus abzugrenzen trachtete. Personsein ist in dieser Vorstellung identisch mit Subjektsein – beide Begriffe erscheinen als austauschbar. Gott, als das absolute Subjekt, tritt, wenn es mit dem Menschen «redet» (sich ihm «offenbart»), als das absolute Ich in Erscheinung; diese theologische Überzeugung kann sich zu Recht als biblisch begründet verstehen. In den Schriften zum Chassidismus erzählt martin buber (1878 –1965) einmal von Rabbi ahron von karlin (gest. 1772), zu dem ein Schüler «des großen Maggids» (Dow Bär von Mesritsch, gest. 1772) zu Besuch kam. «Es ging auf Mitternacht, als er (sc. der Schüler, d. V.) die Stadt betrat; aber sein Verlangen nach dem Anblick des Freundes (sc. des Rabbis Ahron von Karlin, d. V.) war so groß, daß er sich sogleich zu dessen Haus wandte und an das erleuchtete Fenster klopfte. ‹Wer ruft?› hörte er die vertraute Stimme fragen, und antwortete, da er gewiß war, daß auch die seine erkannt würde, nichts als: ‹Ich.› Aber das Fenster blieb verschlossen, und von innen kam kein Laut mehr, ob er auch wieder und wieder pochte. Endlich schrie er bestürzt: ‹Ahron, warum öffnest du

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mir nicht?› Da entgegnete ihm die Stimme des Freundes, aber so ernst und groß, daß sie ihn fast fremd dünkte: ‹Wer ist es, der sich vermißt, sich Ich zu nennen, wie es Gott allein zusteht?› Als der Schüler dies vernahm, sprach er in seinem Herzen: ‹Meine Lehrzeit ist noch nicht um› und kehrte unverweilt nach Mesritsch (sc. zu Rabbi Dow Bär, d. V.) zurück.» (martin buber: Die Erzählungen der Chassidim, in: Werke, III 319) – Gott als das absolute «Ich» zu respektieren, das mit keiner inhaltlichen (dogmatischen) Bestimmung erreichbar ist und mit nichts Endlichem in Vergleich gestellt werden kann, ist, so verstanden, der Hauptinhalt einer Frömmigkeit, die dem Zweiten Gebot vom Sinai gemäß ist, das da lautet: «Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.» (Ex 20,7; vgl. e. drewermann: Die Zehn Gebote, 39 –52.) Ähnliches gilt, wenn es so steht, auch im Umgang mit Menschen: jeder von uns ist ein eigenes Subjekt, besitzt als Person eine «unantastbare» und «unveräußerliche» Würde, verfügt als ein Selbst über «Selbstbestimmung» (Freiheit) und ist daher «verantwortlich» für das, was er tut . . . Wieso das Ich des Menschen zu all diesen Vortrefflichkeiten gelangt, muß – und kann – in der traditionellen Theologie eigentlich nicht weiter begründet werden. Es ist entweder eine metaphysische Grundgegebenheit, die mit dem Besitz einer «Vernunftseele» identisch ist, oder es ist von Gott halt so «gemacht» worden, als er den Menschen «schuf». Metaphysik und Kreationismus führen auf verschiedenen Wegen an dieser Stelle zu ein und derselben irreduziblen Gewißheit: ob die «Geistnatur» des Menschen oder die «Gottesebenbildlichkeit» des Menschen – der Mensch als Subjekt, als Selbst, als Ich, als Person ist etwas nicht weiter Erklärbares, etwas schlechthin Geheimnisvolles, etwas, das den Naturwissenschaften prinzipiell entzogen ist und bleiben muß, sofern es nicht zu einer Art Wissenschaftsgläubigkeit kommt, die – pantheistisch – Gott mit der Natur ineins setzt. Lange noch bevor Biologie, Medizin und Neurologie die ersten konsistenten Konzepte über Themen wie «Geist», «Person» und «Seele» vorzulegen vermochten, bereits im Jahre 1845, schwante dem größten Theologen der Subjektivität, sören kierkegaard (1813 –1855), daß die aufkommenden naturwissenschaftlichen Disziplinen die Menschheit (und insbesondere die Kirchentheologen) zu dem Glauben verleiten würden, «die Naturwissenschaft führe zu Gott». Demgegenüber aber sei es gerade «das Gottesfürchtige und Einfältige . . .: daß keiner, gar keiner ihn verstehen kann, daß der Weiseste sich demütig an das gleiche halten soll wie der Einfältige. – Hier liegt», schrieb er, «das Tiefsinnige in der sokratischen Unwissenheit, so recht aus voller Leidenschaft allem neugierigen Wissen zu entsagen, um in Einfalt unwissend zu sein gegen Gott.» (sören kierkegaard: Eine literarische Anzeige, 130 –131) Mit

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einem Wort: der «Vater» der Existenzphilosophie stand Mitte des 19. Jhs. der Naturwissenschaft so warnend gegenüber wie blaise pascal (1623 –1662) im 17. Jh. der Mathematik: sie galten ihnen als eine bloße Ablenkung von den wirklichen (religiösen und ethischen) Fragen des menschlichen Daseins. Um es so zu sagen: Angenommen, jemand wäre schlau genug, ein 25bändiges Lexikon auswendig zu lernen – er wäre fachkundig in allen Wissenschaftsgebieten und wäre informiert über alle relevanten Tatsachen aus Natur und Kultur (oder er wäre so sinnig, seinen Kopf mit Chips-Implantaten zu füllen, die ihn in den Stand setzten, den gesamten Datenstrom des Internets zu verarbeiten und zu speichern), so daß er alles Wissenswerte, ja, sogar alles überhaupt nur Wißbare wüßte –, wäre er dann ein «besserer» Mensch (im Sinne von Religion und Ethik) geworden: bescheidener oder gütiger, staunender oder weiser, liebender oder liebenswürdiger? Sicher nicht! Keine noch so kostbare akademische Auszeichnung für irgendeine wissenschaftliche Leistung besagt irgend etwas über die menschliche Qualität einer Person. – Erinnern wir zur Verdeutlichung nur des großen deutschen Chemikers fritz haber (1868 –1934), der 1918 den Nobelpreis erhielt für die zur Kunstdüngerherstellung unentbehrliche Gewinnung von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff; gerade damit ermöglichte er die industrielle Produktion von Nitrat, Nitroglycerin und TNT (Trinitrotoluol); und insbesondere war er es, der mit der Bereitstellung von Chlorgas an der Westfront im Ersten Weltkrieg allein am 22. Apr. 1915 nördlich von Ypern die Zahl von 1200 Toten und 3000 Verletzten zu verantworten hatte; getreu seiner Formel: «Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland», widmete er sich in der Folgezeit der Entwicklung immer stärkerer Giftgase; das Senfgas, das im Juli 1917 – wieder bei Ypern – gegen britische Soldaten zum Einsatz kam, war bereits 50mal so «wirkungsvoll» wie zwei Jahre zuvor das Chlorgas. 90 000 Gas-Tote und 1 Mio. Gas-Geschädigte auf beiden Frontseiten bildeten schließlich die Bilanz dieser Form des Massenmords auf höchstem wissenschaftlichem und technischem Niveau. (Vgl. inka schmeling: Fritz Haber – Von der Front in die Oper, in: P. M. Biografie, 1/2006, 48 –54.) In der Tat: Die Naturwissenschaften mögen alles nur Denkbare am Menschen erklären – wer jemand als Mensch (als «Person») ist, liegt außerhalb des durch sie Erklärbaren. Religiös (existentiell) betrachtet, sind sie wirklich eine bloße Ablenkung, ein Divertissement (frz.: eine Zerstreuung), nicht anders als die verschwenderischen Redouten (frz.: Maskenbälle) im Trianon zu Versailles. Doch kierkegaard ging noch viel weiter. Angesichts der schwindelnden Anhäufung von Wissen und der schwindenden Weisheit der Menschen mahnte

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er nicht nur: «Alles Verderben wird letztlich von den Naturwissenschaften kommen» (Eine literarische Anzeige, 130), er hielt «alle derartige Wissenschaftlichkeit» insbesondere dann für «gefährlich und verderblich, wenn sie auch in die Gebiete des Geistes eindringen will. Mag sie Pflanzen und Tiere und Sterne auf diese Art behandeln», schrieb er, «jedoch den Menschengeist auf diese Art behandeln, ist Blasphemie, welche lediglich des Ethischen und des Religiösen Leidenschaft schwächt . . . – So erfährt man denn von der Physiologie, wie das Bewußtlose das Erste ist, und dann das Bewußte, aber wie sich dann zuletzt das Verhältnis sogar umkehrt und das Bewußte einen teilweise umbildenden Einfluß auf das Bewußtlose ausübt. Und nun wird der Physiolog ästhetisch sentimental: spricht von dem edlen Ausdruck einer gebildeten Persönlichkeit, der Gestalt, der Haltung usw. Herre Gott, was ist das alles? Ein bißchen Lumperei und zuhöchst ein bißchen Heidentum. (Das Innere ist das Äußere, das Äußere das Innere.) . . . – Die materialistische Physiologie ist komisch (daß man durch Entzweimachen den Geist zu finden meint, der da lebendig macht); die moderne geistvolle Physiologie ist sophistisch. Sie räumt selber ein, daß sie das Wunder (sc. daß es Geist, Leben, Bewußtsein zu geben vermag, d. V.) nicht erklären kann, und doch möchte sie da sein . . . So spricht die sophistische Physiologie: ‹es ist ein Wunder, daß ein Bewußtsein entsteht›, ‹ein Wunder, daß die Idee Seele wird, daß die Seele Geist wird› (kurz, die qualitativen Übergänge) . . . um ins Dasein treten zu können als bändestarke Wissenschaft, führt die Physiologie sich folgendermaßen auf. Sie spricht: ‹Allerdings ist der Übergang (von Bewußtlosigkeit zu Bewußtsein usw.) ein Wunder, aber er geschieht doch allmählich, d. h. klein bei klein›. Das Sophistische daran ist dialektisch leicht einzusehn. Man fragt ja nicht, ob es lange währt oder kurz, bis daß etwas eintritt, sondern ob es, wenn es eintritt, als das Wunderding eintritt . . . Die ganze Physiologie handelt eigentlich von dem qualitativ nicht dazu Gehörigen . . . Das Ganze ist ein Näherungen Setzen: nahezu, nahezu und so gut wie, es ist gleichsam nahezu, daß man nahezu u. s. w. . . . Dogmatisch läßt es sich verstehen, daß man erklärt, das Wunder sei das Wunder und es könne nicht verstanden werden; aber eine exakte Wissenschaft darf ja nicht so verfahren. Sie wird somit einen Schein vorgaukeln, es sei gleichwohl so, als könne sie nahezu, so gut wie, gleichsam, größtenteils, beinahe ganz – das Wunder erklären.» (sören kierkegaard: Eine literarische Anzeige, 131–133) Jeder Kirchenfromme, der um den Bestand seines dogmatischen Wunderglaubens (seines Kreationismus oder seines Glaubens an die Welt als eine planvolle Schöpfung) angesichts der naturwissenschaftlichen Aufklärungsarbeit fürchtet, mag sich hinter Sätzen wie diesen verschanzen und darüber ignorie-

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ren, daß die «Annäherungen» der Naturwissenschaften in den letzten 160 Jahren enorme Fortschritte gemacht haben. Eine Hauptabsicht der vorliegenden Arbeit jedenfalls besteht eben darin, den Nachweis zu führen, daß es immer noch «wunderbar», aber eben kein «Wunder» ist, das des «Eingreifens» eines Gottes zur Erklärung bedürfte, wenn es alles das gibt, wovon wir jetzt sprechen wollen: Subjekt, Selbst, Ich, Person . . . Erst wenn wir die naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse auch und gerade an diese Themen heranlassen, werden wir begreifen, was kierkegaard mit seiner (scheinbaren) Wissenschaftsfeindlichkeit eigentlich sagen wollte: Selbst wenn man das menschliche Dasein vollständig erklärt hätte, würde die wesentliche Frage nur um so radikaler sich stellen: Und was bedeutet es nun (und wie lebt es sich jetzt), ein Subjekt, ein Selbst, ein Ich, eine Person zu sein . . . Beide Seiten des Problems wollen und müssen wir abgehen – bis zur Grenze des Erklärbaren – und jenseits der Grenze des Erklärbaren.

α) Subjektivität und Selbstsein – begriffliche Klärungsversuche Die Begriffe Subjekt und Selbst abzutrennen von den – umgangssprachlich wie im psychologischen Jargon – oft genug gleichsinnig verwandten Begriffen Ich und Person empfiehlt sich aus dem einfachen Grund, daß nur so der Unterschied von Mensch und Tier ohne innere Widersprüche oder erhebliche Ungerechtigkeiten gegenüber den Tieren festzumachen ist. «Subjektivität», schreibt gerald m. edelman (Das Licht des Geistes, 131), «meint nicht nur Identität oder Individualität. Sie beinhaltet vielmehr, dass ich eine einzigartige bewusste Erfahrungsgeschichte besitze und dass die dahinter stehenden neuralen Zustände zu feinen Unterscheidungen in der Lage sind, die mein Verhalten beeinflussen und zugleich subjektive Empfindungen entstehen lassen.» Von den «dahinter stehenden neuralen Zuständen» wissen wir jetzt genug, um erklären zu können, wie ein Individuum zu einem Subjekt wird: alles, was lebt, bildet ein komplexes System, in dem – unter ständiger Energieaufnahme – durch Selbstorganisation ein Zustand von Ordnung (eine dynamische Struktur) fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht entsteht. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 659– 671.) Näherhin besitzen lebende Strukturen die Fähigkeit, sich selbst als Information zur Selbstreproduktion zu verwenden. (Vgl. e. drewermann: A. a. O., 679– 692.) Der gesamte weitere Aufstieg des Lebens von den Eukaryoten zu den Mehrzellern, zu den Wirbeltieren, zu den Säugetieren, zu den Primaten . . . erfolgte durch immer komplexere Formen der Rückkopp-

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lung. Auch «Bewußtsein», so haben wir gesehen, ist die intrinsische (innerlich zugehörige, von lat.: intra – innerhalb) Eigenschaft eines neuronalen Systems, das imstande ist, den internen Input (die Informationen aus den Systemen, welche die homöostatischen Vorgänge regeln – Hirnstamm, Hypothalamus, autonome Zentren –, nebst den propriozeptiven Signalen) mit dem externen Input (den sensorischen Informationen der Außenwelt) zu verknüpfen. Der interne Input, der zeit des Lebens nicht aufhört, bildet die Grundlage des Selbst, der externe Input ermöglicht die Abgrenzung des Selbst vom Nicht-Selbst. (Vgl. Abb. D 8; D 22.) antonio r. damasio (Ich fühle, also bin ich, 187–189; 211; 241; 278; 371) spricht in diesem Zusammenhang von einem Proto-Selbst, während joseph e. ledoux (Das Netz der Persönlichkeit, 35) das Selbst (auf seiner einfachsten Entwicklungsstufe) als «ein Phänomen» versteht, «das wir uns entlang einem evolutionären Kontinuum vorstellen können» und über das auch Tiere verfügen, entsprechend der «Art . . ., für die ihr eigenes Gehirn die Voraussetzungen bietet». Der kontinuierliche Informationsstrom aus dem peripheren und zentralen Nervensystem genügt für diese Basis-Definition von «Selbst»; eine bewußte Komponente ist dazu noch nicht erfordert. (Primäres) Bewußtsein entsteht, wie wir sagten, wenn das Werte-Kategorien-Gedächtnis (über reentrante Bahnen) mit der aktuellen Wahrnehmungskategorisierung von Signalen aus der Umwelt verknüpft wird. (Vgl. Abb. D 8; D 22.) Und gerade so läßt sich definieren, was ein Subjekt ist. Zu einem Subjekt, können wir sagen, wird ein individuelles Lebewesen, wenn es die Stufe des primären Bewußtseins erreicht. Denn von da an bildet sich die «Fähigkeit, eine Szene zu konstruieren, die auf die individuelle WerteKategorien-Geschichte bezogen ist». (gerald m. edelman: Das Licht des Geistes, 132) Ihrer selbst bewußt gewordene Individualität ist Subjektivität. Mit dieser einfachen Definition können wir alles bis dahin Gesagte zusammenfassen, wofern wir in Erinnerung behalten, daß bereits mit dem primären Bewußtsein die Möglichkeit auftritt, eine gegebene Szene als ganze zu erfassen und entsprechend eigenen aspekthaften Bewertungen flexibel darauf zu reagieren. Auf diese Weise wird ein individueller Organismus zum Ausgangspunkt eines individuellen Sich-Verhaltens, mithin zu einem subjectum (lat.: das zugrunde Gelegte) in wörtlichem Sinne. Damit verbunden ist der Aufbau einer Innenwelt, die keinem außenstehenden Beobachter zugänglich ist. Diese Tatsache vor allem ist gemeint, wenn wir davon sprechen, daß etwas rein «subjektiv» sei: es steht keiner Fremdwahrnehmung offen, es ist nicht mitteilbar, es ist, sagten wir früher, als erstes ein Mittel zur Selbstdurchsetzung im Kampf ums Überleben. Vor allem nimmt das «Selbst» des Individuums, das seiner bewußt

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wird, notwendigerweise eine «ichgebundene» Perspektive ein, indem der Zeitstrom, der den Integrationsraum des Bewußtseins bildet, sich immer mehr erweitert. Daran liegt es zugleich, daß auch die Begriffe «Selbst» und «Ich» auf sehr verschiedene Stufen der Evolution des Bewußtseins bezogen werden können und damit auch ihr Inhalt sich erheblich zu wandeln vermag; schon deshalb kommt es darauf an, den Begriff des Selbst genauer zu bestimmen. Was meint das Wort im ganzen, – über die biologische (genetische, immunologische und neurologische) Abgrenzung und Identität eines Individuums hinaus? In der Diskussion bereits um die Vorstellungen von heinz kohut erlebten wir eine Fassung der Selbstpsychologie, «in der das Konzept des Selbst dem des psychischen Apparates und seiner Funktionen übergeordnet» wurde. (Die Heilung des Selbst, 236) Doch auch am Ende seiner Studie mußte kohut die Unschärfe seines Selbst-Begriffes feststellen: «Meine Untersuchung», erklärte er unumwunden, «umfaßt Hunderte von Seiten, die sich mit der Psychologie des Selbst beschäftigen – doch sie schreibt dem Begriff Selbst nie eine starre Bedeutung zu, erklärt nie, wie die Essenz des Selbst definiert werden sollte. Doch ich gestehe diese Tatsache ohne Scham und Reue ein. Das Selbst ist, ob man es im Rahmen der Psychologie des Selbst im engeren Sinne als spezifische Struktur des psychischen Apparates auffaßt oder im Rahmen der Psychologie des Selbst im weiteren Sinne als Mittelpunkt des psychologischen Universums des Individuums, wie alle Realität . . . in seiner Essenz nicht erkennbar . . . Forderungen nach einer exakten Definition der Natur des Selbst lassen die Tatsache außer acht, daß ‹das Selbst› kein Konzept einer abstrakten Wissenschaft ist, sondern eine von empirischen Daten abgeleitete Verallgemeinerung. Forderungen nach einer Unterscheidung von ‹Selbst› und ‹Selbst-Repräsentanz› (oder, ähnlich, von ‹Selbst› und ‹Selbst-Erfahrung›) beruhen daher auf einem Mißverständnis.» (heinz kohut: A. a. O., 298– 299) Mit diesen Worten ward eingestanden, daß es unmöglich ist, das «Wesen» des «Selbst» – ontologisch – zu definieren; das «Selbst» kann und soll nur sein ein theoretisches Konstrukt von Psychologen, – nicht anders als das metapsychologische Konstrukt freuds von Es, Ich und Überich. Des weiteren fanden wir im Konzept von otto f. kernberg eine Definition des Selbst, die im Grunde dem entsprach, was schon von erik h. erikson (Kindheit und Gesellschaft, 234) als «Ich-Identität» bezeichnet worden war. «Das Selbst», schrieb kernberg, «ist Bestandteil des Ichs, das daneben noch andere Strukturelemente enthält, nämlich die . . . Objektrepräsentanzen sowie Idealselbst- und Idealobjektvorstellungen . . . Das normale Selbst ist ein integriertes Selbst, insofern Teil-Selbstrepräsentanzen dynamisch zu einem Gan-

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zen organisiert sind.» (otto f. kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, 358 –359) «Fehlt ein integriertes Selbst, so spiegelt sich dies klinisch in widersprüchlichen, voneinander dissoziierten oder abgespaltenen Ichzuständen, die einander abwechseln, ohne je integriert zu sein.» (otto f. kernberg: A. a. O., 359) Demnach wäre das Selbst ein Integrationszustand des Ich. Diese Auffassung schließt sich den Ausführungen an, die rené a. spitz in den 50er Jahren in seiner damals berühmten Arbeit Nein und Ja vorgelegt hatte und in denen er nicht nur die Vorstellungen von einem Ur-Selbst (bzw. «Proto-Selbst» oder «Kernselbst») vorbereitete, sondern auch den freudschen Ich-Begriff weiterzuführen gedachte. «Ich meine», schrieb er, «daß das ‹Ur-Selbst› aus einer Funktion der ‹Ich-Instanz› hervorgeht (sc. der «Realfunktion» in der Sprache freuds, d. V.). Diese Funktion gehört der Wahrnehmung an, sie ist ein Gewahrwerden. Die ‹Ich-Instanz› als Mittler zwischen dem Seelischen und der Außenwelt wird eines ‹Nicht-Selbst› gewahr (wobei die rudimentäre ‹Ich-Instanz› an eben dieser Gewahrwerdung entsteht). Das Gewahrwerden des ‹Nicht-Selbst› ist der Vorläufer des Gewahrwerdens des ‹Ur-Selbst›. Das ‹Nicht-Selbst› wird etwa mit drei Monaten, das ‹Ur-Selbst› sechs Monate später als Folge der Wechselbeziehungen mit dem ‹Nicht-Selbst› gebildet. Das ‹Ur-Selbst› fassen wir also als ein kognitives Produkt des Erlebens, als den Niederschlag einer Summe von Erfahrungen auf.» (rené a. spitz: Nein und Ja, 104) Diesen Worten zufolge ist es in der Entwicklung eines Kindes die Ich-Funktion der Realitätsvermittlung, aus welcher das Selbst erwächst. Auch auf den späteren Entwicklungsstufen eines Kindes, wie wir sie bei daniel n. stern beschrieben haben, bleibt das «Selbst als Fortsetzung des Ur-Selbst . . . das Produkt innerpsychischer Vorgänge, die durch die Wechselfälle der Objektbeziehungen ausgelöst werden . . . – Diese Beziehungen werden durch die Ichfunktionen vermittelt; sie rufen ihrerseits in einem Kreisprozeß im Ich eine Strukturierung hervor, die immer komplexer und durch fortschreitende Integration immer leistungsfähiger wird. Das Ich gestaltet nun diese Beziehungen mittels des ‹Ur-Selbst› aus. Im Verlauf dieses Prozesses sammelt das ‹Ur-Selbst› libidinöse Besetzungsladungen. Die ständig steigende libidinöse Besetzung zwingt das Ich schließlich, der Funktion des Ur-Selbst in den sich entfaltenden Objektbeziehungen gewahr zu werden. Dieses Gewahrwerden durch das Ich verschafft dem ‹Ur-Selbst› nun die Identität als Selbst.» (rené a. spitz: Nein und Ja, 105) «Selbst» ist also ein Zustand psychischer Identität, der entsteht, wenn das Ich des «Ur-Selbst» gewahr wird – und wenn es, muß man unbedingt hinzufügen, zu dem, was es ist, eine bejahende Beziehung findet (die jene Beja-

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hung fortsetzt, die es von seiten des Nicht-Selbst erfahren hat). Die einfachste (und wohl auch brauchbarste) Definition gibt in diesem Zusammenhang rené a. spitz selbst, wenn er sagt: «Ich fasse das Selbst als eine zu einer Vorstellung führende Verarbeitung emotioneller und somatischer Erfahrungen auf, gegründet auf dem Bewußtwerden des Eigendaseins als eines Individuums.» (A. a. O., 104) Diese Bestimmung des Begriffs «Selbst» bietet – im Unterschied zu den meisten anderen psychologischen Definitionsversuchen – den großen Vorteil, daß sie geradewegs dazu einlädt, nach den neurologischen Korrelationen zu suchen, die hinter den «emotionellen» und «somatischen» Erfahrungen stehen, aus welchen das Selbstkonzept hervorgehen soll; oder anders formuliert: wie in dem sich entwickelnden Zentralnervensystem die «Verarbeitung» der entsprechenden «Erfahrungen» erfolgt und wie es (dadurch!) zu einem «Bewußtwerden» des «Eigendaseins» kommen kann; zudem scheint die Formulierung von rené a. spitz überraschend gut dazu geeignet, den Forschungsstand heutiger Neurologie zur Frage des Selbst zusammenzufassen; vor allem wird durch sie vermieden, den verwandten Begriff der «Person» mit in die Begriffserklärung des Selbst einzubeziehen und damit die Unbestimmtheit des einen Terminus mit der Unbestimmtheit eines anderen Begriffs überwinden zu wollen. Gleichwohl scheint es sachlich nicht verkehrt, wenn edith jacobson, deren Arbeit über Depression wir bereits aufgegriffen haben, in einer ihrer früheren Schriften unter dem Titel Das Selbst und die Welt der Objekte (1964; dt.: 1973) das Selbst in Übereinstimmung mit heinz hartmann (1894 –1970) als «die gesamte Person eines Individuums, einschließlich seines Körpers und seiner Körperteile, wie auch seiner psychischen Organisation» definierte. (edith jacobson: A. a. O., 17) Das Selbst formt sich gewiß unter dem Eindruck des somatosensorischen Inputs, der, wie gesagt, unaufhörlich das Gehirn erreicht, und genauso unter dem Einfluß des externen Inputs in Gestalt der emotionalen und der mentalen Erfahrungen, die ein Kind bereits in frühester Zeit mit seiner Mutter verbindet; andererseits können und müssen wir Subjektivität und Selbstbewußtsein, wie geschildert, auch (höheren) Tieren zubilligen, ohne daß wir – wie im weiteren begründet – einen Graupapagei, einen Hund oder einen Makaken als eine «Person» oder als eine «Persönlichkeit» bezeichnen sollten. Der Weg vom «Selbstsein» zum «Personsein» führt offenbar nicht vorbei an dem, was allein als spezifisch menschlich gelten muß: an dem Spracherwerb. Insofern ist die Darstellung in Abb. D 23 lehrreich, mit der antonio r. damasio (Ich fühle, also bin ich, 371) den Weg vom Wachsein zum Bewußtsein zu skizzieren versucht: da formt sich als erstes jenes Proto-Selbst, das nach und

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Abb. D 23: Der Weg vom Wachsein zum Bewußtsein

nach in den Stand versetzt wird, seine Objektvorstellungen zu kartieren und zu kategorisieren, um schließlich mit dem Aufbau eines Arbeitsgedächtnisses ein Kernselbst, mithin ein Kernbewußtsein zu entwickeln; doch erst die Sprache ermöglicht es, das autobiographische (episodische) Gedächtnis zu einem autobiographischen Selbst auszugestalten, das sich selbst und anderen seine eigene Geschichte zu erzählen vermag und dazu in Phantasie und Verantwortung («Kreativität» und «Gewissen») Stellung nehmen kann.

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Um die Mehrdeutigkeiten des Selbst-Begriffs zu vermeiden, ist es ratsam, sich der Vorsicht anzuschließen, mit der friedrich-wilhelm deneke (Psychische Struktur und Gehirn, 141) meint, der Begriff des Selbst solle «das erlebende Subjekt bezeichnen, in dessen Gehirn in ununterbrochener Folge eine subjektive Wirklichkeit entworfen und als persönliches Erleben erfahrbar wird. Dieses Erleben, einzigartig und in seiner Subjektivität nicht transzendierbar, ist das Aktivitätsmuster, das sich in diesem Gehirn zu diesem Zeitpunkt gerade aufgebaut hat. Zwischen Erleben und Struktur muß zunächst gedanklich klar unterschieden werden, wenn beide auch . . . eng aufeinander bezogen sind, weil jedes Erleben strukturabhängig gestaltet und reguliert wird. Die seelisch-geistige Struktur ist die systematisierte Ordnung, die das Gehirn auf der Grundlage aller vorangegangenen Lebenserfahrungen eines Menschen aus sich selbst heraus entwickelt hat. Insofern ist auch diese Struktur einzigartig. Sie ist in bestimmten funktionell-morphologischen, jeweils wiederum individualspezifischen Veränderungen der neuronalen Hirnstruktur niedergelegt. Alle Fragen nach den zeitlich überdauernden Eigenarten und Besonderheiten des erlebenden Subjekts verweisen auf Eigenarten und Besonderheiten der seelischgeistigen Struktur dieses Subjekts – oder dieses Selbst, wenn man den Begriff denn verwenden will.» Die Begriffe «(er)lebendes Subjekt» und «Selbst» sind somit austauschbar, und man kann, auf dem Hintergrund des Strukturbegriffes, auch verstehen, warum. Mißlich an diesen Zeilen ist allein der Umstand, daß sie auf ein «persönliches Erleben» verweisen, um zu erläutern, was es mit den «zeitlich überdauernden Eigenarten» eines «erlebenden Subjekts» auf sich hat. Der Begriff der Person sollte, wie wir sehen werden, streng reserviert bleiben für ein seiner selbst bewußt gewordenes Subjekt, das die Fähigkeit zum Spracherwerb gewonnen hat.

β) Ich und Person – was ist damit gemeint? Wer den Begriff Selbst mit Hilfe des Begriffs der Person definiert, muß notgedrungen den Tieren das Selbstsein absprechen, denn für «Personen» wird selbst der größte Tierfreund sie nicht erklären dürfen. Zweifellos aber besitzt die Katze, die jemand großzieht, einen eigenen Charakter – sie ist ein Individuum; zweifellos empfindet sie sich als den Mittelpunkt ihrer eigenen Welt – sie ist ein Subjekt; und zweifellos auch muß man ihr nur zuschauen, wie sie sich leckt oder mit welcher Eleganz sie zwischen den Blumen auf der Fensterbank hindurchbalanciert, und man wird bemerken, wie genau sie jeden Teil ihres Körpers bewußt kontrolliert – sie besitzt ein Selbst im gerade angegebenen Sinne.

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Aber ein Ich ist sie nicht, es sei denn in der vermenschlichenden Vorstellung ihres Halters. Sagen wir – als «Arbeitsdefinition» – erst einmal so: Ein Ich ist ein Selbst, das sprechen und seine eigene Geschichte erzählen kann. Mit dieser Definition tragen wir vor allem dem alltäglichen Sprachgebrauch Rechnung; freilich müssen wir darauf hinweisen, daß antonio r. damasios Terminologie von dem «autobiographischen Selbst» für das Ich eines Menschen im Gegensatz dazu den Vorteil bietet, den evolutiven Zusammenhang zwischen dem Selbstbewußtsein höher entwickelter Tiere und dem sprachfähigen Selbstbewußtsein von Menschen nicht durch die Verwendung zweier grundsätzlich verschiedener Begriffe wie Selbst und Ich zu unterbrechen; gleichwohl ist gerade dies im Rahmen unserer Untersuchungen angezeigt. Ein Hauptproblem in der Erörterung des Ich-Begriffs liegt darin, daß in der (psychoanalytischen) Literatur die Begriffe Ich und Selbst nicht gerade in einer allgemein anerkannten Bedeutung und Zuordnung verwandt werden und wurden, so als hätte jeder Autor mit eigenen Begriffsvorschlägen möglichst das Seine noch dazu beitragen wollen, um die semantische Verwirrung zu vergrößern. Andererseits ist diese Situation auch nicht ganz ungewöhnlich. Es geht in den Sprachspielen wissenschaftlicher Disziplinen nicht anders zu als auch sonst in der Welt der menschlichen Sprache: es ist möglich, jeden beliebigen Gegenstand und Sachverhalt auf Erden mit jeder beliebigen phonetischen Lautfolge zu belegen, und die babylonische Vielfalt der Sprachen macht davon denn ja auch sattsam Gebrauch; und doch ist es möglich, Verständigung und Übereinkunft zu erzielen, wenn erst einmal feststeht, in welch einem Sprachraum man sich eigentlich aufhält und welche Beobachtungen beschrieben und gedeutet werden sollen. Ein wenig Begriffsgeschichte mag uns da helfen. Wenn wir noch einmal die Abb. V 1 im Vorwort des 1. Bds. betrachten – die Skizze freuds über die topologische («räumlich gegliederte»; von griech.: der tópos – Ort, der lógos – das Wort, die Lehre) Einteilung der menschlichen Psyche –, so wird uns auf einen Blick die ganze Schwierigkeit klar, mit der die (frühe) Psychoanalyse ihre Ich-Psychologie zu entwickeln hatte. Zur Aufgabe stand, das Ich aus dem Es, das Bewußtsein aus dem Unbewußten, das Personale aus dem Triebgebundenen, das Individuelle aus dem Kollektiven, das Kulturbedingte aus dem Naturhaften abzuleiten; und so avancierte – in der zweiten Phase der Entwicklung von freuds Triebtheorie zwischen 1911–1914 (vgl. humberto nagera: Psychoanalytische Grundbegriffe, 35– 37) – das «Ich» als erstes über die Narzißmuß-Theorie zu einem eigenen und eigentlichen Thema der Psychoanalyse, stets verknüpft mit den Begriffen der «Objektlibido» und der «Ichtriebenergie» bzw. der «Ichlibido» (eben des «Narzißmus»; vgl. sig-

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mund freud: Zur Einführung des Narzißmus, in: Gesammelte Werke, X 137– 170). Dann aber – zwischen 1915 bis 1920, wohl nicht ohne den Eindruck der Massenmorde in der Zeit des heute so genannten Ersten Weltkriegs – entwikkelte freud jene Auffassung von den «Ichtrieben», die er erstmals 1915 in seiner Abhandlung Triebe und Triebschicksale (Gesammelte Werke, X 209– 232) kundtat und wonach die Aggression als ein Ichtrieb zu gelten haben sollte. «Der Haß», konstatierte er, «ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzißtischen Ichs. Als Äußerung der durch Objekte hervorgerufenen Unlustreaktion bleibt er immer in inniger Beziehung zu den Trieben der Icherhaltung.» (A. a. O., X 231) Der Grund für diese zunächst vielleicht sonderbar erscheinende These lag in dem genannten Konzept vom «Urnarzißmus» des Ich selbst. «Das Ich» schrieb freud, «bedarf der Außenwelt nicht, insofern es autoerotisch ist, es bekommt aber Objekte aus ihr infolge der Erlebnisse der Icherhaltungstriebe und kann doch nicht umhin, innere Triebreize als unlustvoll für eine Zeit zu verspüren. Unter der Herrschaft des Lustprinzips vollzieht sich nun in ihm eine weitere Entwicklung. Es nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdrucke ferenczis) und stößt anderseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird. (Siehe . . . den Mechanismus der Projektion.) – Es wandelt sich so aus dem anfänglichen Real-Ich, welches Innen und Außen nach einem guten objektiven Kennzeichen unterschieden hat, in ein purifiziertes (sc. gereinigtes, von spätlat.: purificare – reinigen, d. V.) Lust-Ich, welches den Lustcharakter über jeden anderen setzt. Die Außenwelt zerfällt ihm in einen Lustanteil, den es sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd ist. Aus dem eigenen Ich hat es einen Bestandteil ausgesondert, den es in die Außenwelt wirft und als feindlich empfindet. Nach dieser Umordnung ist die Deckung der beiden Polaritäten Ich-Subjekt – mit Lust Außenwelt – mit Unlust . . . wieder hergestellt.» (A. a. O., 228) Ausgehend von diesen Prämissen, haben wir gesehen, wie sich die psychoanalytische Ich-Theorie bei karl abraham, melanie klein, paul federn und anderen bis hin zu margaret s. mahler, heinz kohut und otto f. kernberg vornehmlich als ein Instrument zum psychologischen Verständnis schwerer seelischer Erkrankungen in Gestalt von Neurosen und Psychosen entwickelte. All diesen Konzepten war mehr oder minder gemeinsam, daß sie das Ich als etwas betrachteten, das sich am Rande des Es, im Widerspruch zu dem dort herrschenden Lustprinzip, unter dem Druck der «Realität» nach und

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nach entwickeln sollte; schon von daher schien es uns unerläßlich, mit der kommunikativen Entwicklungstheorie von daniel n. stern ein Gegengewicht zu schaffen, das es erlaubt, die Selbstwerdung – oder eben: die Ich-Werdung – eines Kindes als das Resultat eines positiven interpersonalen Geschehens zu betrachten. Darüber hinaus galt in der freudschen Psychoanalyse das Ich als Stätte der Angst, dem nicht nur bewußte Funktionen wie Realitätswahrnehmung und Realitätsanpassung zukommen, sondern ebenso unbewußte Funktionen wie der gerade zitierte Abwehrmechanismus der Projektion; und auch die triebhaften Funktionen (Narzißmus, Aggression und die Ich-Idealbildung, aus der die Aufrichtung des Über-Ich hervorgeht) verbleiben zum größten Teil im Unbewußten. Von daher bedeutete es zumindest eine neue Akzentsetzung, als paul federn in seiner Ich-Psychologie trotz aller Bindungen an freuds Libidotheorie das Ich, wie geschildert, als ein autonom organisiertes Ganzes zu verstehen suchte, dessen Entwicklung (analog zu den Phasen der Triebentwicklung) nach vorgebildeten Stadien ablaufe; vor allem sahen wir, wie in federns Konzept bestimmte Ich-Grenzen zwischen dem «Körper-Ich» und dem mentalen Ich sowie zwischen dem Ich und dem Über-Ich verliefen und je nach einer genügend starken oder zu schwachen Libido-Besetzung einen psychisch gesunden oder kranken Zustand bedingten. Auch so aber blieb die Psychologie des Ich nach wie vor an die recht spekulative Triebpsychologie freuds gebunden. (Vgl. die ausgezeichnete Übersicht bei leopold szondi: Ich-Analyse, 129 – 140.) Eine neue, alternative Konzeption der Begriffe Ich und Selbst legte innerhalb der Tiefenpsychologie carl gustav jung vor, indem er allerdings den Bruch mit der psychoanalytischen Bewegung dafür in Kauf nahm. jung setzte in gewissem Sinne die Tradition der idealistischen Ich-Philosophie der Neuzeit fort, die unter «Ich» die Bewußtheit und Reflexivität eines individuellen Geistes verstand. So wie descartes mit seinem «Ich denke, also bin ich» Ich-Sein und Bewußtsein (Denken) identisch gesetzt hatte, so galt in der Erkenntnismetaphysik johann gottlieb fichtes das Ich als ein absolutes (göttliches) Bewußtsein, das als schöpferische Einheit zugleich sein NichtIch (die ganze Welt) in sich schloß. In der Zeit, da jung seine «komplexe Psychologie» zu erarbeiten begann, war insbesondere das (nicht nur damals) wichtige Buch von konstantin oesterreich: Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen (1910) erschienen. In krassem Gegensatz etwa zu humes Auffassung, die Person des Menschen sei ein Bündel von Perzeptionen, heißt es bei oesterreich: Das Ich ist «weder ein Objektives, wie die

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Sinnesinhalte usw., noch auch ein psychischer Vorgang neben den übrigen, kein Affekt, keine Funktion. Sondern es ist eben das diesen Zuständen und Funktionen zugrunde liegende rätselhafte Etwas, dessen Zustand oder Funktionen jene Prozesse sind.» (konstantin oesterreich: A. a. O., 226) Und weiter: «Das Ich ist nicht ein Gefühl oder eine besondere Funktion oder gar ein Empfindungsinhalt, sondern es ist das, dessen Zustand das Gefühl ist, von dem die Funktionen ausgehen, und in dessen Bewußtsein die Empfindungsinhalte gegenwärtig sind.» (konstantin oesterreich: A. a. O., 227) Das Ich ist demnach das, was allen Gefühlen und Wahrnehmungen zugrunde liegt, – es ist Subjekt in strengem Sinne. Alle psychischen Prozesse und Funktionen gehören nach oesterreich einem individuellen Ich-Subjekt an und gehen von ihm aus, so daß es niemals zwei Individuen gibt, die das gleiche Bewußtsein hätten. Wie kants «Ich denke», das «alle meine Vorstellungen begleiten können» muß (Kritik der reinen Vernunft, I. Transzendentale Elementarlehre, 2. Teil, 1. Abteilung, 1. Buch, 2. Hauptstück, 2. Abschnitt, § 16, in: Werke, III 136), zeigte sich dem Phänomenologen oesterreich das Ich als gegenwärtig in allen geistigen Prozessen: Das Ich, schrieb er, «wird nicht erschlossen, hinzugedacht, sondern es ist unmittelbar in der Erfahrung gegeben, als in allen psychischen Vorgängen enthalten». (konstantin oesterreich: Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, 230) In dieser Subjekt-Theorie (des phänomenalen Bewußtseins) sind Ich und Subjekt ganz offensichtlich ein und dasselbe. Das Ich ist just das Subjekt, das empfindet, wahrnimmt, fühlt, denkt, erinnert, vorstellt . . . – es ist der Träger aller psychischen Vorgänge, die ins Bewußtsein dringen. (Dabei, wohlgemerkt, unterliegt die phänomenologische Methode einer strengen Selbstbegrenzung: anders als die Geistmetaphysik des Deutschen Idealismus will sie, wie wir im nächsten Abschnitt noch sehen werden, nichts weiter sein als eine Analyse von Bewußtseinsgegebenheiten; welch ein – «objektives» – Sein den «Erscheinungen» zukommt, muß methodisch dabei offen bleiben; Phänomenologie ist nicht Ontologie – heideggers existentiale Ontologie steht auf einem anderen Blatt.) Gilt also das Ich als das Subjekt aller bewußten psychischen Vorgänge, so ist es begreifbar, wenn jung unter Ich die bewußte Persönlichkeit verstand. Von Anfang an klammerte der schweizer Tiefenpsychologe dabei das Problem der Entstehung des Ich aus; ja, er stellte seine eigene Betrachtungsweise der freudschen Psychoanalyse generell als eine eher geisteswissenschaftlich orientierte Methode gegenüber, indem er die Psychoanalyse als reduktionistisch, kausalistisch, rückwärtsgerichtet verstand, während er seine komplexe Psychologie

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als synthetisch, final und prospektiv auffaßte. Insofern konnte es ihm tatsächlich freistehen, das Ich auf eine Weise zu definieren, die das Problem gar nicht erst zuließ, wie denn ein derartiger zentraler psychischer Komplex sich evolutiv (phylogenetisch wie ontogenetisch) begründet haben könnte. Mit einem Wort: Während in freuds Betrachtungsweise das Ich unbewußte Teile aufweisen mußte, konnte jungs Ich-Begriff (wie in der Phänomenologie) auf derlei Implikationen vollkommen verzichten. Ganz im Sinne der überkommenen Bewußtseinsphilosophie und -psychologie erklärte jung denn auch: «Trotz der unabsehbaren Reichweite seiner Grundlagen ist das Ich nie mehr und nie weniger als das Bewußtsein überhaupt.» (Aion, Gesammelte Werke, IX 2, 14) Andererseits war jung – nicht anders als freud – zutiefst davon überzeugt, daß die (menschliche) Psyche sich keinesfalls auf das Bewußtsein beschränkt. Tatsächlich erschien ihm das (bewußte) Ich wie eine winzige Insel in einem Meer des Unbewußten. Von daher mußte das Ich-Konzept unter Indienstnahme eines neuen Begriffs um den gesamten Bereich des Unbewußten erweitert werden, damit die menschliche Psyche als ganze bezeichnet werden konnte. Diesen neuen Begriff fand jung in dem Wort Selbst; und auch hier schloß er sich eher dem geisteswissenschaftlichen Sprachgebrauch an, als daß sein Selbst-Begriff sich mit den Theorien der Entstehung eines Ur-Selbst oder Kern-Selbst in Verbindung bringen ließe, von denen wir gerade gesprochen haben. Man braucht nur in grimms Deutsches Wörterbuch (XVI 451– 453) unter «Selbst» nachzuschlagen, und man findet, daß «Selbst» als Substantiv zu Beginn des 18. Jhs. in Mode kommt und dann bei Philosophen wie kant (1724 –1804) und Dichtern wie gotthold ephraim lessing (1729 –1781) gern und häufig verwandt wird. Dabei bedeutet Selbst in etwa soviel wie Wesen oder Substanz; vor allem die romantische Dichtung aber begann bereits zu ahnen und fing an zu beschreiben, wie das «Wesen» eines Menschen in verschiedene Teile zerfallen kann, so daß ein zweites Selbst, ein Doppelgänger, sich bildet. Und eben solche Zusammenhänge waren es, denen jung mit seinem Selbst-Begriff nachspüren wollte. Nach Auffassung des schweizer Tiefenpsychologen ist das Selbst die Ganzheit der bewußten und der unbewußten Psyche. (Vgl. carl gustav jung: Psychologie und Alchemie, in: Gesammelte Werke, XII 214; vgl. ders.: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, in: Gesammelte Werke, VII 191– 206.) – Eine solche Definition dürfte für eindeutig gelten, wenn sich angeben ließe, was «das Unbewußte» ist. jung selber gestand: «. . . insofern Unbewußtes existiert, ist es nicht angebbar, es ist existentiell bloßes Postulat, über

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dessen mögliche Inhalte überhaupt nichts ausgesagt werden kann. Die Ganzheit ist empirisch nur in ihren Teilen und insofern diese Inhalt des Bewußtseins sind; aber als Ganzheit ist sie notwendigerweise bewußtseinstranszendent.» (carl gustav jung: Psychologie und Alchemie, in: Gesammelte Werke, XII 214 –215) Ja, es erscheint als unmöglich, das Selbst, weil es alle Grenzen des individuellen Bewußtseins sprengt, auf die Begrenztheit der Individualpsyche einzuschränken. An dieser Stelle öffnet sich das Selbst und wird zum Reservoir des «kollektiven» Unbewußten; es beginnt, so verstanden, die Stelle einzunehmen, die in der Philosophie kants dem «Ding an sich» oder – näherliegend noch – bei schopenhauer dem «Willen» oder in der Theologie «Gott» zugeschrieben wird. Einzig in Symbolen kann deshalb dieses Selbst in Erscheinung treten: im «christlichen» Abendland etwa in dem Bild des Christus, des Gottmenschen (vgl. carl gustav jung: Aion, in: Gesammelte Werke IX 2, 46 –80), in Ostasien in Gestalt des Buddha, im Hinduismus in dem Wesen des Purusha (des «Urmenschen») etc. Bestimmte Inhalte des Unbewußten lassen sich vornehmlich in Form der «Archetypen» beschreiben (vgl. carl gustav jung: Über die Psychologie des Unbewußten, in: Gesammelte Werke, VII 98 –123: Die Archetypen des kollektiven Unbewußten); die bekanntesten darunter sind der Schatten als Bild des persönlich verdrängten Unbewußten (vgl. carl gustav jung: Aion, in: Gesammelte Werke, IX 2, 17–19) sowie die Gegensätzlichkeit von animus (lat.: männliche Seele) und anima (lat.: weibliche Seele). (Vgl. carl gustav jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, in: Gesammelte Werke, VII 207– 232: Anima und Animus; ders.: Aion, in: A. a. O., IX 2, 20– 31.) Die eigentliche Aufgabe des menschlichen Reifungsprozesses besteht demnach in der «Selbstwerdung» der Person, indem das Terrain des bewußten Ich die Inhalte von Schatten und anima (animus) durch Bewußtwerdung in sich aufnimmt. Das Selbst läßt sich in der Psychologie jungs demnach definieren als die umfängliche Persönlichkeit, welche die individuellen Verdrängungsinhalte (die Projektionen des Schattens) und die überpersönlichen Rollenzuweisungen des sozialen Unbewußten (die Projektionen von animus und anima) in sich integriert und damit der persönlichen Gestaltung zugänglich gemacht hat. Eine Psychose erscheint demgegenüber als Persönlichkeitsverlust, der in der Spannung von Ich und Selbst auf zwei Weisen erfolgen kann: Die eine Möglichkeit besteht darin, daß das kleine Boot des Ich von den überbordenden Wellen des Selbst vollgeschlagen wird und versinkt: es nimmt so viele Inhalte des kollektiven Unbewußten in sich auf, daß es zu einer Inflation (einer Aufblähung, von lat.: inflare – hineinblasen) kommt; diese ließe sich

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nur verhindern, indem das Ich um seine eigenen Grenzen wüßte und die relative Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit von «Schatten», animus und anima anerkennen würde. Neben dieser Gefahr, daß das Ich vom Selbst assimiliert wird, ist es zum zweiten denkbar, daß das Selbst vom Ich verschlungen wird. In demselben Bilde gesprochen, gleicht die Lage des Ich in diesem Falle einem Nachen, dessen zerborstene Planken im Meer herumtreiben, so als sollte das kleine Fassungsvermögen des Bootes den ganzen Ozean in sich hineintrinken. Im ersten Falle kommt es therapeutisch darauf an, das Realitätsprinzip (den Bewußtseinsstandpunkt) gegen das archaische Unbewußte zu verstärken (also die «Bordwand» höher zu ziehen, um ein «Vollschlagen» des Bootes zu verhindern), im zweiten Falle müßte man Hilfen bieten, um das Unbewußte (die Welt der Träume, der Triebregungen, der archaischen Vorstellungen und Gefühle) als eine eigene Realität zu akzeptieren – und «draußen» zu lassen, indem man sich der eigenen Grenzen und Begrenztheiten bewußt wird und sie anerkennt. (Vgl. carl gustav jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, in: Gesammelte Werke, VII 152 –170: Die Folgeerscheinungen der Assimilation des Unbewußten; ders.: Aion, in: Gesammelte Werke, IX 2, 32– 45: Das Selbst.) Orientierungen für den Individuationsprozeß auf dem Wege zur Ganzheit können nach jung die Symbole sein, die archetypisch das Selbst konstellieren, als da sind: arithmetische Zuordnungen wie die Vierzahl oder die Kombination von drei plus eins, die eine beliebte Erzählstruktur zahlreicher Märchen und Mythen darstellt (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, II 35 –36; ders.: Tiefenpsychologie und Exegese, I 199, Anm. 86), oder geometrische Figuren wie Rad oder Kugel (vgl. ders.: A. a. O., 199) oder auch Tiersymbole wie Fisch und Schlange (zum Fisch-Symbol vgl. carl gustav jung: Aion, in: Gesammelte Werke, IX 2, 127–135: Die Ambivalenz des Fischsymbols; zum SchlangenSymbol vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, II 69–152) oder pflanzliche Bilder wie Blumen und Bäume (zum Symbol des Baumes vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, II 52– 69) bzw. deren geographische oder künstliche Äquivalente wie Berge und Türme (zum Symbol von Berg und Turm vgl. e. drewermann: A. a. O., II 514 –539). Alle derartigen Symbole des Religiösen lesen sich im Sinne jungs als Schilder der menschlichen Seele auf dem Weg zu sich selbst. Über die Arbeiten jungs fast in Vergessenheit geraten, aber nach wie vor der Beachtung wert sind die Gedanken zum Thema Ich und Selbst, die von einem anderen schweizerischen Tiefenpsychologen bereits 1945 geäußert wurden. Unter dem Titel Einheit und Zwiespalt der Seele faßte damals gustav hans

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graber (1893 –1982) das Selbst als eine Art embryonales Unbewußtes auf – etwas, das dem Ur-Selbst, von dem wir vorhin sprachen, recht nahe kommt. «Die Seele des reifen Embryos kurz vor der Geburt», glaubte graber, «ist und bleibt auch für das ganze nachgeburtliche Leben die eigentliche, wirkliche, wahre und unveränderbare Seele des Menschen. Sie allein hat die Art des Eigenen. Sie ist die große Einheit.» Und er fügte hinzu: «Ich nenne sie das Selbst.» (Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, Beiheft Nr. 8, 1945, S. 8) Das Selbst wäre demnach der undifferenzierte, seiner selbst unbewußte, alle Entwicklungsmöglichkeiten unverfälscht in sich tragende Urzustand des Psychischen. Das Ich indessen sollte sich nach grabers Vorstellungen «nachgeburtlich aus Abwehr innerer (körperlicher) und äußerer Reize» bilden und sich als etwas «seelisch Gegensätzliches» über das Selbst und über das später sich entwickelnde Bewußtsein legen. (Vgl. a. a. O., 116.) Die Ablösung des Ich vom Selbst kommt nach graber einem seelischen Geburtsvorgang gleich, der recht eigentlich den Zwiespalt der menschlichen Psyche heraufführt. Wie bei carl gustav jung stellt sich auch nach graber daher die Aufgabe einer erlösenden, alle Gegensätze versöhnenden Wiedergeburt, bei der die Abgetrenntheit von Ich und Selbst, von Bewußtsein und Unbewußtheit, durch die Integrationsleistung einer tieferen Bewußtwerdung aufgehoben wird. In grabers Worten: «Der Erlöste ist seines Selbstes bewußt. Er ist aus der Hülle und Zwiespältigkeit seines Ichs wiedergeboren in sein Ur-Eigenes, sein wahres Wesen. Die Einheit der Seele wird ihm zum großen Erlebnis der Erlösung.» (Einheit und Zwiespalt der Seele, in: A. a. O., 151) Insgesamt scheint es nun wenig sinnvoll, eine solche Sammlung verschiedener Definitionsversuche weiter fortzusetzen, um auf der Suche nach der (einzig) «richtigen» Begriffsbestimmung die verschiedenen Theoriebildungen gegeneinander zu verrechnen. Wichtiger und richtiger, als eine Diskussion um bloße Worte zu entfachen (ob also das Ich dem Selbst oder das Selbst dem Ich entstammt, ob das Ich oder das Selbst bewußt oder unbewußt ist, ob das Subjekt ein bewußtes Ich oder ein unbewußtes Selbst ist usw.), dürfte es sein, den Begriff des Ich mit jener Qualifikation auszuzeichnen, die nach allem Gesagten das Bewußtsein und Selbstbewußtsein von Tieren wesentlich unterscheidet von dem Bewußtsein und Selbstbewußtsein des Menschen: – mit der Fähigkeit, sich selbst und anderen (s)eine eigene Geschichte zu erzählen. Offenbar können wir uns die ganze Debatte sehr erleichtern, wenn wir setzen: Ein Subjekt (definiert als ein seiner selbst bewußt gewordenes Individuum) wird zu einem Ich, wenn es «ich» zu sagen vermag (ein Wort, das in keiner menschlichen Sprache fehlt!). Was mit dieser «einfachen» Festsetzung gemeint ist, erweist sich allerdings als

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höchst komplex, müssen wir doch all die genannten Aspekte sachlich mitberücksichtigen. Binden wir den Begriff des Ich in vorgeschlagener Weise an die menschliche Sprache, so kommen wir nicht umhin, das verbale Selbst in der Terminologie sterns als etwas zu betrachten, das in seinem gesamten Entstehungsprozeß nicht vorstellbar ist ohne ein Feld der Interpersonalität und des Dialogs. So wie ein «Selbst» sich nur bilden kann in Abgrenzung von und im Gegenüber zu der Erfahrung eines Nicht-Selbst, so vermag ein Ich sich nur zu entwickeln in der Begegnung und im Gespräch mit einem Du, das durch seine Anrede verrät, daß es selbst ein bewußtes Subjekt ist. Was als ein Du angeredet wird, ist niemals ein Objekt, sondern stets selbst ein Subjekt; doch nur ein bewußtes Subjekt, das sprachfähig ist, kann die Anrede: «Du» als eine solche verstehen, und nur indem es sich selbst als ein «Ich» verstanden fühlt, kann es mit einem eigenen Ich auf die Anrede eines fremden Du antworten. Um noch einmal an den großen Religionsphilosophen des dialogischen Personalismus, an martin buber (1878 –1965), zu erinnern, so hat er in seinem berühmten Essay Ich und Du aus dem Jahre 1923 zwischen zwei grundverschiedenen Zugangs- und Erlebnisweisen der Wirklichkeit unterschieden, die sich seiner Meinung nach als Es und als Du klar voneinander abheben. «In der Eswelt waltet uneingeschränkt die Ursächlichkeit», schrieb buber ; wer aber «immer wieder in die Welt der Beziehung entschreiten» dürfe, dem verbürge sich die Freiheit. (Ich und Du, in: Werke, I 112) Allerdings sei dies «die erhabene Schwermut unsres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß. . . . die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung (sc. von Ich und Du, d. V.) verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. Der Mensch, der eben noch einzig und unbeschaffen, nicht vorhanden, nur gegenwärtig, nicht erfahrbar, nur berührbar war, ist nun wieder ein Er oder eine Sie, eine Summe von Eigenschaften, ein figurhaftes Quantum geworden. Nun kann ich aus ihm wieder die Farbe seiner Haare, die seiner Rede, die seiner Güte holen; aber solang ich es kann, ist er mein Du nicht mehr und noch nicht wieder. – Jedem Du in der Welt ist seinem Wesen nach verhängt, Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehn. In der gegenständlichen Sprache wäre zu sagen: jedes Ding in der Welt kann, entweder vor oder nach seiner Dingwerdung, einem Ich als sein Du erscheinen. Aber die gegenständliche Sprache erhascht nur einen Zipfel des wirklichen Lebens. – Das Es ist die Puppe, das Du der Falter. Nur daß es nicht immer Zustände sind, die einander reinlich ablösen, sondern oft ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungnes Geschehen.» (martin buber: A. a. O., I 89)

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Was also geschieht in einem Gespräch zwischen «Ich» und «Du»? Eigentlich das, wodurch ein «Ich» überhaupt erst sich entfaltet: aus der Eswelt, aus der Welt der Objekte, hebt sich etwas heraus, das nicht darin aufgeht, ein Etwas zu sein; als ein Anredbares, als ein angeredetes Du, entdeckt es sich selbst als ein Antwort gebendes Ich. Was der kurze Augenblick eines Dialoges verrät, ist die Offenbarung des ganzen menschlichen Wesens: es selber ist nur als ein dialogisches. Die Entwicklungsschritte, die wir neurologisch und psychologisch in der Reifung eines Kindes von der Zeit vor seiner Geburt bis zum etwa 18. Monat nachgezeichnet haben, sind offenbar nur die Vorbereitung und Bestätigung dieser Tatsache. «Dialog» und «Gespräch», der Austausch von «Ich» und von «Du» ist dabei nicht auf den engen Bereich verbaler Kommunikation eingeschränkt: – worthaft kann auch eine Geste, ein Ton, die Weise des Anblickens sein. «Die Augen des Tiers», konstatierte buber, «haben das Vermögen einer großen Sprache. – Selbständig, ohne einer Mitwirkung von Lauten und Gebärden zu bedürfen, am wortmächtigsten, wenn sie ganz in ihrem Blick ruhen, sprechen sie das Geheimnis (sc. die verborgene Wahrheit der Schöpfung, daß alles Dasein sich vollzieht vor dem Hintergrund eines Du, d. V.) in seiner naturhaften Einriegelung, das ist in der Bangigkeit des Werdens aus. Diesen Stand des Geheimnisses kennt nur das Tier, nur es kann ihn uns eröffnen, – der sich eben nur eröffnen, nicht offenbaren läßt. Die Sprache, in der es geschieht, ist, was sie sagt: Bangigkeit – die Regung der Kreatur zwischen den Reichen der pflanzenhaften Sicherung und des geistigen Wagnisses. Diese Sprache ist das Stammeln der Natur unter dem ersten Griff des Geistes, ehe sie sich ihm zu seinem kosmischen Wagnis, das wir Mensch nennen, ergibt. Aber kein Reden wird je wiederholen, was das Stammeln mitzuteilen weiß. – Ich sehe zuweilen in die Augen einer Hauskatze. . . . Diese Katze begann ihren Blick unbestreitbar damit, mich mit dem unter dem Anhauch meines Blicks aufglimmenden zu fragen: ‹Kann das sein, daß du mich meinst? Willst du wirklich nicht bloß, daß ich dir Späße vormache? Gehe ich dich an? Bin ich dir da? Bin ich da? Was ist das da von dir her? Was ist das da um mich her? Was ist das an mir? Was ist das?!› (‹Ich› ist hier eine Umschreibung für ein Wort der ichlosen Selbstbezeichnung, das wir nicht haben; unter ‹das› stelle man sich den strömenden Menschenblick in der ganzen Realität seiner Beziehungskraft vor.) Da war der Blick des Tiers, die Sprache der Bangigkeit, groß aufgegangen – und da ging er schon unter . . . – Der Weltachsendrehung, die den Beziehungsvorgang einleitet, war fast unmittelbar die andre gefolgt, die ihn endet. Eben noch hatte die Eswelt das Tier und mich umgeben, ausgestrahlt war einen Blick lang Duwelt aus dem Grunde, nun war sie

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schon in jene zurückgeloschen.» (martin buber: Ich und Du, in: Werke, I 143 –144) In unserer «gegenständlichen» Sprache beschreiben diese Worte bubers die Mitteilung eines selbstbewußten Subjekts, dem nichts zu der möglichen Teilnahme an einem Dialog zwischen Ich und Du fehlt außer der Dauer, welche die menschliche Sprache ermöglicht. Wie jane goodall bei den Schimpansen am Gombe einzig vermißte, daß diese Tiere ihre eigene(n) Geschichte(n) hätten erzählen können, um «richtige» Menschen zu sein, so dürfen wir auch bubers Katzen-Betrachtung dahin verstehen, daß allein ein Gedächtnis, das sich mit Worten verbindet und das mit Hilfe von Worten einen syntaktischen Zusammenhang herzustellen vermag, ein selbstbewußtes Subjekt in die Lage versetzt, die Kontinuität des Bewußtseinsstroms in die selbstgestaltete Erzählung seiner eigenen Lebensbeschreibung zu übertragen und damit die Vielzahl der auseinanderfallenden Augenblicke vermeintlicher «Dingwerdung» in eine konstante Subjekthaftigkeit, in ein bleibendes Ich, zu integrieren. Ein Ich aber, das als ein autobiographisches zu erkennen gibt, daß es niemals aufhört, ein Ich zu sein, tritt als Person in Erscheinung. Das lateinische Lehnwort Person verrät vermeintlich etwas, das etymologisch in unserem Zusammenhang passend scheint. Eigentlich bedeutet lat.: die persona – die Theatermaske; gemeint hat man bereits in der Antike, das Wort komme von personare – hindurchtönen und bezeichne einen Schallverstärker; doch das o in persona¯re ist kurz und in perso¯na lang, so daß eine solche Ableitung wohl nicht infrage kommt. (Vgl. elmar bund: Persona, in: Der Kleine Pauly, IV 657.) Gleichwohl bliebe es verlockend, sich unter einer (menschlichen) Person ein Subjekt (ein Ich) vorzustellen, das, verhüllt vor den Augen der anderen, sich selbst aufzuführen und zu Gehör zu bringen versuchte. Doch dagegen spricht eine einfache Tatsache: Das lateinische Wort perso¯na ist eine Rückbildung von perso¯na¯tus, das seinerseits wohl auf das etruskische phersu – Maske zurückgeht und soviel besagt wie verkleidet, verlarvt, maskiert. Ursprünglich ist «Person» also nichts weiter als die Rollenzuweisung, die jemand im Theater der «menschlichen Komödie» zu verkörpern hat. Dieser Feststellung steht nicht entgegen, daß in der lateinischen Rechtssprache mit persona Menschen als Subjekte bestimmter Rechte (und Pflichten) bezeichnet wurden – im Unterschied zu einer res (einer Sache) und zu den Sklaven. Person, so müssen wir etymologisch korrekt feststellen, meint vom Ursprung her gerade nicht die Selbstkongruenz eines Ich, das sich selbst mit seinem Leben «zur Sprache» bringt; das Wort meint die Maskierung, unter der jemand im Zusammenleben mit anderen auftreten soll oder auftreten darf.

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Am konsequentesten hat diese semantische Nuance des Wortes persona (erneut) carl gustav jung in seiner Begriffssprache wiederzugeben versucht, indem er die «bewußte Persönlichkeit» für einen mehr oder weniger willkürlichen «Ausschnitt aus der Kollektivpsyche» erklärte und diesen Ausschnitt mit jenem lateinischen Terminus persona bezeichnete. (Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, in: Gesammelte Werke, VII 171–172) «Nur vermöge des Umstandes», schrieb jung, «daß die Persona ein mehr oder weniger zufälliger oder willkürlicher Ausschnitt aus der Kollektivpsyche ist, können wir dem Irrtum verfallen, sie auch in toto (sc. lat.: im ganzen, d. V.) für etwas ‹Individuelles› zu halten; sie ist aber, wie ihr Name sagt, nur . . . eine Maske, die Individualität vortäuscht, die andere und einen selber glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche spricht.» «Im Grunde genommen ist die Persona nichts ‹Wirkliches›. Sie ist ein Kompromiß zwischen Individuum und Sozietät über das, ‹als was Einer erscheint›. Er nimmt einen Namen an, erwirbt einen Titel, stellt ein Amt dar, und ist dieses oder jenes. Dies ist natürlich in einem gewissen Sinne wirklich, jedoch im Verhältnis zur Individualität des Betreffenden wie eine sekundäre Wirklichkeit, eine bloße Kompromißbildung, an der manchmal andere noch vielmehr beteiligt sind als er.» (A. a. O., VII 173) Die persona ist gewissermaßen nur der Name, den die anderen (die Gesellschaft) einem Individuum beilegen: Eltern bezeichnen damit den Inhalt ihrer Erwartungen und Wünsche sowie ihrer Befürchtungen und Warnungen für den Lebensweg ihres Kindes; Freunde markieren mit der namentlichen Anrede, auf welche vertrauten Seiten sie ihresgleichen festlegen möchten; bislang Unbekannte verraten mit der Übernahme des fertigen Namens den Willen, den so Bezeichneten unter einem bestimmten Aspekt einzuordnen. Auch das Bewußtsein, das ein Kind unter diesen Umständen von sich selbst erlangt, sein Ich-Bewußtsein, wird zunächst mit der persona identisch sein, und gerade dieser infantile Zustand, in dem jemand ganz und gar mit seiner Rolle verschmolzen ist, trägt in sich die Tendenz, ein ganzes Leben lang zu währen. Indem ein Mensch nur die Erwartungen erfüllt, die (von bestimmten Gruppen) von jeher an ihn gerichtet wurden und werden, erscheint er sich selbst und seiner Umgebung womöglich sogar als ein besonders gefestigter, charakterstarker, vorbildlicher, heiligmäßiger Repräsentant gewisser göttlicher Weisungen oder politischer Beauftragungen, und der kollektive Beifall erspart ihm nur allzu leicht die tiefere Aufgabe der Individuation: die Unbewußtheit sich selbst und den tatsächlichen Motiven gegenüber zu überwinden und seine wahre Gestalt, sein Selbst, hervorzubringen. Jemand, der in der Identifikation seines Ich mit der persona eine wichtige Rolle

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in der Öffentlichkeit gespielt hat, wird sich zweifellos schwertun, den (faulen) Kompromiß, auf dem sein Leben basiert, sich selbst einzugestehen; denn in diesem Falle stünden eine Fülle schwerer Ängste zu gewärtigen – vor dem Fall in bloße Unbedeutendheit und der Ächtung einflußreicher Gruppen, verbunden noch mit dem Gefühl der Orientierungslosigkeit und des Verlustes inneren wie äußeren Haltes. (Vgl. e. drewermann: Kleriker, 61– 83: Der Schattenbruder des Chefs.) Nur: wenn die persona sich als etwas derart Zweifelhaftes, ja, Verführerisches darstellt, wie eigentlich steht es dann um die Person? Gibt es sie überhaupt oder ist sie ebenso eine Art von Selbsttäuschung wie jungs persona? Ein Ich, das seine eigene Geschichte erzählt, – kann das etwas anderes sein als eine Kette entfremdender Vorschriften und verinnerlichter Fehlidentifikationen?

e) Was ist der Mensch? Oder: Von den Bedingtheiten des Personalen α) Die Person als kulturelles Konstrukt oder: Person im Schnittpunkt von Psychologie, Soziologie und Ethnologie jungs persona, ohne Zweifel, ist ein gesellschaftliches Konstrukt, mit dem das Ich eines Kindes sich wie selbstverständlich identifiziert, um erst später – wenn überhaupt! – zu merken, daß diese Maskerade des Lebens seine eigentliche Aufgabe: den Weg der Individuation, geradewegs versperrt. Eines Menschen Dasein sollte nicht darin aufgehen, die bloße Marionette gewisser Teilerwartungen seines gesellschaftlichen Umfeldes zu sein; es sollte dahin gelangen, sich als Individuum zu wagen, die unbewußten Prägungen und Verführbarkeiten seiner Psyche sich bewußtzumachen und ein eigenes Selbst auszubilden. Wenn man ein Ich, das des persönlichen wie des kollektiven Unbewußten seiner Seele bewußt geworden ist, als eine Person (oder, ehrenvoller, als eine «Persönlichkeit») bezeichnet, so unterscheidet sich dieser Begriff von Person diametral von der Theaterrolle, die jemand als persona für sich übernimmt. Doch «Person» ist nicht ein fertiges Ergebnis. Ein Mensch reift nur allmählich zu sich selbst, langsam nur wird er, was er ist, und doch ist er nicht erst am Ende, was er suchend immer schon war: eine Person. Woher also kommt dieser Drang, durch die Maske hindurch ein eigenes Wort auszusagen, in der verordneten

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Rolle ein eigenes Stück aufzuführen, ja, es als eine innere Überzeugung geltend zu machen, eine Person zu sein mit einem Recht auf ein eigenes Leben? «Das kommt daher, daß Gott dich selbst bei deinem Namen gerufen hat», lautet die christliche «Erklärung» (mit Bezug auf das Prophetenwort in Jes 43,1: «Bei deinem Namen rief ich dich. Mein bist du.»). – «Das kommt daher, daß die Menschen dem Trug ihres Bewußtseins folgen, das ihnen ein Ich (ein «Ego») vorgaukelt, das gar nicht existiert», lautet die buddhistische «Erklärung» (mit Bezug etwa zu dem Diskurs aus dem Milindapañha). Welcher Ansicht darf man folgen, und welch eine Entscheidungshilfe kann dabei von der Neurologie kommen? Das Merkwürdige ist, daß unsere bisherigen neurologischen Bemühungen an dieser Stelle auf etwas prinzipiell Unerklärbares stoßen, das, weil unerklärbar, zugleich die wirkliche Ebene angibt, auf welcher das Problem zur Lösung ansteht. Die Neurologie, so viel ist eigentlich von vornherein klar, kann die Frage, wie wir dahin kommen, uns für «Personen» (in angegebenem Sinne: für eigenständige, selbstbewußte, sprachfähige Subjekte) zu halten, mit ihren Methoden definitiv nicht beantworten. Der Grund liegt darin, daß alle neurologischen Untersuchungen im Kopf einzelner Patienten oder Probanden stattfinden. Gewiß, wenn die Person im Menschen sich aus ihm selbst heraus entwickeln würde wie ein einzelner Sonnenblumenkern zur Sonnenblume, so stellte die Neurologie wohl wirklich das Verfahren der Wahl dar, um zu erforschen, wie eine menschliche Person sich bildet. Und warum eigentlich nicht? könnte man erwägen; schließlich haben wir mit neurologischen Mitteln doch vorhin bereits herausgefunden, welche Hirnaktivitäten dazu beitragen beziehungsweise unerläßlich sind, um Bewußtsein und Selbstbewußtsein hervorzubringen. Doch Vorsicht! Vom primären Bewußtsein konnten wir noch mutmaßen, daß es – unter anderem – in der Evolution entstanden sei, um im Überlebenskampf «überlegtere» Antworten in kritischen Situationen anzubieten; vom Selbstbewußtsein (dem sekundären Bewußtsein) hingegen glaubten wir bereits behaupten zu können, daß es sich hier um ein soziales Phänomen handeln müsse, indem die Unvertauschbarkeit eines Einzelnen im Gruppenverband in dem betreffenden Individuum selber zu einem Wissen um sich selbst führen werde. Wenn es unter sozial lebenden Tieren nicht mehr egal ist, wer etwas tut, so ist es für diesen Einen selbst wichtig zu wissen, wer er ist, um seine spezifische Rolle unter den anderen ausüben zu können. Der Austausch von Informationen über Gefühle, Gedanken und Absichten muß an der Bildung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein entscheidend mitgewirkt haben, indem insbesondere die Fähigkeit zur Empathie das Zusammenwirken vieler

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in einer Gruppe wesentlich erleichterte. Erst auf der Basis intensiver Kooperation und Kommunikation aber kann es in der Evolution der Hominiden zu der Entwicklung von Sprache gekommen sein, deren neuronale Korrelate wir dann auch hirnorganisch dargestellt finden konnten. (Inzwischen bildet sich ein neuer Forschungszweig, die Neurolinguistik, zur Untersuchung der Frage heraus, welche Netzwerke im Gehirn nacheinander, in präziser zeitlicher Reihenfolge, aktiv werden, um die Elemente gehörter Sprache zu verarbeiten; vgl. angela d. friederici: Der Lauscher im Kopf, in: Gehirn und Geist, 2/2003, 43 –45.) Setzen wir – nicht ohne eine gewisse Willkür, da eine eindeutige Zäsur zwischen den in Hunderttausenden von Jahren ganz allmählich sich vollziehenden Schritten auf dem Wege zum Menschen nicht zu ziehen ist – den im eigentlichen Sinne hominiden (oder gar humanen, kulturellen) Teil der Evolution mit dem Spracherwerb gleich, dann ist der Schluß unvermeidbar, daß von diesem «Moment» (einem Spekulationszeitraum einer halben Million von Jahren, vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3erw. 2004, 605 –618; annette lessmöllmann: Wer spricht?, in: Gehirn und Geist, 3/2006, 21– 26; bernard victorri: Die Debatte um die Ursprache, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Die Evolution der Sprache, 4/2001, 16–19; zur Evolution von Denken und Sprache vgl. auch ludwig jäger: Ohne Sprache undenkbar, in: Gehirn und Geist, 2/2003, 40 –42) an die Entwicklung des Menschen zunehmend zu einem Werk des Menschen selbst wurde. Was man in dieser Weise von keiner anderen Species auf dieser Erde sagen kann, gilt fortan für den Menschen unbedingt: er ist ein Geschöpf seiner selbst; er ist das Produkt einer Kultur, die er selber hervorgebracht hat, indem sie ihn hervorgebracht hat; er ist das Kind einer Sprache, die er selber «erfunden» und durch die er zu sich selber gefunden hat. Was sich in den Riesenzeiträumen der Evolution einmal abgespielt hat, das, so sagten wir schon, wiederholt sich vor unseren Augen im Schnelldurchlauf in der Entwicklung eines jeden Menschenkindes. Daß es zu einem seiner selbst bewußten, sprachfähigen («autobiographischen») Selbst, mithin zu einer Person, zu werden vermag, liegt daran, daß in seinem Kopf in der Phasenvorgabe neuronaler Reifungsschritte diejenigen Prozesse wie naturnotwendig ablaufen, in denen die humanen Errungenschaften der Hominidenevolution ihren biologischen Niederschlag geformt haben. Ein Menschenkind, das heute zur Welt kommt, trägt in sich die Tendenz, sprechen zu lernen, und es würde schweren Schädigungen ausgesetzt, bliebe ihm diese Möglichkeit, aus was für Gründen auch immer, versagt. Desgleichen haben wir bereits genügend betont, daß ein Kind mit dem Spracherwerb in die Kultur seiner Umgebung eintaucht, indem es den linguistischen contrat social (frz.: den Sozialvertrag, in Anlehnung an

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jean-jacques rousseau, 1712–1778, in seinem Buch: Du contrat social von 1762) der umgebenden Sprachwelt übernimmt. Wenn Person ein sprachfähiges Subjekt ist, versteht es sich, daß das, was wir eine Person nennen, selber eine Hervorbringung der menschlichen Gemeinschaft, ein soziales beziehungsweise ein kulturelles Konstrukt, darstellt. Von daher ergibt sich zugleich, warum es rein neurologisch unmöglich ist, die Person zu «erklären»: – Ihre Wirklichkeit ist nicht in einem individuellen Gehirn begründet, sondern in den sozialen, interpersonalen Vorgängen, die zwischen menschlichen «Gehirnen» (zwischen Menschen im Austausch von Gefühlen, Gesten, Worten, Gedanken, Absichten) stattfinden. So schreibt wolf singer: «Mir scheint . . ., daß die Ich-Erfahrung bzw. die subjektiven Konnotationen (sc. lat.: die connotatio – Mitbedeutung, d. V.) von Bewußtsein kulturelle Konstrukte sind, soziale Zuschreibungen, die dem Dialog zwischen Gehirnen erwuchsen und deshalb aus der Betrachtung einzelner Gehirne nicht erklärbar sind. Die Hypothese, die ich diskutieren möchte, ist, daß die Erfahrung, ein autonomes, subjektives Ich zu sein, auf Konstrukten beruht, die im Laufe unserer kulturellen Evolution entwickelt wurden. Selbstkonzepte hätten dann den ontologischen Status einer sozialen Realität. In die Welt kamen diese wie die sie ermöglichenden Kulturen erst, nachdem die Evolution Gehirne hervorgebracht hatte, die zwei Eigenschaften aufwiesen: erstens, ein inneres Auge zu haben, also über die Möglichkeit zu verfügen, Protokoll zu führen über hirninterne Prozesse, diese in Metarepräsentationen zu fassen und deren Inhalt über Gestik, Mimik und Sprache anderen Gehirnen mitzuteilen; und, zweitens, die Fähigkeit, mentale Modelle von den Zuständen der je anderen Gehirne zu erstellen . . . Diese Fähigkeit ist dem Menschen vorbehalten und fehlt dem Tier . . . Wir Menschen . . . sind . . . in der Lage, in Dialoge einzutreten der Art ‹ich weiß, daß du weißt, wie ich fühle› oder ‹ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, wie du fühlst› usw. Interaktionen dieser Art führen also zu einer iterativen wechselseitigen Bespiegelung im je anderen. Diese Reflexion wiederum ist . . . die Voraussetzung dafür, daß der Individuationsprozeß einsetzen kann, daß die Erfahrung, ein Selbst zu sein, . . . überhaupt möglich wird.» (wolf singer: Vom Gehirn zum Bewußtsein, in: Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn, 73 –74) So entsteht der Eindruck der eigenen Personalität durch den Prozeß eines interpersonalen Austauschs. Allerdings ergibt sich dieses «Selbstkonzept» mit den frühesten Entwicklungsschritten der menschlichen Psyche, mithin in einem Zeitraum, zu dem später kein episodisches (autobiographisches) Gedächtnis mehr zurückreichen wird. Daran liegt es, daß das Personsein subjektiv wie etwas Naturgegebenes erlebt und von der (christlichen) Religion als etwas

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Gottgegebenes interpretiert werden kann. Uns aber wird bei diesen Ausführungen gerade die Fragwürdigkeit der menschlichen Personalität deutlich. Dabei geht es nicht mehr nur darum, daß die neuronalen Vorgänge, die Bewußtsein und Selbstbewußtsein ermöglichen, allerorten empfindlichen Störungen ausgesetzt sein können, mit der Folge schwerer «Depersonalisations»vorgänge; hier erhebt sich das (philosophische) Problem, ob die Person – als ein kulturelles Konstrukt – eine soziale Illusion darstellt oder eine humane Realität besitzt, – oder ob sie beides zugleich ist. Wenn wir «Person» als ein soziales beziehungsweise kulturelles Konstrukt verstehen, so ist damit gegeben, daß wissenschaftstheoretisch in diesem Begriff mindestens drei Disziplinen zusammenkommen: Psychologie, Soziologie und Ethnologie (Völkerkunde bzw. Kulturanthropologie); die Frage lautet daher: wie wirkt das menschliche Zusammenleben (soziologisch) unter den historischen Bedingungen der jeweiligen Kultur (ethnologisch) auf das Selbstgefühl eines Individuums (psychologisch) ein. Um die Debatten, die in der Theologie bis hin zum Konzil von Nicäa (im Jahre 325, vgl. denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 125) zum Beispiel über die drei Personen geführt wurden, in denen das eine Wesen der Gottheit subsistieren sollte, sowie über die Eigenart der zweiten Person der Gottheit (des «Logos»), die in der Gestalt des Jesus von Nazareth inkarnierte, um sich in ihrer göttlichen Natur mit seiner menschlichen Natur zu einer «hypostatischen Union» zu verbinden (von griech.: die hypóstasis – Grundlage, Substanz; wahres Wesen), wie es auf den Konzilien zu Ephesus (im Jahre 431, vgl. denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 252) und zu Chalcedon (im Jahre 451, vgl. denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 301) dogmatisch formuliert wurde, brauchen wir uns im Moment nicht zu bekümmern; es wird allerdings nachher noch gesondert eine wichtige Frage bilden, ob und, wenn ja, in welch einem Sinne der Glaube an einen «persönlichen Gott» (immerhin nicht mehr und nicht weniger als das Kernstück des Christentums, in Übereinstimmung hier mit Judentum und Islam) sich unter den Bedingungen der modernen Anthropologie als plausible Lösung des bestehenden Problems darstellen läßt (und in welch einem Sinne ganz sicher nicht mehr). Bereits auf den ersten Blick dürfte klar sein, daß mit der These, die Person stelle ein kulturelles Konstrukt dar, die Annahme schlecht sich verträgt, es sei, was Person bedeute, in den verschiedenen Kulturen dasselbe oder es werde in den verschiedenen Sprachen mit einem sachidentischen Begriff bezeichnet oder es bilde als ein einheitliches Subjekt von Rechten die Grundlage eines überall auf Erden gemeinsamen «Weltethos» (wie der Tübinger Theologe

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hans küng – geb. 1928 – es als ein religiös-politisches Ziel zu postulieren versucht). Um überhaupt so etwas wie eine Arbeitsdefinition für ein mögliches Verständnis des Person-Begriffs in Soziologie und Ethnologie zu gewinnen, eignet sich die Polarität von Person und persona am ehesten, nicht zuletzt deshalb, weil bereits der französische Soziologe und Ethnologe marcel mauss (1872 –1950) seinen bahnbrechenden Studien zu Soziologie und Anthropologie (2 Bde.) gerade die Dialektik von Maske und Rolle einerseits und Individualität und Identität andererseits zugrunde gelegt hat. «Den gemeinsamen Hintergrund der meisten neueren sozialwissenschaftlichen Theorien», schreibt klaus peter köpping (Person, in: Hubert Cancik u. a.: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV 312– 313), «scheint . . . die Idee eines a priori gegebenen, unverwechselbaren und einmaligen ‹Selbst› zu bilden, das sich seiner Identität als kontinuierlichem Kern (sc. kontinuierlichen Kerns, d. V.) des Ich immer bewußt ist und einen Punkt der Permanenz darstellt, von dem aus alle Erfahrungen Sinn und Struktur erhalten. Das Selbst als jenes unverwechselbare Einzelwesen, das sich von anderen Einzelwesen unterschieden weiß und sich . . . gegenüber anderen Individuen gleichzeitig als solches Einmaliges zeigt und verbirgt, realisiert sich in der Person. In dieser Hinsicht gleicht sie der Maske, die . . . etwas Nichtvorhandenes offenbart (eine Gottheit, einen Ahnen, einen Tiergeist) oder etwas offenbar Vorhandenes (den Darsteller) verbirgt.» Wenn es so steht, teilt sich in dem Maskenträger (dem Rollenspieler) etwas mit, das in ihm zur Erscheinung kommt, ohne in ihm aufzugehen, während das Maskentragen (das Rollenspielen) zugleich das, was der Spieler selbst ist, verhüllt. Nur: was ist das – das Selbst des Spielers? Wir sollten inzwischen die Zuversicht gewonnen haben, die These sei gut begründet, es gebe – unterhalb aller soziologischen, kulturellen und sprachlichen Differenzen und Divergenzen – ein neuronales Substrat, das in allen Menschen biopsychologisch gleich sei und dessen Prozesse zu eben jenen Merkmalen führten, die wir der Person zugeschrieben haben: Subjekthaftigkeit, Bewußtheit, Ichhaftigkeit, Selbstbewußtheit, Individualität, Identität und Sprachfähigkeit. marcel mauss nun konstatierte im Jahre 1938, «daß es niemals ein menschliches Wesen gegeben hat, welches abgesehen von dem Gefühl seiner Körperlichkeit keinerlei Sinn für seine zugleich geistige wie körperliche Individualität gehabt hätte.» (marcel mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Betriff der Person und des «Ich», in: M. Mauss: Soziologie und Anthropologie, II 225) Das Problem in dieser (vermutlich) richtigen Feststellung liegt natürlich wieder in der Frage, was als «geistige . . . Individualität» gelten soll, und so demonstrierte mauss denn auch, «wie jungen Datums das philosophi-

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sche Wort des ‹Ich›, wie jung die ‹Kategorie des Ich›, der Kult des ‹Ich› und die Achtung vor dem Ich sind – insbesondere die Achtung vor dem der anderen». (A. a. O., II 225) Zu Recht verwies mauss auf die Diskrepanz, die zwischen dem (antiken) Verständnis von Person als Maske und Rolle und dem (modernen) Verständnis von Person als einem unveräußerlichen Individuum und einmaligen Subjekt besteht; gleichwohl glaubte er, zwischen beiden Auffassungen (zumindest in unserem eigenen – abendländischen – Kulturbereich) eine geschichtlich vermittelnde Entwicklungslinie konstruieren zu können, die von «einer einfachen Maskerade zur Maske, von der Figur (personnage) zu einer Person, zu einem Namen und einem Individuum, von diesem zu einem Wesen metaphysischen und moralischen Werts» geführt habe. (marcel mauss: A. a. O., II 252) Gerade dieser Aufstieg aber, wenn es ihn denn gibt, bildet psychologisch die Hauptschwierigkeit: Wie ist es möglich, der Träger sozial geprägter Rollen (Beamter, Minister, Polizist, Arzt, Pastor, Lehrer, Ehemann usw.) zu sein und darin (s)eine eigene Individualität zu gewahren und zu bewahren? – Die Indianer Nordamerikas beispielsweise gewährten bei ihren Initiationsriten einem Einzelnen das Recht, während der Dauer des Rituals eine der Masken zu tragen, die von ihren Ahnen überliefert war. (Vgl. marcel mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des «Ich», Kap. 2: Die «Figur» und der Platz der «Person», in: Soziologie und Anthropologie, II 227–237.) Insofern verlieh die Maske dem Individuum für eine Weile eine soziale Identität (vgl. ute röschenthaler: Maske, in: Hubert Cancik u. a.: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV 115); doch diese Feststellung beantwortet nicht die Frage nach der psychischen (oder gar metaphysischen) Identität einer Person: wer ist der Einzelne, wenn er seine Maske ablegt? Kann er sie überhaupt, darf er sie überhaupt ablegen? Es ist methodisch wohl kaum anders möglich, als daß soziologische Untersuchungsmethoden die Institutionen (und die sie begründenden Mythen) als das (vorübergehend) Dauerhafte (als die diachrone Komponente) einer Gesellschaft begreifen, während sie die (zeitlich flüchtigen) Individuen, sobald diese ihre Masken ablegen, selber als sozial «abgelegt» zu betrachten geneigt sind, ganz so, als gingen die Einzelnen in den Rollenerwartungen der Gesellschaft vollständig auf – als wüchsen sie in diese hinein und als stürben sie schließlich dahin, um einem Nachfolger Platz zu machen und um mit ihrem Tod eigentlich nur die Unzerstörbarkeit des Amtes, das sie verkörperten, zu feiern. Le roi est mort, vive le roi – der König ist tot, es lebe der König, pflegte man bis 1789 in Frankreich zu sagen, um den gesellschaftspolitischen Absolutismus des Herrscherhauses zu verklären: das Amt (das Königtum oder im Vatikan das Papst-

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tum) gilt da als das Göttliche, Objektive, Wahre und Ewige, als die Quelle allen Lebens, wohingegen der einzelne Lebende, das Individuum, nur etwas Menschliches, Subjektives, Irrtumsfähiges und Vergängliches darstellt. marcel mauss hingegen hob schon 1904/5 hervor, daß ein Einzelner in seinem Für-sich-sein mehr sein müsse, als sich in seinen sozialen Rollenvorschriften vor- und festschreiben lasse: «Selbst wenn der Geist des Individuums ganz und gar von einer Kollektivvorstellung oder einem kollektiven Gefühl überwältigt . . . ist», schrieb er, «. . . selbst dann . . . ist das Individuum die Quelle des Handelns . . . Denn wie groß auch die Macht der Suggestion der Kollektivität sein mag, sie läßt dem Individuum immer ein Heiligtum, sein Bewußtsein, für welches die Psychologie zuständig bleibt.» (marcel mauss: Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie, in: Soziologie und Anthropologie, II 154) Doch eben da liegt das Problem. Das individuelle Bewußtsein (das Ich) reift nur dann zu einer Person (zu seinem Selbst), sagten wir vorhin mit carl gustav jung, wenn es des kollektiven Unbewußten, dessen gesellschaftlich bedingten Teil die persona (die Maske, die Rolle) darstellt, inne wird; doch was tiefenpsychologisch eine einleuchtende psychologische Aufgabe bildet, erweist sich jetzt selber als eine gesellschaftsabhängige, womöglich nur in unserer eigenen Kultur (und auch nur in der gegenwärtigen Phase ihrer Entwicklung) gültige Forderung, als das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses, der die Person von der persona trennt; um so mehr müssen wir damit rechnen, daß andere Gesellschaften, Kulturen und Religionen ein solches Selbstkonzept der Person gar nicht oder nur teilweise oder in anderer Form entwickelt haben – mit all den Konsequenzen für das Verständnis von Ritus, Recht und Religion, die sich daraus ergeben. Denken wir nur daran, wie viele archaische Relikte in unserer eigenen Kultur – im Raum von Politik und Kirche! – dem humanen Postulat des sittlich verantwortlichen Individuums sowie der moralischen Person entgegenstehen. Und bedenken wir ferner, wie raschen Wandlungen gerade kulturelle Anschauungen zu unterliegen pflegen! «Wer weiß überhaupt», fragte sich vor nun fast 70 Jahren marcel mauss selbst bereits, «daß diese ‹Kategorie›, die wir alle für fest verankert halten (sc. die moralische Person, d. V.), immer als solche anerkannt werden wird? Sie bildet sich nur für uns und in uns.» (Soziologie und Anthropologie, I 252) Wie sehr Zweifel dieser Art berechtigt sind, mag zum Beispiel eine ethnologische Untersuchung von meyer fortes (1906 –1983) zeigen, die 1987 unter dem Titel Religion, Morality and the Person über die westafrikanischen Tallensi veröffentlicht wurde. Dabei wird in unserem Zusammenhang vor allem deutlich, wie schwer, ja, fast unmöglich es ist, die Vorstellungen einer fremden

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Kultur in Begriffen der eigenen Vorstellungswelt wiederzugeben. Wenn Worte wie Ich, Selbst und Person schon innerhalb der psychologischen Literatur ein und desselben Kulturkreises je nach Autor einen verschiedenen Sinn annehmen können, bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als die verwandten Kategorien nicht als Definitionen, sondern als Beschreibungen mit offenen Rändern, als Symbole also, zu verstehen. – So hören wir, daß nach Ansicht der Tallensi, wie in der Bibel (vgl. Gen 2,7), alles, was lebt, aus Leib und Atem besteht, während der Mensch in seinem individuellen Körper auch eine Seele besitzt, die ihn mit den Ahnen verbindet und sich nach dem Tode zu ihnen versammelt. Um das tun zu können, muß freilich das, was zum «Selbst» (zum unmittelbaren Lebensumfeld) eines Menschen gehört – seine Gerätschaften, Kleider usw. – verbrannt werden; dazu zählen insbesondere die mystischen Bestandteile seines Körpers, die das Selbst markieren, wie Haare und Fingernägel, die bereits zu Lebzeiten aufgehoben werden, da ihnen Zauberkraft zukommt. (Vgl. meyer fortes: Religion, Morality and the Person, 256 –269.) – Man sieht: würden wir, statt von der «Seele», von dem «Geist» des Verstorbenen sowie von den «Ahnengeistern» sprechen, zu denen er eingeht, und würden wir, statt von «Selbst», von dem «Mana» einer Persönlichkeit sprechen (vgl. marcel mauss: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: Soziologie und Anthropologie, I 140 –144: Das Mana; vgl. auch dieter sefrin: Mana, in: Hubert Cancik u. a.: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV 98 –103), so verbänden wir mit diesen durchaus naheliegenden Begriffen recht andersgeartete Assoziationen; vermutlich bekämen wir sogar Zweifel, ob wir das Thema der Person nun auch noch in die Ethnologie afrikanischer «Primitivkulturen» ausdehnen sollten. – So viel ist nach den wenigen Worten jedenfalls bereits klar, daß die Tallensi durchaus über die Vorstellung einer menschlichen Person in ihrer Individualität verfügen. Allerdings ist ein «Individuum» an sich in ihren Augen noch keine soziale Person; um das zu werden, muß man in einem patrilinearen Klan als ein legitimes Kind zur Welt gekommen sein (meyer fortes: Religion, Morality and the Person, 271) und selbst bereits Nachkommen haben (diese «soziale Person» umschreibt also in etwa das, was wir eine «bürgerliche Existenz» nennen würden); gleichwohl können Menschen einander auch einfach als Individuen begegnen, und zwar geschieht dies durch die Kraft der soog-Beziehung (a. a. O., 283– 285) – eine mystische Verbundenheit, die matrilinear vererbt wird. (Man könnte auch sagen: die Mutter schenkt ihren Kindern das persönliche Leben, und der Vater vermittelt die soziale Funktion.) klaus peter köpping folgert aus diesem Beispiel: «Aus fortes’ Beschreibung der Tallensi wird ersichtlich, daß afrikanische Kulturen entgegen dem weitverbrei-

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teten Vorurteil über die kommunale Denkweise dieser Völker sehr wohl über das Konzept eines einmaligen Individuums verfügen, daß aber das Hauptgewicht der Person auf der sozialen Kontinuität von korporativen Deszendenzgruppen (sc. Abstammungslinien, von lat.: descendere – herabsteigen, d. V.) wie Klan oder Lineage (sc. Verwandtschaftsgruppe, engl.: Abstammung, Familie, Stammbaum, d. V.) liegt.» (Person, in: Hubert Cancik u. a.: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV 315) Beispiele dieser Art, die sich Kultur um Kultur, Sprache um Sprache, Religion um Religion bis ins unendliche vermehren ließen, zeigen wohl deutlich genug, wie wenig selbstverständlich («vernunftgemäß», «gottgegeben» oder «wissenschaftlich begründet») unsere Vorstellungen, Glaubensinhalte und Lehrmeinungen sind, die wir über uns selbst als individuelle Personen hegen; und es fragt sich natürlich, welch ein Realitätswert dem allen zukommen soll. Sozialwissenschaftlich stellte es in den 50er Jahren des 20. Jhs. einen methodisch wichtigen Schritt dar, als david riesman (1901– 2002) in seinem damals viel beachteten Buch Die einsame Masse (engl.: The Lonely Crowd) den Begriff des (individuellen) Charakters von dem Begriff des sozialen Charakters unterschied und damit den Gegensatz von Person und persona in eine umfassendere Dialektik zu stellen suchte. Den (individuellen) Charakter bestimmte riesman als die «sozial und historisch bedingte Struktur der individuellen Triebe und Befriedigungen: die Verfassung, in der der Mensch der Welt und seinen Mitmenschen gegenübertritt», während er den «sozialen Charakter» als die Eigenart bestimmter Gruppen auf Grund ihrer gemeinsamen Erfahrungen verstand. (Die einsame Masse, 20 –21) Vor allem erich fromm (z. B.: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis, in: Gesamtausgabe, III 239– 268) und erik h. erikson (Kindheit und Gesellschaft, 393– 414: Schlußfolgerung: Jenseits der Angst) standen in der Nachfolge dieses Ansatzes. Was dabei indessen geradezu dramatisch in Erscheinung tritt, sind die offenbar in jeder Kultur anzutreffenden Spannungen zwischen der spezifischen Eigenart des Individuums und den Anpassungserwartungen der Gesellschaft an den Einzelnen. Da wir immer wieder den Zusammenhang der individuellen Person mit der Sprachgemeinschaft, in der sie heranwächst, aufgezeigt haben, liegt die Annahme nahe, daß eine mögliche Überbrückung des Konflikts von Person und persona am ehesten «dialogisch» möglich ist. Tatsächlich sind es denn auch vor allem Linguisten, die (im Erbe von marcel mauss) die Person (das Selbstbewußtsein eines individuellen Subjekts) ganz im vorgeschlagenen Sinne durch die Sprachfähigkeit konstituiert sehen und – indem sie auf die Ursprungseinheit von Ich (als dem Sprechenden) und Gesellschaft (als der Sprach-

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gemeinschaft) verweisen – einen Gegensatz zwischen Individuum und Kollektiv im letzten verneinen. «So fallen die alten Antinomien . . . des Individuums und der Gesellschaft» dahin, schreibt der französische Sprachwissenschaftler émile benveniste (Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 290) und fährt fort: «Es wäre illegitim und irrig, diese Dualität auf einen einzigen Grundbegriff zurückzuführen, gleich, ob dieser einzige Begriff das ‹Ich› ist, das in seinem eigenen Bewußtsein installiert werden müßte, um sich dann dem Bewußtsein des ‹Nächsten› zu öffnen, oder ob er im Gegenteil die Gesellschaft ist, die als Gesamtheit vor dem Individuum existierte . . . In einer dialektischen Realität, die beide Begriffe umfaßt . . ., entdeckt man die sprachliche Grundlage der Subjektivität.» In der Tat: Solange Menschen miteinander reden, erfährt sich der Sprechende als ein Ich, das mit einem Du im Gespräch ist, dessen Anrede es selber als ein Ich ausweist . . . Eine solch «reziproke» Betrachtungsweise entfernt sich weit von sigmund freuds Gedanken über die prinzipielle Unvereinbarkeit der Triebwünsche (des Es) mit den Forderungen der Zivilisation (des Überich), wie er sie im Jahre 1930 in Das Unbehagen in der Kultur (in: Gesammelte Werke, XIV 419– 506) dargestellt hat; doch eingestanden hätte wohl auch freud, daß ein Ich, das redet, den einzigen Ort möglicher Bewußtwerdung, möglicher Heilung, möglicher Versöhnung bildet.

β) Von jean-paul sartre zu jacques lacan oder: Ich als Symbol Wenn das, was wir Person nennen, wesentlich durch den Austausch von Sprache bestimmt wird: durch Zuwendung (interpersonal) und Rollenzuweisung (soziokulturell), so wird es zu einer zentralen Frage, wie dieser Vorgang zu verstehen ist. Bisher haben wir psychologisch und neurologisch zu zeigen versucht, wie das Selbst eines Kindes sich entwickelt, und dieses Konzept einer phasenweisen Entfaltung der Psyche bis hin zur Integrationsstufe des «verbalen Selbst» verträgt sich durchaus mit dem «Kulturalismus», wie wir ihn gerade bei erik h. erikson (Kindheit und Gesellschaft, 42 –103) gefunden haben. Doch welch eine Realität besitzt das Ich (das Subjekt, das Selbst, die Person), das so entsteht? Eine enorme Denk- und Syntheseleistung zur Lösung dieses Problems hat der von uns in der Einleitung zum 1. Bd. bereits erwähnte französische Strukturalist und freud-Interpret jacques lacan (1901–1981) in seinen Seminarstunden während der 50er Jahre des 20. Jhs. vorgelegt. Wohlgemerkt geht es uns an dieser Stelle nicht darum, inwieweit der Vordenker weiter Kreise der

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französischen Psychoanalyse freud historisch korrekt verstanden und weiterinterpretiert hat; einzig um sein Verständnis von Ich (von Person) ist es uns zu tun. Dabei müssen wir in Rechnung stellen, daß die Genetik ebenso wie die Neurologie vor einem halben Jahrhundert gerade erst sich in die Startlöcher begaben, um den nötigen Anlauf für jene Weitsprünge zu nehmen, die wir sie derzeit vollführen sehen; um so wichtiger war damals die Philosophie des Bewußtseins: descartes, kant, hegel, – sonderbarerweise übergeht lacan einen der wichtigsten Phänomenologen des Bewußtseins im französischen Sprachraum vollkommen: jean-paul sartre (1905 –1980). Der Grund dafür darf darin vermutet werden, daß den Existentialisten um sartre eine Art von Humanismus vorschwebte – sie glaubten an den Wert des politischen Engagements, an die Bedeutung des Einzelnen innerhalb der menschlichen Geschichte, an die Herausforderung, der Last einer absurden Freiheit standzuhalten. Die Strukturalisten hingegen, denen lacan nahestand, entdeckten, wie wir kurz zeigen werden, in allen menschlichen Kulturen dieselben Konflikte und die gleichen Strukturen zu ihrer Lösung, ohne Entwicklung, ohne «Fortschritt»: ein Sein voller symbolischer Bedeutungen inmitten eines Felds vollkommener Bedeutungslosigkeit. – Beginnen wir mit ein paar Überlegungen aus jeanpaul sartres Arbeit aus dem Jahre 1936: Die Transzendenz des Ego.

I. jean-paul sartre oder: Die Konstitution des Ego durch das Bewußtsein kants «Ich denke», das «alle meine Vorstellungen begleiten können» muß, war, wir erinnern uns, nichts weiter als die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung; anders als descartes, aber auch als fichte, hegel u. a., hatte kant niemals behauptet, dieses «Ich denke» sei eine reale Größe, noch hatte er je den Versuch unternommen, das Bewußtsein oder gar die Realität aus dem Ich entstehen zu lassen. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß das Ich faktisch im Bewußtsein existiert, und zwar so, daß das Bewußtsein «unser empirisches ‹in der Welt› seiendes Bewußtsein mit seinem psychischen und psychophysischen ‹ICH›» konstituiert. (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego, 9) Mit diesen Worten schloß sich sartre einem zentralen Gedanken an, den edmund husserl (1859 –1938) in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie im Jahre 1913 ausführlich dargelegt hatte: «. . . daß alles, was in der Dingwelt für mich da ist, prinzipiell nur präsumptive (sc. mutmaßliche, von lat.: praesumere – vermuten, d. V.) Wirklichkeit ist;

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daß hingegen Ich selbst, für den sie da ist . . . absolute Wirklichkeit ist». (edmund husserl: Die phänomenologische Methode, I 180) Abweichend von kants transzendentalem Subjekt, galt in husserls Phänomenologie nun zwar das transzendentale Bewußtsein als dasjenige Sein, welches die Welt konstituiert und sich dabei in das empirische Bewußtsein einschließt; allerdings sollte nach ihm das transzendentale Bewußtsein denn doch die Struktur eines transzendentalen Ich und damit durchaus persönliche Züge tragen. (Vgl. edmund husserl: Logische Untersuchungen, II 5: Über intentionale Erlebnisse und ihre «Inhalte», 1. Kap.: Bewußtsein als phänomenologischer Bestandteil des Ich und Bewußtsein als innere Wahrnehmung, § 4, S. 353 f.; § 8, S. 359 ff.) Zu Recht machte nun sartre an dieser Stelle geltend, daß eine solche Verdoppelung des psychischen und psychophysischen Ich durch ein transzendentales Ich nicht nur überflüssig, sondern auch phänomenologisch unkorrekt sei. «Gewöhnlich glaubt man,» schrieb er, «die Existenz eines transzendentalen Ich sei durch die Forderung der Einheit und Individualität des Bewußtseins gerechtfertigt, und zwar deshalb, weil alle meine Wahrnehmungen und alle meine Gedanken auf diesen stetigen Brennpunkt bezogen sind; weil mein Bewußtsein geeint ist; weil ich von meinem Bewußtsein sprechen kann . . .; weil jedes Bewußtsein sich vom anderen unterscheidet. Das Ich ist Ursprungsprinzip der Innerlichkeit. – Nun hat es aber die Phänomenologie ganz gewiß nicht nötig, auf dieses einheitsstiftende und individualisierende Ich zu rekurrieren. Das Bewußtsein definiert sich nämlich durch Intentionalität. Vermöge der Intentionalität transzendiert es sich selbst, einigt es sich . . . Die Einheit . . . ist der transzendente Gegenstand.» (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego, 10) Diese (rein phänomenologisch entwickelte) Auffassung deckt sich mit der Feststellung, die wir bei der Begründung des Bewußtseins aus neuronalen Vorgängen getroffen haben: Bewußtsein, so sagten wir, besteht darin, die Informationen der verschiedenen Sinneskanäle zu einem einheitlichen Wahrnehmungsgegenstand zu verschmelzen (vgl. Abb. D 7) und damit zugleich sich selbst seine Einheit zu geben. Hinzu kommt sehr wesentlich allerdings die Einheit in der Zeit: Bewußtsein, so sagten wir gleichfalls, besteht darin, gegenwärtige Eindrücke zumindest für die Dauer des Arbeitsgedächtnisses mit Erinnerungen zu verschmelzen; husserl entwickelte in seiner grundlegenden Studie Cartesianische Meditationen (Husserliana, Bd. 1, hg. v. S. Strasser, 1950) denn auch die Vorstellung, daß das Bewußtsein sich selber seine Einheit in der Zeit, mithin seine Dauer verleihe. Dagegen indessen wandte sartre ein, daß sich die Individualität des Bewußtseins «aus der Natur des Bewußtseins» selbst ergebe, indem

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es eine synthetische, von jeder anderen Totalität gleichen Typs isolierte Einheit bilde; wiederum bedürfe es keines transzendentalen Ich, um das Bewußtsein zu begründen; vielmehr sei «das Ich . . . ganz offensichtlich nur ein Ausdruck (und keine Bedingung) der Unmittelbarkeit und Innerlichkeit jedes Bewußtseins . . .: nach dem phänomenologischen Bewußtseinskonzept ist die Einungs- und Individualisierungsfunktion des Ich vollkommen überflüssig. Es ist vielmehr gerade das Bewußtsein, das die Einheit und den Personcharakter meines Ich ermöglicht. Für den Ansatz eines transzendentalen Ich findet sich also kein Grund.» (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego, 10–11) Demnach ist «das Bewußtsein ein nicht-substantielles Absolutum», wobei das «Bewußtsein ersten Grades» (das primäre oder phänomenale Bewußtsein, wie wir früher sagten) nicht positional ist – es ist (noch) nicht sein eigener Gegenstand; auch das Ich ist (noch) kein Gegenstand des Bewußtseins, und noch weniger ist es selbst Bewußtsein, weil es allenfalls «ein Gegenstand für das Bewußtsein ist.» (jean-paul sartre: A. a. O., 12) Was aber ist es dann mit dem «ich» in descartes’ «ich denke»? Kann man daraus folgern: «also bin ich» im Sinne von: «also ist da (m)ein Ich»? Offenbar nein. Wohl ist descartes’ cogito (lat.: ich denke) persönlich geprägt, es steckt ein Ich, eine «Egologie» darin, doch kommt dieses Ich erst zum Vorschein durch den Akt der Reflexion. (Vgl. jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego, 12–13.) sartres These lautete: «auf der unreflektierten Ebene gibt es kein Ich. Wenn ich hinter einer Straßenbahn herlaufe, wenn ich auf die Uhr schaue, wenn ich in die Betrachtung eines Porträts versunken bin, gibt es kein Ich. Es gibt Bewußtsein von-der-zu-erreichenden-Straßenbahn usw., und nicht-positionales Bewußtsein des Bewußtseins . . . ich aber bin verschwunden . . . ich habe auf dieser Ebene keinen Platz, und zwar . . . auf Grund der Eigenstruktur des Bewußtseins.» (jean-paul sartre: A. a. O., 15) Ich und denke liegen also nicht auf derselben Ebene. Das Ich im «ich denke» erweist sich vielmehr selbst als ein transzendenter Gegenstand – und zeigt eben dadurch an, daß «es nicht von der Art des transzendentalen Bewußtseins» ist. (jean-paul sartre: A. a. O., 16) Sagen wir so: Das Ich ist ein Seiendes, das sich selbst als transzendent zu erkennen gibt, indem es «nur gelegentlich eines Reflexionsaktes» erscheint: «ein unreflektierter Reflexionsakt ohne Ich wendet sich einem reflektierten Bewußtsein zu. Dieses wird Gegenstand des reflektierenden Bewußtseins, ohne jedoch aufzuhören, seinen eigenen Gegenstand (einen Stuhl, eine mathematische Wahrheit usw.) zu setzen. Zugleich erscheint ein neuer Gegenstand, der Anlaß zu einer Setzung des refle-

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xiven Bewußtseins wird und sich infolgedessen weder auf derselben Ebene wie das unreflektierte Bewußtsein befindet (weil dieses ein Absolutes ist, das zu seiner Existenz keines reflexiven Bewußtseins bedarf) noch auf derselben Ebene wie der Gegenstand des unreflektierten Bewußtseins (Stuhl usw.) liegt. Dieser transzendente Gegenstand des Reflexionsaktes ist das Ich.» (jean-paul sartre: A. a. O., 16 –17) Daraus folgt, daß «das Unreflektierte die ontologische Priorität vor dem Reflektierten» besitzt; «das unreflektierte Bewußtsein muß als selbständig erachtet werden. Es ist eine keiner weiteren Ergänzung bedürftige Totalität, und wir müssen ohne weiteres anerkennen, daß es die Eigenart des unreflektierten Begehrens ist, sich im Erfassen der Objektqualität des Begehrenswerten zu transzendieren . . . Nur, aber auch nur im Falle der Reflexion ist die Affektivität als Begierde, Furcht usw. für sich selbst gesetzt. Nur im Falle der Reflexion vermag ich den Gedanken zu vollziehen: ‹Ich hasse Peter›, ‹Ich habe Mitleid mit Paul› usw.» (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego, 19) «Das Ich (sc. frz.: je, das formale bzw. rein funktionale Bezugszentrum aller bewußten Inhalte, d. V.) ist das Ego, soweit dies Handlungseinheit ist. Das ICH (sc. frz.: Moi, die materiale Inhaltsgesamtheit der Bewußtseinserlebnisse, d. V.) ist das Ego, soweit dies Einheit der Zustände und Qualitäten ist.» (jean-paul sartre: A. a. O., 20) Auf diese Weise taucht das Psychische (der Gegenstand der Psychologie) als das transzendente Objekt des reflexiven Bewußtseins auf. «Das Ego», schrieb sartre, «erscheint der Reflexion als ein die ständige Synthese des Psychischen bewirkender transzendenter Gegenstand. Das Ego gehört zum Psychischen . . . Das psycho-physische ICH ist eine synthetische Erweiterung des psychischen Ego, das sehr wohl . . . selbständig existieren kann.» (jean-paul sartre: A. a. O., 26) Und weiter: «das Ego ist ein vom reflexiven Bewußtsein erfaßtes, aber auch konstituiertes Objekt. Es ist ein virtuelles Einheitszentrum, und das Bewußtsein konstituiert es in Umkehrung der eigentlichen Produktionsabfolge: an erster Stelle stehen eigentlich die Erlebnisse, durch die sich die Zustände bilden, alsdann durch diese das Ego. Weil nun aber durch ein Bewußtsein, das sich in der Welt einschließt, . . . die Ordnung umgekehrt wird, treten die Erlebnisse als Emanationen (sc. Ausflüsse, von lat.: emanare – herausfließen; der Ausdruck war zentral in der Metaphysik plotins, ca. 205 –270, d. V.) der Zustände und die Zustände als Produkte des Ego auf. Daraus folgt, daß das Bewußtsein seine eigene Spontaneität in das Objekt-Ego hineinprojiziert, um diesem die ihm absolut notwendige schöpferische Fähigkeit zu verleihen. Doch diese in einem Objekt vorgestellte und zu einem Objekt hypostasierte (sc. griech.: die hypóstasis –

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Grundlage, Wesen, d. V.) Spontaneität wird zu einer entarteten und degradierten Spontaneität, die ihre schöpferische Kraft, obwohl sie passiv wird, auf magische Weise bewahrt. Hier liegt der Grund für die tiefe Irrationalität des EgoBegriffs.» (jean-paul sartre: A. a. O., 30– 31) «Mit Bezug auf das Bewußtsein ist das Ego intim gegeben. Alles geht so vor sich, als ob das Ego Bewußtsein wäre, bis auf den einzigen, aber wesentlichen Unterschied, daß das Ego für das Bewußtsein undurchschaubar ist.» (jean-paul sartre: A. a. O., 32) «Das Ego tritt ja wirklich immer nur dann in Erscheinung, wenn man es nicht betrachtet. Der reflexive Blick muß sich auf das ‹Erlebnis› . . . richten. Alsdann erscheint hinter dem Zustand am Horizont das Ego. Es wird also immer nur am äußersten Rande des Gesichtsfeldes gesehen. Sobald ich meinen Blick darauf richte und es direkt, nicht durch das Erlebnis . . . hindurch erfassen will, vergeht es.» (jean-paul sartre: A. a. O., 34) «Es ist jedoch gewiß, daß das Ich auf der unreflektierten Ebene erscheint. Wenn man mich fragt: ‹Was machen Sie da?› und ich antworte ganz beschäftigt: ‹Ich versuche dieses Bild hier aufzuhängen› . . ., so versetzen uns diese Sätze nicht auf die Ebene der Reflexion . . . Das Ich, das wir hier vorfinden, ist gewissermaßen der Träger der Handlungen, die (ich) in der Welt ausführe . . ., insoweit diese Handlungen Qualitäten der Welt und nicht Bewußtseinseinheiten sind . . ., und der objektive und leere Träger dieser Handlung ist der Ich-Begriff. Das ist der Grund dafür, daß der Körper und die Vorstellungen des Körpers die völlige Entartung des konkreten Ichs der Reflexion zum Ich-Begriff vollbringen können . . . Der Körper fungiert folglich als sichtbares und greifbares Symbol des Ich.» (jean-paul sartre: A. a. O., 34– 35) Zu unterscheiden ist also nach sartre zwischen der Ebene des reflektierten Bewußtseins – der Sphäre der Innerlichkeit, des anschaulichen Ego, der Transzendenz, der Sphäre des Psychischen – und der unreflektierten Ebene des (möglichen) Ich-Begriffs – der Sphäre des Psycho-Physischen, innerhalb deren der Körper als Scheinerfüllung (als Symbol) des Ich-Begriffs fungiert. Insgesamt gilt: «Das Ego ist nicht Eigentümer, sondern Objekt des Bewußtseins.» (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego, 38) Demgegenüber ist das «transzendentale Bewußtsein» «unpersönliche Spontaneität». (jean-paul sartre: A. a. O., 39) Alles aber kann so aussehen, «als ob das Bewußtsein das Ego als eine Fehlvorstellung seiner selbst konstituierte, als ob es von diesem Ego, das es konstituiert hat, hypnotisiert sei und von ihm absorbiert werde, als ob es aus ihm seinen Wächter und sein Gesetz mache; denn nur dank des Ego läßt sich die Unterscheidung von Möglichem und Wirklichem, von Erscheinung und Sein, von Wollen

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und Müssen vollziehen.» (jean-paul sartre: A. a. O., 40) In Wahrheit aber ist das Ich ein Transzendentes des Bewußtseins, und «so hat es an allen Wechselfällen der Welt teil. Es ist kein Absolutum, es hat keinesfalls die Welt geschaffen . . . Tatsächlich ist mein Ich für das Bewußtsein nicht gewisser als das Ich anderer Menschen. Es ist lediglich vertrauter.» (jean-paul sartre: A. a. O., 41– 42) Der Unterschied ist deutlich: Wäre das Ich ein Strukturmoment des absoluten Bewußtseins, so stünde der Mensch selbst außerhalb der Welt; ist aber das Ich etwas, das zugleich mit der Welt existiert und dessen Existenz die gleichen Grundmerkmale besitzt wie die Welt, so ist der Mensch ganz und gar wieder in die Welt zurückgenommen. «Mehr bedarf es nicht zur philosophischen Grundlegung einer absolut positiven Moral und Politik», versicherte sartre (jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, in: J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego, 43). Doch gerade an diesem Kernpunkt der sartreschen Ausführungen muß man Zweifel anmelden. Wenn das Ich konstituiert wird durch die Totalität eines Bewußtseins, das radikal individuell sein muß, weil es jeweils seine eigene Welt vereinheitlicht, so ist die soziale Wirklichkeit zersplittert in eine Welt von Bewußtseins-Atomen, die einander in eben den Formen begegnen müssen, die sartre in seinem Hauptwerk aus dem Jahre 1943 Das Sein und das Nichts beschrieben hat (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 206– 213): in den Erlebnisweisen eines Sadomasochismus, der nur die Frage zuläßt, wer wen vergegenständlicht, wer wessen Weltenwurf dezentriert, wer wen mit seinen Qualifikationen überzieht. Das Grundproblem liegt freilich bereits in dem Ausgangspunkt der phänomenologischen Methode, die schon in husserls Konzeption aus dem Getto eines subjektivistischen Idealismus nur schwer herauszufinden vermochte. Demgegenüber blieb es unser Bemühen, Bewußtsein und Selbstbewußtsein aus den psychischen Prozessen zwischen sozial lebenden Individuen abzuleiten, und insbesondere die Entstehung des Selbst bzw. des Ich sahen wir auf das engste verknüpft mit interpersonalen Kommunikationsvorgängen. Mag auch phänomenologisch das Ich dem reflektierenden Bewußtsein als eine Schöpfung seiner selbst erscheinen, mag es sich selbst auch als ein absoluter, irreduzierbarer Ausgangspunkt aller Bewußtseinsinhalte und möglichen Wissenschaftsgebiete erscheinen, so ist in der Ordnung des Seins doch gerade das Bewußtsein selbst etwas, das viel später kam als der Hunger, als die Begierde, als der Haß oder als die Erschöpfung; und wenn sartre davon sprach, es könne die Vorstellung des Ich die elementaren Bedürfnisse gewissermaßen «verunreinigen», so gilt diese Feststellung gewiß bereits auf der Stufe, da

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sich das Bewußtsein bildete: Bewußtsein ist nötig, wie wir sahen, um etwas Neues zu lernen, doch störend ist es nicht selten beim Abruf erlernter Inhalte und Fertigkeiten. Was für das Verständnis des Ich von den phänomenologischen Analysen sartres indessen bleibt, ist die Auffassung, es handle sich bei ihm um ein transzendentes Objekt, dem die imaginäre Funktion der Vereinheitlichung des Psychischen zukomme und das als objektiver (und leerer) Träger von Handlungen sich zum Ich-Begriff erweitere, als dessen Symbol der Körper auftrete. Das Ich als eine imaginäre Funktion, die nur als Symbol in das psychische Leben eingreift – gerade dieser Ansatz scheint den geistigen Hintergrund der Analysen lacans zu bilden, die dieser allerdings, wie schon gesagt: an sartre vorbei, in seinen freud-Interpretationen vornahm.

II. jacques lacan und der Strukturalismus bei claude lévi-strauss oder: Von einer radikal symbolischen Ordnung jean améry (Was kommt nach Sartre?, in: Die Tat, Zürich, 8. 4. 1967, 18) schrieb einmal wie zur Warnung: «Man hüte sich . . ., wenn man ‹Psychoanalytiker› liest, im Zusammenhang mit lacan an einen Psychotherapeuten zu denken, dessen Herzenssache die Hilfe ist, die er mittels der analytischen Methode einem Menschen bringen könnte. Die Ambitionen dieses Professors gehen ganz anderswo hin. Er will die Psychoanalyse zur ‹Wissenschaft› machen (im Gegensatz zur Heilkunst), wie er das ausdrücklich erklärt. Und diese ‹wissenschaftliche› Analyse, die sich wenig kümmert um empirische Wahrheitsprüfung, hat es wiederum mit den nachgerade berüchtigten ‹Strukturen› zu tun. Gleich lévi-strauss ist auch jacques lacan besessen von der Linguistik. Der Mensch, das Subjekt – sie verschwinden. Der dem Analytiker sich sprechend anvertrauende Patient spricht nicht als Mensch und Einzelner: es spricht vielmehr aus ihm und in ihm, und dieses ‹Es› hat wiederum keinen persönlichen Charakter, sondern ist aufgebaut entsprechend den vorgegebenen sprachlichen Strukturen. Die ‹Verdrängung› ist nicht Verdrängung eines Wunsches, sondern einer strukturierten Rede. Anstelle des descartesschen ‹Ich denke, also bin ich› setzt lacan den paradoxen Satz: ‹Ich denke, sobald ich nicht bin, ich bin dort, wo ich nicht denke.› Was anders, einfacher ausgedrückt nur heißt: Der Mensch als zugleich denkendes und seiendes Wesen ist nirgendwo; der Mensch, wie wir ihn als solchen bislang verstanden, ist nicht.» (Zit. n. günther schiwy: Der französische Strukturalismus, 71–72.) Präziser läßt sich die Entmachtung des Subjekts oder, wie lacan mit Bezug zu freud formulierte, die «Dezentrie-

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rung» des Ich nicht ausdrücken. (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 14). Vorgreifend kann man auch sagen, daß lacan als das «wahre» Ich das Es, das Unbewußte, betrachtete; «will ich mich erkennen, so muß ich dieses Es erkennen, mein redendes Ich zum Schweigen bringen und das Es reden lassen. Dieses Es aber ist – die Sprache.» (günther schiwy: Neue Aspekte des Strukturalismus, 153) Nun kann man von Anfang an darüber diskutieren, ob diese Auflösung des Ich im (kollektiven) Unbewußten sich nicht weit eher auf die Konzeption des Selbst bei carl gustav jung berufen sollte als auf die Ich-Psychologie freuds; tatsächlich läßt sich alles, was lacan über das Ich sagt, mühelos verstehen, wenn man es als Aussage über jungs persona begreift; unterschiedlich ist nicht eigentlich die psychologische Auffassung, als vielmehr das ethnologische bzw. soziologische Instrumentar: weil jung sich auf lucien lévy-bruhl (1857–1939) mit seinem Hauptwerk Das Denken der Naturvölker (dt. 21926) bezog, erscheint bei ihm das kollektive Unbewußte irrational; lacan hingegen entdeckt mit claude lévi-strauss (geb. 1908) und seiner strukturalistischen Ethnologie das Unbewußte als eine Sprache mit einer eigenen Rationalitätsstruktur. Doch wichtiger als dies ist lacans Absage an den Humanismus, die er mit den Strukturalisten teilt und die ihn trennt von dem atheistischen Humanismus der Existentialisten um sartre. Sehr klar hat der «Ideologe» des Strukturalismus, michel foucault (1926 –1984), in einem Interview aus dem Jahre 1966 (Absage an Sartre, in: La Quinzaine littéraire, 5/1966) den Gegensatz formuliert: «Für sartre », stellte er zutreffend fest, «war man zugleich Deuter und Programmierer des Sinns: man entdeckte den ‹Sinn› und wurde von ihm geleitet . . . – Der Bruch vollzog sich, als lévi-strauss für die Gesellschaften und lacan für das Unbewußte zeigten, daß der ‹Sinn› vermutlich nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum sei; daß das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der Zeit und im Raum hält, eben das System ist . . . – Unter System hat man eine Gesamtheit von Beziehungen zu verstehen, die sich unabhängig von den Inhalten, die sie verbinden, erhalten und verändern. Man hat z. B. zeigen können, daß die Götter und Heroen der römischen, keltischen und skandinavischen Mythen sehr verschieden voneinander sind, daß jedoch (obwohl diese Kulturen nichts voneinander wußten) die Ordnung, in die sie einbezogen sind, ihre Hierarchien, Rivalitäten, Treubrüche und Verträge ein und demselben System folgen . . . Die Bedeutung lacans beruht darauf, daß er gezeigt hat, wie sich durch die Worte des Kranken und die Symptome seiner Krankheit hindurch die Struktur, das System der Sprache ausdrückt – und nicht das Subjekt. Vor jeder menschlichen

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Existenz, vor jedem menschlichen Denken, gäbe es demnach schon ein Wissen, ein System, das wir wiederentdecken. . . . – Was ist dieses anonyme System ohne Subjekt, was ist es, das denkt? Das ‹Ich› ist zerstört (denken Sie nur an die moderne Literatur) – nun geht es um die Entdeckung des ‹es gibt›. Es gibt ein ‹man›. In gewisser Weise kehren wir damit zum Standpunkt des 17. Jahrhunderts zurück, mit folgendem Unterschied: nicht den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen, sondern ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoretisches ohne Identität . . . – Man denkt innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems, nämlich dem einer Epoche und einer Sprache. Dieses Denken und diese Sprache haben ihre eigenen Gesetze der Umwandlung (sc. beim Übergang von einer Kultur oder Sprache in eine andere Kultur oder Sprache, d. V.). Die Aufgabe der heutigen Philosophie und aller theoretischen Disziplinen . . . besteht darin, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor jeglichem System wieder zutage zu fördern.» (Zit. n. günther schiwy: Der französische Strukturalismus, 204– 205.) Was aber ist das für ein «System», das sich im «Unbewußten» findet? An dieser Stelle verbindet sich lacans Psychoanalyse mit der strukturalistischen Ethnologie von lévi-strauss ; denn was sich im Unbewußten erkennen läßt, ist ein «System der Tauschakte» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 70), zu dem letztlich auch die Sprache zählt. Den einfachsten Zugang zu den Grundlagen der strukturalistischen Sicht auf den Menschen gewinnen wir wohl, wenn wir uns daran erinnern, daß bereits bei den Primaten ein semantisches Verständnis für Laute und Zeichen anzutreffen ist und daß ein Kind, ehe es zu sprechen beginnt, eine Reihe von logischen Operationen (wie Klassifikationen und kausalen Zuordnungen) erlernt haben muß. Vor der Entstehung von «Sprache» im menschlichen Sinne muß es zur Ausbildung einer bestimmten Form symbolischen Denkens gekommen sein, und gerade das stellt einen zentralen Gedanken der strukturalistischen Ethnologie dar, die, wenn man so will, die Linguistik des schweizerischen Sprachforschers ferdinand de saussure (1857–1913; Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1916) auf die Betrachtung menschlicher Gesellschaften anwandte. Grundlegend war de saussures Unterscheidung zwischen Sprache (frz.: die langue) und Rede (frz.: die parole): Jemand, der spricht, wählt aus dem Gesamtsystem der Sprache bestimmte Worte, Wendungen, Betonungsweisen aus und fügt sie zu einer besonderen Ordnung, zu einer Rede, zusammen, die eine spezielle Information enthält; von daher läßt sich informationstheoretisch auch zwischen Code und Botschaft unterscheiden. (Vgl. edmund

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leach: Claude Lévi-Strauss, 49– 50.) Wichtig ist nun ein Gedanke, der sich uns schon bei der Beobachtung von Tieren und kleinen Kindern aufdrängte: Wir «reden» keineswegs nur verbal miteinander; auch unsere Gesten, unsere Mimik, unsere Lautkundgebungen, auch die Färbung der Körperoberfläche bzw. die Art der Kleidung, auch die Regeln bei der Zubereitung und Einnahme von Speisen, auch die Wohnungseinrichtungen, auch die Rituale im Werbeverhalten von Sexualpartnern oder die Formen der Demonstration von Rang und Macht lassen sich als Sprachen (hier im Sinne nicht-verbaler Kommunikation) oder Codes interpretieren. Lautelemente, Kleider, Speisen, Möbel etc. treten dabei in einer gleichartigen Funktion oder Bedeutung auf; sie bilden ein «System» (hier in Anführungszeichen), eine Sprache, einen Code; davon abheben lassen sich die Wortarten (Nomina, Verben, Adjektive etc.) bzw. die Objektreihen, die den Wortarten entsprechen – bezeichnen wir sie einfach als System (ohne Anführungsstriche); durch Anwendung der grammatischen Regeln der Sprache werden die Elemente des Systems zu einer «syntagmatischen Kette» (zu einem «Syntagma») zusammengefügt (von griech.: die sýntaxis – Anordnung), zu einem satzartigen Gebilde. Wohlgemerkt sind es nicht die Ähnlichkeiten zwischen den Elementen, die den «Satz» (die syntagmatische Kette) bilden, sondern die Regeln der jeweiligen Sprache. (Vgl. edmund leach: A. a. O., 50 –51.) In seinem Buch Elemente der Semiologie aus dem Jahre 1965 hat roland barthes (1915 –1980) einmal den «sprachlichen» Charakter nicht-verbaler Kommunikationsformen in einem schematischen Katalog von Beispielen dargestellt, den wir in Abb. D 24 in den Veränderungen wiedergeben, die der britische Anthropologe edmund leach (1910 –1989) in seinem Buch Claude Lévi-Strauss, 52 an der Tabelle vorgenommen hat. Statt von System und Syntagma sprach nun lévi-strauss von Metapher und Metonymie beziehungsweise von paradigmatischen Reihen und syntagmatischen Ketten; doch bei all dem handelt es sich jetzt wirklich nur um verschiedene Ausdrücke, die samt und sonders dasselbe meinen – wir stehen nicht vor dem Problem von vorhin, daß dieselben Begriffe ganz verschieden definiert würden. Die Metapher (das System, das Paradigma) basiert nach diesem Verständnis auf der Erkenntnis von Ähnlichkeit, die Metonymie (das Syntagma) auf der Erkenntnis der Regeln ihrer Zusammengehörigkeit. (Eigentlich versteht man unter einer Metapher einen abgekürzten Vergleich, eine Ausdrucksweise in übertragenem Sinne, von griech.: metaphérein – verlegen, hinübertragen; beispielsweise sagt man: «Der Himmel weint» und umschreibt damit die Tatsache, daß es regnet; mit Metonymie bezeichnet man den übertragenen Gebrauch eines Wortes für einen verwandten Begriff, von griech.: metonomázein

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[A]

[B]

System [Redeteile: Nomina, Verben usw.]

Syntagma [Satz]

Kleidung «System» [Sprache] [Kode]

Zusammenstellung von Stücken, Teilen oder Einzelheiten, die nicht gleichzeitig an der selben Stelle des Körpers getragen werden können, und deren Variation einer Veränderung in der Bedeutung der Kleidung entspricht: Barett – Haube – Kapuze usw.

Zusammenstellung verschiedener Elemente bei einer bestimmten Kleidung: Rock – Bluse – Jacke.

Nahrung «System» [Sprache] [Kode]

Zusammenstellung von Speisen mit Affinitäten Tatsächliche Folge der oder Unterschiede, unter denen man im Speisen, die bei einer Mahlzeit Hinblick auf eine bestimmte Bedeutung eine gewählt wurden: bestimmte auswählt: die verschiedenen ein Menü also. Vorspeisen, Hauptgerichte oder Nachspeisen. Die Speisekarte im Restaurant vereinigt beide Ebenen: die nebeneinanderstehenden Vorspeisen z. B. entsprechen dem System, die untereinanderstehenden Speisen des Menüs entsprechen dem Syntagma.

Einrichtung «System» [Sprache] [Kode]

Zusammenstellung «stilistischer» Varianten desselben Möbelstücks, eines Bettes z. B.

Zusammenstellung verschiedener Möbelstücke in einer Wohnung (o. ä.): Bett – Schrank – Tisch usw.

Architektur «System» [Sprache] [Kode]

Stilistische Variationen eines einzelnen Bauelements: z. B. verschiedene Typen von Dächern, Balkons, Treppenhäusern usw.

Zusammenstellung der Bauelemente in einem vollständigen Gebäude.

Abb. D 24: Diagramm der Beziehungen zwischen System und Syntagma

– umbenennen; zum Beispiel sagt man statt: «Ich werde alt» auch: «Ich bekomme graue Haare».) Metaphern bilden eine Art von Symbolisation; um aber eine Metonymie zu ermöglichen, muß ein einzelnes Merkmal das Ganze erkennen lassen, das heißt man muß wissen, wie ein einzelnes Syntagma sich aus den Elementen des «Systems» (der Sprache, des Codes) zusammensetzt. Der Ausdruck zum Beispiel: «ein gekröntes Haupt» ist eine Metonymie, denn er stellt die Krone in eine syntagmatische Kette von Gegenständen, die allesamt die Herrschermacht bezeichnen – «ein gekröntes Haupt» umschreibt mithin einen König; sprechen wir dagegen von einer «Bienenkönigin», so drücken wir uns metaphorisch aus. (Vgl. edmund leach: Claude Lévi-Strauss, 52 –54.) Die Unterscheidung dieser Begriffe (metaphorisch-paradigmatisch und metonymisch-syntagmatisch) bot lévi-strauss im folgenden den Schlüssel zum Verständnis von Totemismus und Mythos; denn: «Als Einzelelemente einer Kultur gesehen sind ein totemistischer Brauch oder ein Mythos syntagmatisch, – er besteht aus einer Folge von Einzelheiten, die in einer Kette zusammengefügt sind; Tiere und Menschen sind austauschbar, Kultur und Natur vermischt.

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Wenn man aber eine ganze Reihe solcher Mythen und Bräuche übereinanderdeckt, dann tritt ein paradigmatisch-metaphorisches Muster hervor, und es wird erkennbar, daß die Varianten dessen, was den Tieren widerfährt, algebraische Transformationen dessen sind, was den Menschen widerfährt. – Wahlweise kann man auch in umgekehrter Richtung vorgehen. Wenn man den Ablauf eines bestimmten brauchtümlichen Verhaltens betrachtet, kann man ihn als Syntagma ansehen, als einen Sonderfall geordneter Beziehungen innerhalb einer Reihe von kulturellen Zufälligkeiten, die selbst nur ein geschichtliches Rudiment sind. Wenn man nun die Beziehungen zwischen den Einzelelementen eines solchen Spezialfalles algebraisch untersucht, kann man ein ganzes System, ein Thema mit Variationen, – eine Zusammenstellung von Paradigmata (oder Metaphern) – erschließen, von denen der Spezialfall nur ein Beispiel (sc. griech.: ein parádigma, d. V.) darstellt. Dadurch wendet sich die Aufmerksamkeit allen möglichen anderen Varianten zu, und bei einer zweiten Betrachtung der ethnographischen Daten kann man dann feststellen, ob diese Varianten auch tatsächlich auftreten. Wenn das zutrifft, hat man nachgewiesen, daß die Algebra einem tiefverwurzelten organisatorischen Prinzip in allen menschlichen Gehirnen entspricht.» (edmund leach: Claude Lévi-Strauss, 54 –55) Mit einem Wort: Was der Strukturalismus erforscht, ist die Tatsache, daß alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten in der gleichen Weise denken. Anerkennt man erst einmal, daß die Metapher nicht eine nachträgliche Verschönerung der Sprache darstellt, sondern eine grundlegende Ausdrucksweise, «eine erste Form des diskursiven Denkens», bildet, die im Totemismus beim Übergang der Natur zur Kultur eine wesentliche Rolle spielt (claude lévistrauss: Das Ende des Totemismus, 133), so enthält eine vermeintlich so primitive Institution wie der Totemismus nichts Archaisches oder Entlegenes mehr, und wir müssen zugeben, daß dieselben Denk- und Anschauungsweisen in einem jeden von uns lebendig sind, allerdings auf eine subjektive unbewußte Weise. «Mit den Mythen», versicherte lévi-strauss, «steht es wie mit der Sprache: das Subjekt, das während seiner Rede die phonologischen und grammatikalischen Gesetze bewußt anwenden würde, angenommen, es besäße das dazu notwendige Wissen und Geschick, verlöre fast augenblicklich den Faden seiner Gedanken. Ebenso verlangt auch die Tätigkeit und der Gebrauch des mythischen Denkens, daß seine Eigenschaften verborgen bleiben . . . Wir behaupten . . . nicht, zeigen zu können, wie die Menschen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken.» (claude lévi-strauss: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte, 25– 26) In Sätzen wie diesen hat der Ethnologe lévi-strauss dem Psychoanalytiker

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lacan gewissermaßen das Stichwort für seinen Auftritt geliefert, indem dieser das unbewußte Denken in den Mythen, Riten und Institutionen der Gesellschaft mit der unbewußten Rede eines individuellen Traums oder einer alltäglichen «Fehlleistung» gleichsetzte. «Es bleibt uns überlassen», schrieb lacan, «. . . den Niederschlag der Sprachstruktur (sc. zum Beispiel eines Traums oder eines neurotischen Symptoms, d. V.) in der Psychoanalyse zu entdecken, wie es parallel zur Linguistik die Ethnographie bereits tut, wenn sie Mythen nach einer Synchronie von Mythemen dechiffriert.» (jacques lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften, I 127) Die Übertragung der strukturalistischen Mythendeutung auf die psychoanalytische Traum- und Symptomdeutung verlangt allerdings ein gegenüber freud verschiedenes Verständnis von Symbol und Sprache. Statt in der Symbolbildung – nach freudscher Manier – eine Kompromißbildung zwischen Triebregung und Triebzensur zu sehen, weist nach lacan das Symbol trotz seiner Unbewußtheit «keine Spur einer Regression oder gar von Unreife» auf. «Um seine Wirkungen ins Subjekt zu tragen, genügt es daher, daß es sich vernehmen läßt; denn diese Wirkungen verlaufen ohne Wissen des Subjekts. Wir geben das in unserer alltäglichen Erfahrung zu, wenn wir manche Reaktionen von Neurotikern oder Normalen als Antwort auf den symbolischen Sinn eines Handelns, einer Beziehung oder eines Objekts erklären.» (jacques lacan: A. a. O., I 137) Bereits lévi-strauss hatte auf die Gemeinsamkeit der Heilverfahren eines Schamanen und eines Psychoanalytikers hingewiesen (claude lévi-strauss: Die Wirksamkeit der Symbole, in: Strukturale Anthropologie, 219): «Genau genommen, scheint das schamanische Heilverfahren dem psychoanalytischen völlig zu entsprechen, wobei jedoch sämtliche Begriffe umgekehrt sind. Beide zielen darauf ab, ein Erlebnis hervorzurufen, und beiden gelingt das, indem sie einen Mythos rekonstruieren, den der Kranke erleben oder wiedererleben muß. Aber im einen Falle handelt es sich um einen individuellen Mythos, den der Kranke mit Hilfe von Elementen aus seiner Vergangenheit errichtet, im anderen ist es ein gesellschaftlicher Mythos, den der Kranke von außen empfängt und der keinem früheren persönlichen Zustand entspricht.» In beiden Fällen basiert die Heilung der Krankheit auf dem Verstehen einer dem Patienten unbewußten Symbolsprache, nur daß in der Psychoanalyse der Kranke seinen eigenen Mythos ausagiert, während in der schamanistischen Heilpraxis ein gesellschaftlicher Mythos auf den Kranken angewandt («adagiert») wird. Da für lacan das Unbewußte eine echte Sprache ist, die an Elementarem nur die Elemente des Signifikanten (frz.: signifiant; des Bezeichnenden) enthält, kann –

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entsprechend der freudschen Grundannahme – ein Traumsymbol oder ein Krankheitssymptom keine sinnlose Rede sein; allerdings gehören Signifikant und Signifikat (frz.: signifié; Bezeichnetes), Bezeichnendes und Bezeichnetes, verschiedenen Ordnungen an. Aus der Traumanalyse wird damit eine sprachliche Analytik, wobei lacan die Vorgänge der «Verdichtung» und der «Verschiebung», die nach freud die Traumsprache kennzeichnen (vgl. sigmund freud: Über den Traum, in: Gesammelte Werke, II/III 666 –666; 666– 671), mit den Begriffen der Metapher und der Metonymie gleichsetzt. Stets folgt die Traumarbeit den Gesetzen der Signifikanten, und so kann auch die Suche nach der Bedeutung sich nur in den Korrelationen von Signifikant zu Signifikant bewegen. «In seiner symbolisierenden Funktion nämlich zielt das Sprechen auf nichts Geringeres als auf eine Transformierung des Subjekts, an das es sich mittels einer Verbindung wendet, die es mit demjenigen herstellt, der es hervorbringt. Das heißt es führt eine Signifikanten-Wirkung herbei.» (jacques lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften, I 139) Die Sprache, von der hier die Rede geht, unterscheidet sich gerade durch diesen ihren Symbolgehalt von jedweder Zeichensprache (frz.: langage-signe), etwa der Sprache der Bienen; denn diese wird «durch die starre Korrelation» ihrer «Zeichen mit der Realität . . ., die diese Zeichen bedeuten», bestimmt (jacques lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften, I 141); von der menschlichen Sprache hingegen wissen wir bereits, daß ihre lautlichen Zeichen nicht nur durch ihren lexikalischen Inhalt, sondern auch durch ihre Stellung im Satz sowie durch ihre grammatikalischen Zuordnungen ihre Bedeutung gewinnen. Während der Zweck einer Zeichensprache in der bloßen Information besteht, will die menschliche Sprache nach lacan gerade nicht nur informieren, sondern evozieren (von lat.: evocare – herausrufen, erwecken, aufrufen). «Für uns ist das überaus lehrreich», schreibt er; «denn was bei der Information als Redundanz (sc. Überfluß, von lat.: redundare – überfließen, Überfluß haben, d. V.) auftritt, ist genau das, was beim Sprechen als Resonanz (sc. Widerhall, von lat.: resonare – widerhallen, d. V.) dient . . . – Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage. Um vom anderen erkannt zu werden, spreche ich das, was war, nur aus im Blick auf das, was sein wird. Um ihn zu finden, rufe ich ihn bei einem Namen, den er, um mir zu antworten, übernehmen oder ablehnen muß. – Ich identifiziere mich in der Sprache, aber nur indem ich mich dabei in ihr wie ein Objekt verliere.» (jacques lacan: A. a. O., I 143) «Wenn ich aber den, mit dem ich spreche, bei irgendeinem Na-

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men nenne, den ich ihm gebe, so lege ich ihm die subjektive Funktion zu, mir zu antworten, die er auch dann erfüllt, wenn er sie zurückweist. Hierbei zeigt sich infolgedessen die entscheidende Rolle meiner eigenen Antwort. Diese Rolle besteht nicht nur . . . darin, vom Subjekt als Billigung oder Ablehnung seines eigenen Diskurses aufgenommen zu werden, sondern darin, es als Subjekt anzuerkennen oder abzutun. Gerade darin besteht, jedesmal wenn er sprechend eingreift, die Verantwortung des Analytikers.» (jacques lacan: A. a. O., I 144) Alle Psychoanalyse ist somit ein bewußtes Sprechen mit dem, was unbewußt im Patienten zu Wort kommen will und eben dadurch das Subjekt konstituiert; die Antwort (des Therapeuten, des Anderen) entscheidet deshalb über nicht mehr und nicht weniger als über «die Anerkennung oder die Zerstörung eines Subjekts.» (günther schiwy: Der französische Strukturalismus, 73) Dabei kommt es darauf an, herauszufinden, «durch wen und für wen das Subjekt seine Frage stellt» bzw. «den Ort ausfindig» zu machen, «an dem sich sein ego befindet». (jacques lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften, I 147) «Stets», meint lacan, «muß man im Verhältnis der Instanz des Ich eines Subjekts (moi du sujet) zum personalen Ich seines Diskurses (je de son discours) den richtungsweisenden Sinn dieses Diskurses begreifen, um die Entfremdung des Subjekts aufzuheben.» (jacques lacan: A. a. O., I 148) Folgt man diesem Gedankengang lacans, so geht alles Begehren des Menschen nicht, wie freuds Libido, auf den Abbau einer (physiologisch bedingten) Triebspannung (wie wir sie in den neurologischen Theorien zur Motivation kennengelernt haben; vgl. Bd. I 481), sondern es zielt auf Akzeptation. Mit seinen Ausführungen bleibt lacan einem Ansatz treu, den er schon 1949 in Zürich zum ersten Mal öffentlich vorgetragen hatte und dem er den Titel gab: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (in: Schriften, I 61–70). Wir haben gesehen, wie die Fähigkeit eines Lebewesens, sich in einem Spiegel zu erkennen, von Verhaltensforschern und Psychologen als Beweis für das Vorhandensein von Selbstbewußtsein gewertet wurde; lacan aber gibt diesem «Ereignis . . . jubilatorischer Geschäftigkeit», das bei einem Menschenkind «vom sechsten Monat an» sich beobachten läßt, einen besonderen Sinn: daß das Kind sein Bild im Spiegel zu erhaschen suche, verrate «nicht nur einen libidinösen Dynamismus, . . . sondern auch eine ontologische Struktur der menschlichen Welt . . . – Man kann das Spiegelstadium (sc. zwischen dem 6. bis 18. Monat, d. V.) als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.» (jacques lacan: A. a. O., I 63 –64) Die

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Annahme eines Spiegelbildes (der Imago im antiken Sinne, nicht im Sinne c. g. jungs) stellt nach lacan die symbolische Matrix dar, «an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem andern und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt. – Diese Form könnte man als Ideal-Ich bezeichnen . . . Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, daß diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann.» (jacques lacan: A. a. O., I 64) Die «totale Form des Körpers» symbolisiere als eine «Gestalt» «die mentale Permanenz des Ich (je)» und präfiguriere «gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung»; sie gehe «schwanger mit den Entsprechungen, die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert». (jacques lacan: A. a. O., I 64 –65) Die Bedeutung der Wahrnehmung der eigenen Gestalt im Anderen läßt sich nur schwer überschätzen, – wir haben sie ausführlich bei der Darstellung der Entwicklung von Selbstbewußtsein bei Kindern besprochen. lacan selbst führte Beispiele aus der Zoologie an, die «sich in eine Ordnung homomorpher (sc. gleichgestalteter, von griech.: homós – derselbe, gleich; die morphe¯ – Gestalt, d. V.) Identifikation» fügen. (jacques lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: J. Lacan: Schriften, I 65) «Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich . . . als ein Spezialfall der Funktion der Imago, die darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder, wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt.» (jacques lacan: A. a. O., I 66) Nur über diese Objektivierung der eigenen (körperlichen) Gestalt im Anderen (eines Spiegels oder einer Wasseroberfläche) gewinnt mithin das Subjekt, das Ich (frz.: je), ein Bild von sich selbst und wird damit für sich selbst zum Ich (frz.: moi). Natürlich kann man sich an dieser Stelle schon fragen, ob die Betrachtung bloßer Attrappen-Imagines in einem Spiegel oder einer Wasseroberfläche hinreichend sein kann, um «die Instanz des Ich (moi)» zu situieren; würde ein Findelkind wie kaspar hauser (1812 –1833; vgl. Bd. I 668) eine bessere Chance zur Persönlichkeitsreifung erhalten haben, wenn man seine Einsamkeit mit den Wänden eines Spiegelsaals umstellt haben würde? Immerhin spricht gerade lacans Analyse dafür, daß in einem Kinde – biopsychologisch bedingt durch die neuronale Entwicklung seines Gehirns – alles darauf wartet, sich selbst als Subjekt wahrzunehmen; und wichtiger als alle «Spiegel» dürfte auf dem Weg seiner Personwerdung – entsprechend der kommunikativen bzw. interpersonalen Konzeption von der kindlichen Entwicklung – die Spiegelung in den Au-

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gen, in den Worten, in den Verhaltensweisen anderer Personen sein. Deutlicher aber als im Deutschen möglich, läßt sich im Französischen die Subjekt-ObjektSpaltung innerhalb des Ich, verstanden als reflexives Selbstbewußtsein, zum Ausdruck bringen, indem der subjektive Anteil als ich/je und der objektive Anteil mit Ich/moi wiedergegeben werden kann. Ein Ich (im Sinne eines sich seiner selbst bewußten Individuums) konstituiert sich, indem ich mich (je moi) erkenne. So kann lacan sagen: «Zweifellos ist das wahre ich/je nicht Ich/moi. . . . Es (sc. das Ich/moi, d. V.) ist etwas anderes – ein besonderes Objekt innerhalb der Erfahrung des Subjekts. Das Ich ist buchstäblich ein Objekt – ein Objekt, das eine bestimmte Funktion erfüllt, die wir hier imaginäre Funktion nennen.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 60– 61) Indem diese beiden Teile des Ich in ich/je und Ich/moi auseinandertreten, ist zugleich deutlich, daß es kein Bewußtsein gibt, das zu einer vollständigen Erfassung meiner selbst imstande wäre. Ja, das Ich/moi, das sich im Akt der Reflexion als Objekt zu erkennen gibt, besitzt erneut nur jene Spiegelrealität, die ein Kind beim Anblick seiner selbst so fasziniert. Aber das Bild im Spiegel ist nicht das Objekt selbst, und was bleibt von dem Bild, wenn der Spiegel verschwindet? – Man sollte meinen, das Bewußtsein sei eine Art Aufnahmegerät, das die Bilder auch dann noch festzuhalten vermöchte, wenn die Objekte, von denen die Bilder stammen, längst verschwunden sind; tatsächlich sagten wir, das menschliche Bewußtsein sei überhaupt nur auf Grund seiner Gedächtnisfunktion, – wenn diese auch nicht minder störungsanfällig ist als das Reflexionsvermögen selbst. Doch nicht so argumentierte lacan. «Sie sehen», erklärte er, «. . . daß das Ich in keinem Fall etwas anderes sein kann als eine imaginäre Funktion, selbst wenn es (sc. als vermeintlicher Ort der Einheit des Bewußtseins, d. V.) auf einem bestimmten Niveau die Strukturierung des Subjekts bestimmt.» (jacques lacan: A. a. O., 70) «Der Begriff des Ich», führte er an anderer Stelle ergänzend aus, «bezieht seine . . . Evidenz aus einem bestimmten Prestige, das dem Bewußtsein verliehen wird, insofern es eine einzigartige, individuelle, irreduzible Erfahrung ist. Insofern sie zentriert ist auf eine Erfahrung des Bewußtseins, bewahrt die Intuition des Ich einen bestrikkenden Charakter, von dem man sich (sc. aber, d. V.) lösen muß, um zu unserer Konzeption vom Subjekt zu gelangen. Ich versuche», sagte lacan, «Sie von ihrer Anziehungskraft abzubringen, um Ihnen zu ermöglichen, endlich zu erfassen, wo für Freud die Realität des Subjekts ist. Im aus dem System des Ich ausgeschlossenen Unbewußten spricht das Subjekt.» (jacques lacan: A. a. O., 78–79) Wie aber verhält es sich dann mit dem Ich? Seine Existenz als Objekt bzw. als

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eine bloß imaginäre Funktion verdankt sich nicht einer ihm selbst immanenten Gedächtnismaschinerie, sondern es erlangt seine Evidenz bzw. seine scheinbare Konsistenz durch die Sprache als Inbegriff aller sozialen Austauschvorgänge, mithin «in jenem Anderswo, wo sich, wie Claude Lévi-Strauss . . . gesagt hat, das System der Tauschakte hält, die elementaren Strukturen. In das durch das Bild des Ich bedingte System muß das symbolische System eingreifen, damit ein Austausch zustande kommen kann, etwas, das nicht Erkenntnis ist, sondern Anerkennung.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 70) «Das Ich ist bloß eine Funktion. Von dem Moment an, da die symbolische Welt gegründet ist, kann es selbst als Symbol dienen, und das ist das, womit wir’s zu tun haben.» (jacques lacan: A. a. O., 71) Die «Symbolwelt» selbst hat sich aus der «Zirkulation des Worts» gebildet, und sie ist wie «die Welt der Maschine», «abgelöst von der Aktivität des Subjekts». (jacques lacan: A. a. O., 64) In dieser Symbolwelt der kulturell festgelegten Bedeutungen findet das bildhaft im Bewußtsein sich selbst erscheinende Ich seine Bestätigung; es ist die Sphäre der Sprache, in welcher ihm seine Existenz, seine Dauer, seine Bedeutung verliehen wird. Aus einer imaginären wird dadurch eine soziale Realität, innerhalb derer das Ich selbst eine symbolische Funktion übernimmt. In den Heiratsabschlüssen etwa fungiert es selber nach strengen rituellen Regeln (vgl. claude lévi-strauss: Der Weg der Masken, 81– 83, zur Heirat bei den nordwestpazifischen Kwakiutl-Indianern) oder als Teil von Austauschprozessen zwischen dem mütterlichen oder väterlichen Klan; als Schamane, Priester oder Papst, als Krieger, Häuptling oder Heerführer, als Beamter, Sprecher oder Chef führt es selber eine symbolische Existenz innerhalb der Ordnungsstrukturen der Gesellschaft. In den Worten von lacan: «Die menschliche Ordnung charakterisiert sich dadurch, daß die symbolische Funktion in jedem Moment und auf allen Stufen ihrer Existenz interveniert. – Mit anderen Worten, alles hängt zusammen. Um zu begreifen, was in dem eigentlichen Bereich geschieht, der zur menschlichen Ordnung gehört, müssen wir von der Idee ausgehen, daß diese Ordnung eine Totalität konstituiert.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 42) «Die symbolische Funktion konstituiert ein Universum, innerhalb dessen alles, was menschlich ist, sich ordnen muß.» (jacques lacan: A. a. O., 42) So leben wir mit einem Ich, das selbst nur eine symbolische Existenz führt, im Inneren eines symbolischen Universums, das wir nicht verlassen können und das uns doch seinerseits stets transzendiert, indem es buchstäblich früher ist als wir selbst. «Wenn der Mensch . . . die symbolische Ordnung zu denken

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sucht,» notierte lacan, «so ist er in ihr zunächst in seinem Wesen einbegriffen. Die Illusion, er habe sie durch sein Bewußtsein gebildet, rührt daher, daß er aufgrund eines spezifischen Aufklaffens seiner imaginären Relation zu seinem Nächsten in diese Ordnung als Subjekt einzugehen vermochte.» (jacques lacan: Das Seminar über E. A. Poes «Der entwendete Brief», in: Schriften, I 52) Wie ein Kind oder wie ein Patient der Psychoanalyse sich als ein Subjekt an den Anderen wendet als an ein Absolutes, das über seine Anerkennung oder Vernichtung entscheidet, so ist jedes Ich auf der Suche nach Bestätigung. «Wenn das Subjekt sich die Frage danach stellt, was es als Kind ist, dann nicht insofern es mehr oder weniger abhängig ist, sondern insofern es anerkannt ist oder nicht, insofern es das Recht hat oder nicht, seinen Namen als Kind von dem und dem zu tragen. Denn insofern die Relationen, in die es einbezogen ist, selbst auf die Stufe des Symbolismus gehoben sind, befragt das Subjekt sich über sich selbst.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 58) Gerade dadurch aber existiert das Ich stets in der «Ambiguität» (Doppeldeutigkeit, von lat.: die ambiguitas – Doppelsinn), zugleich Funktion und Symbol zu sein. lacan erachtete darin den Grund für den Dualismus in freuds (späterer) Triebtheorie von dem Gegensatz zwischen Lebens- und Todestrieben, zwischen Eros und Thanatos. (Vgl. sigmund freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, XIII 46 –66.) «Gäbe es nicht dieses vom Subjekt empfangene Sprechen, das auf die symbolische Ebene trägt», schrieb lacan, «dann gäbe es keinen Konflikt mit dem Imaginären und jeder würde einzig und allein seiner Neigung folgen. Die Erfahrung lehrt uns, daß es damit nichts ist . . . – Das Ich schreibt sich ein ins Imaginäre. Alles, was zum Ich gehört, schreibt sich ein in die imaginären Spannungen als der Rest libidinöser Spannungen. Libido und Ich stehen auf der gleichen Seite . . . – Hier münden wir ein in die symbolische Ordnung, die nicht die libidinöse Ordnung ist, in die sich ebensowohl das Ich wie alle Triebe einschreiben. Sie strebt jenseits des Lustprinzips, aus den Grenzen des Lebens hinaus, und deshalb identifiziert Freud sie mit dem Todestrieb . . . Die symbolische Ordnung wird verworfen von der libidinösen Ordnung, die den gesamten Bereich des Imaginären umfaßt, einschließlich der Struktur des Ich. Und der Todestrieb ist nur die Maske der symbolischen Ordnung, insofern . . . sie stumm ist, das heißt, insofern sie sich nicht realisiert hat.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 413 –414) So ist es das symbolische Universum, das die Person des Menschen ermöglicht und das sie zugleich wieder aufhebt. Die Spannung von Person und per-

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sona, hier: von «imaginärem» und «symbolischem» Ich, wird im Denken lacans absolut. Von vornherein erscheint hier die Person schon infolge ihrer vollkommenen Abhängigkeit von der – gesellschaftlich vermittelten – Sprache als eine Schöpfung der Kultur, deren Signifikanten sie so wenig entkommen kann wie ihren eigenen Träumen und Imaginationen, zu denen sie im Grunde selber zählt. Damit ist ein äußerster Gegenpol zu dem Ich-Konzept sartres erreicht, dessen Namen lacan, selbst wenn er gegen ihn polemisiert, am liebsten gar nicht erst erwähnt und dessen Philosophie des Für-sich-seins und Fürandere-seins er für ein «Spiel des Geistes» erklärt, «das von den Anleihen bei der analytischen Erfahrung ganz besonders zehrt, um in der Anmaßung zu gipfeln, es könne eine existentielle Psychoanalyse begründen (sc. wie jeanpaul sartre: Das Sein und das Nichts, 701–723, sie vorgelegt hat, d. V.). – Am Ende des historischen Unterfangens einer Gesellschaft, sich keine andere als eine nützliche Funktion mehr zuzuerkennen, und angesichts der Angst des Individuums vor sozialen Bindungen in der Masse, deren Aufkommen der Lohn jenes Unterfangens zu sein scheint, läßt sich der Existentialismus an den Rechtfertigungen abschätzen, die er den subjektiven Sackgassen gibt, die eben daraus resultieren: Eine Freiheit, die sich nirgends so authentisch bejaht wie innerhalb der Mauern eines Gefängnisses; ein Fordern von Engagement, in dem sich die Ohnmacht des reinen Bewußtseins ausdrückt, irgendeine Situation zu übersteigen; eine voyeurhaft-sadistische Idealisierung der sexuellen Beziehung; eine Persönlichkeit, die sich nur im Selbstmord realisiert; ein Bewußtsein des anderen, das sich erst mit dem hegelschen Mord (sc. vgl. georg wilhelm friedrich hegel: System der Philosophie, III § 430 –435: Das anerkennende Selbstbewußtseyn, S. 280– 289, d. V.) zufrieden gibt. – Solchen Vorstellungen widersetzt sich unsere ganze Erfahrung; diese führt uns weg von der Annahme, daß das Ich (moi) auf das Wahrnehmungs- und Bewußtseinssystem zentriert und von jenem ‹Realitätsprinzip› organisiert sei.» (jacques lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften, I 69) Es stehe nun einmal dahin, wieviel an dieser Kritik berechtigt ist, – sehr viel, wie anderenorts gezeigt (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 198 –226); zweifellos kann das Ich des Menschen sich zum Gefangenen seiner selbst entwerfen, und das tut es unausweichlich, wenn es, wie in sartres «phänomenologischer Ontologie», sich durch sich selbst als ein selbsterzeugtes Phänomen des Bewußtseins zu begründen sucht. Aber auch umgekehrt: wenn das Ich als ein rein symbolisches Konstrukt der Kultur verstanden wird, ist genauso wenig zu erkennen, wie es so etwas geben sollte wie «Freiheit» im Sinne

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einer Nicht-Austauschbarkeit im syntagmatischen Kontext der Gesellschaft; ja, man gewinnt den Eindruck, als rede lacan, wie gesagt, die ganze Zeit eigentlich gar nicht von Ich und Person, sondern von der persona in jungschem Sinne und als verwende er die Ethnologie nur zu dem Zweck, den Unterschied zwischen Person und persona in vermeintlicher Übereinstimmung mit dem Denken der «Primitiven» vergessen zu machen. Vor allem treten an dieser Stelle zwei Eigentümlichkeiten in lacans Werk zutage, die alles andere als unbedenklich sind. Zum einen übernimmt er eine Vorstellung von Kultur, die unbesehen den freudschen Vorgaben folgt und insofern in extremer Weise unhistorisch ist. So bildet für lacans strukturalistische Psychoanalyse der Ödipus-Komplex «die Grundstruktur der menschlichen Situation überhaupt», so daß sich «angesichts der Ödipus-Struktur der Gegensatz zwischen Struktur und Geschichte» erübrigt. «Die Geschichte ist nur denkbar als Wiederholung derselben Struktur.» (günther schiwy: Der französische Strukturalismus, 74) Diese These läßt sich kaum anders als dogmatisch verstehen, hat doch bronislaw malinowski (1884 –1942) bereits im Jahre 1927 durch seine Feldstudien in Neuguinea und Nordwest-Melanesien den Nachweis erbracht, daß der ÖdipusKomplex keinesfalls eine gesellschaftliche Konstante bildet, sondern eine psychische Befindlichkeit innerhalb bestimmter patriarchaler Gesellschaftsstrukturen beschreibt. (Vgl. Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften, 163.) Überhaupt läßt sich jenes «anonyme System ohne Subjekt», von dem michel foucault sprach, nur dann als eine kulturelle Gemeinschaft von Menschen vorstellen, wenn man allen konkreten Inhalt zugunsten einiger weniger ubiquitärer (überall vorkommender, von lat.: ubique – wo nur immer, überall) Strukturen bzw. Grundkonflikte daraus entfernt. Die mühevolle Arbeit der Beschreibung und des Vergleichs der Vielfalt der Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart überläßt lacan ganz einfach seinem Gewährsmann lévi-strauss. Da zudem alle Kulturen im Sinne des Strukturalismus an denselben Problemen laborieren, gibt es im Grunde auch keine Möglichkeit zu einer kritischen Wertung oder gar zu einem engagierten Protest gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Zuständen. Auf der Ebene des Symbols, man begreift, können die Kopfjagd der Papuas in Neuguinea, das Menschenopfer der Azteken in Mexiko und die unblutige Darbringung des Kreuzigungsopfers Christi in einer katholischen Meßfeier durchaus identische Funktionen übernehmen, – an dieser Feststellung ist etwas Richtiges; eine identische Realität besitzen sie deshalb aber absolut nicht, und darf man diese Tatsache übersehen? Die Melancholie jedenfalls, mit der freud angesichts der endlosen Kriege und

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des Massenwahns in Gesellschaft und Kirche an eine substantielle Änderung der menschlichen Geschichte im 20. Jh. nicht länger mehr glauben mochte, läßt sich wohl kaum in die frohgemute Meinung lacans übersetzen: «Alle Lebensformen sind so erstaunlich, so wunderbar, es gibt kein Streben zu höheren Formen.» (jacques lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 414) Und zum anderen: Die geschichtslose Abstraktion «der» Kultur, die mit der Auflösung des Ich in der Kultur von seiten der strukturalistischen Psychoanalyse einhergeht, verbündet sich mit der geschichtslosen Betrachtung der menschlichen Geschichte in der strukturalistischen Ethnologie, die in Mythen, Riten und gesellschaftlichen Institutionen kaum etwas anderes sieht als «Maschinen zur Aufhebung der Zeit». (edmund leach: Claude Lévi-Strauss, 127) lévi-strauss zeigte sich besonders beeindruckt von der Geologie und der Psychoanalyse, – von letzterer, weil sie das scheinbar Unverständliche, Krankhafte, Exotische in Kategorien beschreibt, die auch der «Normalität» zu Grunde liegen, von ersterer, weil sie unter den erdgeschichtlich verwirrend sich überlagernden Auffaltungen der Oberfläche das immer Wiederkehrende im Verlauf von Jahrmillionen aufzeigt: Hebungen und Senkungen, Vulkanismus und Sedimentation, – Plattentektonik, würden wir heute sagen (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 423– 438). Wohlgemerkt verleugnen beide nicht die geschichtliche Dynamik in der Herausbildung der Wirklichkeit: charles lyells (1797–1875) Werk Lehrbuch der Geologie von 1830 –1833 bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die Übertragung des geschichtlichen Denkens des 19. Jhs. auf das Werden der Welt, und freuds Psychoanalyse nutzte den gleichen Ansatz zum Verstehen des Lebens und Erlebens von individuellen Persönlichkeiten in der Gegenwart. Beide aber rücken das – scheinbar – so Ferne ins Nahe durch das Auffinden von Mechanismen, die überall in gleicher Weise wirksam sind. Das dezidierte Bemühen von lévi-strauss bestand denn auch darin, den Hochmut der abendländischen Kultur zu brechen, indem er – ganz ähnlich wie zuvor schon Geologie und Biologie die Anthropozentrik des christlichen Menschenbildes zerstört hatten – nun auch die Eurozentrik der westlichen (christlich-missionarischen) Kulturbetrachtung durch eine Erarbeitung der einheitlichen Strukturen in allen Gesellschaften zu überwinden suchte. «Die anderen Gesellschaften», schrieb er, «sind wahrscheinlich nicht besser als die unsere, und selbst wenn wir dies anzunehmen geneigt sind, so können wir es auf keinen Fall beweisen. Wenn es uns aber gelingt, fremde Gesellschaften besser zu kennen, so verschaffen wir uns wenigstens die Mittel, uns von der unseren zu lösen, nicht weil diese als einzige absolut schlecht wäre, sondern

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weil sie die einzige ist, zu der wir Distanz gewinnen müssen. Dann wird es uns möglich sein, den zweiten Teil unserer Aufgabe in Angriff zu nehmen, nämlich unsere Kenntnis fremder Gesellschaften zur Herausbildung jener Prinzipien des sozialen Lebens zu verwenden, die uns erlauben, unsere eigenen Sitten und Gebräuche und nicht die fremder Gesellschaften zu reformieren. Es ist nämlich ausschließlich unsere eigene Gesellschaft, die wir verändern können, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu zerstören; denn die Veränderungen, die wir einführen, sind immer in ihr selbst bereits gegeben.» (claude lévi-strauss: Traurige Tropen, 363) Solche Worte klingen nach einer Art kollektiver Psychotherapie im Umgang mit allen Kulturen der Menschheit im Glauben an die Kraft ihrer Selbstentfaltung, ganz wie ein Analytiker sie der Psyche seines Patienten zutrauen möchte. Allerdings wird diese – politisch überaus sinnvolle – Zielsetzung dadurch erkauft, daß der menschliche Geist nunmehr ausschließlich in den Strukturen des Unbewußten, nicht des bewußten Ego aufgesucht wird, und diese Entsubjektivierung, diese Auflösung der Person des Einzelnen in ein bloßes gesellschaftlich vermitteltes Symbol, zieht spätestens dann erhebliche Konsequenzen nach sich, wenn sie ihrerseits in der Interpretation von lacan das Ziel der Psychoanalyse bestimmt; von diesem Punkt an kann nur die Entwertung des Menschen wie der menschlichen Geschichte im ganzen stehen. Hören wir noch einmal claude lévi-strauss zu: «Die Welt», sagte er, «hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen . . . Was die Schöpfung des menschlichen Geistes anbetrifft, so besitzen sie Sinn nur in bezug auf ihn, und sie werden im Chaos untergehen, sobald dieser Geist verschwunden sein wird. So kann die ganze Kultur als ein ungeheuer komplexer Mechanismus beschrieben werden, in dem wir zwar gerne die Möglichkeiten, die Chance des Überlebens sehen möchten, welche unsere Welt besitzt, dessen Aufgabe aber einzig darin besteht, das zu produzieren, was die Physiker Entropie (sc. die physikalische Größe als Maß für die Unordnung eines Systems, d. V.) . . . nennen . . . Statt Anthropologie sollte es Entropologie heißen, der Name einer Disziplin, die sich damit beschäftigt, den Prozeß der Desintegration in seinen höchsten Erscheinungsformen zu untersuchen. – Trotzdem existiere ich; allerdings nicht als Individuum, denn was bin ich in dieser Beziehung anderes als der fragwürdige Spielball in dem Kampf zwischen einer Gesellschaft, welche unter meinen Schädelknochen aus einigen

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Milliarden Zellen besteht, und meinem Körper, der als Roboter dient? Weder die Psychologie noch die Metaphysik oder die Kunst können mir Zuflucht bieten, denn dies sind von nun an straffällig gewordene Mythen einer Soziologie neuer Art . . . Das Ich ist nicht nur hassenswert; es hat nicht einmal Platz zwischen einem Uns und einem Nichts. Und wenn es schließlich für dieses Uns ist, wofür ich mich entscheide – obgleich es sich dabei um bloßen Schein handelt –, so deshalb, weil mir, will ich mich nicht selbst zerstören, zwischen einem Schein und einem Nichts keine andere Wahl übrigbleibt . . . – Sowenig wie sich das Individuum allein in einer Gruppe, sowenig wie sich eine Gesellschaft allein unter allen anderen befindet, sowenig ist der Mensch allein im Universum. Wenn sich eines Tages die menschlichen Kulturen im Abgrund unserer Wut verloren haben werden, dann wird es, solange wir bestehen und solange die Welt besteht, auch jenen feinen Bogen geben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet. Er zeigt uns jenen Weg, den wir nicht gegangen sind, der aus der Versklavung herausführen würde und dessen Betrachtung dem Menschen die einzige Gnade verschafft, nach der er streben sollte, nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn zwingt, eine nach der anderen die offenen Spalten in der Mauer der Notwendigkeit zuzustopfen und damit sein Werk in jenem Augenblick zu vollenden, in dem er sein Gefängnis gebaut hat.» (claude lévi-strauss: Traurige Tropen, 366 –368) Der französische Strukturalist mochte die Menschheit beschwören, innezuhalten, auf daß sie die Weisheit gewinne, die Schönheit eines Diamanten zu bewundern oder den Duft einer tropischen Pflanze einzuatmen oder die Muße zu finden, mit einer Katze zu spielen; doch woher sollen diese Weisheit und diese Muße kommen, wenn die Lust an der Vernichtung des Nichtigen: der Illusion eines Ich, übermächtig wird? Autoren wie lévi-strauss und lacan haben gezeigt, daß die Person des Menschen womöglich nichts weiter ist als ein kulturell bedingtes Symbol, und unerachtet der – vielfach anfechtbaren – Argumente, die sie für ihr Konzept geltend gemacht haben, dürften sie in dem Kern ihrer Überlegungen recht haben: so wie Bewußtsein und Selbst keine «Substanzen» sind, sondern Prozesse, so ist auch das Ich, die Person, etwas Prozeßhaftes, nur daß dieser Prozeß nicht mehr (neuronal) in einem individuellen Gehirn abläuft, sondern (sozial) zwischen den Gehirnen einer Vielzahl von Individuen, die durch ihre «Sprache» (im weitesten Sinne) das formen, was wir Kultur nennen. Damit allerdings stellt die Frage sich noch einmal und jetzt «endgültig», welch eine «Realität» unter diesen Umständen der Person zukommt. Nachdem das Problem von der Neurologie an die Anthropologie weitergereicht worden ist, stellt es sich jetzt

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im Herzen der Religion als der Instanz aller (vermeintlich) endgültigen Antworten.

f) Was sagt die Religion zur Personalität des Menschen? Oder: Zwischen Buddhismus und Christentum Was wir Person nennen, ist ein Ich (ein Subjekt mit reflexivem Bewußtsein), das imstande ist, sich selbst und anderen seine eigene Geschichte zu erzählen, und es ist zu dieser Versprachlichung seiner selbst allein deshalb befähigt, weil mit ihm selbst gesprochen wird und wurde – solange, bis seine frühkindlichen Übungsversuche, sich durch die Kundgabe von Lauten mitzuteilen, sprachliche Struktur gewinnen. Personwerdung ist einzig möglich durch dieses Eintauchen in eine – soziokulturell vorgegebene – Sprachwelt; die Voraussetzung aber, um eine derartige Sprachgemeinsamkeit zu bilden, besteht in einer vorgängigen Gemeinsamkeit der Menschen untereinander, und als diese Schicht gemeinsamer Verstehbarkeit gilt in der Psychoanalyse das Unbewußte; folgt man den Strukturalisten, so stellt dieses Unbewußte, als «Sprache» verstanden, gerade nicht etwas schlechthin Irrationales dar, wie es bei schopenhauer, freud, jung oder auch bei bergson erscheinen mochte, sondern es gilt für etwas, auf das sich der Gegensatz von Rational und Irrational nicht länger anwenden läßt. lévi-strauss etwa formulierte es geradewegs als Ziel seiner Bemühungen, das analytische Programm freuds ebenso wie das panrationalistische Konzept von (hegel und) karl marx (1818 –1883) in Philosophie und Gesellschaft einzulösen. Im Unterschied zu freud, der an die Stelle des Es das Ich rücken wollte (vgl. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, XV 86), ohne beide miteinander zu verschmelzen, versuchten die Strukturalisten, den Dualismus der freudschen Psychoanalyse zu überwinden, indem sie das Unbewußte nicht länger mehr nur in Symbolen sich ausdrücken sahen, sondern es selbst als eine symbolische Funktion auffaßten, durch die den noch unartikulierten Elementen der Psyche (den Antrieben, Affekten, Emotionen, Wunschvorstellungen, Phantasien) eigene strukturelle Gesetzmäßigkeiten auferlegt würden. Das Unbewußte, schrieb lévi-strauss (Die Wirksamkeit der Symbole, 1949, in: Strukturale Anthropologie, 223), «beschränkt sich auf einen Ausdruck, mit dem wir eine Funktion bezeichnen: die symbolische Funktion, die zwar spezifisch menschlich ist, die sich aber bei allen Menschen nach denselben Gesetzen vollzieht; die

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sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Gesetze zurückführen läßt». Sagen wir so: Damit martin bubers «Ich und Du» möglich wird, bedarf es einer Universalität, die selber eine Rationalitätsstruktur aufweist. Noch vor aller subjektiven Bewußtwerdung und auch unabhängig von aller subjektiven Erfassung existiert in den Strukturen des Unbewußten beziehungsweise in der symbolischen Funktion des Unbewußten mithin ein Feld möglicher Begegnung und Verständigung. Der Würzburger Psychoanalytiker hermann lang (geb. 1938) erinnert, um den Ansatz der Strukturalisten um lévi-strauss und lacan zu verdeutlichen, in diesem Zusammenhang an die Kreativität «der unbewußten Sprachproduktion», in welcher «die Sprache einen Eigenwillen» entwickele, «der eine Richtung bestimmt, die einzuschlagen das bewußte Ich nicht wollte, die dem bewußten Wollen entzogene Sprachproduktion ist es erst, die Einsicht über wesentliche Aspekte der Subjektivität selbst vermittelt». (Strukturale Psychoanalyse, 113 –114) Dem ist zuzustimmen. Freilich erinnert der Hinweis auf die wesenhaft symbolische, die dichterische Sprache zugleich auch daran, daß Menschen auf vielerlei Weise miteinander im «Gespräch» sein können und daß das Wort «Sprache» sich durchaus nicht auf die reine Linguistik verengen läßt. Wohl, in den Köpfen von Menschen hat sich die Sprachfähigkeit, allem Anschein nach seit Jahrzehntausenden, genetisch verankert, und manches spricht dafür, daß sogar eine immanente Sprachlogik allen Menschen gemeinsam ist, wie noam chomsky (geb. 1928) in einem seiner Hauptwerke, in Sprache und Geist im Jahre 1968, nachzuweisen versucht hat; doch unterhalb dieser in eigentlichem Sinne sprachlichen Form der Selbstmitteilung liegt die Schicht des emotionalen Ausdrucks, von dem wir längst wissen, daß er eine eigene, ebenfalls höchst sozial relevante Körper«sprache» bedingt. Ja, es hat sich uns gezeigt, wie die Entstehung des Selbst schon in der Evolution der Tiere in Kommunikationsprozesse eingebunden ist, die den Hintergrund auch für die Möglichkeit der Sprachentwicklung auf spezifisch menschlichem Niveau bilden. Von daher besteht weder Grund noch Berechtigung, die Person des Menschen in ein reines Sprachphänomen aufzulösen: Daß ein Ich als Person über sich zu reden beginnt, verdankt es zweifellos der Sprachvorgabe der Kultur, in der es lebt, doch was es zu sagen hat, geht nicht, wie ein Stück Kandis im Tee, in den Regeln des Allgemeinen auf, es folgt einer eigenen biopsychologisch (beziehungsweise neurologisch) mitgebrachten Identitätsstruktur; und diese Spannung von Ich und Wir, von Eigenem und Fremdem, von Identität und Rolle zeigt die Personalität des Menschen als gefährdet von einer zweiseitigen Umklammerung: ohne ihre Sprachfähigkeit droht sie jederzeit in die Dynamik der Triebwelt (des Es) zurückzusinken, –

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auf Grund ihrer Sprachfähigkeit aber droht sie in den sozialen Kontext auf eine Weise eingebunden zu werden, die das Personale als austauschbar mit den gesellschaftlichen Rollendiktaten (der persona) erscheinen läßt. Was, noch einmal, ist unter diesen Umständen Person? Oder richtiger: Wie lebt es sich mit dem subjektiven Empfinden, eine eigene Person zu sein, die den anderen etwas zu sagen hat, wenn die Form des Sagbaren bereits kollektiv vorgegeben sein muß, um verständlich zu werden?

α) Die buddhistische Lösung oder: Der gereinigte Spiegel Alles, was wir bisher über die Gefährdung, ja, über die Gefährlichkeit der Entstehung von Bewußtsein gesagt haben, gilt in noch weit verstärktem Maße bezüglich der Entstehung von Selbstbewußtsein, Ichwerdung und Personalität. Bewußtsein, so sahen wir, hat sich gebildet, weil es im Überlebenskampf einen wichtigen Vorteil bietet, auf eine gegebene Situation «überlegter», kontrollierter, flexibler reagieren zu können, als es im Rahmen eines rein automatisch ablaufenden Reiz-Reflex-Schemas möglich wäre; die Grausamkeit aber, mit welcher der darwinsche Kampf ums Dasein zwischen den Arten und innerhalb jeder einzelnen Art ausgetragen wird, hat durch den Faktor der Bewußtheit gerade nicht an Intensität verloren, vielmehr wurde mit Erreichen dieser Stufe offenbar nur eine neue Runde der ewigen Konkurrenz auf Sein oder Nichtsein in der Geschichte des Lebens eingeläutet. Insbesondere die Verknüpfung von Bewußtheit und Angst schien uns die Bedingungen der kreatürlichen Existenz zwangsläufig in einen nicht endenden Albtraum zu verwandeln, der für jeden Nachdenklichen die Frage nach einem möglichen Ausweg in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. Vor allem die Erlösungsreligion des Buddhismus sahen wir dem Bemühen gewidmet, das Bewußtsein als eine selbstgeschaffene Illusion (neurologisch gesprochen: als ein Produkt des Gehirns für sich selbst) zu entlarven und damit der ganzen Auseinandersetzung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Was aber ergibt sich jetzt für das Selbstbewußtsein, das Ich, das individuelle Personsein? Selbstbewußtsein – so unsere These – vermochte sich nur zu bilden als ein Bewußtsein, das im Bewußtsein anderer sich selbst zu erscheinen imstande ist. Der selektive Vorteil einer solchen Möglichkeit ergibt sich nun aber nicht mehr innerhalb des Kampfs um das bloße physische Überleben, er liegt in den verbesserten Strategien der Durchsetzung des Subjekts innerhalb der eigenen Gruppe. Nicht mehr, daß jemand ist, sondern was jemand ist, wird jetzt zum Thema, und es entscheidet sich an der Art, wie jemand gesehen wird und wie

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er selbst sich zu sehen lernt. Die Höhe des Rangs, der Anspruch auf Nahrung, die Chancen der Weitergabe der eigenen Gene verknüpfen sich fortan aufs engste mit dem Selbstbewußtsein, das jemand vor den Augen aller an den Tag legt. Doch gerade damit eskaliert das Problem der wechselseitigen Konkurrenz innerhalb einer Art zu völlig neuen Formen der Auseinandersetzung. Es wundert uns nicht mehr, daß wir die gesamte psychoanalytische Debatte um die Entstehung des Ich eingebettet fanden in die Narzißmus-Thematik: Ganz so, wie das Bewußtsein als eine Waffe im Kampf um den physischen Erhalt herangebildet wurde, so nun das Selbstbewußtsein als ein Mittel zur Durchsetzung des Ich im Gruppenverband. hegel hat unter diesem Aspekt recht, wenn er die Erscheinung des Geistes für sich selbst, wenn er das Erwachen des seiner selbst bewußtgewordenen Subjekts in seiner rabiaten Egozentrik als den Einbruch des «Bösen» an sich betrachtete. (Zu hegels Identifikation des Bösen mit dem Akt der Erkenntnis vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 76– 83; 85 –92.) «Es ist ein Kampf», schrieb er (System der Philosophie, 3. Teil, in: Sämtliche Werke, 10. Bd., S. 281–283), «denn Ich kann mich im Andern nicht als mich selbst wissen, in sofern das Andere ein unmittelbares anderes Daseyn für mich ist . . . Nur durch Kampf kann . . . die Freiheit erworben werden; die Versicherung, frei zu seyn, genügt dazu nicht; nur dadurch, daß der Mensch sich selber, wie Andere, in die Gefahr des Todes bringt, beweist er auf diesem Standpunkt seine Fähigkeit zur Freiheit.» «Der Kampf des Anerkennens geht also auf Leben und Tod.» – Ganz ähnlich fanden wir in jean-paul sartres Existentialismus die Phänomenologie des Ich beschrieben. (Vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 206– 213.) Selbstbewußtsein und Ego, Ego und Egozentrik, Ich und Du nicht als Partner eines Dialogs, sondern als Kampfatome, von denen auf dem Schlachtfeld des Lebens im Ringen um Anerkennung und Bestätigung nur eines als Sieger gegen das andere sich durchsetzen kann – offenbar ergeben derlei Zusammenhänge sich psychologisch notwendig aus der biologischen Zwecksetzung, welche die Hervorbringung von Selbstbewußtsein allererst ermöglicht hat. Wir brauchen uns nur noch einmal die sozial gebundene Angst der Tiere zu betrachten, die in der Rangpyramide ihrer Gruppe, in der Angst vor Ausstoß und Verlassenheit, in der Furcht bei Bestrafung im Fall eines Regelverstoßes eingefroren ist (vgl. Bd. I 634– 636), und wir werden auf der individuellen Ebene bei den Auseinandersetzungen innerhalb einer Gruppe sozial lebender Tiere zu Zeugen unablässiger Tragödien. Dabei müssen wir uns eingestehen, daß unser eigener Werdegang als Menschen allem Anschein nach identisch war mit der kontinuierlichen Verschlimmerung eben dieser Tragödien. Kein Lebe-

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wesen der Welt ist so anspruchsvoll, fordernd und «egoistisch», wie Menschen es sein können. Sogar die Sprache, dieses kostbare Instrument der Kommunikation, diese Wesensauszeichnung des Menschlichen, hat sich entwickelt wohl nur im Schatten eines ständig sich steigernden Konkurrenzdrucks mit dem Zwang zu komplexen Formen begrenzter Kooperation innerhalb eines Geflechts variabler Koalitionen. Wenn wir eben noch uns davon Rechenschaft gaben, daß in einem erweiterten Sinne auch die Kleidermoden, die Speiserituale, die Möbeleinrichtungen, die Empfangszeremonien, aber auch die Heiratsregeln, die gesellschaftlichen Schichtungen u.ä. als eine kulturabhängige Sprache zu verstehen sind, in der die Rolle der auftretenden Akteure festgelegt wird wie die Reihenfolge von Wörtern entsprechend den Regeln der Grammatik (vgl. Abb. D 24), so fällt es einem Verhaltensforscher nicht schwer, in all dem die Tricks wiederzuerkennen, mit denen bereits Tiere ihren subjektiven Anspruch auf soziale Geltung durchzusetzen suchen. (Vgl. wolfgang wickler: Stammesgeschichte und Ritualisierung, 231–272.) Können wir Menschen unter solchen Umständen wirklich etwas anderes sein als eine besonders voluminös aufgeblähte Blase tierischer Eitelkeiten? Es war vor 2500 Jahren der Buddhismus, der uns etwas Besseres zutraute, indem er, genau wie das Bewußtsein, so auch das Selbstbewußtsein, so auch das Ich als eine bloße Täuschung zu erweisen suchte. Im Milindapañha schon sahen wir (Bd. I 45–46), wie der Buddhismus das Ich als etwas Irreales, Illusionäres betrachtet. Die eigentliche Haltung des Buddha aber verstehen wir erst, wenn wir bemerken, wie buchstäblich gleichgültig dem Erhabenen die Frage nach der Existenz eines Ich oder der Existenz eines Nicht-Ich erschien. Erzählt wird beispielsweise (Samyutta-Nikâya, IV 400), wie eines Tages der Wandermönch Vacchagotta zum Buddha kam und ihn fragte: «ist das Ich (attâ)?» Doch der Erhabene schwieg. Vacchagotta fragte: «ist das Ich nicht?» Doch der Erhabene schwieg. Als der Mönche gegangen war, erläuterte der Buddha seinem Lieblingsjünger Ananda seine Auffassung so: «Wenn ich . . . geantwortet hätte: ‹Das Ich ist›, so würde das . . . die Lehre der Samanas (sc. der Asketen, d. V.) und Brahmanen, welche an die Unvergänglichkeit glauben, bekräftigt haben. Wenn ich . . . geantwortet hätte: ‹Das Ich ist nicht›, so würde das . . . die Lehre der Samanas und Brahmanen, welche an die Vernichtung glauben, bekräftigt haben. Wenn ich . . . geantwortet hätte: ‹Das Ich ist›, hätte . . . das wohl . . . gedient, . . . die Erkenntnis zu wirken: Alle Wesenheiten (dhamma) sind Nicht-Ich?» (Zit. n. hermann oldenberg: Buddha, 255.) Der Altmeister der Buddhismus-Forschung, hermann oldenberg (1854 –1920), als er in seinem Werk Buddha von 1881 diese Zeilen aufgriff, bemerkte dazu: «Man wird

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den Eindruck empfangen, daß, wer dies Gespräch verfaßt hat, in seinem Denken der Konsequenz, welche auf die Leugnung des Ich hinweist, sehr nah gekommen ist. Fast könnte man sagen, daß, wenn er diese Konsequenz nicht mit Bewußtsein hat aussprechen wollen, er sie doch in der Tat ausgesprochen hat.» (Buddha, 255) Es geschieht anscheinend nur mit Rücksicht auf die Fassungskraft der Hörer, daß der Buddha die Lehre von der Nicht-Existenz des Ich nicht offen vorträgt; zugleich aber vermeidet er damit auch, mit überflüssigen Theorien lediglich einen neuen Baum im Walde der Meinungen zu pflanzen. Es ging dem Buddha nicht und es geht dem Buddhismus nicht um bloße Doktrinen, die entsprechend ihren immer ausgefeilteren Begründungen mal als «bewiesen», mal als widerlegt gelten können; es ging und geht ihm um Erlösung – um die Aufhebung des Leids, um die rechte Lebensführung. Dahinter steht die absolute Unangemessenheit aller wissenschaftlichen Doktrinen in bezug zu den Fragen der Existenz: Niemand kann sein Dasein, religiös betrachtet, abhängig machen von den Forschungsergebnissen der Theologen bei der historisch kritischen Auslegung der Bibel, des Koran oder des Pali-Kanons; niemand kann sein «Seelenheil», bildlich gesprochen, an die Frage binden, ob Philosophen ihm metaphysisch, ob Biologen ihm neurologisch die Existenz einer Seele oder die Nicht-Existenz einer Seele zweifelsfrei dartun können; not tut es nicht, nach buddhistischer Überzeugung, zu wissen, ob da ein Ich wirklich ist oder nicht wirklich ist; not tut es einzig, der Ichhaftigkeit selbst zu entrinnen. «Die ganze buddhistische Heilslehre», schrieb 1956 der große Indologe helmuth von glasenapp (1891–1963), «beruht auf der Anschauung, daß alle bedingten Faktoren (dharma), welche durch ihr Zusammenwirken ein Lebewesen bilden, aufhebbar, also kein Selbst sind; wäre auch nur einer dieser Faktoren ewig und unvergänglich, so wäre eine Erlösung undenkbar. – So gibt es kein beharrendes Individuum, sondern nur eine kontinuierlich sich fortsetzende Kette von Momentanexistenzen.» (helmuth von glasenapp: Der Pfad zur Erleuchtung, 77) Und er zitierte zum Beleg dieser Feststellung in eigener Übersetzung eine Stelle aus dem Samyutta-Nikâya (22,96,16): «Der Erhabene nahm ein Klümpchen Kuhmist in die Hand und sagte: ‹Wenn es auch nur so wenig Selbsthaftigkeit gäbe, die unvergänglich, beständig, ewig, unveränderlich wäre und ewiglich so bliebe, so würde die Führung eines heiligen Wandels für die Vernichtung des Leidens nicht möglich sein. Weil es dies aber nicht gibt, ist die Führung des heiligen Wandels möglich.» (helmuth von glasenapp: A. a. O., 77) Insofern diskutiert der Buddhismus gar nicht erst über die Existenz von Ich und Person, die mit dem Auftauchen des Selbstbewußtseins einhergehen, ja, er

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weigert sich didaktisch ebenso wie methodisch, auf Fragen dieser Art eine Antwort zu geben. Statt dogmatisch die Nicht-Existenz der Person zu behaupten, vertritt der Buddhismus entschieden die Auffassung von der Nichtigkeit des Personhaften, weil anders in seinen Augen ein Entrinnen aus dem ewigen Kreislauf von Gier und Gewalt unmöglich ist. Solange jemand der Täuschung folgt, die das Selbstbewußtsein gebiert: da sei ein Selbst, das in sich konsistent dem Wandel der Welt zu trotzen vermöge, wird er gegen den nicht aufzuhaltenden Verfall seiner Existenz ankämpfen, wird er um seine Geltung und Anerkennung durch die anderen gegen die anderen kämpfen, wird er alles tun, um sich Wert und Bedeutung zu verleihen – und wird er nur immer tiefer in das Getriebe von Leid und Zerstörung hineingezogen werden: das Rad der Wiedergeburten, buddhistisch gesprochen, wird sich so nur immer weiter drehen. Wenn der Erscheinung des Ich aber kein eigenes Sein, keine Substantialität zugesprochen werden kann, so sollte das Ich sich selber betrachten als etwas, das von anderen Erscheinungen abhängt und mit ihnen ebenso kommt wie vergeht; dann ist es unmöglich, sich mit irgendeinem Seinszustand identisch zu setzen und in ihm sich festmachen zu wollen. Merkwürdigerweise vertritt an dieser entscheidenden Stelle der Buddhismus mithin seit nun schon 2500 Jahren eine Auffassung über die Personalität des Menschen, die von der modernen Neurologie in geradezu glänzender Weise bestätigt wird, und er weist zugleich einen Weg, wie mit diesen Einsichten zu leben wäre. Dadurch unterscheidet er sich wohltuend von der Reaktion, welche die neueren Ergebnisse der Neurologie in der christlichen Religion hervorrufen. Innerhalb des abendländischen Menschenbildes vertritt, wie wir sahen (Bd. I 28), besonders die katholische Kirche nach wie vor den Glauben an die Substantialität der menschlichen Person, die seinshaft als solche von Gott «geschaffen» worden sei. Für viele Menschen, die, ob zur Kirche Roms gehörig oder nicht, diese Auffassung als einen wesentlichen Teil ihrer ansonsten wie auch immer gearteten religiösen Überzeugung verstehen, bedeuten die Erkenntnisse heutiger Hirnforscher eine Infragestellung ihrer letzten metaphysischen Sicherheiten, und auch die Konsequenzen, die sich für das Selbstverständnis der westlichen Kultur daraus ergeben, lassen sich nur als dramatisch bezeichnen. Wir stehen vor einer Grundentscheidung, die so gut wie alle Lebensbereiche betrifft: Entweder wir lassen die Dinge so gehen, wie sie nun einmal gehen – wir halten an unserer Lebensart unbeschadet alles besseren Wissens fest; dann werden wir eine Spaltung erleben zwischen denjenigen, die mit fundamentalistischen beziehungsweise kreationistischen Scheinargumenten den geistigen Wandel schlechtweg zu leugnen versuchen, um den Traditionali-

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sten in Wirtschaft, Kirche und Politik behilflich zu sein, und denjenigen, die zynisch genug sind, im offensichtlich Falschen zu bleiben, weil es ihnen für den Augenblick Macht, Geld und Einfluß verheißt. Oder wir stellen uns ehrlich und bewußt dem Problem des Bewußtseins – dann bedürfen wir einer Korrektur der Gepflogenheiten unseres gesellschaftlichen Handelns und müssen dem Buddhismus zustimmen, wenn er das Bestehende als eine leidvolle Krankheit und seine Preisgabe als die einzige Chance des Entkommens begreift; diese Weltsicht ist zutiefst auch dem Christentum eigen, insoweit es sich als Erlösungsreligion selber (noch) ernst nimmt, und so wird es im folgenden unerläßlich sein, die Wege zur Erlösung in beiden Religionen nebeneinander zu stellen und einer Synthese zuzuführen. Machen wir uns nichts vor: Die zynische Form des «Weiter so» gründet in einem fatalen Selbstwiderspruch: Man weiß genau um die Nichtigkeit der eigenen Person, doch um so heftiger will man und wünscht man eine Inflation des Ego; man weiß nur zu gut, daß man im eigentlichen gar kein Selbst ist, doch eben deshalb präsentiert man sich um so selbstischer; in der Diktion von vorhin können wir auch sagen: der Verlust der Person durch die modernen Forschungsergebnisse der Biopsychologie führt die Gefahr herauf, die Maskierung des Ich, die persona, allmächtig zu setzen. Wie wir es in der Schizophrenie-Debatte geschildert haben, stehen wir dann einer Situation gegenüber, in welcher arno gruens «Psychopathen» ein immer größeres Heer von seelisch Leidenden brauchen, um ihre Herrschaft zu festigen. Ein Mann, der in diesem Punkte sehr klar gesehen und gesprochen hat, war der von vielen als Mystiker und Erleuchteter gefeierte osho (bhagwan shree raijneesh, 1931–1990). Man muß nicht Mitglied seiner Bewegung sein, um anzuerkennen, daß er nach allem Gesagten eine nicht nur in buddhistischem Sinne richtige Diagnose stellt, wenn er das «Ich» für eine lediglich zum Sprechen miteinander nützliche Fiktion erklärt, der man keinen Glauben schenken dürfe, weil daraus sonst die ärgsten Täuschungen entstehen müßten. «Die Vorstellung, ein eigenes Zentrum zu haben, ist die Wurzel des Egos», ließ er seine Hörer wissen. «Um zu überleben und im Lebenskampf bestehen zu können, braucht jeder Mensch eine gewisse Vorstellung, wer er ist. Aber . . . Du kannst keine Vorstellung davon haben. In deinem tiefsten, innersten Wesenskern bist du nicht individuell; dort bist du universell.» (osho: Ego, 23) «Weil das Ego eine Fiktion ist, . . . kann es nur so lange bestehen, wie du es aufrechterhältst. Eine Fiktion muss ständig aufrechterhalten werden . . . Man muss sie laufend anmalen und muss sie immer wieder an verschiedenen Stellen abstützen, weil sie sonst ständig einzustürzen droht. . . . – Und das tun die Menschen ihr ganzes

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Leben lang: Sie versuchen, dieser Fiktion den Anstrich der Wahrheit zu geben. Habe mehr Geld! Dann kannst du ein größeres Ego haben, ein etwas stabileres Ego als ein Armer. Der Arme hat ein schwaches Ego; er kann sich ein dickeres Ego gar nicht leisten. Werde Premierminister oder Präsident eines Landes! Dann kann sich dein Ego extrem aufblähen; dann wandelst du nicht mehr auf dieser Erde! – Unser ganzes Leben, dieses ganze Streben nach Geld, Macht, Ansehen, diesem und jenem, ist nichts als der Versuch, immer neue Stützen, immer neue Krücken zu finden, um die Fiktion irgendwie am Laufen zu halten. Und dennoch weißt du die ganze Zeit, dass der Tod näher kommt. Was immer du auch hervorbringst, der Tod wird es vernichten. Aber trotzdem hoffst du weiter, gegen alle Hoffnung: Vielleicht sterben alle anderen, nur du nicht. – Und in gewisser Weise stimmt das auch, denn du hast immer nur erlebt, dass andere sterben. Du hast nie erlebt, dass du selber stirbst. Darum erscheint es dir wahr und auch logisch. Hier stirbt einer, dort stirbt einer, aber du stirbst nie! Du bleibst immer übrig, voll Bedauern, und begleitest die Toten auf den Friedhof, um ihnen Lebewohl zu sagen. Und anschließend gehst du wieder nach Hause. – Lass dich davon nicht täuschen, denn all diese Leute haben es genauso gemacht. Keiner ist eine Ausnahme. Der Tod kommt und zerstört die ganze Fiktion – deinen Namen, deinen Ruhm. Der Tod kommt und löscht einfach alles aus. Nicht einmal Fußspuren bleiben zurück. Alles, was wir in unserem Leben hervorbringen, ist geradeso, als würde man auf Wasser schreiben – nicht mal auf Sand, sondern auf Wasser.» (osho: Ego, 25– 26) Gleich zwei Irrwege also sind es, die mit dem Auftreten von Bewußtsein und Selbstbewußtsein entsprechend den evolutionsbiologischen wie neurologischen Bedingungen ihrer Entstehung sich nahelegen: Da ist zum einen der schopenhauersche Wille zum individuellen Sein, der das Ich, als wäre es etwas Eigenes, in sich selbst Gegründetes, vom Sein im ganzen trennt; und da ist zum anderen die Unmöglichkeit des Bewußtseins, sich seine eigene Nicht-Existenz, seinen eigenen Tod vorzustellen – etwas, das so wenig gelingen kann, wie wenn jemand beim Blick in den Spiegel sein eigenes Bild nicht wahrzunehmen gedächte. Um die phänomenale Täuschung des Ich aufzuheben, ließe sich die Phänomenologie selber in Dienst nehmen, etwa in der Art, wie hermann lang in seinem Buch über Strukturale Psychoanalyse michel foucault (den Strukturalismus), martin heidegger (die phänomenologische Ontologie des Existentialismus) und die Psychoanalyse selbst zu verbinden sucht: michel foucault – wir erinnern uns – setzte dem sartreschen Eintreten für die menschliche Existenz «die Passion für den Begriff, für das System gegenüber. Denn das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der

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Zeit und im Raum hält, ist das System – ein anonymes System ohne Subjekt. Das ‹Ich› ist zerstört, nun geht es um die Entdeckung des ‹Es gibt›, um das ‹Man›. Man denkt innerhalb des anonymen und zwingenden Gedankensystems einer bestimmten Sprache bzw. Epoche, das für das Individuum selbst im Bereich des Unbewußten bleibt. Diese unbewußten Strukturen sind nicht, wie in der Jungschen Konzeption des kollektiven Unbewußten, zeitlos unveränderte Archetypen, sondern historisch wandelbare Regelsysteme. So unterliegt beispielsweise das denkende Ich der Renaissance einem anderen kollektiven Denkzwang als das Ich des 17. Jh. Die Erfahrung in der Renaissance wird noch bestimmt durch eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen Sprache und Welt. Zu Beginn des 17. Jh. löst sich diese Ähnlichkeit auf. Wörter und Dinge zerfallen in die Dichotomie von Zeichen und Bezeichnetem. An die Stelle der Ähnlichkeit tritt die Repräsentation, die nun nicht mehr mit dem Ding identisch ist, sondern es lediglich repräsentiert.» (hermann lang: Strukturale Psychoanalyse, 80) Es entwickelt sich, mit einem Wort, die Begriffssprache der Naturwissenschaften. Man kann gegen die strukturalistischen Ideologen vom Schlage foucaults und lacans einwenden, daß ihr durchsozialisiertes, historisch wandelbares Unbewußtes selbst ein gesellschaftsabhängiges Konstrukt darstellt, das mit den biopsychologischen und neurologischen Voraussetzungen der Psyche, die freud vorschwebten, nichts zu tun hat, ja, daß es im Grunde nichts weiter festschreibt als den Augenblickstrend unserer heutigen Massengesellschaft, das Individuum lediglich in einen seriellen Konsumenten des überall gleichen Warenangebotes zu verwandeln; was dennoch bleibt, ist die nicht zu leugnende Brüchigkeit der menschlichen Person: – die Dezentrierung des Ich angesichts seiner politischen Auslieferung, die Depersonalisation in den Zerfallsprozessen der Psyche, die Zersplitterung des Bewußtseins unter dem Druck einander widersprechender Rollenvorschriften und Fehlidentifikationen; was bleibt, ist das Wissen um die Leere des Bewußtseins. hermann lang unternimmt es nun, diese Leere (in seinen Worten: diese Leerstelle), dieses Nichts, von der existentialen Analyse heideggers her als ein quasi therapeutisches Moment zu begreifen und zu nutzen. heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, schreibt er, «kann als Versuch gewertet werden, das Dasein nicht mehr von einem anderen Seienden, beispielsweise von Gott her, zu verstehen, sondern in seiner Ganzheit allein aus sich selbst auszulegen. Im Hinblick auf dieses Vorhaben kommt der Todesanalyse eine zentrale Rolle zu. Heidegger legt dar, daß man sich selbst vor seine eigene Ganzheit nur in einem ‹Vorlaufen zum Tode› bringen kann. Ein solches ‹Vorlaufen zum Tode› ge-

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schieht in der Stimmung der Angst. Indem in der Angst alles Seiende, woran sich das Dasein bislang hielt, entgleitet, stößt das Subjekt schließlich auf sich selbst. Sofern indessen in der Unheimlichkeit der Angst das Seiende im Ganzen verschwindet, kann es sich bei diesem Selbst nur um ein Nichtseiendes handeln. In der Erfahrung der Angst zeigt sich somit das je eigene Sein als ein nichtiges, positiv formuliert, als ein wesenhaft Unbestimmbares. – Eine Psychoanalyse», so lang, «. . . vollzieht sich im Medium der Sprache. Endet sie letztlich in der Angst um das eigene Subjektsein, in der Angst vor dem je eigenen Tod, so ist jenes, wovor sie und das heißt die Sprache am Ende bringen kann, ein Selbst, das als Nichtseiendes radikal unbestimmbar bleibt, eine Leerstelle bildet.» (hermann lang: Strukturale Psychoanalyse, 92) Gerade das Erleben der Angst, das Bewußtwerden der eigenen Nichtigkeit angesichts des Todes, verstand heidegger, wie wir sahen, als eine Chance, die Verfallenheit an das Man aufzulösen und seine Eigentlichkeit zurückzugewinnen (vgl. Bd. I 660– 662); berechtigterweise legt lang den therapeutischen Akzent darauf, daß die Unbestimmbarkeit des Ich, die in der Nähe des Todes erfahren werde, sich der Fremdbestimmtheit durch die Festlegungen anderer widersetze. Wir werden im nächsten Abschnitt gerade diese heideggersche These von der möglichen Ganzheit des Daseins angesichts des Todes vehement bestreiten und damit das ganze Konzept seines Daseinsverständnisses rein aus den eigenen Existenzvollzügen radikal in Frage stellen; doch um so mehr müssen wir betonen, daß wir mit der Nichtigkeit des Ich in der Existenzphilosophie sozusagen den Gegenpol zu der Vernichtung des Ich im Strukturalismus berühren: die Absorption des Ich im Man findet ihr Ende in der Angst des Ich angesichts seiner eigenen Nichtigkeit. Es ist freilich nicht nur ein Problem des praktischen Vorgehens, sondern auch eine Frage nach der Art des eigenen Therapieverständnisses, was jemand von solchen Analysen und Überlegungen erwartet. Zweifellos diente es der Klarheit der Gedanken, als immanuel kant vor rund 220 Jahren zeigte, daß man die Kategorie der Substanz, die dem Erkennen diene, nicht anwenden könne auf das Ich als die subjektive Bedingung des Erkennens (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in 12 Bden., IV 341–399: Der transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft); deutlicher, als es hier geschah, läßt sich die Unbestimmbarkeit des Ich nicht aussagen; doch von derartigen transzendentalphilosophischen Ableitungen her ist es ein weiter Weg zu einer psychotherapeutischen Erfahrung, die das Ich all seiner fremden Bezeichnungen und theaterhaften Maskierungen zu entkleiden imstande ist. Und vor allem: Muß wirklich stets erst der Erlebnisraum neuroti-

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scher oder gar psychotischer Ängste durchschritten werden, um die Nichtigkeit des Ich zu «entbergen»? Es zählt zu einem Geniestreich ohnegleichen, daß historisch womöglich schon der Buddha selbst die von den Samanas und Brahmanen überkommene Meditationspraxis seiner Tage in eine einzigartige Technik der Klärung des Bewußtseins, mithin der Aufklärung über den wahren Charakter des Ich, verwandelte. Man kann, was Meditation als religiöse Erfahrung bedeutet, wohl begreifen, wenn man sie in Vergleich setzt zu der Gebetskultur des religiös vorwiegend christlich geprägten Abendlandes, die ihrerseits wieder in direkter Anknüpfung an die Geistesart der israelitischen Psalmen in der Bibel zu sehen ist: Das Gebet ist im wesentlichen ein Bitten um besondere göttliche Fürsorge oder ein Danken für die bereits geleistete Hilfe der Gottheit; stets geht es dabei um die Bedürfnisse eines Ich, das sich in der Hinwendung zum Himmel selber ins Unendliche ausdehnt. Die Meditation hingegen bemüht sich gerade darum, die Ichhaftigkeit aufzuheben, indem sie alle Vorstellungen von Bedürfnissen, Begierden, Ängsten, Sorgen, mithin die gesamte Welt des Ego, hinter sich läßt und das Bewußtsein von all dem leer zu machen sucht. Damit folgt die buddhistische Meditation der wichtigen neurologischen Erkenntnis, daß ein eigentliches Ich als ein eigenes Subjekt oder als eine die geistigen Vorgänge tragende Substanz durchaus nicht erfordert wird. «Wenn wir . . . fragen», schreibt gerald m. edelman (Das Licht des Geistes, 133), «ob es einen ‹Zeugen› gibt, der die jeweilige Szene des primären Bewusstseins beobachtet, dürfte die Antwort lauten, dass der Zeuge fortwährend aus jenen integrierten Körperreaktionen entsteht, während sie in Beziehung zu Erinnerungen und Wahrnehmungsinputs treten. Allerdings ist die Vorstellung von einem Zeugen einigermaßen widersinnig – denn das Subjekt ist ja einfach da. Subjektivität ist, da der Körper fortwährend sensomotorische Signale sendet, eine grundlegende Schicht, die im normalen Leben eines mit Bewusstsein ausgestatteten Individuums nie zum Erliegen kommt. Daher wird kein innerer Beobachter und kein ‹zentrales Ich› benötigt – ‹die Bewusstseinsvorgänge selbst sind›, wie William James sagt, ‹die denkenden Subjekte.›» So besehen, stellt der Buddhismus in seiner Lehre ebenso wie in seiner Meditationspraxis so etwas dar wie eine vorgreifende Konsequenz aus eben den Einsichten, die wir der modernen Neurologie verdanken, versucht er doch, den «inneren Beobachter» auszuschalten und die Bewußtseinsvorgänge auf eine Weise fließen zu lassen, die es erlaubt, an nichts mehr zu haften. Während die Psychoanalyse in ihrer Traumarbeit oder in ihrer Assoziationstechnik sich gerade darum bemüht, die verdrängten Inhalte des Unbewußten ins Bewußtsein

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zu heben, geht das buddhistische Verfahren der Meditation gerade umgekehrt darauf aus, das Bewußtsein von allen Inhalten zu entleeren und eine Art (universelles oder kosmisches) Überbewußtsein zu erreichen – einen mentalen Zustand der All-Einheit, wie er vor allem in der indischen Philosophie des Vedânta gelehrt wird (vgl. helmuth von glasenapp: Die Philosophie der Inder, 147– 197). Der Meditierende übt sich in einer reinen Präsenz – er denkt nicht an etwas anderes, er verfolgt keine Ziele, er hängt nicht bestimmten Überlegungen nach, er ruht einfach in sich selbst, er ist aufmerksam und wach, allem wendet er sich zu mit gesammeltem Bewußtsein, und dadurch geschieht es, daß alle Dinge ihm ihre Kostbarkeit enthüllen. Die assoziativen Automatismen in Gefühlen, Vorstellungen und Gedanken, die mechanisierten Formen der Angst und der Angstverarbeitung, die angelernten Klugheiten und Kenntnisse des Verstandes (dieser besondere Stolz des «gebildeten» Ego), die taktischen Verschlagenheiten beim Basteln an einer beruflichen oder politischen Karriere – das alles vergeht; übrig bleibt allein die Wahrheit des Seins, eine kindlich zu nennende Unmittelbarkeit und innere Geschlossenheit. In der Lehrrede an Potthapada (Potthapada-Sutta) hat der Buddha einmal in sieben Stufen einen solchen Zustand zu beschreiben versucht, an dessen Anfang 1) das Freiwerden von der sinnlich gerichteten Art der Wahrnehmung steht; als 2) tritt eine innere Beruhigung ein; indem die Sucht nach Freude schwindet, bildet sich 3) ein gleichmütiges, achtsames und besonnenes Empfinden von Glück; auf der 4) Gedankenstufe tritt die Frage von Leid und Glück, von früheren Bekümmernissen und Befriedigungen zurück, und Gleichmut und Verinnerlichung ziehen ein; in der 5) Phase geht es um die völlige Überwindung der Formwahrnehmungen, so daß eine «raumunendliche» Wahrnehmung an die Stelle tritt, gefolgt zum 6) von einer «bewußtseinsunendlichen, geistig-wahren Art» der Wahrnehmung. Zum 7) aber gilt es, auch die Sphäre der Bewußtseinsunendlichkeit hinter sich zu lassen und in das «Gebiet der Nichtetwasheit» (Nicht ist da irgend etwas) zu gelangen. (Potthapada-Sutta – Die Lehre an Potthapada, Digha-Nikaya, 9, in: paul dahlke: Buddha, 435 –437) – Darlegungen dieser Art müssen an dieser Stelle gewiß sonderbar anmuten; sie vermitteln jedoch den Eindruck, auf den es hier ankommt: daß es einen «Zustand des höchsten Aufhörens der Wahrnehmungsfähigkeit» (paul dahlke: A. a. O., 437) gibt, in dem alle Gedanken und Wahrnehmungsformen verschwinden; ein solcher Zustand ist identisch mit dem Verschwinden des Selbst, mit dem Eintreten in das Nirvana, mit dem Beginn des völligen Verlöschens des Ego. Eine andere Frage wird es gleich noch bilden, wie ein solcher Zustand neurologisch zu erklären ist und was er «objektiv» beweist.

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Im Majjhimanikaya (I 18: Der Honigkuchen) erläuterte der Erhabene den Zusammenhang von Meditation und Erlösung seinen Mönchsbrüdern einmal so: «Wenn aus irgendeinem Grunde mannigfache Wahrnehmungen der Außenwelt an den Menschen herantreten und er sich nicht an ihnen ergötzt, sich nicht auf sie einläßt und nicht an ihnen haftet, so ist dies das Ende leidenschaftlichen Begehrens, das Ende widerwilliger Abneigung, das Ende des Spekulierens, das Ende des unsicheren Schwankens, das Ende stolzer Anmaßung, das Ende des Machtstrebens, das Ende des Irrens, das Ende von Kampf und Krieg, von Streit und Zank, von Zwietracht und Lüge; dann schwinden alle diese unheilvollen Dinge dahin.» (kurt schmidt: Buddhas Reden, 61– 62) Also: Es gibt kein Ich, es gibt kein Selbst; wer das begreift, ist wahrhaft erwacht, wahrhaft frei, wahrhaft erloschen. So die buddhistische Antwort vor 2500 Jahren auf die menschliche Not, so seine Antwort auf die heutigen Herausforderungen durch die neurologischen Befunde zum Zustandekommen von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Herauszuarbeiten bleibt freilich, was – in Ergänzung zum Buddhismus – das Christentum (im Verein mit Judentum und Islam) mit seinem dezidiert personalen Menschen- und Gottesbild zu der Krise des Personbegriffs in der Gegenwart zu sagen hat und wie der Weg der Erlösung sich gestaltet, den – ganz anders als der Buddha – im Neuen Testament der Mann aus Nazareth (der «Christus») im Vertrauen auf seinen «Vater» beschreitet. Gehen wir einmal davon aus, es gebe sie doch: die menschliche Person, – wie läßt sich eine solche Annahme dann mit den Einsichten der modernen Neurologie vereinbaren? Und vor allem: Welche Erfahrungen und Sehnsüchte sprechen für eine solche Annahme?

β) Die christliche Lösung oder: Das absolute Du. dostojewski und luther zum Beispiel Der Friede, den der Buddhismus entsprechend seiner Lehre und mit Hilfe seiner Meditationspraxis zu vermitteln vermag, ist die Einheit der Mystik: die Erfahrung einer tiefen Identität mit allem, was ist, in dem Einheitsgrund eines Seins, das alles umfängt. Eine Welle entsteht in der Weite der See, sie erhebt sich, rollt fort und versinkt, und für einen Augenblick war da ein Etwas, das sich vom Meer, das es gebar, zu unterscheiden schien; doch die Welle ist nichts als eine Kräuselung an der Oberfläche der See – des Seins, der Wirklichkeit –; sie selber ist nichts. Einzig die Reflexion des Lichts, die der Welle im Vorübergang eine schimmernde Schönheit verlieh, mochte die Täuschung eines eigenen Seinszustandes erzeugen, doch mit dem Verlöschen der Welle vergeht auch der

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Lichtglanz, der in ihr erschien. So mit dem Bewußtsein, wenn es das endliche Sein eines Tieres, eines Menschen erhellt. Erfahrungen dieser Art sind dem Buddhismus so zentral wie keiner anderen Menschheitsreligion, sie finden sich aber auch in den biblischen Religionsformen (Judentum, Christentum und Islam); jedenfalls hat es immer wieder Versuche gegeben, die ostasiatische Meditationspraxis mit der theistischen Glaubenshaltung zu verbinden. Innerhalb des Judentums zum Beispiel schrieb abraham ben samuel abulafia (1240 – nach 1291) im spanischen Saragossa um 1288 den Sefer ha-ot (Das Buch des Zeichens, Breslau 1887), in welchem er jenseits der philosophischen Spekulationen der Kabbala die Vervollkommnung des Menschen durch ekstatische Zustände in der Vereinigung mit Gott anstrebte und dabei nicht nur die Zahlenmystik des hebräischen Alphabets verwandte, sondern auch in Anknüpfung an indische Yogapraktiken eine Atemtechnik benutzte, in der «die Bewegungen Gottes aus sich heraus und wieder in sich zurück» nachgestaltet werden sollten. (katharina ceming: Meditation, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Neuausgabe 2005, III 49) – Zweifellos war Abulafia, der im Jahre 1280 vergeblich versuchte, Papst Nikolaus III. (1277–1280) zum Judentum zu bekehren, stark beeinflußt von der islamischen Sufi-Bewegung, die ihrerseits sich legitimiert durch einen Vers aus dem Koran, in dem es heißt: «O ihr Gläubigen, gedenket Allahs in häufigem Gedenken und preiset ihn morgens und abends.» (Koran, XXXIII 41) Auch die Sufi-Bewegung verfolgt mit dem dhikr – arab.: dem Gedenken – das Ziel, «ganz in der göttlichen Einheit zu entwerden, denn (sc. wie wir bei buber schon lasen, d. V.) ‹niemand hat das Recht, Ich zu sagen, als Gott allein›», wie im späten 9. Jh. bereits abu bakr al charraz (gest. 890 oder 899) in Bagdad lehrte. «Der Sufi erkennt in allem Geschaffenen diese Einheit. In den gegensätzlichen Erscheinungsformen dieser Welt zeigen sich Gottes . . . Majestät und Schönheit . . . Sie sind wie ‹ein zweifarbiger Strick›, der zunächst die Einheit Gottes zu verdecken scheint; doch wer die ‹Färbung Gottes› (Sure 2/132) erreicht (sc. metaphorisch für: wer zum Islam gelangt, d. V.), der weiß, daß alle Gegensätze im göttlichen Wesen zusammenfallen, und daß dort auch Glaube und Unglaube nicht mehr bestehen, denn sie sind geschaffen, und ‹alles ist vergänglich außer Seinem Angesicht› (Sure 28/88).» (annemarie schimmel: Gärten der Erkenntnis, 13) Auch an Versuchen, die christliche Tradition in Verbindung und Übereinstimmung mit der asiatischen Kontemplation zu bringen, hat es nicht gefehlt (vgl. z. B. dom le saux: Indische Weisheit – Christliche Mystik. Von der Ved-

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anta zur Dreifaltigkeit, 1968). Doch die Bedingung für ein Unterfangen solcher Art ist eine radikal negative Theologie: Gott läßt sich nicht aussagen! Die ganze Bibel – ebenso wie der Koran – indessen lebt davon, daß Gott sich selbst aussagt – daß mithin, gerade auch nach abulafia, die ganze Welt zu lesen ist als das geschriebene Wort Gottes, daß mithin die Gottheit selbst Person ist. Wir sehen einmal davon ab, wie carl gustav jung an dieser Stelle versucht hat, sein Konzept von der Auflösung des Bewußtseins (mit dem Ich als bloßem Bewußtseinszentrum) im Selbst (als Einheit von Bewußtsein und Unbewußtem) als Interpretament der ostasiatischen Mystik einzusetzen (vgl. richard wilhelm – carl gustav jung: Geheimnis der Goldenen Blüte. Das Buch von Bewußtsein und Leben, 1929, bes. S. 41–49; 58– 64); es bleibt gleichwohl in allem der schwer zu vereinende Gegensatz bestehen, daß der Buddhismus die Existenz der menschlichen Person verneint, während die biblischen Religionen Gott und den Menschen wesentlich personhaft verstehen. Der Kontrast könnte rein logisch größer kaum sein. Gerade indessen bei dem Bemühen, den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen durch eine «Ableitung aller religiösen Typen aus Elementen der Erfahrung des Heiligen» zu ermöglichen, hat im Jahre 1962 paul tillich (1886 – 1965) in einer wichtigen Arbeit über Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen einmal Buddhismus und Christentum unter den Symbolen «Reich Gottes» und «Nirvana» einander gegenübergestellt. Beiden Begriffen, meinte er, lägen «zwei verschiedene ontologische Prinzipien zugrunde, nämlich das der ‹Partizipation› und das der ‹Identität›. Man partizipiert als individuelles Wesen am Reich Gottes, aber man hat tiefste Identität mit allem Seienden im Seinsgrund selbst. Daraus ergeben sich unmittelbar zwei verschiedene Verhaltensweisen des Menschen zur Natur. Wirkliche Partizipation an der Natur kann so sehr an Bedeutung verlieren, daß nur der Wille zur technischen Beherrschung der Natur übrig bleibt. In der westlichen Welt werden heute die Dinge und Kräfte der Natur als Werkzeuge für menschliche Zwecke behandelt. Unter dem Prinzip der Identität ist das kaum möglich. Die einfühlende Identifikation mit der Natur ist in aller vom Buddhismus inspirierten Kunst in China, Korea und Japan zu vollem Ausdruck gelangt. Dieser Haltung analog ist im Hinduismus die ebenfalls auf dem Prinzip der Identität beruhende Behandlung der höheren Tiere, das Verbot, sie zu töten, und der Glaube, der mit der Karma-Lehre zusammenhängt, daß menschliche Seelen im Verlauf ihrer Wanderung in Tieren ihre Verkörperung finden können. Dies ist weit entfernt von dem Bericht des Alten Testaments, nach dem Adam die Herrschaft über alle Geschöpfe übertragen ist (sc. Gen 1,28; 9,1-2, d. V.).» (paul tillich: Das Christentum und die

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Begegnung der Weltreligionen, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, in: Gesammelte Werke, V 84– 85) Bedeuten Sätze wie diese etwas anderes, als daß gerade die (Über)Betonung der Personhaftigkeit des Menschen im westlichen Weltbild den Hintergrund für seine Grausamkeit im Umgang mit den Kreaturen abgibt? Wie anderenorts gezeigt, trägt das biblische Menschenbild in der Tat ein gerüttelt Maß an Schuld für die selbstgerechte Zerstörung, die im Gefälle westlicher Handlungsvorgaben inzwischen sogar global der Natur zugemutet wird (vgl. e. drewermann: Der tödliche Fortschritt, 67–110); gleichwohl ist die biblisch gesetzte Personalität des Menschen nur indirekt an dem Desaster der Naturzerstörung beteiligt, jedenfalls ließe sie sich durchaus auch (wie die Paradieserzählung in Gen 2,19 –20 andeutet) in Harmonie mit der Natur bringen. Unsere Frage an dieser Stelle richtet sich deshalb zunächst nicht auf die Auswirkungen des Glaubens an die Personalität (Gottes und) des Menschen, sondern darauf, ob ein solcher Glaube angesichts der Forschungsergebnisse der modernen Neurologie überhaupt noch aufrechtzuerhalten ist; denn fest steht, daß diese Ergebnisse sich mit dem Buddhismus zweifelsohne sehr gut vertragen, ja, sich sogar wie eine naturwissenschaftliche Bestätigung der Grundannahmen buddhistischer Anthropologie verstehen lassen, daß sie indessen den Positionen der tradierten christlichen Theologie (um nur von dieser zu sprechen) geradewegs konträr gegenüberstehen. Dabei hätte es eigentlich nicht erst der modernen Neurologie bedurft, um den vor allem von der katholischen Kirche verordneten Glauben an die Substantialität der menschlichen Person als irrig zu erkennen. Die menschliche Erfahrung langt nach allem, was wir gehört haben, vollkommen dazu aus. Versetzen wir uns nur noch einmal in die Situation von Häftlingen zurück, die systematischer Folter ausgesetzt sind: sie wissen genau, daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann man ihren Widerstand und damit ihre Persönlichkeit «brechen» oder «weichkochen» wird (Bd. I 90 –95); wer aber sind sie, wenn ihr Ich, wenn ihr Wille allein schon unter der Angst vor jener Auslieferung kapituliert – noch bevor ihr Körper tatsächlich zu einem Stück schmerzempfindenden Fleisches zerquält wird? Wie ohnmächtig können Menschen der Dynamik ihrer Motivationen und Emotionen gegenüberstehen, die sie zu Handlungen treiben, die sie nie begehen wollten; wie unsicher können die biopsychologischen Grundlagen unserer Existenz sein, – denken wir nur an ein Kind, das (wie in der Geschichte von Joan und John, vgl. Bd. I 619 –620) ein Mädchen werden soll, wo es doch ein Junge ist? Und vor allem das Erleben der Angst in all ihren Facetten! Zu welchen Taten sind Menschen fähig, nur schon

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aus momentan gefühlter Angst! Und wie erst, wenn bestimmte Ängste aus Kindertagen sich im ganzen Leben: im Aufbau des Charakters, in den Strukturen des Ich verfestigen? Wie, wenn dies Getriebe der Angst Menschen dahin bringt, wie in psychotischen Schüben, die Wirklichkeit nur noch in der Erlebnisbereitschaft der eigenen Albträume wahrzunehmen? Oder noch anders: wie, wenn man bei fortschreitender Krankheit (parkinson, alzheimer) Tag für Tag miterlebt, wie die körperliche oder geistige Beweglichkeit in den immer enger zusammenrückenden Wänden des irdischen Kerkers (des Leibes) mehr und mehr stranguliert wird? Was für ein «Trost» dann soll es wohl werden, von der modernen Neurologie zu erfahren, daß eben dieser Körper, dieses Gehirn durch seinen Zerfall den «Geist» wieder mit sich hinwegnehmen wird, den es unter günstigeren Umständen einmal erschuf oder zumindest doch hätte erschaffen können? Und noch weit bedenklicher scheint, was wir von seiten der Komplexen Psychologie, der Säuglingsforschung, der Neurologie, dann aber auch von seiten der strukturalistischen Ethnologie und der Psychoanalyse zu lernen hatten: daß, wenn von einer «Person» des Menschen die Rede sein soll, sie als erstes in Gestalt der persona erscheint – als Trägerin und Verkörperung bestimmter Rollenzuweisungen, für deren Eroberung und Verteidigung Selbstbewußtsein und Ich in der Evolution der Arten anscheinend überhaupt nur «erfunden» worden sind; und daß, wenn das Individuum es wagen sollte, sich auf sich selbst zu besinnen und sich von der Identifizierung mit bestimmten Erwartungen und Vorbildern seiner Umgebung zu lösen, es immer noch nichts anderes sein wird als eine Paraphrase gesellschaftlicher Sprachspiele. Neurologisch, biopsychologisch, psychoanalytisch, sprachwissenschaftlich, ethnologisch, soziologisch und kulturanthropologisch mag es durchaus plausibel scheinen, daß das, was wir als Person bezeichnen, nichts anderes sein kann als ein symbolisches Konstrukt der Gesellschaft. Doch damit geht eine höchst folgenschwere Verschiebung einher: Aus dem Ewigen von einst wird nun das Historische, «aus dem Metaphysischen das Soziale» (claude lévi-strauss: Traurige Tropen, 24); was einmal eine seinshafte Schöpfung Gottes, erweist sich nun als ein Produkt der menschlichen Kulturentwicklung. So weit, kann man denken – so richtig. Doch nun aber auch: So weit, muß man denken – so falsch! Denn so wahr es ist, daß die Person eines Menschen zur Welt kommt durch ihre Sprachfähigkeit und daß die jeweilige Sprache durch die Besonderheiten einer speziellen Kulturentwicklung dem Individuum gesellschaftlich vorgegeben ist, so wahr ist es auch, daß der Einzelne, um als eine individuelle Person sich selbst zu verstehen und sich anderen mitzuteilen, die Sprachwelt, in der er

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lebt, nicht länger mehr als das «Bezeichnende» begreifen kann und darf, das deklariert, wer er ist oder wer er als das Bezeichnete selber zu sein hat, sondern daß er den linguistischen Apparat als ein Mittel verwenden darf und muß, um sich in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit zur Sprache zu bringen; er selber wird damit zu dem Bezeichnenden und die Sprache eben dadurch zu seinem «persönlichen» Ausdrucksmittel. Die Voraussetzungen indessen, die dazu erfordert sind, lassen sich nur auffinden in dem prinzipiellen Ungenügen aller ethnologischen, soziologischen oder kulturanthropologischen Schulen bei dem Bemühen, zu bestimmen, was das denn sei: eine menschliche Person. Um es vorweg zu sagen: Als ein «Symbol» – wie sie sich wohl verstehen läßt! – bleibt die Person des Menschen etwas, das etwas bedeuten soll, das sie nicht selber ist und als dessen gesellschaftliches Zeichen sie fungiert, – nie wird sie selber dabei das Bedeutende; genau das aber ist es, was Personsein ausmacht: daß ein Individuum sich kraft seines Selbstbewußtseins inmitten seiner Sprachgemeinschaft als etwas Bedeutendes begreift und mitteilt, – daß es mithin die Geschichte, die es als seine eigene erzählt, mit dem Anspruch versieht, gehört zu werden, selbst wenn es – im Extremfall – ein Gegenüber, das ihm zuhören würde, in seiner realen Umgebung nicht geben sollte . . . In der Entdeckung des Personhaften liegt ein Stück Revolution! Denn worum es geht, ist dies: So sicher es ist, daß die Personalität eines Menschen ein Produkt der menschlichen Kulturgeschichte beziehungsweise der jeweiligen Gesellschaft darstellt, in welcher er lebt, so sicher ist es, daß mit dem Aufscheinen von Personalität etwas entsteht, das unendlich viel mehr sein will und sein muß als ein bloßes soziales Erzeugnis. Statt in der Welt im ganzen aufzugehen, bildet jede Person eine Welt für sich. Und nun ist es die Frage, wem wir Glauben schenken: dem Allgemeinen des Seins (im Buddhismus), dem Allgemeinen in der Gesellschaft (wie in der modernen Neurologie, im Vorlauf dahin aber auch schon in der strukturalistischen Ethnologie und Psychoanalyse) oder dem unwiederholbar Einmaligen in der Gestalt jedes Einzelnen (wie im Christentum). Das Entscheidende besteht vorerst darin, überhaupt begreifbar zu machen, daß hier ein Entweder-Oder von größter Wichtigkeit ansteht, indem dieses die gesamte Art unseres Menschseins bestimmt. Als wir sören kierkegaards beschwörende Warnungen vor dem Schaden referierten, den er vor anderthalb Jahrhunderten bereits mit dem wachsenden Überhang der Naturwissenschaften vor den Geisteswissenschaften heraufziehen sah, mochten seine Ausführungen uns noch als das Bekenntnis eines verschreckten Zukunftsverweigerers erschienen sein; jetzt aber beginnen wir zu ahnen, daß er auf etwas hinweisen wollte, das überzeitliche Bedeutung besitzt:

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Keine «Wissenschaft», egal welcher Fakultät, beantwortet die Frage eines einzelnen Menschen, wer er ist und wie er leben soll. Eben das aber bedeutet es, Person zu sein – daß diese Frage, wer ein Mensch selbst ist und wie er leben soll, nicht und niemals durch gewisse gesellschaftliche Vorgaben geklärt werden kann oder gar immer schon erklärt wäre. Die ganze Aufregung, ein selbstbewußtes Individuum, eine Person zu sein, beginnt mit der Feststellung der prinzipiellen Unableitbarkeit des Einzelnen. De individuis non est scientia, sagten die Alten: «Über das Einzelne existiert keine Wissenschaft.» Das ist vollkommen richtig. Um es so deutlich wie möglich zu sagen: selbst wenn die Genetik das Genom des Menschen eines Tages vollständig entschlüsselt haben sollte (das heißt, wenn nicht nur die Bedeutung der einzelnen Gene als «Buchstaben», sondern auch deren Zusammenspiel zu ganzen «Wörtern» und «Satzteilen» verstanden wäre), wenn ferner die Neurologie anhand der genetisch vorgegebenen Rezeptorendichte und der Ausschüttungsmenge der bekannten Neurotransmitter die biologische Erlebniskonstitution eines menschlichen Kindes vor, während und nach seiner Geburt mit aller nur möglichen Exaktheit anzugeben vermöchte, wenn des weiteren Säuglingsforschung und Psychoanalyse alle nur denkbaren Einflußnahmen der Psychologie und Verhaltensweise einer Mutter auf die frühen prägenden Lernerfahrungen ihres Kindes zu erkennen vermöchten, und wenn zudem eine soziologische Methodologie erarbeitet wäre, fähig, die Sozialpsychologie einer Familie (das Verhältnis von Vater und Mutter, deren Verhältnis zu ihren Kindern, das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern und das Verhältnis jedes Kindes zu seinen Geschwistern) genau genug zu bestimmen, um all die von klein bis kernberg genannten Varianten der Introjektion und Projektion im Aufbau des Ich einer Persönlichkeit mit größtmöglicher Genauigkeit vorherzusagen, – so wäre damit immer noch nicht auch nur entfernt schon verstanden, was ein Mensch als eine Person für sich selbst und dadurch für andere ist; denn das Wesen des Personseins liegt gerade darin, daß es sich mit den Gesetzmäßigkeiten des Allgemeinen nicht erklären läßt. Und was heißt hier schon «erklären»? Es heißt, genau, mit sozusagen mathematischer Gewißheit sagen zu können, was für ein Mensch ein beliebiges Individuum auf Grund der Umstände, unter denen es auf die Welt kam, ist oder zu sein hat; es heißt, zweifelsfrei zu definieren, wie dieses Individuum leben muß, um sein Dasein als sinnerfüllt, glücklich, richtig, erfolgreich und «gelungen» betrachten zu können. Wie aber, wenn das Individuum, schon weil es sich weigert, nichts weiter sein zu sollen, als ein bloßer Anwendungsfall des Allgemeinen, partout nicht auf eine solch allgemein gültige Weise sinnerfüllt, glücklich, richtig usw. zu leben beabsichtigt?

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Ein Autor, der die Problematik des Personseins wie kein anderer (außer sören kierkegaard) erfaßt und immer wieder in seinen Werken geschildert hat, war der russische Dichter fjodor michailowitsch dostojewski (1821– 1881). Insbesondere in seinen dunklen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch von 1864 beschreibt er die Welt aus der Perspektive eines Menschen, der sich selbst betrachtet als eine «unglückliche Maus» (Kap. 3, S. 77). Aus diesem in der Weltliteratur einzigartigen Psychogramm dostojewskis mit seinem unerschöpflichen Reichtum an Einsichten in die Zusammenhänge menschlicher Tragödien muß uns im Moment vor allem die Verbindung interessieren, die der Kellerlochmensch zwischen dem Grad an Bewußtheit und dem menschlichen Leid herstellt, sowie seine Ablehnung einer Definition von Glück, gegen die er schon wegen ihrer abstrakten Unpersönlichkeit und trivialen Allerweltsrichtigkeit protestieren zu müssen meint; referieren wir diese Erzählung ruhig etwas ausführlicher. – Von Anfang an läßt der Kellerlochmensch keinen Zweifel an seinem Unglück: er fühlt sich erniedrigt, gekränkt, gescheitert, unfähig. «Nicht nur, daß ich es nicht fertig brachte, böse zu werden», notiert er voll ohnmächtiger Wut auf sich selbst und alle Welt, «ich brachte es nicht einmal fertig, überhaupt etwas zu werden, weder böse noch gut, weder Schuft noch Ehrenmann, weder Held noch Insekt.» Dabei versucht er sich zu «dem böswilligen und zugleich sinnlosen Trost» die Überzeugung einzureden, daß ein kluger Mensch ernsthaft überhaupt nie etwas werden kann und nur ein Dummkopf etwas wird. (Kap. 1, S. 72) Ihm selbst jedenfalls ist es bereits wegen seiner mangelnden Abgestumpftheit schier unmöglich, «ein Insekt zu werden». «Ich möchte feierlichst erklären», betont er, «daß ich schon mehrere Male ein Insekt werden wollte. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen.» Denn: «Ich schwöre ihnen, meine Herrschaften, daß zu viel Bewußtsein – eine Krankheit ist, eine richtige, regelrechte Krankheit.» Ja, er gibt sich überzeugt, «daß nicht nur zuviel Bewußtsein, sondern sogar jedes Bewußtsein eine Krankheit ist». (Kap. 2, S. 73 –74) Der Beweis: immer in Augenblicken «des Schönen und Erhabenen» geschah es ihm, daß er sich bestimmter «unansehnlicher Handlungen» bewußt wurde und diese sogar zur Ausführung brachte. Dabei vollzog sich sein Versinken im Schlamm «gewissermaßen nicht zufällig», «sondern als müßte es geradezu so sein», als sei dies sein «allernormalster Zustand, durchaus nicht Krankheit und Verderbtheit», so daß er begonnen hat, sich, wenngleich voller Verbitterung und Selbstzerfleischung, mit diesem Zustand abzufinden, ja, ihn zu der eigentlichen Form seines Selbstgenusses zu erheben; «der Genuß», erläutert er, «liegt gerade in dem allzu grellen Bewußtsein eigener Erniedrigung; in dem Bewußtsein, daß man an der letzten Mauer angelangt ist; daß es zwar

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schändlich ist, aber auch nicht anders sein kann; daß man keinen Ausweg hat, daß man nie und nimmer ein anderer Menschen werden wird.» Die «Hauptsache» aber an diesem «Genuß der Verzweiflung» besteht für ihn «darin, daß ich als erster an allem schuld bin und – das ist das kränkendste – daß man ohne Schuld schuldig ist, sozusagen gemäß der Natur der Dinge. Erstens deshalb, weil ich klüger bin als alle, die mich umgeben», und «weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, infolge des Bewußtseins der ganzen Nutzlosigkeit dieser Großmut nur noch mehr gelitten hätte.» (Kap. 2, S. 74 –75) Nach allen Richtungen hin steht (oder sitzt) sich der Kellerlochmensch mithin selber im Wege; statt etwas zu unternehmen, zergrübelt er im Vorfeld bereits jegliches Motiv zum Handeln und unterscheidet sich damit ganz und gar von den sogenannten Tatmenschen, für die schon auf Grund ihrer Dummheit eine Mauer keinen Einspruch darstellt; wenn sie wütend sind, attackieren sie, wenn sie sich rächen wollen, tun sie es, während die «beleidigte, geprügelte und verhöhnte Maus unverzüglich in kalte, giftige und vor allen Dingen ewig andauernde Bosheit» verfällt und in einer «ekelhaften Halbverzweiflung», in einem «bewußten Sich-selbst-lebendig-Begraben» versinkt. (fjodor michailowitsch dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Kap. 3, S. 77– 78) Ein solcher Mensch fühlt sich außerstande, ein Hindernis vor seinen Füßen kraftvoll beiseite zu räumen (also die «Realität» durch eigenes Tun zu verändern), er ist aber auch nicht imstande, sich mit der Welt, wie sie nach Auskunft der Naturforscher und Mathematiker nun einmal ist, zu arrangieren. «Herrgott», murrt er, «was gehen mich die Naturgesetze und die Arithmetik an, wenn mir diese Gesetze und das ‹zwei mal zwei gleich vier› nicht gefallen? Versteht sich, ich werde in eine solche Mauer mit der Stirn keine Bresche schlagen können, wenn ich tatsächlich die Kraft nicht dazu habe, aber ich werde mich mit ihr auch nicht aussöhnen, bloß, weil ich vor einer Mauer stehe und nicht genug Kraft besitze.» (Kap. 3, S. 78–79) Es ist verständlich, wenn ein Mensch unter solchen Umständen sich fragt, ob er denn als «ein bewußter Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten» könne. (Kap. 4, S. 80) Andererseits: wie steht es denn mit den «Tatmenschen» – sollte die Zivilisation sie wirklich humaner gemacht haben oder nicht viel eher nur raffinierter, hinterhältiger und effizienter in ihren Grausamkeiten? «Blut fließt in Strömen», schreibt er, «dazu noch auf kreuzfidele Art wie Champagner . . . Da haben Sie Napoleon . . . Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die ausgekochtesten Blutvergießer fast ausnahmslos allerzivilisierteste Herrschaften waren . . . Früher sah er (sc. der Mensch, d. V.) das Blutvergießen als Gerechtigkeit an und vertilgte mit gutem Gewissen, wen er zu vertilgen hatte; jetzt aber halten wir das Blutvergießen zwar für eine

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Gemeinheit, können aber von dieser Gemeinheit nicht lassen». (Kap. 7, S. 86) Ja, man setzt die Naturgesetze, die Wissenschaft, dafür ein, zu erklären, daß der Mensch nun einmal so ist, «daß er in Wirklichkeit weder Wille noch Laune besitzt, ja nie besessen hat und daß er selbst nichts anderes als eine Art Klaviertaste oder Drehorgelstift ist . . . Folglich braucht man nur diese Naturgesetze zu entdecken, und der Mensch wird sogleich für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein und ein ungemein bekömmliches Leben beginnen. Selbstverständlich werden dann alle menschlichen Taten nach diesen Gesetzen errechnet werden, mathematisch, in einer Art Logarithmentafel bis 108 000 . . ., so daß im Handumdrehen alle möglichen Fragen verschwinden werden, nämlich deshalb, weil man alle möglichen Lösungen bereits besitzt. Dann wird man einen Kristallpalast (sc. wie den der Londoner Weltausstellung, die dostojewski 1862 besuchte, d. V.) errichten.» Einen Menschen aber, der an seiner Überbewußtheit und Sensibilität bis zum Unerträglichen leidet, muß es geradezu anfechten, «diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt» zu «zertrümmern, einzig in der Absicht, all diese Logarithmen zum Teufel zu jagen und allein nach unserem törichten Willen zu leben!» Denn: «Der Mensch braucht einzig und allein das selbständige Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag.» (Kap. 7, S. 87– 88) Schon um sich als ein Individuum zu befreien und seiner Eigenheit bewußt zu bleiben, wird er sich zu beweisen suchen, daß das Leben «nicht nur Quadratwurzelziehen» ist (Kap. 8, S. 90), – ist doch das «zwei mal zwei gleich vier» «nicht mehr Leben, . . . sondern der beginnende Tod.» «Und warum», fragt er abschließend, «sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, daß einzig das Normale und Positive, mit einem Wort: nur Wohlergehen für den Menschen vorteilhaft sei? . . . vielleicht liebt der Mensch nicht das Wohlergehen allein? Vielleicht liebt er im gleichen Maße auch das Leiden? . . . im Kristallpalast ist es (sc. das Leiden, d. V.) völlig undenkbar: Leiden ist Zweifel, ist Verneinung . . . Indessen bin ich überzeugt, daß der Mensch auf wirkliches Leiden, das heißt auf Zerstörung und Chaos, niemals verzichten wird. Das Leiden – das ist ja der einzige Grund des Bewußtseins.» (Kap. 9, S. 94– 95) «Sie glauben an den Kristallpalast . . . ich fürchte diesen Palast . . . ich weiß, daß ich mich mit einem Kompromiß nicht zufrieden geben werde, mit einer unendlich periodischen Null, bloß weil sie nach den Naturgesetzen vorhanden und zwar wirklich vorhanden ist. Ich werde niemals die Krönung meiner Wünsche in einem Mietshaus sehen mit Wohnungen für kleine Leute, mit einem tausendjährigen Mietvertrag und einem Zahnarztschildchen für alle Fälle.» (Kap. 10, S. 95 –96) «Lieber gar nichts tun. Lieber kontemplative Trägheit! Und darum: es lebe das Kellerloch!» (Kap. 11, S. 97)

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Natürlich kann und wird man dem Kellerlochmenschen psychoanalytisch sogleich entgegenhalten, was er der Sache nach selbst schon voraussieht (fjodor michailowitsch dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Kap. 11, S. 97): daß er ein Masochist sei, der seine enormen Aggressionen, statt gegen die «Mauer» (gegen die ursprünglichen Peiniger – seinen Vater vielleicht) zu richten, auf sein eigenes Ich lenke; den entsprechenden Sadismus seines Überich könne man zweifelsfrei daran erkennen, daß in jedem Augenblick möglichen Glücks eine verbietende Instanz ihn förmlich zwinge, irgend etwas zu tun, das seinen verdrängten Triebwünschen ein destruktives Ventil öffne; da er aus Furcht vor seinen eigenen Zerstörungsneigungen lieber sich selber zerstöre, ersetze er in völliger Passivisierung ein an sich mögliches realitätveränderndes Handeln durch ein ersatzweises Probehandeln im Ausdenken grüblerischer Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, verachte er Wissenschaft und Mathematik, nur um logischen Wirrwarr und geistiges Chaos an ihre Stelle zu rücken, und kaschiere er insbesondere seinen geheimen weltverbesserischen Größenwahn mit depressiv-zwangsneurotischen Minderwertigkeitsgefühlen und Kleinheitsphantasien. – All diese Analysen und Vorwürfe wären nicht falsch. Und doch würde man mit solchen psychoanalytisch gewiß zutreffenden «Diagnosen» dem Kern des Problems nicht näherkommen, auf das dostojewski mit seinem Kellerlochmenschen hinweisen wollte: Bewußtsein ist stets intentional das Bewußtsein von etwas, Selbstbewußtsein aber ist immer das Erfassen der Singularität des eigenen Ich; eben deswegen mutet es absurd an, mit diätetischen, psychohygienischen, psychotherapeutischen, neurologischen, medizinischen, politologischen, soziologischen, philosophischen oder wie auch immer gearteten «Gründen» einer Persönlichkeit wie dem Kellerlochmenschen erklären zu wollen, daß es vernünftig, wohltuend, das persönliche wie allgemeine Wohl vermehrend sei, sich in einer bestimmten Weise der Lebensführung einzurichten. Alle Ratschläge oder Weisungen, die auf solche Weise zustande kommen, mögen «an sich» noch so richtig sein, sie gehen gleichwohl vorbei an dem individuellem Leid einer einzelnen Person. Keine Wissenschaft, kein gesetzliches Regelwerk, keine Organisation, keine Institution, keine Partei, keine Kirche kann der Person eines einzelnen Menschen geben, wessen sie wirklich wie zu ihrer Rettung bedarf: die Zuwendung einer anderen individuellen Person. Um einen Menschen aus seinem Kellerloch zu holen, braucht es eines anderen, der selber in die Abgründe seiner Verzweiflung (seiner «Hölle») hinabsteigt. An dieser Stelle wird deutlich, inwiefern die Auflösung der konkreten Person eines Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Symbol in der strukturalisti-

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schen Ethnologie und Psychoanalyse zugleich richtig ist und falsch. Sie trifft zu auf der abstrakten Erklärungsebene, doch eben deshalb betrifft sie nicht die Person des Einzelnen selber, von der in all den Erklärungen ihres Zustandekommens die Rede geht. Wir haben uns nicht viele Seiten lang von daniel n. stern u. a. zeigen lassen, wie ein Kind sich in den ersten Lebensmonaten bis hin zur Sprachfähigkeit entwickelt, um nicht mit Macht auf den entscheidenden Faktor aller Personwerdung hingewiesen zu werden: auf das Gegenüber einer anderen Person. Ein Kind, so sahen wir, erkennt seine Mutter bereits in den Anfangstagen an ihrem Geruch wieder (s. o. S. 479), es erinnert die Stimme, die es schon vor der Geburt vernommen, es sieht in die Augen der Person, die es anlächelt, und für viele Monate bildet der Tonfall dieser Stimme, der Ausdruck dieser Augen das wichtigste Signal seiner Annahme oder Ablehnung; erst vor dem Hintergrund derartiger Wahrnehmungen baut sich allmählich die eigene Sprachfähigkeit auf. Miterlebt haben wir das spontane Interesse eines Kindes an allem, was sich «von selbst» bewegt, und daraus gefolgert, daß die ersten Kategorisierungen eines Kindes wahrscheinlich die Welt seiner Wahrnehmung in «lebendig» (= selbstbewegt) und «unlebendig» (= fremdbewegt) einteilen (s. o. S. 489 –490). Aus solchen – und vielen anderen – Eindrücken und Verarbeitungsweisen setzt sich nach und nach das Bild eines anderen Selbst zusammen, parallel zu dem der Aufbau des eigenen Selbst sich vollzieht. Ein Kind wird zu einem seiner selbst bewußten Ich und schließlich zu einer «Person» in eigentlichem Sinne, indem es zu sprechen lernt – diese Aussage behält ihre Richtigkeit; doch ein Kind lernt nur zu sprechen, wenn eine andere Person mit ihm spricht – und diese Aussage ist (als notwendige und hinreichende Bedingung von allem, was die Personwerdung angeht) jetzt noch weit wichtiger. Eine Person formt sich nur in Gegenwart des Wohlwollens und der Zugewandtheit einer anderen Person. Eben diese Feststellung bewahrheitet sich in vollem Umfang auch in der Psychotherapie, – sie bestätigt sich im Umgang mit jedem Menschen, und eigentlich ist es genau dieser Eindruck, auf den dostojewski mit der Analyse der Verzweiflung seines Kellerlochmenschen hinauswollte. Was, fragte er indirekt, wäre erfordert, um einen solchen Menschen aus dem Kerker seiner Selbstreflexion herauszuholen? Eines ist dabei von vornherein klar: vonnöten ist jemand, der als Person auf die persönliche Not dieses Einzelnen eingeht. «Du schämst und verachtest Dich», müßte ein solcher sagen, «für bestimmte Gemeinheiten, für bestimmte Wünsche und Vorstellungen, die du dir selber kaum einzugestehen wagst; aber schmutzig und schlammig ist doch niemals das Wasser, das fließen möchte, und selbst die durchfeuchtete Erde ist am rechten Ort eine

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Zone der Fruchtbarkeit. Statt den Triebregungen mit moralischem Anspruch Vorwürfe dafür zu machen, daß es sie gibt, ja, statt sich schließlich selbst zu verwünschen für die Tatsache der eigenen Existenz, sollten wir lieber schauen, was in dem ‹Schlamm› nur darauf wartet, fruchtbar zu werden und an rechter Stelle seine Berechtigung und Schönheit zu entfalten. Vor allem deine Klugheit, die es offensichtlich gibt – sollte sie wirklich nur dazu dasein, dich selbst zu verachten? Wer eigentlich möchtest oder müßtest du sein, um dich nicht wegzuwerfen? Ein Napoleon gewiß nicht. Ein Tatmensch dieser Sorte keinesfalls. Wer aber dann? Oder umgekehrt gefragt: Wer eigentlich in deinem Leben war ein Napoleon, daß du ihn seiner barbarischen Grausamkeit und Dummheit wegen meintest verachten zu müssen? Und wieso, trotz deines eindeutigen Urteils über Leute solchen Kalibers, missest du dich insgeheim noch immer nach ihnen? Warum sollte es nicht gelingen, in deinen Anklagen gegen jene die Seiten an dir selbst zu entdecken, die zur Grundlage einer gerechteren Selbstbeurteilung dienen könnten?» – Kurz: Mit einem Menschen aus dem Kellerloch müßte jemand reden, der an ihn mehr glaubt, als dieser jemals an sich selbst hat glauben können; es müßte jemand sein, der ihn versteht und in gewissem Sinne liebt, – jemand, der den Wert begreift, der hinter der Abwehrmauer wütender Proteste tatsächlich schützenswert ist: die Würde der individuellen Person. Nur jemand, der sie als wesentlich wahrnimmt, vermag die Person eines derartigen Menschen zu retten. Daß dostojewski bei dem Leser seiner Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gerade diese Schlußfolgerung provozieren wollte, wird offenbar, wenn wir einen Blick in den annähernd zeitgleich entstandenen Roman Schuld und Sühne aus dem Jahre 1866 werfen. Der junge Student Raskolnikow hat zwei alte Frauen mit einer Axt erschlagen, nur um sich zu beweisen, daß er keine Laus ist (III 6, S. 300), und doch hat er dabei lediglich gemerkt, daß er nicht – wie ein Napoleon – «aus Erz» ist (III 6, S. 299); in diesem Roman ist es die Dirne Sonja, die, als sie sein Geständnis des Verbrechens vernimmt, ihn umarmt und fest an sich preßt und ihm verspricht, mit ihm zu gehen – bis nach Sibirien, wenn nötig, denn «es gibt auf der ganzen Welt keinen Unglücklicheren als dich». (V 4, S. 451) Auch in diesem Roman dostojewskis geht es um den Protest gegen das «Glückseligkeitszuchthaus» (fjodor michailowitsch dostojewski: Schuld und Sühne, III 5, S. 278), doch weit mehr noch geht es um den Nachweis, daß es unmöglich ist, ohne einen anderen wesentlichen Menschen zu leben, der an uns festhält, selbst und gerade dann, wenn wir uns selber verlorengehen oder verloren geben. Kinder brauchen ein solches absolutes personales

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Gegenüber, um sich zu eigenständigen Personen zu entwickeln; «Erwachsene», die niemals wirklich Kinder sein durften (alle «Neurotiker», «Psychopathen» und «Psychotiker»), bedürfen eines «Ersatzes» für jenes seit eh und je Fehlende; in allem aber zeigt sich, inwiefern die Person eines Menschen wirklich als ein Symbol zu verstehen ist: nicht auf der Ebene der Soziologie (oder Ethnologie) als eines Ausdrucks- oder Austauschmittels des Gesprächs, das «die» Gesellschaft (lauter Abstracta!) mit sich selber führt, sondern auf der individuellen Ebene: als eines Verweises des einen auf einen anderen, eines Subjekts nicht auf ein Objekt, sondern auf ein anderes Subjekt, mithin eines Ich auf ein Du. An dieser Stelle ist ein Einwand schwer verständlich, den wolfhart pannenberg (geb. 1928) schon 1961 in dem theologischen und religionswissenschaftlichen Handwörterbuch Die Religion in Geschichte und Gegenwart (V 234) gegen die dialogische Auffassung der Person als eines Ich-Du-Verhältnisses geltend machen wollte; pannenberg erklärte die bubersche «Scheidung zwischen Ich-Du-Beziehung und Ich-Es-Beziehung» für «undurchführbar, weil Ich-Du-Beziehung sich immer nur im Medium eines gemeinsamen Sachbezuges, gemeinsamer Aufgaben und Interessen, entwickeln» könne. Genau aber, daß dies nicht sei, macht den Kern einer Beziehung aus, die imstande ist, die Heraufkunft, Erhaltung und Entfaltung einer Person zu begleiten: eine solche Beziehung darf nicht in irgendwelche «Interessen» eingebunden sein, sie muß vielmehr fernab jeder äußeren Zwecksetzung die Person des anderen selber zum Ziel haben. Sprechen kann man und muß man in diesem Zusammenhang deshalb unbedingt von Gnade; und zwar in vollem Bewußtsein, daß dieses Wort auf das engste mit der Vorstellung eines persönlichen Gottes verknüpft ist. Denn zu tun ist es im Umfeld der Personwerdung um nicht mehr und nicht weniger als um eine Dimension der Existenz, in welcher dieser selber eine unbedingte Geltung zukommt. Jene bedingungslose Zuwendung, die eine Mutter ihrem Kinde schenkt, um es zu einem eigenen und eigenständigen Wesen sich entwickeln zu lassen, jene offene Haltung eines gewährenlassenden Wohlwollens, das die Voraussetzung einer jeden gelingenden psychotherapeutischen Sitzung darstellt, erschafft allererst den Raum, in welchem eine Person zu sich selbst heranzureifen vermag. Verstehen wir «Gnade» als eine bedingungsfreie, unverzweckte Bejahung und Bestätigung des Selbstseins eines anderen, so bildet sie die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß so etwas wie eine Person überhaupt entstehen kann. Nicht in dem Sinne also stellt «Person» ein Symbol dar, als sie innerhalb einer kulturellen Sprachgemeinschaft ein Ensemble möglicher sozialer Bedeutungen vertritt, sondern insofern, als sie auf den Raum einer unbedingten

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Güte verweist, innerhalb deren sie selbst sich vollzieht. «Was wäre ich denn ohne Gott?» flüstert Sonja in dostojewskis Roman Schuld und Sühne. «Alles gibt er mir!» (IV 4, S. 353) Genau darum geht es. Wir haben bisher Person «definiert» als ein Ich, das imstande ist, seine eigene Geschichte zu erzählen. Doch wer in Wahrheit kann das schon? In jeder Psychotherapie kommt dem Wort eine solch bedeutende Rolle zu, weil das Ringen um eine irgendwie kohärente Erzählung der eigenen Biographie den Mittelpunkt aller Bemühungen darstellt. Erst dann kann jemand als «gesund», als «geheilt» betrachtet werden, wenn er imstande ist, den roten Faden in dem Labyrinth seines Lebens aufzunehmen. Doch selbst gesetzt, jemand vermöchte dies, – befinden wir uns je in der Lage, über uns selber Bescheid zu wissen? Bedürfen wir nicht stets eines anderen, der uns wahrer, wohlwollender, wirklicher anschaut als wir uns selber? Und dieser andere, der uns unsere eigene Geschichte erzählt und sie deutet, so wie sie wahrhaftig ist, wird und darf uns nicht sagen, wer wir sind, doch bietet allein er die Bedingung dafür, uns selber zu finden. – Aber selbst wenn das geglückt ist, bleibt die Unsicherheit: Nehmen wir an, wir hielten in dem Roman unseres Lebens just auf Seite 620; nehmen wir ferner an, überhaupt jetzt erst begönnen wir selber, die eigene Geschichte in Fortführung des längst schon Gewesenen in eigener Regie weiterzuerzählen, so verblieben wir doch immer noch in der alten Ungewißheit; oder – wir setzten dem Vorgegebenen ein paar Zeilen hinzu, die zeigten, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt wir selber uns sahen; doch wie schnell ändert sich unser Blick auf uns selbst! Und erst recht die Wahrnehmung anderer! Wo jemals wären andere, wäre eine Sprachgemeinschaft, wäre die Kulturgeschichte, wäre die Weltgeschichte imstande, über die Person eines Menschen gerecht zu richten? – Eben darin, daß die anderen nicht das letzte Wort über den Wert eines Menschen behalten, liegt die unbedingte, die absolute Dimension des Personalen. – Und das gilt vor allem für die unumstößliche Tatsache unseres Todes. Ein Mann, der in herausragender Weise um die Bedeutung dieser Dimension angesichts der Angefochtenheit der menschlichen Existenz gewußt hat, war der Reformator martin luther (1483 –1546). Im Jahre 1516 bereits hielt er eine Disputation über des Menschen Vermögen und Willen ohne die Gnade. (In: Die Werke Luthers in Auswahl, I 345– 354) Seine Frage lautete: «Kann der Mensch, nach Gottes Ebenbild erschaffen, aus seinen natürlichen Kräften die Gebote Gottes, seines Schöpfers, halten oder irgend etwas Gutes tun oder denken und mit der Gnade verdienen (sc. wie die katholische Theologie bis heute lehrt, d. V.) und das als Verdienst erkennen?» (A. a. O., I 345) Die Antwort luthers fiel eindeutig negativ aus: «Der Mensch, der Seele nach Gottes Ebenbild

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und so zur Gnade fähig, unterwirft, allein auf seine natürlichen Kräfte gestellt, eine jede Kreatur, deren er sich bedient, der Eitelkeit. Er sucht nur das Seine und was des Fleisches ist.» (A. a. O., I 345) Vor allem Bibel- und augustinus-Zitate führte der Reformator an, um zu beweisen, daß der «alte Mensch, die Eitelkeit aller Eitelkeiten, ja die Eitelkeit überhaupt, . . . auch die übrigen Geschöpfe, die sonst gut sind, eitel» macht. (A. a. O., I 346) Die Ausdrücke «der alte Mensch» und «Fleisch» sind dabei synonym zu verstehen; beide Begriffe bezeichnen nach luther den Menschen, der «nicht aus Gott durch den Geist wiedergeboren» ist. (A. a. O., I 347) Diese Wiedergeburt durch den Geist, muß man ergänzen, vollzieht sich im Glauben an die Gnade Gottes, durch welche ein Mensch überhaupt erst zu einem freien Besitz seiner sittlichen Kräfte gelangt; heißt es doch in luthers zweiter These: «Der von der Gnade Gottes ausgeschlossene Mensch kann seine Gebote keineswegs halten noch sich, sei es gebührend oder angemessen, zur Gnade bereiten, sondern er bleibt notwendigerweise unter der Sünde.» (A. a. O., I 348) So wie einem Gleichniswort Jesu zufolge ein schlechter Baum nur schlechte Früchte bringen kann (Mt 7,17), so kann der Mensch ohne die Gnade Gottes nur Schlechtes tun: «Wenn der Mensch tut, soviel an ihm ist, sündigt er, da er aus sich selbst weder wollen noch denken kann.» (A. a. O., I 350) Worte wie diese, die von Sünde und Fleisch, von Eitelkeit und Schlechtigkeit, von Gnade und Geist, von Gebot und Verdienst reden, entstammen ersichtlich einer Sprachwelt, die nicht mehr ohne weiteres die unsere ist; sie muß übersetzt werden in Begriffe, die menschliche Erfahrungen in Worten unserer Zeit wiedergeben; doch eine Hauptschwierigkeit dabei entsteht aus der beharrlichen Weigerung weiter Teile gerade der protestantischen Kirchen, die theologischen Aussagen der «Rechtfertigungslehre» unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Psychologie des 20. Jhs. zu lesen, stets in Furcht, es könnte dann Gott zu etwas rein Innerweltlichem oder Innerseelischem erklärt werden, wo es doch wesentlich darum gehen sollte, sein «Anderssein» (oder besser: sein Anderersein) zu erweisen. In Wahrheit ist die Brücke zwischen Theologie und Psychologie an keiner anderen Stelle so dringend und zwingend zu schlagen wie hier. Denn was luther mit seinen Thesen über die «Gnade oder Liebe» (Disputation über des Menschen Vermögen und Willen ohne die Gnade, in: Die Werke Luthers in Auswahl, I 352) ausdrücken wollte, ist ein Phänomen, das wir neurologisch, psychoanalytisch und psychiatrisch bei unserer Beschäftigung mit der Angst des Menschen sowie den vielfältigen Formen seelischer Erkrankung auf Schritt und Tritt betrachten konnten: Ohne die Zuwendung einer anderen

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Person (ohne die Liebe der Mutter) vermag ein Kind nicht zu einer freien, mit sich selbst identischen Person aufzuwachsen. All die Debatten um Narzißmus und Ichabgrenzung, Identifikation und Introjektion, Projektion und Dissoziation, Integration und Depersonalisation versuchten ja nur die Folgen einer Entwicklung zu beschreiben, die auf Grund einer fehlenden oder fehlerhaften Liebe in einem Feld von Angst sich ins Leben zu tasten gezwungen sieht. An all den Zonen der Fehlangepaßtheit und Fehlidentifikation wird eine solche Person sich selbst und anderen zur Gefahr werden; an all den Stellen ihrer Verdrängungen, Gegenbesetzungen und Charakterpanzerungen wird sie der unheimlichen Dynamik des Unbewußten unterliegen; sie wird sich unfrei fühlen auf dem Terrain des eigenen Ich, von dem sie wie willenlos ganze Teile den «Überschwemmungen» seitens des Es freigeben muß oder von dem sie breite Korridore für den Deichbau seitens des Überich abtreten muß. Vor allem, die Investition der besten Kräfte des eigenen Willens richtet sich notwendig auf ein – mit luther gesprochen – «eitles» Ziel: Eine Person, die sich inmitten einer buchstäblich gnadenlosen Welt in ihrer Existenz fundamental infrage gestellt erlebt, kann nicht anders, als sich um die Achse des eigenen Ich im Kreise zu drehen. Überkompensationen und überhöhte Ichidealforderungen zum Beispiel kennzeichneten vorhin noch den in sich selber verkerkerten Kellerlochmenschen, und wir sahen, wie sein «dezentriertes» Ich sich als außerstande erwies, zwischen den zerreißenden Extremen seiner Aufstiege und Abstürze einen ruhenden Standpunkt ausgeglichener Selbstbestimmung einzunehmen; insbesondere seine schaudernde Verachtung der Grausamkeiten all der «Großen» der Weltgeschichte aber verweist uns auf den entscheidenden Punkt, um den es mittelbar auch in luthers Thesen zu tun ist: Es müßte inmitten dieser gnadenlosen Welt für einen jeden Menschen einen Ort geben, zu dem er sich wenden könnte; fehlt ihm ein solcher Ort, so geht er unfehlbar sich selber verloren; sogar ein Mensch mit den Anlagen zum Besten wird dann zum Übelsten pervertieren. Für luther war dieser «Ort» einer absoluten Zuwendung die Person Jesu. «In Summa», schreibt er in der Vorrede zur Thesensammlung im Jahre 1538, «wir sind nichts, Christus allein ist alles. Wenn der sein Angesicht abwendet, gehen wir zugrunde und der Satan triumphiert, auch wenn wir Heilige, wenn wir Petrus oder Paulus wären.» (martin luther: Die Werke Luthers in Auswahl, I 344) Dies war seine Grundüberzeugung, die er bereits in der Vorlesung über den Römerbrief von 1515 –1516 aussprach und die er bis zum Ende durchhielt: «Nur die Gnade scheidet ja die Erlösten von den Verdammten.» (A. a. O., I 221) Es ist, wie wenn in den Tagen des Frühlings die Sonne zu wärmen beginnt

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und auf der einen Seite des Hangs das Eis und den Schnee abtaut, um blühendes Leben neu zu erschaffen, während ihre noch schräg einfallenden Strahlen auf der Hangrückseite selber den Schatten werfen, der sie verdunkelt. Doch was sollen die Menschen tuen – im Schatten? Und darf es sie überhaupt geben – Gottes Verdammte? Wie ein Leben in einer Welt der Kälte und Dunkelheit sich gestaltet, bis daß es bereit steht, sich selbst zu verfluchen, mußten wir gerade eben noch auf erschütternde Weise aus dem Munde von dostojewskis Kellerlochmenschen vernehmen; doch anders als luther, der sich in einer trotz allem noch mittelalterlichen Glaubensgewißheit getraute, als Theologe die menschliche Wirklichkeit aus Gottes Perspektive zu betrachten, leben wir in einer Welt, in welcher es zutiefst in Zweifel gezogen wird, ob Gott – ein persönlicher Gott – überhaupt existiert. luthers zentrale Entdeckung war es, daß nur das Vertrauen in eine unbedingte Liebe den «alten Menschen» zu überwinden und in einen wahren Menschen, ausgestattet mit Freiheit und Güte, umzuwandeln vermag. Wahr ist: An Verlorenen, an «Verdammten» gibt es in der arktischen Wüstenei unserer Welt nur allzu viele; aber: wie lernen wir es, gegen diese Welt Gnade zu «glauben»? dostojewski versuchte zu zeigen, daß es für den Glauben an Gott überhaupt keinen anderen Grund gibt als diesen: Kein Mensch kann leben ohne ihn! Niemand zeigt diese Wahrheit so tödlich und tröstlich wie die «Verdammten» dieser Erde – all die Zerbrochenen, all die Unglücklichen, all die «von allen guten Geistern Verlassenen»: sie alle rufen laut nach einer Liebe, die ihnen fehlt! Wie ein Verdurstender die absolut notwendige Existenz von Wasser beweist, so eine Menschenwelt ohne Liebe die Unentbehrlichkeit Gottes . . . Und damit ändert sich alles. Soeben noch mochte es als ein Leichtes erschienen sein, die Person des Menschen theologisch als ein «Symbol» für die Personalität Gottes zu «begreifen»; jetzt aber stellt alles sich geradewegs dramatisch dar – als ein Ringen buchstäblich zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Vertrauen und Verzweiflung, zwischen Verwandlung und Verbitterung, zwischen «Erwähltheit» und Verlorenheit. Aus der eben noch akademischen Frage, ob es denn möglich sei, von der Personalität des Menschen zu sprechen, ohne auf die Personalität Gottes zu verweisen, ist jetzt ein Problem geworden, das, existentiell unausweichlich, die Frage danach stellt, was wir für Menschen sind.

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g) Gott als das unbedingte Ja α) Von dem Vertrauen eines Kindes Man macht sich wohl nicht immer klar, daß alle Aussagen von methodischen Voraussetzungen abhängen; so scheint manchmal etwas nicht zu existieren, nur weil man mit einer untauglichen Methode danach sucht: – Sterne findet man nicht mit einem Mikroskop, Bakterien nicht mit einem Teleskop. Die tradierte (Kirchen)Theologie (insbesondere unter römischer Aufsicht) hat Gott seit eh und je im Allergrößten (unter)suchen wollen – mit dem Fernrohr. Für sie war Gott im Erbe der griechischen Philosophie – insbesondere des parmenides, um 540 – um 470, mit seinem berühmten Ausspruch: ésti gàr eînai – es gibt ja das Sein (vgl. parmenides: Vom Wesen des Seienden, Fr. 6, S. 16; dt.: S. 17) – als erstes ontologisch zu verstehen: als das Sein selbst, das in allem Seienden anwest und dessen Grundlage bildet; die Schwierigkeit in diesem Ansatz lag von Anbeginn an darin, zeigen zu müssen, daß dieses Sein – als Schöpfer, als Geist – ein Personsein ist, identisch mit dem Gott (Jahwe) der Bibel beziehungsweise mit dem «Vater Jesu Christi». Doch nun kommt es wirklich arg: Was wir auf den letzten 100 Seiten miterlebt haben, ist nicht mehr und nicht weniger als das endgültige Ende dieser gesamten Beweisführung! Es ist nicht möglich, die Person aus einem metaphysischen Sein abzuleiten, das als eine geistige Substanz einem konkreten Einzelseienden inhärieren würde (lat.: anhaftete); das evolutive Denken der modernen Naturwissenschaften verhält sich vollkommen konträr zu dem statischen Konzept der tradierten Ontologie. Der Zusammenbruch der klassischen «Beweise» Gottes aus dem «Geschaffenen» zeigte sich uns schon früher in den Themenfeldern der Biologie (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 130 –141; 408 –420) und der Kosmologie (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 1104–1122): Es ist prinzipiell nicht mehr statthaft, Gott in die noch vorhandenen Lücken unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis einzufügen, um praktischerweise mit ihm die noch unvollständige Kette kausaler Erklärungen zu komplettieren oder ihn als eine Art Überkausalität zur Begründung des Weltganzen zu mißbrauchen. Speziell die Fragen nach der Herkunft von Geist, Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Person wurden in der (abendländischen) Theologiegeschichte stets mit dem Verweis auf Gott beantwortet, der, weil selber Geist, Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Person, die einzig zureichende Ursache dieser am meisten rätselhaften

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Erscheinungen der Natur zu bilden schien. Wir aber haben gesehen, daß die Neurologie der Gegenwart eine Zweiteilung von Geist und Materie nicht länger mehr zuläßt und daß ihre Forschungsmethoden durchaus den Eindruck erwecken, als ließen sich für Bewußtsein und Selbstbewußtsein plausible neuronale Korrelate auffinden, die zudem aus der Evolution der Wirbeltiere und der Säugetiere gut verständlich zu machen sind; erst der Begriff der Person setzt offenbar mehr – aber nichts Metaphysisches – voraus, als mit den Mitteln der Neurologie dargestellt werden kann. Doch nun: Wenn es Geist und Bewußtsein nur gibt in Verbindung mit empirisch zugänglichen materiellen Prozessen, so liegt darin scheinbar ein starkes Argument nicht nur gegen das Dogma von der Schöpfung des Menschen durch Gott, sondern gegen die Existenz eines Gottes überhaupt. Nicht wenige in unseren Tagen ziehen denn auch ohne Umschweife diese Schlußfolgerung. Nach Jahrhunderten einer definitiv falschen Sicht auf den Menschen und einer ebenso selbstsicheren wie irrigen Demonstration Gottes aus den Vernunftgründen (einer metaphysizierten Dogmatik beziehungsweise einer dogmatisierten Metaphysik) breitet sich im Gebiet der letzten verbliebenen Rückzugsräume des theologischen Denkens neuerlich ein Enttäuschungsatheismus aus, dem im Rahmen der selbstgeschaffenen Problemlage kaum Einhalt zu gebieten ist. Denn es stimmt: Man wird Gott nicht mit dem «Fernrohr» zu sehen bekommen – als den Hintergrund des hèn kaì pãn (des Einzelnen [Einen] und Ganzen der eleatischen Philosophie des parmenides, in: Vom Wesen des Seienden, Fr. 8, S. 20; dt.: S. 21). Nicht das Sein, – das Personsein, die Welt im «Kleinen», das «Mikroskop» offenbart uns Gott. Wie anderenorts gezeigt, hängt die herkömmliche «Schöpfungstheologie» schon deshalb in der Luft, weil die entscheidende Erfahrung der Welt als «Schöpfung», als Geschenk eines (gütigen) Gottes, aus der Betrachtung ihres Bestands und Zustands (ihres Daseins und Soseins) eben nicht zu gewinnen ist; im Gegenteil, schopenhauers Argumentation ist unwiderlegbar: das unendliche Meer an Leid spricht gegen einen Gott, der eine solche Welt hätte erschaffen können; moralisch betrachtet, hätte er sie durchaus nicht erschaffen dürfen. (Vgl. e. drewermann: Glauben in Freiheit, I 227– 244; ders.: Der sechste Tag, 33 –55; arthur schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. 2, in: Sämtliche Werke, VI 106–108, § 69.) Mit einem Wort: nur wer bereits von Gott ausgeht, vermag ihm am Ende wider allen Augenschein auch diese Welt zuzutrauen; nur wer an Gott bereits glaubt, ist imstande, die Welt als «Schöpfung» wahrzunehmen. Und so stellt sich natürlich die Frage, welch ein Grund uns nötigen sollte, einen unbeweisbaren Gott trotz allem zu glauben. Das Paradox ist:

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Ein solcher Grund sind einzig wir selbst. Die Ungegründetheit der Person ist recht eigentlich der Grund der Gottesidee. Warum glauben wir an Gott? Nicht um zu erklären, warum die Sterne am Nachthimmel strahlen; nicht um zu verstehen, warum Fische die Meere durchziehen, warum über den Wassern Libellen kreisen und an ihren Ufern Amphibien kriechen; nicht um den Aufstieg des Lebens zu immer komplexeren Formen der Wahrnehmung bis hin zum Menschen begreifen zu können. In all diesen Fragen ist nichts zu glauben, es ist zu erforschen mit den gebotenen naturwissenschaftlichen Mitteln. Astronomie und Astrophysik, Elementarteilchenphysik und die ihr zugrunde liegenden Theorien mögen die Entstehung und Entfaltung des Weltalls erklären; Chemie und Biochemie, Chaosforschung und Systemtheorie mögen den Übergang von unbelebter zu belebter Materie erklären; Neurologie, Biopsychologie und Evolutionsbiologie mögen die Entfaltung des Lebens von den Eukaryoten bis hin zu den Primaten erklären; Paläontologen, Sprachforscher und Historiker mögen erklären, warum innerhalb der Primatenentwicklung eine bestimmte Linie vom Ardipithecus ramidus über den Homo rudolfensis bis schließlich zum Homo sapiens sich gegen alle anderen Arten durchsetzen konnte (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 80–197). In all diesen Fragen kann (und darf methodisch) die Antwort nicht lauten: «Weil Gott es so gewollt und gemacht hat.» Von einem «Willen» ist in den Naturwissenschaften überhaupt nicht die Rede (und schopenhauers unbewußter Weltwille ist das genaue Gegenteil eines theologisch begreifbaren Schöpfergottes); auch die Vorstellung eines «Machens» reduziert sich auf die Gesetzmäßigkeit kausaler Wirkungsgeflechte. In einer solchen Weltbeschreibung kann die Dimension des Personalen nicht als Erklärung zur Hervorbringung von etwas Seinshaftem dienen, vielmehr erscheint das Personsein selbst als etwas wohlerklärbar Hervorgebrachtes. Doch eben deshalb ist die Person inmitten einer so erklärten Welt etwas an sich Unnötiges, Überflüssiges, Fremdes. Von außen ableitbar, ist sie für sich selbst etwas zutiefst Unableitbares, Fragwürdiges, zum äußersten Riskiertes. Die Wurzel des Religiösen hat hier ihren Ort. Erinnern wir uns: Die Person wird «hervorgebracht» nicht durch Kausalprozesse nach Art der Biochemie, wonach eine gesunde Ernährung die Erklärung dafür böte, daß ein genetisch korrekt programmierter Organismus sich gesund weiterentwickeln wird; eine Person entsteht durch das, was wir mit dem Auftauchen von «Geist» verbunden haben: dadurch, daß Informationen die Bedeutung von Ursachen annehmen. Näherhin geht es indessen um die Art der Informationen, die ein noch kleines Kind von seiten seiner Mutter empfängt und die ihm auf vielerlei Weise (in der Intonierung der Sprache, im Aus-

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druck von Blick und Mimik, in der Achtsamkeit von Pflege und Verpflegung, durch den sicheren Schutz begleitender Gegenwart) mitteilen, daß es gemocht ist. Dieses Gemochtsein ist unendlich viel wichtiger als das Gemachtsein; es bezieht sich aber wohlgemerkt nicht auf die Tatsache des Daseins, es bietet vielmehr ein zentrales Motiv zur Gestaltung desselben: zur Formung von Selbstbewußtsein zu Personsein. Entscheidend ist nun dies: Der Strom von Informationen, den ein Kind empfängt, ist selbst unter günstigen Voraussetzungen nicht immer eindeutig, er ist im Gegenteil irritierend und widersprüchlich. Selbst eine Mutter, die «gut genug» ist (vgl. Bd. I 677), wird nicht vermeiden können, daß sie Fehler begeht, schon weil sie fehlt, wo ihr Kind sie brauchen würde: sie ist erschöpft, sie hat noch anderes zu tun, sie stößt physisch und psychisch an ihre Grenzen . . . Wie um dieser Tatsache vorweg bereits Rechnung zu tragen, hat die Natur es so eingerichtet, daß bei Säugetieren und Vögeln, doch auch schon bei (Panzer)Echsen (Krokodilen) und manchen Fischarten, ein instinktives Signalsystem zwischen den Bedürfnissen eines Jungtiers und der Erfüllungsbereitschaft von seiten der Elterntiere vermittelt. Mit anderen Worten: Ein neugeborenes Affenjunges etwa bringt die Erwartung fertig ausgeprägt mit auf die Welt, daß ein fremdes Wesen seinerseits nur darauf wartet, es in die Arme zu schließen, es an die Brust zu drücken, es mit sich herumzutragen usw., und tatsächlich entsteht durch ein ausgeklügeltes Hormonsystem (vgl. Abb. B 104) in der Zeit vor und nach der Niederkunft in dem entsprechenden Muttertier ein instinktives Bedürfnis, gerade diejenigen Aktivitäten einzuleiten, die mit den Bedürfnissen des Jungtieres korrespondieren (vgl. Bd. I 615). Zu Recht sprach die Komplexe Psychologie carl gustav jungs deshalb von einem Mutterarchetyp und von einem Kindarchetyp (vgl. carl gustav jung: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus, in: Gesammelte Werke, IX 1, 89 –123; ders.: Zur Psychologie des Kindarchetypus, a. a. O., IX 1, 165 –195); sie faßte damit ein hochkomplexes Beziehungsgeflecht der verschiedensten Bedürfnisse und Erwartungen in der Wahrnehmung eines in sich geschlossenen Gestaltbildes zusammen: die Mutter – das Kind. Wie lange es braucht, daß im Erleben eines Kindes eine Wahrnehmung seiner Mutter sich formt, haben wir bereits gesehen; doch hervorheben sollten wir gerade hier noch einmal, daß die wachsende Empathie eines Kindes für seine Mutter, daß die allmähliche Entdeckung des «Mutterobjekts» als eines eigenen Subjekts, als einer eigenen Person, identisch ist mit der Personwerdung des Kindes selber. Denn daraus ergibt sich die in unserem Zusammenhang wichtigste Folgerung: Ein Kind kommt auf die Welt mit dem Vertrauen, daß die «Welt», das

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heißt seine nächste Umgebung, just so geformt sei, wie zu seinem Besten nötig. Und dieses «Urvertrauen», da instinktiv gegeben – als ein psychisches Apriori vor aller Erfahrung –, ist durch andersartige Erfahrungen nicht leicht zu erschüttern. Es handelt sich um ein vitales Bedürfnis, nicht weniger stark als die Dynamik eines triebhaften Verlangens und robust genug, gegen eine Fülle von Enttäuschungen nicht aufzugeben, vielmehr abzuwarten oder auf die Suche zu gehen. Nur in dieser Vertrauensoption im Verhältnis zu einer anderen Person vollzieht sich die Reifung der eigenen Person. Was demgegenüber passiert, wenn unter einem Überdruck an Angst dieser Vertrauensschutzschild, der eine Person umhüllt wie die hauchdünne Membran eine Zelle, zersprengt wird, haben wir in den verschiedenen Formen der Psychose kennengelernt. Die Erinnerung an diese schwere seelische Erkrankung zeigt vor allem, daß eine Haltung persongebundenen Vertrauens die unerläßliche Voraussetzung für ein persönlich gelingendes Dasein im gesamten ferneren Leben darstellt. sigmund freud, der den Gottesglauben als einen infantilen Rest des Ödipuskomplexes betrachtete (vgl. Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke, XIV 363 –368), verwies in einer kleinen Arbeit über Die endliche und die unendliche Analyse (in: Gesammelte Werke, XVI 57– 99) auf die besondere Schwierigkeit mancher Patienten, von den (übertriebenen) Erwartungen an ihren Therapeuten zu lassen, das Kindliche daran zu erkennen und endlich erwachsen zu werden. Auf diese Feststellung antwortete carl gustav jung (Analytische Psychologie und Erziehung, II, in: Gesammelte Werke, XVII 100 –102), daß eine wirkliche Loslösung von den Eltern überhaupt erst möglich werde, wenn wir es lernten, die Archetypen von Vater und Mutter jenseits der Welt einzelner Menschen im Absoluten festzumachen. Der Glaube an ein absolutes personales Gegenüber ist, so betrachtet, gerade nicht die Verewigung infantiler Abhängigkeiten in Unmündigkeit, Gehorsam, Strafangst und Selbstunterdrückung, sondern im Gegenteil die einzige Form ihrer Überwindung (in der Sprache freuds: der Überwindung des «Ödipuskomplexes»). Der Glaube an ein absolutes Du ist die wichtigste Hilfe, erwachsen zu werden und – wie Jesus es in Mt 23,9 verlangt – niemanden auf Erden mehr als «Vater» (und Mutter) zu betrachten und zu bezeichnen. Andererseits haben wir gesehen, wie gefährdet das ist, was wir als Person kennengelernt haben. Es genügt, sich in Abb. D 22 noch einmal die reentranten Verschaltungen anzusehen, die Selbstbewußtsein begründen, und es ist klar, wie vielfach störungsanfällig unser Personsein ist: neurologisch betrachtet, gleicht es einem Gewebe, fein wie Nylon, innerhalb dessen ein winziger Webfehler (ein «Loch im Ich») genügt, das ganze Geflecht entlang den «Laufmaschen» auseinander zu reißen.

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Woran also glauben wir im Glauben an Gott? Nicht zunächst an ein Wesen höchster Seinsvollkommenheit (lat.: an ein ens perfectissimum), auch nicht an eine allmächtige (universale) Energie, die alles durchströmt – beide Vorstellungen ließen sich mühelos auch pantheistisch oder atheistisch deuten. Sondern: Im Glauben an Gott geht die Entdeckung eines absoluten Personseins der Idee eines absoluten Seins (lat.: eines ens absolutum bzw. eines ens a se – eines sich selbst begründenden Seienden) unbedingt voraus. Daß Gott ist, läßt sich überhaupt nur glauben im Gegenüber (s)eines absoluten Personseins, entfaltet doch umgekehrt das eigene Personsein sich nur im Vertrauen auf die absolute Güte einer anderen Person. Jeder Mensch, der uns wohlwill, taugt als Träger jener instinktiven Erwartung, mit der wir zur Welt kommen und die unser ganzes Leben durchzieht. Von manchen Zugvögeln (den Mönchsgrasmücken zum Beispiel) weiß man durch entsprechende Versuche in Planetarien, daß sie ihr Flugverhalten nach einer Art Vektornavigation ausrichten, wobei sie die Konstellation bestimmter Sternbilder zur Orientierung benutzen; die Bilder selbst sind ihnen offenbar angeboren; sie werden nicht gelernt, sie dienen selber als Hintergrund der wichtigsten Lernvorgänge. Ganz vergleichbar die archetypischen Bilder von Mutter und Vater, mit denen wir als denkende Säugetiere zur Welt kommen: Wir folgen ihnen Station um Station, als Kinder, als Heranwachsende, in der Liebe zwischen Mann und Frau, in Freundschaft und Kameradschaft, in Alter und Tod. Das also glauben wir, wenn wir glauben an Gott: daß die Erfüllung einer unbedingten, umgreifenden Güte, von der wir selbst als Personen leben, in der absoluten Person Gottes immer schon realisiert ist. Alles Weitere ergibt sich aus dieser Grundüberzeugung beziehungsweise es ist darin enthalten: Gott muß es geben als diejenige Instanz, die als letzte über den Sinn und den Wert unseres Personseins entscheidet, indem sie die Geschichte unseres Lebens zu Ende erzählt. Nicht oft genug und nicht betont genug muß gesagt sein, daß diese Funktion der Gesellschaft (dem Volk, der Kultur, der Kirche, dem Staat) nicht zukommen kann und nicht zukommen darf. Denn wohl ist es die menschliche Gesellschaft, die eine menschliche Person ermöglicht, doch eben deshalb bedarf es des Glaubens an Gott, um sie daran zu hindern, sich dem Einzelnen gegenüber selbst absolut zu setzen. Über welch ungeheuere Möglichkeiten zur Manipulation des individuellen Bewußtseins sie gerade auf Grund der Erkenntnisse der modernen Neurologie, Psychologie und Psychoanalyse inzwischen verfügt, zeigen uns jeden Tag die Nachrichten über Folterpraktiken, militärischen Drill und befohlene Greueltaten aller Art, führen uns die weltweit verbreiteten

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Propagandalügen der Regierenden vor Augen, prägt sich uns ein in den riesigen Reklamefassaden der Großstädte, die auf einem vollkommen überfüllten Warenmarkt immer noch künstliche Kaufanreize zum Absatz bestimmter Produkte schaffen wollen, ist uns präsent in den Anpassungszwängen der Leistungsgesellschaft, wird uns gepredigt in den Sonntagsbeschwörungen vaterländischer Pflichten und patriotischer Ehrenbezeigungen, führt sich als feierliches Schauspiel auf den Bildschirmen von Millionen Haushalten auf, wenn seine Heiligkeit, der Papst zu Rom, sich der Menschheit als Stellvertreter Gottes auf Erden vorstellt – das ganze Instrumentar seelischer Führ- und Verführbarkeit wird da genutzt zu dem einen Zweck: das Individuum, das sich der Sprache verdankt, in dem erstickenden Gerede des Man (so heidegger vor schon beinahe 80 Jahren!) nur ja nicht «persönlich» zu Wort kommen zu lassen. Und dann erst der Klatsch, der Tratsch, die vermeintliche Beurteilungskompetenz der «öffentlichen Meinung», die gewollte Fehlwahrnehmung und Fehldarstellung eines Einzelnen im politischen Kampf um die Zustimmungsquoten der «Wähler», die man zu bloßem Stimmvieh erniedrigt, und nicht zuletzt die Geschichtsschreibung der Mächtigen, deren Dominanz gerade darin gründet, im nachhinein die Bedeutung einzelner Menschen und bestimmter Ereignisse «ein für allemal» festzulegen. Die Aufzählung ließe unendlich sich fortsetzen . . . Als wir uns mit der weltanschaulichen Seite der Depression befaßten, haben wir die fehlende Gerechtigkeit in der menschlichen Geschichte als einen von drei Hauptgründen bezeichnet, die Menschen resigniert sein lassen. Insbesondere g. w. f. hegels Konzept von dem «Weltgeist» (Die Vernunft in der Geschichte, 60), der mit Hilfe der «List der Vernunft» (a. a. O., 105) am Ende alles zum Guten lenken und «richten» werde, kann selbst dann, wenn es – gegen alle Offensichtlichkeit – zumindest für das Große Ganze gelten würde, doch nie und nimmer dem Einzelnen gerecht werden (a. a. O., 180 –183; vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 64 –69). Wer deshalb sagt: «Ich glaube an Gott», sagt damit zugleich: «Ich vermag als Person nur zu leben, wenn ich einen Freiraum behalte, an welchem ich als Einzelner gemeint und berechtigt bin. Diese absolute Bejahung meiner selbst als eines Einzelnen kann mir nur eine einzelne absolute Person zusprechen – Gott. Dieser mein Glaube an Gott schützt mich davor, nichts weiter zu sein – sein zu wollen – als ein Rädchen im Getriebe einer Firma, eines Vereins, eines Verbands, eines Volks. Dieser mein Glaube an Gott ermöglicht es mir allererst, mich selber zu achten und ernst zu nehmen. Er schenkt mir den Ton und das Wort, das einzig ich selber zu singen und zu sagen vermag. Erst in der unbedingten Bejahung dieser absoluten Person entdecke ich mich selbst als ‹geschaffen›, erscheint die ganze Welt mir als

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ein Geschenk und werde ich dankbar dafür, zu sein. Ich kann von Gott her nicht verstehen, warum die Welt ist, wie sie ist, warum die Geschichte sich so und nicht anders vollzieht, doch gibt mir der Glaube an Gott die Kraft, das Stück Wahrheit zu leben, das hell und klar mir vor Augen liegt. So löst sich der Zwang auf, wie besessen ‹Erfolg› haben zu wollen und zu diesem Ziel mein Leben strategisch wie ein Schachspiel zu kalkulieren. Da Gott als Person ist, genügt es, authentisch selber Person zu sein. Die Konkurrenz um den ersten Platz vergeht, denn es gibt kein Hoch und kein Niedrig mehr, nur noch ein Wahr und ein Falsch.» Und eine zweite Infragestellung, der wir bei der Beschäftigung mit der Depression schon begegnet sind, taucht jetzt als Bedrohung des Personalen wieder auf: der Faktor der Schuld. luthers Begriff der Gnade diente als erstes im gerade angegebenen Sinne der «Rechtfertigung» der Tatsache unserer Existenz; doch was ist es mit unserem Tun – mit unseren Fehlern und Fehlbarkeiten? In dem ständigen Kampf aller gegen alle glauben wir uns immer wieder gezwungen zu Grausamkeiten schlimmster Art, nötigen wir uns, stark, hart, konsequent, unerbittlich, «cool», ohne falsches Mitleid usw. vorzugehen, halten wir uns an, durchzuhalten, «die Sache durchzuziehen», egal, wieviel an Schmerz und Unheil wir anderen damit auferlegen; ja, in unseren Augen rechtfertigt die «höhere» Zielsetzung am Ende gar all die einzelnen Maßnahmen und Manipulationen vorsätzlicher Inhumanität. Nur: warum sollten die anderen inmitten einer derart gnadenlosen Welt am Ende weniger ungnädig mit uns selbst verfahren? Der kleinste Fehler, die Ahnung auch nur einer sich andeutenden Schwäche, ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit – und alles kann verloren sein. Wie aber soll ein Mensch leben, wenn er in einem Klima der «ZeroTolerance» ständig strengster Bestrafung für jeden Fehltritt gewärtig sein muß? Das legendäre pecca fortiter – lat.: «sündige tapfer» – des Reformators meint etwas Unentbehrliches: das Vertrauen in eine Vergebung nicht nur für das, was wir taten, sondern sogar für das, was wir künftig noch tun werden. Wer sagt: «Ich glaube an Gott», bekennt deshalb im gleichen damit: «Ich wage es, in das Dunkel einer ungewissen Zukunft zu treten und mich mit meinen Entscheidungen einem Urteil anzuvertrauen, das meine Person meint und nicht allein die Resultate meines Handelns. Ich kann nicht wissen, wie das, was ich jetzt zu tun beabsichtige, im ganzen wirken wird. Ich werfe einen Stein ins Wasser, ohne die Kräuselungen zu kennen, die er über die Oberfläche legen wird, geschweige denn, daß ich wüßte, was der geworfene Stein sinkend am Grunde anrichten wird. Ja, nicht einmal für die Lauterkeit meiner Motive, die mir eine bestimmte Auswahl von Möglichkeiten zum Handeln nahelegen, vermag ich zu garantie-

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ren. Ich kenne mich selber zu wenig. Doch gerade deshalb hoffe ich nur um so mehr, daß es jemanden gibt, der weiß, wie es um mich steht, der – in den Worten von Psalm 139,16 – das Knäuel meines Wesens (hebr.: den Golem) durchschaut und mir hilft, mich selbst nach und nach besser zu verstehen. Mitunter kommt es mir vor, als säße ich vor einem Buch, das schon zu zwei Dritteln von anderen geschrieben worden wäre – nur die letzten Seiten wären noch mein; doch dieses Buch enthielte die ganze Geschichte meines Lebens, und was sie bedeutet, entschiede sich jetzt mit eben den Zeilen, die ich neu mit eigener Hand dem alten hinzufüge. Doch auch diese meine letzten Eintragungen werden unsicher und unklar wie alles übrige bleiben. Ich weiß ja nicht einmal, wann mir der Schreibstift aus der Hand genommen wird, – auf welch ein Ende ich hinschreiben soll, – wie die mögliche Einheit des offensichtlich so Disparaten und Desperaten in meinem Leben gelingen soll. Daß ich überhaupt den Zeitenstrom zulasse, der mein Bewußtsein, mein Ich und mein Schicksal ist, erscheint mir nur möglich in dem Vertrauen auf jenen anderen, dem genug an mir liegt, um alles noch einmal mit mir durchzugehen und es zu einem guten Ende – oder, besser: zu einem neuen Anfang – zu bringen.» Wie man sieht, beruhigen die religiösen Antworten des Christentums die Gefährdungen, die es mit sich bringt, ein selbstbewußtes Individuum, eine Person, zu sein, von genau dem anderen Ende her als der Buddhismus: Lehrt jener, das Personsein als eine (gesellschaftlich bedingte) Illusion zu durchschauen, so beharrt dieses entschieden darauf, das Personsein als eine Realität (als eine menschliche Wahrheit) zu achten, so daß die Gesellschaft sich gar nicht erst zu einer absoluten Instanz aufzuschwingen vermag; gerade wenn die Person des Menschen selbst als ein Symbol zu verstehen ist, weist sie in ihrer Endlichkeit, Abhängigkeit und Relativität hin auf ein Unendliches, in sich selbst Gründendes, Absolutes; doch erfolgt dieser Hinweis wohlgemerkt nicht in der Art einer ontologischen Schlußfolgerung (im Rahmen der «Analogie des Seienden», die in der katholischen Kirche eine immer noch zentrale Rolle spielt), sondern ganz und gar existentiell eingebettet in eine gütige Begegnung, in Form eines verständnisvollen Gesprächs, getragen von einer Sehnsucht, die unterwegs ist zu ihrer Erfüllung. Aber: wenn der Glaube an einen persönlichen Gott der Person des Einzelnen derart behilflich ist, um an sich selber glauben zu können, ist dann die Religion nicht etwas im Grunde ganz und gar Narzißtisches? – Es läßt sich durchaus als sinnvoll erachten, daß die Natur einen Säugling (ein Tierjunges) mit einer gewissen Zuversicht in die Zugewandtheit seiner Mutter (seines Muttertiers) ausstattet; gleichermaßen vernünftig erscheint es, daß auch im späteren Leben ein

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gewisser Vertrauensvorschuß erhalten bleibt; selektiv werden also diejenigen Lebewesen bevorzugt sein, die selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen noch immer auf Hilfe und Rettung zu hoffen vermögen – sie werden länger kämpfen, und manchmal werden sie dadurch wohl auch überleben. An dieser Argumentation, die von seiten der Evolutionsbiologie gegen die Religion geltend gemacht wird und die in edward osborne wilson (geb. 1929) ihren wichtigsten Vertreter gefunden hat (vgl. edward o. wilson: Sociobiology. The New Synthesis, 1975), ist etwas Richtiges. Tatsächlich zeigte sich in Situationen der Aussichtslosigkeit bei Experimenten vor 50 Jahren bereits, wie gezähmte Ratten viele Stunden in einem Wasserbehälter, aus dem sie selber nicht entkommen konnten, um ihr Leben schwammen, offenbar im Warten auf Hilfe von seiten der ihnen vertrauten Menschen; ungezähmte Tiere starben in derselben Lage in Minutenschnelle einen Vagus-Herztod. (Vgl. Bd. I 633; drewermann: Strukturen des Bösen, II 230– 231.) Insofern läßt sich nicht leugnen, daß es einen Selektionsvorteil bietet, Lebewesen mit einem Vorrat schier bedingungsloser Zuversicht auszustatten. Und doch ist die wilsonsche Betrachtungsweise dem Problem, das sie zu lösen vermeint, schlechterdings unangemessen. Denn wesentlich geht es jetzt nicht länger mehr um die Frage der Länge des Lebens oder um gewisse taktische Finessen im Überlebenskampf; das Vertrauen, von dem wir sprechen, dient durchaus nicht mehr dem Ziel, im Konkurrenzkampf ein wenig fitter zu werden, es verlangt ganz im Gegenteil nach einer Güte, die im gesamten darwinismus nicht vorgesehen ist, doch eben deshalb nur um so nötiger gebraucht wird; denn allein sie vermag die «Eitelkeit» der Selbstaufblähung des Bewußtseins angesichts seiner inneren Hohlheit überflüssig zu machen; nur sie verfügt über die Macht, eine Person hervorzubringen. An dieser Stelle führen alle Finten von Betrug und Selbstbetrug nicht weiter. Wohl haben wir in der Psychosomatischen Medizin den heilsamen Einfluß von Placebos auf das Immun- oder Schmerzsystem kennengelernt: Wenn eine Allergie, wenn eine Polyarthritis, wenn sogar Krebs sich günstig beeinflussen lassen, im Falle die Patienten nur glauben, ihnen werde ein wirksames Medikament im Kampf gegen die Krankheit verabreicht, so liegt die Vermutung wirklich sehr nahe, die Selektion habe geradewegs mit System den Glauben an alle Arten nützlicher Illusionen zu fördern versucht. Und wirklich: Mit welch einer Macht der Verzweiflung klammern sich Tiere wie Menschen an jeden Strohhalm der Hoffnung, der scheinbar noch bleibt! – Und könnten dann nicht auch «Gott» und die Religion insgesamt nichts weiter sein als nützliche Place-

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bos zur Beruhigung der menschlichen Angst? Wenn die Natur schon bereitstand, Lebewesen, begabt mit Selbstbewußtsein, hervorzubringen, könnte sie dann nicht, wie die körpereigenen Endorphine zur Linderung von Schmerz, auch zur Linderung der Angst, die den Erwerb des Bewußtseins und vor allem des Selbstbewußtseins begleitet, gewisse spezifische Vorstellungsinhalte und Bilder so intensiv in die Seele eingesenkt haben, daß diese sich subjektiv als «wahr» förmlich aufdrängen? –Allerdings: ein Bewußtsein, das über sich selber nachdenklich geworden ist, wird irgendwann auch nachdenken über mögliche Selbsttäuschungen – so in Form der gerade gehörten wilsonschen Religionskritik, beruhend auf einer Art Biosoziologie (oder, rund 65 Jahre zuvor, in Form der freudschen Religionskritik auf der Basis des psychoanalytischen Konstrukts von der Ermordung des Urvaters, in: Totem und Tabu, Gesammelte Werke, IX 177–186). Von den Gefahren und Belastungen des menschlichen Selbstbewußtseins haben wir schon eine Menge gehört; doch eine rühmenswerte Fähigkeit ist ihm wesenseigen: bei aller Neigung zu wahnhafter Selbstüberschätzung – es läßt sich nicht gern hinters Licht führen, ist es doch selbst in gewissem Sinne die einzige Lichtquelle, über die wir verfügen. Ein Placebo also, von dem wir auch nur vermuten, daß es bloß ein Placebo sein könnte, verliert augenblicklich seine Wirkung. Mag es auch sein, daß der medizinische Nutzen religiöser Vorstellungen bei der Bekämpfung psychosomatischer Erkrankungen sich sogar statistisch nachweisen läßt, – verabreichen als Placebos lassen sich diese Vorstellungen nicht. Man muß sie glauben als wahr – oder richtiger: man muß sie erfahren als wahr in der Beziehung zu einer anderen Person, der gegenüber sich das in den inneren Bildern mitgebrachte Vertrauen so bewahrheitet, daß es sich erweitert in den Glauben an ein absolutes Du im Hintergrund der Existenz. An dieser Stelle stehen wir jetzt. Wir sprechen nicht mehr von einem «Glauben» an gewisse Lehrinhalte, die sich nur, leider, noch nicht beweisen lassen; wir sprechen von einer Wahrheit, die identisch ist mit der Wahrhaftigkeit und Bewährung der menschlichen Person insgesamt. Es gibt nur eines von beiden: entweder ist die menschliche Person eine Täuschung und wir bedürfen der Weisheit Buddhas, uns von uns selbst zu befreien, oder wir nehmen die Personalität des Menschen so ernst, daß ihre Realität zu einem Symbol der absoluten Personalität Gottes wird. Im Bilde gesprochen: Man kann ganz zu Recht alle Blumen mit den Augen eines Geologen betrachten, – dann sind sie in der Beständigkeit und Härte des Gesteins nur ein täuschender Überzug vergänglicher Gebilde ganz besonderer Zerbrechlichkeit und Zartheit; doch findet man wert, daß es Blumen gibt, so kann man nicht übersehen, daß sie nur leben

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können im Schein der Sonne und im Regen des Himmels. Jede Blume ist ein «Beweis» für Licht und für Wasser. Das also heißt es, zu glauben an Gott. Es heißt zu gestehen, daß ein Mensch als Person nur gedeiht in einer Güte, die unbedingt gilt – in der Größe ihres Verstehens, in der Weite ihres Verzeihens und in der Tiefe ihrer Verwandlung des «alten» Menschen in ein «Kind Gottes».

β) Biblischer Personalismus und buddhistisches Verlöschen – Versuch einer Synthese Daß wir (christlich) das Personsein des Menschen als ein Symbol für das Personsein Gottes verstehen, ergibt sich aus dem Begegnungscharakter, der allem Personalen anhaftet: Person entsteht und besteht in einem Dialog der Akzeptanz – der Gnade bibeltheologisch ausgedrückt. Freilich, wer sich im Sprechen mit Gott und über Gott auf die Bibel beziehen möchte, steht, historisch betrachtet, vor dem schier unlösbaren Problem, aus oft höchst widersprüchlichen Texten ganz verschiedener Zeiten und Umstände, verteilt über eine Entstehungsgeschichte von mehr als 1000 Jahren, so etwas wie ein einheitliches Gottesbild allererst (re)konstruieren zu sollen. Keine Frage, daß jeder, der das Heilige Buch wirklich liest, einer Gottheit begegnet, die alle Züge eines altorientalischen Despoten, verlegt über die Wolken, aufweist: der Herr-Gott (hebr.: Jahwe elohim), der dort erscheint, ist jähzornig, eifersüchtig, rachebedürftig, wütig und donnernd wie nur irgend eine Vulkan- oder Gewittergottheit der Antike (der Midianiter vielleicht, der Kanaanäer und Syrer ganz sicher); als «Gott der Väter» entspricht er den Stammesgottheiten des Alten Orients; als Bündnispartner erinnert er an die Vertragsabschlüsse, welche die Hethiter auf ihre Stelen meißelten; als Gott der Priester verlangt er blutige Tieropfer als Vorbedingung zur Entsühnung der «Sünde»; als Gott (mancher) der Propheten will und braucht er indessen überhaupt keine Opfer . . . Kurz: es scheint unmöglich, das Gottesbild der Bibel in all diesen Widersprüchen auf einen (zentralen) Aspekt festzulegen. Und doch ist ein solcher wesentlicher Blickpunkt bereits gegeben durch die Tatsache eben der Personalität selbst, vorausgesetzt allerdings, man nimmt sie so wichtig, wie vor allem jüdische und protestantische Theologen im 20. Jh. es getan haben. Recht hatte gewiß paul tillich, als er darauf hinwies, daß es «keine Religion» gibt, «die das Heilige, das dem Menschen in seiner religiösen Erfahrung begegnet, nicht personifiziert». (paul tillich: Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, 150) Das

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«Heilige», so sah es tillich, müsse dabei als der umfassendere und grundlegende Begriff gelten, auf den dann das Personsein aufgetragen werde. «In jeder Religion», schrieb er, «ist ein Stück endliche Wirklichkeit der Mittler für die Begegnung mit dem Heiligen. Alles kann zum Medium der Offenbarung werden, zum Träger göttlicher Macht. ‹Alles›, das umfaßt nicht nur alle Dinge in Natur und Kultur, in der Seele des Menschen und in der Geschichte; ‹alles› umschließt auch Prinzipien, Kategorien, Wesenheiten und Werte. Durch Sterne und Steine, Bäume und Tiere, Wachstum und Untergang; durch Werkzeuge und Häuser, Plastik und Lied, Gedicht und Prosa, Gesetz und Sitte; durch Gliedmaßen unseres Körpers und Kräfte unseres Geistes, Familienbande und freie Gemeinschaften, Führergestalten der Geschichte und nationale Erhebung; durch Zeit und Raum, Sein und Nicht-Sein, Ideale und Tugenden – durch alles hindurch kann das Heilige uns begegnen.» (paul tillich: A. a. O., 150) Ein Blick in die Religionsphänomenologie und Religionsgeschichte kann dieses summarische Urteil nur bestätigen, zugleich aber auch vertiefen, denn was ist das – das Heilige? Es ist das, wovon Menschen wesentlich leben. Wesentlich leben Menschen indessen von ganz verschiedenen, unterschiedlich bedeutsamen Gegebenheiten: Leben sie vom Mais, werden sie einen Gott des Maises verehren, leben sie von Brot und Wein, werden sie eine Gottheit des Brotes und eine Gottheit des Weines verehren usw.; doch die Menschen leben auch mit Tieren, an Wasserstellen, in Höhlen oder Häusern; sie verlangen nach bestimmten sittlichen und rechtlichen, zeitlichen und räumlichen Reglements für ihr Zusammenleben; sie fühlen in sich den Andrang von Angst und Aggression, sie erleben die Faszination weiblicher Schönheit und die Macht männlichen Begehrens – und all das werden sie als etwas Übermächtiges und Überwältigendes, als die Basis ihrer Existenz erleben. «Heilig» ist in diesem Sinne alles, was Leben schenkt, was Leben erhält und was Leben enthält. Dann aber stellt sich die Frage, welch ein Merkmal allem, was Leben schenkt, Leben erhält und Leben enthält, gemeinsam ist, so daß es, auf welch verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit angesiedelt auch immer, unter der Kategorie des Heiligen zusammengefaßt werden kann; und – wichtiger noch: – warum es stets und offenbar notwendig personale Züge annimmt? In seiner berühmten Studie Das Heilige und das Profane aus dem Jahre 1957 hat mircea eliade (1907–1986) das Heilige als den Gegensatz zum Profanen bestimmt, wobei das Heilige «soviel wie Kraft und letztlich Realität schlechthin» bedeuten sollte. «Das Heilige», meinte er, «ist gesättigt an Sein. Heilige Kraft bedeutet Realität, Ewigkeit und Wirkungskraft in einem. Der Gegensatz heilig – profan erscheint oft als Gegensatz zwischen real und irreal oder pseu-

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do-real . . . Es ist deshalb begreiflich, daß der religiöse Mensch sich danach sehnt, zu sein, an der Realität teilzuhaben, sich zu sättigen mit Kraft.» (mircea eliade: A. a. O., 9) Diese Bestimmung des Heiligen vermag vor der Hand gut zu erklären, warum Menschen mit magischen Ritualen aller Art an den lebentragenden Kräften zu partizipieren und sie nach Möglichkeit unter Kontrolle zu bringen versuchen, – in gewissem Sinne tun wir mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Denkens unserer Tage und der daraus abgeleiteten Technik nach wie vor nichts anderes; doch der Unterschied liegt darin, daß die modernen Naturwissenschaften alles Personhafte (mithin Ansprechbare, Willentliche, Gemüthafte) aus der Naturbetrachtung entfernen, während die magischen Verfahren der Religionsgeschichte gerade den Charakter des Personhaften mit offenbar allem verbanden, was zum Lebenserhalt von Belang schien. Was in den Religionen der Menschheit darum fleht, erhalten zu bleiben, ist mithin nicht einfach das Sein, sondern ganz entschieden das Personsein; als das Heilige gilt darum gerade nicht einfach eine anonyme Kraft, eine unfaßbare Energie oder eine unbegreifbare Macht, wie rudolf otto (1869 –1937) in seinem Buch aus dem Jahre 1917 Das Heilige (im 12. und 13. Kapitel, S. 92 –101; 102–115) auch für die Bibel glauben machen wollte, indem er das Numinose (sc. Geheimnisvolle, von lat.: das numen – göttlicher Wille, d. V.) als ein übernatürliches Wesen ohne genauere Vorstellung bestimmte, sondern es erscheint als Person mit einem Nomen (lat.: einem Namen), die uns Menschen, als personhafte Wesen, am Leben erhält, weil sie in gewissem Sinne infolge ihrer personhaften Züge uns ebenbildlich ist. Doch wie kommt es dazu? tillich stellte sich diese wichtige Frage bezeichnenderweise folgendermaßen: «In welchem Sinne können wir dann solche persönlichen Eigenschaften einem unterpersönlichen Seienden zusprechen?» Und er gab zur Antwort: «Wir können das tun, wenn wir es nicht als Gegenstand eines Erkenntnisaktes auffassen, sondern als Element einer Begegnung, nämlich der Begegnung mit dem Heiligen. Es wird Teil dieser Begegnung, nicht als Ding oder Wert, sondern als Träger von etwas jenseits seiner selbst. Dieses Etwas jenseits seiner selbst ist das Heilige, die numinose Gegenwart dessen, was uns unbedingt angeht. Der Mensch kann das Heilige erfahren in allem und durch alles, aber als das Heilige kann es nicht weniger sein als er selbst ist; es kann nicht unterpersönlich sein. Nichts, was weniger ist als wir, nichts, was uns nicht im Zentrum unserer Person begegnet, kann uns unbedingt angehen. Es ist sinnlos, danach zu fragen, ob das Heilige selbst personhaft ist oder ob seine Träger Personen sind. Wenn ‹ist› und ‹sind› eine objektive Erkenntnis ausdrücken sollen, dann sind die Träger des Heiligen gewiß nicht personhaft. Aber darum handelt es

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sich hier nicht. Die Frage heißt: Was wird aus ihnen als Elementen der religiösen Begegnung? Und dann ist die Antwort klar, nämlich, daß sie personhaft werden . . . Die personhafte Begegnung in der religiösen Erfahrung ist so wirklich wie die Begegnung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisbereich oder die Begegnung von Vision und Deutung in der künstlerischen Erfahrung. In diesem Sinne drückt der religiöse Personalismus eine Wirklichkeit aus, nämlich die Wirklichkeit innerhalb der religiösen Begegnung. – Wo immer das Heilige erfahren wird, hat die Erfahrung offensichtlich den Charakter einer Begegnung von Person zu Person.» (paul tillich: Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, 150 –151) Folgt man diesen Worten, so besitzt alle religiöse Erfahrung den Charakter einer personalen Begegnung, und zwar deshalb, weil das Erleben des Heiligen überhaupt nur als ein personales Geschehen zwischen Ich und Du zustande kommt. Eben deshalb ist es auch nicht möglich, den Träger solcher Erfahrung (den Stein, den Baum, die Hostie, den Kelch mit konsekriertem Wein) «objektiv» auf sein Personsein hin zu analysieren, – man würde (außerhalb der heiligen Begegnung) nichts finden als einen «unheiligen» Gegenstand. Im religiösen Erleben aber ereignet sich ein Dialog zwischen zwei Subjekten, und zwar so, daß ein beliebiger Gegenstand, wenn Träger des Heiligen, selbst als Subjekt (eben nicht als Gegenstand subjektloser Erkenntnis) auftritt. Diese Feststellung tillichs trifft religionsphänomenologisch unzweifelhaft zu, religionspsychologisch jedoch setzt sie sich genauso unzweifelhaft dem schwerwiegenden Vorwurf aus, dem wir in ähnlicher Weise vorhin schon bei der Gottes-Frage begegnet sind: eine bloße Projektion mit dem Begriff des Heiligen zu ummänteln und sie damit ebenso unbegreifbar wie angreifbar zu machen. Was ist auf diesen ständigen Vorwurf gegen jede Art von existentieller Glaubensbegründung zu erwidern? Der Vorwurf der Projektion, der von der Religionskritik des 19. Jhs. an bis in die Gegenwart hinein immer wieder erhoben wurde und wird, steht in Geltung, solange er sich auf die Personifizierung eines Gegenstandes bezieht, der wie ein Fetisch das Göttliche repräsentiert und vertritt; wenn die Statue, das Brot, die Krone selber das Heilige bilden, das als Person erfahren wird, so geht mit einer solchen Vergöttlichung des Gegenständlichen zugleich die Vergegenständlichung des Göttlichen einher: das Ding wird – projektiv – zur Person und die Person – introjektiv – ein Ding; – die Hekatomben von Opfergefangenen, die am Templo Mayor in Tenochtitlan dem Sonnen- und Stammesgott Huitzilopochtli sowie dem Regengott Tlaloc dargebracht wurden, mögen dafür als

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schauerliches Beispiel dienen. (Vgl. walter krickeberg: Altmexikanische Kulturen, 155–159; 217–242.) Tatsächlich sollte man deshalb genauer formulieren und sagen: Im Mittelpunkt religiösen Erlebens steht die Begegnung des Menschen, der eine Person ist, mit (einem) Gott, der ebenfalls Person ist, das heißt, der als solche empfunden wird; alle Arten von Gegenständen, (archetypischen) Bildern, geistigen oder materiellen Gegebenheiten können als Symbole eine solche Begegnung vermitteln, indem sie durch ihr Vorhandensein auf etwas, das sie selber nicht sind, hinweisen; doch fungieren sie dabei lediglich als «Gaben», mittels deren die Begegnung selber sich austauscht, – niemals sind sie das Begegnende selbst. Freilich, um so zu sprechen, muß man die prophetische Kritik bereits voraussetzen, welche die Bibel an der «Götzendienerei» der «Heiden» übt, denen sie immer wieder (vgl. Dt 4,28; 28,36; Ps 115,4 – 8; 135,15 –18; Jes 44,9– 20; Jer 10,3–16) die Anbetung toter Gebilde vorwirft, statt den «lebendigen» Gott Israels zu verehren. Es ist der Hauptinhalt insbesondere des Zweiten Gebotes (Ex 20,4– 6), nichts für Gott zu nehmen, was nur ein Teil der Welt ist (vgl. e. drewermann: Die Zehn Gebote, 41–49) – kein Mensch, kein König, kein Kaiser oder Papst kann noch darf infolgedessen jemals für sich beanspruchen, Gottes «Stellvertreter» auf Erden zu sein; Gott spricht durch die Dinge, eben weil er Person ist; doch wäre es ein verhängnisvoller Fehler, deshalb die Dinge selber zu personifizieren und zu divinisieren (zu Gott zu erheben). Und ein zweites ist damit gegeben: Zugleich mit der Verdinglichung der menschlichen wie göttlichen Person löst die biblische Gottesvorstellung auch die Zersplitterung des Personalen in eine Vielzahl widersprüchlicher Aspekte und Rollenvorschriften auf. Es ist das Erste Gebot (Ex 20,3), das ineins mit der Einzigkeit Gottes die innere Geschlossenheit auch der menschlichen Psyche ermöglicht. Wie Menschen erleben, die sich in die gegensätzlichsten Identifikationen zerrissen fühlen, haben wir in Gestalt der «multiplen Persönlichkeit» bereits kennengelernt (s. o. S. 248– 260); wir haben auch schon beschrieben, wie sich die Widersprüche gesellschaftlicher, politischer und religiöser Systeme auf die Seele Einzelner auswirken müssen, denen ein eigenes Fühlen, ein eigenes Denken, ein eigenes Urteilen, ein eigenes Handeln – ein eigenes und einheitliches Ich systematisch verweigert wird (s. o. S. 233– 235); des weiteren sahen wir, wie Menschen allein schon dadurch in einen schizophrenen Zustand getrieben werden, daß sie zwischen Metapher und Begriff, zwischen Symbol und Bedeutung, zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nicht unterscheiden dürfen (s. o. S. 205–206), so wenig wie die unter das Dogma gezwungenen Gläubigen der katholischen Kirche beim Lesen der Bibel. Vor diesem Hintergrund stellt

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das Erste Gebot zweifellos einen entscheidenden Durchbruch in der Geschichte der Personwerdung des Menschen dar. (Vgl. e. drewermann: Die Zehn Gebote, 27– 37.) Allerdings kann jeder sehen, wie unvollkommen dieser «Durchbruch» auf dem Boden der Bibel historisch gelungen ist und wie weit wir selbst noch von seiner Realisierung entfernt sind: – keinesfalls sind just wir die Zeitzeugen einer Epoche der Menschlichkeit. Das Fatale an dem (alttestamentlichen, israelitischen) Monotheismus war und ist die Tatsache, daß er als eine Monolatrie (als Verehrung nur einer Gottheit, von griech.: mónos – allein, latreýein – verehren) auftrat, die an die machtpolitischen Durchsetzungsansprüche eines einzigen Volkes gegen alle anderen Völker gebunden blieb: Der biblische Jahwe war nicht der einzige Gott, er war nur der einzig anzubetende Gott, und als solcher zeigte er sich durchaus Sinnes, seine Macht über alle anderen nationalen Gottheiten dadurch zu erweisen, daß er «seinem» Volk zum Sieg über alle anderen Völker verhalf. Der wirkliche Verlauf der Geschichte Israels nahm sich bekanntlich recht bescheiden aus, gemessen an den hochfliegenden religiösen Verheißungen; doch das Problem blieb bestehen: die Verflechtung von Religion und Politik, von Eingottglauben und Stammesegoismus, von entfalteter Personalität auf der einen Seite und der Entwürdigung ganzer Völker zum «Schemel der Füße» vor dem Thron des, wie man glauben soll, durch Gottes Beistand stets siegreichen judäischen Königs. (Vgl. Ps 110,1.) Leicht jedenfalls ist es nicht, das blutrünstige Bild der Geschichte des «auserwählten» Volkes zu unterscheiden von den Praktiken aller anderen nicht-auserwählten Völker. Und dennoch läßt sich, wenn man so will, in der Theologiegeschichte der Bibel eine innere Achse erkennen, die mitten hineinführt in das Geheimnis des Personalen und dadurch wirklich etwas Besonderes darstellt. «In der Struktur der religiösen Begegnung als Ich-Du-Beziehung ist der Personalismus der Bibel wie der Personalismus jeder anderen Religion enthalten», schrieb paul tillich. «Aber», fuhr er fort, «der biblische Personalismus ist von dem jeder anderen Religion verschieden, insofern er die Idee einer persönlichen Beziehung enthält, die ausschließlich und radikal ist.» (paul tillich: Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, 152) In unserem Zusammenhang bedeutet diese Aussage, daß die rücksichtslos polemische Seite, die der biblische Monotheismus politisch – als Kampf Gottes gegen die Götter, als Krieg Israels gegen die Völker – entfachen mußte, sich, symbolisch verstanden, in einer Weise verinnerlichen läßt, die psychologisch wie theologisch das Reifen wie Begreifen des Personalen auf gänzlich neue Weise formt und formuliert. Noch einmal in den Worten

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von paul tillich: «Der unbedingte Charakter des biblischen Gottes macht die Beziehung zu ihm radikal personhaft. Denn nur das, was uns im Zentrum unserer persönlichen Existenz trifft, geht uns unbedingt an. Der Gott, der unbedingt ist in Macht, Forderung und Verheißung, ist der Gott, der uns erst ganz zur Person macht und der folglich ganz personhaft ist in unserer Begegnung mit ihm. Es ist nicht so, daß wir zuerst wissen, was Person ist und dann diesen Begriff auf Gott anwenden. Sondern in der Begegnung mit Gott erfahren wir zuerst, was Person sein soll, wie sie sich von allem Unterpersönlichen unterscheidet und wie sie gegen das Absinken ins Unterpersönliche geschützt werden muß.» (paul tillich: A. a. O., 152) Wer wir als Personen sind und sein können, lernen wir mithin eigentlich erst in dem Gegenüber einer Gottesbeziehung, die uns «unbedingt angeht». Doch warum ist das so? Haben wir es hier nicht lediglich mit dem ideologischen Bemühen von jüdisch-christlichen Theologen zu tun, den obsolet gewordenen Exklusivitätsanspruch der Bibel nachträglich zu rechtfertigen? Will man wirklich in unserer säkularen Welt die Behauptung beibehalten, erst die Beziehung zu dem biblischen Jahwe mache uns zu Personen? Wird eine solche These nicht geradewegs abstrus angesichts der Greueltaten, welche die «allerchristlichsten» Fürsten, Fürstbischöfe, Kardinäle, Päpste, Könige und Kaiser in der abendländischen Geschichte verübt haben, um ihrem himmlischen Vorbild in seinem horrenden «Heilshandeln» bestmöglich zu entsprechen? Man kommt nicht umhin, die Wasser der Bibel, eine oft giftige Brühe, durch eine Art Filteranlage überhaupt erst zu genießbarem Trinkwasser aufzubereiten. Christlich gesehen ist ein solches «Klärwerk» an den Ufern des Jordan zweifellos die Person des Mannes aus Nazareth. Auch an dieser wichtigen Stelle scheint es allerdings aussichtslos, historisch-kritisch zu argumentieren: Wer das Neue Testament liest, wird auch dort, nicht minder als in der hebräischen Bibel, auf eine Fülle von Aussagen treffen, deren Radikalität und Unerbittlichkeit, deren strafandrohende Strenge Furcht und Schrecken zu verbreiten geeignet sind. Und doch faßt das Johannes-Evangelium das Auftreten Jesu in die programmatischen Sätze zusammen: «Das Gesetz, die Gerechtigkeit kamen durch Mose; doch die Gnade, die Offenbarkeit Gottes geschahen durch Jesus Christus.» (Joh 1,17) (Vgl. dazu e. drewermann: Das Johannes-Evangelium, I 51– 65.) Für das Vierte Evangelium – ebenso wie für paulus – verdichtet sich in der Person Jesu als des «wahren Königs» (des Messias, des Christus) alles, was der Gott der Bibel uns zu sagen hat – er ist insofern das Wort Gottes (Joh 1,1; vgl. e. drewermann: A. a. O., I 30 –50); ja, wie vorhin schon angedeutet, ist dieses Angeredetsein durch Gott aus dem Munde des Mannes aus Nazareth ursprünglicher sogar als

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die Entdeckung dieser Welt als einer Schöpfung Gottes; denn erst durch die Zusage einer absoluten Bejahung vermögen wir unser Personsein zu ergreifen und alles Seiende ringsum als etwas gnadenhaft Geschenktes zu begreifen. Erneut war es martin luther, der diesen Zusammenhang von Gnade und Personsein, von Christologie und Schöpfungstheologie (in dieser Reihenfolge!) wie kein anderer – nach paulus und augustinus – als die zentrale Wahrheit des Christentums herausgestellt hat. In seinem reformatorischen Lehrschreiben Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahre 1520 formulierte er den Gegensatz von «Gesetz» und «Gnade» so deutlich wie nur irgend möglich. «Die Gebote», erklärte er, «lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu.» (In: Die Werke Luthers in Auswahl, II 254) Die Gesetze und Gebote hinterlassen deshalb nur die Wirkung, daß der Mensch daran sein Unvermögen, sie von sich aus zu erfüllen, erkenne, so «daß ihm nun Angst wird», er möchte auf immer verdammt sein; in dieser Lage, da aller menschlicher Stolz «zunichte geworden, . . . kommt . . . die göttliche . . . Zusagung, und spricht . . . siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusage». (A. a. O., II 255) Ohne die Gnade empfindet sich der Mensch in steter innerer Zerrissenheit (in Unfriede), und er sieht sich außerstande, gut zu sein; er ist unfrei, das Gute zu tun, das er tun möchte. Um eine solche Sicht auf den Menschen zu verstehen, bedarf es freilich der gesamten Neurosenlehre der Psychoanalyse, denn was luther (oder paulus) vor sich sah, ist die Situation des Menschen «jenseits von Eden»: vertrieben in ein Feld der Gottesferne, verstoßen in eine radikal gnadenlose Welt. Wie anderenorts ausführlich dargestellt (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, I 87– 97; 97–106; II 221–235; III 226 –251; 251–324), verformt sich das gesamte Dasein des Menschen, wenn er lebt aus Angst statt aus Vertrauen, in dem Gefühl der Negiertheit statt in der Gewißheit innerer Bejahung, unter dem Druck, die Überflüssigkeit und NichtNotwendigkeit der eigenen Existenz durch den Nachweis von Berechtigung und Notwendigkeit zu widerlegen, statt unter dem Eindruck eines vorgängigen Willens, der möchte, daß er ist. Es ist diese Alternative, die darüber entscheidet, ob ich wie schicksalhaft mir selber «verloren» (entfremdet, der Selbstverfügung entzogen) bin oder ob es möglich ist, mich selbst als Person (wieder) zu finden. Es verrät eine unübertreffliche Einsicht in die menschliche Wirklichkeit, wenn luther weiter schreibt: «Wer da . . . gute Werke tun will, darf nicht bei den Werken anfangen, sondern bei der Person, die die Werke tun soll. Die Person aber macht niemand gut als allein der Glaube, und niemand macht sie böse

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als allein der Unglaube.» (martin luther: Von der Freiheit eines Christenmensch, in: Die Werke Luthers in Auswahl, II 267) Statt des Wortes «Glaube» muß man nur das Wort Vertrauen einsetzen und mit der Psychodynamik der Angst in der Psychoanalyse konfrontieren, so wird man wohl auch und gerade in unserer Zeit ohne größere Schwierigkeiten begreifen, daß die gesamte Personwerdung des Menschen in der Tat abhängt von dem, was das Neue Testament Gnade nennt: von einem absoluten Gegenüber, das mit seiner Zuwendung die Person eines Menschen als berechtigt (als «gerechtfertigt») erweist. Was die ganze Natur mit all ihren Gesetzen, was die gesamte Menschenwelt mit all ihren Geboten keinem Menschen zu schenken vermag, verleiht ihm einzig diese leise Stimme der Liebe. Nur sie kann sagen: «Es muß dich nicht geben, doch für mich darfst du sein; für mich solltest du sein, denn dich möchte ich ganz und gar; daß du bist, ist das, was ich wünsche und will.» Allein eine solche Sprache der Zugewandtheit bildet einen zureichenden Grund, uns über den Abgrund der radikalen Kontingenz unseres individuellen Seins hinwegzuheben; allein eine solche Rede geht uns eben deswegen unbedingt an; nur sie ist deshalb «Wort Gottes», wie es Jesus verkündete. (Vgl. jürgen werbick: Person, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, III 355.) Damit scheint die christliche Vorstellung vom Personsein des Menschen diametral verschieden von der buddhistischen Lehre des Nicht-Ich, des NichtPersonseins. Und in der Tat, die genannte Alternative gilt: entweder greift man die Erkenntnisse der modernen Neurologie in der Weise auf, daß man das Personsein des Menschen als ein illusionäres Phänomen innerhalb seines Selbstbewußtseins begreift, oder in einer Weise, die das Personsein jenseits der bloßen Naturphänomene als eine Realität betrachtet, die, um lebbar zu sein, gegründet sein muß in einem ganz anderen, absoluten Personsein. Doch dieses EntwederOder von Buddhismus und Christentum (als den beiden idealtypisch möglichen Antworten auf die Herausforderung der modernen Neurologie) fällt so extrem aus, daß sich die polaren Enden des Widerspruchs in gewissem Sinne schon wieder annähern; freilich müßte, um das hier Gemeinte zu verstehen, die christliche Theologie ihre spezifische Grundlage: die Lehre von der absoluten Notwendigkeit der Gnade für das Personsein des Menschen, im Sinne ihres eigenen personalistischen Ansatzes radikal ernst nehmen. Dann allerdings wird deutlich, daß die «Diagnose» – die Sicht auf die menschliche Existenz in ihrer Ausgeliefertheit und Nicht-Notwendigkeit – in Buddhismus wie Christentum sehr ähnlich lautet und erst die aus ihr sich ergebenden Schlußfolgerungen in verschiedene Richtungen tendieren. Beide Religionsformen, so sehen wir, betrachten den Menschen als in sich haltlos, vergänglich und nichtig – als

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«leer» in der Sprache des Buddhismus, als «Staub» in der Sprache der Bibel. Der Mensch kann deshalb keine Person sein, folgert daraus der Buddhismus; der Mensch kann nur eine Person sein, wenn und weil es Gott als Person gibt, folgert daraus das Christentum. Der Buddhismus bleibt somit bei dem Rätsel des Personseins stehen, während das Christentum dieses Rätsel sozusagen durch eine Verdoppelung potenziert: Um das Personsein des Menschen anzuerkennen, muß man an die Person des Menschen glauben, so wie man und weil man an die Person Gottes glaubt. Dadurch bricht eine geistige Kluft zwischen den beiden Religionsformen auf, die wirklich schwer zu schließen scheint; schaut man indessen auf die Weisungen, die sich aus dieser wie aus jener Position in existentieller und ethischer Hinsicht ergeben, so sind sie so verschieden nicht und weisen sogar eine hohe Symmetrie und Konvergenz auf. Denn der gemeinsame Ausgangspunkt in Buddhismus wie Christentum ist mit dem Blick auf den Menschen die Nichtigkeit seiner Existenz. Der Königssohn Gautama wurde zum Bettler, der Zimmermannssohn aus Nazareth sah uns allesamt als Bettler; was die christliche Theologie als «Gnade» bezeichnet, ist nichts weiter als die Anerkennung dieser Tatsache. Lassen wir einmal die absurden Konnotationen des Hochherrschaftlichen beiseite, mit dem «Ihro Gnaden» in früheren Zeiten sich im «Gottesgnadentum» Amt und Würden glaubte zuschanzen zu können, so bleibt als Inhalt des kostbaren Wortes «Gnade» nichts als die lebensnotwendige Form einer Zuwendung, die ein Mensch «unbedingt» braucht, ohne den geringsten Anspruch darauf erheben zu können. – Ein Bettler sitzt in den Vorweihnachtstagen am Straßenrand, und er spürt, wie die Kälte schmerzhaft von seinen Gliedern Besitz ergreift und beginnt, auch seine inneren Organe anzugreifen; er bräuchte dringend ein paar Menschen, deren Augen, deren Herzen, deren Hände sich seinem Elend öffneten, und er bräuchte sie jetzt – ein paar Stunden später schon können zu spät sein; doch er kann nicht die Polizei rufen, um die vorübereilenden Passanten mit ihren schweren Einkaufstaschen wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen; er führt keinen Rechtstitel auf Hilfe mit sich. – Eine solche Hilfe, die man nicht einklagen kann und die man doch unbedingt braucht, um zu leben, ist «Gnade». Und in dieser Lage des Bettlers befinden wir uns allsamt, egal, ob buddhistisch oder christlich betrachtet. «Wir sind Bettler, das ist wahr», schrieb martin luther als letztes auf einen Zettel in seinem Sterbezimmer zu Eisleben. (Vgl. heinz zahrnt: Martin Luther in seiner Zeit – für unsere Zeit, 216.) Daß wir leben, die Tatsache unserer Existenz schon, ist ein Ausdruck reiner, unverdienter Gnade. Und Gnade ist etwas grundsätzlich anderes als «Gerechtigkeit». An dieser Stelle scheint die Unvereinbarkeit zwischen der Botschaft Jesu und

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der «Verkündigung» der Kirche erheblich größer als der Unterschied zwischen dem Buddha und dem Christus. Die kirchliche Moraltheologie nämlich hat – erneut im Erbe der antiken Philosophie – den Ausgangspunkt all ihrer Überlegungen zur Begründung des Sittlichen in der «Natur» des Menschen finden zu können gemeint: Auf Grund seiner «Geistnatur» sollte der Mensch eine eigene Würde mit eigenen Rechten und Pflichten besitzen, und so diente denn auch die «christliche» Ethik im folgenden einer «gerechten» Aufteilung der Rechtsansprüche, die der eine gegen den anderen ins Feld führen dürfe und müsse: – bis hin zu der Forderung einer Pflicht zur Führung «gerechter Kriege» im Namen eines Gottes, der die Gerechtigkeit liebt, mußte eine solche Ethik sich versteigen; sie war «staattragend» wie die Kirchen selber, schon weil sie die Ansprüche von «Besitzenden» schützte. Die «Ethik» des Buddha hingegen, ebenso wie die Grundeinstellung Jesu, geht nicht aus von dem, was einer hat und ist, sondern sie nimmt seinen Bettlerstatus für die letzte unbezweifelbare Wahrheit im menschlichen Leben: Niemandem gehört irgend etwas; niemand «ist» irgend etwas; allesamt sind wir Hinfällige, Vergängliche, Habenichtse, bedürftig der Hilfe. «Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt» (Mt 10,8). Dieser Ausspruch Jesu, bezogen zunächst auf den Empfang und die Weitergabe des Gotteswortes, gilt generell: Da alles, was wir sind und haben, ein unverdientes Geschenk darstellt, gibt es nur eine «Pflicht» im Umgang miteinander: gemeinsam zu teilen (wie in der Wunderlegende von der Brotvermehrung, vgl. Mk 6,30 –44; 8,1– 9), jedem (!), der bittet, zu geben (Mt 5,42) und in jedem Notleidenden Gott selber zu sehen (Mt 25,40). Wo der Buddhismus das Eigene als identisch mit dem Fremden erkennt (gemäß dem «tat tvam asi» – sanskr.: das bist du), sieht das Christentum den Seinsgrund von allem – Gott selber – in dem Dasein aller «Bettler» dieser Erde aufscheinen. Man kann, wie wir es von paul tillich hörten (s. o. S. 608), in diesen verwandten Einstellungen den Unterschied zwischen Identifikation und Partizipation erblicken (paul tillich: Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, 84); wichtiger jedoch als diese an sich richtige Differenzierung ist das Resultat, das beide Religionen gemeinsam aus ihrer Grundeinsicht in die Bettlernatur des Menschen ziehen: Wesentlich betrachtet, existieren wir gerade nicht als die Sieger eines endlosen Kampfs ums Dasein, in dem allein die Fittesten einen Platz an der Sonne verdienen; bei einiger Ehrlichkeit müssen wir sehr bald schon uns eingestehen, daß uns nichts gehört. Erst in den Verfahren, diese Einsicht vorzubereiten, unterscheiden sich wiederum Buddhismus und Christentum auf ihre je eigene Art. In der bereits geschilderten Weise setzt der Buddhismus seine Meditations-

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technik dazu ein, das Ich des Menschen seiner Ansprüche, Anmaßungen und Einbildungen zu entkleiden; Zug um Zug werden die Inhalte des Ego, der persona, abgetragen, bis daß «nichts» mehr von dem übrig bleibt, was bis dahin als «Ich», als «Person» bezeichnet wurde; das Christentum hingegen besteht wesentlich in einer Therapie ichspezifischer Angstberuhigung: Wenn erst einmal das Gefühl der Bedrohtheit aus der Existenz eines Menschen gewichen ist, so braucht er sich nicht mehr in ständiger Daseinsangst ins Kellerloch zu verkriechen. Wo der Buddhismus mithin auf Einsicht und Selbsterkenntnis vertraut, ergibt sich im Christentum Einsicht und Selbsterkenntnis aus dem Vertrauen in das absolute Du im Hintergrund. Das Ziel beider Religionsformen aber ist eine Art heiterer Gelassenheit und innerer Klarheit, – ein Mitleid und ein Erbarmen, die allen Wesen gelten, weil sie allesamt selber Leidende und Erbärmliche sind. Als Endpunkt solcher Entwicklung gilt im Buddhismus das Verlöschen – das Nirvana –, im Christentum das Aufwachen, das Auferstehen vom Tode. In beiden Religionen geht es dabei um ein Austilgen, ein Absterben des «unwissenden» beziehungsweise des «alten Menschen»; während wir das sagen, beginnen wir zu ahnen, daß wir es auch hier lediglich mit kulturabhängig verschiedenen Bildern zu tun haben, die nicht den Blick auf das Gleichartige der menschlichen Lage in dieser Welt verstellen sollten. Noch ein weiterer Unterschied existiert zwischen Buddhismus und Christentum, den paul tillich in seiner Gegenüberstellung der Begriffe «Nirvana» und «Reich Gottes» geltend gemacht hat: «Wo das Symbol ‹Reich Gottes› im Vordergrund steht, wird die Geschichte nicht als bloßer Schauplatz betrachtet, auf dem sich das Schicksal von Individuen entscheidet, sondern als eine Bewegung, in der Neues geschaffen wird und die auf das absolut Neue hineilt, symbolisch gesprochen: auf ‹den neuen Himmel und die neue Erde› (sc. auf ein auch die geschichtliche Wirklichkeit umgestaltendes Leben in Vertrauen statt aus Angst, d. V.) . . . Dazu gibt es im Buddhismus keine Analogie. Das Ziel des Buddhismus ist nicht Umwandlung der Wirklichkeit, sondern Erlösung von ihr . . . In keinem Fall kann aus der Idee des Nirwana der Glaube an das kommende Neue in der Geschichte oder Antrieb zur Umgestaltung der Gesellschaft gewonnen werden.» (paul tillich: Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: P. Tillich: Die Frage nach dem Unbedingten, 86 –87) Dem ist zuzustimmen; doch so richtig es ist, daß die Erwartungen des Juden Jesus bei seiner Botschaft von der Ankunft des Reiches Gottes auf eine Veränderung dieser Welt hinauswollten, so wenig war es ihm selber möglich, auf einen derartigen Wandel der geschichtlichen Wirklichkeit zu warten – man kann die Bergpredigt nicht erst leben wollen, wenn das «Reich Gottes» schon

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gekommen ist, man muß vielmehr, im Vertrauen auf Gott, in Überwindung mithin der alten Angst, die Worte der Bergpredigt leben, damit das «Reich Gottes» kommen kann (das heißt um zu erfahren, daß es immer schon da ist). Dann aber ist die Frage berechtigt, was denn, bezogen auf jeden Einzelnen, dieses «Reich Gottes» anderes sein soll als eine Entgrenzung des individuellen Ich, als ein Verlöschen des Ego? In dostojewskis Roman Schuld und Sühne, den wir anläßlich des Alkoholismus-Problems schon einmal zitiert haben (Bd. I 547– 548), fragt sich der schwerkranke Marmeladow, was es denn heißen könne: Gott zu begegnen. – «. . . wenn Er (sc. Christus, d. V.) sie alle (sc. die Guten und Gerechten, d. V.) gerichtet und ihnen allen vergeben hat, dann wird Er auch uns rufen: ‹Kommt her!› wird Er sagen, ‹kommt her auch ihr! Kommt her, ihr Säufer, kommt her, ihr Schwachen, kommt her, ihr Übeltäter!› . . . Und dann werden die Weisen und Klugen ihre Stimme erheben: ‹Herr, warum willst du auch diese aufnehmen?› Und dann wird Er sagen: ‹Darum nehme ich sie auf, . . . weil keiner von ihnen je geglaubt hat, daß er dessen würdig sei . . .› Dann werden wir alles verstehen . . . Herr, dein Reich komme!» (fjodor michailowitsch dostojewski: Schuld und Sühne, I. Teil, II., S. 26 –27) Eine Welt, in der alle alles verstehen, mag man Nirvana nennen oder Reich Gottes; in jedem Falle handelt es sich um eine Wirklichkeit, in der es zwischen den Menschen keine Grenzen mehr gibt: nicht zwischen Gut und Böse, Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Rechtgläubig und Ungläubig, Volksgenosse und Fremder, sondern in der alle Menschen das Nichts erkennen, das sie selbst sind (buddhistisch), beziehungsweise in der sie die Gnade erfahren, aus der allein sie leben (christlich). Beide Bewegungen klingen in ihren Beschreibungen ganz verschieden, und die Wege, die sie weisen, führen denn auch weit auseinander; ihr Bestimmungsort aber erscheint als ein durchaus gemeinsamer. Und noch ein wichtiger Punkt wird hier berührt. Insbesondere bezüglich der Vorstellung von Gott scheint die christliche Theologie im Gespräch mit dem Buddhismus etwas dazulernen zu müssen, um ihre eigenen Weisungen und Gebote (darunter vor allem das Zweite Gebot) überhaupt erst richtig leben zu können, so wie dem Buddhismus womöglich in bezug zu dem Begriff des Nirvana bestimmte Anregungen des Christentums als hilfreich erscheinen könnten. Ein besonderer «Stolz» der abendländischen Kirchen ist bekanntlich die «Dreifaltigkeitslehre» – jene dogmatische Auffassung, wonach die Natur des einen Gottes in drei Personen «subsistiert»; die Frage natürlich stellt sich dabei, in welch einem Sinne von einer Person oder von den Personen der Gottheit über-

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haupt gesprochen werden kann. (Vgl. d. henrich: Die Trinität Gottes und der Begriff der Person, in: O. Marquard – K. Stierle: Identität, Poetik und Hermeneutik, VIII 612– 620; jürgen werbick: Person, in: Peter Eicher: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, III 351–353.) Im Rahmen unserer vorliegenden Studie über Neurologie und Theologie haben wir selbstredend nicht den geringsten Anlaß, in eine Diskussion über derlei Mysterien einzutreten; doch für eine gewisse Klärung sorgen kann unser – äußerst verkürzter – buddhistisch-christlicher Dialog schon; denn er fordert uns auf, entsprechend dem Zweiten Gebot, alle Eigenschaften des Endlichen aus dem Gottesbild zu entfernen, auf daß das Personsein Gottes um so leuchtender und unverfälschter hervortrete. Allein daß Gott Person ist, bietet den wichtigsten Halt, den entscheidenden Trost für das sonst haltlose, trostlose Dasein des Menschen; alles weitere ist buchstäblich unnötig zu wissen. Die einzige Vorstellung, die sich wesentlich mit der Personalität Gottes verbindet, ist die Gnade, die Zugewandtheit, die Güte; sie erst macht es möglich, daß wir als Personen existieren. Widersprechen muß man an dieser Stelle deshalb johann gottlieb fichte: Dieser Hauptvertreter des Deutschen Idealismus verfocht in seiner Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung die Ansicht, daß zum Begriff der Person die Wechselwirkung, mithin die Endlichkeit gehöre, so daß der Begriff der Person von Gott nicht ausgesagt werden könne. (Vgl. jürgen werbick: Person, in: Peter Eicher: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, III 355.) An dieser These ist richtig, daß Gott nicht in Wechselwirkung zu irgend etwas Nicht-Göttlichem treten muß, um Gott zu sein; doch damit wir als endliche Personen zu existieren vermögen, bedürfen wir der Absolutsetzung, der Verunendlichung dessen, was uns wesentlich möglich gemacht hat; die Absolutheit, die Unendlichkeit der Liebe aber – das ist Gott als Person. Und ihr zu vertrauen, an sie zu glauben, ist der alleinige Grund unseres eigenen Personseins. Die einzige Seinsart, die sich nach dem Gesagten auf Gott beziehen läßt, ist demnach Personsein, denn allein diese Eigenschaft ist es, die uns als Personen «unbedingt angeht». Existenzphilosophie, nicht Ontologie öffnet mithin dem Menschen den Weg zu Gott. Nun wird von etlichen Neurologen mittlerweile die Auffassung vertreten, daß ihr Fachgebiet, wie eine Reihe anderer Geisteswissenschaften, so auch die Theologie durch neuere Erkenntnisse revolutionieren werde; das trifft, wie sich zeigen wird, in begrenztem Maß zu, doch nur, insoweit die Theologie selbst das absolute Personsein Gottes mit verdinglichenden Begriffen und Bezeichnungen belegt hat.

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γ) Entsteht Gott im Gehirn? Oder: Einige Bemerkungen zur Neurotheologie und zum Begriff des Religiösen I. Was sollte man als religiös bezeichnen? Von Drogen, Neurosen und dem Postulat der Individualität Natürlich, – die Theologie ist, wie wir sahen, in ihrer tradierten Form längst schon in eine arge Bredouille geraten. Wenn es möglich ist, die Entstehung von Geist, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Ich und Person mit den Mitteln moderner Naturwissenschaften zwar in den Einzelheiten nach wie vor noch lückenhaft, doch im Rahmen einer kohärenten Methodologie und beruhend auf einer Fülle sich wechselseitig bestätigender Beobachtungen zu begründen, so hat die metaphysizierte Kirchendogmatik auf den Feldern der «Schöpfungstheologie» ebenso wie der «rationalen Anthropologie» (mit ihrer Vorstellung von einer substantiellen Vernunftseele) allenfalls noch jenen symbolischen bzw. hermeneutischen Wert, den sie mit ihren Aussagen von Anfang an besaß und auf den sie unter allen Umständen sich hätte beschränken sollen. Die Existenz eines personalen Gottes ist, wie wir sahen, aus der Schöpfung kausal nicht beweisbar. Gerade in dieses Vakuum einer verflogenen Metaphysik aber rücken neuerdings manche Theorien nach, die nunmehr mit neurologischen Mitteln zu zeigen versuchen, daß auf Grund bestimmter Phänomene, zum Beispiel der sogenannten Nahtod-Erfahrungen, Gott existieren müsse, oder die, weitaus bescheidener, den Nachweis erbringen möchten, daß in unserem Gehirn zumindest die Vorstellung von einem Gott geradezu zwangsläufig sich bilde; ähnlich wie das «Hirnstamm-Rauschen» im Schlaf Träume produziere (vgl. Bd. I 351; 368), so erzeuge unser Gehirn unweigerlich auch Gottesideen. – Wir müssen uns jetzt fragen, was es mit solchen Thesen auf sich hat . . . Ein Hinweis vorweg scheint in jedem Falle für Theologen angebracht, die nach wie vor gesonnen sein könnten, manche in der Tat überraschenden Resultate der modernen Neurologie «fundamentaltheologisch» (zum Zwecke weiterer «Gottesbeweise») zu nutzen. Ihnen muß wie zur Warnung gesagt sein, daß ein «Gottesbeweis», der mit Hilfe einer Naturwissenschaft wie der Neurologie zu führen wäre, in dem Nachweis bestünde, daß bestimmte innerweltliche – jetzt also intracerebrale – Gegebenheiten sich definitiv einzig und allein durch die Annahme einer transzendenten Kausalität erklären ließen. – Genau eine solche Annahme aber widerspräche allem naturwissenschaftlichen Denken. Schon

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mehrfach haben wir betont: Kein Physiker, kein Biologe, kein Neurologe kann und darf methodisch eine Aussage als «Erklärung» gelten lassen, die einen Gott (eine unendliche Ursache) benötigt, um eine innerweltliche Tatsache (eine endliche Wirkung) verständlich zu machen. Und auch aus theologischen Gründen sollte Versuchen dieser Art kein Kredit mehr gewährt werden: Ein Gott, der selber als Ursache innerhalb des Weltgeschehens aufträte, wäre kein Gott mehr, sondern allenfalls, wie die Götter mythischer Weltbeschreibungen, eine personifizierte Kraft der äußeren (physischen) oder inneren (psychischen) Natur. Um die Personalität Gottes «rein» zu erhalten, sollte die Theologie selbst sich dagegen verwahren, Gott, jenes Subjekt (jenes Du), das niemals Objekt (niemals Es oder Er) werden kann, in einen Erkenntnisgegenstand naturwissenschaftlicher Forschung zu verfälschen. Gerade hier aber kann die moderne Neurologie durchaus gute Dienste leisten, indem sie zeigt, daß bestimmte seelische Phänomene und Erfahrungen, die in der Vergangenheit gern mit dem «Eingreifen» Gottes «erklärt» wurden, sich eben nicht mit Gott als Ursache, sondern auf ganz natürliche Weise begreifen lassen – und sie steht damit in guter Tradition der Aufklärung von vor 200 Jahren bereits. Je mehr wir von der Arbeitsweise des Gehirns verstehen, desto weniger Raum für allerlei Spuk von Geistern – guten wie bösen –, Heiligen oder Unholden, Madonnen oder Hexen bleibt darin übrig. Unser Gehirn, soweit wir es heute kennen, ist kein Klavier, über dessen Tasten die Hände eines «Schöpfers» glitten, um Melodien seines Wohlgefallens zu Gehör zu bringen. Nur so viel läßt sich vorerst sagen: In dem Aufbau unserer Existenz ändert sich alles, je nachdem, ob wir in Angst oder aus Vertrauen leben, und zweifellos läßt sich eine solche Änderung unserer Grundbefindlichkeit auch neurologisch darstellen; das Erleben von Sinnlosigkeit oder Zuversicht, von Gottverlassenheit oder Geborgenheit jedoch ist nicht «von außen» durch ein «Eingreifen» Gottes verursacht – welch einen Menschen sollte ein gütiger Gott schon «verloren» geben –, es läßt sich vielmehr erklären aus der Einstellung, mit der wir bestimmte Ereignisse deuten. Gott selbst freilich ist nicht, weil wir ihn sehen, und er hört nicht auf zu sein, wenn wir ihn nicht sehen, – ähnlich wie die Sonne immerzu scheint, während es doch an uns liegt, ob wir die Blendläden für sie öffnen oder geschlossen lassen. Immerhin aber verfügen wir über Augen, die sich an das Sonnenlicht «angepaßt» haben; könnte es da nicht auch sein, so die Überlegung mancher Theologen, daß unser Gehirn just das Organ wäre, das an die Sphäre des Göttlichen weit genug adaptiert wäre, um dessen «Licht» sichtbar zu machen? Oder daß

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unser Gehirn, wie manche Neurologen sagen, ein «Fenster» zur Transzendenz sei? Wie läßt sich nachprüfen, ob so etwas der Fall ist? Neurologie ist eine Wissenschaft zur Erforschung von Vorgängen im Gehirn; diese Vorgänge können bestimmte Vorstellungen und Erlebnisse hervorbringen, und es sollte prinzipiell möglich sein, zu untersuchen, welche neuronalen Aktivitäten speziell mit bestimmten Vorstellungen und Erlebnissen korreliert sind; prinzipiell unmöglich indessen dürfte es sein, im Rahmen der Neurologie Aussagen darüber zu treffen, ob diesen Vorstellungen und Erlebnissen ein vorstellungs- und erlebnisunabhängiges Sein an sich zukommt. Mit anderen Worten: Keine wie auch immer geartete «mystische» oder «spirituelle» Erfahrung kann als «Beweis» für die Existenz einer bewußtseinstranszendenten Sphäre des Geistes oder des Göttlichen gedeutet werden. Und eben damit beginnt das Problem. Denn wie sollen Neurologen das Phänomen des religiösen Bewußtseins erforschen, wenn die Religionen selber sich uneins bereits darüber zeigen, was überhaupt als eine religiöse Erfahrung zu verstehen ist? Erinnern wir uns nur noch einmal an jene drogeninduzierten Ekstasen, die in der Religionsgeschichte zweifellos als Begegnungen mit bewußtseinstranszendenten (von «außen» kommenden) Mächten erlebt und gedeutet wurden. Die Wirkstoffe des Fliegenpilzes zum Beispiel verliehen dem «Soma» der indoarischen Religion der Veden göttliche Kräfte (vgl. Bd. I 553–554); ein gleiches galt für die Wirkstoffe des «Zauberpilzes» der Azteken (vgl. Bd. I 554– 555); das Mescalin des Peyote-Kaktus ruft Zustände hervor, die auch heute noch in manchen Kulten, wie bei den Tarahumara und den Huichol in Mexiko, als Manifestation göttlicher Mächte verstanden werden (vgl. Bd. I 555); und von aldous huxley (1894 –1963) erhielten wir noch vor etwa einem halben Jahrhundert den ernst gemeinten Vorschlag, jene Zustände der Entgrenzung des Ich, wie er sie am eigenen Leibe im Mescalin-Rausch erlebt hatte (vgl. Bd. I 555 –556), zum Ausgangspunkt des Verständnisses religiöser Überzeugungen insgesamt zu nehmen (vgl. Bd. I 561); auch alfred hofmann (geb. 1906) wurde durch das von ihm selber hergestellte LSD in den 40er Jahren des 20. Jhs. in durchaus vergleichbare Erlebnisformen versetzt (vgl. Bd. I 557–558). Nach den Untersuchungen von george aghajanian (geb. 1932) glauben wir mittlerweile seit etwa einem Vierteljahrhundert zu wissen, wie es zu derartigen Widerfahrnissen kommen kann: Mescalin wie LSD erhöhen die Impulsrate der NA-Neuronen im Locus coeruleus, und so kommt es auf Grund der unspezifischen, weiträumigen Verteilung des NA-Systems im Gehirn zu einer Übererregbarkeit durch Sinnesreize aller Art mit der Folge der geschilderten Farbhalluzinationen, der Verformung der Perspektive, der Veränderung in der

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Wahrnehmung fremder Personen, des Verlusts der Ich-Identität nebst den entsprechenden unheimlichen Gefühlen (vgl. Bd. I 559– 560). Phänomene, die in bestimmten Kulturen als ein religiöses Widerfahrnis gedeutet wurden und werden, enthüllen sich in neurologischer Betrachtung mithin als das Resultat der Übersteuerung eines der uns bekannten Transmittersysteme, und damit verlieren sie zugleich ihren göttlichen Anspruch. Eine Kultur, die den Wirkstoff psychedelischer Substanzen chemisch zu charakterisieren vermag, kann nicht mehr an durch Zauberkräfte von Pilzen und Kakteen vermittelte Theophanien (die Erscheinung Gottes, von griech.: der theós – Gott, phaínein – erscheinen) glauben; eben deshalb bezeichnete humphrey osmond (1917– 2004) derartige Drogen denn auch nicht als «theodelisch» (gottoffenbarend, von griech.: de¯lou˜ n – offenbar machen), sondern als psychedelisch: sie manifestieren nicht Göttliches, sie erschließen Erlebnismöglichkeiten der menschlichen Psyche (vgl. Bd. I 553). Ähnliches gilt von den Coca-Blättern der Inkas (vgl. Bd. I 523), aber auch von der Hanfstaude (vgl. Bd. I 550– 553) oder dem Schlafmohn (vgl. Bd. I 516– 518), ob die entsprechenden Erlebnisse bei ihrem Genuß nun religiös interpretiert werden oder nicht. Insofern trägt die Neurologie in unseren Tagen zweifellos zu einer weiteren Entmythologisierung des religiösen Bewußtseins bei und verändert damit unmittelbar die tradierten Interpretationsschemata auch unserer eigenen Kultur im Umgang mit vergleichbaren Phänomenen. Mit dem Stand des heutigen neurologischen Wissens geht eine Epoche der Menschheitsgeschichte ein für allemal zu Ende, in welcher die Wahrheit einer Religion durch die Erlebnisse von Visionen, Auditionen und Halluzinationen sowie von rauschartigen Zuständen in Tanz und Trance begründet und bestätigt zu werden vermochte. So wie alle möglichen ungewöhnlichen und machtvollen Erscheinungen der äußeren Natur in Sturm und Gewitter, Erdbeben und Vulkanausbrüchen, Feuersbrünsten und Überschwemmungen, Meteoriteneinschlägen und Kometenerscheinungen, früher einmal auf das Wirken spezieller Gottheiten zurückgeführt wurden und erst durch den Fortschritt der Naturwissenschaften von einer durchgehend säkularen Deutung abgelöst wurden, so setzt dieser Prozeß sich logischerweise auch beim Betrachten der psychischen Erscheinungen fort. (walter f. otto: Theophania, 14–15 nahm die «Mißdeutung der Götter» infolge «primitiver Irrtümer» entschieden zu wenig ernst!) Insbesondere das Aussich-Heraustreten des Ich in der Ekstase beziehungsweise seine Entgrenzung in den Erfahrungen einer «mystischen» Einheit und Verschmelzung hat seine religiöse Bedeutung verloren: Es ist immer noch möglich, staunend und bewundernd vor den Erfahrungen und Einsichten indianischer oder sibirischer

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Schamanen zu stehen, vor ihrem Respekt gegenüber Tieren und Pflanzen, vor der Weisheit ihrer psychosomatischen Heilverfahren und Riten, aber wir werden in der Religionsform des Schamanismus, die in der Menschheitsgeschichte über Jahrzehntausende hin die Stammeskulturen der Jäger und Sammler begleitet haben dürfte, deswegen doch nichts anderes mehr sehen als eine Stufe der Beschäftigung des menschlichen Geistes mit sich selbst auf der Suche nach Orientierung und Sinn inmitten einer rätselhaften, erschreckenden Welt. (Vgl. mircea eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, 33– 42: Schamanismus und Psychopathologie.) Was bleibt, ist das Gebot einer äußersten Zurückhaltung angesichts psychischer Ekstasen und Exaltationen aller Art. Vielleicht ist es generell ein Fehler, Gott im Außergewöhnlichen, Überwältigenden, dramatisch Pompösen suchen zu wollen, so wie es falsch wäre, den Sinn der menschlichen Geschichte an ihren Kriegen und Siegesfeiern abzulesen. Ganz sicher falsch jedenfalls ist es in heutiger Sicht, Göttliches mit derlei zu verwechseln. Die moderne Neurologie muß unbedingt weiter dazu beitragen, den Innenraum des religiösen Bewußtseins von abergläubischen (magischen, rituellen, dogmatischen) Vergegenständlichungen des Göttlichen zu reinigen; andererseits muß sie aber die Beurteilung gewisser psychischer Phänomene als religiöser Ereignisse der Kulturanthropologie (Soziologie und Ethnologie) überlassen. Denn wie sich zeigt, kann ein und dasselbe Erlebnis im Kontext verschiedener Kulturen und Gesellschaften als religiös überaus bedeutsam – als göttlich oder gegengöttlich –, aber auch als religiös völlig belanglos – als ein Fall für die Psychiatrie womöglich – interpretiert werden, und über diese kulturell bedingten Bedeutungsverleihungen bestimmter psychischer Widerfahrnisse kann die Neurologie selbst nichts aussagen. Nehmen wir an, ein 14jähriges Mädchen wie Bernadette Soubirous hätte nicht in Südfrankreich, sondern in einem der protestantischen, skandinavischen Länder oder womöglich irgendwo in einem nicht-christlichen Kulturraum davon berichtet, es sei ihm «eine schöne Dame» erschienen (vgl. franz werfel: Das Lied von Bernadette, 53 –59), so wäre es mit aller Wahrscheinlichkeit zunächst nur ausgelacht, dann aber, im Falle unbelehrbarer Hartnäckigkeit, wohl in eine Irrenanstalt eingeliefert oder der allgemeinen sozialen Ächtung preisgegeben worden; selbst die katholische Kirche würde zu anderen Zeiten, an anderen Orten gezögert haben, jene «schöne Dame» ohne weiteres als die Gottesmutter Maria zu rekognoszieren: im Mittelalter hätte es durchaus geschehen können, daß eine solche Erscheinung als verführerisches Blendwerk des Teufels (eine «schöne Frau»!) gegolten hätte und Bernadette als Hexe ver-

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brannt worden wäre; in den Zeiten der Gegenreformation, Anfang des 17. Jhs., hingegen wäre eine derartige Erscheinung hochwillkommen gewesen, sprossen damals doch auch ohne Erscheinungen Wallfahrtsorte wie Kevelaer u. a. tatsächlich den Pilzen gleich aus dem Boden, einfach weil Rom die Marienfrömmigkeit als ein wirksames Mittel betrachtete, um das «einfache» Volk, wo schon nicht vom «Heiligen Vater», so doch wenigstens von der «Mutter Kirche» zu «überzeugen» und so gegen die Bewegung der Theologieprofessoren aus Wittenberg zu wappnen; auch bei jenen Vorkommnissen damals in Lourdes verhielten sich die zuständigen Kreise der Kirche, wie stets, zunächst vorsichtig-taktisch; am Ende entschied und entscheidet in Fällen wie diesen der beharrliche Zustrom der Menge, deren Botmäßigkeit gegenüber der kirchlichen Behörde und eine wohlkalkulierte finanzielle Gewinnerwartung. All diese Aspekte haben erkennbar mit Gott nicht das geringste zu tun, und trotzdem – in «rechtem Lichte» betrachtet, zeigt sich’s denn doch womöglich als von Gott gewirkt! Vox populi vox dei, sagten die alten Römer: Volkes Stimme – Gottes Stimme; die heutigen Römer haben davon gelernt und wohl verstanden, daß Macht und Masse, Geltung und Geld allemal «gute Gaben Gottes» sind, die es zu nutzen und zu mehren gilt . . . Am Ende kommt es schon gar nicht mehr darauf an, was einmal «wirklich» passiert ist; wenn es nur lange genug geglaubt und geheiligt wird, verwandelt es sich wie von selbst in ein «Zeugnis» des Glaubens. Weil zum Beispiel im Jahre 1531 die Madonna einem gewissen Juan Diego erschien, steht heute im mexikanischen Guadalupe, an der Stelle des vorspanischen Heiligtums der aztekischen Göttin Tonantzin («unsere Mutter») auf dem Hügel von Tepeyacac, ein Wallfahrtszentrum – daß jener Juan Diego nie gelebt hat, ist für den Kult völlig bedeutungslos. (Vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 318; nigel davies: Die Azteken, 381– 382.) Um so wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, was für ein Erlebnis denn als ein genuin religiöses betrachtet zu werden verdient – welche religionspsychologisch und theologisch plausiblen Kriterien es geben kann, ein Ereignis als «von Gott» kommend zu deuten: Das Urteil der Menge kann und darf dabei nicht länger ausschlaggebend sein, die nur allzu verständlichen Interessen einer Kirche noch viel weniger, und so bleibt nur der Erfahrungsraum des Einzelnen; – zudem kann auch die Neurologie nur untersuchen, was in dem Gehirn eines Einzelnen vor sich geht. Um des weiteren eine Grundlage für eine mögliche Neurotheologie zu schaffen – ein Ausdruck, der 1984 von dem amerikanischen Theologen james b. ashbrook geprägt wurde (vgl. rüdiger vaas: Hotline zum Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 30) –, hat man versucht, Religiosität und Spiritualität voneinander zu unterscheiden, und man definierte Re-

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ligiosität als ein kulturelles beziehungsweise sozial-psychologisches Phänomen, das mit den Vorstellungen einer Gemeinschaft (ihrem Gottesbild, ihren Dogmen, ihrer mythisierten Geschichtsdarstellung) und ihren Praktiken (Riten, Gebeten, Sakramenten, missionarischen Aktivitäten) zu tun hat, während man unter Spiritualität die individuelle Bereitschaft zu mystischen Bewußtseinszuständen (der selbstvergessenen Verschmelzung oder transzendenten Verbundenheit) verstehen wollte (vgl. rüdiger vaas: Das Gottes-Gen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 39). Menschen können in der Tat in großer Zahl einer Religionsgemeinschaft angehören, ohne selber religiös im Sinne einer geistig orientierten Grundhaltung (ohne «spirituell») zu sein; umgekehrt gibt es Gottsucher und Gottbegeistete, die sich mit keiner Kirchenzugehörigkeit zufrieden geben können. So endete zum Beispiel der Soester Theologe heinz zahrnt (1915 – 2003) seine faszinierende Darstellung über Martin Luther in seiner Zeit – für unsere Zeit mit den Sätzen: «Wichtiger als die Einheit der Kirche bleibt die Frage nach der Wahrheit Gottes und nach den Nöten der Welt . . . – Wenn die Christenheit seit den Tagen der Alten Kirche betet: ‹Es vergehe die Welt, und es komme Dein Reich!›, dann bittet sie damit indirekt auch um das Vergehen der Kirchen. Am Ende aller Religionsgeschichte steht nicht der Sieg des Christentums, schon gar nicht der Katholiken oder der Protestanten, sondern das Reich Gottes, in das alle Religionen und Kirchen eingehen werden . . . Darum: Es vergehe die Kirche – und es komme Dein Reich!» (heinz zahrnt: Martin Luther in seiner Zeit – für unsere Zeit, 235) Wahrhaft «religiös» oder «spirituell» wäre demnach jemand, der sich – nach dem Vorbild Jesu – ergriffen zeigt von der «Wahrheit Gottes» und der sich engagiert für die Not der Menschen. Doch was ist «Gott», was die «Wahrheit» Gottes, und wie unzweideutig ist, psychologisch betrachtet, das soziale Engagement bestimmter Persönlichkeiten? william james (1842 –1910), als er sich in seinem schon mehrfach zitierten Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung der Thematik der Religionspsychologie zuwandte, versuchte, das Problem einer brauchbaren Definition des Religiösen sozusagen im Gewaltstreich – rein deklaratorisch – zu lösen, indem er für die Gültigkeit religiöser Manifestationen drei Kriterien aufstellte: «Unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit.» Er schrieb: «Die heilige Theresa (sc. die spanische Mystikerin Theresa von Avila, 1515 –1582, d. V.) kann das Nervensystem der sanftesten Kuh gehabt haben (sc. was bei dieser äußerst kämpferischen Frau bekanntlich nicht der Fall war, d. V.), und es würde ihre Theologie nicht retten, wenn deren Untersuchung anhand dieser . . . Kriterien sie als verachtenswert erweisen sollte. Und umgekehrt: Wenn ihre Theologie dieser Überprüfung standhalten kann, wird es ganz

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gleichgültig sein, wie hysterisch oder nervlich aus dem Gleichgewicht die heilige Theresa (sc. nach dem Zeugnis der historischen Quellen, d. V.) vielleicht während ihrer Erdentage gewesen ist.» (william james: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 27–28) Was die heilige Theresa angeht, so hat der italienische Bildhauer gian lorenzo bernini (1598 –1680) die berühmte Vision der Heiligen in der römischen Kirche S. Maria della Vittoria zwischen 1646– 52 mit allen Zügen und Symbolen sexueller Wollust (vgl. den Speer des frivol lächelnden Engels mit halbentblößter Brust) dargestellt, wie Abb. D 25 es zeigt. Die Frage scheint nicht leicht zu beantworten, was an solchen Erscheinungen für «religiös» gelten darf. Nach james sollte gewissermaßen der «gesunde Menschenverstand» anhand der psychischen Wirkungen, die ein religiöses Erlebnis bei der betreffenden Person selbst hinterläßt, darüber entscheiden können, was als «religiös» angesehen werden darf oder nicht; der Maßstab dafür läge in diesem Falle aber bedenklich weit von den Gründen entfernt, die in der Psyche des Einzelnen seine als religiös gedeuteten Haltungen und Erfahrungen ermöglichen würden. james verwies denn auch, wie zum Selbsteinwand, auf eine so sonderbare Gestalt wie george fox (1624 –1691), der als Schuhmacher und Laienprediger 1652 die Bewegung der Quäker ins Leben rief. Einerseits urteilte james darüber so: «In einer Zeit der Heuchelei war sie eine Religion der Wahrhaftigkeit, verwurzelt in geistlicher Innerlichkeit, sie war eine Rückkehr zu etwas, das der ursprünglichen Wahrheit des Evangeliums mehr glich, als die Menschen in England je gekannt hatten.» Andererseits stellte er fest, fox sei «in seiner nervösen Konstitution ein Psychopath oder détraqué (sc. frz.: übergeschnappt, verrückt, d. V.) von der übelsten Sorte» gewesen, und belegte diese Auffassung mit Zitaten aus fox’ Tagebuch, in dem dieser schildert, wie der Herr ihn aufforderte, sein Wehe «über die blutige Stadt Lichfield» auszurufen, weil dort, wie er später erkannte, «zur Zeit des Kaisers Diokletian tausend Christen . . . den Märtyrertod erlitten hatten». (william james: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 19 –20) Die Frage bleibt: Darf man wirklich als Religionspsychologe die Überspanntheiten, ja, Tollheiten im Erscheinungsbild einer Persönlichkeit neutralisieren, nur weil einem ihre weltanschaulichen Ansichten der Tendenz nach ganz vernünftig erscheinen? Muß man sich im Gegenteil nicht vielmehr fragen, in welchem Zusammenhang das eine mit dem anderen steht? – Zu welch erstaunlichen Ergebnissen man dabei gelangen kann, mögen beispielgebend zwei kleinere Studien sigmund freuds verdeutlichen. Unter der Überschrift Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert veröffentlichte freud im Jahre 1923 eine Untersuchung über die Geschichte des

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Abb. D 25: Ekstase der hl. Theresa

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Malers Christoph Haitzmann, der sich in einer Zeit der Verzagtheit dem Teufel verschrieben hatte und nun nach neun Jahren, zum Zeitpunkt der Einlösung seines Versprechens, von den Patres zu Mariazell eine Auflösung des Kontraktes erhoffte, was mit Hilfe von Exorzismen und durch den untrüglichen Beistand der Mutter Gottes denn auch gelang; doch wie war die Verschreibung von Leib und Seele an den Teufel überhaupt zustande gekommen und wie ließen sich die Visionen des teuflischen Drachens, die Krampfzustände und Lähmungen während der Erscheinungen und schließlich sogar die Heimsuchungen durch Christus und die heilige Jungfrau verständlich machen? In freuds Sicht war es entscheidend, daß der Teufel sich dem Maler näherte, als dieser «durch den Tod seines Vaters melancholisch geworden» war und nun «den Teufel zum Ersatz für den geliebten Vater» nahm. (sigmund freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, in: Gesammelte Werke, XIII 327) Möglich sei eine solche Ersetzung auf Grund der Ambivalenz des Vaterbildes. «Es ist möglich», meinte freud, «daß der Vater sich dem Wunsch des Sohnes, Maler zu werden, widersetzt hatte; dessen Unfähigkeit, seine Kunst nach dem Tode des Vaters auszuüben, wäre dann einerseits ein Ausdruck des bekannten ‹nachträglichen Gehorsams›, anderseits würde sie, die den Sohn zur Selbsterhaltung unfähig macht, die Sehnsucht nach dem Vater als Beschützer vor der Lebenssorge steigern müssen. Als nachträglicher Gehorsam wäre sie auch eine Äußerung der Reue und eine erfolgreiche Selbstbestrafung.» (sigmund freud: A. a. O., XIII 333 –334) Die Neunzahl der Jahre in dem Kontrakt setzte freud in Beziehung zu der Zahl der Schwangerschaftsmonate und sah darin eine «feminine Einstellung zum Vater» repräsentiert, «die in der Phantasie, ihm ein Kind zu gebären», gegipfelt haben könnte. (sigmund freud: A. a. O., XIII 336) Insbesondere die Teufelserscheinung selbst, die den Teufel mit Brüsten zeigte, wertete freud als Zeichen «einer Projektion der eigenen Weiblichkeit auf den Vaterersatz» oder «dafür, daß die infantile Zärtlichkeit von der Mutter her auf den Vater verschoben worden» sei. (sigmund freud: A. a. O., XIII 336– 337) So sei es «überaus verständlich», resümierte freud, «daß er (sc. der Maler Christoph Haitzmann, d. V.) sich um Hilfe und Rettung an das Bild der Mutter» wandte und erklärte, «daß nur die heilige Mutter Gottes von Mariazell ihn vom Pakt mit dem Teufel lösen kann», und daß er «am Geburtstag der Mutter (8. September) seine Freiheit wieder» erhielt. (sigmund freud: A. a. O., XIII 337) – Ein Ereignis also, das unter der Regentschaft von Papst johannes paul ii. und seinem heutigen Nachfolger benedikt xvi. (in seiner Eigenschaft damals als Präfekt der Glaubenskongregation) im Vatikan zweifellos als ein bedeutender Sieg der Macht Gottes und des Bei-

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standes der Mutter Maria zu feiern verdient haben würde, erweist sich in tiefenpsychologischer Sicht nicht sowohl als die Manifestation eines Eingreifens Gottes vermittelt durch die angemessenen kirchlichen Anrufungsformeln, sondern als die Beschreibung eines tragischen Selbstheilungsversuches im Status kindlicher Angst und Abhängigkeit von Vater und Mutter sowie schwerer Gefühlsambivalenzen und Projektionen. Was ist (heute noch!) Religion, was einfach Aberglaube, wenn nicht Psychose? Und wie sollte eine religiöse Institution (die römische Kirche), wie die säkulare Gesellschaft mit derlei psychopathologischen Phänomenen umgehen? Das zweite Fallbeispiel weist in die gleiche Fragerichtung. 1928 publizierte sigmund freud seine Replik auf den Brief eines amerikanischen Arztes, in dem dieser freud mitteilte, er sei bei dem Anblick einer alten Frau auf dem Seziertisch der Universität, als er ihr «so liebes, entzückendes Gesicht» betrachtete, von dem Gedanken ergriffen worden, daß, «wenn es einen Gott gäbe», er «nie gestattet haben (würde), daß eine so liebe alte Frau . . . in den Seziersaal kommt». Dann aber «sprach eine Stimme» in seiner Seele, er solle sich den Entschluß, «nicht wieder in eine Kirche zu gehen», noch einmal überlegen. In den nächsten Tagen nun, berichtete der Arzt, «machte Gott es meiner Seele klar, daß die Bibel Gottes Wort ist, daß alles, was über Jesus Christus gelehrt wird, wahr ist, und daß Jesus unsere einzige Hoffnung ist». (sigmund freud: Ein religiöses Erlebnis, in: Gesammelte Werke, XIV 393 –394) freud fand diese Bekehrung unter logischem Gesichtspunkt «besonders schlecht . . . begründet. Wie bekannt», schrieb er, «läßt Gott noch ganz andere Greuel geschehen, als daß die Leiche einer alten Frau mit sympathischen Gesichtszügen auf den Seziertisch gelegt wird.» (sigmund freud: A. a. O., XIV 394) Um so mehr sprächen die affektiven Motive seines amerikanischen Kollegen für sich selbst: «das Gesicht der Frauenleiche» werde ihn «an seine eigene Mutter erinnert» haben, und «die aus dem Ödipuskomplex stammende Muttersehnsucht» werde sich «durch die Empörung gegen den Vater vervollständigt» haben. «Vater und Gott», so freuds Urteil, «sind bei ihm (sc. dem amerikanischen Arzt, d. V.) noch nicht weit auseinandergerückt, der Wille zur Vernichtung des Vaters kann als Zweifel an der Existenz Gottes bewußt werden und sich als Entrüstung über die Mißhandlung des Mutterobjekts vor der Vernunft legitimieren wollen. Dem Kind gilt doch in typischer Weise als Mißhandlung, was der Vater im Sexualverkehr der Mutter antut . . . Der Konflikt scheint sich in der Form einer halluzinatorischen Psychose abgespielt zu haben, innere Stimmen werden laut, um vom Widerstand gegen Gott abzumahnen. Der Ausgang des Kampfes zeigt sich wiederum auf religiösem Gebiet; er ist der durch das Schicksal des

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Ödipuskomplexes vorherbestimmte: völlige Unterwerfung unter den Willen Gott-Vaters, der junge Mann ist gläubig geworden, er hat alles angenommen, was man ihn seit der Kindheit über Gott und Jesus Christus gelehrt hatte. Er hat ein religiöses Erlebnis gehabt, eine Bekehrung erfahren.» (sigmund freud: A. a. O., 395– 396) Nach den «Kriterien» von william james wäre gegen die «Bekehrung» dieses Arztes nicht unbedingt etwas einzuwenden, und zweifellos würde sein Bericht auch noch im Jahre 2007 in weiten Teilen der US-Bevölkerung als ein überwältigendes Glaubenszeugnis gewertet werden; wenn sich aber psychoanalytisch so offensichtlich zeigt, wieviel an infantiler Abhängigkeit eine religiöse Grundhaltung bedingen kann, ja, wie ein neuerwachter, subjektiv absolut überzeugender Gottesglauben sich erklärt aus schwersten Gefühlsambivalenzen, deren Auflösung nur durch die (vom Überich erzwungene) Unterwerfung unter die in den Himmel erhobene Vaterautorität gelingt, dann muß eine brauchbare Definition des Religiösen tiefer ansetzen als an der Übereinstimmung bestimmter Bekenntnisse eines Einzelnen mit den Lehrvorgaben einer bestimmten religiösen Bezugsgruppe; insbesondere die innere Fremdartigkeit einer religiösen Erfahrung, der Eindruck, «von außen» angesprochen, geführt, gelenkt worden zu sein (oder immer noch zu werden), darf dann gerade nicht als ein unverdächtiges Zeugnis für die göttliche (oder teuflische) Herkunft bestimmter Erlebnisse genommen werden, sondern sie muß ganz im Gegenteil als ein Ausdruck der inneren Entfremdung (der Dissoziation und Depersonalisation der Psyche) der betreffenden Person gewertet werden. Erst wenn wir freuds Religionskritik psychologisch prinzipiell ernst nehmen, gewinnen wir einen Maßstab, der in unseren Tagen bei der Entscheidung helfen kann, ob wir ein religiöses Erlebnis als solches akzeptieren sollten oder ob wir es als neurotisch beziehungsweise als psychotisch zu interpretieren haben: Dieser Maßstab kann nur darin liegen, ob eine geschilderte Erfahrung die Ganzwerdung, die Individuation, die Entstehung des «Selbst» – die Erlösung eines Menschen fördert oder ob sie den Abbruch eines solchen Prozesses der inneren Reifung und Heilwerdung beschreibt; da wir den Glauben an die Person Gottes all die Zeit schon mit dem zur Personwerdung unerläßlichen Erleben bedingungsloser Zuwendung und Bejahung verknüpft haben, können wir auch sagen, Spiritualität (individuell) oder Religiosität (kollektiv) basiere auf der Erfahrung (oder der Sehnsucht nach) einer Gnade, die es dem Einzelnen ermögliche, im Vertrauen auf ein absolutes Du sein eigenes Ich zu finden. Religionspsychologisch hat in diesem Zusammenhang carl gustav jung sich wohl am klarsten ausgesprochen, als er – sachlich in voller Übereinstim-

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mung mit der Grundposition paul tillichs! – schrieb: «Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert . . . Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als ‹Gott›, weil es immer der überwältigende psychische Faktor ist, der ‹Gott› genannt wird. Sobald ein Gott aufhört, ein überwältigender Faktor zu sein, wird er ein bloßer Name. Sein Wesentliches ist tot, und seine Macht ist dahin.» (carl gustav jung: Psychologie und Religion, in: Gesammelte Werke, XI 88) Diese Sätze könnte man noch so verstehen, als sei es «das Überwältigende» an sich, das, egal ob durch Aberglaube und Unkenntnis verursacht, ob drogeninduziert oder neurotisch bedingt, schon auf Grund seiner Macht als göttlich bezeichnet werden könne oder müsse; doch dem ist nicht so: Das, was im letzten «Macht» im Herzen eines Menschen besitzt, ist einzig das, was ihn als Person lebendig macht und leben läßt – das Gegenüber der Liebe einer anderen (absoluten) Person. Mit Recht fuhr jung deshalb – bezugnehmend auf die Interpretation von Mandalas – an gleicher Stelle fort: «Wenn man sich erlaubt, aus modernen Mandalas Schlüsse zu ziehen, sollte man die Menschen vielleicht erst fragen, ob sie Sterne, Sonnen, Blumen oder Schlangen verehren. Das werden sie aber verneinen und uns zu gleicher Zeit versichern, die Kugeln, Sterne, Kreuze und dergleichen seien Symbole für ein Zentrum in ihnen selbst. Und wenn man sie fragt, was sie mit diesem Zentrum meinen, so geraten sie in einige Verlegenheit und weisen auf diese oder jene Erfahrung hin, wie . . . ein Gefühl vollkommener Harmonie . . . Andere wieder gestehen, daß eine ähnliche Vision sie überkam in einem Augenblick größten Schmerzes oder tiefster Verzweiflung. Und für noch andere ist es eine Erinnerung an einen eindrucksvollen Traum oder an einen Augenblick, in dem lange und fruchtlose Kämpfe zu Ende gingen und Frieden in sie einzog. Wenn man zusammenfaßt, was die Menschen einem über ihre Erfahrung erzählen, so kann man es ungefähr so formulieren: Sie kamen zu sich selber, sie konnten sich selber annehmen, sie waren imstande, sich mit sich selbst zu versöhnen, und dadurch wurden sie auch mit widrigen Umständen und Ereignissen ausgesöhnt. Das ist fast das gleiche, was man früher mit den Worten ausdrückte: ‹Er hat seinen Frieden mit Gott gemacht, er hat seinen eigenen Willen zum Opfer gebracht, indem er sich dem Willen Gottes unterwarf.› – Ein modernes Mandala ist ein unwillkürliches Bekenntnis eines besonderen geistigen Zustandes. Es ist keine Gottheit in dem Mandala, und es ist auch keine Unterwerfung oder Versöhnung mit einer Gottheit angedeutet. Der Platz der Gottheit scheint durch die Ganzheit des Menschen eingenommen zu werden.» (carl gustav jung: A. a. O., XI 88– 89) Theologisch genauer müßte man an dieser Stelle sagen, die «Gottheit» schei-

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ne durch die Ganzheit des Menschen hindurch, sie bilde – mit ihrer «Gnade» – die Bedingung dafür, daß diese Ganzheit sich bilden könne; doch abgesehen von diesen sprachlichen Feinheiten darf das jungsche Kriterium des Religiösen als gültig betrachtet werden: Von Gott sollte nur die Rede sein im Zusammenhang mit der Ganzwerdung des Menschen; alles, was damit nichts zu tun hat oder was ihr sogar im Wege steht, indem es die Abspaltung fördert und die Fehlidentifikation mit bloßen Fragmenten der Person geradewegs fordert, kann und darf nicht Gott heißen. Es ist klar, daß wir mit einem solchen Religionsbegriff keinen Anspruch darauf erheben können noch wollen, den verschiedenen Erscheinungsformen des Religiösen in der Kulturgeschichte der Menschheit gerecht zu werden, sondern lediglich für den weiteren Fortgang unserer Untersuchungen eine Arbeitsdefinition vorschlagen, von der uns bewußt ist, daß sie sich als normativ wohl nur aus christlicher Überlieferung ergibt und verständlich machen läßt, und auch das nur, wenn man wesentlich die letzten 200 Jahre der Religionskritik in Philosophie, Naturwissenschaft und Psychologie mitberücksichtigt. (Vgl. die kulturhistorische Relativierung des Person-Begriffs bei marcel mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des «Ich», in: M. Mauss: Soziologie und Anthropologie, II 225.) Doch ein solches Vorgehen ist unvermeidlich, wenn wir den Begriff der Religion bzw. den Glauben an Gott nicht von vornherein wieder all den Verwechslungen des Göttlichen mit bestimmten Erscheinungen der äußeren wie der inneren Natur aussetzen wollen, an denen sich nur allzu berechtigt jene Kritik entzündete; freilich, dieser Prozeß der geistigen Entwicklung hat dazu geführt, «daß unser Begriff ‹Religion› eine spezifisch neuzeitlich-europäische Größe darstellt, die in der uns geläufigen Form weder in außereuropäischen Kulturen noch im europäischen Mittelalter oder in der klassischen Antike eine genaue Entsprechung findet», wie der Erforscher der keltischen Kultur bernhard maier (Stonehenge, 45) sehr richtig feststellt. «Bezeichnenderweise», fährt er fort, «teilen selbst zwei historisch und strukturell so nah miteinander verwandte Religionen wie das Christentum und der Islam zwar eine ganze Reihe von Glaubensvorstellungen und Einrichtungen des religiösen Lebens, nicht aber den Begriff der Religion und die hierzulande geläufige Gegenüberstellung der Begriffe ‹religiös› und ‹profan›.» Insbesondere dürfte es richtig sein, in weiter zurückliegenden Zeiten (zum Beispiel in der Jungsteinzeit und der frühen Bronzezeit um 4000– 2300 v. u. Z.) «vom kollektiven Charakter der Religion auszugehen. Inwiefern religiöse Riten in jener Zeit zur Sache des einzelnen werden konnten, entzieht sich zwar unserer

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Kenntnis, doch spricht die archäologische Hinterlassenschaft – Gräber, Kultund Opferplätze – eindeutig für den Gemeinschaftscharakter vieler religiös motivierter Handlungen. Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen und religionsethnologischen Forschung, denen zufolge die Religion der frühgeschichtlichen Völker nicht zuletzt der Manifestation – und Stärkung – der Gruppensolidarität diente. Fernab vom Individualismus und von der Beliebigkeit religiöser Wahlentscheidungen in weiten Kreisen der europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts übernahm der einzelne die Religion seiner Gesellschaft, ohne sie zu hinterfragen. Dem Fehlen jeglicher Entscheidungsmöglichkeiten und weltanschaulicher Alternativen entsprechend dürfte die persönliche Überzeugung dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. In frühgeschichtlicher Zeit immer wieder zu beobachten und daher wohl auch für die Vorgeschichte vorauszusetzen ist demgegenüber die Tendenz der Gruppe, die religiöse Solidarität des einzelnen auch gegen dessen persönliche Überzeugung einzufordern: Wer sich gegen die Götter der Kultgemeinschaft stellt, stellt sich gegen die Gemeinschaft selber.» (bernhard maier: Stonehenge, 49 –50) Gegenüber dieser – in unseren Augen höchst bedenklichen – Identifikation von Gott und Gesellschaft, von Religion und (Kirchen)Staat hat die prophetische Tradition der Bibel und insbesondere das Vorbild Jesu einen Religionstyp eingefordert oder heraufgeführt, der das Individuum zu dem maßgebenden Ort der Verkündigung des «Wortes» Gottes erhebt – und sei es in einem Widerspruch auf Leben und Tod gegen die Tradition und Konvention der etablierten Institution; damit wurde zugleich ein Menschenbild verbindlich, innerhalb dessen Gottfindung und Selbstfindung untrennbar miteinander verbunden sind. «Selbstfindung» als das Erreichen der Einheit der bewußten wie unbewußten psychischen Inhalte im Sinne carl gustav jungs ist gewiß selbst wieder ein idealtypischer Begriff, er besitzt aber nichts desto weniger eine humane Verbindlichkeit und erlaubt es, die Geschichte des religiösen Bewußtseins in etwa so nachzuzeichnen, wie jung es getan hat: «Zuerst», meinte er, «in fernen Zeiten (was jedoch noch an heute lebenden Primitiven beobachtet werden kann), lag der Hauptteil des psychischen Lebens anscheinend außen in menschlichen und nichtmenschlichen Objekten: er war projiziert . . . In einem Zustand mehr oder weniger vollkommener Projektion kann es kaum ein Bewußtsein geben. Durch das Zurückziehen der Projektionen entwickelte sich langsam die bewußte Erkenntnis. Die Wissenschaft begann merkwürdigerweise mit der Entdeckung astronomischer Gesetze, also mit der Zurückziehung der quasi fernsten Projektion. Das war eine erste Phase in der Entseelung der Welt. Ein

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Schritt folgte dem anderen: schon in der Antike wurden die Götter aus den Bergen und Flüssen, aus den Bäumen und Tieren entrückt. Unsere moderne Wissenschaft hat ihre Projektionen zwar bis zu einem fast unerkennbaren Grade verfeinert, aber unser tagtägliches Leben wimmelt noch von Projektionen. Sie machen sich breit in Zeitungen, Büchern, Gerüchten und gewöhnlichem, gesellschaftlichem Klatsch. Alle Lücken, wo wirkliches Wissen fehlt, werden immer noch mit Projektionen ausgefüllt . . . Wir müssen immer noch äußerst vorsichtig sein, um nicht unseren eigenen Schatten allzu schamlos zu projizieren, und sind immer noch überschwemmt von projizierten Illusionen. Wenn man sich jemanden vorstellt, der tapfer genug ist, diese Projektionen allesamt zurückzuziehen, dann ergibt sich ein Individuum, das sich eines beträchtlichen Schattens bewußt ist . . . Er (sc. ein solcher Mensch, d. V.) ist sich selbst eine ernste Aufgabe geworden, da er jetzt nicht mehr sagen kann, daß die Anderen dies oder jenes tun, daß sie im Fehler sind, und daß man gegen sie kämpfen muß. Er lebt in dem ‹Hause der Selbstbesinnung›, der inneren Sammlung. Solch ein Mensch weiß, daß, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selber ist, und wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan.» (carl gustav jung: Psychologie und Religion, in: Gesammelte Werke, XI 90– 91) So betrachtet, besitzt die Religionsgeschichte der Menschheit eine innere Achse, die man als fortschreitende Rücknahme von Projektionen bezeichnen kann; ineins damit wird der Religion die Aufgabe zugewiesen, den Prozeß der Individuation zu begleiten und zu unterstützen: Die Religion muß dazu den Ort eines Verstehens und einer Nicht-Verurteilung erschließen, an dem es allererst möglich wird, sich selbst in Wahrheit zu begegnen. In Fortführung der psychoanalytischen Aufklärungsarbeit kann die moderne Neurologie der Theologie bei dieser Aufgabe unschätzbare Dienste leisten, indem sie die psychopathologischen Züge religiös sich darbietender Bewußtseinszustände zu erklären und damit die Nischen des Unbekannten, des immer noch Projektiven abzubauen hilft. Allerdings dürfen Neurologen nicht selber den Fehler begehen, bloße Teilfunktionen oder krankheitsbedingte Einschränkungen der Hirntätigkeit als neuronale Korrelate von «Religion» zu deuten oder gar mit «Religion» zu verwechseln. Sprechen wir im folgenden also über . . .

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II. Neurologische Erklärungsansätze oder: Von schizophrenen, epileptiformen und meditativen Bewußtseinszuständen und ihrer möglichen Wahrheit Die Schwierigkeiten beginnen damit, daß nicht nur die Projektionen an sich gesunder psychischer Inhalte in die (noch) unbekannten Zusammenhänge des Naturgeschehens zu religiösen (als göttlich gegebenen) Interpretationen und Handlungsanweisungen führen können, deren abergläubischer, ja, wahnhafter Charakter in den Augen einer anderen («fortgeschritteneren») Kultur offen zutage liegt; auch eine Fülle neurotischer und psychotischer Phänomene wurden in der Religionsgeschichte als unbezweifelbare Manifestationen aus der Sphäre des Göttlichen geglaubt und bis in die Gegenwart hinein zu Dogmen erhoben. Es ist deshalb kein Wunder, wenn nicht wenige Psychoanalytiker, Psychiater und Neurologen geneigt sind, die Religion insgesamt für einen krankhaften Zustand des menschlichen Bewußtseins zu erklären, begründet vor allem in der Unkenntnis der äußeren wie der inneren Natur. Entsprechend unseren Darlegungen müssen wir sagen: Keine Erscheinung Gottes, der Dreifaltigkeit, des gekreuzigten Christus, der Mutter Gottes, des Erzengels Michael, der heiligen Katharina oder des Teufels beziehungsweise irgendeines seiner namhaften Vertreter zeigt dem menschlichen Bewußtsein etwas anderes als ein selbstgeschaffenes Konstrukt des Gehirns, – nichts, was als «objektiv» göttlich beglaubigt wäre; das Göttliche – wir wiederholen uns – ist niemals objektiv; es kann nur als ein umgreifendes Subjekt im Hintergrund aller möglichen Erscheinungen geglaubt werden, und zwar nur dann, wenn diese Erscheinungen als symbolische Meilensteine des Integrationsprozesses einer Person gesehen werden; auch ein Urteil darüber wird im Einzelfall schwerfallen und von einer Reihe kultureller und geschichtlicher Bedingtheiten abhängen, doch gerade deshalb sollten wir grundsätzlich darauf bestehen, mit theologisch und neurologisch klaren Begriffen zu arbeiten, wobei es unter den gegebenen Umständen an der Neurologie ist, den letzten Rest eines fetischähnlich verobjektivierten Gottesbildes und eines magisch ritualisierten Gottesdienstes notfalls gegen den Widerstand beamteter Kirchentheologen auszumerzen. Wenn wir die Liste psychopathologischer Phänomene durchgehen, die in Vergangenheit und Gegenwart als göttliche Eingebungen geglaubt und kirchenamtlich als Offenbarungen Gottes dogmatisiert wurden, so handelt es sich vor allem um schizophrene und epileptiforme Krankheitsbilder, die auch ohne Einnahme von psychedelischen Drogen und deren aufgezeigten Wirkungswei-

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sen (vgl. Bd. I 553– 560) mit «transzendenten» Bewußtseinszuständen einhergehen; die Vermutung liegt natürlich nahe, daß es hier wie dort die gleichen Neurotransmittersysteme und die gleichen Hirnstrukturen sein werden, die zu den nämlichen Erscheinungen beitragen. In der Tat sahen wir, daß Halluzinationen (Auditionen, Visionen, Geschmacks- und Geruchstäuschungen sowie Trugwahrnehmungen der Körperempfindungen) zu den «positiven» Symptomen des schizophrenen Erlebens zählen (vgl. Abb. C 16); ausführlich haben wir – entsprechend der D2-Hypothese (s. o. S. 220; 223) – geschildert, wie die Überaktivität eines einzigen Neuromodulators, des Dopamin, imstande ist, schizophrene Bewußtseinszustände herbeizuführen; zusätzlich besprachen wir, wie ein NA-Ausstoß in Streßsituationen die bewußten Integrationsprozesse im präfrontalen Cortex zugunsten eines schnellen (analogen) Verarbeitungsmodus abschalten kann (s. o. S. 226 – 227). Wo aber die Grundvorgänge zur Bildung eines kohärenten Bewußtseins und Selbstbewußtseins gestört sind, kann es die Vorstellung eines «ich denke» nicht mehr geben, die eine geordnete Wahrnehmung und deren Interpretation zu begleiten pflegt; in einem solchen Bewußtseinszustand (in Müdigkeit, Traum, unter Drogeneinfluß, bei Schock und traumatischem Erleben, in Zuständen starker emotionaler Erregung) können die eigenen Gedanken und Vorstellungen als fremde Eingebungen auftreten, ja, als Geister in verselbständigten Szenenabfolgen sich zur Sprache bringen und ichfremde Botschaften vermitteln, die den Komplexbildungen des mit sich zerfallenden Ich (seinen Wünschen und seinen Ängsten) Ausdruck verleihen; da vom Ich nicht mehr gesteuert, werden derlei Erscheinungen als «von außen kommend», mithin als «objektiv» erlebt, obwohl sie doch ganz und gar der Psyche des Subjekts zugehören. Gerade diese Einsicht ist für die Therapie von Schizophrenen unter Umständen sehr wichtig, denn man begreift, wie fatal es sein muß, wenn theologisch akkreditierte Kreise dem Weltbild des Kranken förmlich Vorschub leisten, indem sie auf einer veräußerlichten, das Ich entfremdenden Darstellung des Göttlichen beharren (konkret zum Beispiel, indem sie Symbole behandeln als Begriffe). (Vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 473 –485.) Psychodynamisch sahen wir zudem, wie bei depressiven und schizophrenen Gemüts- und Bewußtseinszuständen die Grenzen zwischen Ich und Es sowie zwischen Ich und Überich sich so weit auflösen oder verfestigen können, daß gewisse Triebregungen auf dem Boden des Ich ein Eigenleben zu entfalten beginnen oder daß bestimmte religiöse oder moralische Dressate sich der Ichkontrolle entziehen; auch die pathogenen Folgen einer rigiden und repressiven Er-

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Abb. D 26: Gehirnregionen, die an «religiösen» Erlebnissen beteiligt sind

ziehung und Indoktrination, die eine ruhige Entfaltung des Individuums nicht zulassen, sollten den zuständigen Instanzen und Institutionen in Staat und Kirche mit allem Nachdruck zurückgemeldet werden. Schauen wir uns einmal diejenigen Gehirnregionen an, deren Aktivitäten an jenen Erscheinungen und Erlebnissen beteiligt sind, die religionsgeschichtlich dann als Manifestationen des Göttlichen gedeutet wurden und werden, so bietet sich der schematische Überblick in Abb. D 26 an. In diesem Schema begegnen wir lauter «alten Bekannten», vornean den Strukturen des limbischen Systems, als da sind der Hippocampus und die Amygdala, die für das Gedächtnis und für die Verarbeitung von Angsterlebnissen (für die «emotionale Bedeutung») zuständig sind, sowie der Gyrus cinguli, der (insbesondere im anterioren Teil) die gefühlsmäßige Bewertung von inneren und äußeren Informationen vornimmt; außerdem ist der Hypothalamus von Bedeutung, dessen Mamillarkörper ebenfalls zum limbischen System zählen (vgl. Bd. I 107–108). Daß wir unter dem Druck starker Gefühle unsere Ge-

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danken verändern, aber auch durch veränderte Gedanken unsere Gefühle steuern können, ist eine Tatsache, die wir oft genug bereits betont haben und die jedem Leser aus eigener Erfahrung geläufig sein wird. (Vgl. Bd. I 116.) Insofern erwarten wir gar nichts anderes, als daß die «Rationalisierung» von Erlebnissen im präfrontalen Cortex eine entscheidende Rolle dafür spielen wird, ob ein Ereignis von dem Betreffenden als «religiös» interpretiert wird oder nicht; daran beteiligt sind also auch – vgl. Abb. B 94; Bd. I 118; 161–163; 168 – Areale im dorsolateralen frontalen Cortex. Daß bestimmte Sinneseindrücke als ichfremd erlebt werden, wenn im somatosensorischen Cortex des Scheitellappens (zum Beispiel bei Unterversorgung mit Sauerstoff) die Körperwahrnehmung gestört ist, versteht sich ebenfalls von selbst; visuelle Halluzinationen können schon bei Reizung der primären Sehrinde (V 1, Area striata) auftreten, zeigen sich im schizophrenen Erleben vor allem aber bei Erregung derjenigen Areale, die für die Farb- und Bewegungswahrnehmung zuständig sind (V 4 und V 5; vgl. Abb. B 43). Gehörhalluzinationen haben wir bereits mit der heschlschen Windung (der vordersten Querwindung des Gyrus temporalis superior) in Zusammenhang gebracht; sie ist in dem Schema nicht eingetragen. Der Gyrus angularis, den wir als Schaltstelle zwischen visuellem und sprachlichem Cortex kennengelernt haben, integriert generell «visuelle Information vom eigenen Körper und dessen Repräsentation im Raum durch die Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan und den sensorischen Feedbacks der Gliedmaßen». Doch diese Integrationsleistung kann bei zu hoher Erregung die sonderbarsten Erscheinungen annehmen. «Stromstöße von 2 bis 3 Milliampere induzieren bereits skurrile Empfindungen, beispielsweise ein Gefühl des Ins-Bett-Sinkens oder Aus-der-Höhe-Fallens. Bei 3,5 Milliampere sieht sich die Person von oben im Bett liegen, bei 4,5 bis 5 scheinen sich Beine oder Arme aufs Gesicht zuzubewegen.» (rüdiger vaas: Hotline vom Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 35) In dem Schema von Abb. D 26 ist der Gyrus angularis daher als Sitz von außerkörperlichen Erfahrungen gekennzeichnet, die in der «mystischen» Literatur oder im Zusammenhang mit narkotischen Zuständen vielfach als Levitationserlebnisse (als «Schweben», von lat.: die levitas – Leichtigkeit) beschrieben werden. Dasjenige Hirngebiet, das neurologisch mit gewissen als «religiös» (miß)gedeuteten Erfahrungen an erster Stelle in Verbindung gebracht wird, ist der Schläfenlappen, dessen ventralen Teil manche Forscher sogar als «Gott-Modul» bezeichnen. Der Grund dafür ist die Tatsache, daß überwältigende Erlebnisse bedeutender religiöser und politischer Führerpersönlichkeiten der Kulturgeschichte sich allem Anschein nach während eines epileptischen Anfalls ereig-

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net haben und daß der morbus sacer (lat.: die heilige – oder verfluchte! – Krankheit; die Epilepsie) seit alters her, schon wegen der Plötzlichkeit und Unheimlichkeit seines Auftretens, als ein Ergriffenwerden durch Götter und Geister verstanden wurde. Die Tiefenpsychologie griff im 20. Jh. diese auffällige Nähe der Epilepsie zur Religion auf, vor allem indem der schweizer Tiefenpsychologe leopold szondi (1893 –1986) neben den Sexual- und Ich-Trieben der Psychoanalyse freuds einen eigenen Paroxysmaltrieb P, einen «Überraschungstrieb» (von griech.: der paroxysmós – Anreizung, Erbitterung) postulierte, den er als die Triebgrundlage des ethisch-moralischen Verhaltens betrachtete und den er zugleich für die anfallartige Steigerung von Krankheitssymptomen in Fieber-, Epilepsie-, Hysterie- oder Tachycardie-Anfällen verantwortlich machte. szondi ordnete der mit diesem Trieb verbundenen Neigung, einen Gegner durch Überraschung unschädlich zu machen, zwei Faktoren zu: den epileptiformen Faktor e sowie den hysteriformen Faktor hy. Den epileptiformen Charakter kennzeichnete er dadurch, daß er die groben Affektkräfte (Wut, Haß, Zorn, Rache, Neid, Eifersucht) aufstaue, um sie dann anfallartig zu entladen, während die hysteriforme Persönlichkeit die feineren Affekte (z. B. die Schamschranken) aufbaue und durchbreche. Das Triebziel beider Faktoren sei es, «die Person durch Überraschungsbewegungen . . . vor äußeren und inneren Gefahren zu schützen». «Im Wesen», schrieb szondi, «bedingt der Faktor e sowohl alle grob-affektiven Taten des Bösen, des Mannes ‹Kain›, wie auch alle ethischen Handlungen des Guten, des Gerechten, des Mannes ‹Mose›, der dem Volke Verbote gegen das Töten und Gebote für das Gute bringt. Mose ist der abelisierte Kain.» «Der Triebfaktor, . . . der die erwürgende Hand ‹Kains› – an Stelle des Bruders – auf die eigenen Gefäße des Gehirns, des Herzens, der Gedärme und der Extremitäten legt und somit den Menschen in einen Anfallskranken, ‹homo paraxysmalis›, verwandelt, der – an Stelle des Feindes, den er blau schlagen möchte –, seine eigene Haut mit ‹Ausschlägen› belegt, der die Zunge des Menschen im Sprechen bis zum Stottern hemmt, der die grauenhaften Ängste der Nacht und des Tages erregt, dieser furchterregende Faktor ist: der Faktor e. – Andererseits ist aber derselbe Faktor e diejenige Instanz, die im Menschen das Gewissen weckt, Verbote gegen Ungeduld und Totschlagen, Gebote für das ethische Verhalten der Menschheit bringt, die den Mann ‹Kain› – der ewiglich in uns haust – zu Geduld und Gerechtigkeit, zu Frömmigkeit und Wohlfahrt bewegt, die die Kranken heilt und die Religionen stiftet. – Nichts gibt es in der Welt im Tun des Bösen und des Guten, in Gewissenlosigkeit und Gewissenhaftigkeit, im Handeln mit Ungeduld und Geduld, in Gesetzlosigkeit, Gesetzgebung und Gesetzmäßigkeit, in Überschwemmung von Affekten und im Frei-

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sein von allen groben Gemütswallungen, im Schlagen und Heilen von Wunden ohne den Faktor e.» (leopold szondi: Lehrbuch der experimentellen Triebdiagnostik, Bd. 1, S. 102; 103) Es muß an dieser Stelle nicht diskutiert werden, auf welch tönernen Füßen die Triebtheorie szondis stand – sie war noch weit spekulativer als die Theoriebildungen freuds –; gleichwohl stellte die Polarität von «Kain» und «Mose» in seinem tiefenpsychologischen Konzept den ersten und bestdurchdachten Hinweis auf den (möglichen) Zusammenhang von Epilepsie und Religion dar. In gewissem Sinne folgte szondis Gedankengang dabei dem Vorbild eines Aufsatzes von sigmund freud aus dem Jahre 1928 unter dem Titel Dostojewski und die Vatertötung (in: Gesammelte Werke, XIV 399 –418). Darin hatte freud die Auffassung vertreten, daß die «Hysterolepsie» des russischen Dichters sich aus den Aggressionen und Todeswünschen gegen seinen Vater erklären lasse (a. a. O., XIV 402); es handle sich um «eine vom Über-Ich strafweise zugelassene Vateridentifizierung des Ichs. Du hast den Vater töten wollen, um selbst der Vater zu sein. Nun bist du der Vater, aber der tote Vater; der gewöhnliche Mechanismus hysterischer Symptome. Und dabei: jetzt tötet dich der Vater. Für das Ich ist das Todessymptom Phantasiebefriedigung des männlichen Wunsches und gleichzeitig masochistische Befriedigung; für das Über-Ich Strafbefriedigung, also sadistische Befriedigung. Beide, Ich und Über-Ich, spielen die Vaterrolle weiter.» (sigmund freud: A. a. O., XIV 409) Von daher erkläre sich dostojewskis Unterwerfung unter die staatliche Autorität (den Zaren) und Gott (Christus). (Vgl. sigmund freud: A. a. O., XIV 411) Doch während in freuds Erklärung die Epilepsie als eine vom Überich erzwungene Autoaggression sich aus einem individuellen Triebschicksal (einer speziellen Variante des Ödipuskomplexes) ergab, gewann die Krankheit bei szondi den Charakter einer allgemein menschlichen Problematik. Schon den Namen «Epilepsie» verstand szondi als «ein Urwort mit Gegensinn», kann doch das griechische Verb epilambánein die Bedeutung: «etwas feindlich angreifen», aber auch: «überraschen» und: «zurückhalten», «hemmen» annehmen. Das Wort «Epilepsie» bedeutet daher nach szondi «einerseits das Angreifen und Überraschen des Feindes, andererseits aber auch das Zurückhalten und Hemmen jeglicher Feindseligkeit». (leopold szondi: Lehrbuch der experimentellen Triebdiagnostik, I 103) Tatsächlich spricht zugunsten von szondis Interpretation der Epilepsie und ihres Zusammenhangs mit religiösen Erlebnissen die Tatsache, daß man in der Psychiatrie «eine bestimmte Form der Epilepsie häufig mit extremen religiösen Ausrichtungen» in Verbindung bringt und dabei geradewegs von einer «Schlä-

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fenlappen-Persönlichkeit» spricht. (Vgl. vilaynur s. ramachandran – sandra blakeslee: Die blinde Frau, die sehen kann, 291.) Der Grund: Während bei einer Grand-mal-Epilepsie (einer Epilepsie mit einem «großen Anfall», von franz.: großes Übel) die gesamte Großhirnrinde «vorübergehend unkontrolliert überaktiv» ist, bleiben die Anfälle bei einer Herd-Epilepsie (einer sog. fokalen Epilepsie, von lat.: der focus – Herd, Brennpunkt, vgl. Bd. I 354) «auf relativ kleine Hirnregionen im Schläfenlappen beschränkt, besonders in der linken Hirnhälfte». Solche «Anfälle gehen oft, wenn auch nicht immer, einher mit einem Erlebnis göttlicher Gegenwart, dem Eindruck, ‹in Flammen zu stehen› oder in direkter Kommunikation mit Gott zu sein. Die Gefühle reichen von der tiefsten Verzweiflung bis zur höchsten Ekstase. – Ein gesteigertes Gefühlsleben ist ein charakteristisches Merkmal der Schläfenlappen-Persönlichkeit. Dabei kommt es zu dauerhaften Charakterveränderungen, die oft mit Humorlosigkeit, extremer Selbsterhöhung, Hypergraphie (zwanghaftem Schreiben) und Hypersexualität einhergehen. Solche Menschen erblicken überall kosmische Bedeutungshaftigkeiten, selbst in scheinbar trivialen Ereignissen.» (rüdiger vaas: Hotline zum Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 30) Insbesondere der Neuropsychologe vilaynur s. ramachandran glaubt, daß eine bestimmte Region im unteren Temporallappen funktional als Ort der Gotteserfahrung, als Gott-Modul, aufgefaßt werden könne, und zwar dort, wo wir das Sinnverständnis für Geräusche und Musik lokalisiert finden, im brodmann-Areal 20 (vgl. Abb. A 34). An dieser These scheint etwas Richtiges zu sein. Natürlich leuchtet es sogleich ein, daß eine epileptisch bedingte Übererregung bestimmter Zentren des Gehirns zu entsprechenden halluzinatorischen Wahrnehmungen führen wird, und es ist nur allzu gut verständlich, daß solche Erlebnisse bis in die Gegenwart hinein als Einbrüche göttlicher Erscheinungen und Mitteilungen gedeutet wurden. Um der Sache nachzugehen, untersuchte ramachandran (mittels Messung der galvanischen Hautreaktionen) die emotionale Verarbeitung visueller Reize bei Temporallappen-Epileptikern und fand etwas Erstaunliches. Entsprechend der psychodynamischen Erklärung der «Hysteroepilepsie» sowie der Vorstellung vom kindling (engl.: Anfachen) sollte zu erwarten sein, daß bei einer Temporallappen-Epilepsie unterschiedslos alle Emotionen durch die Amygdala intensiviert würden; ramachandran aber fand, daß «es keine allgemeine Verstärkung der Verbindungen gibt», sondern «eine selektive Intensivierung der Reaktion auf religiöse Wörter (sc. und Symbole, d. V.) zu beobachten» ist. (vilaynur s. ramachandran – sandra blakeslee: Die blinde Frau, die sehen kann, 301–302) «Ihre (sc. der Temporallappen-Epileptiker, d. V.) Reaktionen auf andere Kategorien, einschließlich der sexuellen Wörter und Bil-

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der, die gewöhnlich eine heftige Reaktion auslösen, fiel ungewöhnlich gedämpft im Vergleich zu den Reaktionen normaler Versuchspersonen aus.» (vilaynur s. ramachandran – sandra blakeslee: A. a. O., 301; vgl. auch 300 –302.) Auf die Bedeutung des Temporallappens aufmerksam wurde auch michael persinger, als er mit Hilfe von Magnetstimulationen religiöse Erfahrungen zu induzieren versuchte. persinger leitete horizontal durch das Gehirn («transcerebral») schwache Magnetfelder (von 1–5 Mikrotesla), die komplexe Muster aufwiesen, wie man sie nach EEG-Messungen für «wirksam» halten konnte; von über 1000 Versuchspersonen, die 30 Minuten lang und mehr dem Einfluß der Magnetfelder ausgesetzt waren, berichteten ca. 80% von eigentümlichen Empfindungen, die sie religiös deuteten: sie fühlten sich in einen Schwebezustand versetzt, vernahmen innere Stimmen oder spürten ein fremdes Ego (Gott, einen Schutzengel) – sie erlebten eine «gefühlte Präsenz», wie persinger diesen Eindruck bezeichnete; Frauen berichteten übrigens häufiger von einer solchen Anwesenheit als Männer, bei denen wiederum die «Botschaften» öfter vorkamen. Anscheinend erzeugen die Magnetfelder eine Überaktivität im Temporallappen; aber auch Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Unterzuckerung, Angstzustände und Depressionen können ähnliche Erscheinungen hervorrufen, vielleicht infolge einer Beeinträchtigung von Amygdala und Hippocampus oder auch einer Asymmetrie in den Aktivitäten der beiden Hirnhälften; mit der letzteren Annahme ließen sich die Unterschiede in den Erfahrungen von Männern und Frauen erklären. (Vgl. rüdiger vaas: Hotline zum Himmel, in: Bilder der Wissenschaft, 7/2005, 33; ulrich kraft: Wo Gott wohnt, in: Gehirn und Geist, Dossier: Angriff auf das Menschenbild, 1/2003, 8) Rechnen muß man auf Grund solcher Versuche jedenfalls damit, daß auch außerhalb des Labors derartige Zustände möglich sind, etwa wenn infolge von Erdbeben das Magnetfeld sich ändert. Dabei gesagt werden sollte freilich, daß bei Doppelblindstudien, die der Schwede pehr granqvist durchführte, persingers Ergebnisse sich nicht bestätigen ließen: in Uppsala wurden 43 Personen einem Magnetfeld von 2–7 Mikrotesla ausgesetzt, bei 46 Personen wurde kein Magnetfeld angelegt, ohne daß die Testpersonen oder die Experimentatoren davon wußten; gleichwohl berichteten auch zwei Drittel der Kontrollgruppe von religiösen Erlebnissen. Offenbar wirkte die Erwartung, etwas Bestimmtes zu erfahren, stärker als das Magnetfeld. – persinger allerdings verwahrt sich gegen diese Kritik: seine Versuchsanordnungen seien nicht exakt nachgestellt worden, und vor allem erzählten nicht-religiöse Probanden ebenfalls von den genannten Erlebnissen, wenn sie diesen auch keine spirituelle Bedeutung beimäßen. (rüdiger vaas: A. a. O., 34)

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Doch wie dem nun sei, – daß gerade der Temporallappen eine wichtige Rolle bei Erfahrungen spielen wird, die religiös gedeutet wurden und werden, kann uns nicht sonderlich überraschen, haben wir doch anläßlich der Neurologie des Träumens schon die okzipito-temporo-parietale Übergangsregion sowie den ventromedialen Frontalhirnbereich als die Stellen der cerebralen Repräsentation des Traumprozesses kennengelernt. (Vgl. Bd. I 355.) Wegen der Nähe religiöser Offenbarungserlebnisse zu Träumen ist es angezeigt, uns im einzelnen zu erinnern: Eine Läsion des ventromedialen Bereichs des Okzipital- und Temporallappens bewirkt, daß in den an sich «normalen» Träumen die bildhafte Vorstellung oder bestimmte bildhafte Teilaspekte verlorengehen, also die Fähigkeit, visuelle Informationen (Gesichter, Farben, Bewegungen) zu erkennen und konkret abzubilden. Daraus haben wir seinerzeit schon geschlossen, daß gerade der ventromediale Bereich des Okzipital- und Temporallappens zu der visuell-halluzinatorischen Funktion des Träumens beiträgt und die mit ihm verbundene «visuelle Musteraktivierung» geradezu eine Vorbedingung des Träumens darstellt. (Vgl. Bd. I 353 –354.) Eine Läsion der temporalen Anteile des limbischen Systems führt zu immer wiederkehrenden, stereotypen Albträumen, wie sie auch bei einer fokalen Temporallappen-Epilepsie auftreten, während der diese stereotypen Traumsequenzen den Patienten auch im Wachzustand in Gestalt epileptiformer Auren oder Anfälle begegnen. (Vgl. Bd. I 354.) Eine Entfernung des rechten Temporallappens hebt die Fähigkeit zum Träumen insgesamt auf. (Vgl. rüdiger vaas: Hotline zum Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 34.) Nimmt man hinzu, daß gerade der Temporallappen nebst den zugeordneten limbischen Strukturen auch bei sexueller Erregung sowie bei heftigen Gefühlen von Angst und Wut eine zentrale Funktion besitzt, so erscheinen diese neurologischen Befunde wie eine Bestätigung jener psychoanalytischen Theorien, wonach religiöse Erfahrungen unter anderem die Folge sexueller Erregungszustände sein könnten, die infolge von Verdrängungsvorgängen sich zu anfallartigen aggressiven Reaktionen aufstauen. Ganz wesentlich für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit religiöser Erscheinungserlebnisse ist die Fähigkeit, zwischen Realität und Traum unterscheiden zu können, und gerade diese wird – so hörten wir weiter (vgl. Bd. I 354) – durch Schädigungen im frontalen Anteil des limbischen Systems zerstört, – was uns bei unseren jetzigen Untersuchungen natürlich zu höchster Vorsicht gemahnen muß. Auch auf die Bedeutung des Parietallappens für religiöse Offenbarungser-

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fahrungen sind wir von seiten der Traumforschung vorbereitet. Eine Läsion des linken inferioren Parietallappens zeigte uns seine Funktion, die verschiedenen Informationen aus Geräuschen, Gerüchen, Farben und Gestalten zu einem räumlich simultanen Begriff («da ist eine Katze») zu integrieren – eine Funktion, die für das Träumen unerläßlich ist. Eine Läsion des rechten inferioren Parietallappens stört das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis, ohne das ein Traumvorgang ebenfalls nicht möglich ist. (Vgl. Bd. I 353.) Und nun scheint es, daß gerade die Assoziationsareale des Parietallappens an den «mystischen» Erfahrungen der religiösen Erlebnisse beteiligt sind; diese mystischen Komponenten bilden einen sozusagen interkulturellen Einheitskern in den Überlieferungen aller Religionen und weisen eben keine gegenständlich wahrnehmbaren Inhalte (also keine Visionen, Auditionen u.ä.) mehr auf, – was die Beteiligung des Parietallappens als des Integrationszentrums interner wie externer Reize erklärt. Im posterioren superioren Parietallappen (vgl. Abb. A 4) – so müssen wir jetzt lernen – befindet sich das sogenannte Orientierungs-Assoziations-Areal (OAA), das ebenfalls multimodale Informationen integriert und dem vor allem die Aufgabe zukommt, die Grenze zwischen Körperich und Außenwelt festzulegen (vgl. Abb. D 26); dabei entscheidet das OAA in der linken Hirnhälfte vorwiegend über die physische Körpergrenze, während das OAA in der rechten Hirnhälfte stärker an der raum-zeitlichen Positionierung beteiligt ist. Als andrew newberg und eugene d’aquili mittels der Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) die Durchblutung der Großhirnrinde meditierender tibetanischer Mönche untersuchten, fanden sie bezeichnenderweise eine Inaktivierung des OAA; denn eben damit scheint «eine Auflösung der Ich-Welt-Grenze und ein Verschwinden des Raum-Zeit-Bezuges einher zu gehen. Daher rührt wohl das Gefühl der Ewigkeit und Endlosigkeit und der Auflösung des Selbst in etwas Größeres, Umfassenderes – ein Einheitsgefühl mit dem Universum, wovon Mystiker aller Kulturen berichtet haben (Unio mystica, Nirwana, Tao, Brahman-atman). Je nach Interpretation wird der Zustand als Eingehen ins Nichts oder ins All beschrieben, als eine Erfahrung der Leere oder Verschmelzung mit dem Universum oder mit einem kosmischen Bewusstsein. Jegliche Angst verschwindet (sc. eben weil das Ichbewußtsein sich auflöst, d. V.), und Kontrolle oder ein völliges Aufgehobensein wird suggeriert.» (rüdiger vaas: Hotline zum Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 36; vgl. auch ulrich kraft: Wo Gott wohnt, in: Gehirn und Geist, Dossier: Angriff auf das Menschenbild, 1/2003, 7– 8.) Allem Anschein nach führt die Konzentration der Aufmerksamkeitslenkung während der Meditation auf ein Mantra,

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auf ein inneres Bild oder auf ein Objekt (beziehungsweise in christlicher Tradition beim Jesus-Gebet auf den Namen des Heilands) zunächst zu einer Aktivierung des präfrontalen Cortex (sowie anderer corticaler Regionen nebst den assoziierten limbischen Strukturen), dann aber zu einer Deaktivierung des posterioren superioren Parietallappens (PSPL) und damit zu jener Aktivitätseinschränkung des Orientierungs-Assoziations-Areals, die das Einheitsgefühl der Mystiker infolge einer Aufhebung der Abgrenzung des Körperich erklären könnte. Allerdings läßt das Verfahren der SPECT nur eine geringe räumliche Auflösung zu, so daß es nicht einfach ist, den «spirituellen» Erfahrungen ein eindeutiges neuronales (anatomisches) Korrelat zur Seite zu stellen, und zum anderen liefern die SPECT-Bilder nur Momentaufnahmen, ohne den zeitlichen Verlauf in der Entwicklung der Aktivitätsmuster genau anzuzeigen. (Vgl. rüdiger vaas: A. a. O., 36.) Immerhin scheint es, daß insbesondere das autonome (vegetative) Nervensystem «wesentlich für jegliche religiöse Erfahrung ist», indem «beispielsweise tantrisches Yoga und transzendentale Meditation mit signifikanten Veränderungen der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Atmung einhergehen». «Einige Forschungsergebnisse deuten . . . darauf hin, daß während der Meditation beide Systeme (sc. das Erregungs- wie das Beruhigungssystem, d. V.) aktiv sind, doch bestimmte Formen der Meditation scheinen sich stärker auf das Erregungssystem auszuwirken und andere eher auf das Beruhigungssystem.» (andrew newberg – eugene d’aquili – vince rause: Der gedachte Gott, 60 –61) So kann bei «der Meditation oder im kontemplativen Gebet . . . eine stark beruhigende Aktivität zu Empfindungen großer Glückseligkeit führen, aber wenn die beruhigende Dynamik ein Maximum erreicht, kann gleichzeitig das Erregungssystem explodieren und einen belebenden Energieschub auslösen.» (A. a. O., 63) So unvollständig die Ergebnisse der «Neurotheologie» auch noch sein mögen, – sie enthalten allemal Stoff genug, um die prinzipielle Frage nach dem Wahrheitsgehalt religiöser Erfahrungen aufzuwerfen und, wie wir gleich sehen werden, diese im grundsätzlichen bereits auch zu beantworten. Rein logisch sind ja nach dem Gesagten nur drei Möglichkeiten denkbar: Entweder unser Gehirn produziert Zustände, die wir fälschlich mit echten (realen) Erfahrungen verwechseln und dementsprechend als objektive transzendente (göttliche) Gegebenheiten interpretieren – in diesem Falle wäre die Religion ein Erzeugnis von Irrtum und Krankheit; oder: diejenigen Erfahrungen, die einer religiösen Deutung unterzogen werden, verweisen auf oder beweisen gar eine Gottheit, die unsere Gehirne so geschaffen hat, daß sie eben jene Zustände produzieren können, in denen die Gottheit selbst sich uns mitzuteilen vermag – in diesem

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Falle wäre die Religion das Abbild einer objektiven Wirklichkeit; oder zum dritten: jene Erlebnisse, die in der Kulturgeschichte religiös gedeutet wurden und werden, vermögen weder als Beweise für noch gegen die Wahrheit der Religion zu dienen, sie können aber als symbolische Darstellungen menschlicher Grundbedürfnisse interpretiert werden – in diesem Falle wäre die Religion etwas, an dessen Inhalte zu glauben oder nicht zu glauben das Leben zwar entscheidend verändern könnte, das aber selbst keiner empirischen Verifikation offenstünde. Welche dieser drei Möglichkeiten trifft zu? Das ist die Frage. Die Antwort zu geben fällt jetzt nicht mehr schwer. Von vornherein nämlich versteht es sich nach dem Gesagten (fast) von selbst, daß die «Neurotheologie» hervorragend dazu geeignet ist, die erstgenannte Variante der Problemstellung zu untermauern, daß sie zu der zweiten Annahme nur negativ Stellung beziehen kann und daß sie selbstredend die dritte Möglichkeit offen lassen muß. Denn: Was alles haben wir bisher nicht an «neurotheologischen» Einsichten aufgeführt, um einen Religionsbegriff zu diskreditieren, der das Göttliche mit bestimmten psychischen Prozessen ineins setzt! Drogeninduzierte Rauschzustände; neurotische Komplexbildungen, Verdrängungen und Übertragungen; psychotische Halluzinationen und Auditionen; epileptische Anfälle mit Überaktivität bestimmter Herde im Schläfenlappen; Levitationserlebnisse und Entgrenzungsgefühle bei mangelnder Aktivität bestimmter Areale im Parietallappen – jeder dieser Hinweise kann wie eine Sprengung in den Gewölben und Fundamenten der Kathedralen der Weltreligionen wirken. Gesehen und geahnt hat als erster friedrich nietzsche (1844 –1900) die Zerstörungskraft, welche eine psychologische (bzw. neurologische) Aufklärung für die tradierte Religionsform besonders des Christentums bereithält: «ein flüchtiger Gang durch ein Irrenhaus klärt zur Genüge darüber auf», schrieb er. «. . . Das Christentum hat die Krankheit nötig . . . – krank-machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren-Systems der Kirche. Und die Kirche selbst – ist sie nicht das katholische Irrenhaus als letztes Ideal? – Die Erde überhaupt als Irrenhaus? – Der religiöse Mensch, wie ihn die Kirche will, ist ein typischer décadent (sc. franz.: verfallen, entartet, d. V.); der Zeitpunkt, wo eine religiöse Krisis über ein Volk Herr wird, ist jedesmal durch Nerven-Epidemien gekennzeichnet; die innere Welt des religiösen Menschen sieht der ‹inneren Welt› der Überreizten und Erschöpften zum Verwechseln ähnlich; die ‹höchsten› Zustände, welche das Christentum als Wert aller Werte über der Menschheit aufgehängt hat, sind epileptoide Formen, – die Kirche hat nur Verrückte oder große Betrüger in majorem dei honorem (sc. lat.: zur größeren Ehre Gottes, d. V.) heiliggesprochen . . . man wird zum Christentum nicht

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‹bekehrt› – man muß nur krank genug dazu sein.» (friedrich nietzsche: Der Antichrist, Nr. 51, S. 258) Demnach wäre die Religion nicht nur eine Krankheit, nicht nur ein Irrtum, geboren aus Unkenntnis der inneren wie der äußeren Natur, sondern auch eine ungeheuerliche Lüge, ein Betrug, mit dem windige und wendige Priester und Brahmanen durch Verdrehung und Entstellung des Besten im Menschen: seiner instinktiven Sicherheit im Erfassen der Realität, ihre Macht über die Seelen und Körper der Gläubigen zu gewinnen suchten und suchen. In der Tat: die «Heiligen» der Kirche – werden sie in den Augen von Psychologen und Neurologen nicht geradewegs widerlegt durch die Widerfahrnisse, die sie vormals beglaubigen sollten? Die Auditionen und Wundmale des heiligen Franziskus, die Visionen der Jeanne d’Arc oder eben der heiligen Theresa – zeigt sich in ihnen nicht deutlich ein hysterisch-krankhafter Zug? Wie aber verhält es sich dann mit den Visionen Abrahams (in Gen 18,1–15) oder des Mose (in Ex 3,1–22; 4,1–17) oder des Jesaja (Jes 6,1–13) oder des Jeremia (Jer 1,4 –19) oder des Ezechiel (Ez 1,1– 28, 2,1–10) . . .? Auch Mohammed wurden Visionen und Auditionen zuteil, als er in der Höhle des Berges Hira in der Nähe von Mekka in Meditation nach einer höheren Form von Frömmigkeit suchte (vgl. Koran, XCVII 1– 6). Am wichtigsten für die Geschichte des Christentums wurde die Vision, die der Pharisäer Saulus vor Damaskus empfing und die diesen Verfolger der Jesus-Bewegung in Paulus, den glühendsten Missionar der neuen Lehre, verwandelte (Apg 9,1–18; 22,3 –16; 26,9–18; 1 Kor 15,8; 2 Kor 12,1– 5; Gal 1,12–16). Unzweifelhaft scheint, daß alle diese großen homines religiosi (lat.: religiösen Persönlichkeiten) ihre Erfahrungen als reale göttliche Eingebungen verstanden, indem sie das, was sie zu sehen meinten, für eine «Tatsache» hielten, die – einbruchartig – ihr Leben mit einem neuen Auftrag erfüllte; dieser «Auftrag» war, den Überlieferungen zufolge, in ihnen lange schon vorbereitet: so in den Erzählungen des Mose, so im Falle Mohammeds, und selbst bei Paulus darf man von einer, wenn auch antithetischen, inneren Reifung zu seinem «Bekehrungserlebnis» sprechen, das ihn vom «Kain» zum «Abel» machte. Für die Betreffenden selbst freilich stellte sich ihr Widerfahrnis als eine Offenbarung von außen dar, es sollte sich durchaus nicht als das Resultat innerpsychischer Prozesse darbieten, – es hätte ihnen sonst nicht als «absolut», nicht als «weltjenseitig», nicht als «göttlich» gelten können. Insofern war und blieb die tradierte Theologie stets an die zweite Antwortmöglichkeit gebunden: die «Erscheinungen» der Religionsstifter, der Heiligen, der Propheten sind «objektiv» – in ihnen teilt sich die Gottheit (der Sohn Gottes, die Mutter Gottes, die Engel oder wer auch immer) dem Berufenen in eige-

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ner Gestalt, mit eigener Stimme, zugunsten eines eigenen Anliegens mit; sie kommt «vom Himmel» auf die Erde, um sich – ein einziges Mal oder in mehrfacher Wiederholung während eines begrenzten Zeitraums – dem Offenbarungsträger zu zeigen; die objektiv-reale Wahrheit derartiger Erscheinungen (etwa des «Auferstandenen» vor seinen Jüngern, vgl. 1 Kor 15,3– 5) ist eben deshalb für die unwiderlegliche, göttlich bestätigte Grundlage der jeweiligen Religion zu halten. «Gläubig» zu sein bedeutet für die traditionsgebundene Theologie, just diese Ansicht für «bewiesen» zu nehmen. Mögen auch Ethnologen, Archäologen, Religionshistoriker, Exegeten, Philosophen und Psychologen auf den erkennbar mythologischen Charakter der ganzen Vorstellungsweise aufmerksam werden und machen – sie kommen nicht auf gegen die Erhabenheit der so und nicht anders überlieferten Überzeugungen selbst. Tatsächlich vermag erst die «Neurotheologie» die Bedingtheit, die Nicht-Absolutheit, die Erklärungsbedürftigkeit aller «Erscheinungen» mit naturwissenschaftlichen Mitteln buchstäblich vor allen «realen» Augen sichtbar zu machen. Daß und in welchem Umfang religiöse «Erscheinungen» ihre «Eindeutigkeit» erst durch die fromme Deutung des «Sehers» und seiner Umgebung gewinnen, mußten wir uns rein psychoanalytisch bereits eingestehen. (Zur Psychologie von Erscheinungs- und Berufungsgeschichten vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 329 –377.) Es sind als erstes eine Reihe subjektiver Erwartungen und Erlebnisbereitschaften (oder umgekehrt: eine Reihe subjektiver Ängste und Befürchtungen), die in der Seele eines Menschen Spannungen von solcher Stärke sich aufstauen lassen, daß diese schließlich in einem anfallartigen Erleben sich entladen müssen; zugleich auch geben sie thematisch den Deutungsrahmen vor, innerhalb dessen eine bestimmte «Erscheinung» dem Einzelnen sichtbar zu werden vermag. Die subjektiv am meisten naheliegende Deutung enthält psychologisch zumeist schon die Gründe für das Zustandekommen der Erscheinung. Damit aber ein einzelnes halluzinatorisches Erleben eine überindividuelle Relevanz bekommt, muß die psychisch im Einzelnen vorbereitete Auslegung seines Erlebnisses sich in die Deutungserwartungen des sozialen Kontextes einfügen. Dieser zweite Interpretationsvorgang ist rein soziokultureller bzw. sozialpsychologischer Natur und überschreitet damit prinzipiell den Zuständigkeitsbereich der «Neurotheologie». Um so wichtiger aber bleibt für die individual-psychische Deutungsebene einer Erscheinung die Feststellung der Neurotheologie, daß alle Visionen, Auditionen, Fremdheitsgefühle, Körperempfindungen etc. als nichts anderes verstanden werden können denn als Produktionen des Gehirns – durchaus nicht als die Wirkungen von etwas «Cerebraltranszendentem», «Extramundanem» oder

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«objektiv Seiendem». In den Worten des größten aller psychologischen Religionskritiker, friedrich nietzsches: zu Ende ist jene «imaginäre Psychologie», die besteht aus «lauter . . . Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie (sc. der Verschmelzung verschiedener Begriffe zu einem einzigen, von griech.: das ídion – eigenes, die sýnkrasis – Mischung, d. V.)». (friedrich nietzsche: Der Antichrist, Nr. 15, S. 204) Sollten wir dies so akzeptieren müssen, schmölze der Wahrheitsanspruch wesentlicher Offenbarungserfahrungen der Menschheit, die historisch nicht selten am Anfang einer (neuen) Religion standen, in der Tat endgültig dahin, es sei denn, die dritte Möglichkeit, die Erkenntnisse der Neurotheologie zu bewerten, stünde in Gültigkeit: In den «Erscheinungen» können Bilder und Worte auftauchen, die als Symbole durchaus geeignet sein mögen, bestimmte Grundbedürfnisse oder Grundwahrheiten des menschlichen Daseins sichtbar zu machen. Nehmen wir dies aber an, darf die Frage sich nicht länger mehr auf die Herkunft (auf die kausale Erklärung) einer «Erscheinung», richten, sondern muß jenseits aller Neurotheologie auf die Bedeutung des Inhaltes zielen, der sich – nach Auffassung des «Sehers» und seines gesellschaftlichen Umfeldes – in der Erscheinung mitteilt. Nehmen wir für das Gemeinte zwei berühmte Beispiele. Zum ersten: Was ist es mit jener Christus-Erscheinung des Saulus von Tarsus? Daß sie kein epileptischer Anfall war, kann gewiß nicht mehr ihre «Wahrheit» begründen; doch daß sie ein epileptischer Anfall war, beweist noch nicht ihre Unwahrheit, vorausgesetzt, wir erblicken die «Wahrheit» nicht in dem «Gegenstand», den Paulus zu sehen vermeinte, sondern in dem Inhalt, den er mit seiner Vision verband. leopold szondi fand in der Szene eine «Umdrehung der Schicksalsbühne» dargestellt, und er fügte hinzu: «Wir nehmen an, daß diese Umdrehung (sc. der ‹Dominanzwechsel› der beiden Seiten des epileptiformen Triebfaktors, d. V.) durch das Ich und im besonderen durch die Glaubensfunktion des Ichs bedingt wird. Je stärker das Ich und seine Verbindung zum Geist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß aus einem Kain-Menschen ein Moses-Mensch entstehen kann. Wird das Ich schwach und wird sein Weg zum Geist verschüttet, so können die . . . Kain-Gene das Schicksal . . . in der Richtung des Kains verschieben.» (Ich-Analyse, 364) Diese Ansicht mag als Erklärung mancher «Bekehrungserlebnisse» oder «Kain»-Durchbrüche ausreichend sein, nicht aber im Falle des Paulus. Der Mann aus Tarsus kam nach Damaskus infolge seiner Verbindung «zum Geist» – er «schnaubte mit

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Drohen und Morden» als frommer Jude, als Pharisäer, gegen die «Anhänger des neuen Weges», um «Männer und Frauen . . . gefesselt nach Jerusalem» abführen zu lassen. (Apg 9,1.2) Es war offenbar die Gesetzestreue, die einen gottesfürchtigen Mann wie ihn dahin trieb, die Mitglieder der Jesus-Bewegung nach Möglichkeit umzubringen und die ganze Sekte physisch auszurotten. Wieviel Selbstunterdrückung und Selbsthaß, wieviel Selbstzerstörung und Sadismus muß in der Seele eines Mannes sich angehäuft haben, daß ihn die Botschaft des Nazareners von der bedingungslosen Liebe und Vergebungsbereitschaft Gottes derart tödlich bedrohen und herausfordern konnte? Was Paulus im Zusammenbruch vor Damaskus erfuhr, war in der Tat ein Drehbühnenwechsel seiner gesamten Persönlichkeitsausrichtung, seines gesamten Verständnisses von Religion, doch nicht durch «Verbindung zum Geist», sondern in einer dramatischen Änderung seiner Einstellung zum «Geist»: War sein Verhältnis zu Gott bis dahin auf das strengste gebunden an die prompte Erfüllung der mosaischen Gesetze (samt der unzähligen Vorschriften der mündlichen Tradition der Rabbinen), so bekam Paulus in seinem epileptischen Anfall die ganze Ohnmacht all seiner Willensanstrengungen zu spüren – hilfloser, elender, zerbrochener kann ein Mensch nicht werden als in diesem todähnlichen Augenblick; doch eben dieses Gefühl der Zernichtung bildete für ihn den Anfang, Christus zu sehen und mit seinen Augen die ganze Welt noch einmal neu wahrzunehmen. In den Tagen der nachfolgenden Erblindung lernte und erfuhr dieser Mann etwas, das er später in dem Gegensatz von Gesetz und Gnade thematisieren wird: es ist, daß Gott selber ihm sagt: «Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.» (2 Kor 12,9) In diesem Inhalt, den die Vision vermittelte, liegt die ganze Wahrheit der Damaskus-Stunde, – nicht darin, daß «objektiv» hier etwas zur «Erscheinung» käme, das eine Eigenexistenz auch unabhängig vom menschlichen Bewußtsein besäße. – Wie ist es möglich, eine Einstellung zu sich selbst, zu allen Menschen zu finden, die den Kranken, den Leidenden, den «Bettlern» eine Chance gibt? Diese Frage ist es, durch welche die Gestalt des Mannes aus Nazareth zur «Erscheinung» kommt oder die von der Wahrnehmung seines Bildes ausgelöst wird, und sie richtet sich an jeden Leser der Geschichte von Pauli Bekehrung: ob er diesen Inhalt als wahr, als göttlich, als wirklich glaubt oder nicht. (Exegeten wie günther bornkamm: Paulus, 36 –48, hielten mit guten Gründen die ganze Erzählung für unhistorisch; von einem «Geheimnis seiner Seele» sprach denn auch schalom benchorin: Paulus, 183.) Wohlgemerkt, man kann der Botschaft von der Gnade die Anerkennung als einer (heilsnotwendigen) Wahrheit verweigern; doch dann muß man die Welt

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wollen und bejahen, wie nietzsche es tat, als er schrieb: «Man (sc. arthur schopenhauer, d. V.) nennt das Christentum die Religion des Mitleidens. – Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den tonischen (sc. anspannenden, griech.: der tónos – Spannung, d. V.) Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleidet . . . Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergang reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratnen aller Art, das es im Leben festhält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt . . . Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus . . . Mitleiden überredet zum Nichts! . . . Man sagt nicht ‹nichts›: man sagt dafür ‹jenseits›; oder ‹Gott›; oder ‹das wahre Leben›; oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit . . . Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid.» (friedrich nietzsche: Der Antichrist, Nr. 6, S. 195–196) «Wen verneint denn das Christentum?» fragte nietzsche weiter, «was heißt es ‹Welt›? Daß man Soldat, daß man Richter, daß man Patriot ist; daß man sich wehrt; daß man auf seine Ehre hält; daß man seinen Vorteil will; daß man stolz ist . . . Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur Tat werdende Wertschätzung ist heute antichristlich: was für eine Mißgeburt von Falschheit muß der moderne Mensch sein, daß er sich trotzdem nicht schämt, Christ noch zu heißen!» (A. a. O., Nr. 38, S. 236) – In solchen Worten wird zumindest noch begriffen, welch einen «Einbruch», welch eine Umwälzung im ganzen die Botschaft des Nazareners, die Vision des Paulus von der Gnade in dieser Welt bedeutet – bedeuten müßte, nähme das Christentum selber sich ernst! Der gesamte Gottesbegriff muß sich ändern; – es bleibt von ihm allein der Hintergrund einer unbedingten Zuwendung! Was dabei auf dem Spiel steht, haben wir gesehen: die Existenz jedes Menschen, die Existenz der Person! Aber natürlich kann man, ja, muß man mit nietzsche gleichermaßen sich fragen, ob ein solcher Gott überhaupt lebensfähig ist, unterscheidet er sich doch radikal von all den Göttern der Geschichte. «Ein Volk», konstatierte der deutsche Philosoph, «das noch an sich selbst glaubt, hat noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist . . . Ein solcher Gott muß nutzen und schaden können, muß Freund und Feind sein können . . . Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigene Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit . . . Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs (sc. franz.: brennenden Leidenschaften, d. V.) des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? –

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Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt zum Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum ‹Frieden der Seele›, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur ‹Liebe› selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit . . . Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott . . . In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein –, oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie notwendig gut.» (friedrich nietzsche: Der Antichrist, Nr. 16, S. 205 –206) Zweifellos ist dies das zentrale Entweder-Oder, das existentiell über die «Wahrheit» der paulinischen Erfahrung vor Damaskus entscheidet. Oder anders gefragt: Ist die Bekehrung Pauli nur das Ergebnis von Krankheit? ist mithin der Glaube an die Notwendigkeit der Gnade bloß ein Glaube der Schwachen? oder ist dieser Glaube Ausdruck der unvermeidbaren Einsicht in die wesenhafte Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit aller Menschen? Nicht eine nur immer neue Schuldgefühle und neurotische Ängste vermittelnde «Moral», wie nietzsche fürchtete, entstünde in letzterem Falle, sondern eine Aufhebung aller Grenzen, die Menschen «völkisch», sozial, wirtschaftlich, sexuell oder wie auch immer voneinander trennen. «Hier ist», wird Paulus schreiben, «nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus.» (Gal 3,28) – Ein solcher «Kosmopolitismus» des Mitleids, ein solcher Internationalismus der Menschlichkeit, eine solche Anarchie der Güte, ein solcher Amoralismus universellen Verstehens ergibt sich in der Tat unausweichlich aus der Vision des Christus. Allerdings: Ob sie wahr ist oder falsch, entscheidet sich nie und nimmer an ihrer historischen oder «extra-psychischen» Realität, es entscheidet sich allein in uns selber: – ob wir sie wahr machen in unserer eigenen Existenz oder ob wir sie als falsch für unser Leben ablehnen. Auch über die epileptische Halluzination Pauli kann man nicht «objektiv» urteilen, sondern nur in einem Gespräch zwischen Ich und Du, das zugleich darüber entscheidet, wer wir selbst sind. Stimmt es denn aber überhaupt noch, daß «krank» und «unwahr» miteinander identisch seien, oder handelt es sich hier nicht wirklich um eine bloße «Idiosynkrasie» aus Physiologie und (Moral)Philosophie?

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Der Mann, der diese Frage sich sein Leben lang gestellt hat, war – als unser zweites Beispiel – erneut der russische Dichter fjodor michailowitsch dostojewski. Angenommen, die freudsche Erklärung der (Hystero)Epilepsie träfe zu und es wäre die «Aura», die einem Anfall vorausgeht, in der Tat nur das Ergebnis einer vom Überich erzwungenen Autoaggression infolge der Todeswünsche gegen den Vater, könnte es dann trotz allem nicht immer noch sein, daß gerade in einem solchen Augenblick eine tiefe Wahrheit in das Bewußtsein träte – die Ahnung von einer Welt, wie sie sein müßte, um menschlich zu werden? In dostojewskis Roman Der Idiot weisen die Überlegungen von Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin in gerade diese Richtung: «Er dachte . . ., daß es in seinem epileptischen Zustand einen Moment gab, der dem Anfall fast unmittelbar vorausging (wenn er sich des Anfalls bewußt wurde), da es inmitten der Traurigkeit, des seelischen Dunkels und der Depression in seinem Gehirn für Augenblicke gleichsam aufflammte und alle seine Lebenskräfte sich plötzlich mit einem außerordentlichen Ruck anspannten. Das Empfinden des Lebens und das Selbstbewußtsein verzehnfachten sich fast in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz wurden von einem ungewöhnlichen Licht durchdrungen, alle seine Zweifel und alle seine Unruhe schienen sich auf einmal zu besänftigen und in eine höhere Ruhe aufzulösen, die von einer hellen harmonischen Freude und Hoffnung und von der Vernunft und der Erkenntnis der Endursachen erfüllt war (sc. so daß er zu wissen glaubte, warum es ihn gab und wozu es ihn gab, d. V.). Diese lichten Momente waren aber nur die Vorahnung jener endgültigen Sekunde (es dauerte nie mehr als eine Sekunde), mit welcher der Anfall selbst begann. Diese Sekunde war natürlich unerträglich. Wenn er später, wieder in gesundem Zustande, über diesen Augenblick nachdachte, sagte er sich oft, daß dieses ganze blitzartige Aufleuchten des höheren Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und folglich auch des ‹höheren Seins› nichts anderes als Krankheit, als Aufhören des normalen Zustandes sei; in diesem Falle könnte das aber gar nicht ein höheres Sein genannt werden, sondern müßte im Gegenteil zu den niedrigsten Momenten des Lebens gezählt werden. Und doch gelangte er endlich zu folgendem außerordentlich paradoxem Schluß: ‹Was folgt denn daraus, daß es eine Krankheit ist?› fragte er sich, wen geht es etwas an, daß diese Spannung anomal ist, wenn das Resultat selbst, wenn der Augenblick dieser Empfindung, im gesunden Zustand betrachtet und ins Gedächtnis zurückgerufen, sich als im höchsten Grade harmonisch und schön erweist und ein bis dahin nie gekanntes Gefühl der Fülle, des Gleichmaßes, der Versöhnung und des begeisterten, an ein Gebet erinnernden Aufgehens in die höchste Synthese des Lebens ergibt?› . . . Er konnte nicht

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zweifeln und auch keinerlei Zweifel daran zulassen, daß das tatsächlich ‹Schönheit und Gebet› und ‹die höchste Synthese des Lebens› sei.» (fjodor michailowitsch dostojewski: Der Idiot, 2. Teil, Kap. 5, S. 217) Kann es demnach nicht sein, daß im Anfall einer Epilepsie in den Kerker unserer irdischen Existenz ein Lichtschein fällt, der uns ein Leben lang jene andere Wirklichkeit zeigt, nach der wir uns eigentlich sehnen? Die wahre Ursache eines derartigen Anfallsleidens bestünde dann darin, in einer solchen Wirklichkeit nicht längst schon zu Hause zu sein . . .

III. Gibt es einen Gott der Gene? Wenn so viele Erfahrungen, die einmal religiös gedeutet wurden, heute mit Hilfe von Psychoanalyse und Neurologie einer natürlichen Erklärung zugänglich gemacht werden können, so entsteht – wie in allen biopsychologischen Betrachtungsweisen – sogleich auch die Frage nach den möglichen genetischen Verursachungen derartiger Erlebnisse. Dabei müssen wir allerdings nach dem gerade Gesagten den möglichen Anspruch der «Neurotheologie» auf dem Boden der Genetik von vornherein recht drastisch beschränken: Sie wird niemals Gott begründen! Gott – müssen wir wieder und wieder betonen – ist kein neuronales Erregungsmuster, ist nicht die Folge der Übererregung oder des Ausfalls bestimmter Hirnstrukturen und auch nicht das Resultat einer mangelnden Balance zwischen den verschiedenen Neurotransmittern; das aber ist prinzipiell alles, was einer neurologischen Untersuchung zum Gegenstand dienen kann. Auch was Religion ist, kann keine Frage der Neurotheologie sein. Religion entsteht, wie wir sahen, erst auf der Ebene der Hermeneutik (der Daseinsauslegung); sie ist kein Phänomen, das sich neurobiologisch nachweisen oder ausschalten ließe. Zudem antwortet die Hermeneutik der Religion auf eine Frage, die zwar zum Menschen gehört, die aber gerade deshalb verrät, daß Menschen auf Grund ihres Personseins niemals nur ein naturwissenschaftlich erforschbarer Teil der Natur sind. Wie schon die «Steckbriefe» psychologischer und neurologischer Untersuchungen zum Thema Religion in die Irre führen können, mag ein Test zeigen, der von robert cloninger unter dem Namen Temperament and Character Inventory (TCI) entwickelt wurde und unter dessen 240 zu bejahenden oder zu verneinenden Aussagen sich zum Beispiel auch diese finden: «Ich fühle mich manchmal so eng mit der Natur verbunden, dass mir alles als Teil eines einzigen lebenden Organismus vorkommt.» «Mitunter fühle ich mich als Teil von etwas ohne Grenzen in Raum und Zeit.» «Ich habe häufig ein starkes Gefühl der Ein-

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heit mit allem, was mich umgibt.» «Ich glaube, dass ich außersinnliche Wahrnehmungen hatte.» «Ich glaube, dass Wunder geschehen.» (Zit. nach rüdiger vaas: Das Gottes-Gen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 41.) Was wir die ganze Zeit als Grund und Inhalt eines religiösen Bewußtseins, das diesen Namen verdient, herausgearbeitet haben, ist gerade das Gegenteil solcher Fragestellungen: Religiös sind Menschen nicht, wenn sie sich «eins mit dem Universum» fühlen, Religion brauchen Menschen, weil sie sich als Personen unendlich fremd in der gesamten Welt empfinden; religiös zu sein bedeutet gerade nicht, an «Außersinnliches» zu glauben, sondern alles Innerweltliche, den Sinnen Zugängliche, absolut zu unterscheiden von dem, was personhaft ist, was gütig ist und was als symbolischer Träger von Göttlichem fungieren kann; Fragen nach einem fundamentalistischen Wunderglauben indessen mögen den Anteil von abergläubigen Inhalten im Bewußtsein der heutigen amerikanischen Bevölkerung ermitteln helfen, doch als Maßstab von Frömmigkeit sollte man sie aus theologischen Gründen nicht gelten lassen. Immerhin: so wie die Fähigkeit zum Sprechen und damit zum Personsein im menschlichen Genom seit Jahrhunderttausenden zunehmend verankert wurde, so könnte auch die Neigung zu religiösen Vorstellungen und Erfahrungen genetisch determiniert, zumindest mitbedingt sein. Und das läßt sich erforschen. Analog zu der Art und Weise, wie man mit Hilfe der eineiigen Zwillingsforschung die genetische Prädisposition für den Ausbruch einer Schizophrenie zu ermitteln vermochte, kann man auch die statistische Häufung übereinstimmender religiöser Haltungen bei identischem Erbgut feststellen und von dort aus auf die Wirkung genetischer Faktoren zurückschließen; getan haben das 1999 nicholas martin, lindon eaves und katherine kirk: wie sie bei der Befragung von über 3000 eineiigen Zwillingen fanden, könnte der Anteil der Gene bei der Ausformung spiritueller Haltungen bei 48% liegen; die Hälfte also wäre dem kulturellen Einfluß zuzuschreiben! (Vgl. rüdiger vaas: Das Gottes-Gen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 40.) Aber: welche Gene und welche gengesteuerten Abläufe im Gehirn wären als «religionfördernd» anzusehen? Rein theologisch ist die Fragestellung bereits obskur, ob eine religiöse Einstellung genetisch bedingt sei oder nicht; rein theologisch antwortet die Religion auf Fragen, die alle Menschen haben, weil sie Menschen sind; lediglich die Antworten selbst können, entsprechend der historischen Ausformung einer Religion und in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur, unterschiedlich erteilt werden: jede Gesellschaft engt die Möglichkeiten individueller Entfaltung ein, und so kann es dahin kommen, daß Menschen, die zutiefst religiös sind, in der Zeit, in der sie leben, für «atheistisch» gehalten werden, nur weil sie aus Über-

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zeugung eben die Fragen stellen, die alle Menschen haben sollten. Wenn freilich alle Menschen für wesenhaft religiös gelten müssen, so können spezielle Gene allenfalls zur individuellen Ausgestaltung des religiösen Bewußtseins beitragen, nicht aber die Religiosität selbst festlegen. Ersteres in der Tat ist naheliegend. Wir wissen schon, daß etwa eine bestimmte Anfälligkeit zu Depressionen, bei der wir entsprechend dem «Diathese-Streß-Modell» eine genetische Mitverursachung annehmen dürfen (s. o. S. 110), unter anderem ein besonders intensives Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit mit sich bringt, das, da im letzten auf Erden unerfüllbar, auf die Suche gehen wird nach Halt und Trost in der jenseitigen Welt. Wir hörten des weiteren bereits, daß die Wirkungsweise des Dopamin-Systems, wenn es auf Grund erblicher Faktoren die Ausbildung einer Schizophrenie begünstigt, Vorstellungen, Assoziationen und Ängste mit sich bringt, die ihren Ausdruck klassischerweise (auch) in der Religion finden. Generell scheint es allerdings sehr unwahrscheinlich, daß ein einzelnes Gen monokausal ein derart komplexes Bewußtseinsphänomen wie die Religion bestimmen könnte. Dieser Ansicht ist auch dean hammer, dessen Buch The God Gene im Jahre 2004 mehr seines vom Verlag (Doubleday, New York) gegebenen Titels als seines Inhalts wegen für Furore sorgte: «das Gottes-Gen» schien zu besagen, daß eine einzige Erbinformation ausreichend sei, um über die Codierung bestimmter Eiweißmoleküle (und damit bestimmter neuroaktiver Peptide und Transmitter, vgl. Bd. I 236) unser Bewußtsein in einer Weise festzulegen, die ihm gewisse religiöse Ideen als evident erscheinen ließe. hammer hält Spiritualität indessen für eine «komplexe Verbindung von erblich fixierten biologischen Antwortmustern und Bewusstseinszuständen, verknüpft mit sozialen, kulturellen und historischen Entwicklungen.» (Zit. n. rüdiger vaas: Das GottesGen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 40.) Von daher geht er davon aus, daß unter den rund 35 000 menschlichen Genen etliche an dem Aufbau eines religiösen Bewußtseins beteiligt sind, und so suchte er bei rund 1000 gleichgeschlechtlichen Geschwistern nach möglichen Korrelationen zwischen genetischer Veranlagung und ausgeprägter Frömmigkeit, wobei er freilich als Maßstab für den Grad der Religiosität ausgerechnet auf cloningers besagten TCI zurückgriff. Vor rund zwei Jahren dann verkündete er, ein erstes von vielleicht 50 solcher «Gottes-Gene» gefunden zu haben, und zwar auf dem Chromosom 10 das Gen VMAT 2. Das VMAT 2-Gen codiert ein Protein, das als Monoamin-Transporter dient, das heißt, es «verpackt» Monoamine wie Adrenalin, NA, Dopamin und Serotonin in die Vesikel, aus denen diese Stoffe bei Bedarf freigesetzt werden. (Vgl. Bd. I 251– 252.) Da wir die Bedeutung der Mo-

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noamine für die Modulation des Bewußtseins kennen, vermögen wir uns die Reichweite der Funktion eines solchen Gens ganz gut vorzustellen; wir können aber auch ermessen, welche Tragweite die These vom Gottes-Gen prinzipiell für sich beanspruchen kann: sie ist beschränkt auf die einzige Form von Aussagen, die im Rahmen der Neurologie zum Thema Religion möglich sind; in unseren Worten zusammengefaßt: Es gibt genetische Faktoren, die an der Art der Wahrnehmung und an der Verarbeitung des Wahrgenommenen in bestimmter Weise beteiligt sind, – nicht mehr, nicht weniger. Näherhin liegt das VMAT 2-Gen in zwei Varianten vor, indem es an einer Stelle die Purinbase Adenin (A) oder die Pyrimidinbase Cytosin (C) aufweisen kann. (Vgl. zur chemischen Struktur der beiden Basen e. drewermann: . . . und es geschah so, 70.) hammers Entdeckung nun war es, daß Personen mit der Base Cytosin auf zumindest einem Allel eine deutlich höhere «Selbsttranszendenz» aufweisen als solche der Base Adenin. Die Folgerung, die hammer selbst aus diesem Befund, wenn er denn zutrifft, ziehen zu können meinte, lautet «nicht, dass es ein Gen gibt, das die Leute an Gott glauben lässt, sondern sie bezieht sich auf die Tatsache, dass die Menschen eine erbliche Prädisposition zum Spirituellen haben. Interessant ist VMAT 2 nicht, weil es ‹das› Gen ist, das Leute zu Gläubigen macht oder nicht, sondern weil ein gefundenes Gen uns etwas über die gesamte Gehirn-Biochemie der Spiritualität lehrt.» (Zit. n. rüdiger vaas: Das Gottes-Gen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 42.) Man kann auch so sagen: wie es genetische Faktoren gibt, die an dem Erleben von Angst (vgl. Bd. I 675; Abb. B 111) und dementsprechend an der Bedürftigkeit nach persönlicher Bindung (vgl. Bd. I 614 –615) beteiligt sind, so können (vermutlich) bestimmte Gene vor allem über die Wirkung einzelner Neurotransmitter die Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit in einer Weise steigern, die letztlich nur eine religiöse Antwort erlaubt. Über die Wahrheit einer solchen religiösen Antwort – ob es Gott als den Ursprung absoluter Zuwendung gibt oder nicht – kann die Neurologie freilich keine Aussage machen. Ganz richtig erklärt hammer selber: «Wie Gedanken und Emotionen im Gehirn gebildet werden, ist etwas, was die Wissenschaft untersuchen kann. Ob die Überzeugungen wahr oder falsch sind, nicht. Spiritualität ist letztlich eine Frage des Glaubens – nicht der Genetik.» (Zit. n. rüdiger vaas: Das Gottes-Gen, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 43.) So ist es. Uns aber konnte die «Neurotheologie» immerhin dabei helfen, einige unsinnige Fragestellungen zu vermeiden und eine ganze Reihe unbrauchbarer Antworten aus den Regalen der Religion zu entfernen. Noch einmal also gefragt: warum an einen Gott glauben? Die Antwort nach allem Gesagten ist einfach: weil wir Personen sind und weil Gott die einzige

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Person ist, die uns in den Stand setzen kann, unsere Geschichte zu Ende zu erzählen. Eine entscheidende Möglichkeit des Spracherwerbs in der Kulturgeschichte der Menschheit muß es gewesen sein, gemeinschaftstiftende Mythen zu erzählen (vgl. bernard victorri: Die Debatte um die Ursprache, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Die Evolution der Sprache, 4/2001, 19). Es ist der eine Teil der Religion: in Bildern des Irdischen Geschichten Gottes zu tradieren; der andere Teil der Religion besteht in dem Vertrauen, es möge Gott in einer jenseitigen Welt helfen, die eigene Geschichte zu vollenden. – Ein historisches Beispiel mag das Gemeinte zum Abschluß verdeutlichen. An seine langjährige Brieffreundin may ziadeh (1886 –1941) schrieb der libanesische Dichter khalil gibran (1883 –1931) in seinem letzten Brief vom 26. März seines Todesjahres aus New York: «Nein, ich brauche weder Ärzte noch Medikamente. Ich brauche nicht einmal Ruhe und Stille. Was ich dringend brauche, ist jemand, der mir etwas abnimmt und mich erleichtert . . . ich brauche eine Hand, die aufnimmt, was in meiner Seele gärt. Ich benötige einen starken Sturm, der meine Früchte zum Fallen bringt. – Ich bin ein kleiner Vulkan, May, dessen Krater geschlossen war. Wenn es mir heute gelänge, etwas Großes und Schönes zu schreiben, so wäre ich vollkommen geheilt. Wenn es mir möglich wäre, laut zu schreien, würde meine Gesundheit zurückkehren. – Ich kann nicht schreien, und das ist meine Krankheit. Das ist die Krankheit meiner Seele, deren Symptome im Körper erscheinen . . . – Bei Gott, sage mir nicht: Du hast schon viel gesungen, und alles, was Du gesungen hast, war schön! Erinnere mich nicht an meine früheren Werke, denn die Erinnerung daran schmerzt mich. Ihre Bedeutungslosigkeit verwandelt mein Blut in sengendes Feuer, ihre Trockenheit macht mich durstig, und ihr Schwachsinn veranlaßt mich dazu, tausendmal am Tag aufzustehen und mich wieder hinzusetzen und mir die Frage zu stellen: Warum habe ich diese Artikel und diese Geschichten geschrieben? Warum hatte ich keine Geduld? . . . – Ich wurde geboren und lebte, um ein Buch zu veröffentlichen – ein einziges, kleines Buch –, nicht mehr und nicht weniger. Ich wurde geboren, ich lebte und litt, um ein einziges, lebendiges und beflügeltes Wort auszusprechen. Doch ich hatte keine Geduld. Ich konnte nicht solange schweigen, bis das Leben dieses Wort durch meine Lippen aussprach. Ich schwieg nicht, sondern war geschwätzig . . ., bis die Geschwätzigkeit meine Kräfte erschöpfte. Und als ich schließlich imstande war, den ersten Buchstaben meines Wortes auszusprechen, fand ich mich auf dem Rücken liegend, und in meinem Mund befand sich ein harter Stein. – Es macht nichts, mein Wort ist immer noch in meinem Herzen . . . Sicher werde ich es aussprechen, und es wird durch sein

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Erscheinen die Schuld meiner Geschwätzigkeit wiedergutmachen.» (khalil gibran: Liebesbriefe, 118–119) Diese Hoffnung hegte gibran im Gespräch mit einer Frau, die er nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, doch deren Seelenbild er in sich trug und auf die hin er sein eines, sein wesentliches Wort zu formen und zu formulieren versuchte, – auf die hin er sich selber als Person Gestalt zu geben suchte. Doch niemand vermag dieses eine Wort uns zu schenken, und niemals, nicht einmal in der letzten Stunde unseres Lebens, werden wir imstande sein, es zu finden; wir können nur, ringend umeinander, reifen in der Liebe auf die eine Person hin, die allein uns ganz aussagt. Nur: Dürfen wir glauben, das auf Erden schon zu erleben? Dürfen wir hoffen, daß dieser Sinn, darin die Liebe besteht, sich, wo nicht in dieser, in einer anderen Welt wirklich erfüllt? – Aus der Frage nach dem Personsein Gottes und des Menschen wird die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele.

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3. Der Glaube an die Seele oder: Hoffnung auf Unsterblichkeit

So betrachtet, ergibt sich der Glaube an Gott als eine Forderung der personalen Existenz; es ist ein Glaube, der zugleich darüber mitentscheidet, wer wir selbst als Menschen sind, und nur ein solcher Glaube, eine solche Praxis sollte religiös mit dem kostbaren Wort «ich glaube (dir)» oder «ich glaube (an dich)» bezeichnet werden. Auf das engste verflochten aber mit solch einer Grundhaltung ist ein weiteres Postulat: Die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Nach friedrich nietzsche (Der Antichrist, Nr. 41, S. 241) ist sie «die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit . . . Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn! . . .» Doch jene Erwartung, die – außerhalb des Judentums und in gewissem Sinne auch außerhalb des Buddhismus – von allen Religionsformen, wenngleich verbildlicht in den unterschiedlichsten Symbolen, geteilt wird, stellt in Wahrheit gerade nicht die von nietzsche (zu Recht!) kritisierte Extremform eines lebensfeindlichen Moralismus dar; sie gehört unabtrennbar dazu, das Personsein des Menschen in all seiner Ohnmacht und Zerbrechlichkeit ernst zu nehmen. Ihre wesentliche Ausdrucksform gefunden hat diese Zuversicht – in der abendländischen Philosophiegeschichte, aber auch in den Lehrtraditionen des Hinduismus – in der Vorstellung von einer unsterblichen Seele, die als geistige Substanz an der Zerstörbarkeit alles Materiellen nicht teilhabe. Doch gegen einen solchen Glauben spricht schon der Augenschein: Wenn wirklich die psychischen Funktionen von einer unzerstörbaren Substanz getragen würden, so sollte das, was wir Person nennen, sich nicht als derart störbar darbieten. Wir brauchen uns nur zu erinnern: ein wenig Müdigkeit, ein wenig Hunger, ein wenig Leidenschaft, ein wenig Fieber, ein wenig Angst – wie geringfügig sind die physischen wie psychischen Faktoren, die, auch ohne medizinisch nachweisbare Hirnschädigungen, die Kohärenz des Erlebens, die zum Personsein gehört, nachhaltig zu zerreißen vermögen! Und dann noch einmal: die lange Heerschar neurotischer und psychotischer Persönlichkeitsstörungen! Die Folgerung, die sich daraus ergibt, spricht eine eigene Sprache: Offenbar ist die menschliche Person gerade nicht eine unzerstörbare Substanz, sondern ein dynamischer Prozeß, so anfällig, wie das Flackerlicht einer Kerze im Wind, das sich nur zu erhalten imstande

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ist, wenn schützende Hände sich um es legen. Doch setzt eine solche religiöse (theologische) Betrachtungsweise die Klärung einer an sich philosophischen Frage voraus, die auch ohne göttliche Implikationen ihrer Antwort harrt und unter dem Stichwort «das Leib-Seele-Problem» uns schon bekannt ist. (Vgl. Bd. I 20– 24.) Gestreift haben wir dieses Problem immer wieder, und auch seine Lösung haben wir bereits hinreichend vorbereitet; insofern ist es jetzt an der Zeit, eine Art philosophisches Resümee aus den vorliegenden neurologischen Betrachtungen zu ziehen, und dies um so mehr, als die Autoren selbst, auf deren Arbeiten wir zurückgegriffen haben, in gerade dieser Frage durchaus sehr verschiedene Standpunkte vertreten.

a) Abschließende Bemerkungen zum Leib-Seele-Problem Es macht, wie schon gesagt, nicht viel Sinn, die Modellvorstellungen einzelner (Natur)Wissenschaftler über das Verhältnis von «Leib» und «Seele», also von physischen und psychischen Prozessen, irgendeinem der weltanschaulichen «-ismen» zuzuordnen, die wir in Abb. D 13 aufgeführt sahen. Gleichwohl ist es zum Zwecke der Übersicht nicht ohne Nutzen, die verschiedenen Positionen zu dem verwandten Problem des Verhältnisses von «Materie» und «Geist» in einigen ihrer wichtigsten Vertreter noch einmal darzustellen und auf die Frage nach dem Verhältnis von «Leib» und «Seele» zu übertragen; die Rede geht jetzt von dem «Geist» als der Gesamtheit der psychischen Prozesse, die in einem Lebewesen ablaufen; von vornherein mitgegeben ist dabei ein gewisser Subjektzentrismus, der von den untersten Stufen eines bloßen Reiz-Reaktions-Schemas zum Schutze der physischen Unversehrtheit des Organismus hinaufreicht zu den verschiedenen Stufen von Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Sprachfähigkeit und Personsein.

α) Kritik und Rechtfertigung des dualistischen Konzepts oder: john c. eccles zum Beispiel Nach allem Gesagten leidet es eigentlich keinen Zweifel, daß das alte aristotelische Konzept von einer substantiellen Geistseele (vgl. Bd. I 26 –27) mit dem Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Neurologie, sich nicht mehr plausibel machen läßt. Die einzige religiöse Institution, die den Glauben an eine Geistseele im Sinne des aristoteles nach wie vor zur Grundlage ihrer Orthodoxie erklärt, ist die römisch-katholische Kirche, deren Bi-

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schöfe in Deutschland noch im Jahre 1988 verbindlich in ihrem «ErwachsenenKatechismus» schrieben: «Im Anschluß an die Lehre des hl. Thomas von Aquin (13. Jh.) lehrt die Kirche, die Geistseele sei die Wesensform des Leibes . . . Damit ist gemeint: Leib und Seele sind nicht zwei getrennte Elemente, die erst nachträglich vereinigt werden. Der Leib kann gar nicht ohne die Seele existieren; er ist Ausdrucksweise und Daseinsform der Seele» (Katholischer ErwachsenenKatechismus, 120–121) Und weiter: «Der Tod bedeutet die Trennung von Seele und Leib. Während der Leib im Tod verfällt, wird bei Menschen, die im Stand der Gnade sterben, die Seele in die ewige Gemeinschaft mit Gott aufgenommen. Man kann diese Lehre freilich nur dann richtig verstehen, wenn man Ernst damit macht, daß die Seele nicht ein Teil des Lebens neben dem Leib ist, sondern das Lebensprinzip des einen und ganzen Menschen, modern (sic!) formuliert: sein Ich, sein Selbst, die Mitte seiner Person . . . Diese Lehre (sc. von Papst Benedikt XII. von 1336, d. V.) wurde von der römischen Kongregation für Glaubenslehre 1979 in einem eigenen Schreiben verteidigt und zugleich näher erläutert: Die Kirche hält an der Fortdauer und Subsistenz (sc. lat.: Selbstand, Selbständigkeit, d. V.) eines geistigen Elementes nach dem Tode fest, das mit Bewußtsein und Willen ausgestattet ist, so daß das ‹Ich des Menschen› weiterbesteht, wobei es freilich in der Zwischenzeit seiner vollen Körperlichkeit entbehrt.» Immerhin geben die Bischöfe zu: «Die Einwände gegen diese Lehre sind zahlreich.» (Katholischer Erwachsenen-Katechismus, 408 –409) Selbst diese einschränkende Vorsicht indessen fällt dahin, wenn wir im «Weltkatechismus» (Catéchisme de l’Église Catholique) von 1992, gültig in päpstlicher Lehrautorität für rund 1 Mrd. Menschen auf dieser Erde, Aussagen wie diese vorgelegt bekommen: «. . . die Geistseele bewirkt, daß der aus Materie gebildete Leib ein lebendiger, menschlicher Leib ist.» (Nr. 365) «Die Kirche lehrt, daß jede Geistseele unmittelbar von Gott geschaffen wird – sie wird nicht ‹hervorgebracht› von Eltern –; sie unterweist uns auch, daß sie unsterblich ist: sie geht nicht zugrunde nach der Abtrennung vom Körper im Tod, und sie wird sich von neuem mit dem Körper (sc. also mit dem, den sie auf Erden hatte, d. V.) vereinigen nach der endgültigen Auferstehung (sc. am Jüngsten Tage, am «Ende» der «Welt», d. V.).» (Nr. 366) Bei aller Kunst theologischer «Auslegung» – was hier steht, ist unmißverständlich und eindeutig. Und es liegt wohl mit an diesem römischen Dogmatismus, daß der «gläubige» Teil der Bevölkerung in abergläubigen Vorstellungen gefangen bleibt, während ein anderer Teil «ungläubig» (besser: enttäuscht und kopfschüttelnd) sich davon abwendet. So ist denn über die Bewußtseinslage der Gegenwart nur festzustellen, daß «die Rede von der Seele zunehmend antiquiert» wirkt. «Es handelt sich um eine Vorstellung auf

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dem gesellschaftlichen Rückzug.» (gregor maria hoff: Seele/Selbstwerdung, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, IV 130) Persönlich zutiefst beunruhigt über die Tatsache und die möglichen Folgen dieser buchstäblichen Gedankenlosigkeit der (Post)Moderne hat vor allem der australische Nobelpreisträger für Medizin aus dem Jahre 1963, john c. eccles, in zahlreichen Werken versucht, «eine wissenschaftlich-philosophische Grundlage» zu erarbeiten, die seiner Meinung nach geeignet ist, «im Hinblick auf Gehirn und Seele die einzige vertretbare Haltung» darauf aufzubauen. Dabei gab er durchaus «zu bedenken, daß die von den Aristotelikern und Thomisten vertretene Ansicht, daß ‹die Seele die Form des Körpers sei›, nicht länger haltbar ist, wie es schon descartes erkannt hatte.» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 241) Insofern kann die römische Theologie ihre Lehrmeinung auch nicht mit der Autorität eines eccles stützen, wie es verschiedentlich versucht wird, – sie müßte denn auf die Linie jenes metaphysischen Dualismus umschwenken, der von platon über plotin und augustinus eben bis hin zu descartes hinüberreicht. In den für eine breitere Öffentlichkeit geschriebenen Büchern von eccles gibt es eine Fülle hervorragender Darstellungen neurobiologischer Zusammenhänge, doch stehen sie zumeist erkennbar im Dienste des eigentlichen Beweisziels des Autors: der Hinführung zu der These von der Existenz einer unsterblichen Seele und ihrer Erschaffung durch Gott. (Vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 112) Diese These, das weiß auch eccles, ist ureigentlich Inhalt eines religiösen Glaubens, nicht Teil der Wissenschaft, und so versichert er ausdrücklich, «daß es keine wissenschaftlichen Gründe gibt, die gegen die Möglichkeit einer zukünftigen (sc. bewußten, nach dem Tode fortlebenden, d. V.) Existenz sprechen» (john c. eccles: A. a. O., 113), und er stellt fest, daß er sich gehindert sehe, «zu glauben, daß mein erfahrendes Selbst eine Existenz besitzt, die nur von meinem Gehirn und seinem biologischen Ursprung abgeleitet ist, und dessen Entwicklung unter Anweisungen abläuft, die auf meine genetische Erbmasse zurückgehen. Ich glaube auch nicht mit den Physikalisten, daß meine bewußten Erfahrungen nichts anderes als die Reaktionen der physiologischen Mechanismen meines Gehirns sind.» (john c. eccles: A. a. O., 112) Von daher formuliert er denn auch sein Bekenntnis: «Ich glaube, daß in meiner Existenz ein fundamentales Geheimnis liegt, das jede biologische Erklärung über die Entstehung meines Körpers (einschließlich meines Gehirns) mit seiner genetischen Vererbung und seinem entwicklungsgeschichtlichen Ursprung übertrifft. . . . Und genauso wie ich keine wissenschaftliche Erklärung für meinen Ursprung geben kann – ich erwachte sozusagen zum Leben und fand mich exi-

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stierend als ein verkörpertes Selbst mit diesem Körper und Gehirn – so kann ich nicht glauben, daß dieses wunderbare göttliche Geschenk einer bewußten Existenz keine weitere Zukunft hat, keine Möglichkeit einer anderen Existenz unter anderen nicht vorstellbaren Bedingungen.» (john c. eccles: A. a. O., 112 – 113) platons ergreifender Dialog Phaidon (vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 82 –83; 243) ebenso wie descartes’ Überlegungen zu der Eigenart menschlicher Sprache (a. a. O., 237) werden für eccles zu dem bestätigenden Quell einer sich wechselseitig beglaubigenden Evidenz, die sich in der (rhetorischen) Frage ausdrückt: «Ist das menschliche Schicksal nur eine Episode zwischen zwei Vergessenheiten? Oder können wir die Hoffnung hegen, daß die wundervolle, reine und lebendige bewußte Erfahrung, die unser Geburtsrecht ist, eine Bedeutung und transzendentale Signifikanz hat?» (john c. eccles: A. a. O., 242 –243) Um die letztere Möglichkeit zu «retten», glaubt eccles zeigen zu müssen: 1) «daß die subjektive Komponente . . ., das bewußte Selbst, als Seele identifiziert werden kann» (a. a. O., 241), 2) daß diese Komponente «immateriell» ist «und daher im Tode nicht der Vernichtung unterworfen» (a. a. O., 242) und 3) «daß die Großhirnrinde» zwar «die notwendigen Bedingungen für Selbst-Bewußtheit bietet», doch nicht «die genügenden Bedingungen» (a. a. O., 241). Diese – bezogen auf das Leib-Seele-Problem – ausgesprochen dualistische Auffassung nimmt bei eccles unter dem Einfluß von karl r. popper (1902 – 1994) die Form eines Drei-Welten-Konzepts an. (Vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 227–228; karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 432 –434.) Abb. D 27 zeigt in schematischer Vereinfachung, was damit gemeint ist. In diesem Diagramm repräsentiert Welt 1 die Sphäre der physikalischen «Objekte und Zustände und enthält somit nicht nur die anorganische Materie und die Energie des Kosmos, sondern auch die gesamte Biologie – die Strukturen und Reaktionen aller Lebewesen, Pflanzen und Tiere und selbst menschliche Gehirne. Sie enthält auch das materielle Substrat aller von Menschenhand verfertigten Objekte oder Kunsterzeugnisse – Maschinen, Bücher, Kunstwerke, Filme und Computer.» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 228) Die Sphäre von Welt 2 enthält die «Bewußtseins- oder Geisteszustände»; sie ist – unter Ausklammerung der Frage nach dem Bewußtsein der Tiere! – «die Welt des Wissens – im subjektiven Sinn – und enthält die ablaufenden Erfahrungen in Wahrnehmung, Denken, Gefühlen, Vorstellungen, zielgerichtetem Streben und Erinnerungen.» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 228; 229) Die Sphäre von Welt 3 hingegen umfaßt den Bereich des «Wissens im objek-

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Abb. D 27: Tabelle der drei Welten

tiven Sinn»; sie besteht unter anderem in dem «Ausdruck wissenschaftlicher, literarischer und künstlerischer Gedanken, die in kodifizierter Form in Bibliotheken, Museen und in allen Aufzeichnungen menschlicher Kultur erhalten geblieben sind. Nach ihrer materiellen Komposition – Papier und Tinte – gehören Bücher zu Welt 1, aber die kodifizierten Kenntnisse, die durch den Druck überliefert werden, gehören in Welt 3.» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 229) Deutlich ist, daß alle drei Welten – wie die Pfeile in dem Schema andeuten – in Wechselwirkung zueinander stehen; und hier nun beginnen die Schwierigkeiten des ecclesschen Konzepts. Nach poppers beziehungsweise eccles’ Kommentar besteht «eine reziproke Übertragung zwischen 1 und 2 und zwischen 2 und 3», während «1 und 3 nur durch Vermittlung von Welt 2 zusammenwirken können». (john c. eccles: Gehirn und Seele, 230) In einer erweiterten Skizze läßt sich der Informationsfluß zwischen den drei Welten am Beispiel von vier Individuen (A, B, C, D) so darstellen, wie in Abb. D 28. Entscheidend im Rahmen unserer Problemstellung – der Frage nach dem Verhältnis von Seele und Körper – ist die Annahme, die in der graphischen Darstellung wie selbstverständlich vorausgesetzt wird: daß das Gehirn, als Teil des

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Abb. D 28: Wechselwirkung zwischen den drei Welten für vier Individuen

Körpers (als aufragender Teil von Welt 1) in Wechselwirkung mit einer eigenen Welt steht – der Welt 2, der Welt der Bewußtseinszustände; und die Frage, auf die es ankommt, besteht in der Beschreibung eben dieser reziproken Beziehungen von Welt 1 und Welt 2; es zeigt sich dabei, daß diese Wechselwirkungen nicht beschrieben werden können, ohne Welt 3 miteinzubeziehen. (Vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 229– 233; karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 450.) Abb. D 29 versucht, diesen Sachverhalt schematisch darzustellen. Es versteht sich, daß alles, was das Gehirn wahrnimmt, sich in Welt 1 (nicht in Welt 3) befindet; Welt 3 taucht nur in verschlüsselter Form in Welt 1 auf, – in Welt 1b, zum Beispiel in Gestalt von Tinte und Papier, deren Zeichen über die Retina zur Sehrinde gelangen und schließlich in den Assoziationscortices entschlüsselt werden (vgl. Abb. A 37); in dem Schema von Abb. D 29 ist dieser Sachverhalt in den Pfeilen zwischen Welt 1 und Gehirn und Welt 1 b zu Welt 1 und dann zum Gehirn festgehalten. (Vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 232 –233.) Zusätzlich eingebaut ist in dieses Schema ein zentral gelegenes «Quadrat, das den Erinnerungsspeicher für Komponenten darstellt, die . . . rechtmäßig als zur Welt 3 gehörend (Welt 3 b) betrachtet werden müssen». (john c. eccles: A. a. O., 233) Damit soll der Tatsache Rechnung getragen

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Abb. D 29: Schema des Informationsflusses zwischen den drei Welten

werden, daß zahlreiche Inhalte des «objektiven Wissens» durchaus nicht nur auf bestimmten Datenträgern gespeichert und in Zentralarchiven eingelagert sind, sondern wesentlich oder ausschließlich im Gedächtnis, also in den Gehir-

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nen einzelner Menschen, existieren: als wichtigstes ist da die Sprache selber zu nennen, die auch nach eccles Meinung das Personsein des Menschen allererst ermöglicht; vieles innerhalb der Sprache, wie der riesige Schatz der mündlichen Tradition, kann zwar – seit etwa 5000 Jahren, seit der Erfindung der Schrift – auch auf Datenträger außerhalb des Gehirns übertragen werden, doch das muß nicht sein und bildet, wenn es geschieht, nur einen winzigen Ausschnitt des «objektiven Geistes», wie hegel sich ausgedrückt hätte. Warum aber dann nicht gleich, statt von Welt 3, von dem sprechen, was all das Wißbare, das Sprachfähige oder schon Versprachlichte, umschließt und sogar noch weit mehr ist als «Sprache» – warum dann nicht gleich sprechen von der menschlichen Kultur? Mit dieser Frage beginnt die Kritik an eccles (und popper). Schaut man sich Abb. D 29 an, so muß es erstaunen, daß die Welt 2, die Sphäre der Bewußtseinszustände, wie eine magische Kugel im freien Raum schwebt, während ein äußerst wichtiger Teil dieser Bewußtseinszustände, der Gedächtnisspeicher, als ein Bereich von Welt 3 im Gehirn eingelagert sein soll, getrennt vom Bewußtsein und so verschieden davon, daß ihre Vereinigung, entsprechend schon ihrer geometrischen Form, für so unmöglich gelten muß wie die berühmte Quadratur des Kreises (beziehungsweise die Zirkulatur des Quadrats). Nach allem, was wir über die Entstehung bereits des Bewußtseins gehört haben, ist es gerade der Aufbau und Ausbau eben des Gedächtnisspeichers, der es ermöglicht, sich über das augenblicksgebundene Reiz-Reflex-Schema zu erheben und eine gegebene Situation durch Vergleich mit vorherigen Erfahrungen der individuellen Biographie flexibler (situationsadäquater) zu beantworten; die Inhalte eines solchen Gedächtnisses haben durchaus noch nichts zu tun mit bestimmten Artefakten oder mit der Tradition von kollektiv erworbenem Wissen, – sie gehören in keiner Weise zu poppers Welt 3; aber sie zählen auch nicht einfach zu Welt 1; sie stellen zweifellos etwas Geistiges, «Seelisches» dar, das nicht identisch ist mit Selbstbewußtsein, Sprache und Kultur, wenn es auch zweifellos einen entscheidenden Schritt auf dem Wege dorthin aufzeigt. Und des weiteren sahen wir, daß auch die Bildung von Selbstbewußtsein zwar eine hohe Stufe der Kommunikation zwischen sozial lebenden (Säuge)Tieren voraussetzt, doch nicht an die Herausbildung menschlicher Sprache geknüpft ist, für deren Entstehung sie allererst die Voraussetzung bildet. Auch eccles anerkennt, daß die Entwicklung der Großhirnrinde mit dem Entstehen des Selbstbewußtseins («im Neandertaler und in allen ihm nachfolgenden Menschen»!) verknüpft ist (john c. eccles: Gehirn und Seele, 241); doch wie über 300 Jahre vor ihm rené descartes, liegt ihm so sehr daran, den absoluten Unterschied zwischen Tier und Mensch zu betonen, daß er sich der Auffassung

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von mortimer jerome adler (The difference of man and the difference it makes, New York – Chicago – San Francisco 1967) anschließt, der «die menschliche Situation» in folgenden Worten beschreibt: «Bei . . . der bekannten Tatsache, daß sprechende Lebewesen sich von nicht-sprechenden unterscheiden, erhebt sich die Frage, ob der Mensch eine Person oder vielmehr ein Ding sei. Die Antwort ist bejahend, wenn die Grenze, die Personen von Dingen trennt, durch solche Kriterien bestimmt wird wie die Fähigkeit zur Konversation, die Fähigkeit, an sinnvollen Gesprächen teilzunehmen und die Fähigkeit, Gründe und Beweise anzuführen und zu akzeptieren. Gemessen an diesen Kriterien ist der Mensch gegenwärtig das einzige Wesen auf der Erde, das eine Person ist. Alle anderen Tiere und Maschinen sind Dinge – zumindest im Licht der vorhandenen Beweise. Der individuelle Wert und die Würde, die ausschließlich zur Person gehören, der Respekt, der nur Personen gezollt werden muß, der fundamentale Befehl, der uns gebietet, Personen als Ziel, aber nicht als Zweck zu behandeln – all dies, was eine Person ausmacht, trägt zu der Theorie bei.» (Zit. n. john c. eccles: Gehirn und Seele, 237.) An dieser Argumentation gefällt eccles zweifellos ihre humanistische Grundtendenz, und doch hätte er sich ihr nie und nimmer anschließen dürfen, denn in ihr geht so ziemlich alles durcheinander. Zunächst teilt adler, wie das römische Recht vor 2000 Jahren, die Welt nach zwei einfachen Begriffen auf, die sich nach eindeutigen «Kriterien» sollen bestimmen lassen und zwischen denen es in der Realität nur ein Entweder-Oder ohne jeden qualitativen Übergang geben soll: Person (als Rechtssubjekt) und Sache (als verwertbares Material). Wie, muß man fragen, ist es nur möglich, als Biologe und Neurologe die fließenden Übergänge der Hirnentwicklung etwa in der Evolution von Wirbeltieren und Säugetieren in allen Einzelheiten vor Augen zu haben, und dann plötzlich mit einem bipolaren (dualistischen) Einteilungsverfahren zu arbeiten, das diese Übergänge zugunsten einer vermeintlich wesentlichen Aussage über den Menschen glaubt außer acht lassen zu dürfen? Eben deswegen haben wir ja so ausführlich die Entwicklung eines Säuglings erst zu Selbstbewußtsein, dann zu Sprachfähigkeit geschildert, um zu zeigen, daß beides nicht ohne weiteres dasselbe ist und daß in jedem Falle weder das eine noch das andere einfach als «Schöpfung» Gottes vom Himmel gefallen sein kann. Insbesondere das Studium von Schmerz und Angst, von Trieben und Gefühlen aller Art hat uns über jeden Zweifel hinaus gezeigt, wieviel an «Psychischem», an «Seelischem» also, im Leben und Erleben bereits von Tieren enthalten ist; – wäre es anders, wir hätten keine Ahnung, was Triebe, Affekte und Gefühle überhaupt sind. Desgleichen zeigte sich uns das Vorhandensein von Bewußtsein an der Fähig-

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keit vieler Tierarten zu kreativen Problemlösungen in prekären Situationen, und die Auswirkungen echter Intelligenz und eines unbezweifelbar vorhandenen Selbstbewußtseins konnten wir zum Beispiel an den zahlreichen Tricks etwa von Primaten im Umgang miteinander beobachten. Wie aber kann man dann von «Tieren und Maschinen» reden, so als rangierten beide auf der Ebene von «Sachen»? – Eine Begründung hierfür liegt zweifelsohne in der Tradition des «christlichen» Abendlandes, das tatsächlich mit den Tieren buchstäblich wie die Alten Römer als mit bloßen Verwendungs- und Verwertungsgegenständen verfahren ist und leider immer noch verfährt. Zum zweiten dürften sich eccles’ massive Wahrnehmungsblockaden und Denkstörungen zu einem nicht geringen Teil auch aus Rationalisierungen ergeben haben, mit denen der Nobelpreisträger für Medizin seinen eigenen Umgang mit ganz offensichtlich schmerzempfindenden und angstfühlenden Lebewesen vor sich selbst und der Welt als ein «Sachen» (Versuchsobjekten!) angemessenes Tun glaubte rechtfertigen zu können. Eine von john c. eccles denn auch gar nicht erst gestellte, geschweige denn beantwortete Frage müßte zweifellos lauten, ob denn nun auch für das Bewußtsein und für das Selbstbewußtsein von Tieren je eigene Seelenformen anzunehmen sind, in Weiterführung etwa der Unterscheidung zwischen der anima brutorum (der Körper- oder Tierseele) und der anima rationalis (der Vernunftseele), mit der im 17. Jh. schon der uns bekannte thomas willis die «Maschinentheorie» des descartes überwunden hatte (s. o. S. 294). Insbesondere methodisch rächt es sich jetzt, daß eccles all die Rückkopplungsschleifen neuronaler Verschaltungen, wie wir sie etwa in den Theorien von joseph e. ledoux und gerald m. edelman kennengelernt haben, nicht im Gehirn – also zunächst rein neurologisch – nachzeichnet, sondern auf zwei getrennte Felder der Wirklichkeit verteilt; denn damit verurteilt er sich zu einer petitio principii der offensichtlichsten Form: «Leib und Seele stellen zwei verschiedene Prinzipien dar, weil ich sie so darstelle; und ich nehme diesen unbewiesenen Sachverhalt (anstatt ihn zu beweisen) als Beweisgrundlage für meine weiteren Überlegungen!» Zubilligen (und mitberücksichtigen) allerdings muß man bei der Beurteilung von eccles’ Konzept, daß es zu einer Zeit entstanden ist, in der nicht annähernd auch nur die Untersuchungsmöglichkeiten der Neurologie bereitstanden, die Zug um Zug in den letzten 15 Jahren entwickelt wurden; vor allem die computergestützte mathematisch formalisierte Beschreibung komplexer (auf sich selbst zurückwirkender) Systeme und ihrer eigentümlichen Fähigkeit zu Selbstorganisation und Höherentwicklung steckte in den Tagen, die zu den fruchtbarsten von eccles’ Schaffen zählten, kaum erst in den Anfängen; es ist aber diese nicht-lineare «Logik» im Übergang von Chaos zu

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Ordnung, die offenbar bereits in den ersten Stadien der Evolution lebender Strukturen eine große Rolle gespielt hat (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 643– 651; 659– 668) und die auch in der Neurologie, etwa zum Verständnis der Zusammenschaltung großer Gruppen von Neuronen-Ensembles, unentbehrlich ist (vgl. Bd. I 476 –478 am Beispiel des Geruchssinnes). Zustimmen freilich kann und muß man nach allem Gesagten john c. eccles, wenn er das Personsein auf das engste mit der Fähigkeit zum Spracherwerb verknüpft: «Ein selbstbewußtes Subjekt, das sprechen kann, weil mit ihm gesprochen wurde», so lautete unsere «Definition» des Personalen. Die Schlußfolgerungen freilich, die john c. eccles aus dieser wohl richtigen Feststellung zieht, sind alles andere als überzeugend. Weil der Mensch als einziges Lebewesen sprechen kann, soll er über etwas verfügen, das sich evolutiv nicht erklären läßt und deshalb als eine eigene geistige Substanz als von Gott geschaffen angenommen werden muß – begabt mit der Eigenschaft der Unsterblichkeit! So kann man eigentlich nur argumentieren, wenn man die Sprachfähigkeit des Menschen als eine absolute, aus keinen Vorstufen begreifbare Tatsache interpretieren will, die dem Menschen zugleich eine absolute Sonderstellung unter allen Lebewesen verschaffen soll; und gerade diese Aussage ist es denn auch, die eccles – ganz nach dem Vorbild des rené descartes – in die Voraussetzungen seiner «Beweis»kette einschmuggelt. Doch sind wir wirklich etwas so Besonderes? Daß zum Beispiel Schimpansen nicht sprechen können, hat, wie wir sahen, nicht sowohl etwas mit fehlender Intelligenz, als mit der anatomischen Beschaffenheit ihres Rachenraumes (ihrer Pharynx) zu tun, die eine Lautbildung wie bei unseren menschlichen Vorfahren (deren Rachenraum vermutlich auf Grund des aufrechten Gangs in charakteristischer Weise umgestaltet wurde) nicht zuläßt. (Vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3erw. 2004, 111–113; 599 –619.) Und vor allem: überhaupt gar nichts läßt sich im Rahmen eines evolutiven Denkens als «absolut» (als unableitbar aus Vorstufen) hinstellen, nur um plötzlich in einem geistigen Salto mortale die Perspektive einer Erklärung «von unten» durch eine solche «von oben» abzulösen. Auch und gerade die Sprache, so vollkommen sie uns auch in all ihren Ausformungen im Munde des Homo sapiens heute erscheinen mag, hat ihre Jahrhunderttausende, wo nicht Jahrmillionen, der allmählichen Entwicklung durchlaufen. Allerdings – das zu betonen ist sehr wichtig –: diese Entwicklung begründete die menschliche Kulturgeschichte, so wie sie von dieser selbst vorangetrieben wurde; mit der Sprache entstand in der Tat etwas, das nach rein biologischen Gesetzen nicht mehr interpretierbar ist, schon weil es darin gründet, den Menschen jenseits der biologischen Zwecksetzungen in eine eigene, von ihm selber geschaf-

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fene Wirklichkeit zu führen. Ehe von dem Glauben die Rede sein kann, der Mensch verdanke sich einer Schöpfertat Gottes, muß man deshalb wohl zunächst einmal feststellen, daß der Mensch, evolutiv betrachtet, sich selber (genauer: den von ihm selbst gestalteten Lebensbedingungen der Kultur) verdankt. Überaus problematisch ist zudem die Inanspruchnahme einer bestimmten philosophischen (metaphysischen) Auslegung des Begriffs «Seele» in der Argumentation von john c. eccles. Obwohl er konstatieren muß, «daß selbst in theologischen Diskussionen die Bedeutung des Worts ‹Seele› ungeheuer variiert» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 241), identifiziert er im Grunde ohne langes Federlesen den platonischen Seelenbegriff mit sprachgebundenem Selbstbewußtsein, um dieses als eine eigene «Welt» behauptete Kunstgebilde gegenüber der Evolution für exemt zu erklären. Letztlich bleibt eccles’ Gedankengang deshalb an der entscheidenden Stelle trotz alles Wissens um Verlauf und Mechanismen der Evolution sonderbar ungeschichtlich, so wie in Abb. D 28 bemerkenswerterweise vier Menschen (Körper – Gehirne) nebeneinander gezeichnet sind, ohne daß es zwischen ihnen zu eben dem Austausch käme, der im Verlauf einer Fülle geschichtlicher Prozesse den Aufbau jener «Welt 3» erst möglich gemacht hat, die ihrerseits wieder die «Welt 2» mitkonstituiert. Generell muß man sagen, daß john c. eccles auf etwas äußerst Wichtiges hinauswollte, das sein eigentliches Anliegen bildete und dessen Dringlichkeit nicht von der Hand zu weisen ist; allerdings unternahm er dazu bedauerlicherweise den fatalen Versuch, Inhalte des Glaubens als Erkenntnisse des Wissens auszugeben und damit Erfordernisse der menschlichen Existenz (der Ontologie im Sinne heideggers) so hinzustellen, als wenn es sich um gegenständlich beschreibbare Sachverhalte (um ontische Gegebenheiten) handeln würde. Damit vertauschte er die Ebene der Daseinsdeutung (der Hermeneutik) mit der Ebene der Erklärung naturhafter Zusammenhänge in den Wissenschaften. Am Ende haben wir wieder einen Gott, der in die Lücken dessen eintreten soll, was wir uns anders als durch das «Eingreifen» einer «höheren Macht» (noch) nicht erklären können. Doch an dieser Stelle endet die «Kritik» an der Vorgehensweise des großen australischen Neurowissenschaftlers, der vor rund einem halben Jahrhundert als erster die chemische (cholinerge) Reizweitergabe an den neuromuskulären Synapsen erkannt hat (vgl. Bd. I 44), und es beginnt eine Art notwendiger Ehrenrettung seines eigentlichen Anliegens; denn das, worauf john c. eccles hinweisen wollte, ist in der Tat nicht nur bedenkenswert, sondern äußerst folgenreich, wenngleich in einer anderen als der von ihm vorgeschlagenen Weise.

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Vollkommen richtig sah john c. eccles, daß mit dem Auftreten des Selbstbewußtseins unvermeidbar ein Problem verbunden ist, für das es keine biologischen Antworten gibt: seiner selbst bewußtzuwerden bedeutet, seiner Endlichkeit, des Todes, innezuwerden; oder, vom anderen Ende her formuliert: es bedeutet, dem menschlichen Leben eine Perspektive geben zu müssen, die in den biologischen Zwecksetzungen (in der Weitergabe der Gene und in einem zeitlich dafür ausreichenden Selbsterhalt des Organismus) nicht aufgehen kann. (Vgl. john c. eccles: Gehirn und Seele, 240.) karl r. popper folgerte daraus, daß die «Emergenz des Bewußtseins, der Welt 3 und der Theorien» eine Phase der Evolution eingeleitet habe, in welcher der gewaltsame Kampf ums Dasein nunmehr einer gewaltfreien Form der Durchsetzung konkurrierender Konzepte weichen könnte. «Wir können jetzt», schrieb er, «unsere Theorien den Kampf ausfechten lassen – wir können unsere Theorien sterben lassen, an unserer Stelle. Vom Standpunkt der natürlichen Auslese aus besteht die Hauptfunktion des Bewußtseins, der Welt 3 und der Theorien darin, daß sie die Anwendung der Methode von Versuch und Irrtumsausschaltung ohne die gewaltsame Beseitigung unserer selbst ermöglichen: Darin liegt der große Überlebenswert des Bewußtseins und der Welt 3. Mit der Emergenz des Bewußtseins und der Welt 3 überwindet die natürliche Auslese und ihr ursprünglich gewaltsamer Charakter sich selbst. Mit der Emergenz von Welt 3 braucht die Auslese nicht mehr länger gewaltsam zu sein: Wir können falsche Theorien durch gewaltlose Kritik beseitigen. Gewaltlose kulturelle Evolution ist nicht nur ein utopischer Traum; sie ist vielmehr ein mögliches Ergebnis der Emergenz des Geistes durch die natürliche Auslese.» (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 259) So würde denn das Problem der Sterblichkeit, das mit dem Bewußtsein notwendig verbunden ist, kompensiert durch die mögliche Aussicht der Unsterblichkeit «richtiger» sich durchsetzender Theorien? Und die unsägliche Grausamkeit des Naturgeschehens fände fortan ihre Rechtfertigung in der potentiell gewaltlosen Selbstdurchsetzung der Ideen? Merkwürdige Gedanken sind das, die allem Anschein nach bewußt vergessen machen möchten, daß der brutale Kampf ums Dasein in der «Kulturentwicklung» keinesfalls aufhört: das grausame Gesetz, das alles Leben auf dieser Erde dazu zwingt, sich durch die Vernichtung anderen Lebens am Leben zu erhalten (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 222 –226; 408 –420), setzt sich allerorten ungeschmälert fort, ja, es gewinnt in der menschlichen Kulturentwicklung allererst seine wirklich monströse Gestalt – in der industriellen Massentierhaltung, in den Todesfabriken der Schlachthöfe, in den Experimenten mit Tieren und Pflanzen zur

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Züchtung der «nützlichsten» Hybridformen, in der vorsorglichen Vernichtung von Tieren zu Millionen im Kampf gegen Krankheiten wie BSE (bovine spongiforme Encephalopathie) und MKS (Maul- und Klauenseuche) oder gegen das Virus H5N2 (das Vogelgrippevirus) . . .; und damit nicht genug: popper, der Anfang der 90er Jahre des 20. Jhs. die Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik zur Verbreitung von «Vernunft» und «Menschlichkeit» ausdrücklich billigte, blendete bei seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen die Milliarden Menschen, die dem kapitalistischen Wirtschaftssystem mit seinem hemmungslosen Konkurrenzkampf zum Opfer fallen, einfach aus – so als lebten Menschen nur für und von «Theorien»! popper blieb somit weit entfernt von dem verzweifelten Protest, den dostojewskis Iwan Karamasow gegen die gesamte Einrichtung des Weltgebäudes richtet: «. . . wenn die Leiden der Kinder (sc. bei denen das Problem der ungeheuerlichen Qual in dieser Welt nur besonders deutlich zu Tage tritt und deren Freiheit von Sünde und Schuld zum Eindruck der Grausamkeit Gottes noch den Vorwurf seiner Ungerechtigkeit hinzufügt, d. V.) nötig waren, um jene Leidenssumme zu erfüllen, die unumgänglich ist, um die Wahrheit zu erkaufen, so behaupte ich schon im voraus, daß die ganze Wahrheit dann gar nicht wert ist eines solchen Kaufpreises!» erklärt er. (fjodor michailowitsch dostojewski: Die Brüder Karamasoff, 1. Teil, 5. Buch, 4. Kapitel: Die Auflehnung, I 305) Bewußt existieren zu müssen bedeutet die Unmöglichkeit einer Rückkehr in das naive Glück verschlingenden Genusses, und mehr noch als der Tod stellt die Unausweichlichkeit des Töten-Müssens die gesamte Menschlichkeit unserer Existenz in Frage. Es muß eine andere, eine ganz andere Welt geben, um menschenwürdig leben zu können, und der Weg dahin führt allem Anschein nach nicht über den kulturellen Fortschritt der menschlichen Geschichte, der, wenn es ihn denn gäbe, die Greuel der Vergangenheit nicht tilgen könnte, während er überaus geeignet erscheint, die alten Mechanismen der Gewalt nur wirkungsvoller und verfeinerter zu handhaben. Der Eindruck bestätigt sich: Unterhalb der beiden möglichen Erlösungsansätze von Buddhismus und Christentum – des Verlöschens oder der Auferstehung – gibt es keine Lösung des Problems, das mit der Bewußtwerdung aufbricht; und die Bedeutung der Ausführungen von john c. eccles liegt offenbar gerade darin, diese Einsicht – weit über poppers kulturgeschichtliche Vertröstungen hinaus – bewußtgehalten zu haben. Dann aber gilt: Fragen des Bewußtseins stellen sich innerhalb des Bewußtseins, sie erlauben keine Antworten, die unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Erklärungen zustande kommen könnten. Genau das aber versuchte john c. eccles, wenn er resümierte: «Die Komponente unserer Existenz in Welt 2

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ist immateriell und daher im Tode nicht der Vernichtung unterworfen, der alle Komponenten des Individuums in Welt 1 unterliegen – sowohl der Körper als auch das Gehirn. Sie hat natürlich keinerlei Verbindung mehr zu Welt 1 und 3, so daß für jeden von uns jegliche Erfahrung, wie wir sie kennen, der Vergessenheit anheimfallen muß. Aber wir können voll Hoffnung fragen: Muß diese Vergessenheit ohne Ende sein? Es ist offensichtlich, daß diese Identifikation von Welt 2 mit der Seele im Grunde genommen der Haltung (sc. des, d. V.) descartes entspricht.» (john c. eccles: Gehirn und Seele, 242) Die Hoffnung auf Unsterblichkeit, die eccles mit dem neurologischen Nachweis der Immaterialität der Seele zu stützen suchte, bildet in Wahrheit ein Postulat der menschlichen Existenz, eine Sehnsucht, die es erlaubt, inmitten einer unmenschlichen Welt Menschlichkeit zu riskieren; in theoretischer Diktion: sie stellt eine Erwägung zum Wagnis des menschlichen Daseins dar; sie kann aber nicht als etwas auftreten, das sich als bewiesen behaupten ließe – wir kennen diesen Gedanken bereits von kant –, sie muß aber auch nicht als etwas auftreten, das bewiesen werden müßte. Um der Hoffnung auf Unsterblichkeit willen bedarf es nicht des Nachweises, daß all jene Neurologen unrecht hätten, die sich naturwissenschaftlich nicht vorstellen können (und wollen), daß es geistige Tätigkeiten auch unabhängig von prinzipiell beobachtbaren materiellen Vorgängen zu geben vermöchte, – immanuel kant hätte ihnen schon vor 200 Jahren in ihrer Weigerung zugestimmt. An die Personalität des Menschen zu glauben zeigt sich uns als identisch damit, an die Personalität Gottes zu glauben; dieser Glaube stellt den Versuch dar, auf unausweichliche Fragen der menschlichen Existenz zu antworten; er ist weder das Resultat neurologischer Forschung noch eine Erlaubnis, erkenntnistheoretische Probleme der Neurologie zu umgehen. Der notwendige «Dualismus» von Geisteswissenschaften (Theologie) und Naturwissenschaften (Neurologie) kann nicht dadurch überwunden werden, daß man die Neurologie selbst dualistisch konzipiert. – Doch welche anderen neurologischen Konzepte zur Lösung des Leib-Seele-Problems gibt es dann? Neben dem Dualismus eigentlich nur monistische Ansätze.

β) Spielarten monistischer Deutungen Kennengelernt haben wir, als eine Form des Monismus, die Gedankengänge des Panpsychismus, etwa in den Ansätzen von bernhard rensch oder pierre teilhard de chardin; rein philosophisch ließe sich auch hier an platon erinnern, der im Dialog Timaios (30 b) «diese Welt als ein beseeltes und in Wahrheit mit Vernunft begabtes Lebendes» erklärte (Werke, V 155), oder an gior-

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dano bruno (1548 –1600), der in dem Dialog Über die Ursache, das Prinzip und das Eine (3. Dialog, S. 90) annahm, «daß es ein Geist ist, der allem das Wesen gibt . . . –, daß eine Seele oder ein Formprinzip ist, das alles schafft und formt . . . –, daß es eine Materie ist, aus der alles gemacht und gestaltet ist». Auch der Pantheist baruch de spinoza (1632 –1677) gehört mit in diese Aufzählung, indem er in seiner Ethik (1. Teil, Lehrsatz 18, S. 24) Gott definierte als «die inbleibende, aber nicht übergehende Ursache aller Dinge»; Materie und Seele bilden demnach als die Innen- und die Außenseite lediglich zwei Attribute ein und derselben (göttlichen) Wirklichkeit. All diesen Konzepten, denen auch gottfried wilhelm leibniz (1646 – 1716) mit seiner Monadologie zugerechnet werden kann (vgl. Bd. I 23– 24), ist die Überzeugung gemeinsam, daß es Geist, Bewußtsein, Seele seit eh und je im Universum gebe. Doch eben dagegen richtet sich das evolutive Denken selbst. Zu Recht machte deshalb karl r. popper als Einwand gegen den Panpsychismus geltend, es sei «eine irreführende Argumentation», «darauf zu bestehen, daß dieses Etwas (sc. das als Vorläufer psychischer Prozesse anzunehmen sei, d. V.) geistartig, bewußtseinsähnlich sein und daß es sogar Atomen zugeschrieben werden» müsse. «Es ist daher nicht recht klar, was der Panpsychismus zu einem besseren Verständnis der Evolution des Bewußtseins beiträgt», schrieb er. (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 98; 99) Das ist richtig, doch lernen wir damit über das bisher Gesagte hinaus im Grunde noch nichts Neues. Wie aber steht es mit jener Auffassung, die man philosophisch als ein materialistisches Gegenstück zum Panpsychismus betrachten kann – mit dem «Reduktionismus» beziehungsweise mit dem «reduktionistischen Identismus»? Wir sind auf diese Auffassung immer wieder schon und gewissermaßen stufenweise gestoßen, – zum ersten Mal, als wir uns vor allem anhand der Studien von eric r. kandel die «Grundlagen von Lernen und Gedächtnis» am Beispiel der Meeresschnecke Aplysia erarbeitet haben (Bd. I 287– 298); an dieser Stelle schien uns die reduktionistische Erklärung durchaus zutreffend: eine bestimmte materielle Form (die Zusammenschaltung von drei Neuronen zu einem monosynaptischen Reflexbogen) sowie die Wirkung bestimmter materieller Substanzen (gewisser Neurotransmitter und Second Messenger) reichen anscheinend völlig aus, um einen so grundlegenden Vorgang geistig-seelischer Prozesse wie den Aufbau des Erinnerungsvermögens zu erklären; man kann hier nicht sagen: «Dies sind die materiellen Vorgänge, denen wir die psychische Funktion eines Gedächtnisses zuordnen»; man muß sagen: «Diese materiellen Prozesse sind identisch mit dem Aufbau von Erinnerung.» Desgleichen schien

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es uns unmöglich, die neurologisch erklärbaren Prozesse der (optischen) Wahrnehmung zu unterscheiden von dem psychischen Vorgang der Wahrnehmung selbst; erneut war es nicht möglich, die Arbeitsweise des Auges und der visuellen Verarbeitungszentren im Gehirn und deren Zusammenschaltung zu beschreiben und sich «dahinter» oder «daneben» einen immateriellen «Beobachter» zu denken, für dessen «inneres Auge» all das nur erst den «Rohstoff» zur Hervorbringung des Geistes bildete (vgl. Bd. I 415); vielmehr erlebten wir Schritt für Schritt, wie das Gehirn sich seinen inneren Beobachter mit Hilfe der neuronalen Verarbeitungsmuster allererst selber erschafft (vgl. Bd. I 406); ja, wir sahen schließlich, daß die Syntheseleistung, mittels deren das Gehirn aus einem Bündel (polymodaler) Informationen einen einheitlichen Gegenstand – zumeist vor dem Hintergrund einer komplexen Szene – konstruiert, identisch sein muß mit der Bildung der Einheit des Bewußtseins – des Ich (vgl. Abb. D 7 und Bd. I 439 –459). Wenn wir uns dann in Abb. D 3 (aber auch in den Abb. D 4 und D 6) noch einmal diejenigen Hirnregionen anschauen, die am Zustandekommen von Bewußtsein beteiligt sind, und wiederum zu diesen materiellen Strukturen die materiellen Stoffe (vor allem Dopamin und Noradrenalin) in ihren Wirkungsweisen hinzunehmen (vgl. Abb. D 4; D 5), so fällt es erneut unmöglich, die funktionale Orchestrierung, die Synchronisation der verschiedenen Hirnareale nicht als identisch mit dem Aufbau bewußten Erlebens zu interpretieren; insbesondere die Einrichtung des Arbeitsgedächtnisses und die Etablierung von je zwei Verarbeitungswegen der Schmerzempfindung und des Angsterlebens schien uns auf das Auftauchen von Bewußtsein hinzudeuten: notwendigerweise kommt es jetzt zu jener «Repräsentation von Repräsentationen», zu jenem «Spiegeln» aktueller Erfahrungen im Vergleich mit früheren Erfahrungen, das bewußt gestaltete Reaktionsweisen erlaubt. Und um den Schritt zur Entstehung von Selbstbewußtsein zu vollziehen, brauchen wir nur noch einmal auf die beiden Schemata reentranter Verschaltungen in Abb. D 8 und Abb. D 22 zurückzugreifen, und es ist gerade hier kein Grund mehr erkennbar, warum es der Einführung eines (metaphysischen!) Geistprinzips bedürfen würde, um zu begreifen, daß zwei parallel gestellte Spiegel sich ineinander reflektieren und aus Bewußtsein Selbstbewußtsein entstehen lassen. – Vor allem erlaubt es allein dieser Interpretationsansatz, sowohl an der Einheit allen Lebens und aller Lebensabläufe festzuhalten (statt die Zusammengehörigkeit von Tieren und Menschen auseinanderzureißen) als auch das Auftauchen emergenter Eigenschaften beim Erreichen neuer Stufen der Entwicklung anzunehmen. Insbesondere jean-pierre changeux hatte schon 1983 (dt.: 1984) in seinem Buch Der neuronale Mensch. Wie die Seele funktioniert – die Entdeckungen der

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neuen Gehirnforschung mit Recht darauf verwiesen, daß mit dem «Konstrukt der ‹Neuronenverbände› oder kooperativen Neuronenkomplexe . . . von vornherein ein Sprung von einer Organisationsebene auf eine andere» stattfinde: «von der des einzelnen Neurons auf die der Neuronenpopulation . . . Man kann sich vorstellen», führte er aus, «daß diese Komplexe, wenn sie in irgendeiner Weise selbständig sind, neue Eigenschaften besitzen. Diese werden sich genauso durch die Eigenschaften der Neuronen erklären lassen, wie sich die Eigenschaften der Moleküle aus denen der Atome erklären lassen. Die Entstehung der Neuronenkomplexe beruht wahrscheinlich auf eingehend erforschten synaptischen und molekularen Mechanismen: Sie sorgen für die Integration einzelner Neuronen in ‹einheitliche› Verbände und damit für den Übergang von einer Ebene zur anderen.» (jean-pierre changeux: A. a. O., 214 –215) Genau diese Ansicht fanden wir bereits in der Synchronisationshypothese bestätigt, die der Neurologe christoph von der malsburg zur Lösung des Bindungsproblems (in der Wahrnehmung) vorgeschlagen hatte (vgl. Bd. I 447– 448) und die wolf singer auf die Entstehung des Bewußtseins anwandte; und auch indem wir die These von francis crick und christof koch nachzeichneten, das Bewußtsein (beim Sehen) entstehe vor allem durch die zusammengeschalteten Aktivitäten der Pyramidenzellen in Schicht V und VI des assoziativen visuellen Cortex und dessen Projektionen zum präfrontalen Cortex sowie durch den «neuronalen Darwinismus» in der Durchsetzung der «stärksten» Neuronen-Ensembles, folgten wir eindeutig einem reduktionistischen Erklärungsansatz zur Lösung des Leib-Seele-Problems. Diese «Lösung» lautet im Grunde, daß es sich bei diesem Problem letztlich um ein Scheinproblem handelt, das lediglich aus der Unkenntnis über die Mechanismen neuronaler Verschaltungen in unserem Gehirn entstehen konnte. Gegen ein solches Erklärungskonzept hat gerhard roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 288 –289) eingewandt, «daß an der Aktivität eines einzelnen Neurons oder kleiner Neuronennetzwerke überhaupt nichts Geistiges oder Kognitives zu entdecken» sei; «Kognition, Geist und Bewußtsein», macht er geltend, «sind globale Aktivitätszustände . . . des Gehirns und trivialerweise nicht auf die Aktivität von einzelnen Neuronen . . . reduzierbar.» Diese Feststellung ist sicher richtig, doch ist nicht recht zu sehen, inwiefern sie den Theorien der genannten Autoren widersprechen sollte, wofern man nur vor Augen behält, was man erklären will. Niemand möchte Denken, Fühlen, Empfinden usw. auf die Tätigkeit eines einzelnen oder mehrerer Neuronen reduzieren, – auch wenn im Falle einfachster Verhältnisse von Lernen und Erinnern eine solche Reduktion nachweisbar gelingt; der Reduktionismus macht Sinn als ein

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methodisches Konzept neuronaler Erklärung, wonach die Leistungen des (menschlichen) Gehirns erst dann für vollständig verstanden gelten dürfen, wenn sie sich in ihren komplexesten Erscheinungen lückenlos auf die Aktivitäten von Neuronen und Synapsen zurückführen lassen, – ähnlich wie in der Biologie die Erscheinungen des Lebens prinzipiell zurückführbar sein sollten auf die Aktivitäten in und zwischen den einzelnen Zellen, die einen Organismus aufbauen. Ein anderer Einwand, den gerhard roth an gleicher Stelle gegen den «reduktionistischen Identismus» vorbringt (Das Gehirn und reine Wirklichkeit, 284), führt indessen weiter; er besagt, «daß Geist und Bewußtsein das Ergebnis komplexer Hirnaktivität in einem stammesgeschichtlich wie individualgeschichtlich entstandenen Kontext sind . . . Geist und Psyche entstehen im Gehirn nur dann, wenn das Gehirn und sein Organismus in bestimmter Weise mit einer Umwelt interagieren . . . Freilich», fügt er hinzu, «müssen in diesem mit der Umwelt interagierenden Gehirn ganz spezifische strukturelle und funktionale Bedingungen herrschen, zu denen unter anderem auch das thalamocorticale System oder assoziative Neurone, die zum präfrontalen Cortex projizieren, genauso gehören wie flohrs NMDA-Synapsen.» Es ist richtig: Bewußtsein ist nur möglich als Bewußtsein von etwas; Wahrnehmung kann nur zustande kommen, wenn es etwas gibt, das wahrgenommen werden kann; das gesamte Gehirn ist ein Organ, das sich nur verstehen läßt als ein Instrument, das sich an die Bedingungen derjenigen Umgebung angepaßt hat, deren Datenstrom es verarbeiten soll. Dieser Bezug auf die «Umgebung» gewann, wie wir glauben, insbesondere bei der Entstehung von Selbstbewußtsein eine ausgesprochen soziale Komponente. Doch eben damit sind wir bei der Frage angelangt, die sich uns bereits bei dem Problem der Entstehung von «Geist» stellte: wie beschaffen muß eine Umgebung sein, damit sie Geist hervorzubringen vermag? Das Konzept, das diesem Ansatz am besten entspricht, läßt sich als Emergentismus oder als emergenztheoretischer Materialismus bezeichnen. (Vgl. gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 291– 293.) So sahen wir in der Konzeption von gregory bateson Geist aufgefaßt werden als die Eigenschaft eines komplexen Systems, innerhalb dessen Informationen als Ursachen wirken (s. o. S. 413 –417). Wie so etwas sich auf dem Gebiet der Neurologie darstellt, ist sichtbar in den vielen Funktionskreisläufen, in denen ein Signal, sobald in einem bestimmten Körperbereich ein festgelegter Sollwert über- oder unterschritten ist, augenblickliche Maßnahmen zur Gegensteuerung einleitet, wie zum Beispiel in dem homöostatischen Regelkreislauf zur Temperatursteuerung (vgl. Bd. I 483– 485) oder im Regelkreislauf zur Gewichtsregulation nach

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den Sollwerttheorien (vgl. Bd. I 485– 488). Ähnliches findet Anwendung bei der Schmerzkontrolle durch absteigende Bahnen im Gehirn (vgl. Bd. I 513 –515), aber natürlich auch bei der Regulation der Hormonausschüttung (vgl. Bd. I 601–605), unter anderem der Streßhormone (vgl. Abb. B 120), und auch beim sogenannten Barorezeptorreflex (Abb. C 1) sowie bei den Rückmeldungen gewisser Aktivitäten des Immunsystems an das Gehirn (vgl. Abb. C 5). In all diesen Fällen (die nur einen winzigen, wenn auch wichtigen Ausschnitt aus der Vielzahl von Rückkopplungsschleifen darstellen, mit denen der Organismus sein «Gleichgewicht» «verteidigt») passiert nichts außerhalb einer strengen Kausalität, und doch ist eine neue Eigenschaft innerhalb der kausalen Mechanismen aufgetaucht, die mit der Rückbezüglichkeit der Prozesse selbst gegeben ist: eine Kausalreihe, die «von unten nach oben» verläuft, wirkt als ein Signal (als eine Information), das eine Kette kausaler Abläufe «von oben nach unten» in Gang setzt. Solche Abläufe bilden keine Nebenerscheinung des Lebens, sie sind die Grundlage, ein Wesensmerkmal in den Funktionsabläufen der Strukturen belebter Materie. Doch wie gregory batesons «Ökologie des Geistes» (schon dem Titel nach) zeigte, wäre die Entstehung von Leben nicht möglich, wenn nicht die «Umgebung» des Lebens vergleichbare dynamische Strukturen der Selbstorganisation aufwiese. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 643– 668.) Und nicht nur am Anfang des Lebens, auch beim Aufstieg des Lebens steht zu erwarten, daß es stufenweise, parallel zu der wachsenden Komplexität der neuronalen Systeme, zu dem Auftauchen neuer Eigenschaften (zur Bildung emergenter Phänomene) kommen wird. Erinnern wir uns nur, wie in der Theorie von joseph e. ledoux die Bildung von corticalen Konvergenzzonen (von Gebieten im Gehirn, in denen die Ergebnisse parallel verarbeitender Systeme über Neuromodulatoren miteinander koordiniert werden) den entscheidenden Schritt zur Heraufführung von Bewußtsein darstellte, und wir begreifen, daß allein schon die Integration verschiedener Module zu einer funktionalen Einheit zu neuen, überraschenden Fähigkeiten eines Systems führen kann, die sich in keiner Weise aus den Funktionen der Subsysteme erklären lassen. Es geht um die bekannte Tatsache, daß ein Ganzes etwas qualitativ Anderes darstellt als die Summe seiner Teile. Verknüpft wird die Emergenztheorie gern mit Beispielen aus der Chaosforschung, die zeigen, wie Prozesse, die in allen ihren Phasen völlig deterministisch ablaufen, gleichwohl zu prinzipiell unvorhersehbaren Ergebnissen führen. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 229– 234.) In diesem Verhalten komplexer Systeme steckt ein außerordentlich hoher Zufallsfaktor, der, recht verstanden, von vornherein ausschließt, daß im Ablauf der Evolution ein

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neuer «Start» an einem beliebigen Zeitpunkt (in der Entwicklung des Weltalls, «unserer» Galaxis, «unseres» Sonnensystems, «unseres» Planeten oder in der Entstehung und Entfaltung des Lebens) zu einem auch nur annähernd vergleichbaren Resultat, wie wir es heute vorfinden, führen könnte. Das Leben selber, das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein stellen deshalb prinzipiell unvorhersehbare Ereignisse dar, – so die Emergenztheorie. Gegen diese Auffassung hat gerhard roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 292) den Einwand erhoben, es handle sich hier um «eine Trivialität» – vieles sei aus rein praktischen Gründen nicht vorhersagbar, wie das Fallen eines Blattes oder die Entwicklung des Wetters; doch dabei übersieht er, daß es in der Emergenztheorie wesentlich nicht, wie in der Chaosforschung, um die Sensibilität eines sich entwickelnden Systems auf die geringfügigsten Schwankungen seiner Anfangsbedingungen geht, deren exakte Erfassung uns infolge der Vielzahl ihrer Einzelkomponenten (und gewisser quantenphysikalischer Effekte) grundsätzlich nicht möglich ist; die Emergenztheorie hat nicht eigentlich dies zum Thema, sondern sie vertritt die These, daß mit höherer Komplexität Eigenschaften auftreten, die aus den Funktionen der Systemteile selbst nicht ableitbar sind, – und diese Tatsache entspricht genau dem, was sich in der Evolution (auch des Gehirns) beobachten läßt. Wer zum Beispiel hätte beim Betrachten eines Primatengehirns vor drei Millionen Jahren die Entwicklung von Sprache vorhersehen können? Erst einmal geschehen, ergibt sich daraus etwas wirklich vollkommen Neues mit ganz eigenen – und wieder unvorhersehbaren – Entwicklungsmöglichkeiten. Lediglich die Vorstellung, derartige Neuentstehungen träten plötzlich (als «Fulgurationen», als Blitzeinschläge) auf, ist nicht korrekt; gerade in der Evolution brauchen «Wunder» ihre Zeit. Berechtigten Widerspruch erhebt gerhard roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 293) deshalb eigentlich nur gegen den «Mystizismus» des emergenztheoretischen Ansatzes zugunsten kreationistischer «Argumente», wie wir sie bei karl r. popper und john c. eccles soeben angetroffen haben. Um uns dabei zu helfen, den Vorzug der Emergenztheorie ins rechte Licht zu rücken, lohnt die Beschäftigung mit einer viel diskutierten Variante zur Lösung der Leib-Seele-Problematik, nämlich mit dem Epiphänomenalismus. karl r. popper beschreibt den Epiphänomenalismus als «die These, daß nur die physikalischen Prozesse kausal relevant in Bezug auf spätere physikalische Prozesse sind, während die psychischen Prozesse, auch wenn es sie gibt, kausal völlig irrelevant sind». (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 81) gerhard roth erläutert ihn so: «Es mag ja sein, daß es eine eindeutige Kopplung zwischen bestimmten neuronalen Prozessen einerseits und

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subjektiv erlebten Bewußtseinsprozessen andererseits gibt. Diese Kopplung hat aber keinerlei Bedeutung, denn das Erleben ist ein nutz- und wirkungsloses Beiwerk, ein Epiphänomen. Was kausal wirksam ist, das sind einzig die neuronalen Prozesse.» (gerhard roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 293 –294) Einen prominenten Vertreter des Epiphänomenalismus haben wir zum Beispiel in gerald m. edelman kennengelernt; zwar sucht dieser sich abzusetzen von «der seltsam abgehobenen Vorstellung vom Bewusstsein als einem Epiphänomen, bei der materialistischen Philosophen stets unbehaglich ist» (Das Licht des Geistes, 137); doch wenn er selbst – wie wir hörten – ausdrücklich betont, die «Gesetze der Physik» besagten, daß C (für engl.: consciousness – Bewußtsein; die bewußten Prozesse, das phänomenale Erleben) «selbst keine Kausalwirkung ausüben» könne (a. a. O., 84), so erfüllt seine Auffassung bezüglich der Entstehung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein aufs genaueste die gerade genannten Kriterien des Epiphänomenalismus, indem er C von C’ (den neuronalen Prozessen) zwar unterscheidet, doch den psychischen Phänomenen keine Rückwirkung auf die sie ermöglichenden Ursachen zuerkennt. Charakterisieren wir eine solche Position mit karl r. popper so: Der Epiphänomenalist räumt «dem physischen Gesichtspunkt nicht nur Priorität ein, sondern betont, daß subjektive Erlebnisse kausal überflüssig sind: Der Schmerz, den ich spüre, spielt überhaupt keine kausale Rolle in der Geschichte; er motiviert nicht meine Handlungen.» (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 83) Doch gerade eine solche Auffassung ist für jedermann spätestens von dem Zeitpunkt an als unzureichend, wo nicht als gänzlich falsch erkennbar, an dem wir von Empfindungen (Motivationszuständen), eben wie Hunger, Schmerz und Lust, zu Gefühlen (Emotionen) übergehen. Die Gefühle, so sahen wir, haben wesentlich den Zweck, reflexartig Ausdrucksweisen und Verhaltensformen zu initiieren, die als Botschaften von anderen Lebewesen, vor allem denen der eigenen Art und innerhalb der eigenen Gruppe, wahrgenommen werden und die bei diesen entsprechende Verhaltensänderungen herbeiführen können (und sollen). Gefühle sind daher kein nebensächliches Beiwerk neurophysiologischer Abläufe – kein bloßes Nebenphänomen, so wie beim Wasserkochen die Blasenbildung zu gluckernden Geräuschen im Kessel führt –, sondern es ist, um im Bilde zu bleiben, der «Dampfkessel» selbst so konstruiert, daß der Dampfaustritt einen Pfeifton erzeugt, der als Signal dient, um den Heizvorgang einzustellen. Wir betrachten nur noch einmal die Bilder in Abb. B 86 oder B 89, und wir werden feststellen, daß wir nicht allein die Gemütslage eines Schimpansen oder

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eines Menschen mühelos «richtig» einzuschätzen vermögen, sondern daß wir auf diese von uns vorgenommene Deutung sogleich auch mit eigenen Gefühlen antworten. Das Verstehen der Bedeutung von Gefühlen ist selbst kein Teil einer physikalischen oder physiologischen Kausalität, wenngleich natürlich die – optische – Wahrnehmung auf den im Gehirn vorgesehenen Verarbeitungsbahnen erfolgt und die «Interpretation» der emotionalen Situation durch eine Parallelverarbeitung impliziter und expliziter Erinnerungen an vergleichbare Szenen in Amygdala und Hippocampus zustande kommt (vgl. Abb. B 90); entscheidend ist, daß hier in einem «einfachen» Signalaustausch «Informationen» – wir können auch sagen: Inhalte – als Ursachen auftreten; denn es ist das Gefühl eines anderen (Artgenossen), das unser Gefühl in einer Weise beeinflußt, die – vor allem über Amygdala, Hippocampus und Hypophyse (vgl. Abb. B 110; B 112) – eine ganze Kaskade kausaler Mechanismen «von oben nach unten» auslöst. Zudem sahen wir uns bei den neurologischen Erklärungen selbst so schwerer seelischer Störungen wie der Depression oder der Schizophrenie Stelle um Stelle im unklaren, ob wir auf der Ebene der Neurotransmitter und der ihnen zugeordneten Hirnareale wirklich die Ursache oder die Folge der Krankheit beschrieben fanden; immer mußte auch mit einem in wörtlichem Sinne «psychosomatischen Effekt», mit einer Wirkung der gefühlsmäßigen Selbstwahrnehmung auf das Geschehen im zentralen und peripheren Nervensystem, gerechnet werden, – von den eigentlichen psychosomatischen Erkrankungen gar nicht mehr zu reden: wir haben es in all dem unzweifelhaft mit einer «Kausalität von oben» zu tun. Mehr ist eigentlich nicht nötig, um zu begründen, daß Gefühle keine Epiphänomene darstellen. Zudem haben wir stets betont, daß auch Gedanken Gefühle auslösen können, so wie sie selbst von diesen beeinflußt werden (vgl. Bd. I 117); ja, wir sahen in einer Reihe psychosomatischer Experimente, daß der Verlauf mancher Immunerkrankungen bereits bei Tieren wesentlich dadurch mitbestimmt wird, welche «Informationen» ihnen über ein verabreichtes Medikament – mittels entsprechender Konditionierung – zur Verfügung gestellt werden (s. o. S. 34 –35). Die Wirkung eines Medikaments (eines Placebos!) hängt entscheidend davon ab, wie ein tierischer oder menschlicher Patient es betrachtet. Es ist nicht zu sehen, wie diese Tatsachen, bezogen auf das Leib-Seele-Problem, anders denn emergentistisch gedeutet werden könnten: Hier wirkt etwas auf die «Neuronenmaschine» des Gehirns ein, das selbst nicht aus dieser Maschinerie hervorgeht; hier hat sich etwas Neues gebildet, das auf die älteren Funktionen – entsprechend deren eigenen kausalen Verflechtungen – zurückwirkt. Gleichwohl läßt sich auch so eine Folgerung nicht umgehen, die gerald m.

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edelman (Das Licht des Geistes, 137) wie viele andere Neurologen zieht: «Wenn dieses Modell», schreibt er, «das die Entstehung des Selbst aus Vorgängen im Gehirn ableitet, sich als richtig erweisen sollte, ergibt sich daraus eine betrübliche Schlussfolgerung: Das Selbst ist sterblich. Sobald das materielle Substrat . . . wegfällt, kommt der dynamische Prozess des Selbst zum Erliegen.» Das stimmt. Auch wenn der Epiphänomenalismus keine Lösung für das Leib-Seele-Problem bereithält, so ist doch, anders als john c. eccles glaubte, seine Widerlegung durchaus kein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, – auch in der Emergenztheorie sind psychische Vorgänge an eine materielle Basis gebunden; wichtig zu betonen aber bleibt mit eccles und popper, daß gedankliche und emotionale Vorgänge – daß Bewußtsein und Selbstbewußtsein – (in Welt 2), daß Sprache (in Welt 3) und Personsein eine Schicht der Realität darstellen, die zwar von physiologischen Prozessen (in Welt 1) getragen, doch von diesen nicht voll bestimmt wird. Die letztere Feststellung muß getroffen werden, weil sie nicht zuletzt auch die Identitätstheorie beziehungsweise den (neurobiologischen) Physikalismus in der Diskussion um das Leib-Seele-Problem als für die Lösung des Problems unzureichend erweist. karl r. popper kennzeichnete die Identitätstheorie als die Behauptung, «daß Bewußtseinszustände identisch sind mit den Zuständen des zentralen Nervensystems», und erklärte sie «als Modifikation sowohl des Panpsychismus als auch des Epiphänomenalismus . . . Wie der Epiphänomenalismus kann sie als Panpsychismus ohne ‹pan› (sc. griech.: alles, d. V.) verstanden werden. Doch im Gegensatz zum Epiphänomenalismus hält sie Bewußtseins-Tatsachen für wichtig und kausal wirksam. Sie behauptet, daß so etwas wie ‹Identität› zwischen psychischen Prozessen und bestimmten Hirnprozessen besteht: keine Identität im logischen Sinne, doch immerhin eine Identität wie diejenige zwischen ‹dem Abendstern› und dem ‹Morgenstern›, verschiedene Namen für ein und denselben Planeten, die Venus; obwohl sie auch verschiedene Erscheinungsformen des Planeten Venus bezeichnen . . . Im Gegensatz zum Epiphänomenalisten kann der Identitätstheoretiker sagen, daß psychische Prozesse mit physischen Prozessen in Wechselwirkung stehen, denn die psychischen Prozesse sind ganz einfach physische Prozesse oder genauer: Sie sind besondere Arten von Hirnprozessen.» (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 81– 82) Mit diesen Worten ist exakt jener Standpunkt umschrieben, den zum Beispiel gerhard roth vertritt, indem er schon in der Überschrift kenntlich macht, wie er das Leib-Seele-Problem zu lösen gedenkt: «Geist als physikalischer Zustand» (vgl. Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 300– 303). Zuerst stellt er klar,

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daß sein «Physikalismus . . . nicht die Forderung erhebt, die Phänomene aller nichtphysikalischen Disziplinen und ihre Gesetzmäßigkeiten müßten auf die Phänomene und Gesetzmäßigkeiten der heutigen Physik zurückführbar sein (sc. wie es der reduktionistische Identismus behauptet, d. V.)», sondern daß er davon ausgeht, «das vorhandene Theoriegebäude der Physik» sei «selbst nichtreduktionistisch». (gerhard roth: A. a. O., 300) Auf dieser Grundlage, die verheißt, es sei gar nicht nötig, «Geist» (Neurologie) auf «Physik» zurückzuführen, da die Physik selber das Phänomen «Geist» bereits in sich enthalte, führt er aus: «Geist kann in diesem Ansatz als ein physikalischer Zustand verstanden werden, genauso wie elektromagnetische Wellen, Mechanik, Wärme, Energie. – In diesem Zusammenhang läßt sich folgendes sagen: 1) Es gibt eine sehr enge Parallelität zwischen Hirnprozessen und kognitiven Prozessen. 2) Man kann diejenigen Hirnprozesse, die von Geist, Bewußtsein und Aufmerksamkeit begleitet sind, auf verschiedene Weisen darstellen (sichtbar machen). 3) Die Mechanismen, die zu Geist- und Bewußtseinszuständen führen, sind in groben Zügen bekannt und physiologisch-pharmakologisch beeinflußbar. – Im Rahmen einer solchen nicht-reduktionistischen physikalischen Methodologie ist es möglich, Geist auf der einen Seite als einen mit physikalischen Methoden faßbaren Zustand anzusehen, der in sehr großen interagierenden Neuronenverbänden auftritt, und auf der anderen Seite zu akzeptieren, daß dieser Zustand ‹Geist› von uns als völlig anders erlebt wird. Dies unterscheidet ‹Geist› aber nicht vom Erleben des Lichtes, der Härte von Gegenständen und der Musik.» (gerhard roth: A. a. O., 301– 302) Diesem Gedankengang ist selbstredend zuzubilligen, daß die Physik an sich keine reduktionistische Wissenschaftsmethodik verfolgt; warum auch – sie beschäftigt sich schließlich mit eben den Naturphänomenen und -gesetzen, die für alle anderen Naturerscheinungen fundamental sind (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 406 –412); reduktionistisch hingegen denkt bekanntlich jemand, der alle anderen Wissenschaftszweige (Chemie, Biologie, Neurologie, Psychologie . . .) auf Physik zurückführen, das heißt letztlich von der Physik her erklären zu können meint. Der physikalistische Ansatz nun vermeidet diese höchst problematische, weil wissenschaftlich undurchführbare Position, indem er alle (materiellen wie immateriellen) Prozesse als «Physik» betrachtet – als Erscheinungsformen der Physis; «Physitionismus» (oder einfach «Naturalismus») wäre deshalb genauso richtig zu sagen wie «Physikalismus». Doch was ist damit gewonnen? Statt die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit in ihrer Eigenart und in ihrer Wechselwirkung aufeinander zu betrachten, wird im «physikalistischen» Weltbild suggeriert, Leben, Wahrnehmen, Fühlen, Bewußtwerden etc.

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entstünden «nicht anders als» bestimmte Wirkungen der Schwerkraft oder der Elektrizität. Gewiß, die Bindung von drei Quarks in einem Neutron und die Verbindung zwischen zwei Neuronen an einem synaptischen Spalt gehören beide der «Physik» (besser: der Physis) an, – sie sind naturhafte Prozesse; doch aus den gluonischen Bindungen der Quarks geht nicht «Geist» hervor, aus den neuronalen Aktivitäten – auf einer bestimmten Organisationshöhe – schon. Entfällt dieser qualitative Unterschied zwischen dem einen und dem anderen, so braucht man die Herkunft des Geistes in der Tat nicht mehr zu erklären, weil «Geist» immer schon als eine inhärierende Eigenschaft der «Physik» (der Physis) betrachtet wird. Doch werden damit nicht nur die Abstufungen der Wirklichkeit unzulässig eingeebnet, es wird vor allem die Eigenart des «Geistes»: die Selbstbezüglichkeit des Erlebens, der subjektive Faktor in seiner Eigenständigkeit sowie die inhaltliche Seite seiner Deutungen und Bedeutungsverleihungen, als quantité négligeable – als eine zu vernachlässigende Größe – erachtet. Und das, mit Verlaub, bietet keine Erklärung der Wirklichkeit mehr, es stellt vielmehr, ganz wie karl r. popper seinen Einwand formulierte, eine Abart des Panpsychismus dar; selbst wenn ein Autor wie gerhard roth sich wohl mit Händen und Füßen dagegen verwahren würde, mit einer solchen Etikette belegt zu werden, die eines teilhard de chardin würdig wäre, kann dem Physikalismus der Vorwurf nicht erspart bleiben, mit seiner Nivellierung der enormen Stufendifferenzen der Evolution ein verkappter Mystizismus eben dieser Prägung zu sein. Neutronen gehören einer anderen Organisationsstufe der Materie an als Neuronen – beide sind nicht gleichermaßen «physikalisch» erklärbar, sondern lassen sich nur mit einem grundverschiedenen Satz von Sätzen beschreiben; und was die Aktivitäten der neuronalen Netzwerke angeht, deren Funktionen Bewußtsein und Selbstbewußtsein ermöglichen, so ist hier erst recht jede Art von Identitätstheorie zum Scheitern verurteilt. Wir erleben «Geist» (in diesem Zusammenhang verstanden als Fühlen, Selbstbewußtsein, Wollen) eben nicht genauso wie Licht, Härte oder Töne; – ein Bild von edvard munch, eine Statue von michelangelo, eine Symphonie von ludwig van beethoven wirken als Träger von Botschaften auf uns ein, die unsere seelische Gestimmtheit nachhaltig zu verändern vermögen. Es bleibt dabei: Physik ist nicht Hermeneutik; Physis ist nicht Geist. Am klarsten zeigt sich diese Tatsache an jenem Phänomen, das sich einzig «emergenztheoretisch» deuten läßt, weil es etwas darstellt, das gegenüber allen neuronalen – und physikalischen – Prozessen, auf denen es unzweifelhaft basiert, als etwas unableitbar Eigenständiges, qualitativ Neues in Erscheinung tritt: die menschliche Sprache. Wenn wir vorhin schon von Hormonen und

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Neuropeptiden, von Gedanken und Gefühlen sagten, daß sie als «Informationen» eine eigene Kausalität in Gang setzen können, so gilt diese Feststellung noch weit mehr von menschlichen Worten und sinnvermittelnden Sätzen. Sprache hat, wie karl r. popper hervorhob, vier Funktionen: «1) die Ausdrucksfunktion, 2) die Signal- oder Auslösefunktion . . . 3) die Darstellungsfunktion . . . 4) die argumentative Funktion»; von diesen aber, meinte er, könne «der Physikalist sich nur mit der ersten und zweiten dieser Funktionen auseinandersetzen . . . Daraus ergibt sich, daß der Physikalist, wenn er es mit den darstellenden und den argumentativen Funktionen der Sprache zu tun hat, immer nur die beiden ersten Funktionen sehen wird (die ja auch immer präsent sind), und zwar mit verheerenden Ergebnissen.» (karl r. popper – john c. eccles: Das Ich und sein Gehirn, 85) «Denn wenn die gesamte Sprache bloß für Ausdruck und Kommunikation gehalten wird, dann läßt man all das außeracht, was für die menschliche Sprache im großen Unterschied zur tierischen Sprache charakteristisch ist: Ihre Fähigkeit, wahre und falsche Aussagen zu machen und gültige und ungültige Argumente vorzubringen. Das wiederum hat zur Folge, daß der Physikalist nicht in der Lage ist, dem Unterschied zwischen Propaganda, verbaler Einschüchterung und rationaler Argumentation Rechnung zu tragen. – Es sollte auch erwähnt werden, daß die eigentümliche Offenheit der menschlichen Sprache – die Fähigkeit zu einer fast unendlichen Vielfalt von Reaktionen auf jede mögliche Situation . . . – mit der Darstellungs-Funktion der Sprache in Beziehung steht.» (karl r. popper – john c. eccles: A. a. O., 87– 88) Dem ist kaum zu widersprechen. Denn mit der Sprache haben wir Menschen uns in der Tat ein Instrument geschaffen, um mit einer endlichen Zahl von Worten und grammatischen Regeln eine unendliche Zahl von Aussagen generieren zu können; wenn wir insbesondere das Personsein wesentlich mit dem Spracherwerb verknüpft fanden, so ist diese Tatsache identisch mit dem, was man philosophisch stets als die Unendlichkeit des Geistes bezeichnet hat: Über die Personwerdung und den Spracherwerb schafft das menschliche Gehirn, vermittelt durch Geschichte, Kultur und Gesellschaft, sich den Zugang zu einer Sphäre, die nicht nur etwas qualitativ Neues, sondern auch radikal Anderes darstellt; und so schließt sich eine weitere letzte Frage an: Wie läßt sich die Entdeckung der Unendlichkeit «neurotheologisch» interpretieren? Dieser Seite des Leib-Seele-Problems hat sich insbesondere detlef b. linke (geb. 1945) zugewandt und daraus Folgerungen gezogen, die – wenn Namen nötig sind – sich wohl am besten als Transzendentismus bezeichnen lassen. Wohlgemerkt handelt es sich bei linkes Überlegungen nicht länger um einen

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neurologischen Ansatz zum Verständnis des Leib-Seele-Problems, vielmehr geht es um den Versuch eines Neurologen, das Auftreten des (Selbst)Bewußtseins in den Funktionskreisläufen des menschlichen Gehirns interpretativ zu bewerten. Dabei gelangt linke zu der Ansicht, daß «sich mit Hilfe der Hirntheorie (sc. der Hirnforschung, d. V.) Argumente für die Unendlichkeit des Menschen herbeiholen» ließen; und zwar über «das Konzept der Neurosemantik . . . Die Neurosemantik . . . befasst sich (sc. nach der Darstellung von martin kurthen: Neurosemantik, Stuttgart 1992, d. V.) mit der Frage, inwieweit Hirnprozesse Bedeutungen gewinnen können. Dabei zeigt sich, dass die Bedeutung eines Hirnprozesses nicht als unabhängig von der Außenwelt charakterisiert werden kann. Lässt man sich», meint linke, «aber erst auf die Außenwelt ein, so ist auch die Geschichte dieser Außenwelt nicht mehr auszublenden. Will man wissen, was das Konzept Wasser für ein Gehirn bedeutet, so wird in die Bedeutung die Geschichte dieses Konzepts einfließen, auch wenn sie für dieses Gehirn nicht immer explizit gemacht wird. So wird es nicht unbedeutsam sein, dass Wasser in der Geschichte auch einmal als etwas angesehen wurde, das mit den drei Elementen Feuer, Erde und Luft gemeinsam zur Nennung kam . . . Lässt man sich . . . auf die Umwelt und ihre Geschichte ein, so gerät man in der Tat in einen Prozess, der immer weiter zurückverfolgt werden kann, bis in die Evolution und die Geschichte des Kosmos. All dies kann von der Semantik des Gehirns nicht prinzipiell abgetrennt werden. Ist nun der Kosmos rückwärts gedacht ein unendlicher, also ohne Anfang, dann wäre die Neurosemantik etwas, was am Gehirn durchaus Teilhabe an der Unendlichkeit aufweisen würde. Das Gehirn wäre gleichsam eine semantische Verweismaschine» – auf das Unendliche. (detlef b. linke: Das Gehirn – Schlüssel zur Unendlichkeit, 79 –80) In dieser Argumentation erscheint das Gehirn mit Recht als ein Organ, das die Erfahrungsmomente seiner eigenen Entwicklung, wie das Leben im Wasser auf der Stufe der Fische oder das Baumleben der Primaten, als etwas (symbolisch) Bedeutsames gespeichert hat (vgl. e. drewermann: Glauben in Freiheit, I 419– 502); die Welt, die so ins Bewußtsein tritt, gilt linke aber als ein Unendliches, das ein bewußtes Erleben selber ermöglicht. Verhielte es sich so, ergäben sich selbstredend eine Reihe von Konsequenzen von quasi fundamentaltheologischer Tragweite sowie eine Reihe praktischer Nutzanwendungen von psychotherapeutischer Weisheit: Das menschliche Gehirn entdeckt – notwendigerweise – die Existenz der Unendlichkeit, und es begreift sogleich, daß es selber geschichtlich nur als ein Teil dieses Unendlichen ermöglicht wurde. Liegt es da nicht nahe, diesen Ansatz geradewegs in die Sprache der Theologie zu übersetzen und «das Unendliche» mit «Gott» zu identifizieren und alsbald

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den Fehlformen des Daseins nachzuspüren, die darin gründen, die Dimension des Unendlichen im Leben entweder gänzlich zu leugnen oder aber das Unendliche dort zu suchen, wo es nicht sein kann: im Endlichen? Der Problemstellung selber sind wir schon einmal begegnet, als wir uns mit der Definition von «Geist» bei sören kierkegaard auseinanderzusetzen hatten, um das Problem der Angst aus Bewußtsein zu begreifen (vgl. Bd. I 649 –659), und die Erinnerung daran hilft uns denn auch sogleich zu erkennen, daß der Unterschied in der Rede vom Unendlichen bei dem dänischen Religionsphilosophen und bei einem Neurologen unserer Tage größer nicht sein kann. Denn wohl, die Symptombeschreibungen ähneln sich irgendwie: alle menschliche Verzweiflung entsteht aus einem Unvermögen, das Unendliche «richtig» zu positionieren; doch dann sind wir schon bei der Frage angelangt, was mit dem «Unendlichen» denn nun gemeint ist – und in aller Klarheit müssen wir an dieser Stelle darauf bestehen, daß die Ausführungen von detlef b. linke sich für Theologen (und für alle religiös Suchenden) zwar sehr verlokkend darbieten, doch ihnen nicht zu bieten vermögen, wonach sie verlangen, ja, sie sogar in die Irre führen. Denn keinesfalls ist der Gott der Religion identisch mit der Unendlichkeit des Universums, er ist ganz im Gegenteil die Verkörperung der radikalen Andersheit des menschlichen Daseins in bezug zum Universum; er ist das absolute Du im Hintergrunde dieser Welt. Noch einmal und sooft als nötig: Wir bedürfen inmitten des Dilemmas unserer menschlichen Existenz, ausgespannt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, eines Gottes nicht in der Ununterscheidbarkeit seiner von der Grenzenlosigkeit des Kosmos, wir bedürfen eines Gottes zur Befreiung von dem Einerlei des alltäglichen Grauens inmitten der Natur. Nicht der Versöhnung mit der Welt, – ihrer Überwindung gilt die Religion. Wie aber dann? Ist das Universum wenigstens das Unendliche, für das giordano bruno es ausgab und als welches detlef b. linke es offenbar ansehen möchte? Mitnichten! Alles, was wir kosmologisch sagen können, besteht in der Auskunft, daß diese Welt vor rund 20 Milliarden Jahren begonnen hat (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 254– 255) und daß sie irgendwann auf irgendeine Weise zugrunde gehen wird (vgl. e. drewermann: A. a. O., 610– 626; 1064 – 1066) – von Unendlichkeit keine Rede. Die Unendlichkeit, auf welche der menschliche Geist stößt, ist mithin keine Eigenschaft der Welt, sie ist als erstes eine Auszeichnung seiner selbst. Eben deshalb aber ist es nicht möglich, aus der Unendlichkeit des menschlichen Geistes auf eine Unendlichkeit in der Realität zu schließen, und eben diese Unmöglichkeit ruiniert den gesamten

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«neurosemantischen» Ansatz bei detlef b. linke. Denn um es so einfach wie möglich zu sagen: selbst wenn das Weltall «unendlich» wäre, so änderte eine solche Tatsache absolut gar nichts an unserer Lage. Als erstes geht es nicht um «endlich» und «unendlich», als erstes geht es um das Problem, wie es uns Menschen möglich ist, inmitten einer unmenschlichen Welt uns einen Rest an Menschlichkeit zu bewahren. Eben deshalb auch haben wir Gott nicht durch Selbstausdehnung des menschlichen Gehirns entdeckt, wir haben ihn, notvoll genug, postuliert als das Gegenüber einer absoluten Person, deren die menschliche Person bedarf, um sich selbst zu finden. Nicht das (Selbst)Bewußtsein, – das Personsein (kierkegaards Umschreibung für – individuellen – «Geist») bildet den Ausgangspunkt für die Sehnsucht und Suche des Menschen nach einem personalen Gott. Insofern läßt sich wohl auch neurosemantisch die Kluft nicht überbrücken, die der Ausfall der Metaphysik der Seele in der tradierten Theologie aufgerissen hat. Zu Gebote steht uns nicht das Wissen um ein bewiesenes Unendliches; zu fragen bleibt einzig, wie wir die «Synthese» zwischen den Spannungspolen von Endlichkeit und Unendlichkeit in der eigenen Existenz zu bilden vermögen, ohne gehalten zu sein in der Unendlichkeit einer anderen Person, die weder die Welt noch wir selbst ist. Nicht die Fähigkeit des Menschen, sich die Infinitesimalrechnung auszudenken und den Begriff des mathematisch Unendlichen zu diskutieren, stellt die Aufregung und Beunruhigung unseres Daseins dar; was uns als Menschen zugleich auszeichnet und quält, ist der Umstand, daß wir uns in einer Welt vorfinden, die niemals unsere Heimat wird, daß wir die Gleichgültigkeit nicht akzeptieren können, mit der in jedem Augenblick der Tod den liebsten Menschen an unserer Seite hinwegzureißen vermag, daß wir immer wieder Fragen an eine Natur richten, die diese weder hören noch je beantworten wird. Nicht der freundliche Kontext einer uns immer schon gemäßen und gewogenen Welt erweist uns die Unendlichkeit Gottes, vielmehr nötigt uns der humane Protest gegen die inhumane Absurdität der Grundlagen unserer Existenz dazu, eine Welt zu entwerfen, die nicht mehr aufgeht in dem Reglement der Grausamkeit der Evolution; allein für diesen Entwurf benötigen wir den Glauben an einen Gott, der selber Person ist. Nicht daß wir hernach, in Umkehrung der Perspektive, denn doch die Einrichtung der Welt aus der Sicht Gottes zu verstehen und zu begreifen vermöchten; im Gegenteil: die Fremdheit zwischen Mensch und Welt, die alles religiöse Fragen und Suchen vorantreibt, ist die gleiche, die den Gott, auf den wir vertrauen (wollen), von der Welt, die wir kennen, trennt, ja, trennen muß. Anders geht es gar nicht. Was von der «Seele» von einst – dieser unendlichen, immateriellen Geistsub-

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stanz vergangener Tage – uns bleibt, ist einzig die Erinnerung an diese wesenhafte Andersartigkeit des Menschen als Person. Gesehen hat diesen Protest gegen die Einrichtung der Welt und dieses Ringen um Gott wie kein anderer Autor der Weltliteratur der amerikanische Dichter herman melville. Mitten in dem kalten Licht des Elmsfeuers, das auf den Rahnocken und Mastspitzen der Dreimastbark Pequod lodert, läßt er seinen unglückseligen Kapitän Ahab ein ewig gültiges Entweder-Oder in das Brausen des Taifuns hineinbrüllen: «Mitten im verkörperten Unpersönlichen stehe ich hier, eine Persönlichkeit. Wohl bin ich kaum mehr als ein Punkt im All, woher ich auch komme, wohin ich auch gehe; doch während ich hienieden weile, lebt auch diese königliche Persönlichkeit in mir und weiß um ihre königlichen Rechte. Doch Krieg ist Qual, und Haß ist Leid. Zeigst du dich in der Liebe niedrigster Gestalt, so will ich vor dir knien und dich küssen, zeigst du dich aber bloß als höchste Himmelsmacht, so bleibet etwas in mir ungerührt, ob du auch ganze Flotten vollbeladener Welten auf mich hetztest.» (herman melville: Moby Dick, CXIX 771; vgl. e. drewermann: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, 96–114; 150–176)

b) Seele als Symbol oder: Einsichten aus Ethnologie und Religionsgeschichte Was, wenn es so steht, sollen wir noch mit Seele bezeichnen? Als metaphysischer Begriff hat das Wort sich aufgelöst in Neurophysiologie, Biopsychologie, Soziologie; und doch besitzt die Bezeichnung ihre unverzichtbare Kostbarkeit. Noch nämlich leuchtet in ihr etwas auf vom Schimmer der Schönheit des Menschen, von seiner Sensibilität als Subjekt, von seiner Poesie als Person. In dem Wort Seele teilt sich (noch) etwas mit von dem Gespür, daß da etwas sei, so wenig vergänglich, wie schillers Hymnus An die Freude, wenn ein beethoven ihn vertont: Allen Sündern soll vergeben / Und die Hölle nicht mehr sein. (friedrich schiller: Gedichte, in: Werke, II 86 – 89)

Ob man von «Seele» spricht und damit einen zutiefst dichterischen Ausdruck wählt, oder von der «Psyche» bzw. von der «Neuronenmaschine», entscheidet darüber, welch einen Zugang als Priester, als Arzt, als Therapeut, als Mensch man zu einem anderen Menschen sich eröffnet oder verschließt.

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Im Jahre 1958 hat der belgische Maler paul delvaux (1897–1994) in der ihm eigenen Imagination ein Bild gemalt unter dem Titel Die Schule der Gelehrten (Öl auf Leinwand, 150/220 cm, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien; Tafel 6), darauf man einer zwiefachen wissenschaftlichen «Befragung» beiwohnt: Auf der linken Seite prüft ein Wissenschaftler, kenntlich bereits an dem weißen Mantel, ein Gebilde, das er mit den spinnenbeinigen Fingern seiner rechten Hand sich dicht vor die Augen hält; mit der linken hat er gerade ein Okular in sein Auge geklemmt, während er seine Brille auf die Stirn hinauf geschoben hat, – offenbar ist deren Sehschärfe nicht ausreichend, um das Objekt seiner Forschung genau genug zu betrachten. Bei dem «Objekt» handelt es sich um so etwas wie eine große Muschel oder einen Stein. Vor dem Untersuchenden steht ein älterer Herr, ebenfalls ein Brillenträger, dem bis auf einen spärlichen Kranz im Nacken längst alle Haare seines Hauptes ausgefallen sind; mit beredt geöffneten Armen, die seine ganze Hilflosigkeit angesichts der Bedeutung der zu erörternden Frage verraten, ist er dabei, sich an jenen Fachmann um Auskunft zu wenden. Beide, wie wären es ihre Spiegelbilder, stehen vor zwei Skeletten, deren eines mit einem (Leichen)Tuch verhüllt ist; darüber, hoch droben auf einem Regal, thront die Büste einer Berühmtheit – das Vorbild des Ruhms erwiesener Gelehrsamkeit offenbar, der genius loci der ganzen Szene. Auf der rechten Bildseite hat vor einem grün gedeckten Tisch eine Frau mit nacktem Oberkörper Platz genommen, deren zu ihren Füßen herabgerutschtes Kleid unter der weit herabfallenden Tischdecke hervorschaut; ihr blondes mittelgescheiteltes Haar ist straff gekämmt, unter den schwarz nachgezogenen Augenbrauen geht ihr Blick ins Leere; ihre Hände liegen wie schicksalergeben ineinander verschränkt auf dem Tisch. Vor ihr steht ein anderer Gelehrter, ebenfalls ein glatzköpfiger Brillenträger, und richtet sich allem Anschein nach mit einer Frage an sie; sein linker Arm hängt wie erschlafft herab, während die offene Hand seiner Rechten sich vorstreckt wie zur Erläuterung seines Vortrags. Hinter ihm steht eine starr blickende Frau, die mit ihrer schmalgliedrigen linken Hand diesen Gelehrten buchstäblich vor sich herzuschieben scheint, so als wollte sie, vermittelt durch diesen, sich selber in jener anderen erforschen. Vier weitere Personen, deren Gesichter im Dunklen verschwimmen und von denen der größte mit seinem schwarzen rechten Auge und seinem knochigen Schädel aussieht wie der lebende Tod, bilden die Zuschauer dieser sonderbaren Befragung. Die Aufgliederung des Bildes in die linke und in die rechte Hälfte deutet die Bizarrerie dieser ganzen Art von wissenschaftlicher Gelehrtheit an: es ist dieselbe gleichgültige «Objektivität» und Gefühlskälte, mit der ein solcher Typ von Wissenschaftler sich unterschiedslos einem Muschelgehäuse wie einer

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Frau zuwenden wird; vor den Augen derartiger Leute wird alles nach gleichem Verfahren seiner Hüllen entblößt, ob es tot ist oder lebendig, ob es sich wirklich nur um einen Gegenstand handelt oder um ein fühlendes Subjekt; was sich da manifestiert, ist eine Wissenschaft ohne Scham und Scheu, ohne Respekt und Rücksicht, sie selber ist seelenlos und geeignet einzig zur Erforschung von Seelenlosem. Daß es sich so verhält, zeigt der Blick über das kunstvoll geschmiedete Stahlgitter der Veranda hinaus in einen steinernen Innenhof, der von einer Vielzahl von Lampen bestanden wird und von einem riesigen fünfstrahligen Leuchter behangen ist, – überbeleuchtet und überbelichtet das alles. Ja, desto genauer man hinschaut, um so surrealer mutet das gesamte Bild an: Da führt eine Leiter hinauf in ein undurchdringliches Dunkel, da fährt eine Lokomotive dampfend und stampfend grad über die Mauer des Hofes, so als wären ihre Gleise unmittelbar darüber verlegt. Die Menschenleere dieser steinern umfriedeten Innenwelt verrät nichts als ihre gänzliche menschengemachte Menschenfeindlichkeit. Etwa eineinhalb Jahrzehnte später, 1971, malte paul delvaux sein thematisch ganz verwandtes Bild Hommage à Jules Verne (Öl auf Leinwand, 150 × 210 cm, Fondation Paul Delvaux, Saint-Idesbald; in: paul delvaux, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, 20. Jan. – 19. März 1989, S. 104–105): Auf diesem Bild sieht man die gleiche Person – Professor Otto Lidenbrock – in gleicher Kleidung, in gleicher Haltung, die gleiche Muschel (oder den gleichen Stein) beurteilend; nicht sieht er bei seiner Nachforschung die vornehm gekleideten Frauen, die hinter ihm aufeinander zu flanieren; nicht beachtet er die Hüllenlose, Nackte, die, nur mit einem roten Hut bekleidet, sich wie eine Schlafwandlerin auf den Betrachter zu bewegt, – sehr zum Erstaunen seines neugierig forschend dreinblickenden Kollegen im Hintergrund. Auf der rechten Bildseite stehen, mit dem Rücken zueinander, zwei nackte Jungen, deren einer von einem schwarzgewandeten Gelehrten begutachtet wird. Direkt über dem Kopf des Professors kommt erneut eine Dampfmaschine zum Einsatz, und wie auf dem früheren Bild ist die ganze Szene in eine lebensfremde und lebensfeindlich Steinwelt hineingestellt, überwölbt von einem Metallgerüst, das von zweimal fünf Strahlern beschienen wird. Diesmal aber öffnet diese Welt sich in ein wie gefroren daliegendes wellenloses Meer, auf dem gerade ein Schiff mit gerefften Segeln dahingleitet – als das Symbol einer Sehnsucht, die sich niemals erfüllen wird. – Wenn man erst einmal beginnt, Muscheln wie Menschen nach gleicher Methode zu behandeln, scheinen die beiden Bilder zu besagen, so wird man zwangsläufig ein vollkommen steriles Gehäuse als Wohnraum der Menschheit errichten und einrichten, innerhalb dessen man vielleicht Maschi-

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nen konstruieren kann, in dem aber alles Leben erstarrt. Die technikfreudigen Utopien des französischen Schriftstellers jules verne (1828 –1905) verwandeln sich auf delvaux’ Bildern in die Albträume einer nur noch «objektiv»distanziert wahrgenommenen Welt, in der alles erstirbt und versteinert. Im Abstand von einem halben Jahrhundert jedenfalls kann man diese Bilder kaum anders verstehen denn als dramatische Warnungen vor dem Verlust der Seele in den modernen Wissenschaften. Das Wort «Seele» eröffnet in diesem Zusammenhang eine Sphäre der Subjekthaftigkeit, der Sensibilität und der Sanftheit, der schutzbedürftigen Innerlichkeit, der schamhaften Intimität und der schönheitgeschmückten Intensität – es ist ein poetisches Wort, das nichts (mehr) erklärt, das aber um so eher zur Verklärung des menschlichen Daseins gereicht; es ist kein Begriff (mehr), gewiß, es ist ein Symbol. Der amerikanische Dichter saul bellow (1915 – 2005, Nobelpreis 1976) bemerkte einmal zu seinem Roman Herzog (1964), es gebe «auch in der größten Verwirrung noch eine offene Verbindung zur Seele . . . Sie mag nur schwer zu finden sein, weil sie, wenn man einmal die Mitte des Lebens erreicht hat, zugewachsen ist und ein Teil des wildesten Dickichts, das sie umgibt, aus etwas herausgewachsen ist, was wir unsere Erziehung nennen. Aber die Verbindung ist immer da, und unsere Pflicht ist es, sie offen zu halten, einen Zugang zum tiefsten Teil unserer selbst zu haben – zu jenem Teil von uns, der ein höheres Bewusstsein kennt, mit dessen Hilfe wir abschließende Urteile treffen und alles zusammensetzen. Die Unabhängigkeit dieses Bewusstseins, das stark genug ist, gegenüber dem Lärm der Geschichte und den Ablenkungen durch unsere unmittelbare Umgebung unempfänglich zu sein, ist das, worum es im Lebenskampf eigentlich geht. Die Seele muss ihren Grund finden und ihn gegenüber feindlichen Mächten behaupten, die manchmal in Vorstellungen verkörpert sind, welche häufig gerade ihre eigene Existenz leugnen und tatsächlich oft zu versuchen scheinen, sie ganz zu zerstören.» (Zit. n. benjamin libet: Mind Time, 266.) So verstanden, ist das Wort Seele eine dichterische Vokabel, die den «tiefsten Teil unserer selbst» bezeichnet, die Ahnung, daß wir «ein höheres Bewusstsein» in uns tragen, die Stelle einer Einheit unserer Wahrnehmungen und Gefühle, den Ort unseres eigenen Seins, unserer Selbstbehauptung und unserer persönlichen Wahrheit, – eine Chiffre also, der Rest eines Mythos; und wir kehren zu einer Einsicht zurück, um die bei aller Rationalität der Reflexion platon noch wußte: man muß die Seele träumen, um sie zu denken. Ein Hauptfehler in der Argumentation zum Beispiel von john c. eccles beruhte offenbar darauf, den (christlichen) Theologen mit ihrem metaphysi-

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schen Seelenbegriff zu viel Kredit geschenkt zu haben. Stets ist die Metaphysik eine Nachfahrin der Mythologie. Auch an deren Erklärung haben sich Neurologen wie andrew newberg herangemacht, indem sie das mythische Denken, als eine Mischung aus den Angstsignalen der Amygdala und dem «kausalen Operator» im Hippocampus – miteinander verknüpft im Parietallappen – zu beschreiben suchten, wobei die Zusammenarbeit von linker und rechter Hirnhälfte aus der logischen Vorstellung einer erklärenden Ursache eine gefühlte Glaubensauffassung gestalte (vgl. andrew newberg – eugene d’aquili – vince rause: Der gedachte Gott, 94–109); danach sähe es so aus, als sei die Religion nichts weiter als das Echo auf das Rauschen des limbischen Systems – so wie das Träumen eine Zeitlang als der Versuch des präfrontalen Cortex betrachtet wurde, mit dem Hirnstamm-Rauschen zurechtzukommen (vgl. Bd. I 351; 368). Wahrscheinlich aber verhält es sich gerade umgekehrt: Mit der Entwicklung der Fähigkeiten des vorderen Stirnlappens begannen Menschen, zu sich selber erwacht, an die Welt Fragen zu richten, die unbeantwortet blieben, und ihre im Geist unendlich gewordene Angst ließ sich nur beruhigen, indem die Erfahrungsräume uralter kreatürlicher Sicherheit selbst als Symbol ins Unendliche sich erweiterten. (Vgl. zum Symbolverständnis e. drewermann: Glauben in Freiheit I 303– 308; 398 –419.) Eines solcher Symbole nun, in denen das eigene Herz sich ins Unendliche ausdehnt, ist offenbar das Wort Seele, verknüpft in der Religionsgeschichte stets mit der Vorstellung eines Lebendigseins nach dem Tod, wenngleich in höchst unterschiedlicher Weise. Die rationalistisch grübelnde Metaphysik hat den Erfahrungswert dieses Wortes im nachhinein zugleich verengt und verdünnt, wenn sie daraus eine geistige Substanz zu destillieren suchte; ursprünglich meinte «Seele» ungleich viel mehr: ein Bild der Person, vorgestellt inmitten einer unvorstellbaren Welt. Darum empfiehlt es sich, ein wenig dem Seelenglauben in den Religionen der Stammeskulturen (in der Ethnologie) ebenso nachzugehen wie in der Religionsgeschichte der Hochkulturen; denn obgleich eine solche Untersuchung nur sporadisch und fragmentarisch sein kann, lehrt sie uns doch, die überkommene dogmatische Einseitigkeit (sowie die Enttäuschung daran!) zu vermeiden und ein wenig von der Fülle zurückzugewinnen, die das träumende Bewußtsein der Menschheit dem Urwort Seele einst zuschrieb. (Vgl. bernhard uhde: Psyche – ein Symbol? Zum Verständnis von Leben und Tod im frühgriechischen Denken, in: Gunther Stephenson: Leben und Tod in den Religionen, 103–118.)

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α) Facetten der Ethnologie oder: Die Seele und ihr Gott Wie wenig einheitlich die Vorstellung von «der Seele» in den verschiedenen Kulturen ausfällt, wird einem Betrachter schlagartig klar, wenn er zum Beispiel in Stuttgart das völkerkundliche Linden-Museum betritt: Wenige Meter von dem Eingang zur südamerikanischen Abteilung stößt er in einem kleinen Areal von wenigen Schauvitrinen auf Exponate des 40000-Einwohner-Volks der peruanischen Jivaros, die zwischen Anden und Amazonas leben und vor allem durch die Förderinteressen von Erdölfirmen in den vergangenen Jahrzehnten in arge, nicht selten kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wurden. Die Jivaros waren bis in die Mitte des 20. Jhs. hinein Kopfjäger; sie repräsentieren mithin eine Kulturform, die in früheren Zeiten weit über die Erde hin verbreitet war und deren Vorstellungen von der Seele uns in eigenartige Zusammenhänge einführen können: Ab sechs Jahren besitzt nach dem Glauben der Jivaros ein Junge als erstes eine Arutam-Seele, die nicht unverwundbar ist; wenn jemand getötet wird, schweift diese Arutam-Seele umher und wird zu einer Muisak-Seele, einer Rächer-Seele, die selber töten will, um ihre Ermordung zu ahnden; damit sie aufhört, eine Gefahr für die Überlebenden darzustellen, bannt man sie in den Schrumpfkopf . . . Das alles ist so fremdartig und wüst, daß es nicht leicht fällt, Anschauungen dieser Art uns verständlich zu machen; und doch gibt es eine gemeinsame Überzeugung, dargelegt in zwei verschiedenen Vorstellungsreihen. Einen nach wie vor brauchbaren, wenn auch stark korrekturbedürftigen Ausgangspunkt für alle Seelenvorstellungen dürfte das Konzept des Animismus bilden – ein Ausdruck, der von edward burnett tylor (1882 –1917) in seinem zweibändigen Werk Primitive Culture im Jahre 1871 (dt.: Die Anfänge der Kultur, Leipzig 1873) grundgelegt wurde (vgl. a. a. O., I 419– 421). tylor ging zugunsten einer evolutiven Herleitung des religiösen Bewußtseins von einer Minimaldefinition der Religion aus: Religion, so seine möglichst unvoreingenommene, von keinem besonderen theologischen System beeinflußte Annahme, sei der Glaube an geistige Wesen (vgl. edward b. tylor: Die Anfänge der Kultur, I 418). Solche geistigen Wesen träten in zweierlei Formen auf: einmal als die Seele von Menschen (dann auch von Tieren, Pflanzen und sogar leblosen Gegenständen), und daneben als körperlose Geister in eigener Existenz. Für diese Unterscheidung in «Seelen von individuellen Geschöpfen» und «andere Geister . . . bis zum Range von mächtigen Gottheiten hinauf» (a. a. O., I 420) machte tylor zum einen – wie in den gerade zitierten neurolo-

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gischen Überlegungen zur Entstehung von Mythen – die Suche des Menschen nach Ursachen geltend. Tatsächlich haben wir bereits bei einem fünf Monate alten Kind die Anfänge eines kategorisierenden, kausalen Denkens in der Unterscheidung von belebten (sich selbst bewegenden) und unbelebten (von außen bewegten) «Gegenständen» beobachten können; nach tylor hat der Mensch der Urzeit gleichermaßen eine solche urtümliche Differenzierung vorgenommen, indem er die Welt in lebende und tote Körper unterteilte (vgl. a. a. O., I 422). Zum anderen bildete nach tylor der Traum eine weitere Urerfahrung zugunsten des Seelenglaubens, zeigte er doch, wie man weite Strecken zurücklegen kann, während der Körper an Ort und Stelle bleibt, oder wie man anderen im Schlaf erscheinen oder selbst derartige Erscheinungen erleben kann. Also muß es offenbar etwas geben, das vom Körper verschieden ist und diesen – im Tode – auch endgültig verlassen kann. Diese endgültig fortgegangene Seele habe dann auch den Grund für den Glauben an nicht-individuelle, selbständige Seelen gebildet – eben an Geister, Dämonen und Götter, die fortan als Ursachen für alle sonst unerklärbaren Phänomene hätten herhalten müssen. Überall auf Erden habe die Religion diesen Weg ihrer Entstehung und Weiterentwicklung gefunden. (Vgl. edward b. tylor: A. a. O., I 423 –495.) «Der Begriff einer persönlichen Seele oder eines persönlichen Geistes bei den niederen Rassen (sc. Kulturen! d. V.)», schreibt tylor, lasse sich so «definieren: Es ist ein . . . körperloses menschliches Bild, seiner Natur nach eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens in dem Individuum, das es bewohnt; es besitzt unabhängig das persönliche Bewußtsein und den Willen seines körperlichen früheren oder jetzigen Besitzers; es vermag den Körper weit hinter sich zu lassen, um schnell von Ort zu Ort zu eilen; es ist meistens ungreifbar und unsichtbar, doch offenbart es auch physische Kraft und erscheint besonders den Menschen im wachenden oder schlafenden Zustande als ein von dem Leibe, dem es ähnlich ist, getrenntes Phantasma; endlich kann es in den Körper anderer Menschen, Thiere und selbst Dinge eindringen, sie in Besitz nehmen und beeinflussen.» (I 422) Diese Ansicht läßt sich durch eine Reihe von Tatsachen belegen: In vielen Sprachen bedeutet «Seele» soviel wie Atem oder Schatten; sie hat ihren Sitz in bestimmten Körperteilen; bei schwerer Krankheit steht sie im Begriff, den Körper zu verlassen, und muß dann mit Hilfe besonderer ritueller Praktiken festgehalten oder zurückgerufen werden; ihr Fortgang aus dem Körper ist identisch mit dem Tod. (Vgl. edward b. tylor: A. a. O., I 423– 427.) Vorstellungen dieser Art sind auch in unserer Kultur noch tief verankert. Bei genauerer Untersuchung weicht allerdings der Seelenglaube in den ani-

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mistischen Kulturen in ganz erheblicher Weise von dem unseren ab, – eine Unterscheidung, die sich wohl am einfachsten in den Begriffen des «Seelenstoffes» und der «Totenseele» darstellen läßt (Termini, die von alb. c. kruijt: Het Animisme in den Indischen Archipel, S-Grevenhage 1906, in die Ethnologie eingeführt wurden). Der Seelenglauben zum Beispiel der «Primitiven» in Melanesien spricht sich vornehmlich in der Mana-Vorstellung der Eingeborenen aus. Unter dem melanesischen Wort Mana ist ein Seelen- oder Kraftstoff zu verstehen, der jedem Lebewesen zukommt, aber auch auf Gegenstände sich übertragen läßt; kannibalistische Praktiken gründen zumeist in dem Glauben, sich dieses Mana durch Essen von Körperteilen eines Getöteten aneignen zu können. Davon verschieden ist die Totenseele als eine Art schattenhaftes Ebenbild des Verstorbenen. (Vgl. herbert tischner: Südsee, in: H. Tischner: Völkerkunde, 284 –285.) Diese Totenseele oder dieser Totengeist ist während der Lebenszeit noch nicht vorhanden und tritt erst im Tode in Erscheinung; – es entsteht hier also ein erster Widerspruch sowohl zur tylorschen Theorie als auch zu unseren abendländischen Vorstellungen, in denen sich ja gerade die Seele des lebenden Menschen im Tode und nach dem Tode durchhält. Aus der Existenz von Totenseelen ergibt sich auch, daß die Welt im animistischen Glauben erfüllt ist «von Ahnenseelen, die immer noch an dem Geschehen ihrer früheren irdischen Gemeinschaft teilnehmen und darauf bedacht sind, daß ihnen in Gestalt von Opfern weiterhin Achtung und Ehrfurcht erwiesen wird. Das Opfer soll die Geister aber nicht nur geneigt machen, sondern bedeutet auch eine Notwendigkeit für die Seelen, die auch im Jenseits Nahrung brauchen.» (herbert tischner: Südsee, in: H. Tischner: Völkerkunde, 285) Im Zentrum der animistischen Religion steht folgerichtig der Ahnenkult. – Eine Ausdrucksform des Ahnenkultes kann sich äußern in der Verehrung des Schädels, in dem die größte Seelenkraft angenommen wird. So wird in manchen Teilen Melanesiens der Kopf eines Verstorbenen «einige Zeit nach der Bestattung wieder» ausgegraben und «liebevoll als Wohnort der Seele hergerichtet, indem man sich bemüht, ihm ein Aussehen zu geben, welches dem lebenstreuen Abbild des Verstorbenen möglichst nahekommt. Am vollkommensten geschieht dies am Sepik Neuguineas dadurch, daß man den Schädel mit einer Tonmasse übermodelliert, als Ersatz für die Augen Kauri-Schnecken . . . einsetzt, die sehr lebendig die Augen wiedergeben, und die echten Haarzotteln einklebt. Zu einem bestimmten Individuum wird der Schädel aber erst durch Anbringen der persönlichen Gesichtsbemalung des Verstorbenen, die dieser bei Festen und auf Kriegszügen anzulegen pflegte. Die so hergerichteten, außerordentlich lebensnahen Ahnenschädel werden dann auf prächtig geschnitzten Brettern

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oder bunt bemalten Sagorindenstücken reihenweise in den Männer-Versammlungshäusern in Gemeinschaft mit heiligen Flöten, Schwirrhölzern, Tanzmasken, Trommeln und anderen Kultobjekten ausgestellt.» (herbert tischner: A. a. O., 286) – Bemerkenswert ist neben diesem ethnologischen Befund das außerordentliche Alter dieser Praxis, die nachweislich bis in die jüngere vorkeramisch-jungsteinzeitliche Epoche (engl.: ins Pre-Pottery Neolithic, PPN B) zwischen 9600 –6800 v. Chr. im Vorderen Orient zurückgeht. (Vgl. klaus schmidt: Sie bauten die ersten Tempel, 40– 44; 245– 246.) Da der Schädel als Hauptsitz der Seelenkraft angesehen wird, ergibt sich die Praxis der Kopfjagd. «Es gab auch in Melanesien Stämme, bei denen junge Männer erst heiraten durften, nachdem sie zumindest einen Kopf erbeutet hatten. Diesem Brauch liegt eine Fruchtbarkeitsvorstellung zugrunde, dergestalt, daß neues Leben erst gezeugt werden kann, wenn bereits bestehendes vernichtet wurde. Die Begründung der Marindanim von Süd-Neuguinea für die Kopfjagd: wir müssen für unsere Kinder Namen haben, beruht auf der animistischen Überzeugung, daß das Mana schon am Namen haftet und daß die Kraftstoffe mit dem Namen auf das Kind übertragen werden; daher war es absolut notwendig, vor dem Tode des Opfers dessen Namen zu erfahren, was vielfach nur durch Anwendung einer List geschehen konnte, denn viele Eingeborene geben nur höchst ungern ihren wahren Namen preis, aus Furcht, zugleich mit diesem ihr eigenes Mana zu verlieren.» (herbert tischner: Südsee, in: H. Tischner: Völkerkunde, 287–288) Was es mit der Bedeutung des Namens auf sich hat, werden wir gleich an einem Beispiel aus Südamerika kennenlernen. Wie an den genannten Vorstellungen deutlich wird, existieren auf dieser Stufe der Seelenvorstellung zwei Arten von Seelen: Da ist einmal der Seelenstoff; diese «Seele» bezeichnet «nicht das Leben ohne weiteres, noch weniger das Bewußtsein, sondern das Mächtig-Wirkungsvolle . . . – Innerhalb dieser . . . Seelenstruktur, derjenigen des Seelenstoffes also, ist die Seele zwar ein Trennungsprinzip, aber sie scheidet nicht Stoff von Macht, noch weniger Leib von Geist; sie scheidet nur das Gleichgültige vom Numinos-Wirkungsvollen. – . . . Die Seele . . . ist in dieser . . . Gestalt nicht ein Wesen, das sich prinzipiell von andern religiösen Gebilden unterscheidet, es sei denn dadurch, daß es immer eines Trägers bedarf. Aber sogar von dieser Seite betrachtet, sieht die Seele z. B. dem Machtding, dem Fetisch, sehr ähnlich. Sie ist eben ein numinoses Gebilde neben andern: Fetischen, heiligen Bäumen, Dämonen, Geistern, Göttern.» (gerardus van der leeuw: Phänomenologie der Religion, 318) Parallel dazu allerdings existiert die Totenseele, die nach dem Tode fortlebt; doch muß man sich hüten, in dieser Totenseele ohne Umschweife die Seelenvorstellung repräsen-

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tiert zu finden, die uns im Abendland geläufig wurde. Denn so, wie der Seelenstoff – schon auf Grund der Vielzahl der ihn tragenden Körperteile: Kopf, Herz, Leber, Auge etc. – zu einer Pluralität von «Seelen» entsprechend ihren an verschiedenen Körperstellen lokalisierten Mächtigkeiten (zu sogenannten «Organseelen») führt (a. a. O., 316), so können «gewisse Zusammenhänge mit bestimmten Erlebnissen . . . zu Seelenwesen» kondensieren (a. a. O., 319) und eine Mehrzahl von Seelen ergeben. Bekannt ist diese Tatsache vor allem aus einer Hochkultur wie dem antiken Ägypten, wo unter anderem zwischen dem Ba und dem Ka unterschieden wurde. «Für unser Verständnis des Menschen», schreibt jan assmann (Tod und Jenseits im Alten Ägypten, 118), «verläuft die entscheidende Demarkationslinie zwischen Leib und Seele bzw. zwischen Körper und Geist. Im Ägyptischen scheint hier eine weitere Demarkationslinie hinzuzutreten, die offenbar noch entscheidender ist. Sie unterscheidet ein Leib-Selbst und ein Sozial-Selbst der Person. Zum Leib-Selbst gehören natürlich die Begriffe Leib, Glieder, Körper und Leichnam, aber auch ‹Ba› und ‹Schatten›. Zum Sozial-Selbst gehören dagegen die Begriffe Ka, Name, aber auch ‹Mumie›, denn das ägyptische Wort für ‹Mumie› bezeichnet auch Adel oder Würde und ist in erster Linie eine Statusbezeichnung. Die Mumie ist der Leib als Zeichenträger, insbesondere von Herrschaftszeichen, der auf die Sozialsphäre einwirkt und dem Toten in der Unterwelt Respekt verschafft. Das Herz (sc. ägyptisch jb, d. V.) ist die ‹Schnittstelle› zwischen Leib-Selbst und Sozial-Selbst, seine Leistung besteht gerade in der Integration dieser beiden Sphären zum Ganzen einer Person.» An dieser Darstellung ist besonders bemerkenswert, daß der Ba dem LeibSelbst zugeordnet werden kann; denn «eigentlich» ähnelt der Ba am ehesten der platonischen «Seele»: er wird als Falke mit einem Menschenkopf dargestellt und verkörpert nicht nur den personalen Aspekt, sondern er ist auch die Gestalt, in welcher der Verstorbene durch die Totenwelt in das Haus des Osiris, in die Halle des Totengerichtes, in die Opfergefilde und in die Sonnenbarke gelangen kann. (Vgl. jan assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, 119.) «Als Ba verfügt er auch über die Fähigkeit, verschiedene Gestalten, darunter die eines ‹lebenden Ba›, anzunehmen, in denen er vorübergehend ins Diesseits zurückkehren kann.» (jan assmann: A. a. O., 119) Demgegenüber ist der Ka «eine Art Geist, Genius, Lebenskraft, ein legitimatorisches, dynastisches Prinzip, das vom Vater auf den Sohn übergeht». (jan assmann: A. a. O., 62) Neben Ba und Ka kennt die altägyptische Religion auch den Ach, den verklärten Ahnengeist (jan assmann: A. a. O., 116), der mit den beiden Machtbegriffen sechem und seped assoziiert ist: sechem ist das Kultbild, das vom Ba

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belebt wird (das Wort bedeutet eigentlich: der Kommandostab, das Machtszepter; vgl. rainer hannig: Großes Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch, 744 – 745), und seped ist die Wirkung nach außen (eigentlich: die Effektivität; vgl. rainer hannig: A. a. O., 695). «Der Ausdruck ‹ach sein für jemand› bezieht sich auf ein hilfreiches Wirken, das von der einen in die andere Sphäre, vom Diesseits ins Jenseits und umgekehrt, hinübergreift . . . Der Sohn ist ‹ach› für den Vater, indem er ihm das Totenopfer darbringt und ihn dadurch in seinem Status eines verklärten Ahnengeists versorgt und bestätigt, aber auch dadurch, daß er auf Erden die Stellung des Vaters einnimmt und dadurch für dessen Ehre, Würde und sozialen Status in der Gesellschaft der Irdischen eintritt, und der Vater ist ‹ach› für den Sohn, indem er ihn in seiner irdischen Stellung legitimiert und vor jenseitigen Gerichtshöfen seine Interessen vertritt.» (jan assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, 442) Um diesen Glauben an eine Vielzahl von Seelen besser zu verstehen, ist die Einteilung hilfreich, die ernst arbman (Untersuchungen zur primitiven Seelenvorstellung mit besonderer Rücksicht auf Indien, in: Le Monde Oriental, 20/1926, 85 –226; 21/1927, 1–185) vorgeschlagen hat. Danach läßt sich eine ursprüngliche Differenzierung in zwei getrennten Vorstellungslinien feststellen: Da ist einmal die sogenannte Körper-Seele (in etwa entsprechend dem gerade genannten «Körper-Selbst»), in welche die Lebenspotenzen zusammengefaßt sind, und dann die Frei-Seele, die gewissermaßen die außerkörperliche Totalität eines Menschen vertritt (ihr entspricht in etwa der Ba der Ägypter). Diese beiden Seelenkonzepte treten nicht gleichzeitig auf, wechselwirken aber miteinander: «die Körper-Seele ist aktiv, wenn der Mensch bewußt und tätig ist, die Frei-Seele, wenn er schläft . . . oder bewußtlos ist». (a˚ . hultkrantz: Seele, in: Die Religionen in Geschichte und Gegenwart, V 1634) Näherhin kann die Körper-Seele sich aufteilen in eine Reihe von Seelenpotenzen, etwa als Atem, Herz oder Pulsschlag; der Atem – die Hauch-Seele – tritt auch als der eben erwähnte Seelenstoff in Erscheinung «und bietet dadurch einen Übergang zur Frei-Seele. Bisweilen stellt man sich vor, daß die Hauch-Seele eine spezielle Gabe des Höchsten Wesens . . . ist, die nach dem Tode des Besitzers zu Gott zurückkehrt. In dieser Hinsicht scheidet sie sich von den anderen Körper-Seelen, die mit der Verwesung des Menschen zugrunde gehen. Eine Sonderstellung unter den Körper-Seelen nimmt die sog. Ich-Seele ein. Sie repräsentiert die psychischen Möglichkeiten des Menschen, bes. die Gedanken- und Gefühlspotenzen und kann wie die anderen Organ-Seelen in verschiedene Seelen aufgeteilt sein. – Die Frei-Seele, die von all diesen Seelenvorstellungen ganz unabhängig ist . . ., kann den Körper in Träumen, Trancen und Bewußtlosigkeit kürzere oder längere

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Zeit verlassen; wenn sie nicht zurückkommt, stirbt der Mensch . . . Da diese Seele die einzige ist, die den ganzen Menschen vertritt, und ihre Abwesenheit von ihm sein Leben aufs Spiel setzt, ist sie meist auch die überlebende Seele, das heißt die Persönlichkeit des Menschen nach dem Tode.» (a˚ . hultkrantz: A. a. O., V 1634–1635) So betrachtet, hat sich der abendländische Seelen-Begriff allem Anschein nach aus diesem Konzept der Frei-Seele heraus entwickelt. Doch was bedeutet die Aussage, daß die Hauch-Seele oder die Frei-Seele eine «Gabe» des Höchsten Wesens sei – wie etwa in Gen 2,7 (wenn dort auch ohne Reflexion der Todesproblematik und ohne Bezug auf die Hoffnung unsterblichen Lebens)? Nach edward b. tylors Auffassung bildete der Animismus nicht nur den Hintergrund der verschiedenen Seelenvorstellungen, sondern auch des Götter- und Gottesglaubens. «Auch die höheren Gottheiten des Polytheismus», schrieb er, «finden in dem allgemeinen animistischen Systeme der Menschheit ihren Platz. Bei einer Nation wie bei der andern ist es nicht schwer zu erkennen, wie der Mensch der Typus der Gottheit war, und wie die menschliche Gesellschaft und Regierung das Vorbild wurde, nach welchem sich die göttliche Gesellschaft und Regierung gestaltete. Was die Häuptlinge und Könige unter den Menschen sind, das sind die großen Götter unter den geringeren Geistern. Sie unterscheiden sich zwar von den Seelen und den niedrigeren geistigen Wesen . . ., aber der Unterschied liegt mehr im Range als in der inneren Natur. Es sind persönliche Geister, die über persönliche Geister herrschen. Über den entkörperten Seelen und Manen (sc. lat.: die manes – Seelen der Verstorbenen, vom altlat.: manus – der Gute, d. V.), über den Lokalgenien von Felsen, Quellen und Bäumen, über der Schaar guter und böser Dämonen und den übrigen gemeinen Geistern stehen diese mächtigeren Gottheiten, deren Einfluß weniger auf lokale oder individuelle Interessen beschränkt ist, und die, je nachdem es ihnen beliebt, in dem weiten Bereich ihrer Herrschaft direct wirken, oder durch niedrigere Wesen ihrer Art, ihre Diener, Agenten oder Mittler, herrschen und handeln können. Die großen Götter des Polytheismus, deren Herrschaft über die ganze Welt verbreitet ist, sind aber ebensowenig, wie die niedrigeren Geister, Schöpfungen einer civilisirten Theologie. Bereits in den rohesten Religionen der niederen Rassen haben sich ihre Grundtypen ausgebildet und seitdem war es durch lange Perioden einer fortschreitenden oder zurücksinkenden Cultur das Werk des Dichters und des Priesters, des Legendenmachers und des Geschichtsschreibers, des Theologen und des Philosophen, die mächtigen Herrscher des Pantheons weiter zu entwickeln und zu erneuern, oder sie abzusetzen und abzuschaffen.» (edward b. tylor: Die Anfänge der Kultur, II 249– 250)

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Demnach wären die Götter nichts anderes als Aufgipfelungen von Ahnengeistern – eine These, die schon infolge der Einfachheit ihres Grundgedankens sich über lange Zeit hin größter Beliebtheit erfreute; leider aber läßt sie sich mit dem ethnologischen Tatsachenmaterial nur schwer in Vereinbarung bringen. Insbesondere der durch seine Studien über die Dema-Gottheit Hainuwele auf der Molukken-Insel Ceram bekannt gewordene adolf ellegard jensen (1899 –1965) hat die Positionen tylors einer eingehenden Prüfung unterzogen und dabei vor allem eben diese Kernthese als irrig erwiesen, es seien die Götter hervorgegangen aus den Geistern. Ganz im Gegenteil, meinte jensen, habe der Glaube an eine «Seele» des Menschen sich nur entwickeln können vor dem Hintergrund des Glaubens an göttliche Mächte, und er belegte diese seine Meinung insbesondere am Beispiel der Kultur der Apapocuva, einer Indianergruppe im Süden Brasiliens, die zur Sprachgruppe der Tupí-Guaraní gehört; der Fülle äußerst lehrreicher Details wegen lohnt es sehr, die religiösen Anschauungen dieses Volkes näher zu skizzieren. (Vgl. adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 340– 341.) Im Mittelpunkt des Weltbildes der Apapocuva steht ein Hochgott, «Unser Großer Vater», der sich in der Finsternis selbst «entdeckt»; er findet hernach seinen Gehilfen, der «Unser Vater, der Kenner der Dinge» heißt. Beide zusammen finden sie später eine Frau, «Unsere Mutter», mit der sie beide zusammenkommen, so daß diese zwei Zwillinge empfängt: einen mächtigen als Sohn des «Großen Vaters» und einen unbedeutenden als Sohn des «Kenners der Dinge». Als die beiden Väter sich zurückgezogen haben – der «Große Vater» in die fernsten Fernen, wo ewige Finsternis herrscht und von wo er erst beim Untergang noch einmal in das Geschehen auf Erden eingreifen wird, der «Kenner der Dinge» an einen unbekannten Ort –, wird die schwangere Mutter von Jaguaren gefressen, doch wunderbarerweise werden (nach ihrem Tode) die Zwillinge in ihrem Leib gerettet und sie selbst von dem «Großen Vater» (in den Himmel) aufgenommen; mit ihm zeugt «Unsere Mutter» einen weiteren Sohn, Tupan genannt, der seither im «äußersten Westen» am Himmel in einem Boot sitzt, wohingegen seine Mutter im Osten wohnt; wenn «Unsere Mutter» ihren Sohn sprechen will und er im Boot über den Himmel zu ihr fährt, entsteht ein Gewitter. – Der mächtigere Zwilling heißt «Unser älterer Bruder» – er ist der Sohn des «Großen Vaters» –, während der Sohn seines Gehilfen den Namen «sein jüngeres Brüderchen» trägt. Beide Zwillinge sind echte Dema-Gottheiten, Mächte also, denen die urzeitliche Gestaltung der Welt zukommt. So hat «Unser älterer Bruder» den Medizin-Tanz eingeführt; er ist es auch, der die Verbindung zu seinem entrückten Vater herzustellen weiß; sein Aufenthaltsort ist der Zenit; «sein

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jüngeres Brüderchen» hingegen weilt zuerst bei seiner Mutter im Osten, von wo er sich dann zu seinem Vater an dessen unbekannten Aufenthaltsort begeben haben soll. Da in fernste oder unbekannte Fernen entrückt, bleiben der «Große Vater», sein Gehilfe und dessen Sohn in der Jetztzeit bedeutungslos; «Unsere Mutter» im Osten aber, «Unser älterer Bruder» im Zenit und Tupan im Westen gestalten das gegenwärtige Leben; von daher stehen sie auch mit den Seelenvorstellungen der Apapocuva in engster Verbindung, und zwar wie folgt. (Vgl. adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 341–342.) Nach der Geburt eines Kindes stellt der Medizinmann in einem nächtlichen Ritual fest, welche Seele in dem Neugeborenen auf die Erde gekommen ist; und hier nun tritt die Bedeutung des Namens ins Spiel. Denn das neu geborene Kind hat in einer der drei genannten göttlichen Heimstätten schon lange zuvor existiert, und so muß es jetzt den richtigen Namen empfangen, der seine Herkunft aus einem der drei Himmelsbereiche und somit sein Wesen aussagt. Die «Seele» ist in dieser Vorstellung mithin ganz deutlich göttlichen Ursprungs, sie bedarf aber einer schützenden Ausstattung für das irdische Leben, die ihr aus dem göttlichen Bereich nachgesandt wird und die zum Teil auch der Medizinmann ihr verleihen kann. Näherhin ist diese aus der göttlichen Sphäre stammende Seele eine an sich sanfte «Pflanzenseele», zu der später nach der Geburt noch eine «Tierseele» hinzukommt, die mit dem Appetit auf Fleisch und mit wilden Regungen ausgestattet ist. Das Temperament eines Menschen wird vor allem durch das Wesen dieser «Tierseele» bestimmt: eine geduldige sanfte Frau etwa besitzt eine Schmetterlingsseele, in einer lebhaften und leicht boshaften Frau steckt die Seele eines Kapuzineraffen, gefährliche Menschen tragen eine Raubtierseele in sich usw. Im Tode nun zerfällt die Seele eines Menschen wieder in ihre zwei Teile; die Pflanzenseele kehrt dann zu ihrem himmlischen Herkunftsort zurück, oder sie begibt sich zu einem neuen Kind, dem der Medizinmann in diesem Falle den Namen des Verstorbenen gibt; stirbt ein Kind, so ist in ihm offenbar ein Verstorbener zurückgekehrt, der seine Verwandten noch einmal besuchen wollte. Kommt ein Mensch durch eine Gewalttat ums Leben, so bleibt seine Seele – wie bei den Jivaros – als ein gefährliches Gespenst in der Nähe, und der Medizinmann hat die Aufgabe, herauszufinden, ob es sich bei ihr um die Pflanzenseele handelt, die er vorsichtig und behutsam ins Totenreich geleiten muß, oder ob es sich um die Tierseele handelt, die es zu vernichten gilt. Der Dualismus der beiden Seelen ist im Glauben der Apapocuva bereits vorbereitet in dem Gegensatz der beiden Zwillinge, deren Polarität sich in den Menschen lediglich fortsetzt. Wohlgemerkt ist es die Pflanzenseele, die zum Jenseits Verbindung hält; daran liegt es im übrigen auch, daß der Medizinmann oftmals

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keine Fleischnahrung zu sich nehmen darf, um als Mittler zur Welt der Götter und Geister tauglich zu sein. (Vgl. curt nimuendaju: Religion der Apapocuva-Guarani, in: Zeitschrift für Ethnologie, Berlin, 46/1914, 284 –403; adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 342 –345.) Diese an sich erstaunliche Konzeption des Seelenglaubens eines südamerikanischen Indio-Volkes führt uns zu einer zentralen Einsicht, besagt sie doch, daß die «Seele» eines Menschen aus einer göttlichen Sphäre kommt und dorthin zurückkehrt, wobei die Verbundenheit mit der himmlischen Welt einzig an die spirituellen Fähigkeiten der «Pflanzenseele» gebunden ist. Entgegen tylors Konzept bedeutet diese Feststellung, «daß die Vorstellungen von einer menschlichen Seele gar nicht unabhängig von einer Gottesidee gedacht werden können, weil die Seele jene spirituelle Wesenheit des Menschen ist, die unmittelbar von der Gottheit stammt, weil die Entstehung eines neuen Menschen überhaupt nicht möglich ist, ohne daß die Gottheit mit ihrem ‹Hauch› dazu beigetragen hat. Gerade diese ‹Gotteskindschaft› ist es, die den Menschen zu dem Erlebnis des Göttlichen befähigt. Die Seelen-Vorstellungen brauchen also keineswegs auf kausal-logisch erworbenen Begriffen zu beruhen, die noch dazu auf irrtümliche Weise gewonnen sein sollen, sondern erklären sich viel vernünftiger, wenn wir sie als die oft sehr dinglichen Veranschaulichungen von Erlebnis-Inhalten ansprechen, in denen sich der Mensch des geistigen und göttlichen Aspektes der Welt bewußt wurde und zu denen er durch seine natürlichen Gaben befähigt war. – Die Aussagen über die in den Seelen-Vorstellungen enthaltene Wirklichkeit beziehen sich . . . – wie bei allen echten religiösen Gestaltungen – wesentlich nicht auf alltägliche Vorgänge als deren kausal-logische Erklärung, sondern auf das ganz besondere Wesen menschlicher Existenz, nämlich auf die Erkenntnis, daß der Mensch ohne die Fähigkeit zum Erlebnis des Göttlichen gar nicht Mensch wäre und daß es zu dieser Fähigkeit des spirituellen Teilhabens am Göttlichen bedarf. Darum beziehen sich die Angaben über die Herkunft der menschlichen Seele so übereinstimmend auf die Gottheit als den Spender.» (adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 346– 347) Worte wie diese machen in unserem Zusammenhang mit aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, wie das Wort «Seele» ursprünglich einmal gemeint war und wie wir es sinnvollerweise auch in der Gegenwart wieder verwenden sollten: nicht als einen metaphysischen Begriff, mit dessen Hilfe sich die naturphilosophische Frage nach der Herkunft von Geist und Bewußtsein im Menschen im Sinne des «Kausalitätsprinzips» beantworten ließe, sondern als ein Symbol zur Deutung der menschlichen Geistigkeit und Bewußtheit. Warum

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wir wahrnehmen, erinnern, empfinden, fühlen und denken, erklärt nicht das Wort «Seele», – zuständig für derartige Fragen ist (heute) die Neurologie beziehungsweise die Biopsychologie; hingegen wie wir mit der Wahrnehmung der Welt, mit den Erinnerungen unserer Biographie, mit den Empfindungen und Gefühlen von Geborgenheit und Zuneigung, mit den Gedanken über die Bedeutung und den Sinn unserer Existenz «richtig» umzugehen vermögen, – das zu klären ist die Aufgabe der Religion. «Seele», in den Worten immanuel kants, ist demnach keine «Kategorie des Verstandes», sondern eine «Idee der Vernunft», die uns nicht hilft, etwas zu erkennen, sondern unsere Erkenntnisse zu ordnen; besser noch sollten wir sogar sagen: «Seele» ist ein Symbol, das etwas mitteilt nicht über die kausale Entstehung des menschlichen Geistes, sondern über die Bedeutung, die der Tatsache zukommt, ein geistiges Wesen zu sein; es bedeutet negativ, sich nie mehr nur als ein Wesen der Natur (nach den Zwecksetzungen des biologischen Daseins) verstehen zu können, – es bedeutet positiv, der Herkunft aus einer anderen («übernatürlichen», «göttlichen», «himmlischen») «Welt» innezuwerden; es bedeutet negativ, für immer heimatlos in dieser Welt zu sein, – es bedeutet positiv, sich nach einer Heimat zu sehnen, die unserem Wesensursprung (unserem «intelligiblen Ich» in der Terminologie kants) gemäß ist; es bedeutet negativ, die «Tierseele» hinter sich zu lassen, die uns das Leben inmitten der Natur mit all ihrer Grausamkeit und Gräßlichkeit aufnötigt, – es bedeutet positiv, die Sanftheit der «Pflanzenseele» mit ihrem Verlangen zur «Rückkehr» ins Göttliche als die «eigentliche» Wahrheit unserer Existenz anzuerkennen. – Bestätigen läßt sich diese Bedeutung des Seelensymbols durch den alltäglichen Sprachgebrauch. Wenn wir im Deutschen von einem Menschen als von einem «seelenvollen» Charakter sprechen, so meinen wir in gerade angegebenem Sinne eine Persönlichkeit, die von einer «pflanzenseelenartigen» Sensibilität und Sehnsucht geprägt ist. – Darüber hinaus ist die Aussage von der «Präexistenz» der «Seele» von Belang; auch sie verstehen wir jetzt nicht länger mehr als eine metaphysische Spekulation über die vorgeburtliche Existenz einer Geistseele im Sinne der platonischen Philosophie (mithin auch als eine Antithese zum Kreationismus der christlichen Dogmatik), sondern als ein Symbol für den Wesensursprung unserer Existenz – als ein Bild, das man sogleich mißversteht, wenn man daraus (durch Umformung von Mythologie in Metaphysik) Informationen über den Aufenthalt der «Seele» an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten gewinnen zu können meint. Wie im Bilde der Seele die Wesensherkunft des Menschen sich aussagt, so entsprechend auch seine Zukunft, niedergelegt in den Chiffren vom Schicksal der Seele nach dem Tode. Sehr im Unterschied zu den eigentümlichen Proble-

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men der christlichen Theologie, die platonische Vorstellung von der unsterblichen Geistseele mit der biblischen Tradition von der Auferstehung des «Leibes» (am «Jüngsten Tage») zu verbinden, lassen die «Schilderungen über die Totenreise eines Verstorbenen» in den Stammeskulturen «fast niemals einen Zweifel daran, daß es der ganze Mensch ist, der sich auf diese Wanderschaft begibt – der ganze Mensch in unsichtbarer Gestalt. Auch in den Schilderungen über die Jenseitsreisen, die die ‹Seele› des Schamanen unternimmt, stellt man sich diese Seele meist in Gestalt und Wesen ganz wie einen Menschen vor. Ebenso lassen die Beschreibungen, die die Naturvölker vom Totenreich geben, die Daseinsform im Jenseits in allen Einzelheiten dem Diesseits vergleichbar erscheinen. Die Verstorbenen leben in Häusern, bestellen ihre Felder, feiern die traditionellen Feste, sind verheiratet, ja zuweilen gibt es die Vorstellung, daß ihr Aufenthalt dort wie im irdischen Leben vorübergehend ist: Sie zeugen, altern, sterben und gelangen in ein weiteres Totenreich.» (adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 348) Man kann bei diesen Darstellungen des Totenreiches nicht anders sagen, als daß hier ein Bild für «das erfüllte Leben» gemalt werden soll (adolf ellegard jensen: A. a. O., 349), und unsere Frage kann lediglich lauten, worin – in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur – diese Lebenserfüllung gesehen wird. Entscheidend in religionsgeschichtlicher Hinsicht bleibt die Feststellung, daß in den Vorstellungen über das Schicksal des Menschen nach dem Tode in einer Variante eigentlich gar nicht von einer «Seele», sondern von dem ganzen Menschen die Rede geht; andererseits gibt es daneben aber auch jene zuvor erwähnten Zeugnisse für die Ansicht, im Tode trenne sich die Seele vom Leibe, und so stellt sich natürlich die Frage, wie diese beiden heterogenen Bilder sich zueinander verhalten. Hilfreich ist der vorhin erwähnte Hinweis kruijts, daß der «Seelenstoff» als die eigentliche Lebenskraft des irdischen Menschen nicht identisch ist mit der Totenseele (oder dem Totengeist), die erst nach dem Tode in Erscheinung tritt; denn es ist – gegen tylors Auffassung – keinesfalls «dieselbe Seele, die einmal den menschlichen Körper (sc. zum Beispiel im Traum, d. V.) zu Lebzeiten vorübergehend verlassen kann und die andererseits beim Tode sich für immer von ihm trennt . . . Über den ‹Seelenstoff› oder die Lebens-Seele erfahren wir . . ., daß sie nach dem Tode des Menschen dorthin zurückkehrt, woher sie gekommen ist, und das bedeutet in der weit überwiegenden Zahl der Fälle, daß sie in den Himmel zur Gottheit zurückkehrt, wo sie bei der Geburt des Menschen ihren Anfang genommen hat . . . – Nach anderen gleichfalls sehr verbreiteten Vorstellungen bleibt die Lebens-Seele oder der Seelenstoff nach dem Tode des

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Menschen (sc. jedoch, d. V.) in der Nähe des Grabes, nicht selten in Gestalt eines Vogels oder eines anderen fliegenden Tieres, um in ein neugeborenes Kind oder in ein Tier überzugehen, nach dessen Tode sie dann ebenfalls wieder ein menschliches Dasein beginnt . . . so bleiben zwei Grund-Vorstellungen, die sich mit dem Verbleib der Lebens-Seele befassen: Sie kehrt zu ihrem göttlichen Ursprungsort zurück oder sie geht in andere Lebewesen über. Beide (sc. Auffassungen, d. V.) brauchen sich keineswegs auszuschließen und haben vor allem das Gemeinsame, daß diese Seele nicht sterblich ist. Sie stammt in ihrem allerersten Ursprung von Gott und kann entweder im göttlichen Bereiche oder in immer neuen Inkarnationen ihre Bestimmung bis in alle Ewigkeit fortführen. Diese Idee vom psycho-physischen Dualismus, wobei es die Seele ist, die den Menschen im besonderen mit der Gottheit verbindet, bedarf im Grunde nicht der Vorstellung von einem Totenreich, in dem der individuelle Mensch seine Existenz fortsetzt. Zu ihr gehört vielmehr offenbar jene Vorstellung von einem meist im Himmel lokalisierten Reich, in dem sich die Seelen der Verstorbenen aufhalten. Dieses Reich der ‹Seelen› ist . . . ursprünglich gar kein Totenreich . . ., sondern das göttliche Reich, von dem die Seele stammt und in das sie nach dem Tode zurückkehrt . . . – Im Gegensatz dazu . . . steht eine vorwiegend bei den alten Pflanzer-Völkern verbreitete monistische Auffassung vom Leben, die den Menschen als eine geistig-physische Einheit begreift und ihn in direkter, d. h. biologischer Abstammung von der Gottheit ableitet. Zu dieser Ideenwelt scheint . . . primär die Vorstellung von einem Totenreich zu gehören, in dem . . . der Mensch seine individuelle Existenz fortführt. Der Verstorbene im Totenreich ist kein ‹lebender Leichnam›; denn es ist gerade der Mensch ohne seinen Körper, der dort im Bereiche der Gottheit eine ewige Existenz weiterführt.» (adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 351– 352) «Der Eingang ins Totenreich bedeutet . . . für den Verstorbenen nicht nur die Vereinigung mit den Ahnen der gleichen Gemeinschaft, sondern vor allem auch mit der Gottheit.» (adolf ellegard jensen: A. a. O., 353) «Nach dem Tode trennen sich hier auch nicht zwei Seelen-Substanzen mit verschiedenem Schicksal, sondern der Tote, d. h. der ganze Mensch ohne seinen Körper, tritt die Reise ins Totenreich an und gewinnt die Erfüllung des Daseins, wenn ihm der Eintritt in die Gemeinschaft mit der Gottheit gewährt wird und er sein individuelles Leben im Totenreich fortsetzen kann.» (adolf ellegard jensen: A. a. O., 354) Historisch betrachtet, wird man annehmen dürfen, daß diese zwei ganz verschiedenen «Auffassungen ‹von Anfang an› nebeneinander standen, von denen die eine ihre Aufmerksamkeit zentral auf die spirituellen Wesenheiten richtete

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und sie in dualistischer Weltbetrachtung als parallele Erscheinungen neben die dinglichen stellte, während die andere das Leben als eine Einheit und das göttliche Wunder in den biologischen Lebensvorgängen selbst entdeckt. Gemeinsam aber ist beiden Auffassungen, daß der Mensch nicht ohne das Göttliche denkbar ist. In der dualistischen Auffassung vom Leben erhält er seine Seele von der Gottheit, in der monistischen stammt er auf direkte biologische Weise von ihr ab . . . Der psycho-physische Dualismus hat die Vorstellung von einem besonderen Seelenstoff hervorgebracht. Diese Auffassung bedarf nicht der Vorstellung von einem Totenreich, die . . . zur monistischen Auffassung gehört. Beide Ideenkreise aber haben sich berührt und (sc. etwa in Indonesien, d. V.) die Vorstellung erzeugt, daß eine besondere Lebens-Seele nach dem Tode zur Gottheit zurückkehrt, außerdem aber eine andere ‹Seele› – und dies ist im Grunde der gestorbene Mensch . . . – die Totenreise antritt.» (adolf ellegard jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern, 355– 356) Die zweifellos wichtigste Aussage, die sich aus dieser fundamentalen Korrektur an der tylorschen Ableitung des Götter- und Gottesglaubens aus dem Seelenglauben der «Primitiven» ergibt, besteht (neben dem rein symbolischen, nicht-kategorialen Charakter des Wortes «Seele») vor allem in diesem unmittelbaren Verweis auf die Sphäre des Göttlichen. Das Wort Seele macht überhaupt nur Sinn in diesem Verweisungszusammenhang, und wir können nach dem Gesagten gut verstehen, warum. Nicht umsonst haben wir viel Zeit auf den Nachweis verwandt, daß sich die Person eines Menschen im Kindesalter nur entwickeln kann im Gegenüber einer anderen Person, die mit ihr redet und sie in ihre Sprachwelt einbezieht; sehen wir das Personsein des Menschen in dem Symbolwort Seele repräsentiert, so kann es Bestand nur haben im Zusammenhang mit der Sphäre des Göttlichen, die selber als der «Raum» dessen gelten muß, was den «Namen» eines Menschen bestimmt. Wenn sich in dem Wort Seele ausdrückt, daß der Mensch wesenhaft nicht ein bloßer Teil der Natur ist, so manifestiert sich in der Vorstellung von dem «Vater» (oder der «Mutter») die Wesenszugehörigkeit des Menschen zu einem Gegenüber, das mit seiner Gegenwart die Entstehung des Menschlichen im Menschen (seines Personseins) allererst ermöglicht. Eigenartig: während Ethnologie und Kulturanthropologie es methodisch offenlassen mußten, was zwischen «Person» und «persona», zwischen Ich-Identität und Rollenanpassung, gesellschaftlich eigentlich mit dem «Personsein» des Menschen gemeint sei, verraten bereits in den Stammeskulturen die religiösen Vorstellungen von der «Seele» einen Glauben, der dem Menschen ein Absolutes in seinem Wesensursprung zuspricht. Was ein Mensch ist, entscheidet nicht die

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Gruppierung anderer Menschen, sondern seine Positionierung im Göttlichen, und dem Mittler zwischen Himmel und Erde, dem Schamanen, verbleibt einzig die Kunst, gehorsam den «droben» erstellten «Namen» zu erlauschen und der Gemeinschaft mitzuteilen (– eine Vorstellung, die, so schwächlich auch immer, sich noch in der christlichen Taufe ausspricht). Alle Erklärungen der Neurologie reichen nur bis zu dieser Stelle: Das Personsein des Menschen selbst ist nicht zu beweisen; man muß daran glauben, um es als Wirklichkeit zu setzen, und wiederum kann man das Personsein des Menschen nicht setzen, ohne das Personsein Gottes mitzusetzen bzw. vorauszusetzen; «Seele» indessen ist das Symbol, daß diese Einheit des Personseins des Menschen und des Personseins Gottes beschreibt. Um den Unterschied herauszuarbeiten, der zwischen diesen ursprünglichen Erwartungen, die sich in dem Konzept der Lebens-Seele und der «Totenseele» im Glauben der «Primitiven» einst aussprachen, und den Jenseitsvorstellungen, die in der griechischen Antike verbreitet waren, besteht, läßt sich die Darstellung homers anführen. Seine Schilderung vom Aufenthalt der Verstorbenen im «Totenreich» hat sich dem abendländischen Gedächtnis besonders nachhaltig eingeprägt, obgleich oder gerade weil sie den lebenden Leib des Menschen dem schattenhaften bewußtlosen Bild der «Seele» im Jenseits gegenüberstellt. «Es ist eine bestimmte Form adligen (sc. in der Palastgesellschaft konzentrierten, d. V.) Glaubens, bei der das Weiterleben des Menschen im höheren Sinne allein im (sc. kriegerischen, d. V.) Ruhm gewährleistet ist, allenfalls in den Nachkommen», urteilte wolfgang schadewaldt (Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, I 269) und stellte «diese adlige Form des Glaubens» der pythagoreischen Lehre gegenüber, in der «die Personalität des Menschen in die Seele verlegt» worden sei (a. a. O., I 269). Zu Recht verwies er dabei auf den Anfang der Ilias (I 3 –5), wo Achill besungen wird als derjenige, der in seinem Zorn «viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß / Der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden / Und den Vögeln zum Fraß.» Der Leib ist hier das «Selbst» des Menschen, die Seele ein bejammernswertes Phantom. In der Odyssee (XI 215– 224) belehrt dementsprechend die eigene Mutter den Helden des Trojanischen Kriegs mit den Worten, es treffe alle dasselbe Los, «welche da sterben. / Nicht mehr halten die Sehnen das Fleisch und die Knochen zusammen, / Sondern des lodernden Feuers mächtige Stärke vernichtet / Alles, sobald das Leben verläßt die weißen Gebeine, / Und die Seele umschwebt und fliegt umher wie ein Traumbild.» Im Hades, muß Odysseus erfahren, weilen «die Toten / Ohne Bewußtsein . . . die Bilder entschlafener Menschen» (XI 475– 476); selbst der verstorbene Achill gesteht entgegen den hilflosen Tröstungsversuchen sei-

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nes Kriegskameraden Odysseus: «Lieber wollt’ ich als Tagelöhner den Acker bestellen / Bei einem armen Mann, der nicht viel hat an Besitztum, / Als über alle die Toten, die hingeschwundenen, herrschen.» (XI 489– 491) Unglücklich dem ganzen Dasein nach, kann das Los der Verstorbenen im Hades obendrein den Charakter nicht endender Strafe annehmen, so wie bei Tantalos (XI 581– 592), so wie bei Sisyphos (XI 593– 600). Doch was folgt aus dieser Sicht des Menschen? Jener «adlige» Stolz kann sich im Grunde nur in die Endlichkeit vergraben und eine geschichtliche «Unsterblichkeit» im rühmenden Gedenken der Nachwelt von vermeintlichen oder wirklichen «Heldentaten» anstreben sowie eine biologische «Unsterblichkeit» in der Aufzucht von (möglichst vielen) Kindern; – von der potentiellen «Unsterblichkeit» der «Meme» und der «Gene» würden wir heute sprechen. Doch all das ist höchstens ein Palliativ, kein Medikament gegen die faktische Sterblichkeit des Menschen. Gerade wolfgang schadewaldt konnte auch aufzeigen, wie im Schatten des Wissens um die stete Gegenwart des Todes in der «delphischen Theologie» ein tiefes Bewußtsein der Vergeblichkeit aller Bemühungen und des Kläglichen alles menschlichen Schicksals wachsen konnte. (wolfgang schadewaldt: Der Gott von Delphi, 25– 34) Wenn «Unsterblichkeit», so müßte sie jenseits der leiblichen «Potenz» gesucht werden. Tatsächlich schreibt aristoteles in einer berühmten Stelle der Nikomachischen Ethik (X 1177b 31, S. 290) einmal, es sei, «mit dem Menschen verglichen, der Geist etwas Göttliches», und so sollten wir «nicht den Dichtern folgen, die uns mahnen, als Menschen uns mit menschlichen und als Sterbliche mit sterblichen Gedanken zu bescheiden», sondern wir sollten «uns zur Unsterblichkeit erheben und alles tun, um unsere Leben nach dem einzurichten, was in uns das Höchste ist . . . Für den Menschen ist dies . . . das Leben des Geistes, nachdem dieser vor allem das wahre Selbst des Menschen darstellt.» Wie aber lebt ein Mensch «richtig» und was eigentlich sollte den Inhalt bilden, um dessentwillen er nach der Sphäre des Göttlichen Verlangen trägt? – Die Antwort, die uns in den Mythen der antiken Welt entgegentritt, ist in Trauer wie Tröstung eindeutig: die Sphäre des Göttlichen, nach welcher Menschen sich sehnen, ist identisch mit der Ewigkeitshoffnung der Liebe. An vier Beispielen sei dies kurz dargestellt: Mesopotamien, Ägypten, Griechenland und Germanien.

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β) Facetten der Mythologie oder: Die Ewigkeitsverheißung der Liebe Geht man der Frage nach, was in den antiken Hochkulturen den Jenseitsglauben der Menschen motiviert, so findet sich unter den frühesten schriftlichen Aufzeichnungen der Menschheitsgeschichte die verzweiflungsvolle Klage des Gilgamesch-Epos: Der Herrscher von Uruk, Gilgamesch (ca. 2600 v. Chr., vgl. stefan m. maul: Das Gilgamesch-Epos, I 1–48, S. 46– 47), trauert um seinen Freund Enkidu, der in der Steppe aufgewachsen war (vgl. a. a. O., I 109 –112, S. 49 –50) und mit dem er gemeinsam Humbaba, den Wächter des Zedernwaldes im Libanon (vgl. a. a. O., V 156 –191, S. 87; V 255 –267, S. 88– 99), sowie den Himmelsstier der Göttin Ischtar tötete (vgl. a. a. O., VI 132 –146, S. 96 –97); zur Strafe verhängten die Götter über Enkidu eine tödliche Krankheit (vgl. a. a. O., VII 1– 36, S. 101; VII 251–267, S. 107–108), und so bleibt Gilgamesch untröstlich trauernd zurück; vergebens, daß er alle Welt einlädt, zu weinen (vgl. a. a. O., VIII 1–54, S. 110–112); umsonst, daß er aus den edelsten Metallen und Steinen ein Bildnis seines Freundes fertigen läßt (vgl. a. a. O., VIII 65 –72, S. 112), – es ändert in nichts seine Lage. «Auch ich werde sterben», erkennt er, «und werde nicht auch ich dann so wie Enkidu sein?» (stefan m. maul: Das Gilgamesch-Epos, IX 3, S. 120) «Enkidu, mein Freund», klagt er, «den ich so sehr liebe, / der zusammen mit mir alle Leiden durchlebte, – / es legte Hand an ihn das Schicksal der Menschheit!» (A. a. O., X 56– 57, S. 128) «Enkidu, mein Freund, den ich liebe, wurde wieder zu Lehm. / Werde nicht auch ich wie jener sein und mich niederlegen müssen, / auf daß ich nie wieder mich erhebe für immer und ewig?» (A. a. O., X 69 –71; S. 128) Es wird unmöglich sein für Gilgamesch, zumindest jenes Kraut zu behalten, das ihn, wenn nicht vor dem Tod, so doch vor dem Altern zu bewahren vermöchte: als er ein Bad nimmt, raubt’s ihm die Schlange. (Vgl. a. a. O., XI 285 –308; S. 151–152; vgl. franz marius theodor de liagre böhl: Das Problem ewigen Lebens im Zyklus und Epos des Gilgamesch, in: Karl Oberhuber: Das Gilgamesch-Epos, 237–275; ernst f. jung: Der Weg ins Jenseits, 43 –45.) Der Einzelne besitzt demnach in diesem Leben keine andere Aussicht als Alter, Krankheit, Tod und Verfall,– so der Wille der Götter (das Gesetz der Natur). Gleichwohl zeigt der Zyklus der Vegetation im Mittleren Osten zwischen Trockenzeit und Regenzeit, daß alles Sterben stets nur ein Teilvorgang ist, dem immer von neuem die Wiederkehr blühender Schönheit gegenübersteht. In den Naturreligionen des Nahen Ostens wurde dieser Zusammenhang dargestellt in

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dem Tod des Fruchtbarkeitsgottes und seiner Gefangenschaft in der Unterwelt: So erzählten die Kanaanäer von Baal, der von Mot, dem Gott des Todes, besiegt worden war und in die Unterwelt hinabsteigen mußte, doch von der Fruchtbarkeitsgöttin Anat, seiner Schwester, befreit wurde. (Vgl. john gray: Mythologie des Nahen Ostens, 33; 82– 88). In einer vergleichbaren Erzählung überlieferten die Griechen, wie der Unterweltgott Hades die Tochter der Erdgöttin Demeter als Mädchen (als «Kore») entführt und sie erst auf das Bitten ihrer untröstlichen Mutter hin jeweils für einige Monate im Jahr, in der Zeit des Wachsens und Gedeihens der Vegetation, an die Oberwelt zurückkehren läßt. (Vgl. karl kerényi: Die Mythologie der Griechen, I 182 –196.) In Mesopotamien wurde eine verwandte Mythe von der Fruchtbarkeitsgöttin, der sumerischen Inanna oder der semitischen Ischtar, erzählt, die in die Unterwelt hinabsteigt und bei der Herrin des Totenreiches, ihrer Schwester Ereschkigal, erwirkt, daß ihr Geliebter, Dumuzi (sumerisch) oder Tammuz (babylonisch), jeweils für die Jahreszeiten des Frühlings und des Sommers aus der Unterwelt wieder heraufkommen darf. (Vgl. ernst f. jung: Der Weg ins Jenseits, 18– 23.) Von dem Abstieg Ischtars in das Totenreich ist uns eine akkadische Fassung desselben Stoffes Ende des 2. Jtsds. aus Assur erhalten geblieben (vgl. erich ebeling: Babylonisch-assyrische Texte, in: Hugo Gressmann: Altorientalische Texte zum Alten Testament, 206 –210), die eben jenes überaus düstere Bild von der Unterwelt malt, das dem Hades homers oder auch der Scheol der Israeliten entspricht: Das Reich der Totengöttin Ereschkigal ist ein Land «ohne Wiederkehr», heißt es, ein dunkles Haus, ein «Haus, das niemand verläßt, der es betrat», eine «Straße, von der kein Weg zurückführt», ein «Haus, in dem die Eintretenden des Lebens beraubt werden, / wo Staub ihre Nahrung und Lehm ihre Speise ist, / wo sie kein Licht sehen und im Dunklen weilen, / wo sie wie Vögel gekleidet sind und Flügel tragen statt Kleidern, / und wo über Tür und Riegel Staub gebreitet ist.» (john gray: Mythologie des Nahen Ostens, 34) Um so mehr scheint Grund zu bestehen, die Toten zu fürchten; denn Ischtar, die als Liebesgöttin und zugleich auch als Kriegsgöttin fungiert (vgl. john gray: A. a. O., 34), droht, um sich Eintritt zur Unterwelt zu erzwingen, die Schwellen am Eingang zu zerschlagen und die Türen auszuheben, – dann würde sie die Toten heraufbringen, «daß sie die Lebendigen fressen, / Daß die Toten zahlreicher seien als die Lebendigen.» (erich ebeling: Babylonisch-assyrische Texte, in: Hugo Gressmann: Altorientalische Texte zum Alten Testament, 207) Die Ungehaltenheit der Göttin kann man verstehen, wenn man in den Klageliedern um Ischtars Geliebten erfährt, wie die ganze Welt darunter leidet, daß der zweigeschlecht-

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liche Tammuz in den Schoß der Erde (in die Unterwelt) geflohen und ihm «die Sonne . . . untergegangen» ist (erich ebeling: A. a. O., 270 –271). Ischtar verschafft sich Zugang zum Reich der Ereschkigal unter der Bedingung, daß sie an den sieben Pforten der Unterwelt Stück für Stück all ihre Kleidung ablegt, – nackt stehen Götter wie Menschen dem Tod gegenüber. Erst nach mancherlei Tricks in Magie und Verfluchung gelingt es der Göttin schließlich, «Tammuz, ihren Jugendgeliebten», aus der Unterwelt zurückzuholen, und so gebietet sie: «wascht (ihn) mit reinem Wasser, salbt ihn mit süßem Öl; kleidet ihn in ein rotes Gewand / und laßt ihn auf der Flöte aus Lapislazuli spielen / Freudenmädchen sollen ihn erheitern.» – «Mögen die Toten auferstehen und den Weihrauch riechen.» Mit dieser Bitte endet der Text. (john gray: Mythologie des Nahen Ostens, 36) Offenbar gehören dieser Vorstellung zufolge die Toten (oder besser: die «Untoten») wie alles Leben dem Regenerationszyklus der Natur an; ein individuelles Eigenleben besitzen sie insofern wirklich nur schattenhaft. Dieses Bild indessen ändert sich bezeichnenderweise geradewegs dramatisch im antiken Ägypten. (Vgl. hellmut brunner: Die Unterweltsbücher in den ägyptischen Königsgräbern, in: Gunther Stephenson: Leben und Tod in den Religionen, 215 –228.) Im Zentrum der ägyptischen Jenseitshoffnung steht der vergleichbare und doch so verschieden akzentuierte Mythos von der Göttin Isis und ihrem ermordeten Bruder, Gemahl und Geliebten Osiris, den sie im Marschland trauernd sucht und dessen verstreute Körperteile sie zusammenfügt, um von ihm den Sohn und Rächer Horus zu gebären, – dem griechischen Schriftsteller plutarch (um 50 –um 120) verdanken wir die erste zusammenhängende Darstellung dieser Erzählung in schriftlicher Form, die vom Mittleren Reich an im Zentrum der altägyptischen Frömmigkeit stand und maßgebend dazu beigetragen hat, die Unsterblichkeitshoffnungen der Pharaonen zu «demokratisieren» und zu einer religiösen Erwartung aller Menschen zu erheben, wie sie sich wesentlich dann im Christentum ausspricht. (Zum Text vgl. günther roeder: Urkunden zur Religion des Alten Ägypten; 15– 21: Die Osirissage nach Plutarch; veronica ions: Ägyptische Mythologie, 48 –54: Osiris; 54 –62: Isis; 124–136: Die Verbreitung des Osiris-Kults.) Auch die Osiris-Mythe beschreibt den naturhaften Wechsel von Fruchtbarkeit und Vergänglichkeit, von Entstehen und Vergehen, von Geburt und Tod – vom Steigen und Fallen des Nil, vom Kommen und Gehen des Monds und der Sterne, vom Aufstieg und Abstieg der Sonne; doch gegenüber den anderen (älteren) Bildern von der Himmelfahrt (des Pharaos, der im Tode zur Rechten der Sonne versetzt wird) oder von der Wiedergeburt und Verklärung (beim Ritual der «Mundöffnung»), schildert die Mythe von Isis und Osiris in ergreifenden Worten die «Auferstehung

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der Liebe» (vgl. e. drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne, 119 – 154). Religion und Erotik verschmelzen in ergreifenden Worten miteinander, wenn es in der Liebesklage der Isis (und ihrer Schwester Nephthys), gesungen in den Tempeln, da die Überschwemmungszeit endet, unter anderem heißt: Wohin gehst Du, Kind der Goldenen, das gestern geboren sich heute entfernt? (zu denen), deren Land in Finsternis liegt, deren Felder Sand sind, deren Gräber dem Schweigen dienen, deren Rufe man nicht hört. Die da liegen, ohne aufzustehen, deren Sarg von Binden umwickelt ist, deren Gliedmaßen nicht unbehindert sind, denen ihr Land so tief liegt. Denen ihr Wasser so fern ist, deren Luft davonging, wann kommt sie zurück? An deren Kapellen die Schlösser mit Erz gesichert sind, deren Schritte unter Schweigen lasten.

Um diesen bejammernswerten Zustand ihres Gemahls und Geliebten nicht länger zu dulden, verspricht sie, zu ihm (ins Grab) zu kommen und den Tod mit ihrer Liebe zu überwinden; laut ruft sie aus: Ich zerbreche den Stundenzerbrecher. Der Stundenzerbrecher zerbricht mich. Er soll nicht bestehen, der Gott, der den Plan faßte, Gatte und Gattin zu trennen.

Und ihre Schwester (Nephthys) fleht ihren Bruder Osiris an: Komm zurück zur Stunde, mein Herr, der davonging, damit Du, was Du liebst, tust unter den Bäumen. — Gehst Du zum Land der Ewigkeit, gehe ich mit Dir. — Ich gebe meine Seele für Deine Seele. (siegfried schott: Altägyptische Liebeslieder, Nr. 137, S. 162–163; Nr. 139, S. 163; Nr. 142–143, S. 164)

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Auf diese Weise kommt es zu dem geradewegs «romantischen» Motiv von der (erneuerten) Hochzeit im Grab: Denn jeder Verstorbene wird nach ägyptischem Glauben Osiris – er teilt sein Schicksal in Tod und Wiedererweckung, und jede Frau begibt sich in ihrer Liebe, der Isis gleich, in jenes Land der Göttin, «die das Schweigen liebt» (der Meretseger). Auf Tafel 7 ist eine solche Szene aus dem Grabe des Sennefer (des «Schönen Bruders»), des Bürgermeisters von Theben unter Pharao Amenophis II. (1428 –1402), wiedergegeben. (Vgl. rolf gundlach und Mitarbeiter: Der thebanische Bürgermeister Sennefer, ein Beamter aus der Zeit Amenophis’ II., in: Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim: Sennefer, 27–34.) Besonders bemerkenswert ist, daß in der Grabkammer selbst sechs Frauennamen genannt werden: 1) Merit – «die Geliebte» (dieser Name wird in der Sargkammer genannt), 2) Senet-neferet – «die schöne Schwester» (im östlichen Teil der Kultkammer und im Vorraum zur Sargkammer), 3) Senet-nai – «dieses ist die Schwester» (im Kultbereich des Grabes), 4) Senet-em-iah – «die Schwester ist der Mond», 5) Senet-mi und 6) Senai. Außer Merit sind alle Namen mit dem Wortteil Sen(et) – «Schwester» gebildet, wobei Senet-nai und Senai wohl nur zwei Formen desselben Namens bezeichnen und Senet-mi vielleicht eine Koseform von Senet-em-iah bildet. Inhaltlich sind die fünf letztgenannten Namen also nur verschiedene Aussagen über die «Schwester» – im Sprachgebrauch des Neuen Reiches also über die «Ehefrau» – und bezeichnen ein und dieselbe Person, deren eigentlicher Name vermutlich Senet-em-iah lautete. Der Name «Merit» («die Geliebte») aber, der nur in der Sargkammer auftaucht, gibt jenseits des Status der Ehefrau einen entscheidenden Aspekt von Senet-em-iah wieder. (rolf gundlach und Mitarbeiter: A. a. O., 28– 32) Auf der abgebildeten Tafel nun tritt «seine Schwester, seine Vielgeliebte . . ., die große Sängerin des Amun und die Gelobte der Göttin Mut, die Hausherrin Merit», wie es in der Beischrift heißt, auf und umgibt ihren zu Osiris gewordenen Gatten in der Sargkammer, gleich der zauberkundigen Isis, mit zärtlichen Gebärden, «um ihn aus der Totenstarre zu erlösen»: ihr Rasseln mit dem Sistrum lädt zur Liebe ein, Lotosblüten verströmen ihren Duft, von «denen eine Knospe . . . das werdende Leben, die neuerstehende Sonne darstellt». All «die zuvorkommenden, zärtlichen Gesten der verführerischen Merit gewinnen Sennefer seine Lebenswärme und Zeugungskraft zurück.» (monique nelson – fathy hassanein: Sennefers Mystische Jenseitsreise, in: A. a. O., 72) Die Bildinschrift oberhalb des Liebespaares, das nun für immer vereint ist, bezeichnet Sennefer als (im Totengericht) «gerechtfertigt durch den großen Gott». Was sich in diesem Bilde ausspricht, ist die Zuversicht, daß das Geschehen um Isis und Osiris urbildlich und vorbild-

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lich Geltung besitzt im Leben aller auf Erden Sterblichen; es ist der Anfang der Überzeugung, daß ein Gott, der die Liebe ist, die Wesen, die er ins Dasein rief, nicht im Tode zurücklassen wird. Nicht zu Unrecht deshalb haben die Griechen die Botschaft von der Unzerstörbarkeit der Liebe in die reine Intimität der Beziehung zwischen Frau und Mann verlegt, indem sie die Geschichte von Alkestis und Admetos erzählten: Beide wurden noch am Hochzeitstage voneinander getrennt, – Admetos verstarb, und die olympischen Götter, milde gestimmt ob der Grausamkeit dieses Schicksals, beschlossen, aus der Unterwelt dürfe der Gatte zu seiner Gemahlin heimkehren, wofern jemand auf Erden sich fände, statt seiner ins Totenreich hinabzusteigen; doch niemand erklärte sich dazu bereit außer der trauernden Alkestis selbst – nicht konnte noch wollte sie leben ohne ihren Geliebten; wie aber hätte dieser ins Leben zurückkommen mögen, ohne dort seine Geliebte lebend zu finden? Die Götter verfügten deshalb – doch nur ausnahmsweise, ein einziges Mal –, daß Herakles mit seiner Kraft den Totengott Thánatos bezwingen dürfe: für diesmal blieben Alkestis und Admetos vom Tode verschont. (Vgl. karl kerényi: Die Mythologie der Griechen, II 127) Doch solch ein Aufschub ist nicht von Dauer; die Geschichte von Gattenliebe und -treue über den Tod hinaus ist anrührend und schön; eine endgültige Antwort auf unser Sterbedasein aber enthält sie nicht. Eine solche legten die Griechen sich nahe in der Geschichte von dem thrakischen Sänger (und Gott geheimer Mysterien) Orpheus und seiner Gemahlin Eurydike. Wohl ein jeder kennt die Erzählung: auch Eurydike verstarb noch am Hochzeitstage – eine Schlange hatte sie gebissen; Orpheus aber, weinend, wagte es schließlich, «auch im Totenreich nichts unversucht zu lassen»; er drang in den finsteren Tartarus vor, um selbst dort die Macht Amors zu rühmen; und so beschwor er die Mächte des Todes: «Bei diesen schaudervollen Orten, bei dieser gewaltigen Öde, bei diesem riesigen Reich des Schweigens flehe ich, entzündet Eurydikes allzu rasch erloschenes Lebenslicht aufs neue! Wir sind euch ja alle bestimmt, und nach kurzer Frist eilen wir, ob später, ob früher, alle an den einen Ort. Wir alle richten hierher unseren Lauf, das ist unser letztes Zuhause, und ihr herrscht über das Menschengeschlecht am allerlängsten. Auch Eurydike wird, wenn sie die gebührende Zahl von Jahren durchlebt hat und ihre Stunde kommt, euch verfallen sein. So will ich kein Geschenk von euch, nur eine Gabe auf Zeit. Wenn aber das Schicksal der Gattin diese Gnade versagt, dann ist es mein fester Wille, nicht zurückzukehren. Freut euch dann am Tod von uns beiden.» (ovid: Metamorphosen, X 29– 39, S. 259) Die Unterweltgötter, tatsächlich, gaben Eurydike frei, doch nur unter der einen Bedingung, es dürfe Or-

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pheus sich nicht nach ihr umsehen, bis er zur Oberwelt zurückgekehrt sei. Fast angelangt schon, aus Sorge, er könnte die Geliebte doch noch verlieren, wandte indes der Sänger sich um – und verlor Eurydike ans Reich der Toten. «Sie streckt die Arme aus, voll Sehnsucht, ihn zu umfangen und umfangen zu werden, aber die Unglückliche greift nur in die entweichenden Lüfte. Als sie so zum zweitenmal starb, ließ sie kein Wort der Klage über ihren Gatten vernehmen – worüber hätte sie auch klagen können als über seine Liebe zu ihr? Sie hauchte ein letztes Lebewohl, seinen Ohren kaum mehr vernehmlich, und sank dorthin zurück, woher sie gekommen war.» (A. a. O., X 58– 63, S. 259; 261) Umsonst, daß Orpheus verlangte und flehte, noch einmal übergesetzt zu werden über den eiskalten Unterweltstrom – der Fährmann weigerte es. So lernte Orpheus, enttäuscht von der Liebe zu Frauen «oder weil er (sc. Eurydike, d. V.) Treue versprochen» (a. a. O., X 81, S. 261), «zarte Knaben zu lieben und diesseits des Jünglingsalters des Lebens kurzen Frühling und die ersten Blüten zu pflücken». (A. a. O., X 83– 85, S. 261) Das Verlangen nach Leben scheint für den Moment also stärker als die Trauer über die Tote; denn selbst die Sangeskunst kehrt Orpheus zurück: er schart um sich Bäume, Tiere und Vögel und trägt ihnen traurige Lieder vor von zumeist schicksalhaft scheiternder Liebe, darunter die Geschichte von Pygmalion, der sich, in Abscheu vor den Gebrechen von Frauen aus Fleisch und Blut, in das Idealbild seines elfenbeinernen Schnitzbildes verliebte, oder von Myrrhe, die sich in Liebe verzehrte zu ihrem eigenen Vater und von ihm den Adonis empfing, zu dem ob seiner Schönheit sogar Venus selbst, die Göttin der Liebe, in unglückliche Liebe fiel; doch schließlich wird Orpheus von thrakischen Frauen in bacchantischer Raserei überfallen und in schrecklicher Weise zerrissen. «Warum», fragt dazu der Herausgeber und Übersetzer von ovids Metamorphosen, gerhard fink, «war er (sc. Orpheus, d. V.) auch nicht gleich bei seiner toten Gattin geblieben, wie er es vor Plutos (sc. des Gottes der Unterwelt, d. V.) Thron für den Fall seines Scheiterns trotzig angedroht hatte?» Und er gibt sich selber die Antwort: «Es war sein (sc. des Orpheus, d. V.) großer Irrtum gewesen, daß er die irdische Existenz des Menschen für das Leben und die lange Zeit danach für den Tod hielt, daß er meinte, nur in jener kurzen Spanne das Glück, die Geborgenheit an der Seite der Geliebten finden zu können, obwohl ihm das Schicksal beides verwehrte.» «Der tatsächliche Schluß der Orpheuserzählung, mehr als siebenhundert Verse hinter ihrem von vielen Interpreten angenommenen Ende, liefert den Schlüssel zu ihrem Verständnis und verrät wohl auch, was für Ovid die letzte und größte aller Verwandlungen war, die Verwandlung des Todes, der scheinbar endgültigen Vernichtung, in ein seliges,

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ewiges Leben.» (gerhard fink: Ovid: Metamorphosen, lat.-dt., 370 –371) Denn so berichtet ovid im 11. Buch der Metamorphosen (XI 61–66, S. 311), daß nach seinem grausigen Ende (das im Tun der Anhängerinnen des Vegetationsgottes Dionysos doch nur vorwegnimmt, was die Natur allenthalben uns zufügen wird!) der «Schatten des Sängers wandelt unter die Erde und erkennt die Orte, die er vordem sah, allesamt wieder. Er sucht überall in den Gefilden der Seligen, findet seine Eurydike und umfängt sie mit sehnenden Armen. Dort gehen sie bald beide nebeneinander, bald eilt sie voran und er folgt, jetzt ist er der erste, geht vorneweg und blickt sich nach ihr um: nun verläßt sie nie mehr ihren Orpheus.» Endlich also geht weder im Raume – noch in der Zeit! – einer dem andern unwiderruflich «voraus» und läßt den Gefährten «zurück», endlich sind beide auf der gleichen Höhe in Raum und Zeit beieinander, endlich sind sie wirklich unzertrennlich vereint. In diesem Bilde vollzieht sich in Wahrheit eine Umwertung von allem. Denn wenn dies das Leben jenseits der Grenze des Todes ist, kann es natürlich nicht länger als «Schatten» gelten; im Gegenteil: vorbeihuschend gleich einem Traum erscheint jetzt, schon infolge der Kürze der Zeit und der steten Bedrohung des Todes, unser irdisches Dasein: – es verdient nicht, als wahres Leben betrachtet zu werden. Recht hat vielmehr der dunkle Sarkasmus des heraklit (um 480 v. u. Z.): «Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche.» (hermann diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Fr. 62, S. 27; zu den Vorstellungen vom «Jenseits» im antiken Griechenland und Rom vgl. burkhard gladigow: Naturae deus humanae mortalis, in: Gunther Stephenson: Leben und Tod in den Religionen, 119 –133.) Riten, Gesänge und Verse wie diese verraten den Grund für unser Verlangen nach Ewigkeit in einer Weise, die keiner Seelen- und Geistmetaphysik mehr bedarf: Es ist die Liebe zu einem anderen Menschen – genauer: zu der individuellen Person dieses anderen –, die Gott und den Göttern, so sie selber denn Liebende sind, das Versprechen abnimmt, daß diese geliebte Person an unserer Seite und wir selbst unsterblich sind. Wie im Glauben der «Primitiven» gilt diese Zuversicht nicht länger einer schattengleichen Seele (vor ihrer «Wiedervereinigung» mit dem «Körper»), sondern dem ganzen Menschen in einer anderen Welt, für die, wie die «Seele» selbst, auch nun das «Grab» nichts anderes ist als ein Symbol. Daß solche Aussagen sich in den antiken Überlieferungen andeuten und vorbereiten, darf als relativ wohlbekannt gelten; überraschend aber mutet es an, wenn wir sogar in der nicht gerade für sentimental gehaltenen isländischen Heldendichtung der Edda ein Lied finden, in dem die altgermanische Dichtkunst

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einen ihrer Gipfel erreicht: es geht um die ältere Dichtung von Helgi, dem Sohn König Sigmunds, bekannt als der Töter Hundings, des Vaters Feind. (Vgl. felix genzmer: Edda, 1. Bd.: Heldendichtung, Nr. 19, S. 151–156.) Helgi vermählte sich mit Sigrun, der Tochter Högnis, einer Walküre, die einzig ihn liebte, noch ehe sie ihn gesehen, doch mußte er um sie gegen deren eigenen Vater und gegen König Granmar kämpfen, denn Högni hatte seine Tochter mit dessen Sohn Hödbrodd verlobt – gegen Sigruns Willen; in der Schlacht fiel Högni, seine ganze Sippe ward ausgerottet, einzig sein Sohn Dag wird unter Treueid am Leben gelassen; doch der rächt unter Eidbruch den Tod seines Vaters, indem er mit Odins Speer seinen Schwager Helgi im Fesselwald tötet. Da sieht eines Abends Sigruns Magd «Helgi mit vielen andern» auf den Grabhügel zureiten und weiß nicht, ob’s bloßes Blendwerk ist oder bereits der Götterdämmerung Anfang. Helgi aber spricht ihr von «Heimkehr», die ihm und «den Helden verliehn». (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 36, S. 159) Davon berichtet die Magd ihrer in Trauer und Wehmut versunkenen, den Bruder verwünschenden Herrin, und sogleich begibt Sigrun sich hinein in den Hügel; dort, in Gedanken an die blutige Fehde, die um ihretwillen entbrannte, ist es Helgi, als ob der Tod nicht mehr sei, und so fordert er Sigrun zu Fröhlichkeit auf (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 41, S. 160): Trefflichen Trank trinken wir noch, ob Leben und Land verloren sind! Keiner singe uns Klagelieder . . . Nun ist die Maid mir, dem Toten, die Herrschertochter, im Hügel gesellt.

Das Glück ihrer Liebe, um das sie gekämpft, erreichen sie jetzt, – eine Hochzeit im Grab! Ja, als wären sie nicht durch den Tod zwischen Diesseits und Jenseits getrennt, erwidert Sigrun ihrem Geliebten (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 42, S. 160): Ein Lager hab ich dir, Helgi, bereitet, frei von Kummer,

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du Königssproß: im Arm will ich, Edler, dir ruhn, wie ich im Leben weilte bei dir.

Für diesen Moment scheint es, als gelangte ihre Liebe endlich ans Ziel, – als stellte der Tod keine Grenze mehr dar, ja, als wäre Helgis Rückkehr zum Grab eine Rückkehr in das ersehnte gemeinsame Leben; denn so spricht er selbst (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 43, S. 160): Nun will ich nichts unmöglich nennen, nicht jetzt noch je, du junge Fürstin: dem Leblosen liegst du im Arm, du hehre, im Hügel, Högnis Tochter, und lebst dennoch, du lichte Maid!

Dann aber, als der Morgen graut, muß Helgi fort über «Windhelms Brücke» (den Himmel) nach Westen reiten zur Walhall. (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 44, S. 160) Auch am nächsten Abend wartet Sigrun am Grabhügel auf ihren Geliebten, doch dieser kommt nicht mehr «aus Odins Saal». (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 45, S. 161) Was Sigrun bleibt, ist einzig der Wunsch, selber hinüber zu wandern «dem Traumland zu». (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 45, S. 161) Und selbst das ist nicht möglich; die treue Magd warnt nur zu Recht ihre Herrin (a. a. O., Nr. 19, Stück D, Strophe 46, S. 161): Nicht sei so verwegen, allein zu wandern, Herrschertochter, zum Heim der Toten! Mächtiger sind um Mitternacht der Toten Geister als im Tageslicht.

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Dieser «Siegesgesang der Liebe», wie andreas heusler das Lied von Helgis Wiederkehr nannte (felix genzmer: Edda, 1. Bd.: Heldendichtung, Nr. 19, S. 151), endet mit der lakonischen Feststellung: «Sigrun lebte nicht mehr lange vor Schmerz und Leid.» (felix genzmer: A. a. O., Nr. 19, S. 161) Es ist dieselbe erschütternde Frage, die sie alle stellen: Gilgamesch, Anat, Demeter, Inanna-Ischtar, Isis, Alkestis, Orpheus, Sigrun: Wie könnte ein Mensch je leben ohne die Liebe? Wie wäre es möglich, ans Leben zu glauben, ohne die Liebe zu glauben? Geliebt zu sein und zu lieben in alle Ewigkeit – das ist die «Seele» des Menschen. (Vgl. franz-josef nocke: Liebe, Tod und Auferstehung, 149 –154: Auferstehung als Vollendung der Liebe.)

c) Nahtoderfahrungen Sigruns und Helgis «Hochzeit im Grab» ist nicht die Vereinigung zweier Liebender im Tod – wie bei Pyramus und Thisbe (ovid: Metamorphosen, IV 55 – 161) oder wie in william shakespeares Romeo und Julia (5. Akt, 3. Szene, in: Sämtliche Werke, 778 –780); erzählt ward die halluzinatorische Verschmelzung einer Lebenden mit einem Toten. Mitunter berichten Menschen nach dem Verlust ihres Partners von ganz vergleichbaren Träumen, in denen ihnen ein Verstorbener in der lebhaftesten Weise begegnet – mit ihnen spricht, sich ihnen zeigt und ihnen Einblick in sein nun glückliches Leben gewährt. Eine äußerst tröstliche Wirkung pflegt von derartigen Traumerfahrungen auszugehen, und selbst Personen, die einem eigentlichen Jenseitsglauben eher skeptisch gegenüberstehen, halten doch an dem «objektiven» Realitätscharakter solcher Erlebnisse fest. Andere wähnen auch außerhalb nächtlicher Träume, Botschaften ihrer verstorbenen Angehörigen zu empfangen, und gehen allfälligen Diskussionen über den Echtheitsgehalt ihrer Eindrücke strikt aus dem Wege. Natürlich liegt es für Psychoanalytiker, Psychiater und Neurologen nahe, in diesem Zusammenhang an Wunscherfüllungen zu denken, die das Gehirn unter dem Druck starker psychischer Erwartungen und Sehnsüchte selbst produziert, und man wird ihnen zustimmen müssen: Widerfahrnisse dieser Art belegen die Realität menschlichen Fühlens; über die objektive Realität solcher Gefühle aber sagen sie nichts aus – weder dafür noch dagegen. Andererseits können die entsprechenden Erlebnisse eine solche Stärke gewinnen, daß sie subjektiv geradezu als Beweis für das Vorhandensein einer bewußtseinsjenseitigen Wirklichkeit erfahren werden; und erneut stoßen wir auf Vorgänge, die in vergangenen Zeiten für ein unwiderlegliches Zeugnis der Wahrheit bestimmter religiöser

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Lehren gehalten wurden, während sie uns Heutige, wofern nicht selber betroffen, relativ unbeeindruckt lassen. Nun mag es dahinstehen, welche Möglichkeiten sich bieten, zu Verstorbenen in Kontakt zu treten, wie es in den Salons des 19. Jhs. bei spiritistischen Sitzungen («Séancen») vormals in Mode stand; weit imponierender noch wirken auf Grund der Unmittelbarkeit des Erlebens die sogenannten Nahtoderfahrungen, in denen Menschen, an welche plötzlich und überraschend der Tod herangetreten ist, von den eigentümlichsten Wahrnehmungen zu berichten wissen; es bleibt – in der absoluten Mehrzahl der Fälle – ganz außer Frage, daß diese Personen nicht lügen: was sie erzählen, haben sie wirklich erlebt; doch welch eine Wirklichkeit steckt in ihren Erfahrungen? Mit spektakulären Meinungsumfragen sowie mit der Einschaltquoten-Sucht mancher Medien und Moderatoren in Talk-Shows läßt sich diese Frage keinesfalls lösen; statt dessen stehen uns heute eine ganze Reihe von neurologischen Einsichten und Hypothesen zur Erklärung des Nahtodphänomens zur Verfügung – zum Teil bereits in direkter Anknüpfung an jene religiös gedeuteten Widerfahrnisse von Erscheinungen und Körperwahrnehmungen, von denen wir bereits sprachen (s. o. 665 –675). So haben wir bereits beschrieben, wie das Gefühl der Entkörperlichung, der Entgrenzung oder des Einswerdens mit dem All durch Funktionsänderungen im parietalen Cortex, bedingt durch eine Mangelversorgung mit Sauerstoff oder durch eine Verletzung, hervorgerufen werden kann; auch eine Absenkung der Parietallappen-Aktivität während der Meditation vermag ein ozeanisches oder kosmisches Einheitserlebnis hervorzurufen. Da das Gefühl des KörperIch im Scheitellappen konstruiert wird, können Störungen oder Unterfunktionen dort zu körperbezogenen Halluzinationen führen. Visuelle Halluzinationen treten auf bei Stimulation der entsprechenden Areale im temporalen Cortex, während eine Reizung des Gyrus angularis im Übergangsbereich zwischen Schläfen- und Scheitellappen Erfahrungen heraufzuführen vermag, in denen visuelle und körperliche Eindrücke miteinander verschmolzen werden. (Vgl. gerhard roth: Aus Sicht des Gehirns, 188 –189.) Gleichwohl bleibt die Frage: lassen sich aus solchen Einsichten die Nahtoderfahrungen bereits hinreichend erklären? Nahtoderfahrungen wurden zu einem vielbeachteten Thema, als der amerikanische Arzt und Philosoph raymond a. moody (geb. 1944) in den 70er Jahren des 20. Jhs. sein Buch Life After Life vorstellte und insbesondere die Chicagoer Psychiaterin elisabeth kübler-ross (1926 –2004), die mehr als 2 Jahrzehnte lang Sterbende sehr sensibel in «einer symbolischen Sprache» be-

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treut hatte (Verstehen was Sterbende sagen wollen, 17), später zunehmend die Versicherung aussprach, es handle sich bei den Schilderungen ihrer Patienten am Rande des Todes nicht um Halluzinationen, sondern um echte Wahrnehmungen weltjenseitiger Gegebenheiten. Was die genannten Autoren in ihrem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode auf Grund von Nahtoderfahrungen wohl am meisten bestärkt haben dürfte, ist die in der Tat erstaunliche Übereinstimmung, die sich in den meisten Schilderungen solcher Grenzerfahrungen ausspricht: Menschen, die aus dem «Jenseits» zurückgekehrt sind, berichten von einem tiefen Gefühl des Friedens und der Zufriedenheit, eines Umfangenwerdens von unendlicher Ruhe und Leichtigkeit; sie tun sich schwer, das Erfahrene zu beschreiben – der dreidimensionale Raum scheint aufgelöst und der Fluß der Zeit merklich verändert; seltsame Geräusche, beunruhigende wie beruhigende, erreichen das Ohr; geisterähnliche Gestalten treten auf, und in fast allen Mitteilungen kommt es zu der Erscheinung eines blendenden Lichtes; viele erzählen freilich, daß sie zuerst durch einen langen dunklen Tunnel hätten gehen müssen, um in jenes Licht zu treten; so gut wie immer geht die Rede von einem Zustand außerhalb des Körpers, von einem Schweben, und manchmal auch davon, daß man sich selbst von einem erhöhten Punkt im Raume aus habe zuschauen können; nicht selten zudem wird berichtet von einem Entscheidungsmoment: in der Wahl, für immer an diesem Orte schwereloser Wonne zu verbleiben oder zu den Familienangehörigen zurückzukehren, habe schließlich das Gefühl der Verantwortung den Ausschlag gegeben; eben deshalb noch weile man auf Erden. Wie lassen sich derlei Erscheinungen deuten? Kann man die Auflösung der dreidimensionalen Wahrnehmung wirklich als Eintauchen in eine jenseitige Welt, in die Sphäre des Göttlichen interpretieren? Handelt es sich bei jenen «Geräuschen» um reale Erfahrungen, wie sie im Tibetanischen Totenbuch (1. Buch, 2. Teil, 7. Tag, S. 206) als «Ton wie ein rollender Widerhall» beschrieben werden? (Vgl. glenn h. mullin: Die Schwelle zum Tod, 81–107: Tibetische Überlieferungen zur Meditation über den Tod.) Begegnen uns an der Grenze zum Tode wirklich die Seelen der Verstorbenen, wie dantes Göttliche Komödie es (im Erbe des ägyptischen Totenbuches, der Darstellungen homers und der Aeneis des vergil) erzählt? Ist jenes Licht identisch mit der Erfahrung Gottes, entsprechend den Worten Jesu in Joh 8,12: «Ich bin das Licht der Welt»? Entstammt das schwarze Loch, der dunkle Tunnel, vielleicht einem Zustand der Wiedergeburt – einem Vorgang wie in der Austreibungsphase aus dem Mutterschoß? Demonstriert schließlich die außerkörperliche Selbstwahrnehmung zweifelsfrei den Prozeß, bei dem die Seele im Tode den Körper ver-

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läßt? – Autoren wie charles fiore und alan landsburg in ihrem Buch Begegnungen im Jenseits (23 –48) glauben all das (und noch vieles mehr) aufs Wort, und mit ihnen viele Millionen Menschen, gleich welcher Religionszugehörigkeit. Und doch: so wenig wie bestimmte Erscheinungen uns Gott zu sehen, zu hören oder zu erfahren geben, so wenig zeigt sich in all diesen Phänomenen die Seele unserem Bewußtsein; worum es sich handelt, sind Hervorbringungen des Gehirns unter bestimmten Bedingungen; es sind keine Wahrnehmungszustände eines reinen Geistes außerhalb seiner Verbindung zum Körper. Um mit dem (nach allem Gesagten) Einfachsten zu beginnen: wie der Zeitfluß vom Bewußtsein selber gestaltet wird, haben wir ausführlich geschildert – eine starke Migräne genügt, um den Strom der Erscheinungen in eine Serie von «Dias» zu zerlegen. Wie das räumliche Sehen entsteht, zeigte sich uns in der Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften (vgl. Bd. I 433 –438). Wie es möglich ist, «Geister» zu sehen und zu hören, haben wir gerade noch erwähnt, desgleichen wie es zu den Entgrenzungs- und Levitationserfahrungen kommt. Doch selbst wenn wir alles das abziehen, bleibt immer noch des Erklärungsbedürftigen genug: Was ist es mit der Lichterfahrung? Was mit der Tunnelwahrnehmung? Was mit der Möglichkeit einer Selbstbetrachtung von oben? Was überhaupt mit dem Gefühl von Frieden und Zufriedenheit? Manches spricht dafür, daß speziell der Tunneleffekt und die Lichterfahrung neurologisch eine Einheit bilden. So vermutet der vorhin schon zitierte detlef b. linke, daß das Tunnelphänomen damit zu tun habe, daß die Netzhaut sowie die primäre Sehrinde (V 1) im Okzipitallappen ungenügend mit Sauerstoff versorgt würden. Bei Ohnmachtsanfällen zum Beispiel fangen wir an, «Sternchen» zu sehen. «Kehrt danach die Sehkraft zurück, werden also die Augen wieder an das visuelle System des Gehirns ‹angekoppelt›, kann der Erwachende dies als Überhelle wahrnehmen.» (detlef b. linke: An der Schwelle zum Tod, in: Gehirn und Geist, 3/2003, 52) Um dem wahrgenommenen Wechsel von Dunkel und Helligkeit einen Sinn beizulegen, interpretiere unser Gehirn den plötzlichen Lichteinfall als das Heraustreten aus einem dunklen Tunnel oder als die Befreiung aus einer Röhre. – Zu der Selbstbetrachtung «von oben» könne es kommen, weil unsere Hirnzentren «routinemäßig multiperspektivisch» arbeiteten; wohl seien wir daran gewöhnt, «den Betrachtungsstandpunkt innerer Bilder in den Bereich der eigenen Augen zu legen»; in Gefahrensituationen aber erinnere sich «unser Nervensystem . . . an Alternativen» und greife «auf diese zurück». (detlef b. linke: A. a. O., 52) – Das Gefühl von Glück und Beseligung schließlich, das mit Nahtoderfahrungen einhergeht, erklärt sich allem

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Anschein nach am einfachsten durch eine verstärkte Ausschüttung von endorphinen Opiaten. Was aber passiert «wirklich» im Gehirn während einer Nahtoderfahrung und was umschreibt der Begriff «eigentlich»? Zur Beantwortung dieser Frage mag ein Phänomen hilfreich sein, das man als autobiographische Rückblende bezeichnen kann: Im Bruchteil von Sekunden sehen Menschen vor einem Auffahrunfall oder bei einem Absturz an der Felswand ihr ganzes Leben noch einmal Revue passieren. detlef b. linke versucht diese Tatsache damit zu erklären, daß unser Gehirn ständig dabei sei, Konzepte über die Zukunft zu entwerfen; werde dieser Apparat plötzlich mit dem Gedanken seines plötzlichen Endes konfrontiert, so schrumpfe die gesamte Zukunft auf einen einzigen Augenblick zusammen, es komme zu einem «Clash der Zeiten», und statt einer fortlaufenden Sequenz künftiger Möglichkeiten, generiere das Gehirn jetzt eine Kette von Erinnerungen aus der Vergangenheit. Allerdings entstünden Nahtoderfahrungen «nicht nur als Folge des Leerlaufs von Vorhersagemechanismen», weil Zukunft und Gegenwart plötzlich miteinander verschmölzen, sondern es komme neurologisch zu einem eigenartigen Vorgang, der mit der Wirkung von Sauerstoffmangel auf die NMDA-Rezeptoren – vermittelt vor allem durch Stickstoffmonoxid (NO, vgl. Bd. I 236; 314) – zusammenhänge; von den NMDA-Rezeptoren wissen wir, wie wichtig sie für den Aufbau des Gedächtnisses sind (vgl. Bd. I 314– 316); doch was wir jetzt hinzulernen, ist ihre besondere Bedeutung beim Aufbau der Zeitachse. Die NMDA-Rezeptoren nämlich arbeiten langsamer als die Rezeptoren anderer Transmittersysteme; eben deshalb können sie eine Vielzahl von Ereignissen integrieren und damit «den üblichen Zeittakt des Gehirns . . . durchbrechen. Genau hieran», meint detlef b. linke, «könnte es . . . liegen, dass bei Nahtod-Erlebnissen das Gedächtnis mit einer Überfülle von Rückerinnerungen überflutet wird – weil die dann sensibilisierten NMDA-Rezeptoren viele Informationen zusammenfassend verarbeiten können. Ein solches, auf diesem Rezeptortyp basierendes Modell überbrückt die Kluft zwischen den Vorgängen im Bewußtsein eines Menschen, der kurz vor dem Tod steht, und den Abläufen in seinem Gehirn.» (detlef b. linke: An der Schwelle zum Tod, in: Gehirn und Geist, 3/2003, 48) Indem die NMDA-Rezeptoren auch mit dem Opioid-System in Verbindung stehen, tragen sie anscheinend auch zu dem Wohlfühl-Glück in derartigen Gefahrenaugenblicken bei; und selbst das Entgrenzungserleben «könnte durch die Aktivität der NMDA-Rezeptoren erklärt werden. Vermutlich verliert unser Gehirn die Fähigkeit, Gegenstände als solche zu erkennen, wenn es plötzlich in einen größeren Zeittakt schaltet und gleichzeitig der übliche Signalcode der

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Nervenzellen seine Bedeutung verliert.» Zudem weist in Zuständen dieser Art auch die Amygdala eine niedrigere neuronale Aktivität auf. Das könnte mit Blick auf die Nahtoderfahrung bedeuten: «Wenn kein Gegenstand oder keine Möglichkeit zum Handeln mehr existiert, kommt diese Hirnregion mit ihren Handlungsimpulsen nicht mehr zum Zuge – und die eigenen Grenzen lösen sich auf.» (detlef b. linke: A. a. O., 48– 49) Solche Zusammenhänge vor Augen, bleibt im Grunde nur die Folgerung übrig, die detlef b. linke denn auch zieht: «Ich bin . . . der Ansicht», schreibt er, «dass wir Nahtod-Erfahrungen nicht als Beweis für Gott oder für ein Leben nach dem Tod betrachten können. Die medizinische und neurowissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahre liefert eine ganz andere Erklärung: Offenbar scheitert unser Gehirn in diesen Momenten daran, urplötzlich das Ende der eigenen Existenz zu verarbeiten – und in seiner Not, aber auch als letzte Abwehrstrategie, gewinnen dort besondere Prozesse die Oberhand, die uns diese außergewöhnlichen Erfahrungen bescheren.» (An der Schwelle zum Tod, in: Gehirn und Geist, 3/2003, 47) Es scheint von daher nur verlorene Liebesmüh, wenn hubertus mynarek (Unsterblichkeit, 123–142) den Nahtoderfahrungen eine eigene Realität gegenüber bloßen Halluzinationen zusprechen möchte und (a. a. O., 142–196) schließlich sogar mit Nachtod-Kontakten argumentiert: psychische Realität ist nicht metaphysische oder physische Realität. Theologisch enthält das hiermit gewonnene Resultat zweifelsfrei eine Mahnung, beim Sprechen von Zuständen und Ereignissen nach dem Tod äußerst vorsichtig zu werden; denn nur allzu offensichtlich sind die Jenseitsvorstellungen in den verschiedenen Religionen unter anderem eben auch geprägt worden von den Erfahrungen angesichts des nahen Todes – neben den Eindrücken aus drogeninduziertem Rausch, Trance und Meditation, Traum und Halluzination, epileptischen Anfällen und bestimmten Formen der Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff: Verständlicherweise hat man die seinerzeit schier unerklärbaren Bewußtseinsphänomene schlicht «wörtlich» genommen. Es ist deshalb entschieden an uns, die alten überlieferten Bilder als tröstende Symbole (und eben nicht als beobachtbare «Fakten») zu verstehen; alles Sprechen von «Himmel», «Hölle» und «Fegefeuer», von «Gericht» und «Verdammnis» oder «Begnadigung» muß dann überprüft werden auf den daseindeutenden Gehalt hin, der diesen Chiffren zukommt. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Aussagen über ein Leben nach dem Tode zu machen, die nicht in einer bloßen Verleugnung der Endlichkeit unserer irdischen Existenz bestehen? – Eine derzeit auch unter religiös Suchenden im Abendland verbreitete Vorstellung ist die – im wesentlichen heute von Indien kommende – Lehre

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von der Wiedergeburt oder der Reinkarnation; wir sollten auch zu diesen Anschauungen etwas sagen.

d) Von Präexistenz und Reinkarnation der Seele Daß Nahtoderfahrungen eine so hohe Gleichartigkeit aufweisen, läßt sich am einfachsten damit begründen, daß das menschliche Gehirn bei allen Vertretern der Species Homo sapiens in grundsätzlich gleicher Weise arbeitet. Anschauungen von Präexistenz der Seele, Wiedergeburt oder Seelenwanderung (sei es als Metempsychose oder als Reinkarnation) aber sind offenbar sehr stark kulturabhängig: Sie finden heute ihre Verbreitung vor allem in den indischen Religionen (Hinduismus, Jainismus und Buddhismus), wohingegen die Dogmatik der christlichen Glaubenslehre sich von einem bestimmten Zeitpunkt an definitiv gegen derartige Lehren gestellt hat. Bei den Nahtoderfahrungen hatte schon Papst Gregor der Große (590 – 604) voller Interesse eine Sammlung von Jenseitserlebnissen anlegen lassen (vgl. christoph renzikowski: «Es gibt ein Leben nach dem Tod», in: Publik Forum, Nr. 14, 26.7.96, S. 30), wohl weil diese Erfahrungen sich als «Beweise» für den Glauben an ein Ewiges Leben interpretieren ließen und irgendwie zum gemeinsamen Bestand aller Religionen zählen; die Lehre von der Präexistenz der Seele und ihrer Reinkarnation aber stößt an die Grenzen der im christlichen Abendland kulturell tradierten Vorstellungen von dem Verhältnis der «Seele» zum Körper und, damit verbunden, von der Art des Personseins; darüber hinaus zeigt sich nur allzu deutlich, daß alle theologischen Konkretisierungen eines Lebens nach dem Tode (einer «postmortalen Existenz») zu gedanklichen Ungereimtheiten führen, die wie eine bleibende Warnung wirken sollten, Symbole (bzw. immanuel kants «Ideen der Vernunft») nicht als Begriffe (als Kategorien des Verstandes) zu betrachten. In einer rein symbolischen Interpretation – allerdings auch nur in dieser – würde das Gegeneinander der religiösen Kontroversen einer komplementären Ergänzungsreihe hermeneutischer Chiffren weichen, die, jede für sich, aus einer eigenen Perspektive heraus, eine aspekthafte Wahrheit zu offenbaren vermöchten, ohne Anspruch auf eine Totalanschauung zu erheben. Die logische Voraussetzung der Lehre von der Wiedergeburt ist der Glaube an die Präexistenz der Seele. Insbesondere platon hat diesem Gedanken die besten seiner Argumente geschenkt: wie denn soll eine geistige Substanz, die ihrem Wesen nach unzerstörbar und ohne Ende ist, einen Anfang gehabt haben können, statt von Ewigkeit zu Ewigkeit zu existieren? Im Dialog Phaidon

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(76 e –77a, Kap. 22, in: Sämtliche Werke, III 28) erklärt denn auch Sokrates, daß das vorgeburtliche Sein der Seele ebenso notwendig sei wie das Sein der Ideen; jede Geburt eines Menschen ist somit eine Wiedergeburt, und die Art der neuerlichen Einwohnung der Seele ist zu erachten als das Resultat der vorherigen Lebensführung: wenn die Seele «rein» ist, geht sie nach dem Tode zu «dem Unsichtbaren, zu dem Göttlichen, Unsterblichen» ein, «von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe und allen anderen menschlichen Übeln befreit» (Phaidon, 81 a, Kap. 29, in: Sämtliche Werke, III 32); demgegenüber werden Trunkenbolde zu Eseln, Habgierige und Herrschsüchtige zu Geiern und Habichten, die bürgerlich Tugendhaften «ohne Philosophie und Vernunft» werden «in Bienen oder Wespen oder Ameisen» wiedergeboren (Phaidon, 82 a– b, Kap. 31, in: Sämtliche Werke, III 33) – Im Dialog Menon (86 a– c, Kap. 21, in: Sämtliche Werke, II 27– 28) demonstriert Sokrates an einem Sklaven, aus dem er bestimmte geometrische Lehrsätze herausfragt, daß der Ursprung allen Erkennens im Lernenden selbst liegen müsse und daß deshalb «seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens» sich befinde, so daß «von jeher immer die Wahrheit von allem, was ist, der Seele einwohnt», die sich im Akt des Erkennens stets nur an ihre vormals geschaute Wahrheit erinnert. Im Dialog Phaidros (249 a, Kap. 29, in: Sämtliche Werke, IV 30) lehrt platon ausdrücklich, daß «auch eine menschliche Seele in ein tierisches Leben übergehen, und ein Tier, das ehedem Mensch war, wieder zum Menschen» werden könne; darum komme es darauf an, «Erinnerung» zu behalten, «was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt als seiend bezeichnen, und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet». So wie alle Gedanken platons über die Seele, die Wahrheit, das Gute und das Göttliche, fanden auch seine Betrachtungen über die Präexistenz der Seele, über ihr Fortleben nach dem Tode und über ihre Wiedergeburt in neuen Existenzformen eine beachtliche Verbreitung unter den Theologen und Philosophen des Abendlandes. Insbesondere origenes (um 185 – um 254), der in seinem Werk Perì archõn (griech.: Über die Urgründe; lat.: De principiis) die erste systematische Darstellung der christlichen Theologie ausarbeitete (I 1, Kap. 3– 6; I 2, Kap. 9,6), trug ganz im Sinne platons die Lehre vor, daß die Seelen von Ewigkeit her in der Nähe Gottes existierten und nur einer Sünde wegen in den Körper verbannt worden seien. Von daher erscheint das gesamte irdische Leben als eine Art strafweise verhängter Buße, als eine Chance zu Reue und Wiedergutmachung; in jedem Falle sollte es das Ziel der Seele sein, sich aus dem Getriebe der Welt soweit zu lösen, daß sie in die Sphäre des Göttlichen

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endgültig zurückkehren kann. – Ein entferntes Echo solcher Anschauungen klingt an bei gottfried wilhelm leibniz (1646 –1716), der in seiner Theodizee (1710) davon spricht, daß Gott «die Seelen damals (sc. bei der Schöpfung Adams, d. V.) nur in sensitivem oder animalischem Zustand, mit Vorstellungsvermögen und Empfindung begabt, aber ohne Vernunft» geschaffen habe; in diesem Zustand seien sie dann «bis auf die Zeit verblieben, wo der Mensch, dem sie angehören sollten, erzeugt wurde». (1. Teil, Kap. 91, S. 155) Mit dieser Theorie des Transkreationismus versuchte leibniz zu erklären, wieso alle Seelen (alle Menschen) an der Schuld Adams, an der «Erbsünde», hätten beteiligt sein können: sie waren allesamt in Adams Seele eingeschlossen, und so sündigten sie auch allesamt mit ihm. – In solchen Theorien findet man ein beredtes Beispiel dafür, wohin der Scharfsinn irren mag, wenn er vor die Aufgabe gestellt wird, Symbole in Begriffe und mythische Bilder in geschichtliche Informationen verwandeln zu sollen. Allerdings ist und war es auch ohne die Annahme der Ursünde möglich, gestützt auf die platonische Philosophie, der Seele die Eigenschaft der Präexistenz zuzuerkennen. Insbesondere der ansonsten fast unbekannte Bischof nemesios von Emesa verfaßte im 5. Jh. ein Buch unter dem Titel Perì phýseo¯s anthro¯pou (griech.: Über die Natur des Menschen, übers. von W. Osterhammer, Salzburg 1819), in dem er die Seele als eine präexistente geistige Substanz definierte, die sich selbst bewege (wie der «selbstbewegte Beweger», wie Gott, in der Metaphysik des aristoteles); wäre die Seele, argumentiert nemesios, aus der Zeugung der Eltern hervorgegangen (wie es die Lehre des Generatianismus will), so müßte sie, in der Zeit entstanden, auch mit der Zeit zugrunde gehen; auch könnte die Seele unter dieser Denkvoraussetzung nicht, wie aristoteles meinte, als Vollendung des Körpers begriffen werden, da sie in diesem Falle nur eine Eigenschaft (eine Funktion) des Körpers wäre. Wenn aber – umgekehrt – die Seele die Form darstellt, die dem Körper Wirklichkeit verleiht, indem sie ihn mit Leben erfüllt, warum dann überhaupt wohnt sie einem Körper ein? Hier behalf nemesios (a. a. O., Kap. 2) sich mit einem reinen Kreationismus: Gott hat alle Seelen bereits im Anfang mit der Einrichtung der Welt geschaffen und sie an einer eigens für sie bestimmten Stätte aufbewahrt, von wo sie, wenn die Zeit gekommen ist, in den Körper eingehen, mit dem sie wesenhaft verbunden sind. Hinter dieser Vorstellung steckt zum Teil ein Problem, das mit der Auslegung verschiedener Bibelstellen zu tun hat. Da es in Gen 2,2 ausdrücklich heißt, daß Gott «ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte», so sollte die Schöpfungstätigkeit Gottes mit dem sechsten Tag,

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da er den Menschen schuf, zum Abschluß gekommen sein, also daß er alle Menschen, mithin ihre Seelen, schon damals erschaffen haben mußte, auf daß sie im gegebenen Augenblick sich entsprechend der Natur mit ihren Körpern vereinten. Ansichten dieser Art finden sich auch in der spätjüdischen Theologie. (Vgl. ferdinand weber: Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, Leipzig 21897, 212.) – Im Neuen Testament sind es namentlich zwei Stellen, die zugunsten der Präexistenz und der Wiedergeburt der Seele zu sprechen scheinen, ohne es in Wirklichkeit zu tun. In Joh 9,2 fragen die Jünger ihren Meister: «Rabbi, wer hat gesündigt: Dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?» Diese Frage «wurzelt in der Anschauung, daß Leiden die Straffolge der Sünde seien . . . Dieser Grundsatz schien den Jüngern auf ein angeborenes Leiden nicht gut anwendbar zu sein.» Kann «denn ein Kind im Mutterleib sündigen, daß ein körperliches Gebrechen, das es mit auf die Welt bringt, als Folge seiner früheren Verfehlung angesehen werden darf? Hierüber möchten sie (sc. die Jünger, d. V.) Aufschluß haben. Daher ihre Frage an Jesum, in der sie aber neben dem Blindgeborenen zugleich dessen Eltern nennen, um so anzudeuten, in welcher Richtung sie selbst etwa die Lösung des Rätsels suchen würden. – Für die rabbinischen Gelehrten (sc. aber, d. V.) ist der Gedanke, daß ein Kind im Mutterleib sündigen könne, gerade nicht unvollziehbar gewesen.» (hermann l. strack – paul billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, II 527) Beziehen konnte man sich bei solchen Gedankengängen auf Bibelstellen wie Gen 25,22 oder Ps 58,4; auch daß körperliche Gebrechen von Kindern auf Sünden der Eltern zurückgehen könnten, war ein den Rabbinen durchaus vertrauter Gedanke. «Mit der Vorstellung, daß ein Kind für Verfehlungen bestraft werde, die sich seine Seele während der Zeit ihrer Präexistenz habe zuschulden kommen lassen, hat die Frage der Jünger sicherlich nichts zu schaffen», urteilen deshalb hermann l. strack und paul billerbeck (a. a. O., II 528). – Auf einer Fehldeutung beruht es auch, wenn man Mk 6,14.16 zugunsten der Lehre von der Seelenwanderung herbeibemüht: Als der Name Jesu durch seine und der Jünger Heilungswunder im Volke bekannt wird, sagen die Leute, er sei Johannes der Täufer, der von den Toten auferstanden sei, und diese Ansicht teilt gleichermaßen König Herodes, der Johannes hatte ermorden lassen. Vorstellungen dieser Art haben im Judentum indessen nichts mit der Lehre von der Seelenwanderung zu tun; die Stelle bezeugt lediglich, daß «man die Wiederbelebung eines Toten bereits in der gegenwärtigen Zeit (nicht bloß erst nach Anbruch der Tage des Messias oder der zukünftigen Welt) für möglich gehalten hat». (hermann l. strack – paul billerbeck: A. a. O., I 679) Umgekehrt will Mt 27, 52– 53

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mit der Auferstehung vieler Leiber der entschlafenen Heiligen zweifellos sagen, daß die Tage des Messias mit dem Tode Jesu angebrochen sind. – Im ganzen können wir also festhalten, daß der Glaube an die Präexistenz der Seele und ihre Wiedergeburt sich (bibel)theologisch nur auf äußerst schwache Gründe stützen kann. Was macht gleichwohl dann die offenbare Faszination der Reinkarnationslehre auf viele Menschen unserer Tage aus? Es sind erkennbar drei Motive, die hier eine Rolle spielen und die, symbolisch gelesen, in der Tat Weisheit und Wahrheit zu vermitteln geeignet sind. Da ist einmal der Protest gegen die bereits im Alten Ägypten ausgebildete, dann christliche (und islamische) Vorstellung von dem Gericht Gottes, das die einen zu gräßlichen Strafen, die anderen zu himmlischen Wonnen bestimmt. (Zum Totengericht in der Vorstellung der Alten Ägypter und zur Szene des Wiegens des Herzens vgl. christine seeber: Untersuchungen zur Darstellung des Totengerichts im Alten Ägypten, 139 –140; zum Bekenntnis rechter Lebensführung vgl. erik hornung: Das Totenbuch der Ägypter, Spr. 125, S. 234 –241; zum Thema vgl. auch e. drewermann: . . . und es geschah so, 839 –847: Der Richter oder: Die Sphäre der Bestätigung.) Die Ablehnung richtet sich vor allem dagegen, daß endliche Handlungen – unser schattenverwirrtes, wenige Jahrzehnte währendes Leben – unendliche Wirkungen hinterlassen sollten. «Glückseligkeit im Himmel kann, da sie eine Folge ist, nicht ewig sein. Alles, was einen Anfang hat, muß auch ein Ende haben. Und die Theorie vom ewigen Leiden ist unvereinbar mit dem Glauben an die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen . . . An eine ewige Bestrafung der Seele wegen der Verfehlungen weniger Jahre zu glauben, ohne ihr eine Chance zur Besserung zu geben, ist gegen alle Grundsätze der Vernunft und des Rechts.» Diese absolut berechtigte Kritik, die der Begründer des Ramakrishna-Vivekananda-Centers in New York, swami nikhilananda (1893–1973), vorbrachte (Der Hinduismus, 55 –56), darf als ein Haupteinwand der indischen Frömmigkeit gegen die abendländische Lehre vom Leben nach dem Tode gelten. Christliche Theologen argumentieren dagegen, ein gerechtes Urteil müsse nicht nur berücksichtigen, wer etwas tue, sondern auch wem er damit etwas antue; Gott, der Unendliche, werde durch die Sünde des Menschen unendlich beleidigt, und deshalb müsse auch die Strafe unendlich sein. Doch sollte nicht ein unendlicher Gott sich als unendlich erhaben erweisen gegenüber den Taten schwacher Menschen? Und was ist das überhaupt für eine Vorstellung von einem unendlich beleidigten Gott – ist er nicht ein Voll-Narzißt schlimmsten Ausmaßes? Und schließlich: sollten Menschen nur «gut» sein können um der Aussicht auf

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Lohn oder Strafe willen? Wären damit nicht unausweichlich egoistische Motive verbunden, die der Reinheit des Guten recht eigentlich im Wege stünden? Entgegen der Selbstgewißheit, die christliche Theologen im Gespräch mit Muslimen für gewöhnlich an den Tag legen, zeigen islamische Mystiker und Gelehrte in der Frage ewiger Höllenstrafen eine weit größere Menschlichkeit, als das kirchliche Dogma es katholischen Lehramtsinhabern gestattet. So erklärt der Katholische Erwachsenen-Katechismus der deutschen Bischöfe von 1985, «daß alles Deuteln nicht darüber hinwegtäuschen könne, daß . . . Jesus und das Neue Testament den Bösen, den Gottlosen und den schweren Sündern die Möglichkeit der Verwerfung vor Augen gestellt haben (vgl. Mt 5,29– 30; 10,28; 23,12 –33 u. a.). Es ist die Rede vom ewigen Feuer (vgl. Mt 3,12; 25,41 u. a.), von der ewigen Pein (vgl. Mt 25,46), von Finsternis (vgl. Mt 8,12 u. a.), von Heulen und Zähneknirschen (vgl. Mt 13,42.50).» Man kommt nicht einmal bei Durchsicht der verwandten Belegstellen zugunsten der «Hölle» darauf, redaktionsgeschichtlich sich zu fragen, warum die Mehrzahl der Höllendrohungen gerade im Matthäus-Evangelium steht (vgl. e. drewermann: Das Matthäusevangelium, I 173–184), vielmehr folgert der Katechismus, die Hölle solle «den Ernst und die Würde der menschlichen Freiheit vor Augen führen, die zu wählen hat zwischen Leben und Tod. Gott achtet die Freiheit des Menschen, er zwingt seine beseligende Gemeinschaft keinem Menschen gegen dessen Willen auf.» (Katholischer Erwachsenen-Katechismus, 422– 423) Als ob ein Mensch seine Verzweiflung, für welche die «Hölle» allerdings als Chiffre dienen mag, selbst «wählen» könnte! Doch genauso erklärt auch der päpstliche Weltkatechismus von 1992 die Hölle für einen «Zustand des endgültigen Selbstausschlusses von der Gemeinschaft mit Gott» (Catéchisme de l’Église Catholique, Nr. 1033). Und nun vergleiche man damit den Islam. Auch der Koran enthält eine Fülle von recht konkret ausgemalten Höllendrohungen (vgl. ludwig hagemann: Hölle, in: Adel Theodor Khoury – Ludwig Hagemann – Peter Heine: Islam-Lexikon, 363 –365); dennoch nimmt sich die Ahmadiyya-Bewegung die Freiheit, im Vorwort zu ihrer arabisch-deutschen Qur-ân-Ausgabe von 1989 als «Lehre des Islams» zu betonen: «Jedes menschliche Wesen ist schon bei seiner Erschaffung für die vollkommene Seligkeit vorausbestimmt. Also wird auch der ärgste Ungläubige, der schlimmste Verbrecher nach Verbüßung der Strafe und Reinigung durch das Feuer die Seligkeit erlangen und ins Paradies eingehen.» (A. a. O., 121) Die «Hölle» ist demnach eine Form der «aufgeschobenen Seligkeit», eine Pein zur Läuterung. – Wir werden gleich auf dieses Bild noch einmal zurückkommen. (Zur Entwicklung der islamischen Vorstellun-

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gen von Gericht, Himmel und Hölle vgl. annemarie schimmel: Der Islam, 76 –78.) Und in der Überzeugung, daß es mit einer wahren Frömmigkeit überhaupt unvereinbar ist, Gott zu dienen nur aus Furcht vor Strafe oder aus Streben nach Belohnung, im Glauben also an Hölle und Himmel, entwickelten sich schon im 8. Jh. im Islam «erste Ansätze zu einer echten Liebesmystik . . ., die ihre klassische Vertreterin in Ra¯bica von Basra (gest. 801) fand. Zahlreich sind die Legenden, die sich um die erste große Heilige des Islam ranken, am bekanntesten wohl diese: ‹Man sah sie in den Straßen von Basra, eine Fackel in einer, einen Eimer in der anderen Hand tragend; und auf die Frage nach dem Sinn ihres Tuns antwortete sie: ‹Ich will Feuer ins Paradies werfen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott anbetet aus Sehnsucht nach dem Paradies oder aus Höllenfurcht, sondern einzig und allein aus Liebe zu Ihm.›» (annemarie schimmel: Der Islam, 94) Was von all diesen weltjenseitigen Vorstellungen über Himmel und Hölle mithin bleibt, ist der zentrale Gedanke der Läuterung zu einer vollkommenen Gottesliebe; auch die Lehre der katholischen Kirche vom «Fegfeuer» besitzt im Grunde eine solche an sich weise Bedeutung. (Zur Fegfeuer-Lehre vgl. johannes brinktrine: Die Lehre von den letzten Dingen, 44 –66.) Gerade darin aber besteht nun auch der Kern der Reinkarnationslehre. So erklärte der pythagoras-Schüler empedokles (um 490 – um 430), der als Naturphilosoph, sizilianischer Staatsmann und zugleich auch als ein berühmter Arzt wirkte (vgl. e. drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, II 158 –169): «Es ist der Notwendigkeit Spruch, ein Götterbeschluß, alt, urewig, mit breiten Schwüren versiegelt: wenn einer in Schuldverstrickung mit Mordblut seine eigenen Glieder befleckte, wer ferner im Gefolge des Streites . . . einen Meineid schwor . . . aus der Zahl der Dämonen, die ein sehr langes Leben erlost haben, die müssen dreimal zehntausend Horen (sc. griech.: Stunden, d. V.) fernab von den Seligen umherschweifen, wobei sie im Laufe der Zeit als alle möglichen Gestalten sterblicher Geschöpfe entstehen, die des Lebens mühselige Pfade wechseln . . . Zu diesen gehöre jetzt auch ich, ein von Gott Gebannter und Irrender, da ich rasendem Streite vertraute.» (hermann diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Nr. 115, S. 69) Da ist also ein bedeutender Arzt, der seinen Beruf in der Absicht erwählt hat, Lüge und Mord in einem früheren Leben zu büßen! Man versteht bei solchen Worten sogleich die enorme psychische Wahrheit, die in der Reinkarnationslehre angelegt ist: Ein Arzt, besagt diese Anschauung mit Blick auf empedokles, kann einen Patienten nur heilen, in dem Maße er selbst zu innerer Wahrheit gefunden und seine sadistischen Neigungen in Hilfsbereitschaft

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umgeformt hat. (Eine andere Frage ist es, inwieweit sich die psychologische Weisheit dieser Einstellung in Form einer Reinkarnations-Therapie nutzen läßt, in welcher vermeintlich vorgeburtliche Erinnerungen – meist unter Hypnose – wachgerufen und in das gegenwärtige Erleben integriert werden sollen. Psychoanalytisch liegt es nahe, in derartigen Inhalten symbolische Szenen aus dem unbewußten Material der frühen Kindheit zu erblicken, die zu lesen sind wie die «Deckerinnerungen» und «Familienromane» der Patienten, von denen wir bereits sprachen, auch sonst; vgl. Bd. I 323.) Ein zweiter sehr attraktiver Aspekt der Reinkarnationslehre liegt in der Einheit von Mensch und Tier und einer entsprechenden Ethik des Schutzes der Kreaturen an der Seite des Menschen. Psychotherapeutisch läßt sich das Bemühen um die Integration der abgespaltenen (verdrängten) Triebbedürfnisse durchaus auch als eine Bewußtmachung des Tierischen im Menschen verstehen; ein Weltbild jedenfalls, das dem Menschen ein uneingeschränktes Herrschaftsrecht gegenüber den Tieren zuerkennt, wie es im Christentum der Fall ist, wird einen gewalttätigen Umgang auch mit den eigenen Gefühlen und Trieben nahelegen und damit notwendig desintegrativ wirken. ovid, als er im 15. Buch der Metamorphosen die Lehren des pythagoras schilderte, stellte demgegenüber die Schonung der Tiere in den Mittelpunkt seiner Mahnungen: Laßt, ihr Sterblichen, ab durch frevelnde Speise die Leiber Euch zu entweihn . . . Welch ein vermessenes Tun, im Fleisch das Fleisch zu versenken Und den begehrlichen Leib mit verschlungenem Leibe zu mästen Und mit des Lebenden Tod ein Lebender sich zu erhalten! Bei so reichlichem Gut, das die Erde, die beste der Mütter, Zeugt, behagt dir nichts als traurige Stücke zu kauen Mit unseligem Zahn und zu tun nach Art der Cyclopen? Weißt du nimmer die Gier des gefräßigen Bauches zu stillen, Der zum Schlimmen gewöhnt, als wenn du vernichtest den Andern? (Metamorphosen, XV 75 –95)

«Wollt ihr nicht aufhören mit dem mißtönenden Morden? Seht ihr denn nicht, wie ihr einander zerfleischt in Unbedachtheit des Sinnes?» fragte auch empedokles die Tierschlächter und Tieresser seiner und aller Zeit. (hermann diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Nr. 136, S. 70) Und der den Pythagoreern sowie dem ägyptischen Osiris-Isis-Kult nahestehende griechische Philosoph plutarch (um 50 – um 120) schrieb in seiner Abhandlung «Über das

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Fleischessen»: «Ich frage mich, unter welchen Umständen und in welchem Geisteszustand es ein Mensch das erstemal über sich brachte, mit seinem Mund Blut zu berühren, seine Lippen zum Fleisch eines Kadavers zu führen und seinen Tisch mit toten, verwesenden Körpern zu zieren, und es sich dann erlaubt hat, die Teile, die kurz zuvor noch gebrüllt und geschrien, sich bewegt und gelebt haben, Nahrung zu nennen . . . – Es handelt sich gewiß nicht um Löwen und Wölfe, die wir zum Selbstschutz essen – im Gegenteil, diesen Tieren schenken wir gar keine Beachtung; vielmehr schlachten wir harmlose, zahme Geschöpfe ohne Stacheln und Zähne, die uns ohnehin nichts anhaben könnten. Um des Fleisches willen rauben wir ihnen die Sonne, das Licht und die Lebensdauer, die ihnen von Geburt aus zustehen.» (Zit. n. ronald zürrer: Reinkarnation, 93 –94) Wie anders der Umgang mit einem Tier ausfallen wird, wenn man in ihm einen wiedergeborenen Menschen erkennt, wird in einer Anekdote sichtbar, die philostrat (um 160 – um 244) von dem pythagoreischen Wanderlehrer und Wundertäter Apollonios von Tyana (1. Jh. n. Chr., gest. unter Kaiser Nerva) überliefert hat, dessen Bewegung dem frühen Christentum in solcher Weise den Rang abzulaufen drohte, daß die Kirche, so gut es ging, die Erinnerung an diesen großen Kappadokier zu verdrängen suchte. Eines Tages sah Apollonius in der Stadt Alexandrien, «wie ein Bettler mit einem zahmen Löwen an der Leine in den Tempel kam. Als das Tier zu Apollonius kam, legte es sich vor ihm nieder und leckte seine Füße. Die Leute, die das sahen, verwunderten sich und fragten den Philosophen: ‹Was hat das zu bedeuten? Es sieht ja aus, als würde der Löwe Sie kennen?› – Apollonius gab zur Antwort: ‹Dieser Löwe bittet mich, euch den Namen der menschlichen Seele zu verraten, die sich in ihm verkörpert hat. Es handelt sich um Amasis. Er war König von Ägypten.› Kaum hatte er das gesagt, begann der Löwe laut zu seufzen. Tränen rannen aus seinen Augen. – Der Philosoph strich ihm durch die Mähne und sagte zu den Umstehenden: ‹Ich meine, dieser Löwe sollte nach Leontopolis gebracht werden, damit er dort im Tempel leben kann. Es schickt sich nicht, daß ein König, dessen Seele in dieses königliche Tier übergegangen ist, wie ein Bettler umherirrt.› Niemand wagte es, Apollonius zu widersprechen, nicht einmal der Bettler, der seinen Broterwerb verlor, und auch nicht der Priester. So kam der Löwe in den Tempel.» (Zit. n. ronald zürrer: Reinkarnation, 96) Wenn es möglich ist, in der Gestalt eines Tieres die Person eines verstorbenen und wiedergeborenen Menschen zu erkennen, so ergibt sich wie selbstverständlich ein dritter Grund, der die Reinkarnationslehre vor allem als eine Lieblingsreligion der Verliebten erscheinen läßt: Man fühlt in der Hingezogenheit

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zu dem anderen sich wie von jeher bestimmt zur Einheit mit ihm, man empfindet es als Ziel und Aufgabe des ganzen Lebens, einzig mit ihm zu verschmelzen, man spürt sich derart vertraut mit ihm, als hätte man ihn «immer schon» gekannt; also war man mit ihm bereits in einem anderen Leben vereint und läßt jetzt nur zur Vollendung heranreifen, was vormals begann, doch bisher noch nicht zum Abschluß gelangte. (Vgl. ronald zürrer: Reinkarnation, 110 – 113.) Psychoanalytisch ist dieser Eindruck durchaus vertraut: Man liebt im Grunde stets nur, was man längst kennt, weil man es als Kind bereits im Bilde der Eltern in sich aufgenommen hat: Mutterarchetyp, Elternimagines, Übertragung, Wiederholungszwang lauten die therapeutischen Vokabeln zur Beschreibung dieses Phänomens. Doch nun hat die christliche Theologie auf der Synode von Konstantinopel im Jahre 543 die Lehre von der Präexistenz der Seele und mithin den Glauben an die Wiedergeburt verurteilt, und dieses Verdikt wurde durch Papst Vigilius (537–555) bestätigt. (Vgl. denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 403.) Die Verurteilung richtete sich namentlich gegen origenes. Es spielt dabei keine Rolle, daß Kaiser Justinian (527– 653) und seine Gemahlin Theodora, die dem Monophysitismus zuneigten (der Lehre von der einen göttlichen Natur Jesu, in welche seine menschliche Natur aufgegangen sei), den Papst, den sie selber in Rom an die Macht gebracht hatten, nach der Zerstörung des Ostgotenreiches in Italien dazu benutzen wollten, den Westen des Reiches nun auch ideologisch der Macht von Byzanz zu unterwerfen. (Vgl. hubert jedin: Kleine Konziliengeschichte, 30– 31.) Gleichlautend entschied auch das Konzil von Braga im Jahre 561 in dieser Frage. (denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 456) Der Einwand, der dabei gegen die Präexistenz-Lehre erhoben wurde, hatte im Grunde mit bestimmten Problemen der «Christologie» zu tun: war Jesus erst als Christus «Gottes Sohn», so mußte, wenn dieses Bild der Gottessohnschaft nicht länger mehr symbolisch verstanden werden sollte (wie im Alten Ägypten das Wesen des Pharao), sondern philosophisch in die Kategorien der Metaphysik übertragen wurde, notgedrungen darüber nachgedacht werden, ob die göttliche Person Jesu nur eine göttliche Natur besaß (so die «Monophysiten») oder auch eine menschliche Natur; und wenn Jesus wirklich «wahrer Gott und wahrer Mensch» war, wie das Konzil von Chalkedon schon im Jahre 451 definiert hatte (vgl. denzinger – schönmetzer: Enchiridion, Nr. 301), so gehörte zu der menschlichen Natur auch eine menschliche Seele; damit diese eben nicht identisch gesetzt werden konnte mit der göttlichen Natur, durfte sie auch nicht präexistent sein wie das Göttliche (die zweite Person der Gottheit, der Logos) selbst. – All diese gewundenen Überlegungen, die

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Jahrhundertelang immer neue Gewaltentscheidungen («Dogmen») und gewalttätige Verfolgungen Andersdenkender («Ketzer» und «Häretiker») hervorbrachten, mögen außerhalb der kirchengeschichtlichen Abteilung einer theologischen Fakultät heutzutage als völlig irrelevant eingestuft werden, sie zeigen jedoch, in welch einem Ausmaß die Frage nach dem rechten Verständnis der Person Jesu als Katalysator für die Frage nach der Personalität des Menschen überhaupt wirken konnte: wie stets, waren es Projektionen, in deren Spiegelungen das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein erwachte. «Es sind die Christen gewesen», referierte deshalb ganz richtig marcel mauss (Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ‹Ich›, in: Soziologie und Anthropologie, II 247), «die aus der moralischen Person (sc. als einem bloßen Rechtsbegriff, d. V.) eine metaphysische Entität (sc. lat.: Seinsweise, d. V.) gemacht haben . . . Der uns vertraute Begriff der Person ist immer noch grundlegend der christliche Begriff.» Das wirkliche Problem der Reinkarnationslehre jedenfalls liegt – neben zwei weiteren naturphilosophischen Schwierigkeiten, zu denen wir sogleich kommen werden – tatsächlich in der Identität der Person: Wenn es möglich ist, daß ein König wie Amasis zu einem Löwen wird, wie steht es dann um die Identität beziehungsweise um die personale Kohärenz von «Amasis»? – Wir haben die gleiche Frage schon einmal anläßlich der buddhistischen Leugnung der Personalität des Menschen in dem Lehrgedicht Milindapañha gestellt (vgl. Bd. I 45; s. o. S. 435– 436; 597); jetzt aber müssen wir eine in sich überzeugende Antwort suchen. Und da sehen wir, daß auch die pythagoreische oder indische Philosophie den gleichen Fehler begehen konnte und kann wie die christliche Theologie: die Kategorisierung von Symbolen bzw. die Metaphysizierung mythischer Bilder. Symbolisch erscheint es als eine äußerst sinnreiche, poetisch weise Beschreibung menschlichen Schicksals, einen König, der grausam und rücksichtslos regiert hat, mit einem «Löwen» zu vergleichen und sich vorzustellen, daß er sein «Löwesein» zur eigenen Läuterung abtragen müsse; doch in einem Löwen im Käfig eine eingesperrte menschliche Seele zu erblicken, würde unter gewöhnlichen Voraussetzungen gewiß als psychiatrisch «grenzwertig» eingestuft werden; nicht anders würde mit einer Frau verfahren werden, die sich als eine Wiedergängerin der Johanna von Orleans sähe: wofern man sie nicht gleich auf der Stelle in ein Landeskrankenhaus überweisen würde, wäre man allenfalls geneigt, in ihrem wahnhaften Selbstbild eine Folge des (ödipalen) Kampfes gegen den Vater und um den Vater (den französischen König Charles VII.) zu erkennen. Auch eine Variante der Seelenwanderungslehre, die Vorstellung von der so-

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genannten Metempsychose, würde, wenn ernsthaft als Selbstaussage geltend gemacht, in unserer Gesellschaft zweifellos die nämliche Beurteilung erfahren. Das griechische Wort (zusammengesetzt aus metá – mit, em – in und die psýcho¯sis – Beseelung) meint die Einwohnung einer Seele in einer anderen Seele (im Unterschied zur Reinkarnation – von lat.: die incarnatio – Fleischwerdung, neue Verleiblichung –, bei der ein und dieselbe Seele von einem Körper auszieht und in einem anderen neu zur Welt kommt). Jemand, der von sich behauptete, in ihm wohne neben seiner eigenen Seele zugleich die Seele von Napoleon, Rasputin oder Marilyn Monroe, müßte ohne Frage für schizophren erkrankt gehalten werden. Wieder stoßen wir dabei auf eine mögliche Ambivalenz der Religion zwischen Wahnsinn und Weisheit, je nachdem ob sie ihre eigenen Vorstellungen «wörtlich» oder «bildhaft» nimmt. Würde jemand sich als ein militärisches Genie, als einen charismatischen Wüstling oder als eine Sex-Göttin betrachten, so würde er seine Umgebung mit dieser Selbsteinschätzung zwar gewiß in Verblüffung setzen, doch würde er nicht ohne weiteres für «verrückt» gehalten werden, wofern seine Selbstwahrnehmung nicht allzu sehr jeder Offensichtlichkeit widerstritte; zumindest erhielte er eine Chance, sich mit seinem Selbstkonzept entweder in der Realität durchzusetzen oder an die Realität anzupassen; in jedem Falle bliebe ihm bewußt, daß er sich mit den genannten geschichtlichen Persönlichkeiten zwar in Vergleich, doch nicht mit ihnen identisch setzt; sobald er freilich ernsthaft glaubt, ein anderer als er selbst zu sein, tritt er in das Stadium der Schizophrenie, und aus dem symbolischen Sinn wird ein psychotischer Unsinn, gestützt allerdings im Falle der Lehre von der Metempsychose oder der Reinkarnation durch eine religiöse Ideologie, die mythische Vorstellungen mit den Mitteln der Metaphysik als «rational» zu beweisen trachtet. Wie mühsam und widersprüchlich derartige Rationalisierungsversuche ausfallen, zeigt sich an dem Beispiel der indischen Seelenwanderungslehre. «Die Vorstellung von der Individualseele, welche den ewigen, unzerstörbaren Kern einer Persönlichkeit bildet, hat sich aus der vedischen Anschauung von dem den Menschen nach seinem Tode überlebenden ‹alter ego› (sc. lat.: das andere Ich; identisch mit der «Freiseele» der Ethnologen, d. V.) entwickelt. Zur vedischen Zeit», referiert helmuth von glasenapp (Die Philosophie der Inder, 389 –391) rein religionsgeschichtlich, «herrschte der Glaube, daß nach dem Dahinfall des Leibes ein feinstoffliches Schattenwesen von dem Aussehen des Verstorbenen weiterexistiere. Dieses wird einerseits als ein denkendes und handelndes vorgestellt, andererseits wird aber wieder von ihm gesagt, daß es, um

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in der Himmelswelt leben zu können, wieder mit den Stoffen, den Sinnesorganen, dem Lebenshauch, dem Denken usw. versehen werden muß, welche ihm zu Lebzeiten eigen, in die Gottheiten eingegangen waren, deren Teilmanifestation sie sind. Während also das, was von dem Abgeschiedenen übrig bleibt, oft ein vollständiger Doppelgänger desselben ist, ist es nach anderen Angaben mehr ein leeres Schemen, gewissermaßen der Rahmen einer Individualität, der mit den verschiedensten Potenzen ausgefüllt werden muß, sofern er volle Aktionsfähigkeit erhalten soll. Durch den Fortschritt des Denkens und das Aufkommen der Wiederverkörperungslehre erfuhren die Anschauungen über das Wesen, das nach dem Tode weiterlebt, eine tiefgreifende Umgestaltung; aus dem Schattenbild eines Verstorbenen wurde ein immaterielles Geistwesen, das selbst gestaltlos ist oder nach Bedarf die verschiedensten Gestalten annehmen kann. Das Bestreben, die Frage zu klären, was der Seele an sich eigen ist und was an einem empirischen Lebewesen durch andere Faktoren zur Erscheinung gebracht wird, führte dazu, daß eine Reihe von Theorien aufgestellt wurden, von denen die einen die Seele als ein aktives Individuum, die anderen als einen bloßen Rahmen auffassen, welcher die verschiedensten Faktoren in sich aufnehmen kann: – 1. Als ein erkennendes, fühlendes, wollendes und handelndes Wesen wird die Seele von den meisten Vedântins, Vishnuiten und Shivaiten sowie von den Jainas angesehen . . . – 2. Für das Nyâya-Vaisheshika (sc. von sanskrit.: nyâya – Regel, Grundsatz; Richtschnur; das Vaisheshika ist eine atomistische Naturphilosophie, die dadurch, daß sie die spezifischen Unterschiede zwischen allem, was uns in der Innen- und Außenwelt entgegentritt, feststellt, zu einer Lösung der metaphysischen Probleme finden will, vgl. a. a. O., 65; 232, d. V.) . . . sind Erkenntnis, Lust, Schmerz, . . . religiöse Schuld und karmische Disposition . . . der Seele nur eigen, solange sie mit einer Denksubstanz . . . versehen dem Sansâra (sc. dem Kreislauf der Vergeltungskausalität, d. V.) verhaftet ist . . . – 3. Das klassische Sânkhya (sc. ein atheistisches, pluralistisches System, vgl. a. a. O., 198, d. V.) und der diesem folgende Yoga sehen in der Seele ein rein geistiges Wesen, dem jedes Empfinden, Wollen und Handeln fremd ist. Alle Qualitäten außer der Bewußtheit kommen auf Konto der Materie, mit welcher sie sich fälschlich verbunden glaubt; im Zustand der Erlösung ist sie deshalb nur ein individuelles Licht und nichts anderes.» Allein schon die Fülle philosophischer Versuche, die «Seele» begrifflich zu bestimmen, offenbart das Dilemma, in welchem das ganze Konzept von der Reinkarnation gefangen bleibt: es ist nicht möglich, bei einer Vielzahl von Existenzformen zu entscheiden, was eine Individualität (oder Personalität) ausmachen soll, die sich in all ihren beliebig unterschiedlichen Seinsweisen durch-

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zuhalten vermag. Und vergessen wir nicht: angesichts der modernen Neurologie scheint es unmöglich, die Vorstellung von einer Seele aufrechtzuerhalten, die jenseits der Körperwelt ein Eigenleben führt und sich der Körperwelt nur bedient, um darin einen Ort ihrer Buße für begangene Fehler in einer vorangegangenen Existenz zu erlangen. Die Lösung des Buddhismus mutet an dieser Stelle konsequenter an als die Vorschläge der hinduistischen Lehrsysteme, indem «die buddhistischen Texte nicht müde werden, immer erneut zu verkünden, daß die landläufigen Lehrmeinungen vom Wesen des Leibes und der Seele falsch sind, weil sie auf der Annahme von beharrenden Substanzen beruhen.» (helmuth von glasenapp: Die Philosophie der Inder, 395) Wenn wirklich dieser Gedanke gelten soll, so ist allerdings nicht mehr recht zu sehen, wie von einer Reinkarnation in eigentlichem Sinne überhaupt noch gesprochen werden kann, denn es gibt nichts mehr, was einer Wiederkehr entgegensehen könnte; was es gibt, ist nicht ein identisches Etwas, das in immer neuen Erscheinungen seiner «Erlösung» entgegenreift, sondern eine Art kosmischer Ruhestörung, eine Stoßwelle, die als Folge ihres Auftretens eine neue Welle erzeugt, die ihrerseits, je nach der Energie, die sie im Fortrollen aufnimmt oder abgibt, eine neue noch stärkere oder auch schwächere Welle verursacht. Ein solcher «Wellenzug» hat im Grunde mit dem Konzept einer Reinkarnation nichts mehr gemein, und so lautet die Frage des Buddhismus charakteristischerweise auch schon gar nicht mehr, wie man das Sein nach dem Tode sich vorstellen, sondern wie man jegliches Sein zum Verlöschen bringen kann. Als Volksreligion in den verschiedensten Kulturräumen zeigt sich der Buddhismus zwar durchaus kompatibel mit allen möglichen noch so archaischen Seelenvorstellungen aus den lokalen Traditionen; doch diese – sogar überraschend große – Vielfältigkeit seiner Anpassungsformen besagt nichts gegen die Einfachheit und Klarheit seiner Grundaussage: es gibt weder eine «Seele» im Sinne einer Substanz, die, selbst immateriell, die Bewegungen des Körpers sowie das Denken und Wollen in ihm erzeugt, noch gibt es eine Person oder eine persönliche Identität. Schon verschiedene Male haben wir auf die Verwandtschaft der buddhistischen Betrachtungsweise mit den Gedanken von david hume hingewiesen (vgl. Bd. I 46; s. o. S. 377); und tatsächlich findet sich bei ihm ein Argument gegen den Glauben an die Identität der Person (auf Grund der Existenz einer Seelensubstanz), das in ähnlicher Weise auch der buddha gebraucht haben könnte: Nehmen wir an, «eine Kirche, die früher in Ziegelsteinen errichtet war, sei in Trümmer gefallen; darauf habe die Gemeinde ‹dieselbe› Kirche aus Quadersteinen und der modernen Architektur entsprechend wieder aufgebaut». In diesem Falle «ist weder die äußere Gestalt noch das Material dasselbe, es ist überhaupt

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nichts den beiden Gegenständen gemeinsam, als ihre Beziehung zu den Einwohnern der Gemeinde». Und so mag man diese Kirche denn als «identisch bezeichnen». Daraus folgt analog: «Auch die Identität, die wir dem Geist des Menschen beilegen, ist nur eine fingierte»: sie verdankt sich einzig der «Wirkung der Einbildungskraft.» (Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I. Über den Verstand, Teil IV, Abschn. 6, S. 334 –335) Die Vorstellung von der Identität der Person (bzw. der Seele) bildet nun ihrerseits nur erst die unerläßliche Voraussetzung für einen zweiten Kritikpunkt an der Reinkarnationslehre, die ihm gegenüber noch weit anfechtbarer zu sein scheint: den Gedanken von der Schuldbehaftetheit des Daseins. Nicht wenige, die, verunsichert durch die Ungereimtheiten des christlichen Dogmas, sich östlichen Weisheitslehren zuwenden, ergreifen den Glauben an die Wiedergeburt in der Hoffnung, sich mit einem nicht weiter festlegbaren «Irgendwie» der Vorstellung aus der Klemme heben zu können: der Körper vergeht – das ist offensichtlich; die Idee einer unsterblichen Seele scheint nicht nur zweifelhaft – sie zerfällt unter der aufklärerischen Kritik von Philosophen wie david hume seit nun schon 250 Jahren in nichts; und die Naturwissenschaften in unseren Tagen präsentieren uns ein durch und durch dynamisches Weltbild, innerhalb dessen für «unvergängliche Substanzen» keinerlei Platz erkennbar ist; in dieser Lage, die eigentlich zur Preisgabe jeglicher Hoffnung jenseits der Gräber nötigen könnte, kommt es vermeintlich einem Ausweg gleich, sich des Gedankens zu getrösten, daß «es» ja «irgendwie» schon «weitergehen» werde. Die völlige Auflösung fürchtet man, eine konkrete Zuversicht meidet man, und dazwischen bietet sich, ebenso unbestimmt wie exotisch, die Idee der Reinkarnation an. Doch diese Zuflucht trägt eine schwere Hypothek: nicht Glück und Belohnung verheißt in diesem Konzept die künftige Daseinsform, sondern im Gegenteil, verdientes Leiden, – Strafe für Schuld. Diese Weltdeutung an sich zeugt von schopenhauerscher Weisheit. Man schaue sich um und wird finden, wie adäquat eine solche Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Gibt es irgendein Glück, das nicht begleitet oder gefolgt würde von Schmerz, Enttäuschung und Trauer? Und wer, wenn er glücklich sich fühlt, könnte schon sagen, er kennte jenseits der Zufälle die Gründe dafür und hätte sie selbst sich geschaffen? Und dann erst das Unmaß an Unglück und Leid! Kein Strafgefangenenlager hält (unter zivilisierten Verhältnissen) auch entfernt nur derart ausgesuchte und peinigende Praktiken zur Vergeltung und Buße bereit wie die qualvollen Bedingungen der natürlichen Existenz zu jeder Zeit. Legt da nicht von allein der Gedanke sich nahe, wir existierten überhaupt nur eines ehdem begangenen Verbrechens wegen und stünden als erstes in der

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Pflicht, wie in franz kafkas (1883 –1924) Erzählung In der Strafkolonie (1919) während der quälend sich hinziehenden Exekution nach und nach herauszufinden, worin dieses Vergehen bestand, um am Ende zumindest ausgesöhnt mit der Hinrichtung beseitigt zu werden? In der Kulturgeschichte Indiens über Jahrtausende hin hat dieser Glaube befriedend gewirkt. Die Ordnung der Kasten, die Ungleichheit unter den Menschen, die Ungerechtigkeit des Schicksals, die Erbärmlichkeit der meisten im Schatten weniger Reicher, die wie selbstverständliche Erniedrigung der «Menschenfüßlein» (der Shudras) durch die Mächtigen, durch Hunger und Krankheit, durch Naturkatastrophen, die in Minuten und Stunden den mühsamen Aufbau von Jahren vernichten, und schließlich: die Habgier der Menschen, die ständige Rüstung und Planung von Kriegen, der Wahn, nur in der vorübergehenden Balance mörderischer Drohungen Sicherheit und zeitweises Ausruhen zu finden, das Bedürfnis der Unterlegenen, Revanche zu üben . . . die Liste der Leiden ist schier unendlich – und nicht leicht unterscheidbar sind in ihr die Übel, welche die Natur den Menschen und diese sich selbst auferlegen. Zu «Hilfe» kommt in dieser Lage – fast möchte man sagen: verhängnisvollerweise – jene Erlebnisbereitschaft aus dem Verhalten der Tiere, die wir bei der Erörterung der Angst vor der «Ausstoßvictimisation» kennengelernt haben (vgl. Bd. I 634 –636): das Kranke, Normabweichende gilt für das Auszugrenzende, Schuldige, so daß den Unglücklichgewordenen schließlich der Eindruck begleitet, bestraft zu gehören und es besser auch nicht zu verdienen. Doch hier spätestens meldet sich unweigerlich Widerspruch. Je besser wir das Gesetz der Vergeltungskausalität (des Karmas) in seinem Erklärungsreichtum begreifen, desto unheimlicher mutet es an. Mit was für einem archaischen Denken haben wir es da zu tun! Gewiß, ein Mensch kann aus Leid Mitleid, aus Schmerz Geduld, aus Unglück Verständnis gewinnen; und vielleicht gibt es sogar so etwas wie einen Auftrag zu gerade einem solchen Reifen der Seele; doch von «Gerechtigkeit», von «Weisheit», von einer göttlichen Ordnung mag man nicht reden bei einem philosophischen System, das den Leidenden für sein Unheil auch noch schuldig spricht. Wohl, wir haben gesehen, wie mancherlei Krankheit psychosomatisch bedingt ist und nur bei einer Änderung der persönlichen Einstellung im Umgang mit Angst und Ärger geheilt werden kann (s. o. S. 88 –90); doch wie soll Streß sich verringern, wenn zu all den inneren Spannungen nun auch noch moralischer Zwang und religiöser Masochismus verschärfend hinzutritt? So weise das Karma-Gesetz oft gedeutet werden mag, so unheilvoll, so geradewegs falsch, so empörend mutet es noch häufiger an. Mit einem Wort: es ist selber höchst ambivalent, es gilt keineswegs universell,

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und es bedarf von Fall zu Fall einer sorgfältigen Prüfung, wann etwas als «selbstverständlich» erscheint und wann nicht. Allenfalls psychotherapeutisch gibt es so etwas wie eine generelle Geltung karmischen Schicksals: Kinder leiden allemal unter den Widersprüchen im Leben und Erleben ihrer Eltern sowie unter den Beschränktheiten der Bedingungen, unter denen sie aufwachsen mußten. Wir brauchen uns nur an die Wirkung des double-bind oder an die Verlassenheitsangst schon von Tierkindern zu erinnern, und es ist das Ausmaß all der Belastungen ahnbar, die, tief im Unbewußten, im ganzen weiteren Leben mitgestaltend weiterwirken werden. Hier gibt es unzweifelhaft einen möglichen Zusammenhang von Leid und Reifung, von Schicksal und Bewußtwerdung, von einer Pflicht, das Alte neu und besser zu gestalten. Nur: von Schuld, von verdientem Leid kann und darf gerade hier keine Rede sein. Deshalb kommt es zu einem dritten nun entscheidenden Kritikpunkt, der die Reinkarnationslehre als ein archaisches Relikt aus den Anfängen religiös-philosophischer Weltdeutung erscheinen läßt: dem Protest gegen die Gleichsetzung von Naturgesetz und Moralgesetz. Wie in der biblischen Theologie, was immer an Unheil in Natur und Geschichte geschah, als die Strafe eines Gottes ausgelegt wurde, der alles in den Händen seiner Macht umschlossen hielt, so begreift auch das indische Karma-Gesetz alles Geschehen als göttlich gewirkt; ein enormer Unterschied besteht freilich darin, daß die biblische Gottheit als eine personale Macht mit menschlich verständlichen (projizierten) Gefühlen und Motiven auftritt, wohingegen die indische Frömmigkeit zu der Einsicht in eine Ordnung sich durchringt, die alles Geschehen einem einzigen anonymen Prinzip: dem Gesetz der Kausalität, unterwirft. Und hier gabeln sich die Wege. Für die biblische Frömmigkeitsgeschichte bedeutete es eine entscheidende Erkenntnis, daß die gesamte «deuteronomistische» Geschichtstheologie (vgl. gerhard von rad: Theologie des Alten Testaments, I 346 –359) mit ihrer steten Abfolge von Verfehlung auf seiten des Volkes Israel und von Strafe auf seiten seines Gottes Jahwe an ein Ende geraten sein muß: mehr an Strafen als die Zerstörung Jerusalems und die Deportation der jüdischen Ober- und Mittelschicht nach Babylon ist durchaus nicht mehr möglich; was jetzt ansteht, ist mithin ein radikaler Neuanfang auch und gerade auf seiten Gottes, der sein «Gesetz» nicht länger auf Tafeln aus Stein, sondern in das Herz der Menschen schreiben wird (Jer 31,33) – ein fundamentaler Umbruch im Denken, Fühlen und Glauben der jüdischen Theologie, der sich besonders mit der Person des Propheten jeremia im 6. Jh. v. Chr. verbindet. Spätestens das Buch Hiob dann wird im Namen nicht nur eines kollektiv zur Rechenschaft gezogenen Volkes, sondern eines Einzelnen Klage erheben gegen das Übermaß an Leid, das über

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einen Schuldlosen von Gott verhängt scheint. Zum ersten Mal ist es, daß die Gleichung von geschehender Geschichte und göttlichem Gerechtigkeitshandeln zerbricht. Dabei kennt die Bibel kein «Naturgesetz» neben dem Gotteswillen; was Gott will und gebietet, ist das moralisch Gute; doch dagegen steht nun die Feststellung, daß der Weltenlauf, da ganz offensichtlich grausam, willkürlich, ungerecht und sinnlos, auf keinen Fall identisch mit Gottes Wille und Gebot sein kann. Diese schmerzliche Selbstkorrektur der biblischen Theologie im Buche Hiob (oder auch im Ps 73,3 –16) enthält ein Moment, das kritisch nun auch gegenüber der indischen Gleichsetzung von Naturgesetz und Moralgesetz eingefordert werden muß, wenngleich die Konsequenzen daraus für die indische Frömmigkeitshaltung immens sind, betreffen sie doch den pantheistischen Grundzug der hinduistischen Naturreligion im Kern. Bereits david hume hat darauf verwiesen, daß die Einführung einer geistigen Substanz als Trägerin von Denken und Wollen letztlich darauf hinausläuft, wie in der pantheistischen Philosophie baruch de spinozas die Gottheit bzw. «das höchste Wesen» für «die wahre Ursache aller unserer Handlungen, der guten wie der bösen, der sündhaften wie der tugendhaften», zu erklären. (Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I. Über den Verstand, Teil IV, 5. Abschn., S. 323 –324) Eine solche «spinozistische» Welt entspricht der Weltsicht des All-Einheits-Denkens in der Philosophie des Vedânta zweifellos am meisten (vgl. helmuth von glasenapp: Die Philosophie der Inder, 185 –193: Die Lehre Shankaras). Wenn aber die Gottheit und die Welt, wenn Schöpfer und Schöpfung miteinander verschmelzen, so kann es einen Unterschied zwischen Naturgesetz und Moralgesetz prinzipiell nicht geben, und damit ergibt sich das gleiche Problem wie in den Anfangstagen der biblischen Theologie, nur jetzt weit unpersönlicher, kälter, rein von der Gesetzeslogik her: das Karma-Gesetz entsteht nicht aus dem Entscheidungsakt eines richtenden Gottes, der Lohn und Strafe nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit gegeneinander verrechnet und mit seiner «Gerechtigkeit» ein objektives Urteil begründet, das niemanden begünstigt noch übervorteilt, sondern es bedarf einer solchen Richtergestalt allem Anschein nach überhaupt gar nicht; die Folgen von guten wie bösen Taten werden viel einfacher durch einen reinen Vergeltungsautomatismus geregelt, der die Erscheinungsformen des Daseins miteinander verknüpft – wie der Energieerhaltungssatz in der Thermodynamik die Verwandlung einer Energieform in eine andere (etwa von innerer Energie in Bewegungsenergie und von Bewegungsenergie in elektrische Energie) exakt bestimmt. Dabei wird augenscheinlich, daß die als moralische Kausalität gedachten Verwandlungen im Gesetz des Karmas allenfalls als symbolische Beschreibungen ein-

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leuchten: wer wie ein «Schwein» lebt, wird als ein Schwein wiedergeboren . . . Die Verhaltenspsychologie der Tiere selbst bereits reduziert sich in dieser Betrachtung auf einen bloßen Symbolismus des menschlichen Verhaltens und projiziert sich dann in den Ablauf realer Inkarnationen von Menschen in Tiergestalt. Jenseits ihres symbolisch sinnvollen Inhalts, muß eine solche Konstruktion als äußerst anfechtbar erscheinen. Am wichtigsten aber ist jetzt dieses: Es gibt keine Kongruenz, ja, nicht einmal eine auch nur geringfügige Entsprechung von Naturgesetz und Moralgesetz. Ein Hauptmoment der Faszination indischer Frömmigkeit geht für nicht wenige im Abendland heute gerade von dem indischen All-Einheits-Gedanken aus. Wie die Fragen eines Lebens nach dem Tode sich im «irgendwie» verlaufen, so die Beziehung zum Göttlichen im «ungefähr»: Gott oder das Universum – beides scheint austauschbar. Fast alle Physiker im 20. Jh., wenn sie sich zur Religion äußerten wie albert einstein (1879 –1955), dachten betont spinozistisch (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 724 –748); die Ordnung des Weltalls, seine exakt beschreibbaren Gesetze galten ihnen als letzter Grund aller Dinge. Staunen, Bewunderung, Dankbarkeit, Demut und das Gefühl der Winzigkeit des Menschen gegenüber dem Universum verbinden sich mit dieser Haltung. Man glaubt an Gott (oder besser: an Göttliches oder an einsteins «listigen Alten») eben wegen der Schönheit des Alls und von allem. Genau das aber ist unmöglich, sobald die Einfachheit physikalischer Gesetze ihre Anwendung finden soll auf empfindende, fühlende, denkende Wesen. Es ist die durch nichts hinwegzuleugnende Grausamkeit der Mechanismen, die den Gang der Evolution des Lebens regeln, mit der keinerlei moralische Wertvorstellungen sich identisch setzen lassen. An Gott zu glauben findet seinen Grund eben darin, daß Gott und das Universum nicht eins sind, nicht eins sein dürfen: – niemals dürfen Menschen miteinander und mit den Lebewesen an ihrer Seite so umgehen, wie die Natur jederzeit mit ihnen verfährt, – und ein Gott darf es erst recht nicht. Damit aber fällt der Kern der indischen Vergeltungskausalität, ja, das Zentrum der indischen Frömmigkeit selbst auseinander. Unbedeutend und nichtssagend wird die Reinkarnationslehre dadurch allerdings keineswegs. Religionspsychologisch sah david hume auch an dieser Stelle ganz richtig, als er die Religion wesentlich aus dem Gefühl des Negativen, der Angst, zu begründen suchte. «Es stimmt zwar,» schrieb er, «daß Furcht und Hoffnung in die Religion Eingang finden. Denn diese zwei Emotionen bewegen zu verschiedenen Zeiten den menschlichen Geist, und die eine wie die andere formt sich ein Bild von der Gottheit, wie es ihr jeweils entspricht. Doch

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wenn jemand in einer heiteren Verfassung ist, dann ist ihm in irgendeiner Form nach Arbeit oder Geselligkeit oder Unterhaltung zumute; ganz von selbst widmet er sich diesen Dingen und denkt an keine Religion. Ist er dagegen traurig und niedergeschlagen, so hat er nichts zu tun, als über den Schrecken der unsichtbaren Welt zu brüten und sich noch tiefer in seinen Kummer zu vergraben. Es kann in der Tat vorkommen, daß, nachdem er in dieser Weise die religiösen Lehren tief in sein Denken und seine Vorstellung eingeprägt hat, ein Wechsel in seinem Befinden oder in seinen Lebensumständen eintritt, der vielleicht seine gute Laune wieder herstellt, freudige Zukunftserwartungen in ihm weckt und ihn so in das andere Extrem, ein Gefühl von Glück und Verzückung, fallen läßt. Aber trotz allem muß man zugeben, daß der Schrecken als das Grundprinzip der Religion in ihr vorherrscht und nur für kurze Zwischenzeiten eine frohe Stimmung aufkommen läßt.» (Dialoge über natürliche Religion, 138 –139) In der Tat: solange Menschen sich im Gefühl des Wohlbefindens förmlich in die Natur zurücklehnen, mögen ihnen Welt und Gott als ununterscheidbar erscheinen; das Erschrecken in der Natur und an der Natur aber zerreißt den illusionären pantheistischen Schleier und läßt die absolute Differenz und Diskrepanz zwischen Schöpfung und Schöpfer vor Augen treten. Dieses Erschrecken mag sich äußern in zahlreichen Situationen von Gefahr und Enttäuschung, doch ist es im ganzen prinzipieller Natur, und ein wesentlicher Inhalt besteht in der Entdeckung eben der grundsätzlichen Unabgegoltenheit und Unvollendbarkeit des irdischen Daseins. Dies ist der Punkt, an welchem die indische Frömmigkeit, entkleidet ihrer pantheistischen Metaphysik, den symbolischen Reichtum ihrer Glaubenslehren an das abendländische Denken weitergeben könnte und sollte. Denn der Grundgedanke im Hinduismus ist der gleiche wie auch im Christentum und im Islam (sowie zum Teil im Judentum): Das menschliche Dasein ist bestimmt zu einem stetigen Reifen, das erst zur Ruhe findet, wenn es bei sich selbst ankommt, und zu einem verstehenden Begreifen, das die engen Begrenzungen und egozentrischen Zwecksetzungen des irdischen Daseins hinter sich läßt, indem es sich aufschließt für die Bedeutung des eigenen wie aller anderen Lebens. (Insbesondere die unerläßliche Funktion, die den Tieren auf diesem Weg zufällt, wird in der indischen Frömmigkeitshaltung ganz offensichtlich klarer und richtiger wahrgenommen als in der abendländischen Theologiegeschichte.) Das christliche Symbol der Hoffnung angesichts des Todes ist indessen nicht die platonische Unsterblichkeit oder die indische Seelenwanderungslehre, sondern das (aus dem Alten Ägypten stammende) Bild von der Auferstehung. (Vgl. e. drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne,

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119 –154.) Fragen müssen wir also, wie sich die Erwartungen der Reinkarnationslehre und die (biblisch begründeten) Hoffnungen des Glaubens an Auferstehung, symbolisch gelesen, zu einem Gesamtbild der Zuversicht zusammenfügen. Die Voraussetzungen für eine mögliche Synthese haben wir uns bereits erarbeitet; doch um so stringenter sollten wir bestrebt sein, bei dieser wohl wichtigsten Fragestellung des menschlichen Lebens nur diejenigen Aussagen zuzulassen, die sich aus den bisherigen Darlegungen folgerichtig ergeben.

e) Die Hoffnung auf Vollendung oder: Wir werden uns wiedersehen Wir sahen schon, wie die Medizinmänner der Apapocuvas eine Nachtlang herauszufinden suchen, aus welch einer Region des Himmels ein neugeborenes Kind kommt, um seinen richtigen Namen zu bestimmen (s. o. S. 734 –735). Auch aus der Präexistenzlehre platons ergibt sich, daß alle Dinge ihren richtigen Namen allein besitzen in der Sprache der Götter (vgl. Kratylos, 391 d, Kap. 11, in: Sämtliche Werke, II 124); seiner Vorstellung entsprechend heißt «Seele» das, was den Körper als ein «Selbst hält», wohingegen der Körper (griech. das sõma) als «Grabmal» (griech.: das se˜ ma) zu bezeichnen ist – der Körper demnach als Kerker, in welchem die Seele gefangen bleibt, bis daß sie ihre Schuld abbezahlt hat. (A. a. O., 400c, Kap. 17, in: Sämtliche Werke, II 143) In der Lehre von der Präexistenz (der Seele, der Person) ist demnach ein symbolischer Hinweis enthalten, der sich am besten in Form eines wunderschönen Bildes aus der altägyptischen Mythologie vermitteln läßt: In der Szenenfolge der Geburt eines Pharaos formt der widderköpfige Gott Chnum das zu gebärende Kind (den künftigen Pharao) und sein Ka (seinen Lebensgeist) «als identische Gestalten auf einer Töpferscheibe, während die froschköpfige Göttin (Heket) das lebenspendende Henkelkreuz (sc. das Anch-Kreuz, das nach dem Schoß einer Frau geformt ist, d. V.) darreicht». (emma brunner-traut: Pharao und Jesus als Söhne Gottes, in: Gelebte Mythen, 41) Abb. D 30 zeigt diesen Vorgang. Entsprechend diesem mythischen Bilde müßten wir das Dasein eines (königlichen, souveränen) Menschen uns als ein Kunstwerk vorstellen, von dem wir nur eine Art Imitat zu sehen bekommen, während das Original im Himmel verbleibt. Anders gesagt: Der Mensch, dem wir begegnen, mag durch vielerlei Einflüsse des irdischen Daseins entstellt und verformt sein, – man sollte gleichwohl

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Abb. D 30: Die Schöpfung des zu gebärenden Kindes (des zukünftigen Pharaos) und seines Ka auf der Töpferscheibe des widderköpfigen Gottes Chnum

sein Erscheinungsbild stets in Vergleich setzen zu seiner transzendenten Wesensgestalt; denn alles kommt darauf an, dieses Urbild nie aus dem Blick zu verlieren. «Präexistenz» ist, so besehen, nicht eine ontische Aussage über ein vorgeburtliches Sein, sondern eine Chiffre für die eigentliche Wesensart und Bestimmung der Person eines Menschen. Was rein naturwissenschaftlich nur als Zufallsergebnis des Zusammenspiels von genetischen, biopsychologischen, psychosozialen und biographischen Faktoren erscheinen kann: die konkrete Ausformung einer Person, erscheint im Lichte der Chiffre der Präexistenz als etwas, das eine in sich geprägte Gestalt bereits in die Welt mitbringt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen ist für die Art des Umgangs miteinander und für das eigene Selbstverständnis ganz entscheidend: Solange ein Mensch den anderen und sich selbst nur erscheint als das Ergebnis zufälliger Umstände, wird der Eindruck einer nahezu zynischen Beliebigkeit niemals aus dem Erleben zu entfernen sein; einen Menschen aber wahrzunehmen als die – bildlich gesprochen – äußerst verwundbare und bereits vielfach verwundete

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Nachbildung eines göttlichen Urbildes, bedeutet, das Empfinden der Liebe, die einen Menschen allererst zur Person macht, als Grund seines Wesens anzuerkennen: diesen Menschen soll es geben; er ist entgegen der sinnenfälligen Überflüssigkeit seines Auftauchens ein ins Dasein Gerufener; eine vorgängige und grundlegende Bejahung erscheint in seiner Existenz, die nicht erst zu schaffen, sondern stets schon vorauszusetzen ist. Wenn wir früher bereits sagten, man müsse die Person Gottes glauben, um die Personalität des Menschen glauben zu können, so finden wir diesen Gedanke in dem Symbol der Präexistenz auf unmißverständliche Weise wieder, allerdings weniger auf der Ebene der Beziehung von Ich und Du als auf der Ebene der Seinsbegründung: der Glaube an Gott nimmt dem Dasein den Charakter der Zufälligkeit, er schließt die Kontingenzlücke der Existenz, und zwar nicht durch eine metaphysisch bestehende Notwendigkeit, sondern durch die Freiheit einer fremden Wahl. Nicht eine äußere Kausalität, sondern das Verlangen der Liebe entdeckt in dem Leben eines Menschen den Charakter von etwas, das es geben muß, – das man erdichten und erträumen müßte, wenn es nicht wäre. Erst vor dem Hintergrund einer solchen Bestätigung vermag, wie wir sahen, ein Mensch zu einer Person heranzureifen. Doch selbst in der Geborgenheit der Liebe gelingt dieses Reifen nur mühsam, oft am Rande der Verzweiflung, stets bedroht von Erschütterungen. Es ist möglich, mitten im Leben in eine Krise zu geraten, einfach weil der bisherige Verlauf der Biographie zwangsläufig in eine Sackgasse geführt hat; dann können Traumsequenzen, sorgfältig gedeutet, Beginn und Richtung eines Neuanfangs ankündigen, – das Bild der Wiedergeburt steht für diese Möglichkeit. Eine vertiefte Form der Begegnung mit sich selbst und mit anderen Menschen, vermittelt vielleicht durch psychotherapeutische Begleitung, vermag dann die verschütteten Züge der inneren Wahrheit eines Menschen (wieder) zum Vorschein zu bringen. Von einer «psychischen Mittagsrevolution» sprach carl gustav jung deshalb schon im Jahre 1931 in einem seiner wohl weisesten Aufsätze über Die Lebenswende, darin er den Lebenslauf des Menschen mit dem Lauf der Sonne verglich. (Vgl. Gesammelte Werke, VIII 454; 453.) In solchen «Wiedergeburten», meist in der Lebensmitte, im Zenit der Sonnenbahn, muß vieles aufgegeben, manches umgelernt, einiges zum ersten Mal probiert werden; Abschied und Anfang, Tod und Erweckung liegen in diesem Prozeß der «Bewußtwerdung» des Alten in einem neuen Sinnzusammenhang. Doch die Bedingung dafür ist – nicht anders als bei den ersten Reifungsschritten eines Kindes – ein Erlaubnisraum gewährenden Wohlwollens und verständnisvoller Zuwendung, die Stätte mithin einer noch intensiveren personalen Begegnung und Beziehung.

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Ein geradezu zärtliches Bild für den Vorgang der Wiedergeburt haben – erneut – die Alten Ägypter entworfen, indem sie auf den mütterlichen Hintergrund aller Vorgänge von Erneuerung und Neuanfang verwiesen; als «Symbole der Mutter und der Wiedergeburt» faßte carl gustav jung denn auch diesen ganzen Vorstellungszyklus zusammen. (Symbole der Wandlung, in: Gesammelte Werke, V 261– 351) Als ein zentrales Sinnbild kann dabei der Lauf der Sonne am Himmel verstanden werden. «Was ist das Wesen, das am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei, am Abend auf drei Beinen läuft?» fragte die thebanische Sphinx den unglückseligen Ödipus, und der antwortete, typisch für das griechische Denken: «Der Mensch.» Altägyptisch hätte die Antwort gelautet: «Der Sonnengott», kommt er doch als Gestalt reinen Werdens (äg.: cheper), als vierbeiniger (Chepre-)Käfer, am Morgen im Osten zur Welt, erhebt sich am Mittag als Re zu seiner Mannesgröße und schreitet als Atum des Abends, gleich einem Greis, gestützt auf den Stock, dem Westen entgegen; dann aber nimmt die sternenumglänzte Himmelsgöttin Nut ihn mit ihrem Mund auf – sie küßt gewissermaßen die Abendsonne vom Himmel, um sie (durch orale – jungfräuliche – Empfängnis) in ihren schöngestaltigen, schützenden Leib, der sich mit aufgestützten Fingern und Füßen von Westen nach Osten als Firmament über die Erde (den Erdgott Geb) in ewiger Liebe und Vereinigungssehnsucht wölbt, für eine neue Geburt zu empfangen und sie am Morgen mit ihren segnenden Lichtstrahlen zur Welt zu bringen. Die Himmelsfrau Nut «als Gemahlin des Geb, . . . ist die ‹hohe Frau von Heliopolis› (sc. griech.: die Stadt der Sonne, d. V.). Sie ‹die Ferne› und ‹Große› bleibt dabei die Gestirnmutter, ‹die mit tausend Seelen› (= Gestirne). Sie gebiert sie täglich erneut im Osten, im Westen gehen sie in ihren Mund ein, Sonne, Mond und Sterne, und bleiben darin bis zur Wiedergeburt.» (hermann kees: Der Götterglaube im Alten Aegypten, 226) Abb. D 31 aus dem Neujahrstempel von Dendera gibt den Vorgang der Wiedergeburt der Sonne wieder. «Die Göttin beugt sich über die Erde. Die Standlinie ist von Wasserlinien durchzogen, ebenso wie das Kleid der Göttin. Damit kommt zum Ausdruck, daß auch der Himmel zum Urozean gehört (sc. wie denn auch die Hieroglyphen für Nut = Himmel und für Nun = Urwasser die innere Zusammengehörigkeit der Himmelsgöttin mit der Urflut ausdrücken – vgl. edmund dondelinger: Das Totenbuch des Schreibers Ani, 9, d. V.), aus dem sich die Erde erhoben hat. Die Göttin verschluckt die Abendsonne und bringt aus ihrem Schoß die Morgensonne hervor, die mit ihren Strahlen den Tempel von Dendera erleuchtet. Dieser wird dargestellt durch eine Stele der Göttin Hathor, der der Tempel geweiht war. Diese Stele steht auf der Hieroglyphe für ‹Berg›, auf deren beiden Kuppen die Hathor-Sykomoren (sc. die Hat-

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Abb. D 31: Die Wiedergeburt der Sonne

hor-Maulbeerfeigenbäume, d. V.) als Himmelsbäume sich erheben.» (edmund dondelinger: Das Totenbuch des Schreibers Ani, 10) Die ganze Welt also erhält sich aus der Hochzeit von Himmel und Erde; doch ist in dieser ursprünglich matriarchalischen Weltsicht der Erdgott Geb außerstande, von sich her Leben hervorzubringen; Lebensspenderin ist einzig die Mutter, die Himmelsgöttin, die «ohne Mitwirkung eines männlichen Erzeugers» empfängt; erst in «der das Matriarchat ablösenden patriarchalen Denkweise» übernahm diese Funktion «das männliche Prinzip, das (sc. dann entsprechend, d. V.) ohne Zuhilfenahme des Weiblichen das Leben erzeugte

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und erneuerte». (edmund dondelinger: Das Totenbuch des Schreibers Ani, 11) Wichtiger noch als dieser Umbruch in der Betrachtung der Weltordnung zum Beginn der Geschichtswerdung des Alten Ägyptens ist in unserem Zusammenhang indessen die bleibende Tatsache, daß die Mythologie von der Wiedergeburt der Sonne als sinndeutendes Vorbild auch für das Leben und Sterben des Menschen verstanden wurde. Würden die Bilder der Wiedergeburt rein tiefenpsychologisch gedeutet, so käme in ihnen nichts anderes zum Ausdruck, als daß der Weg der Selbstfindung – die Wandlung vom Ich zum Selbst, der Prozeß der Bewußtwerdung – in bestimmte Vorgänge der äußeren Natur hineinprojiziert wäre und nun wieder in die Psyche des Menschen zurückgenommen werden müßte; keinerlei weltjenseitige Hoffnung wäre damit verbunden. Nun aber wurde das Bild der Himmelskönigin mit ihrer sonnengebärenden Kraft als Sinnbild auch und gerade für das Vergehen und Wiedererstehen von – sonnenhaft gedeuteten – Menschen aufgefaßt, indem «im Totenkult der Sarg, die Sargkammer und das Grab mit der Urmutter Nut gleichgesetzt wurden. So heißt es im Pyramidenspruch § 616d – f: und du bist übergeben worden deiner Mutter Nut in ihrem Namen ‹Grab›, sie hat dich umfangen in ihrem Namen ‹Sarg› und du bist zu ihr gebracht worden in ihrem Namen ‹Grab›». (edmund dondelinger: Das Totenbuch des Schreibers Ani, 10; kurt sethe: Übersetzung und Kommentar zu den altägyptischen Pyramidentexten, 6 Bde., Glückstadt 1935 – 1952, III 129) So zeigt Abb. D 32 die Himmelsgöttin Nut im Inneren des Schiefersarkophags der Anches-neferibre, der Tochter Psammetichs II. (595 – 589) und Gottesgemahlin des Amun von Theben in der 26. Dynastie (664 – 525). (Vgl. veronica ions: Ägyptische Mythologie, 123.) Wie über die Erde wölbt sie sich über den Verstorbenen, daß er in ihren Armen sich regeneriere und der Sonne gleich werde, die zu ihrer Verjüngung – während der zwölf Stunden der Nacht – ihren Sternenleib bis zum Morgen der Wiedergeburt aus ihrem Schoß durchwandert. Wenn also auch der Leib des Toten im «Sarg in die Erde versenkt» wird, so ist doch «der Leib der Göttin das Medium der Wiedergeburt . . . Das Ziel des Toten . . . ist der Himmel, wo er zum Stern werden und mit Re in der Sonnenbarke den Himmel durchziehen will. Im Himmel soll ihn empfangen die große Nut, nachdem sie zu seiner Begrüßung ihre Oberarme (sc. und wie in Abb. D 31 ihren Oberkörper, d. V.) entblößt hat.» (edmund dondelinger: Das Totenbuch des Schreibers Ani, 10; kurth sethe: Die altägyptischen Pyramidentexte, 4 Bde., Leipzig 1908 –1922, § 459 c) Man würde den Grund und die Aussage derartiger Vorstellungen mißverste-

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Abb. D 32: Die Himmelsgöttin Nut im Inneren des Sarkophagdeckels

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Abb. D 33: Das Totengericht

hen, wollte man in ihnen nichts weiter sehen als Liebe zum Leben und Haß auf den Tod – ein ritualisiertes Wunschdenken, das in ein Jenseits verlegt, was eigentlich nur eine Verlängerung des Lebens zum Ziel hat. (Vgl. peter eicher: Auferstehung, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, I 123.) Wenn der Ägypter glaubte, im Tode zu Osiris zu werden – so wie der Christ hofft, sterbend mit dem auferstandenen Christus eins zu werden –, so erwartete er zugleich das Totengericht, wie es in Abb. D 33 ein Papyrus aus einem Totenbuch des Neuen Reiches zeigt. Man sieht dort, wie der schakalköpfige Gott Anubis den Verstorbenen herbeiführt, damit sein Herz gegen eine Feder aus dem Haar der Maat, der Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, gewogen wird; während der ibisköpfige Thoth die Verfehlungen des Toten registriert, prüft Anubis das Zünglein der Waage, an deren Aufhängung oben das Antlitz der Maat selbst mit dem Wahrheitssymbol angebracht ist, zum Zeichen, daß die Göttin im Grunde mit ihrem Richtmaß selber den Ausschlag gibt. Unter der Waage lauert die krokodilmäulige löwen- und nilpferdleibige Fresserin, bereit, einen etwaigen Verurteilten sogleich zu verschlingen. Es ist dieser Gedanke der Gerechtigkeit, der auf das engste mit dem Gedanken der Unsterblichkeit verknüpft ist. Schon in «der 5. und 6. Dynastie entwikkelt sich (sc. in Ägypten, d. V.) so etwas wie ein Kanon beispielhafter Handlungen, an denen illustriert wird, worin das Tun und Sagen der Ma’at besteht.» (jan assmann: Ma’at, 100) Tabellarisch läßt sich dabei Geben und Reden etwa so einander gegenüberstellen:

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Geben

Reden

Brot dem Hungrigen

niemals Böses sagen gegen irgend jemand

Kleider dem Nackten

Gutes Sagen, Gutes wiederholen

ein Schiff dem Schifflosen

zwei Parteien so richten, daß beide zufrieden sind

einen Sarg dem Kinderlosen

den Elenden erretten vor dem, der mächtiger ist als er

(jan assmann: Ma’at, 101)

Dabei weiß der Verstorbene freilich nur allzu gut, daß er bei aller Versicherung seines angeblich untadeligen Lebens auf so etwas wie Barmherzigkeit angewiesen ist, geht es doch um die Abwägung seines ganzen Lebens: «Mein Herz meiner Mutter, mein Herz meiner Mutter, mein Herz meiner wechselnden Formen – Stehe nicht auf gegen mich als Zeuge, tritt mir nicht entgegen im Gerichtshof, mache keine Beugung wider mich vor dem Wägemeister!»

heißt es im Totenbuch der Ägypter (erik hornung: Das Totenbuch der Ägypter, Spruch 30 B, S. 96). Es ist dies das Gebet, das seit dem Anfang des Neuen Reiches bevorzugt auf die Herzskarabäen geschrieben wurde und das darum fleht, es möge das Herz, das von Geburt an dem Verstorbenen mitgegeben war (sein «Wesen», seine «Veranlagung»), und das Herz der cheperu, der verschiedenen Entwicklungsstufen seines Lebens, sich im Gleichgewicht zu der Feder der Maat halten. (Vgl. erik hornung: A. a. O., 434– 435.) Mit Recht hat siegfried morenz (Gott und Mensch im alten Ägypten, 162–163) darauf hingewiesen, daß bei aller ethischen Ausrichtung des Totengerichtes die Texte von einer rituellen Versicherungsmagie begleitet blieben; gleichwohl zeigt sich die Weite der altägyptischen Verantwortungsethik in Formeln wie denen aus dem Spruch 125: «Ich habe kein Unrecht gegen Menschen begangen, und ich habe keine Tiere mißhandelt.» (erik hornung: Das Totenbuch der Ägypter, Spruch 125, Vers 13–14) «Ich habe nicht Schmerz zugefügt und (niemand) hungern lassen, ich habe keine Tränen verursacht. Ich habe nicht getötet, und ich habe (auch) nicht zu töten befohlen; niemandem habe ich ein Leid angetan.» (A. a. O., Vers 24 –28) Liest man Bekenntnisse wie diese, so kann man gewiß nicht sagen, die Frömmigkeitshaltung des Alten Ägypten sei rein jenseitsorientiert, nur um daraus einen Gegensatz zur Botschaft der Bibel zu konstruieren. Worüber im Toten-

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gericht der Ägypter entschieden wurde, sind nichts anderes als eben die Handlungen, die hier auf Erden begangen worden sind; das Totengericht spiegelt und verewigt mithin gerade diejenige Auffassung von Sittlichkeit, die im irdischen Leben Geltung besitzen sollte; das Totengericht ist somit die eigentliche Verbindungsstelle zwischen Diesseits und Jenseits. Nun ist es wahr, daß das Alte Testament – erstaunlicherweise – eine Jenseitshoffnung nicht kennt, womöglich sogar ablehnt, sei es, um sich vom Jenseitsglauben der Ägypter geradezu antithetisch abzusetzen, sei es, um den Glauben an den Gott Jahwe als unvereinbar mit der Verehrung und Anrufung von Ahnengeistern darzutun. Um so mehr aber bleibt es die Frage, wie man ohne eine weltjenseitige Perspektive das Diesseits soll bestehen können. Natürlich, man kann, wie Abraham (Gen 12,3; 18,18; 22,17–18) oder Isaak (Gen 26,3 –4) oder Jakob (Gen 28,3), die Aussicht auf reiche Nachkommenschaft als eine göttliche Verheißung, ja, als Inhalt des Lebens begreifen, doch hat man damit eigentlich nur die biologische Zwecksetzung der Weitergabe der Gene vergöttlicht; man kann ebenso natürlich auch wie Prediger 3,21–22 angesichts der Unsicherheit, was aus dem Menschen im Tode wird, einfach die Frage verdrängen und «fröhlich» weitermachen, weil – laut Pred 8,15 – der Mensch ohnedies «nichts Besseres hat unter der Sonne als zu essen und zu trinken» und – Pred 9,9 – «das Leben mit deinem Weibe» zu genießen, stets nach der Devise von Pred 9,4: «ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe». Doch kann man darin wirklich «eine eigenständige und hohe Kulturleistung» erblicken, «welche die Vorstellung von unterweltlichen Göttern ebenso überwand wie die Vorstellung von einem Himmelsgott, der sich nach dem Leben um die Toten kümmert» (peter eicher: Auferstehung, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, I 125)? Ein Problem läßt sich selbst im Buche des Predigers nicht übersehen: die offenbare Ungerechtigkeit des Weltgeschehens. «Es begegnet dasselbe dem einen wie dem andern: dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen; dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert. Wie es dem Guten geht, so geht’s auch dem Sünder . . . Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne geschieht, daß es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz der Menschen voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie sterben», heißt es Pred 9,2.3. Tatsächlich stellt sich die Frage nach der «Gerechtigkeit» Gottes in der biblischen Theologie, je länger, desto dringlicher; denn nachdem bereits in der Zeit des Exils, im 6. vorchristlichen Jahrhundert, der Gedanke eines kollektiven Vergeltungszusammenhangs in Lohn und Strafe sich aufzulösen beginnt (vgl. Hes 18,1–32), individualisiert sich das Problem immer mehr. Nicht länger gilt

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die Weltgeschichte als (moralisches) Weltgericht; doch was für ein Motiv zu sittlichem Handeln kann dem Einzelnen bleiben, wenn der Tod unterschiedslos über Gute wie Böse dahinfährt? Spätestens als vom Jahre 166 v. Chr. an der Widerstand der Makkabäer gegen die Religionspolitik des Syrerkönigs Antiochus IV. Epiphanes (176 –164) sich über etwa ein Viertel Jahrhundert hinzog – bis 141 schließlich der Hohepriester Simon die Dynastie der Makkabäer oder Hasmonäer begründete –, fragte man sich, ob Gott nicht doch einen Unterschied mache, machen müsse, zwischen den Gottesfeinden und den Gottgetreuen, zwischen den Verfolgern und den Martyrern, zwischen den Bösewichten und den «Gerechten». Jetzt griff die Apokalyptik jener Zeit (zum Beispiel in Dan 12) den Gedanken der Auferstehung der Toten auf: «viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.» (Dan 12,2) Nachdem der so oft schon erhoffte Anbruch des Gottesreiches wieder einmal ausgeblieben war, verschob die Hoffnung auf die ersehnte «Gerechtigkeit» sich endgültig in eine jenseitige Welt. Insbesondere erwartete man, daß die Martyrer nach dem Tode in den Himmel auferstehen würden, wie 2 Makk 7 es nicht ohne ägyptischen Einfluß darstellt. (Vgl. ulrich kellermann: Auferstanden in den Himmel, 61–93.) Spürbar freilich ist in all dem auch die Zarathustrische Religion Persiens mit ihrem Jenseitsglauben: Danach schwebt die Seele eines Verstorbenen «zunächst noch drei Tage in der Nähe des Körpers, dann erscheint ihr gutes bzw. schlechtes Gewissen in Gestalt eines schönen bzw. häßlichen Mädchens und führt sie über die Tschinvat-Brücke. Während die Guten über diese ins Paradies gelangen, stürzen die Schlechten in die Hölle hinab; Seelen, bei denen sich gute und böse Taten die Waage halten, gelangen in ein zwischen Himmel und Hölle liegendes Zwischenreich (Hamestagan). Der Aufenthalt im Jenseits ist nur von befristeter Dauer. Am Weltende werden die Seelen wieder mit ihren auferstandenen Körpern vereinigt, und dann entscheidet sich ihr endgültiges Schicksal.» (helmuth von glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, 299) Die Ähnlichkeit solcher Vorstellungen zu den christlichen Anschauungen im Abendland ist offenkundig, vor allem, weil auch in der jüdisch-christlichen Konzeption, wie im Iran, wie in Ägypten, zwei im Grunde verschiedene Erwartungen nebeneinander stehen: «neben dem Bild von der Himmelsreise der Seele, also eines als ewig gedachten Anteils des Menschen, (stehen) Aussagen über die Wiedererweckung der ganzen Person, sei es nach ihrem individuellen Tod, sei es am Ende der Zeiten. Das individuelle Gericht und die eschatologischen Vorstellungen von der Neuschaffung der Welt nach dem Jüngsten Gericht bleiben in gewisser Spannung zueinander.» (emma brunner-traut: Alt-

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ägyptische und mittelalterlich-christliche Vorstellungen von Himmel und Hölle, Gericht und Auferstehung, in: Gelebte Mythen, 81–82) Für die iranische Religion gilt: «Erst (sc. in den jüngeren religiösen Texten der Anhänger zarathustras, d. V.) in den jüngeren Avesta-Quellen (etwa 150 n. Chr.) ist die Auferstehung der Toten eindeutig mit der Welterneuerung verbunden. Der physische Leib wird wiederbelebt und verklärt.» (A. a. O., 82) En détail läßt sich nun zeigen, wie insbesondere der altägyptische Einfluß die christliche Dogmatik in der «Lehre von den letzten Dingen» prägt. «Der descensus ad inferos (sc. lat.: der Abstieg zu den Unterirdischen, d. V.), die Fahrt der Gottheit in die Unterwelt, ihr sieghafter ascensus (sc. lat.: Aufstieg, d. V.) in den Himmel ist wohl ohne unterschwelligen Einfluss Ägyptens schlecht denkbar, nachdem die Stützpunkte des Apostolicums (sc. des «Apostolischen Glaubensbekenntnisses» aus dem 3. Jh., vgl. denzinger: Enchiridion, Nr. 10– 30, d. V.) im Neuen Testament (1. Petr. 3,18– 20; 4,6) kaum tragen . . . – Bis zum 16. Jhdt. gehört das Seelengericht zu den Bildern des Weltgerichts, das in Matthäus (24,27–36; 25,31– 46; 19,28); 1 Kor. (15,38 –58) und in der Apokalypse kanonisiert . . . wurde . . . – Die Seelenwägung beim Jüngsten Gericht entspricht der ägyptischen Herzwägung beim Totengericht. Sie ist zwar auch dem Alten Testament bekannt (Hiob 31,6; Dan. 5,27), erstmals aber in Ägypten konzipiert und nachweislich von dort in andere Mittelmeerkulturen übernommen, so auch in den Iran.» (emma brunner-traut: Altägyptische und mittelalterlichchristliche Vorstellungen von Himmel und Hölle, Gericht und Auferstehung, in: Gelebte Mythen, 84– 85) Wie schon mehrfach betont, gehört zu den christlichen Jenseitsvorstellungen auch der Glaube an die Möglichkeit ewiger Verdammnis im Totengericht, an die Hölle. Definiert wurde diese Lehre in jener Synode von Konstantinopel im Jahre 543, als man origenes verurteilte (denzinger: Enchiridion, Nr. 411), und es gibt wohl keinen Punkt der kirchlichen Lehre, der die Menschen so sehr mit Angst und Sadismen aller Art erfüllt hätte wie dieser. Selbst ein Autor wie hans küng, der ausdrücklich hervorhebt: «die ‹Ewigkeit› der Höllenstrafe darf auf keinen Fall absolut gesetzt werden» (Ewiges Leben?, 181), erklärt dann doch: «Wer den Ernst biblischer Warnungen vor der Möglichkeit ewigen Scheiterns überhört, richtet sich selbst.» (hans küng: A. a. O., 182) Und: «Die Hölle ist . . . zu verstehen . . . als . . . Ausschluß von der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, als extreme letzte Möglichkeit der Gottesferne, die der Mensch von sich aus nicht von vornherein ausschließen kann: Der Mensch kann den Sinn seines Lebens verfehlen, kann sich von der Gemeinschaft Gottes ausschließen.» (hans küng: A. a. O., 182) Solche Sätze ergeben sich bei allem

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redlichen Bemühen um die Überwindung einer Theologie der Angst, wenn man die Konkretheit der mythischen Bilder von der Hölle psychologisch nicht durcharbeitet, sondern auf eine «einfache» Aussage hin abstrahiert; – als ob es wirklich Menschen geben könnte, die aus freien Stücken, als Nicht-Verzweifelte, die «Gottesferne» – die Gnadenlosigkeit der Welt, den «Selbstausschluß» in Einsamkeit und in Verlorenheit – selbst «wollen» würden; die gesamte Anstrengung, die in der Psychotherapie unternommen wird, um sich in solche Schneefelder der Schutzstarre und in solche Wüsteneien der Fluchtdistanz hineinzuarbeiten, wird bei einem derartigen Schein-Respekt vor der «Freiheit» des Menschen bequemerweise überflüssig; ja, man traut nicht einmal mehr Gott zu, daß er – wie der Hirt in Lk 15,1–7 und anders als in der leider so häufigen Erfolglosigkeit menschlicher Bemühungen – das Verlorene zurückholen könnte. Vor allem: wie sollte es möglich sein, Gott zu widersprechen, ohne sich selbst zu widersprechen und unter dieser Zerrissenheit unendlich zu leiden? Dieser Schmerz ist ja gerade das, was symbolisch «Hölle» heißt; dann aber ist die «Hölle» ein einziger Schrei nach einer Gnade, die nur nie wirklich erlebt wurde. Vergessen wird in Darlegungen wie der zitierten zudem die religionsgeschichtliche Herkunft der Höllenvorstellungen aus dem Alten Ägypten. Dabei «erscheint die Kongruenz der Höllenbilder, die Dante mit dichterischer Kraft im Inferno seiner Divina Commedia heraufgeholt hat», als frappant. «Finsternis und Feuer . . . Schlangen . . . Dämonen . . . Feuersee (vgl. Offb. 21,8) . . . nackt in den Flammen . . . – Die Dämonen des Mittelalters geben sich als die Kinder altägyptischer Mischwesen zu erkennen. Jener Luzifer, der Verdammte verschlingt, ist im ägyptischen Totenfresser (sc. vgl. Abb. D 33, d. V.) und, noch spezieller, im Feindvertilger Apophis präfiguriert; der Leviathan verbindet sich in den Malereien mit der Höhle ähnlich wie im ägyptischen Höhlenbuch. Auch der Iran kennt die Höhle als Ort unterweltlichen Grauens. – Die ägyptischen Unterweltstore haben sich im Neuen Testament noch in ihrer Vielzahl erhalten (Mt. 16,18) . . . – Die Herausgabe der Toten durch das Meer, biblisch ein eschatologisches Symbolon, ist aus Ägypten als Teilakt der Unterweltsereignisse bekannt. Die Seelenreise sowie die Gefährdung der Seele auf ihrem Weg zum Himmel, wie sie die christlichen Bilder kennen, ist in ägyptischen Sargtexten mit vielen Varianten belegt . . . – . . . Die Proben sind ausreichend und entscheidend genug, um zu zeigen, dass die christliche Vorstellung vom Jenseits besetzt ist mit Bildern, die bis zu 3000 Jahren früher in Ägypten entworfen waren. – Die frühen Christen in Ägypten, die Kopten, mussten nur den Namen Osiris mit Christus vertauschen, um mit derselben Erwartung von Gericht und Gnade . . . dem Jenseitsgericht entgegenzusehen.» (emma brunner-traut:

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Altägyptische und mittelalterlich-christliche Vorstellungen von Himmel und Hölle, Gericht und Auferstehung, in: Gelebte Mythen, 86– 88) Die Erwartung, ja, das Bewußtsein von der Notwendigkeit der «Gnade» gewinnt freilich im Christentum eine Dimension, die den gesamten Gerichtsgedanken transformieren sollte. Der Ägypter verfügte, wie vorhin angedeutet, über eine Fülle von rituellen Formeln und Formalitäten, die ihn des Wagnisses und der Infragestellung seiner Person in der Höllendrohung enthoben; je mehr aber die Beziehung zwischen Mensch und Gott selber personale Züge gewann, desto mehr verschob sich die Hoffnung auf Rettung von den Rechtsvorstellungen magischer Herrschaftsausübung weg in Richtung eines unbedingten Vertrauens auf die Person des Richters selbst, der somit aufhörte, «Richter» zu sein. (Vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 839– 847.) Was also verbindet sich mit der christlichen Zuversicht, im Tode Gott zu begegnen? Was ist der Sinn der «Gerichts»-Vorstellung? Vergessen wir nicht, daß ein entscheidendes Motiv, an Unsterblichkeit zu glauben, in der prinzipiell unabgegoltenen Gerechtigkeitsforderung auf Erden besteht. Manche christlichen Theologen versichern, die Vision eines weltjenseitigen Gerichtes sei entweder überhaupt nur ein projektives Bild oder aber ein (nahezu überflüssiges) Interpretament der Ansage des kommenden Reiches Gottes durch Jesus Christus. (Vgl. peter eicher: Auferstehung, in: Peter Eicher: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, I 126 –128; 133 –134.) Doch bei solchen Ansagen und Aussagen einer scheinbar göttlich garantierten Zukunftszuversicht bleibt außer acht, was bereits in der buddhistischen Weisheit klar gesehen und formuliert wurde: Selbst wenn alle Menschen – wie Prinz Siddhartha – «Könige» wären und wohlversorgt in Saus und Braus zu leben vermöchten, selbst wenn sie glücklich verheiratet und Vater (oder Mutter) eines gesund und fröhlich heranwachsenden Kindes wären, selbst wenn ihnen die beste aller denkbaren Sozialordnungen zu Gebote stünde, so wäre damit die Grundfrage der wesentlichen Absurdität des Daseins zwischen Entstehen und Vergehen in keinem Falle gelöst. All die vergeblichen Bemühungen, all die zerstörten Hoffnungen, all die aus Unwissenheit begangenen Fehler, all die Verunsicherungen durch Leiden und Krankheit sowie die Unverhofftheit plötzlichen Tods würden durch nichts gemildert werden; und nicht zuletzt: kann man Theologie wirklich noch auf eine Weise betreiben, welche die Einsichten der modernen Astrophysik und Elementarteilchenforschung von der Endlichkeit unseres Sonnensystems und des gesamten Universums einfach ignoriert? (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 1061–1070.) Nein, das «Jenseits» ist nicht ein projektives Symbol für ein besseres Diesseits, es ist die Bedingung da-

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für, an den Basisvoraussetzungen menschlichen Hoffens und Handelns festhalten zu können. Nur – den Begriff der «Gerechtigkeit» müssen wir eben deswegen entschieden umprägen. Solange Theologen noch die Lehre von der Ewigkeit der «Hölle» meinten urgieren zu müssen, ließen sie sich von der Idee einer im Grunde archaischen Strafe-Gerechtigkeit leiten: Die «Bösen» (Hitler!) sollten zur Rechenschaft gezogen werden! In die Vorstellung eines solchen «göttlichen Gerichtes» verlegen sich in der Tat projektiv Revanchegedanken aller Art (obwohl, wie gesagt, endliche Taten, seien sie noch so schlimm, keine unendlichen Tatfolgen zeitigen können). Wenn wir hingegen uns daran erinnern, wie nicht nur, was Menschen angetan wird, sie zerspalten kann bis zu dem Zerfall in eine multiple Persönlichkeit, sondern mehr noch das, was sie anderen antun (s. o. S. 258); wenn wir zudem noch in Rechnung stellen, wie prägbar und formbar auch im Negativen die Seele eines Kindes gerade in den ersten Lebensmonaten und -jahren ist, so läßt sich leichthin die These begründen, daß jene Trennung von Opfern und Tätern, daß jene theologische Inanspruchnahme Gottes als Strafinstanz gegen die «Täter» zugunsten der «Opfer», weil rein moralisch, auf schlimme Art zu kurz greift. Es gibt keine Täter, die nicht selber schon Opfer gewesen sind. origenes hat recht: es gibt keine Erlösung einzelner, es gibt nur eine Erlösung aller; die Frage ist nur, wie eine solche Vereinigung aller, wie jenes dostojewskische «dann werden alle alles verstehen» vorstellbar ist. hans küng, als er versuchte, die eschatologische «Vollendung» zu beschreiben, sah darin: «Ein Leben, in das wir mit unserer ganzen Geschichte hineingenommen sind . . . – Eine Gerechtigkeit, für die wir in dieser Gesellschaft bereits kämpfen . . . – Eine Freiheit, die wir auf Erden schon gespürt haben . . . – Eine Liebe, die uns hier schon zuteil wurde . . . – Ein Heil, dessen Ahnung wir hier schon erfahren haben.» (hans küng: Ewiges Leben?, 279– 280) All das, gewiß, ist ein Katalog plausibler Wünschbarkeiten, die jedoch konzentriert und durchgearbeitet werden müssen auf den einen entscheidenden Punkt hin: die zentrale Verknüpfung mit dem «Gerichts»-Gedanken. Auf dem Hintergrund eines stets schattenverwirrten Lebens werden wir Gott begegnen, jener Macht, die von Ewigkeit her mochte, daß wir sind – das ist das einzig Wesentliche: Da ist eine «Liebe», die «Heil» schenkt und «Freiheit» und die insofern unendlich viel mehr ist als jenes überkommene Bild von «Gerechtigkeit». Nicht an eine «Hölle» läßt sich glauben unter den Augen Gottes, sondern – bildlich gesprochen – schon eher an das iranische Hamestagan, an jenes «Zwischenreich», das in der christlichen Theologie als «Fegefeuer» auftaucht. Einmal abgesehen von den Machenschaften Roms, mit Hilfe dieser Lehre die Angst der Gläubigen in

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Geld für den Petersdom und zur Bestechung bei der Wahl von Bischöfen und Päpsten zu verwandeln, ist die Vorstellung vom Fegefeuer selbst von erlesener Weisheit: Endlich bekommen Menschen die Chance, sich wahrzunehmen mit den Augen ewiger Liebe; nur dieses Gefühl einer unbedingten Bejahung, wie es auf Erden in all den Zweideutigkeiten wohl zu erhoffen, doch nie zu erfahren war, ermöglicht es, sich selber in seiner ungeschminkten und ungeschmälerten Wahrheit zu betrachten. Was immer wir bisher über Personwerdung und Pädagogik beziehungsweise über personale Reifung (Wiedergeburt!) und Psychotherapie gesagt haben, – hier wird es zu dem Sinnbild einer Wirklichkeit, die, ins Unendliche gesteigert, alles das aufnimmt, was uns bis dahin schon als Personen überhaupt erst ermöglicht hat. Man denke an all die Elenden, Kranken, Niedergedrückten, Chancenlosen, Mißverstandenen und Abgelehnten schon aus den Tagen Jesu; man denke an all die Resignierten und am Boden Liegenden; man denke an all die Erbitterten und Verbitterten, die hilflos Wütenden, die Liebeenttäuschten, die Ausgezehrten, die um sich Beißenden, die sozial oder seelisch Verwahrlosten; man denke an friedrich nietzsches «bleiche Verbrecher» (Also sprach Zarathustra, 1. Teil, S. 38– 41), die an ihren Schuldgefühlen ersticken, bis die Verdrängungsdecke über ihren niedergehaltenen Trieben und Lüsten gewalttätig weggesprengt wird und die neurotischen Gehemmtheiten sich als perverse Wunschregungen entladen; man denke an all diejenigen, die als subalterne Angestellte oder Beamte auf eine Weise ihre «Pflicht» tun, daß schon platon in ihnen wiedergeborene Bienen zu erblicken vermeinte; man denke an das unendliche Heer der Unerfüllten und Unglücklichen, der Untoten und Unlebendigen, zu denen wir mehr oder minder alle gehören; – und es wird eklatant, daß nur eine Form umfassenden Mitleids, umarmender Güte und zärtlicher Zuneigung imstande sein kann, erlösend zu wirken. «Freiheit» gewiß – wenn man begreift, wieviel seelische Abhängigkeit, wieviel psychischer Zwang, wieviel Entfremdung, wieviel angstbesetzte Zerstörung in aller Lieblosigkeit liegt; «Heil» gewiß – wenn nur erst klar ist, daß ganz ein Mensch nur werden kann durch eine Güte, die ihn gänzlich meint, bestätigt und bejaht. Gegen die Übertragung eines solchen «psychotherapeutischen» Modells des Verstehens auf die Szene vom «Gericht» Gottes wird manchmal theologischerseits eingewandt, daß auf diese Weise die Strenge Gottes in dem Geltungsanspruch seines Gesetzes an den Menschen nicht gebührend gewürdigt werde; doch dieser Vorwurf mißversteht die Grundsituation der menschlichen Existenz. Wenn es sich schon so verhält, daß wir «gut» nur sein können entsprechend einer Güte, die wir selber erfahren haben, wenn es des weiteren wahr ist,

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daß wir zur Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber nur fähig werden als NichtVerurteilte, so gibt es durchaus keinen anderen Weg, unser Leben zu ordnen und unser Herz zu läutern, als vorbehaltlose Liebe. Sie einzig wird wirken wie warmer Wind über Gletschern, der all die erfrorenen Tränen ins Fließen bringt, als wenn die Berge zu Bächen zerrinnen wollten vor Weh. Es wird uns unendlich leid tun, an wie vielen Stellen wir zu eng geblieben sind vor Angst, zu klein und kleinlich aus Mißachtung unserer wahren Größe, zu rückwärtsgewandt und nachtragend aus mangelndem Mut, nach vorne zu schauen. «Fegefeuer» ist ein gutes Wort für solches Reifen: endlich spüren wir, wie zu leben wäre, und wir werden uns nicht länger weigern, die Wahrheit anzuerkennen, die wir selbst sind. kierkegaards Definition der Verzweiflung, aus Angst nicht sein zu wollen, was wir sind, oder sein zu wollen, was wir nicht sind (Bd. I 651; 656 –657), hebt sich jetzt auf zugunsten einer Integration unserer ganzen Person. Was das Wort «Wiedergeburt» als Symbol nur anzudeuten vermochte, tritt jetzt in die Wirklichkeit. Eine wichtige Vokabel zur Umschreibung solcher Zuversicht lautet im Neuen Testament «Auferstehung» (oder «Auferweckung»). Es ist ein Begriff, den im Spätjudentum die Bewegung der Pharisäer – im Gegensatz zu den Sadduzäern, vgl. Mk 12,18 – 27 – als zentrale Chiffre von Hoffnung verstand und der in dieser Weise auch von Jesus (Joh 5,28.29; 6,40) und Paulus (Apg 17,31.32; 23,6 –8; 24,15.21!) geglaubt wurde, dessen Ursprung aber vermutlich in dem altägyptischen Ritual der Mundöffnung der Mumie zu suchen ist. Für die Ägypter war der Erhalt des Körpers jenseits des Todes, seine Rettung vor Zerfall und Verwesung, so wichtig, daß sie alles daran setzten, aus dem Grabe den «Ort des Auferstehens» (äg.: m’h’t; von ’h’ – aufstehen; vgl. rainer hannig: ˙ ˙ Großes Handwörterbuch Ägyptisch – Deutsch, 154; 328) zu machen. Besonders in der hellenistisch-römischen Spätzeit wurde es in Ägypten üblich, den Verstorbenen individuelle Porträts als Totenmasken aufs Antlitz zu legen, wie Tafel 8 es von einer Mumienhülle der Oase Faijum aus der römischen Zeit (ca. 90 – 100 n. Chr.) in einem eindrucksvollen Frauenbildnis dokumentiert. «Es zeigt eine vornehme Dame mit sehr heller Hautfarbe, ovalem Gesichtsschnitt und übergroßen, das ganze Gesicht dominierenden braunen Augen, deren Lebendigkeit durch weiße Lichtpunkte noch hervorgehoben wird. Die kräftigen, fast energischen Brauen, die langen Wimpern und die Schminkstriche wurden im Detail sehr exakt ausgeführt. Trotz einer möglichen Idealisierung der Züge tritt der individuelle Charakter dieses Gesichtes deutlich hervor.» (matthias seidel – regine schulz: Mumienhülle mit Porträttafel, in: Arne Eggebrecht: Ägypten. Geheimnis der Grabkammern. Suche nach Unsterblichkeit, 110)

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Es ging in solchen Darstellungen offenbar darum, mit einem Rest von Magie die Person des Verstorbenen sichtbar für das Andenken der Nachwelt zu erhalten. Doch wie Jahrtausende zuvor der Bau von Pyramiden und Felsgräbern, blieb diese Praxis ein kostenaufwendiges Privileg der Reichen und Mächtigen; aber: sollte wirklich die Ewigkeit reserviert sein nur für diejenigen, die sie sich leisten können, und damit die Ungerechtigkeit auf Erden sich auf unabänderlich fortsetzen im Jenseits? Und was ist es schon mit dem «Gedächtnis» der «Nachwelt»! Ganze Völker, ganze Kulturen wie die der kretischen Minoer können ohne jede Erinnerung an eine ihrer Persönlichkeiten aus der Geschichte verschwinden, andere, wie die Kultur der Ägypter oder der Mayas, vermögen noch nach zwei Jahrtausenden oder nach einem halben Jahrtausend durch die Entzifferung der Glyphen auf ihren Stelen dem Gedenken der Menschheit erschlossen zu werden – all das sind nichts weiter als Zufälle, denen keine entscheidende Aussagekraft über das Wesen von Menschen zukommen kann und zukommen darf. In diesem Punkt sah das Christentum von Anfang an klar: Was ein Mensch (gewesen) ist, zeigt sich nicht in goldenen Gräbern und Gemälden, es zeigt sich allein in den Augen Gottes, und das ärmste Grab kann das Geheimnis nie geschauter Größe bergen. «Auferstehen» heißt hier soviel wie, daß wir ganz und gar in Gottes Hand stehen. Kein Kult um den Körper, keine Mitgift fürs Jenseits ist da mehr vonnöten; allenfalls unsere Taten folgen uns nach. (Vgl. Apk 14,13; Mt 25,31– 46.) Gleichwohl verbindet sich mit der Chiffre von der «Auferstehung des Leibes» ein Bild, das bereits in den Ostererzählungen (Mk 9,2–13; Joh 20,19-23 z. B.) als «Verklärung» beschrieben wird. Für die dogmatische Theologie ist und bleibt es – bei aller Anstrengung einer metaphysischen Begründung der wie auch immer gedachten Zustände von «Geistleibern» – natürlich außerhalb jeder Möglichkeit, den Gehalt solcher wunderbaren mythischen Geschichten als historische Begebenheiten zu «erklären». Demgegenüber liegt ihre symbolische Bedeutung auf der Hand: Da erscheint Jesus seinen Jüngern «bei verschlossenen Türen», hinter die sie sich «aus Furcht vor den Juden» zurückgezogen haben, um ihnen, wie zur Wiedererkennung, die Wundmale der Kreuzigung zu zeigen und um sie zu begaben mit der Gnade der Vergebung. Es ist also sogar möglich, ja, unbedingt notwendig, daß auch und gerade das schmerzhaft Erlittene sich wandelt und aufblüht zu neuem Leben. Was hieße seelische «Integration» anderes, als daß wir lernten, selbst die Verletzung, die tödlich war, umzuformen in einen Teil unseres Selbst? Wie ein Holzschnitzer Span für Span aus seinem Werkstück entfernt, um durch das Weggenommene die Schönheit der Gestalt zu formen, so wird das Wesen eines Menschen wahrer nicht zu-

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letzt durch den Widerspruch und Widerstand der Wirklichkeit. Erst wenn das überwunden ist, was ehedem so weh tat, wächst die Fähigkeit auch zur Vergebung – beginnt das Verstehen von allem und allen. Mittlerweile ist das Symbol von der «Auferstehung» manchen Theologen nun freilich zu einer Art Zufluchtsstätte aller verbliebenen Hoffnung geworden, insbesondere nachdem es sich als unmöglich erwiesen hat, noch länger metaphysisch eine (unsterbliche) Seelensubstanz als Trägerin der psychischen Funktionen anzunehmen; andererseits meinte das Wort «Auferstehung» in der Symbolsprache der Alten Ägypter ursprünglich in angegebener Weise lediglich die leibliche Seite des in der Grabkammer unsterblich gewordenen Toten; auch die (frühe) Kirche verstand unter «Auferweckung» wesentlich die «Auferstehung des Fleisches» – die Wiedervereinigung der (unsterblichen) Seele mit dem neu gestalteten «verklärten» Leib; weil der Glaube an eine Kontinuität oder gar an eine materielle Identität unseres irdischen (sterblichen) Körpers mit irgend einem weltjenseitigen (unsterblichen) Körper jedoch bei näherem Betracht den meisten inzwischen als eine irgendwie abenteuerliche Vorstellung anmutet – dicht verwandt mit dem Glauben an «Wiedergänger», Zombies und englische Schloßgespenster –, bestehen auch die Vertreter der Kirche nicht mehr allzu nachdrücklich darauf, die Lehre von der «Auferstehung des Fleisches» verbotenus (lat.: wortwörtlich) zu nehmen; auch in ihren Augen handelt es sich hier um ein Bild für das neu geschenkte Leben der Person des Menschen in Gott. Gleichwohl hat der Physiker frank j. tipler (geb. 1947) vor einigen Jahren unter dem Titel Die Physik der Unsterblichkeit ein eigenartiges Buch veröffentlicht, in dem er den Auferstehungsglauben des Neuen Testamentes mit den Mitteln der Quantentheorie als eine wissenschaftlich beweisbare Möglichkeit darzustellen suchte. Ähnlich wie roger penrose (geb. 1931) in seinem Buch Computerdenken die Probleme der Neurologie mit einer Quantenformel des Universums zu lösen trachtete, meint tipler, daß die Quantenphysik es erlaube, die Welt nach Art eines reversiblen Programms zu verstehen, das sich in (beliebig häufigen) Wiederholungen stets von neuem aufführe. (Vgl. frank j. tipler: Die Physik der Unsterblichkeit, Kap. 8: Der Omegapunkt und das physikalische Universum existieren notwendigerweise, S. 256– 269.) Es sei vermerkt, daß auch manche Kosmologen von der Idee eines sich immer von neuem vollziehenden Universums sich überzeugt zeigen (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 642 –644); es handelt sich um einen Gedanken, den in philosophisch vollendeter Form als erster friedrich nietzsche ausgesprochen hat. (Vgl. Der Wille zur Macht, Nr. 1066, S. 694 –696.) Doch was bei der spekulativ-poetischen Weltdeutung des deutschen Philosophen angängig und eingän-

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gig sein mochte, führt, übertragen in eine physikalische (oder kosmologische) Theorie, zu einer Überdehnung jeder Aussagemöglichkeit. frank j. tipler zum Beispiel (Die Physik der Unsterblichkeit, 313 –317) verheißt wohlgemut für die zukünftige Welt, daß Menschen, die in ihrer irdischen Praxis der Sexualität einen hohen Stellenwert beigemessen haben, ihrer auch dereinst nicht entraten müßten – alles wird halt genauso werden, wie es jetzt ist (frank j. tipler: A. a. O., 302 –308); doch in eben dieser These steckt – ganz abgesehen von der Erkenntniskritik kants –, wie man zu sagen pflegt, der Teufel im Detail: Selbst wenn es eine Weltenformel gäbe, aus der alle möglichen Energiezustände zu jeder beliebigen Zeit an jedem beliebigen Ort der Welt abzuleiten wären, so ginge aus einer solchen Formel mitnichten eine Beschreibung der wirklichen Welt hervor. Die wirkliche Welt ist eine Folge von Symmetriebrechungen, deren Ergebnis prinzipiell unvorhersehbar ist (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 953– 967); in der wirklichen Welt führt die Evolution von zunehmend komplexen Systemen zu dem Auftreten einer Reihe von emergenten Eigenschaften (vgl. z. B. e. drewermann: . . . und es geschah so, 692 –720: Die ersten Bausteine des Lebens und ihre Funktionen); in der wirklichen Welt ereignet sich eine Vielzahl von Zufallskonstellationen mit kausalen Wirkungen, die bei einem neuen «Start» der Entwicklung zu irgendeinem Punkt der Raum-Zeit durchaus nicht reproduzierbar sind und ganz andere Ergebnisse zeitigen würden (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 255– 257). Kurz: die wirkliche Welt folgt gewiß den Gleichungen der Quantenphysik, doch ist es unmöglich, mit Hilfe der Quantenphysik diese Welt wirklich zu erfassen. Zudem läßt sich leicht zeigen, daß gerade die quantenphysikalischen Effekte nicht einmal auf dem Gebiet der einfachsten mechanischen Kraftübertragungen (etwa wenn wir 15 Billardkugeln auf einen Tisch legen und eine der Kugeln so anstoßen, daß sie die anderen in einer vorgegebenen Reihenfolge treffen soll) eine längerfristige Vorhersage der eintretenden Ereignisse zulassen (die Trefferwahrscheinlichkeit ist zu ungenau; der Wahrscheinlichkeitsraum für den Aufenthalt der 15 Kugeln ist größer als die ganze Tischfläche!). (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 764.) Es ist also nichts mit einem Naturgesetz der «ewigen Wiederkehr»! Um so mehr müssen wir auf die einzige Form zurückkommen, in welcher die Hoffnung auf «Auferstehung» und «ewiges Leben» und «Unsterblichkeit» sinnvoll begründbar und formulierbar ist: auf die existentielle Bedürftigkeit von Personen, der einen absoluten Person zu begegnen, mit der sich die Geschichte des eigenen Lebens zu Ende erzählen läßt. Irgendwann haben wir so etwas wie einen «Anspruch» darauf, zu erfahren, wer wir sind, wie wir gewor-

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den sind, warum es uns gibt; diese Begegnung, in welcher in einem Raum reiner Gewährung unser Leben zur Wahrheit gelangt, mag man lutherisch in strengem theologischem Sinne als «Rechtfertigung» bezeichnen; – der psychologische Terminus dafür heißt «Integration». Doch daraus ergibt sich jetzt eine wichtige Konsequenz. Wenn erst einmal fest steht, daß wir über die Form dieser «Rechtfertigung» bzw. dieser «Integration» nur in symbolischer Art zu sprechen vermögen, hebt die «Alternative» sich auf, die hans küng (Ewiges Leben?, 95– 96) zwischen Reinkarnationsund Auferstehungsglauben geltend machen wollte: «Entweder», schrieb er, «hat der Mensch zur Reinigung, Läuterung, Befreiung, Vervollkommnung durch mehrere Erdenleben zu wandern, wie es in den Religionen und Weltanschauungen indischer . . . Herkunft angenommen wird. – Oder aber des Menschen Schicksal entscheidet sich unwiderruflich in diesem Erdenleben, wie dies die Überzeugung jüdisch-christlich-islamischer Tradition ist.» Was im Rahmen eines kategorialen Denkens logisch einen unaufhebbaren Gegensatz bildet, erweist sich in der symbolischen Sprache mythischer Dichtung und träumender Poesie als eine durchaus verträgliche, wenngleich unterschiedliche Akzentsetzung oder Aspektwahl bei der Betrachtung ein und desselben Geheimnisses. Bereits vor etwa 200 Jahren zögerte der junge, um Ehrlichkeit bemühte Theologe friedrich schleiermacher (1768 –1834), gegenüber seiner späteren Frau beim Tode ihres Ehemannes die Hoffnung auszusprechen, wir würden uns wiedersehen – jenseits der Gräber. (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 663.) Doch wie, müssen wir uns fragen, soll sich der «Roman» unseres Lebens zu Ende erzählen lassen, ohne daß wir all denen buchstäblich wiederbegegneten, mit denen wir in unserem Dasein verflochten waren? In einer gewöhnlichen Psychotherapie bereits gelingt die Integration unserer selbst nur, wenn wir uns all die Menschen und Szenen in Erinnerung rufen, die uns wesentlich geformt haben; die Art unserer «Erinnerung» aber ist, wie wir sahen (Bd. I 321–323), alles andere als «sachlich zutreffend», «vertrauenswürdig» und «unwandelbar». Um die Wahrheit über uns selbst zu erfahren, müssen wir die Wahrheit aller anderen erfahren; die Wahrheit fremder Personen aber ist, wie wir ebenfalls sahen, nicht objektiv feststellbar, sie ist nur auffindbar im Gespräch miteinander. Unser Wiedersehen also ist das Beste, was uns bereits im Erdenleben miteinander zu verbinden vermag: ein nicht endender, sich in alle Richtungen ausweitender, niemals abschließbarer Dialog – unter den Augen Gottes, in einem Feld reiner Liebe und Hingabe, in der die zärtlichen Bedürfnisse von einst nicht mehr der «Reproduktion», wohl aber der absoluten Beja-

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hung der Person des anderen gelten. Alles, was auf Erden menschlich schon stimmte, öffnet sich im Bild der Auferstehung ins Unendliche und setzt sich frei in einer so nie gekannten personalen Vertrautheit und Intimität. «Ist es wahr», fragt am Ende von fjodor michailowitsch dostojewskis letztem Roman Die Brüder Karamasoff der kleine Kolja, «. . . daß wir alle von den Toten auferstehen und einander wiedersehen werden . . .?» Und Aljoscha antwortet so, wie es dostojewskis eigenem Bekenntnis wenige Monate vor seinem Tode entsprach: «Zweifellos werden wir auferstehen, zweifellos werden wir uns wiedersehen, und heiter, freudig werden wir einander alles erzählen, was gewesen ist.» (Die Brüder Karamasoff, Epilog, 3; II 964) Nun, «freudig» allein muß es nicht sein, doch reifend zu einem Glück, in dem Gott «alle Tränen trocknen wird» (Apk 21,4), unbedingt. Denn es geht um einen «Trost», wie ihn jeder Mensch braucht, um richtig zu leben und ruhig zu sterben. Ein anderer russischer Autor, maxim gorki (1868 –1936), hat in seinem berühmten Drama «Nachtasyl» im Jahre 1902 diese Tatsache in einem Gespräch zwischen dem Pilger Luka und der auf den Tod liegenden Anna beschworen. Diese Frau, verheiratet mit dem ebenso gutmütigen wie mutlosen Schlosser Kleschtsch, ist erst 30 Jahre alt, und sie hat Angst, zu sterben; doch, wie Luka meint: «Das hat nichts zu sagen! Das überkommt einen so vorm Tode, mein Täubchen. Hat nichts zu sagen, meine Liebe! Hab’ nur Vertrauen . . . Du wirst nun sterben, siehst du – und dann hast du Ruhe . . . Brauchst dann vor nichts mehr Angst zu haben – vor gar nichts! So still wird’s sein, so friedlich . . . und du liegst ganz ruhig da! Der Tod besänftigt alles . . . Er meint’s gut mit uns . . . Erst in der Truhe findest du Ruhe, heißt es . . . und’s ist richtig, meine Liebe! Wo soll denn ein Mensch hier sonst Ruhe finden?» Und als Anna sorgenvoll fragt, ob «denn dort . . . auch so viel Qual» sei, fährt Luka fort: «Gar nichts ist dort! Glaub mir’s: gar nichts ist! Friede wird sein – weiter nichts! Vor den Herrn werden sie dich führen und werden sagen: Schau her, o Herr – deine Magd Anna ist gekommen . . .» «Und der Herr wird dich mild und freundlich anschauen und wird sagen: Ich kenne diese Anna! Nun, wird er sagen, führt sie fort, die Anna – ins Paradies! Mag sie da Frieden finden . . . ich weiß, ihr Leben war sehr mühselig, sie ist sehr müde . . . laßt sie ausruhen, die Anna.» (Nachtasyl, 2. Akt, S. 45 –46) – Auch Luka selbst fragt sich, ob es sich bei seinen Worten vielleicht bloß um eine barmherzige Lüge handelt; doch klar ist in seiner eigentümlich buddhistisch-christlichen Antwort auf das Elend der Menschen nur, daß die «Wahrheit . . . nicht immer gut für den Menschen» ist und man «nicht immer . . . die Seele mit der Wahrheit» heilt. So kannte er einmal einen Menschen, der «an das Land der Gerechten» glaubte. «Es muß, sagt er, auf der

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Welt ein Land der Gerechten geben . . . in dem Lande wohnen sozusagen Menschen von besonderer Art . . . gute Menschen, die einander achten, die sich gegenseitig helfen, wo sie können . . . alles ist bei ihnen gut und schön! Dieses Land der Gerechten also wollte jener Mensch immer suchen gehen . . . Er war arm, und es ging ihm schlecht, und wie’s ihm schon gar zu schwerfiel, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als sich hinzulegen und zu sterben – da verlor er noch immer nicht den Mut, sondern lächelte öfters vor sich hin und meinte: Hat nichts zu sagen – ich trag’s! Noch ein Weilchen wart’ ich – dann werf ich dieses Leben ganz von mir und geh’ in das Land der Gerechten . . . Seine einzige Freude war es – dieses Land der Gerechten . . .» «Nun wurde nach eben jenem Ort – die Sache ist nämlich in Sibirien passiert – ein Verbannter gebracht, ein gelehrter Mensch . . . mit Büchern und mit Plänen, und mit allerhand Künsten . . . Und jener Mensch spricht zu dem Gelehrten: Sag mir doch gefälligst, wo liegt das Land der Gerechten, und wie kann man dahin gelangen? Da schlägt nun der Gelehrte gleich seine Bücher auf und breitet seine Pläne aus . . . und guckt und guckt – aber das Land der Gerechten findet er nirgends! Alles ist sonst richtig, alle Länder sind aufgezeichnet – nur das Land der Gerechten nicht!» «Der Mensch will ihm nicht glauben . . . Es muß drauf sein, sagt er . . . such nur genauer! Sonst sind ja, sagt er, all deine Bücher und Pläne nicht ’nen Pfifferling wert, wenn das Land der Gerechten nicht drin verzeichnet ist . . . Mein Gelehrter fühlt sich beleidigt. Meine Pläne, sagt er, sind ganz richtig, und ein Land der Gerechten gibt’s überhaupt nirgends! – Na, da wurde nun der andere ganz wütend. Was? sagt er – da hab’ ich nun gelebt und gelebt und geduldet und geduldet und immer geglaubt, es gebe solch ein Land! Und nach deinen Plänen gibt es keins! Das ist Raub! . . . Und zu dem Gelehrten sagt er: Du nichtsnutziger Kerl! Ein Schuft bist du und kein Gelehrter! Und gab ihm eins übern Schädel, und noch eins . . . Und dann ging er nach Hause und – hängte sich auf . . .» (A. a. O., 3. Akt, S. 69–70) Wohlgemerkt: Jener «Gelehrte» hatte ganz recht – auf den Karten und Plänen der Welt wird ein Land der Gerechten niemals zu finden sein, ja, es wäre wirklich eine Lüge, ein Utopia auf ihnen als geographischen Ort einzutragen; doch kann eine mitleidige Betrachtung des menschlichen Lebens etwas anderes postulieren, als daß ein solches Land sei – in einem anderen Leben? Alle weltjenseitige Hoffnung angesichts der Hoffnungslosigkeit des Diesseits entstammt einem solchen Mitgefühl des Trostes; es wird geboren aus Liebe, und es geht auf die Suche nach Gründen, die eine solche Zuversicht als glaubhaft erscheinen lassen. Liebe, Hoffnung, Glaube – so ist die Reihenfolge in der Logik der Existenz (entgegen 1 Kor 13,13).

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Und kann, ja, darf eine solche Hoffnung an den Grenzen des Menschen ihr Ende finden? In diesen Glauben an die «Auferstehung» gehören auch die Tiere: Auch ihre stummen Klagen, auch ihre wortlosen Leiden warten auf Tröstung und Heilung, auch ihre Sehnsucht nach Leben und Liebe will reifen auf Vollendung hin. (Vgl. e. drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne, 228– 247: Hoffnung für die leidende Kreatur.) Wenn die indische Reinkarnationslehre betont, wir müßten in vielen Gestalten von Menschen und Tieren wiedergeboren werden, um zu uns selber zu finden, so enthält diese Anschauung den offenbar richtigen Hinweis, daß wir erst im «Verstehen» (im Standortwechsel der eigenen Perspektive mit der eines anderen) der Menschen und Tiere an unserer Seite herausfinden können, wer wir selbst sind. Ist des Menschen Seele wirklich «quodammodo omnia» (lat.: gewissermaßen alles), so muß sie auch allem wiederbegegnen, um bei sich selbst anzukommen. Wiederbegegnung oder Wiedergeburt – beides beinhaltet die Notwendigkeit, sich selbst im anderen wiederzufinden, als erkennendes Sein oder seinshaftes Erkennen. Gegen die Annahme einer menschlichen Unsterblichkeit hat in der wohl gedanklich wie sprachlich brillantesten Form der englische Philosoph john stuart mill (1806 –1873) den anscheinend unvermeidbaren Einwand bloßen Wunschdenkens erhoben. «Anzunehmen», schrieb er, «daß der Wunsch zu leben uns persönlich ein wirkliches Leben in alle Ewigkeit garantiere, wäre ungefähr so, als wenn man annehmen wollte, daß bereits in dem Wunsch nach Nahrung die Gewähr dafür liegt, daß wir die ganze Zeit unseres Lebens hindurch so viel haben werden, wie wir essen können, und um so mehr, je weiter hinausgerückt wir uns das Ende unseres Lebens denken.» (Drei Essays über Religion, 171) Natürlich hat mill recht: Hunger schafft noch keine Nahrung; doch entgegnen muß man ihm – und all seinen Gesinnungsgenossen –, daß sich das Empfindungsvermögen für Hunger nur bei Lebewesen entwickeln konnte, denen in gewissem Umfang die nötige Nahrung bereits bereit stand; wesentlich betrachtet, gilt also wirklich: ohne Nahrung kein Hunger; das Nahrungsangebot ist früher als die Existenz von Lebewesen, die auf Nahrungssuche gehen können. Der «Hunger» des Menschen als Person nun richtet sich auf eine andere absolute Person, die im Hintergrund jeder Begegnung unter Personen erscheint; die Existenzbedingung des Personalen bereits ist, wie gesagt, die Existenz anderer Personen und, mit ihnen verbunden, die Existenz eben der absoluten Personalität Gottes. Dieser Zusammenhang ist entscheidend. Nur wer Gott als Liebe glaubt, vermag die eigene Unsterblichkeit aus Gottes Hand zu glauben; nur wer sie erwartet, will und wird an Gott glauben.

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Gegen das bei Theologen «übliche Argument», daß Gott «die Vernichtung des edelsten und größten unter seinen Werken, des Menschen», nicht zulassen könne, hat john stuart mill des weiteren eingewandt, man könne derartige Begründungen nur «in einer Welt gelten lassen, deren Einrichtung es zuließe, sie ohne Widerspruch für das Werk eines zugleich allmächtigen und allgütigen Wesens zu halten. Aber», fügte er bemerkenswerterweise hinzu, «sie treffen nicht zu in einer Welt wie der, in der wir leben. Die Güte des göttlichen Wesens mag vollkommen sein; da aber seine Macht unbekannten Beschränkungen unterworfen ist, können wir nicht wissen, ob es uns das, wovon wir so zuversichtlich behaupten, daß es uns von ihm gegeben sei, gegeben haben kann – d. h. kann, ohne Wichtigeres zu opfern.» (john stuart mill: Drei Essays über Religion, 173 –174) An dieser Stelle denken wir im Grunde skeptischer über den Zustand der Welt als selbst der Skeptiker mill: wir glauben nicht, daß in Anbetracht der Welt überhaupt ein Gott als Schöpfer erkennbar sei, und insbesondere von seiner Güte ist in unseren Augen durchaus nichts erfahrbar, allenfalls daß uns die «Vernunft», die wir in gewissen Naturgesetzen zu formulieren versuchen, als bewundernswert erscheinen mag. An Gott glauben kann man nicht, weil die Welt so «schön» und «gut» ist, sondern im Gegenteil: an Gott glauben muß man wegen der Gnadenlosigkeit der Welt – weil kein Mensch leben kann, ohne an Liebe zu glauben, er sie aber in der «Ordnung» der Natur nicht findet; und so glauben wir Gott, daß er anders ist und anders mit uns verfährt, als die Natur es jeder Zeit zu tun bereit ist. Allerdings machen mills Einwände deutlich, daß es in der Frage der postmortalen Existenz in der Tat keinerlei «Beweise» gibt noch geben kann: metaphysische Gründe lassen sich nicht erheben, und existentielle Befindlichkeiten reichen nie weiter als das «Hunger»-Argument, von dem wir wirklich nicht wissen, ob und inwieweit wir es auf den Weltengrund beziehen können, – ob es jene Liebe wirklich gibt, die wir doch brauchen, um zu leben. In Fragen des Existierens gibt es nur eine Art, Entscheidungen zu begründen: zu zeigen, was sich entscheidet, je nachdem, ob man sich so oder so entscheidet. Ein besserer Ausklang unserer Überlegungen läßt sich daher nicht finden als «das Argument der Wette», das der französische Mathematiker und Philosoph blaise pascal (1623 –1662), voller Vorbehalte gegenüber den rationalistischen Beweisführungen seines Antipoden rené descartes (1596 –1650) und im Vorgriff auf die existentialistische Religionsbegründung sören kierkegaards (1813 –1855), geltend gemacht hat. pascal verstand einfach nicht, wie man angesichts einer möglichen Ewigkeit jenseits des Todes sich in das diesseitige endliche Leben vergraben kann, so als ob es diese Aussicht nicht gäbe.

Der Glaube an die Seele

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«Kann man», fragte er, «die Wichtigkeit dieser Frage (sc. der Unsterblichkeit, d. V.) ernsthaft bedenken, ohne erschreckt zu sein ob der Leichtfertigkeit dieses Verhaltens? – Diese Ruhe in dieser Unwissenheit ist ungeheuer.» (Über die Religion, Nr. 195, S. 112) Gesetzt ein Mensch lebt auf die Ewigkeit hin, er stirbt, und es gibt kein Erwachen – so verliert er buchstäblich nichts; doch jemand, der nur das Diesseits gelten läßt, würde alles verloren haben, träte er ein in die Ewigkeit. Wie also sollte man leben? «Sehen wir . . . zu, da man wählen muß», schreibt pascal, «wobei Sie am wenigsten wagen? Zwei Dinge haben Sie zu verlieren: Die Wahrheit und das höchste Gut; und zwei Dinge haben Sie einzubringen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihr Wissen und Ihre Seligkeit . . . Wägen wir Gewinn und Verlust für den Fall, daß . . . Gott ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten (sc. Gott und die Unsterblichkeit existieren oder sie existieren nicht, d. V.) ab. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts . . . Sie würden unklug handeln, wenn Sie, da Sie einmal spielen müssen, Ihr Leben nicht einsetzen wollten . . . Es gibt . . . eine Ewigkeit an Leben und Glück zu gewinnen . . . Überall, wo das Unendliche ist und keine unendlich große Wahrscheinlichkeit des Verlustes der des Gewinns gegenübersteht, gibt es nichts abzuwägen, muß man alles bringen . . . wenn man notwendig setzen muß, hieße es, auf die Vernunft verzichten, wollte man das Leben lieber bewahren, statt es so dicht vor dem Erfahren des Verlustes, des Nichts, für den unendlichen Gewinn zu wagen.» (Über die Religion, Nr. 233, S. 123 –124) Wie eine solche «Wahl» oder «Wette» sich in die Lebensführung übersetzt, zeigte auf bewundernswerte Art der athenische Weise sokrates (um 470 – um 399). Derselbe Mann, der in platons Dialog Phaidon mit philosophischen Mitteln die Unsterblichkeit der Seele zu «beweisen» suchte, wußte doch zugleich um die bleibende Ungewißheit und um das Wagnis der Existenz. Am Ende seiner Verteidigungsrede, nachdem das Todesurteil bereits über ihn verhängt war, erklärte er den Richtern, daß in seinen Augen der Tod kein Übel darstelle. «Denn», so sagte er, «eins von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein noch irgendeine Empfindung von etwas zu haben, wenn man tot ist; oder, wie man auch sagt, es ist eine Versetzung und ein Umzug der Seele von hinnen an einen anderen Ort. Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, daß er nicht einmal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene Nacht er wohl in seinem Leben gehabt hat: so, glaube ich,

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Was ist der Mensch?

würde nicht nur ein gewöhnlicher Mensch, sondern der Großkönig selbst finden, daß diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte. Wenn also der Tod etwas solches ist, so nenne ich ihn einen Gewinn, denn die ganze Zeit scheint ja auch nicht länger auf diese Art als eine Nacht. Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen anderen Ort und ist wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer, in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt, dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben, wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und Musaios und Hesiodos und Homeros, wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist . . . Denn nicht nur sonst ist man dort glückseliger als hier, sondern auch die übrige Zeit unsterblich, wenn das wahr ist, was gesagt wird.» (platon: Apologie, 40c –41 c, Kap. 32, in: Sämtliche Werke, I 30– 31) Es bleibt das ebenso vertrauensvolle wie mutige Resümee, mit dem sokrates von seinen «sich so nennenden Richtern» Abschied nimmt: «. . . es ist nun Zeit, daß wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.» (A. a. O., 42 a, Kap. 33, in: Sämtliche Werke, I 31) Das ist wohl wahr: alles ist unverborgen der richtenden, Gerechtigkeit sprechenden Gottheit. Nur: wie unterscheidet sie zwischen schicksalhaftem Verhängnis und persönlicher Verantwortung, zwischen den Zuständen, in die wir ohne eigenen Willen geraten sein mögen, und einer Zuständigkeit, die auf willentlicher Zustimmung basiert? Was überhaupt in unserem Sein, in unserem Tun ist Ausdruck von Freiheit, was Folge blinder Notwendigkeit? Ist es nicht denkbar, daß wir uns irren in dem einen wie in dem anderen, indem wir uns frei wähnen, wo wir’s nicht sind, und uns unfrei glauben nur aus Angst vor der Schwere möglicher Schuld? Gibt es sie wirklich: die Freiheit? und wenn ja, in welchem Sinne, unter welchen Bedingungen, mit welchen Konsequenzen? Dieses Bündel an Fragen stellt sich zuletzt, und es ist noch einmal die moderne Neurologie, die sich mit überraschenden Einsichten bei diesen uralten Menschheitsfragen zu Wort meldet.

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4. Die Gedanken sind frei oder: Warum Sokrates im Gefängnis sitzt

a) Das Problem der Willensfreiheit: philosophisch Seit der Antike galt und gilt Sokrates als die Verkörperung furchtloser Freiheit gegenüber dem Tode. «Warum sitzt Sokrates im Gefängnis?» konnte man fragen, und offensichtlich wäre es keine hinreichende Antwort gewesen, darauf zu entgegnen: «weil seine Beine ihn dorthin getragen haben». Zwar, im Sinne «naturwissenschaftlichen» Denkens wäre eine solche Erklärung «korrekt» ausgefallen: – sie hätte wiedergegeben, was in Raum und Zeit zu beobachten gewesen war; aber schon die Tatsache, daß Sokrates nicht gefesselt auf einem Wagen in seine Todeszelle verbracht werden mußte, sondern selber sich weisungsgemäß in den Kerker begab, wies auf eine nicht-physikalische, geistige Ursache – auf die Freiwilligkeit seines Aufenthalts hin. Zudem: Wie platon in dem kleinen Dialog Kriton (44 e 1– 45c 4, 4. Kap., in: Sämtliche Werke, I 36– 37) schildert, hätte der athenische Weise ohne Schwierigkeiten sich durch Flucht seiner Hinrichtung entziehen können; der aber folgte seiner Überzeugung, daß man Unrecht nicht mit Unrecht vergelten dürfe (49 a 4– 49e 8, 10. Kap., in: Sämtliche Werke, I 41– 42), daß aber Flucht eine Verletzung des Gesetzes darstelle (49 e 9– 50c 3, 11. Kap., in: Sämtliche Werke, I 42). Deshalb also sitzt Sokrates im Gefängnis. Seine Beine erklären gar nichts; einzig seine eigene Entscheidung, sein Kopf, bildet den Grund dafür. Nicht einmal das Fehlurteil seiner Richter erklärt seinen Aufenthalt – keinerlei Zwang ist vonnöten, den alten Mann zur Hinrichtung zu führen; was sein Verhalten bestimmt, ist allein sein moralisch-rechtliches Denken, sein eigenes Wollen entsprechend der Logik seiner Überlegungen, eine Entscheidung, die er selbst trifft – mit einem Wort: seine Freiheit. Exemplarisch also läßt sich am Beispiel des Sokrates zeigen, was unter diesem – nächst der Liebe und dem Mitleid – kostbarsten Wort der Menschheit zu verstehen ist. Es ist auf die einfachste Weise – und entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch beziehungsweise in Übereinstimmung mit der «vorwissenschaftlichen Intuition» – erkennbar an zwei «Minimalbedingungen» gebunden, wie michael pauen (Illusion Freiheit?, 60) recht überzeugend dargelegt hat:

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an das Prinzip der «Autonomie» und das der «Urheberschaft». «Freie Handlungen», schreibt er, um das «Autonomieprinzip» zu erläutern, «müssen . . . von Ereignissen unterschieden werden, die unter Zwang oder vollständig unter dem Diktat externer Notwendigkeiten zustande gekommen sind.» (michael pauen: A. a. O., 60– 61) Das trifft zu: Sokrates wurde nicht mit äußerer Gewalt in Haft überführt und gehalten; sein Gefängnisaufenthalt mußte nicht durch externe Nötigung (auch nicht durch Drogen oder Hypnose) gegen seinen Willen durchgesetzt werden; er handelte insofern autonom, als er nur durch interne Faktoren (sein Denken, seine Entschlußkraft) bestimmt war (autonom = sich selber das Gesetz gebend, von griech.: autós – selbst, der nómos – Gesetz). Für freie Handlungen muß zum zweiten das Prinzip der Urheberschaft gelten. Auch dieses läßt sich anwenden: Sokrates befand sich nicht ganz zufällig im Gefängnis – etwa weil der Wachdienst ihn bei einem Besuch versehentlich weggesperrt oder ihn bei der Festnahme mit einer anderen Person verwechselt hätte; von einem «freiwilligen» Aufenthalt des Weisen im Kerker könnte in diesem Falle nicht nur des externen Zwangs wegen keine Rede mehr sein; der Zustand seines Eingesperrtseins wäre erkennbar nicht ihm selber zuzurechnen gewesen; er wäre nicht der Urheber seiner Lage gewesen, da er keinerlei Wahl hätte treffen können. «Zuschreibbarkeit» indessen besagt, «dass Freiheit . . . einen Handlungsspielraum zwischen einer Option x und einer Option y impliziert. Zuschreibbar,» führt pauen aus, «ist eine Handlung . . . dann, wenn der Bezug auf die Person eine kritische Rolle in der Erklärung dafür spielt, dass die Handlung x statt der Handlung y vollzogen worden ist, d. h. wenn erst der Bezug auf die Person selbst verständlich machen kann, warum in der gegebenen Situation die Handlung x und nicht die Handlung y vollzogen worden ist.» (michael pauen: A. a. O., 62) Anstelle dieser beiden Minimalforderungen: der Autonomie und der Urheberschaft, kann man einfacher auch davon sprechen, daß eine Handlung «frei» im Sinne von «selbstbestimmt» sei. «Selbstbestimmung ist unverträglich mit Fremdbestimmung und daher auch mit Zwang und externer Determination – selbstbestimmte Handlungen erfüllen also das Autonomieprinzig.» Insofern ist Selbstbestimmung eine hinreichende Bedingung für Autonomie. «Selbstbestimmung stellt aber auch eine notwendige Bedingung . . . für die Erfüllung des Urheberprinzips dar: Wir würden nicht sagen, dass eine Handlung auf ihren Urheber zurückzuführen ist, wenn es nicht der Handelnde selbst war, der die fragliche Handlung bestimmt hat.» (michael pauen: Illusion Freiheit?, 64– 65) Rein begrifflich wird man einer solchen Analyse des Freiheitsbegriffs, wie michael pauen sie hier vornimmt, nicht widersprechen können; – Freiheit ohne

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Selbstbestimmung ist ein Widerspruch in sich, und Selbstbestimmung ist nicht denkbar ohne Autonomie und Urheberschaft, mithin ohne die Abwesenheit von Zwang und bloßem Zufall. Doch damit beginnen auch schon die Probleme. Man beachte, daß das Prinzip der Urheberschaft, das heißt die Anbindung einer Handlung an die handelnde Person, nach pauens Darlegung das Verhalten einer Person nicht erklären, sondern nur verständlich machen soll. Diese Unterscheidung zwischen «erklären» und «verstehen» ist bekanntlich von wilhelm dilthey (1833 –1911) eingeführt worden, um die Psychologie von der naturwissenschaftlichen Methode zu lösen und sie zu einer geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen Zugangsweise anzuhalten, die der ganzheitlichen individuellen Struktur eines Menschen sowie den Abläufen der menschlichen Geschichte angemessener ist. (Vgl. wilhelm dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, VII 205 –220: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen; vgl. auch: [Über vergleichende Psychologie] Beiträge zum Studium der Individualität, in: Gesammelte Schriften, V 241– 316, bes. S. 242– 258: Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften; sowie: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Gesammelte Schriften, V 317–331.) Indem michael pauen die Zuordnung einer als frei definierten Tat zu ihrem «Urheber» als «verständlich» (von ihm selbst in Sperrdruck hervorgehoben) postuliert, möchte er offenbar der Frage zunächst aus dem Weg gehen, ob die «Verstehbarkeit» einer Handlung durch die Kenntnis des handelnden Subjekts eine «Erklärung» im Sinne der Naturwissenschaften bezeichnen soll oder ob damit eine nur interpretative «Begründung» gemeint ist. Der Unterschied zwischen beiden Möglichkeiten ist für die ganze weitere Debatte um die Frage der Willensfreiheit geradewegs zentral; denn «erklärt» in naturwissenschaftlicher Absicht ist etwas erst, wenn sich nach geltenden Gesetzen zeigen läßt, daß ein bestimmter Zustand (Z1) zu einem gegebenen Zeitpunkt (t1) notwendig und unausweichlich in eben jenen Zustand (Z2) übergehen mußte, der sich zum darauffolgenden Zeitpunkt (t2) beobachten läßt; ja, bei ausreichender Kenntnis von Z1 sollte die Entwicklung von Z1 nach Z2 exakt vorhersehbar sein. Von einer solchen Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens oder geschichtlicher Abläufe kann in aller Regel indessen keine Rede sein; hier muß es zumeist genügen, die psychischen Motive zu verstehen (eben nicht die kausalen Ursachen zu erklären!), die einem bestimmten Verhalten zugrunde liegen oder lagen. Gerade diese erkenntnistheoretische Differenzierung aber möchte pauen mit seiner Definition des Freiheitsbegriffs vermeiden; was er Freiheit nennt, soll sich in einer determinierten ebenso wie in einer indeterminierten Welt als existent behaupten lassen, – ein zweifellos nicht un-

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problematisches Konzept. Zudem kommt mit dem Wort «Selbstbestimmung» augenblicklich die Frage ins Spiel, was denn das für ein Selbst ist, das da als «autonom» und «zuschreibbar» seine «Freiheit» in Anspruch nehmen soll. Dieses «Selbst», stellt michael pauen (Illusion Freiheit?, 65) klar, ist «nicht . . . ein immaterielles Ich, das auf irgendwelchen geheimnisvollen Wegen das Gehirn dirigiert»; eine solche Annahme wäre denn auch, wie wir sahen, mit den Erkenntnissen der modernen Neurologie kaum vereinbar – die Vorstellung etwa von john c. eccles (Die Evolution des Gehirns – die Erschaffung des Selbst, 376), «daß das Selbst . . . in die kausale Ordnung eingreift, indem es analog einem Wahrscheinlichkeitsfeld der Quantenmechanik auf mikroskopische synaptische Zusammenhänge im Gehirn einwirkt», ist nicht nur auf Grund ihres metaphysischen Idealismus in der Auffassung von der menschlichen Seele unhaltbar, sie beruht auch auf einem Mißverständnis der Quantenphysik (vgl. Bd. I 222). pauen hingegen versteht unter «Selbst» «diejenigen Fähigkeiten und Eigenschaften, die konstitutiv für eine Person sind» (michael pauen: Illusion Freiheit?, 65), und so spricht er denn im folgenden auch von den personalen Merkmalen, die er «in personale Fähigkeiten und personale Präferenzen unterteilt» (michael pauen: A. a. O., 67). «Personale Fähigkeiten», sagt er, «sind . . . diejenigen Fähigkeiten, die jede Person notwendigerweise besitzen muss, um selbstbestimmte Entscheidungen und Handlungen vollziehen zu können.» (michael pauen: A. a. O., 68) So muß «ein Minimum an Rationalität auf Seiten der Handelnden» gegeben sein, das heißt, «dass eine Person in der Lage ist, sich an ihren faktischen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen zu orientieren, es ist nicht erforderlich, dass die Person in einem umfassenden Sinne vernünftig handelt.» (michael pauen: A. a. O., 68) Dazu gehört, daß eine handelnde «Person in der Lage sein muss, die Konsequenzen ihres Tuns zu erkennen» (michael pauen: A. a. O., 68), denn anderenfalls könnte sie ihr Verhalten nicht zweckentsprechend einrichten; außerdem sollte eine Person, damit man ihr eine Handlung zuschreiben kann, über die Fähigkeit verfügen, «Konflikte zwischen den eigenen Wünschen, Überzeugungen und Bedürfnissen» rational zu bewältigen (michael pauen: A. a. O., 69); «notwendig» zur Selbstbestimmung «ist aber auch die Ansprechbarkeit für Normen und die Fähigkeit, getroffene Entscheidungen in die Tat umzusetzen» (michael pauen: A. a. O., 71). Ein Alkoholiker zum Beispiel, der sehr wohl begreift, wie schädlich sein Suchtverhalten für seine Gesundheit sich auswirkt, der aber nicht die nötige «Willensstärke» aufbringt, seinen Entschluß, fortan abstinent zu leben, gegen seine Abhängigkeit durchzusetzen, ist offensichtlich außerstande, «selbstbestimmt» zu handeln. Die personalen Fähigkeiten zu selbstbestimm-

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tem Handeln machen aber, für sich genommen, noch nicht verständlich, warum jemand eine bestimmte Entscheidung (und nicht eine andere) trifft; um zu begreifen, warum eine einzelne Person in einer gegebenen Situation sich so und nicht anders verhält, muß man ihre personalen Präferenzen kennen. «Personale Präferenzen», schreibt pauen, «sind . . . Merkmale, die konstitutiv für eine Person sind und damit gleichzeitig die Basis dafür bilden, dass sich selbstbestimmungsfähige Individuen voneinander unterscheiden.» (michael pauen: A. a. O., 72) Dabei geht es um «die Einstellungen, die die Person tatsächlich besitzt – nicht diejenigen, die sie sich aus welchen Gründen auch immer zuschreiben mag». (michael pauen: A. a. O., 73) So war es die (moralisch-rechtliche) Grundhaltung, die Sokrates dahin bestimmte, die von seinen Schülern angebotene und anempfohlene Flucht aus dem Gefängnis nicht anzutreten; und es war diese seine Grundhaltung (das Bündel seiner «personalen Präferenzen»), die ihn zu «Sokrates» machte (die «konstitutiv» für seine Person war); bei diesem seinem Beschluß folgte er nur sich selbst, – er handelte «frei» im angegebenen Sinne. Doch damit kommt ein weiterer Aspekt der Freiheitsproblematik in den Blick: die interne Bestimmung. Für gewöhnlich stellt man sich unter «Freiheit» die Möglichkeit einer alternativen Entscheidung vor: frei wäre demnach nur diejenige Person, die in einer gegebenen Situation auch anders handeln könnte, als sie es tut; wenn jemand keine Wahl hat, so besitzt er anscheinend auch keine Freiheit; er muß ja so handeln, wie er es tut. Eine solch äußerliche, «naive» Vorstellung von Freiheit aber scheitert an Sokrates: äußerlich boten ihm seine Schüler ja eine Leben rettende Alternative an, sie veränderten absichtsvoll die externen Handlungsbedingungen zugunsten einer neuen «Option»; doch nur um so deutlicher ward, daß für Sokrates innerlich eine solche «Wünschbarkeit» (von lat.: optare – wünschen) durchaus nicht in Frage kam, – in seinen Augen erschien sie schlicht als unanständig und seiner nicht würdig. Sokrates hätte ein anderer sein müssen als der, der er war, wenn er sich auf Kritons Vorschlag hätte einlassen können; seine «personale Präferenz» bestand in der ethischen Forderung, in der «Determination» durch den Anspruch eines sittlichen Sollens, und wer Sokrates kannte, wie Kriton, hätte eigentlich wissen müssen, daß es sich mit dem Meister so verhielt: er würde auf Grund seiner Persönlichkeit von dem sicheren Gang in den Tod so wenig abzubringen sein wie ein halbes Jahrtausend später Jesus von dem Weg nach Jerusalem durch die Dreinrede seines Jüngers Petrus (Mk 8,31–33) oder wie anderthalb Jahrtausend danach martin luther von seiner Reise zum Reichstag nach Worms. Solche Leute scheinen die Angst vor dem Tod nicht zu kennen, welche die Menschen für gewöhnlich gefangenhält; sie sind

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dadurch frei gegenüber Gefühlen, die gemeinhin selbst Mutige in Sklaven verwandeln, sie gehorchen einer höheren Bestimmung; doch sind sie jetzt frei zu nennen, weil sie von innerlichen Zwängen, die ihrem Wollen widerstreiten, frei sind, oder muß man sie gerade ob der inneren Festgelegtheit ihres Wollens für unfrei halten? Wäre wirklich Sokrates freier gewesen, wenn er anders hätte handeln können – wenn er, mit seinen eigenen Augen betrachtet, auch die Möglichkeit gehabt hätte, ein Lump zu sein? Ist ein sittlich hochstehender Mensch eben deshalb nicht als frei zu erachten, weil er innerlich außerstande ist, eine Gemeinheit oder ein Verbrechen zu begehen? Offenbar ist ein solcher Mensch frei, weil er so handelt, wie er selber es will, weil er mit dem Inhalt seines Wollens vollkommen einverstanden (identisch) ist und weil er niemandem sonst als sich selbst (seinem Wesen) folgt. Eben das besagt das Wort Selbstbestimmung; doch ist, so verstanden, Selbstbestimmung nicht nur ein anderer Ausdruck für innere Festgelegtheit, für interne Determination? Es herrscht kein äußerer Zwang, gewiß; alles, was geschieht, geht auf die selbstgetroffene Entscheidung des Handelnden zurück; aber kann es nicht sein, daß die Entscheidung, die er zu treffen meint, in Wahrheit immer schon getroffen worden ist und jetzt nur an dem Material einer konkreten Situation selbst zu Bewußtsein gelangt? Ein Philosoph, der gerade so gedacht hat, war arthur schopenhauer (1788 –1860). Als erstes ließ er die Unterscheidung nicht gelten, die gottfried wilhelm leibniz (1646 –1716) als Hauptunterschied zwischen geistigen und physischen Prozessen namhaft machen wollte: den Unterschied zwischen Final- und Wirkursache (zwischen lat.: causa finalis und causa efficiens). «Die Seelen», schrieb leibniz in der Monadologie (Nr. 79, S. 32), «wirken nach den Gesetzen der Finalgründe durch Begehrungen, Zwecke und Mittel. Die Körper wirken nach den Gesetzen der bewirkenden Ursachen.» (Vgl. Bd. I 24.) Dagegen meinte schopenhauer, alle Motivation sei «nicht im Wesentlichen von der Kausalität verschieden, sondern nur eine Art derselben, nämlich die durch das Medium der Erkenntniß hindurchgehende Kausalität», die «uns aber nicht bloß von außen, wie die anderen Naturkräfte, sondern, vermöge des Selbstbewußtseyns, auch von innen und unmittelbar (sc. in Gestalt des Willens, d. V.) bekannt» sei. «Diese speziell und individuell bedingte Beschaffenheit des Willens, vermöge deren seine Reaktion auf die selben Motive in jedem Menschen verschieden ist,» fuhr schopenhauer fort, «macht Das aus, was man dessen Charakter nennt und zwar, weil er nicht a priori sondern nur durch Erfahrung bekannt wird, empirischen Charakter.» (Preisschrift über die Freiheit des Willens, in: Sämtliche Werke, IV 47– 48) Den Charakter des Menschen beschrieb dieser Vordenker einer philosophischen Psychologie als individuell – kein

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Mensch sei wie ein anderer –, als empirisch – nur durch Erfahrung lerne man ihn kennen –, als konstant – der Mensch ändere sich nie –, und als angeboren – er sei «in seinen Grundzügen erblich, aber nur vom Vater, die Intelligenz hingegen von der Mutter.» (arthur schopenhauer: A. a. O., IV 48– 53) Daraus ergab sich für schopenhauer eine vollständige Determination des Verhaltens durch den Charakter. Wohl, meinte er, habe es den Anschein, als bestehe Willensfreiheit darin, «daß ich thun kann, was ich will, sobald ich nicht physisch gehemmt bin». Doch müsse die «berechtigte Antwort» auf diese ebenso verbreitete wie falsche Vorstellung lauten: «Du kannst thun was du willst; aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur Ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts anderes als dieses.» (arthur schopenhauer: A. a. O., IV 23; 24) Damit entfällt natürlich auch der Gedanke, Alternativmöglichkeiten der Wahl (als «Freiheit») anzunehmen. «Sind einem gegebenen Menschen unter gegebenen Umständen», fragte schopenhauer, «zwei Handlungen möglich, oder nur eine?» Und weiter: «Konnte der zurückgelegte Lebenslauf eines gegebenen Menschen – angesehn, daß einerseits sein Charakter unveränderlich feststeht und andererseits die Umstände, deren Einwirkung er zu erfahren hatte, durchweg und bis auf das Kleinste herab von äußeren Ursachen, die stets mit strenger Ursache eintreten, und deren aus lauter eben so nothwendigen Gliedern bestehende Kette ins Unendliche hinausläuft, nothwendig bestimmt wurden, – irgend worin, auch nur im Geringsten, in irgend einem Vorgang, einer Scene, anders ausfallen, als er ausgefallen ist?» Auch hier lautet «die konsequente und richtige Antwort»: «Nein!» (A. a. O., 60) Von außen ist es der Lauf der Natur, von innen der Charakter eines Menschen, die sein Leben bis ins einzelne festlegen und Freiheit nicht zulassen. Ein Mensch, der nicht anders wollen und handeln kann, als er ist und wie die Umstände es bestimmen, besitzt keine Freiheit. Man kann an dieser Stelle bereits schopenhauers Überzeugung bezweifeln, ein Mensch vermöge sich niemals zu ändern. Tatsächlich unterliegen zum Beispiel unsere Auffassungen, Neigungen, Gewohnheiten im Verlaufe unseres Lebens zum Teil ganz erheblichen Wandlungen: wir machen neue Erfahrungen, gewinnen überraschende Informationen, hormonelle Prozesse bedingen die Reifungsschritte des Alterns, unvermutete Begegnungen und Schicksalsschläge tragen dazu bei, unsere «personalen Präferenzen», oft genug unmerklich, zu verschieben. Doch die entscheidende Frage heißt: Ergibt sich aus all dem ein Mehr an Freiheit? Wohl kaum – doch darüber läßt sich diskutieren. michael pauen, der durchaus zugibt, daß «die Entstehung bestimmter Präferenzen . . . dem Einfluss des Akteurs entzogen» sein kann (Illusion Freiheit?,

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155), möchte gleichwohl daran festhalten, daß «Freiheit . . . nach wie vor auch in einer determinierten Welt möglich» sei, wenn nur «der Akteur eine solche Veränderung (sc. personaler Merkmale, d. V.) akzeptieren würde, wäre sie ihm bewusst» (a. a. O., 156); als ein entscheidendes Kriterium von Freiheit müßte damit die innere Übereinstimmung, die Möglichkeit der persönlichen Identität gewertet werden: – Veränderungen, die eine Person an sich selbst nicht zu akzeptieren bereit wäre, würden zweifellos wie Zwang erlebt. Doch dagegen gefragt: Bedeutet die Tatsache, daß jemand die Veränderungen, die in ihm vor sich gehen, ohne Widerspruch hinzunehmen vermag, tatsächlich auch schon, daß er «frei» ist, – oder ergibt die Fähigkeit zu dieser Zustimmung sich zwangsläufig aus der Art seines «Charakters»? Ist jemand «frei», nur weil er den Sturm nicht spürt, der ihn vor sich hertreibt? Ja, wird aus einem solchen Freiheitsbegriff, wie ihn pauen im Sinne des «Kompatibilismus» (des Glaubens an die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit) entwickelt, nicht ein «schwarzer Koffer», mit dem sich jeder wünschenswerte philosophische Inhalt durch die «Zollkontrolle» klarer Begrifflichkeit schmuggeln läßt? Um schopenhauers Argumentation zu entkommen, sind eigentlich nur zwei Auswege denkbar: Es ist möglich, die «Notwendigkeit» des «empirischen Charakters» in Frage zu stellen, und es ist möglich, die «Notwendigkeit» des Naturverlaufs insgesamt in Zweifel zu stellen. Doch wie soll das gehen? Eine Freiheit, die sich daraus ergäbe, daß ein Wesen in all seinen Entscheidungen einzig sich selber folgt, ohne aber sein eigenes Wesen wählen zu können, wäre nicht unterscheidbar von Unfreiheit. Vor diesem Problem stand baruch spinoza (1632 –1677), als er in seinem Hauptwerk Die Ethik (I. Teil, Lehrsatz 17, S. 21) die Behauptung aufstellte: «Gott handelt allein nach den Gesetzen seiner Natur und von niemandem gezwungen», und daraus den «Folgesatz» ableitete, «daß es keine Ursache gibt, die Gott von außen oder von innen zum Handeln antreibt, außer der Vollkommenheit seiner Natur». In einer «Anmerkung» dazu führte spinoza selbst aus, «daß vieles auf unendliche Weise, das heißt Alles, notwendig geflossen ist oder immer mit der gleichen Notwendigkeit folgt; auf die selbe Weise, wie aus der Natur des Dreiecks von Ewigkeit in Ewigkeit folgt, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind». (A. a. O., 22 –23) Mit einem Wort: die «Freiheit» Gottes ist nicht anders zu verstehen denn als eine logische oder mathematische Notwendigkeit. Dabei wollte spinoza gar nicht, daß von Gottes «Verstand» und «Willen» gesprochen werde; denn «der Verstand und der Wille, die Gottes Wesenheit ausmachen würden, müßten von unserem Verstand und unserem Willen himmelweit verschieden sein und könnten höchstens im Namen damit übereinstimmen, so wie das Sternbild Hund und das

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bellende Tier Hund miteinander übereinstimmen». (A. a. O., 23) leibniz indessen, der in Die Theodizee die pantheistische Einheitslehre des jüdischen Philosophen vermeiden mochte und zugunsten eines personalen Gottesbildes an Verstand und Willen als notwendigen Attributen der Gottheit festhielt, gelangte im Grunde zu dem gleichen Ergebnis einer Wesensnotwendigkeit des göttlichen Handelns und einer universalen Notwendigkeit im gesamten Naturverlauf, konnte doch Gottes «überlegene Weisheit . . . in Verbindung mit einer nicht weniger unendlichen Güte einzig und allein das Beste erwählen»; und «so hat Gott ein für allemal alles im voraus geregelt», schrieb er. (Die Theodizee, 1. Teil, 8; 9, S. 101) Eine solche göttliche Freiheit ist erkennbar identisch mit der höchsten Notwendigkeit; nach diesem Vorbild von einer Freiheit menschlichen Wollens und Handelns zu sprechen, bedeutet umgekehrt, den Begriff der Freiheit nurmehr metaphorisch zu verwenden – wie spinozas «Hunde». Unter diesen Denkvoraussetzungen bedürfte es wirklich einer Art Gottähnlichkeit, um dem Menschen noch länger Freiheit zusprechen zu können. Am konsequentesten sah dies immanuel kant: Äußerst scharfsinnig und vollkommen richtig stellte er fest, daß «Freiheit» niemals eine Kategorie des Verstandes sein kann, sondern lediglich eine regulative Idee der Vernunft bildet. Anders ausgedrückt, formulierte kant aus Gründen der Erkenntniskritik die Unmöglichkeit, im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Methode irgendein Phänomen in Raum und Zeit auf eine Wirkung von Freiheit zurückzuführen. Es handelt sich im Prinzip um dieselbe Differenzierung, die rund 130 Jahre später in jener diltheyschen Unterscheidung von Erklären und Verstehen zum Ausdruck kommen sollte: eine naturwissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit vermag (vielleicht) die kausalen Mechanismen zu beschreiben, die beim Zustandekommen eines bestimmten Effektes eine Rolle gespielt haben, doch von «Freiheit» kann und darf dabei keine Rede sein, weil Freiheit eben darin besteht, daß etwas geschieht, das nicht kausal determiniert ist. In der Kritik der reinen Vernunft, näherhin in der dritten Antinomie der transzendentalen Dialektik (in: Werke in 12 Bden., IV 426– 433; 488– 506), legte kant dar, daß es prinzipiell unmöglich ist zu erkennen, ob Freiheit wirklich ist oder ob alles, was geschieht, nach dem Gesetz der Kausalität notwendigerweise geschieht. Fest stand ihm nur, daß (nach der zweiten Analogie der Erfahrung) der Grundsatz der Erzeugung gilt, dem gemäß jedes Ereignis etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, III 226); alles, was in der Zeit angeschaut wird, muß also von vornherein als kausalbedingt (entsprechend der Verstandeskategorie der Kausalität) gedacht werden. In der Sphäre der Erscheinungen kann Freiheit mithin prinzipiell nicht angetroffen

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werden – ein sehr wichtiger erkenntnistheoretischer und methodologischer Gedanke, der uns sogleich noch näher beschäftigen wird. Freiheit, weil sie in dem dynamischen Ganzen der Natur nicht sein kann, läßt sich demnach allenfalls postulieren als Voraussetzung zur Erfüllung des Sittengesetzes; sie läßt sich nur glauben jenseits der Erscheinungen in der Sphäre des «Dings an sich», in welcher die Gesetze des Verstandes keine Gültigkeit besitzen. (Vgl. immanuel kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke in 12 Bden., VII 91– 94.) Nicht ob Freiheit ist, nur was sie ist, läßt sich also erkennen. Da Kausalität den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Zeitreihe formuliert, indem jede Ursache selber die Wirkung einer vorangegangenen Ursache darstellt, so läßt Freiheit sich definieren als ein Vermögen, ohne vorherige Ursache, außerhalb der Zeitreihe, durch sich selbst die Ursache für eine Wirkung in der Zeit zu sein, mithin durch sich selbst Kausalität anfangen zu lassen. (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, IV 488– 489) Freilich muß es in der Welt der Erscheinungen unerkennbar bleiben, wie eine solche Freiheit auf die Welt der Erscheinungen wirkt; immerhin aber ist es möglich zu denken, daß – unbeschadet der Gültigkeit des Kausalsatzes – eine solche Einflußnahme statthat, etwa wenn ich gerade jetzt beschließe, einen Kugelschreiber in die Hand zu nehmen und rein mechanisch die erforderlichen Bewegungen einzuleiten, um meinen Gedanken zu Papier zu bringen. (Vgl. zu kants Freiheitsbegriff e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 4 –5.) Mit diesem Konzept ist kant zweifellos eine geniale Lösung des Widerspruchs von Freiheit und Notwendigkeit gelungen: der deutsche Philosoph ordnete beide Begriffe ganz einfach zwei verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit zu. Allerdings hat der größte Denker des Deutschen Idealismus damit eigentlich «zu viel» bewiesen und sich ein neues Problem geschaffen: Da Freiheit von aller (empirischen) Verursachung frei bleiben muß, so lassen sich für eine Entscheidung in Freiheit auch keinerlei Gründe oder Motive angeben oder, sofern es sie geben sollte, haben sie für irrelevant zu gelten. Dadurch aber wird eine Entscheidung in Freiheit nicht nur schlechterdings unverständlich, sie wird auch prinzipiell inhaltsleer – die Bestimmung der Sittlichkeit, für welche der Begriff der Freiheit die subjektiv notwendige Voraussetzung bieten sollte, bleibt auf diese Weise rein formal. Zu Recht hat peter bieri (Das Handwerk der Freiheit, 230) gegen einen solchen «unbedingt freien Willen» eingewandt, daß eine derartige Willensfreiheit «von allen ursächlichen Zusammenhängen» losgelöst wäre. «Ein solcher Wille», meinte er, «wäre ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit nämlich würde bedeuten, daß er unabhängig wäre von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedanken und Empfin-

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dungen, Ihren Phantasien und Erinnerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer bestimmten Person macht. In einem substantiellen Sinne des Worts wäre er deshalb gar nicht Ihr Wille. Statt zum Ausdruck zu bringen, was Sie – dieses bestimmte Individuum – aus der Logik Ihrer Lebensgeschichte heraus wollen, bräche ein solcher Wille, aus einem kausalen Vakuum kommend, einfach über Sie herein, und Sie müßten ihn als einen vollständig entfremdeten Willen erleben, der meilenweit von der Erfahrung der Urheberschaft entfernt wäre, zu deren Rettung er doch eingeführt wurde.» (Vgl. auch ulrich steinvorth: In welchem Sinn hat der Mensch einen freien Willen?, in: Friedrich Hermanni – Peter Koslowski: Der freie und der unfreie Wille, 10–13: Sind willensfreie Entscheidungen naturwissenschaftlich beschreibbar?; vgl. michael esfeld – michael herzog: Wenn der Geist Kopf steht, in: Gehirn und Geist, 11/2005, 56 –60, S. 59.) Und nicht nur die «Innenwahrnehmung» käme unter kantischen Voraussetzungen einem Status vollendeter Entfremdung gleich, auch die «Außenwahrnehmung» müßte auf der Stelle einer Praxis vollkommener Rechtswillkür vor allem in der Strafjustiz Tür und Tor öffnen. Auf Grund der dualistischen Spaltung des Menschen in ein «intelligibles» (griech.: noumenales) und in ein empirisches (griech.: phänomenales) Subjekt hat kant der Person eines Menschen die uneingeschränkte Verantwortung und Zurechenbarkeit für alles aufgebürdet, was sie tut und getan hat. Es spielte demnach keine Rolle, wie jemand aufgewachsen ist, in welch einem physischen oder psychischen Zustand er sich im Augenblick seiner Tat befand, – seine abstrakt behauptete Freiheit setzte ihn zu jedem Zeitpunkt wie am Weltenanfang in den Stand, sein intelligibles Ich selber in Erscheinung treten zu lassen, ganz so, als sei ein Mensch kraft seiner Freiheit der Schöpfer seiner selbst, als sei er mithin gar kein Mensch, sondern schon sein eigener Gott. Die Rigorosität, mit welcher kant diesen Standpunkt vertrat, kommt besonders kraß in seiner berühmt-berüchtigten Stellungnahme zur Todesstrafe zum Ausdruck, wenn er etwa schreibt: «Hat er (sc. ein Straftäter, d. V.) . . . gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen, doch von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreieten Tod. – Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte

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der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.» (immanuel kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Werke in 12 Bden., VIII 455) Auch in diesem Urteil blieb kant nur konsequent; doch wenn die Gerechtigkeit selber, «ohne Ansehen der Person», sich schließlich in eine bloße Jus-talionis-Maschinerie verwandelt, zeigt sich dann nicht von selbst, daß es ein Fehler ist, die reine Abstraktion der Freiheit und die reine Formalität der Sittlichkeit zur Grundlage der Moral- und Rechtslehre zu nehmen? «Jede Verantwortlichkeit unter Menschen ist unbedingt als geschichtlich vorzustellen», schreibt ulrich pothast (Letzte Verantwortlichkeit und Verantwortlichkeit unter Menschen, in: Friedrich Hermanni – Peter Koslowski: Der freie und der unfreie Wille, 127); dem ist voll und ganz zuzustimmen: Wer nicht die Situation beachtet, in welcher eine Person sich befindet, wer nicht all die Faktoren berücksichtigt, die eine Persönlichkeit geformt haben, wird in der Absicht, der Gerechtigkeit im allgemeinen Genüge zu tun, Unrecht verüben an jedem einzelnen Menschen im besonderen. Gleichwohl bleibt es die Frage, wie man der schopenhauerschen Logik entgehen will: Ist es nicht doch denkbar, daß ein Mensch für seinen eigenen (empirischen) Charakter Verantwortung trägt? Eine wichtige Modifikation und Weiterführung der Gedanken kants liegt (vermittelt durch die Phänomenologie des Geistes von georg wilhelm friedrich hegel, 1770 –1831, durch die phänomenologische Methodologie von edmund husserl, 1859 –1938, und durch die phänomenologische Ontologie von martin heidegger, 1889–1976) in der Hauptschrift eines der führenden Köpfe des französischen Existentialismus vor: in Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie aus der Feder von jean-paul sartre (1905 –1980). In diesem Grundlagenwerk des Freiheitsbegriffs nicht allein der Résistance gegen den deutschen Faschismus im Jahre 1943, sondern gegen die Absurdität des Daseins insgesamt, zog sartre die Folgerungen aus seiner Analyse des Ich, wie wir sie in der Diskussion um den Begriff der Person bereits kennengelernt haben: Wenn es «gerade das Bewußtsein» ist, «das die Einheit und den Personcharakter meines Ich ermöglicht», wie sartre sagt (Die Transzendenz des Ego, in: jean-paul sartre: Die Transzendenz des Ego, 11), so ist in gewissem Sinne tatsächlich der Mensch in absoluter Freiheit der Schöpfer seiner selbst. sartre benötigte für diese These freilich keine transzendentale (kantianische) Freiheit; ihm genügte es, phänomenologisch aufzuweisen, was

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«Bewußtsein» bedeutet: Danach existiert das Bewußtsein nur, insofern es erscheint; doch eben damit erschafft es sein Wesen ständig selbst; das Bewußtsein selbst, wohlgemerkt, ist ungeschaffen, weder von Gott noch von sich selbst; es ist einfach; jenseits von Notwendigkeit und Möglichkeit ist es die reine Kontingenz. Doch eben hierin liegt das Problem der menschlichen Existenz: Sie wird niemals so «dicht», so fraglos eins mit sich selber sein können wie ein Stein oder ein Baum, die ein «sich» gar nicht kennen und nur einfach sind. «Das Sein des Bewußtseins» besteht nach sartre indessen gerade darin, «im Abstand zu sich zu sein als Anwesenheit bei sich, und dieser Null-Abstand, den das Sein in sein Sein hineinträgt, ist das Nichts». Dieses Nichts, dieses «Loch des Seins», dieser «Sturz des An-sich zum Sich, durch den sich das Für-sich herstellt» (Das Sein und das Nichts, 131), bedingt, daß Freiheit «keine empirische und zusätzliche Fähigkeit des Bewußtseins» darstellt; vielmehr gilt: «sie ist das ganze Bewußtsein, insofern es seine Freiheit realisiert.» (jean-paul sartre: Das Imaginäre, 289) Von daher ist Freiheit keine Eigenschaft, auch nicht das Wesen des Menschen, sie ist das Sein des Menschen als Bewußtsein, als Abfall von der Identität des An-sich-Seins. Mithin ist das Bewußtsein einerseits ein Absolutes, das durch sich selbst existiert, eine quasi göttliche Einheit von Sein und Wesen, andererseits aber (in der Nicht-Koinzidenz des An-sich) aktualisiert sich die Freiheit in der Erkenntnis der radikalen Kontingenz, der «völligen Beliebigkeit», der vollkommenen Überflüssigkeit ihres eigenen Seins. (jean-paul sartre: Das Sein und das Nichts, 137) Diese radikale Kontingenz des Daseins zeigt sich in der «Faktizität», in dem Sein-in-Situation, darin, «daß das Für-sich, obwohl es den Sinn seiner Stellung wählt . . ., andererseits doch seine Stellung nicht wählt». (jeanpaul sartre: A. a. O., 136) Das Für-sich ist vollkommen frei und verantwortlich für sein Sein, und doch ist es gänzlich beliebig und niemals zu rechtfertigen. Wohl ist es der Grund seines Bewußtseins, doch nicht seiner Anwesenheit überhaupt. Eben dadurch verweist es auf den fundamentalen Mangel, der dem Dasein notwendig innewohnt. Dieser «Mangel an Sein» (jean-paul sartre: A. a. O., 139) bildet nach sartre den Grund für die Transzendenz des Daseins, die auf die (unmögliche!) Totalität des eigenen Seins hingeht. Demnach ist die menschliche Freiheit nicht, wie im Christentum, ein Streben nach Gott, vielmehr ist sie der stets scheiternde Versuch, selbst Gott zu werden; ihr Sinn ist nicht die Menschwerdung Gottes, sondern die Gottwerdung des Menschen. «Jede menschliche Wirklichkeit», schreibt sartre, «ist direkter Entwurf, das eigene Für-sich zum An-sich-Für-sich zu verwandeln . . . Jede menschliche Wirklichkeit ist eine Leidenschaft, insofern sie entwirft, sich selbst zu vernich-

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ten, um das Sein zu gründen und um zugleich das An-sich zu konstituieren, das als ein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das Ens causa sui (sc. lat.: die Seinsursache seiner selbst, d. V.), das die Religionen Gott nennen. Die Leidenschaft ist somit die Umkehrung der Leidenschaft des Christus, denn der Mensch richtet sich zugrunde, damit Gott entstehe. Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll (sc. da Gott selbst als absolutes Bewußtsein derselben Problematik wie jedes Bewußtsein unterliegt, nicht mit sich identisch zu sein, d. V.), und wir richten uns umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.» (jean-paul sartre: A. a. O., 770) Deutlich wird bei dieser knappen Entwicklung des sartreschen Freiheitsbegriffs (vgl. dazu e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 198– 204) eine grundlegende Paradoxität: Der Mensch ist absolut frei, wie bei kant, doch gleichzeitig eingebunden in die Welt der faktischen Gegebenheiten, unter denen sich, Situation für Situation, zeigen muß, wer er ist; er ist der, zu dem er sich – im Sinne martin heideggers, doch angetrieben vom Mangel, vom Nichts – entwirft; an dieser Stelle ist er identisch mit der Idee eines unmöglichen Gottes. Dann aber trifft er auf eine bereits vorhandene Welt, die er weder gemacht noch gewollt hat, und in dieser erweist sich die menschliche Freiheit allein darin, sich nicht zum Sklaven der Umstände entwürdigen zu lassen, sich nicht von der Dichte des umlagernden Seienden erdrücken zu lassen, sondern die jeweilige Situation im Selbstentwurf auf ein eigenes Ziel hin auszulegen und zu transzendieren. Mehr als diese Deutung, als diese Sinnverleihung des Vorhandenen ist in der menschlichen Freiheit sartre zufolge nicht enthalten. Da liegt am Wege ein Stein – das ist das Faktum; doch was diese Tatsache bedeutet, zeigt sich allein an der Stelle, die der Stein innerhalb meines Entwurfs einnimmt: er kann ein Hindernis oder eine Gefahr für den Autoverkehr bilden, er mag mir als Wanderer zur Sitzbank beim Ausruhen dienen, er kann mich faszinieren als Geologe, es mag mir völlig egal sein – ob er da liegt oder auch nicht; was immer der Stein für eine Bedeutung annimmt, ergibt sich aus dem Verwendungszusammenhang, in den ich ihn im Rahmen meines Eigenentwurfs einordne. In diesem Punkte ist die sartresche Freiheit grenzenlos. Andererseits vermag sie im Grunde auch nicht mehr als dies. Hineingeworfen in die faktische Lage einer gegebenen Situation, bleibt es die Frage, ob und inwieweit es mir gelingt, meine Gedankenfreiheit (meinen Entwurf) in Handlungsfreiheit (in aktives Tun) zu übertragen und die angetroffenen Bindungen nicht nur virtuell, sondern auch real zu verändern, – vielleicht ja, vielleicht nein. In jedem Falle zeigt sich in der jeweiligen Situation, was für ein Mensch ich bin. In der kleinen Geschichte Die Mauer aus dem Jahre 1939 schilderte sartre

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zum Beispiel die Situation von Gefangenen, die auf ihre Hinrichtung warten und die dabei entdecken, daß es unmöglich ist, sich den eigenen Tod vorzustellen, anders gesagt: das Nicht-Entwerfen zu entwerfen (vgl. jean-paul sartre: Die Mauer, 15; 25– 29; e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 247– 248); zugleich aber bleibt es bis zuletzt ihre Frage, wie sie sich verhalten, denn eben daran zeigt sich, was für einen «Charakter» sie haben: ob sie reumütig winseln vor ihren Schergen, ob sie ihre Kameraden verraten, ob sie ihren Stolz bewahren und ihren Henkern ins Gesicht spucken, ob sie in Seelenruhe sich als unerschütterlich erweisen . . . – all diese (im Stück nicht weiter ausgeführten, doch ausdenkbaren) Möglichkeiten verraten etwas von der Art des Menschseins einer Person, und dieses Menschsein ist in vollkommener Freiheit und unbegrenzter Verantwortung identisch mit dem eigenen Entwurf, zu dem mein Bewußtsein mich bestimmt hat. «Die Gedanken sind frei, / wer kann sie erraten?» heißt es in einem der schönsten deutschen Volkslieder aus dem Ende des 18. Jhs., das friedrich schiller (1759 –1805) zugeschrieben wird, und es geht weiter mit den Worten: «Sie fliehen vorbei / wie nächtliche Schatten. / Kein Mensch kann sie wissen, / kein Jäger erschießen / mit Pulver und Blei; / die Gedanken sind frei!» Und dann in der 3. Strophe: «Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, / das alles sind rein vergebliche Werke! / Denn meine Gedanken / zerreißen die Schranken / und Mauern entzwei: / die Gedanken sind frei.» (anne diekmann: Das große Liederbuch, 209) Was aber, wenn selbst die «Gedanken» sich unter dem Druck von Folter und Qual verändern; wenn die «unteren» Hirnareale, die Funktionen des Hirnstamms, in den Händen der Peiniger einen Menschen in ein willenloses Objekt verwandeln sollen (vgl. Bd. I 90– 95)? In dem Drama Tote ohne Begräbnis von 1946 hat sartre auch diese Situation durchgespielt (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 249), um seine These vom notwendigen Scheitern des Sadisten zu entwickeln. Der Folterer möchte etwas stets Unmögliches: eine freiwillige Preisgabe des Willens, die Zustimmung einer Freiheit, die er gerade durch seine verdinglichende Praktik vernichtet, eine Objektivierung, die den anderen als Subjekt von außen neu konstituieren soll. Zumindest die Dokumentation dieses immanenten Widerspruchs in Folter und Gefangenschaft bleibt immerhin noch eine Möglichkeit der freien Entscheidung des «Opfers». Bei dieser Konzeption seines Freiheitsbegriffs scheint sartre sich kaum bewußt gewesen zu sein, wie im Grunde «katholisch» sein existentialistischer Atheismus an dieser Stelle geraten mußte. Im Erstkommunion-Unterricht, vor jetzt genau 60 Jahren, erzählte uns der Pfarrer zur Erläuterung der Bedeutung von Reue und Buße, daß eines Tages zum Pfarrer von Ars (jean-baptiste ma-

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rie vianney, 1786–1859; vgl. peter manns: Die Heiligen in ihrer Zeit, II 402 –405) eine Frau in großer Aufregung kam und berichtete, ihr Mann habe sich von der Brücke in den Fluß gestürzt. Selbstmörder, muß man wissen, galten nach katholischer Auffassung als Todsünder, die, wenn sie unbußfertig starben, geradewegs in die Hölle kamen (vgl. e. drewermann: Vom Problem des Selbstmords oder: Von einer letzten Gnade der Natur, in: E. Drewermann: Wege und Umwege der Liebe, 256– 258; 311– 312); der theologisch eher als ungebildet geltende Pfarrer vianney aber antwortete der Frau ebenso beruhigend-gütig wie feinsinnig: «Zwischen Brücke und Fluß ist noch viel Platz für Gottes Barmherzigkeit.» Er wollte sagen: «Ihr Mann, Madame, mag in seiner Verzweiflung sich entschieden haben, nicht mehr leben zu wollen; damit hat er sich zweifellos in schwerer Weise schuldig gemacht, denn er hat nicht mehr der Hilfe und dem Beistande Gottes vertraut. Während er von der Brücke stürzte, war er natürlich nicht mehr imstande, seine Situation noch zu verändern: Alles, was jetzt geschah, wurde diktiert vom Gesetz des freien Falls bzw. von der Gravitation. Aber Ihr Mann hat bis zum letzten Moment seine Urteilsfreiheit nicht verloren; es stand ihm immer noch frei, seinen getroffenen Entschluß zu bejahen oder zu verneinen. Auch wenn seine allzu späte Reue seinen Tod nicht mehr verhindern konnte, so könnte sie doch seine Seele auf ewig gerettet haben.» (Vgl. ulrich steinvorth: In welchem Sinn hat der Mensch einen freien Willen?, in: Friedrich Hermanni – Peter Koslowski: Der freie und der unfreie Wille, 7) In der sartreschen Philosophie gibt es keinen Gott, der eine solche letzte Willensänderung in Freiheit vernimmt, und doch kann sie vor dem Forum des eigenen Bewußtseins das letzte noch mögliche Urteil über die Bedeutung meines Daseins abgeben; eine solche Freiheit wäre durchaus nicht mehr zu definieren, wie kant sie (als Handlungsfreiheit) bestimmte: als ein Vermögen, selbst in der Zeitreihe eine Kausalität beginnen zu lassen; die Vorstellung aber von der Unbedingtheit der menschlichen Freiheit durchzieht den Idealismus ebenso wie den Existentialismus.

b) Das Problem der Willensfreiheit: psychologisch und neurologisch Nun sind Positionen wie die von kant oder sartre bezüglich der absoluten Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen heute kaum mehr aufrechtzuerhalten, und das aus guten Gründen: kant konnte nicht wissen, sartre wollte

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nicht wissen, wie tief die «Existenz» des Menschen in das biopsychologische Gefüge eingegraben ist, aus dem sie «herauszutreten» (lat.: existere) sucht; im Gegenteil: letzterer nahm die (an kants erkenntnistheoretischem Idealismus orientierte) Phänomenologie (als philosophische Grundlagenwissenschaft zur Begründung aller empirischen Forschung) zur Erlaubnis, jegliche empirische Erkenntnis zur Anthropologie unter die husserlsche epoche¯ (griech.: Einbehaltung, Ausklammerung) fallen zu lassen, mit einer Reihe unmittelbarer schwerwiegender Konsequenzen. Da ist als erstes das evolutive Weltbild der Naturwissenschaften: Gerade in der Zeit, als die ersten großen Funde der Paläontologie gemacht wurden, der Schädel des Kindes von Taung, die Ausgrabungen in der Höhle von Zhoukoudian (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 92– 93; 125 –127), als die Tiefenwahrnehmung der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Species zum ersten Mal sich um Jahrmillionen zu öffnen begann, glaubten die Phänomenologen ebenso wie die Existentialisten nach wie vor, mit der Beschreibung intentionaler Bewußtseinsgegebenheiten eine gültige Anthropologie erstellen zu können, ohne die Frage nach den empirischen Gründen der Entstehung dieses Bewußtseins (die ja nur im Bewußtsein erforscht werden können!) auch nur zuzulassen. Indem man die Existenz des Menschen auf diese Weise von vornherein aus ihrem biologischen Kontext herauslöste, fiel es natürlich nicht mehr schwer, die Einzigartigkeit der menschlichen Freiheit zu behaupten. Eben deshalb war uns die Geschichte des Bewußtseins wie des Selbstbewußtseins so wichtig, weil in der Entwicklung der Arten nicht anders als in der Entwicklung eines Kindes (in Phylogenese wie Ontogenese) sich unmißverständlich zeigt, daß «Bewußtsein» und «Selbstbewußtsein» eben nicht als etwas Fertiges vom Himmel gefallen sind, sondern sich erst nach und nach in enormen Zeiträumen mühevoll herausgebildet haben; Bewußtsein und Selbstbewußtsein traten und treten schon deshalb nicht nach Art eines Entweder-Oder als ganz oder gar nicht auf, sondern graduell gestuft nach Art eines Mehr oder Weniger, und ein gleiches wird man – wenn es sie denn wirklich geben sollte – auch von der Freiheit annehmen müssen. Ganz sicher falsch ist insofern ein Satz wie der von john c. eccles, der ein immer noch weit verbreitetes Vorurteil wiedergibt und besagt: «Tiere besitzen keine moralische Verantwortung. Sie führen zwar Willkürbewegungen aus . . ., aber nicht auf der Grundlage eines ‹Willens›, denn das würde heißen, die Konsequenzen im Guten oder Bösen abzuschätzen, bevor aufgrund einer moralischen oder unmoralischen Entscheidung gehandelt wird.» (Die Evolution des Gehirns – die Erschaffung des Selbst, 377) Ein moralisches Bewußtsein, verbunden mit einem Willen in eigener Verantwortung und

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Zurechenbarkeit, könnte es beim Menschen gar nicht erst geben, ließe ein «moralanaloges Verhalten» sich nicht bereits bei Tieren in großem Umfang beobachten. Ein Neurologe wie eccles schob in solchen Äußerungen sein biologisches Wissen kurzerhand zugunsten seiner theologisch-idealistischen Überzeugung beiseite; ein Philosoph wie sartre klammerte aus methodischen Gründen eine Fülle von Gegebenheiten der biologischen Anthropologie einfach aus – weder naturwissenschaftlich noch geisteswissenschaftlich scheint deshalb ein Rückgriff auf die These von der absoluten Freiheit des Menschen noch länger möglich. Überlegen wir ferner nur einmal, was wir von seiten der Genetik gehört haben. Wenn schopenhauer den Charakter eines Menschen für «angeboren» hielt, so findet diese seine Meinung zwar keine vollständige, aber doch eine sehr weitgehende Bestätigung durch die immer genauere Entschlüsselung des menschlichen Genoms in unseren Tagen. Wohl sahen wir, daß es unmöglich ist, die neuronalen Verschaltungsmuster im Gehirn als die Ausführung einer genetischen «Blaupause» zu interpretieren (vgl. Bd. I 172 –174); doch wir hörten auch, daß zum Beispiel die alzheimer-Erkrankung durch genetische Faktoren mitbedingt sein dürfte (vgl. Bd. I 241; 339– 340), ja, daß auch beim korsakow-Syndrom genetische Ursachen diskutiert werden (vgl. Bd. I 545– 546); wir mußten erfahren, daß Untersuchungen an eineiigen Zwillingen für das Auftreten affektiver (depressiver und manischer) Störungen eine offenbar erblich bedingte Konkordanz von etwa 60 % nachweisen konnten (s. o., S. 106) und daß auch eine schizophrene Erkrankung bis zu 50% genetisch determiniert zu sein scheint (s. o., S. 218; Abb. C 18). Derartige Zusammenhänge leuchten durchaus ein, weil es genetische Faktoren sind, welche die Rezeptorendichte für Neurotransmitter wie zum Beispiel für Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin, aber auch für Hormone wie zum Beispiel für die Glucocorticoide festlegen; desgleichen entscheiden genetische Vorgaben über die Synthese der Enzyme, die für die Herstellung der Transmitter oder anderer Moleküle wie zum Beispiel den BDNF (den aus dem Gehirn stammenden Nervenwachstumsfaktor) (vgl. Bd. I, 273) zuständig sind; ja, vorhin noch hatten wir die These von einem «Gott-Gen» zu diskutieren: ein einziges Gen, das ein Protein codiert, das als Monoamin-Transporter dient, indem es Monoamintransmitter in die Vesikel «verpackt» (s. o., S. 686 –687), beeinflußt allem Anschein nach maßgebend das gesamte Erleben eines Menschen. Wenn genetische Faktoren in solchem Umfang darüber zu bestimmen vermögen, wie jemand von frühester Kindheit an seine Umwelt erfährt und seine Erfahrungen verarbeitet, so kommt diesen Einflüssen zweifellos eine charakterbildende Bedeutung zu.

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Desgleichen hatten wir zu lernen, wie stark prä- und perinatale Umstände sich auf das ganze spätere Leben auswirken können. Für die Entstehung der Homosexualität spielt zum Beispiel – neben vielen anderen diskutierten Ursachen – offenbar Streß der Mutter während der Schwangerschaft eine Rolle: in Tierversuchen mit Ratten führt er dazu, daß das Testosteronsignal an das Gehirn des Embryos zu früh erfolgt und so ein «verweiblichtes» männliches Junges entsteht (vgl. Bd. I 623); Nicotin und Cannabis (THC) durchdringen, wie wir hörten, die Placenta und beeinflussen die Hirnentwicklung eines Kindes längst vor seiner Geburt (vgl. Bd. I 538; 551); das gleiche gilt für die Glucocorticoide, die bei Streß von der Mutter in erhöhten Dosen ausgeschüttet werden (vgl. Bd. I 674). Wir sahen des weiteren, wie ein exogenes Psychosyndrom, verursacht durch perinatale Hirnschädigungen, den Weg in eine spätere Neurose bahnen kann (s. o., S. 147).Und dann müssen wir uns zu all dem nur noch einmal die Bedeutung des Angsterlebens in der Zeit der frühen Kindheit vergegenwärtigen (vgl. Bd. I 667– 679): wie Kinder lernen, sich in der Angst ihrer Mütter zu fürchten, wie sie es lernen, sich hilflos zu fühlen, wie sie beginnen, Gefahren in Situationen wahrzunehmen, die eigentlich eine beruhigende Wirkung haben könnten. Eine wichtige Bestätigung der psychoanalytischen Grundeinsichten über die geradewegs schicksalhafte Macht der ersten Lebensmonate und -jahre ergibt sich – wie ausführlich erörtert – aus einer Fülle von Erkenntnissen auf dem Gebiet der Säuglingsforschung im Rahmen der Entwicklungspsychologie (s. o., S. 478 –483) ebenso wie der Neurologie. (Vgl. anna buchheim: Das entwurzelte Ich, in: Gehirn und Geist, 1/2004, 42 –45.) Zwar haben wir die «Neuroplastizität» des Gehirns zu würdigen immer wieder Gelegenheit gefunden, doch haben wir auch miterleben müssen, wie «prägend» insbesondere die Art der mütterlichen Zuwendung in den ersten Entwicklungsphasen eines Kindes ist. Der Aufbau des Selbst, die Personwerdung insgesamt, gedeutet als ein «dialogisches» Geschehen, wird geformt durch die Verinnerlichung der Interaktionen der Mutter und ihrem Kind unmittelbar vom Zeitpunkt der Geburt an; – in diesem Punkte stimmten alle psychoanalytischen Konzepte zur Begründung von Neurose, Psychose und psychosomatischer Erkrankung überein. Wenn wir aber eben noch Freiheit als «Selbstbestimmung» definiert haben, so kann diese Freiheit doch nur ausgeübt werden auf der Grundlage eben des «Selbst», das auf die beschriebene Art und Weise entstanden ist; liegt es da nicht wirklich nahe, schopenhauer zuzustimmen und alle Entscheidungen des «Selbst» als bloße Folgen seiner genetischen und epigenetischen (biopsychologischen und psychosozialen) Determination anzusehen?

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Insbesondere die Charakterpsychologie, ihre aus der Neurosenlehre abgeleitete Charaktertypologie einer schizoiden, depressiven, zwanghaften und hysterischen Persönlichkeitsstruktur hat die Formung des Ich auf das engste mit der erziehungsbedingten Triebentwicklung über vier spezifische Entwicklungsphasen (schizoid, oral, anal und ödipal) während der ersten fünf Lebensjahre in Verbindung gesetzt und zudem eine Topologie der menschlichen Psyche entwickelt (vgl. Abb. V 1), bei der das Ich als Stätte der Angst und als Ort der Realitätsprüfung eingekeilt ist zwischen den Triebimpulsen des Es und den Dressaten des Überich. Diese drei Instanzen bilden in psychoanalytischer Betrachtung ein dynamisches, doch relativ stabiles Gleichgewicht, wobei die Art des «Grenzverlaufes» zwischen ihnen, wie wir sahen, sich als Ursache bestimmter Formen von Neurose und Psychose interpretieren läßt (s. o., S. 191). Da die Mechanismen des Es (aus dem nach psychoanalytischer Auffassung auch das Überich hervorgeht) weitgehend unbewußt ablaufen, ist das Ich ihnen (fast) wie ein Spielball ausgeliefert; – in der jungschen Terminologie üben das persönliche Unbewußte (der Schatten), die Anpassungsform an die soziale Rollenerwartung (die persona) sowie deren kollektives Gegenstück: der weibliche Seelenanteil bei einem Mann (die anima) und der männliche Seelenanteil bei einer Frau (der animus), solange eine unumschränkte Herrschaft aus, als es nicht möglich ist, sie durch Bewußtwerdung ins «Selbst» zu integrieren (s. o., S. 551– 552). Unter diesen Voraussetzungen begreift man, daß sigmund freud (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, XI 104) seine Schüler dazu aufforderte, den Begriff der Freiheit in der Psychoanalyse am besten gänzlich zu streichen und durch die Vorstellung einer alles durchdringenden Determination des psychischen Geschehens zu ersetzen. Gerade der Einblick in die vielfältige Hilflosigkeit und Getriebenheit des Ich, seine Ohnmacht gegenüber den unterdrückten Affekten, seine Ausgeliefertheit an die niederdrückenden Vorwürfe der Zensurinstanz des Überich, das blinde Getriebe des Wiederholungszwangs, durch den bestimmte Erfahrungskonstellationen der Vergangenheit sich immer wieder in vergleichbaren Szenarien der Gegenwart aufführen, und nicht zuletzt: die Übertragungsdynamik der Elternimagines auf die nächststehenden aktuellen Bezugspersonen, die Verschiebung uralter Ängste, Enttäuschungen und Hoffnungen auf gerade den Menschen, dessen Zuneigung und Liebe derzeit als am meisten bedeutsam erlebt wird – all das erzeugt bei den Betroffenen ebenso wie bei ihren Therapeuten den Eindruck einer fundamentalen Unfreiheit; denn deutlich ist, daß hier etwas geschieht, das vom Ich in dieser Weise nicht gewollt wird und das seinen eigentlichen Interessen

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zentral entgegenwirkt. (Vgl. e. drewermann: Von Übertragung und Wiederholungszwang oder: Liebe zwischen Glückseligkeit und Unglück, in: E. Drewermann: Wege und Umwege der Liebe, 120–158.) Wohl wissen wir um das hehre Ziel aller freudschen Psychoanalyse: «Wo Es war, soll Ich werden» (vgl. Bd. I 50); doch angenommen selbst, es gelänge dem Ich, wichtige Stellen seiner eigenen Entstehungsgeschichte sich bewußtzumachen und etwas Licht in das Dunkel seines Unbewußten zu werfen, wäre dann schon seine Freiheit gesichert – oder nicht gar bloß eine erweiterte Form von Determination durch die neu auftauchenden Bewußtseinsinhalte etabliert worden? Es ist dies die Stelle, an welcher bei der Suche nach objektiven Entscheidungskriterien in dieser Frage die Neurologie ins Spiel kommt. Daß zu dem Thema Determination und (bzw. oder) Freiheit die Neurologie aussagekräftige Beiträge zu liefern vermag, wurde uns bereits deutlich, als wir das «Gesetz» der Kausalität – ganz im Sinne von david hume – als die Erfahrung (feel) einer Verknüpfung des Auftretens eines Ereignisses mit dessen üblichen Begleiterscheinungen betrachteten und dabei feststellten, daß diese Verknüpfung rein auf assoziativem Lernen beruht und der Kategorie der Kausalität nur eine subjektive, keine objektive Bedeutung zukommt (vgl. Bd. I 306 –308). Insbesondere die Erörterung der Verfahren, mit denen das Gehirn eine zeitliche Kohärenz des Erlebens herstellt, zeigte uns eine merkwürdige Irritierbarkeit bezüglich der Reihenfolge, nach welcher eine Serie von Reizen geordnet werden kann (s. o., S. 385). Verstehen wir unter Kausalität, gemäß der Definition von immanuel kant (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in 12 Bden., III 226 –242) den «Grundsatz der Erzeugung», daß alles, was geschieht, etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt, mithin eine Regel des Nacheinanders von Ereignissen in der Zeit, so ist klar, daß das Gehirn (mitunter) ursächliche Verknüpfungen herzustellen geneigt sein wird, die wir objektiv – als Initiatoren einer von außen im Experiment festgelegten Ereignisabfolge – als eindeutig falsch beurteilen müssen. Ja, es zeigt sich, daß wir uns manchmal Entscheidungen zuschreiben, die nachweisbar im Gehirn zeitlich früher getroffen worden sind, als wir sie zu treffen vermeinen, so daß wir uns offenbar als Akteure von Prozessen zu erleben vermögen, die sozusagen durch uns hindurch, doch nicht durch uns geschehen. Das Experimentum crucis in dieser Sache wurde von benjamin libet (geb. 1916) und seinen Mitarbeitern 1983 durchgeführt und wird seither immer wieder strittig diskutiert. (Vgl. benjamin libet – curtis a. gleason – elwood w. wright – dennis k. pearl: Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity [readiness-potential]: the unconscious initiation of a freely voluntary act, in: Brain,

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106/1983, 623 –642) »Wir fanden», resümiert libet (Mind Time, 159) seinen Versuch, «. . . dass das Gehirn einen einleitenden Prozess durchläuft, der 550 ms (sc. Millisekunden, d. V.) vor dem freien Willensakt beginnt; aber das Bewusstsein des Handlungswillens erschien erst 150 –200 ms vor der Handlung. Der Willensprozess wird also unbewusst eingeleitet, und zwar etwa 400 ms bevor die Versuchsperson sich ihres Willens oder ihrer Handlungsabsicht bewusst wird.» Wenn es sich so verhält, scheint die Selbstzuschreibung von Willensakten auf einem Irrtum zu basieren und Freiheit eine subjektiv (neuronal) bedingte Illusion zu sein. Der Wichtigkeit dieses Experiments wegen müssen wir es uns ein wenig näher anschauen. Alles begann mit einer Entdeckung von hans h. kornhuber und lüder deecke (Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale, in: Pflügers Archiv, 284/1965, 1–17), daß nämlich einer Willenshandlung stets eine meßbare elektrische Veränderung der Gehirnaktivität in einem Kopfhautareal des Parietallappens vorausgeht, und zwar etwa 800 Millisekunden (ms) vor dem Vollzug der Willenshandlung – weswegen diese elektrische Veränderung den Namen «Bereitschaftspotential» (BP) erhielt. Diese relativ lange Vorlaufzeit ließ benjamin libet vermuten, «dass es eine Diskrepanz zwischen dem Beginn der Gehirnaktivität und der Zeit des Erscheinens der bewussten Handlungsabsicht geben könnte». (Mind Time, 161) Um diesem «Verdacht» nachzugehen, sollten die Versuchspersonen in einem weiterführenden Experiment sich die Uhrzeit merken, wann ihnen die bewußte Absicht zu einer Handlung (etwa das rechte Handgelenk zu beugen) erlebbar geworden ist; dabei sollten sie nicht im voraus planen, sondern die Handlung «spontan» ausführen – der Vorgang der Handlungsplanung sollte von dem Prozeß des «Jetzt-Handels» unterscheidbar sein. So setzten libet und sein Team ihre Probanden in einem Abstand von 2,3 m vor ein Oszilloskop, dessen sich kreisförmig bewegender Lichtfleck den Gang des Sekundenzeigers einer außergewöhnlich schnellen Uhr simulierte: der Lichtfleck beschrieb auf dem Rand der Scheibe in 2,56 Sekunden einen Vollkreis; wie in Abb. D 34 zu sehen, gaben die Zahlen an der Peripherie die normale 60-Sekunden-Einteilung wieder; dabei entsprach jedoch jede markierte «Sekunde» in Wahrheit etwa 43 ms. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, das erste Bewußtsein ihrer Bewegungsabsicht mit der Position des Lichtflecks auf der «Uhr» zu verknüpfen und nach Beendigung des Versuchs diese «Uhr»zeit anzugeben. Diese Zeit für das subjektive Erleben des frühesten Bewußtseins des Wollens oder Wünschens einer Bewegung wird in Abb. D 35, welche die Abfolge der Ereignisse

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Abb. D 34: Die «Uhr» zur Zeitmessung des ersten Bewußtseins einer Bewegungsabsicht in benjamin libets Versuch

angibt, die einer selbst eingeleiteten Handlung vorhergehen, mit W bezeichnet. Zu jeder ausgeführten Bewegung, deren Beginn mit dem Elektromyogramm (EMG) bestimmt wurde, und der dazu gehörenden W-Zeit wurde das bei der Willenshandlung auftretende Bereitschaftspotential (BP) mit Elektroden am Kopf gemessen. Da jedes einzelne Bereitschaftspotential sehr klein ist und somit von der anderen Gehirnaktivität fast völlig überdeckt wird, mußten diese kleinen, einzelnen Bereitschaftspotentiale über viele einzelne Handlungen – in libets Experiment über 40 Einzelmessungen – aufgezeichnet und von einem Computer aufsummiert werden, so daß von diesem aufsummierten Potential dann die Zeit seines Auftretens (BP) ersichtlich war. Über diese 40 Einzelmessungen wurden die jeweils genannten W-Zeiten gemittelt, wobei die Standardabweichung – die Streuung der Meßwerte um den statistischen Mittelwert – für die W-Zeiten bei 20 ms lag und somit die Meßgenauigkeit als hinreichend zuverlässig gelten konnte. Damit war aber noch keine Aussage darüber möglich, wie richtig die von den Versuchspersonen genannten W-Zeiten tatsächlich den Zeitpunkt ihres bewußten Wollens oder Wünschens angaben. Um dies wenigstens abschätzen zu können, wurde in einem Vorversuch getestet, ob die Probanden überhaupt imstande waren, die «schnelle Uhr» richtig abzulesen. Dazu wurde zu einem Zeitpunkt S den Personen ein Hautreiz auf die Hand verabreicht, und die Personen mußten den Zeitpunkt ihrer Hautempfindung auf

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Abb. D 35: Abfolge der Ereignisse, die einer selbst eingeleiteten Handlung vorhergehen (BP I = Bereitschaftspotential bei vorausgeplanten Handlungen, BP II = Bereitschaftspotential bei Handlungen ohne Vorausplanung, W = subjektives Erleben des frühesten Bewußtseins des Bewegungswunsches, S = subjektive Datierung des Hautreizes, EMG = Elektromyogramm zur Messung der Muskelaktivierung zur Festlegung der Zeit t0 = 0 ms, an der die Handlung ausgeführt wird)

der schnellen Uhr ablesen, ihn sich merken und nach Versuchsende bekanntgeben. Auch dieser S-Wert wurde über 40 Einzelmessungen gemittelt. Es stellte sich heraus, daß die berichteten S-Zeiten immer ziemlich genau 50 ms vor den wirklichen S-Zeiten, also dem tatsächlichen Zeitpunkt, an dem die Reizung erfolgte, lagen. Die aus den Versuchsreihen ermittelte W-Zeit wurde entsprechend um diese –50 ms korrigiert. (Vgl. benjamin libet: Mind Time, 160; 163 –164.) Wie sich zeigte, trat bei nicht vorausgeplanten (spontanen) Bewegungen das Bereitschaftspotential BP II etwa 550 ms vor dem Bewegungsbeginn auf; demgegenüber trat bei vorausgeplanten Bewegungen das Bereitschaftspotential BP I um etwa 1000 ms früher auf. Interessant ist nun, daß bei allen Versuchsreihen der W-Wert 200 ms (korrigiert: 150 ms) vor Beginn der Handlung lag. Dabei war es egal, ob die W-Zeiten mit BP II (also mit spontanen Handlungen) oder mit BP I (mit vorausgeplanten Handlungen) assoziiert waren; mit anderen Worten: der Willensprozeß war bei spontanen wie vorausgeplanten Bewegungen derselbe und begann immer bei etwa –150 ms. (Vgl. benjamin libet: Mind Time, 170; 172.) Abb. D 35 gibt die Abfolge einer selbst eingeleiteten Handlung wieder. (Vgl. benjamin libet: Mind Time, 160–176; gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 518 –520.)

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Aus dieser Abbildung läßt sich ganz eindeutig ablesen: «Der Willensentschluß folgt dem Beginn des Bereitschaftspotentials, er tritt weder gleichzeitig auf, noch geht er ihm vorher. Was auch immer der Willensentschluß tut, er löst jedenfalls nicht das Bereitschaftspotential aus, von dem man annehmen darf, dass es die Bedingungen reflektiert, die eine Bewegung kausal hervorrufen.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 520) Gleichwohl glaubten libets Probanden, daß sie selber darüber entschieden hätten, ob überhaupt und wann sie eine Handlung einleiteten. Dieser Eindruck unterscheidet sich deutlich von dem Empfinden bei exogen erzeugten Muskelbewegungen, etwa bei der elektrischen Reizung des motorischen Cortex, die zu Kontraktionen bestimmter Muskelpartien führt; das Empfinden ist auch deutlich verschieden vom Erleben anderer Bewegungen, die ohne bewußten Willen zustande kommen, – ganz anders als bei der parkinson-Erkrankung mit ihren Schüttellähmungen, als beim tourette-Syndrom (nach georges gilles de la tourette, 1857–1904) mit seinen Tics, dem Armschleudern und der Koprolalie (von griech.: der kópros – Mist, die lalía – Gerede) oder als bei Zwangshandlungen neurotisch erkrankter Patienten, die allesamt nicht als frei, sondern als fremd und aufgezwungen erfahren werden. Neurologisch wissen wir, daß der Morbus parkinson mit Dopamin-Mangel zusammenhängt; beim tourette-Syndrom weist allem Anschein nach der Nucleus caudatus (der schwanzförmige Kern), der zu den Basalganglien gehört (vgl. Bd. I 77), «eine erhöhte Empfänglichkeit für Dopamin auf . . . Interessanterweise zeigen Patienten, die an zwanghaften Störungen leiden und für die es schwierig ist, einen Handlungsdrang zu unterdrücken, ebenfalls eine veränderte Aktivität im Nucleus caudatus.» (benjamin libet: Mind Time, 184) Es sieht mithin so aus, als setze insbesondere die Unterdrückung einer willentlichen Handlung «eine neuronale Einwirkung auf den Nucleus caudatus» voraus, wenngleich die Hemmung oder Aktivierung des Verhaltens wahrscheinlich vom Präfrontallappen aus gesteuert wird. (benjamin libet: A. a. O., 184) Die Tatsache, daß Handlungen, selbst wenn sie willentlich initiiert werden, nur zustande kommen können, wenn sie vom limbischen System «freigegeben» werden, hat uns schon bei der Besprechung der Willkürmotorik darüber nachdenken lassen, ob es unter diesen Umständen so etwas wie Freiheit überhaupt geben könne. (Vgl. Bd. I 82– 83.) Und diese Frage stellt sich jetzt noch stärker. Wenn der Willensprozeß unbewußt eingeleitet wird und wenn unsere Willenshandlungen von subcorticalen Instanzen «freigeschaltet» werden müssen, was für eine Rolle spielt dann der bewußte Wille? benjamin libet vermutet nun einerseits, der bewußte Wille könnte darüber entscheiden, «dass der Willensprozess sich vollenden und zu einer motorischen

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Handlung führen soll. Oder er könnte den Prozess blockieren bzw. ein ‹Veto› einlegen, so dass keine motorische Handlung stattfindet.» (Mind Time, 177) Eine große Schwäche solcher Mutmaßungen liegt freilich darin, daß ein spontanes Veto-Ereignis – bislang – empirisch nicht nachgewiesen ist (vgl. gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 520); libet argumentiert denn auch nur damit, daß er experimentell die Unterdrückung einer geplanten Handlung noch in den letzten 100– 200 ms vor dem intendierten Handlungszeitpunkt nachweisen konnte (vgl. Mind Time, 177) und daß es sogar sehr häufig vorkomme, daß wir eine im Grunde schon angelaufene Handlung zu unterdrücken vermögen, im Falle sie zum Beispiel nicht zu unserer Gesamtpersönlichkeit oder in den sozialen Kontext paßt (vgl. benjamin libet: A. a. O., 177; 182). Doch muß man an dieser Stelle wohl schon vormerken, daß damit für die Willensfreiheit eines solchen bewußten negativen Willensentschlusses durchaus noch nichts bewiesen wäre: wir handelten immer noch, entsprechend schopenhauers Argumentation, infolge der Festlegung durch den eigenen Charakter und auf Grund einer Determination durch die Umstände. Andererseits, mutmaßt libet, könnte dem bewußten Willen vielleicht positiv die Aufgabe zufallen, «als notwendiger Auslöser» zu «fungieren, damit der Willensprozess sich in einer Handlung niederschlägt. Das würde dem bewussten Willen eine aktive Rolle bei der Erzeugung einer motorischen Handlung verleihen.» (benjamin libet: A. a. O., 182) Er wäre negativ wie positiv so etwas wie eine Zulassungsbehörde für mögliche Handlungen. Aber, gibt libet selber zu: «Diese hypothetische Rolle des bewussten Willens wurde experimentell nicht gesichert.» (benjamin libet: A. a. O., 182) Wir müssen uns in der Tat nur daran erinnern, daß eine Art Relevanzprüfung (als Wettkampf verschiedener Neuronen-Ensembles bei der Verarbeitung von internen und externen Informationen) im Vorfeld bereits stattgefunden haben muß, ehe ein bestimmter Inhalt dem Bewußtsein sich als bedeutsam aufzwingt und dann zum Anlaß einer bewußten Stellungnahme – eines Willensentschlusses – werden kann; ja, wir sahen, daß schon auf der Ebene der Motoneuronen der Input gefiltert wird durch Effekte wie die Habituation und die Sensitivierung (vgl. Bd. I 289– 291); zudem wird der mögliche Entscheidungsspielraum durch emotional getönte Orientierungsvorgaben aus dem limbischen System, aus dem Werte-Kategorien-Gedächtnis (vgl. Abb. D 8; D 9; D 22), erheblich eingeschränkt, – wenn er überhaupt vorhanden ist. Was aus dem libetschen Experiment unter diesen Umständen nun eigentlich folgen sollte, wird seit rund 25 Jahren ebenso lebhaft wie kontrovers diskutiert. Eines scheint klar: Die Definition von Freiheit als einem Vermögen, Kausalität in der Zeitreihe anfangen zu lassen, die immanuel kant vor über

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225 Jahren vorschlug, ist in dieser Form nach libets Experiment nicht mehr zu halten, wenn auch der amerikanische Philosoph john r. searle (geb. 1932) sie noch im Jahre 2000 auf seine Weise von neuem ins Spiel bringen mochte. searle versteht unter einer (freien) Willenshandlung einen Akt, den ein bewußtes Selbst auf der Basis von Gründen beschließt und durchführt, indem es entsprechende Handlungen initiieren kann. (Vgl. john r. searle: Consciousness, free action and the brain, in: Journal of Consciousness Studies, 7 (10)/2000, 3– 32); gegen diese Auffassung eines gemäßigten kantianismus aber demonstriert libets Experiment zweifelsfrei, «dass der Prozess des ‹Jetzt-Handelns› unbewusst eingeleitet wird. Searles Modell macht geltend, dass ‹der freie Wille› während der ‹Lücke› zwischen dem Treffen einer Entscheidung und dem Beginn der Handlung auftritt. Die Lücke», stellt jedoch benjamin libet fest, «ist . . . unbewusst und liegt mit einer Dauer von 400 ms zwischen der Einleitung der Entscheidung (sc. dem Bereitschaftspotential BP bei –550 ms, vgl. Abb. D 35, d. V.) und der bewussten Entscheidung (sc. dem W-Zeitpunkt bei –150 ms, d. V.).» (benjamin libet: Mind Time, 204) Zudem ist nicht zu sehen, wie searles – rein spekulatives – Modell im Experiment je geprüft werden könnte. Andere Autoren wie wolfgang prinz (Freiheit oder Wissenschaft?, in: Mario von Cranach – Klaus Foppa: Freiheit des Entscheidens und Handelns, 99) leiteten vor 10 Jahren aus dem libetschen Experiment denn auch geradewegs die Unfreiheit des freien Willens ab: «Danach scheint es», schrieb prinz, «. . . als sei die Handlungsentscheidung längst gefallen, wenn die bewußte Intention ausgebildet wird. Wenn das zutrifft, kann die Handlungsintention nicht die kausale Grundlage der Handlungsentscheidung sein. Vielmehr kommt die Handlungsentscheidung in andern Prozessen zustande, die Libet als unbewußt bezeichnet.» Das trifft zwar zu, übersieht aber, wie benjamin libet (Mind Time, 184–185) selber geltend macht, «das Veto-Phänomen und die Tatsache, dass es (sc. das Gehirn, d. V.) eine potentielle kausale Rolle für den bewussten Willen bereitstellt». Indessen liegt das Problem, wie gesagt, gerade darin, daß dieses «Phänomen» und diese «kausale Rolle» experimentell (bislang) unerweisbar sind. Als wesentliche Folgerung aus benjamin libets Experimenten bleibt freilich festzuhalten: «Wenn der Gehirnprozess, der eine freie Willenshandlung einleitet, unbewusst ist, bekommt das Gefühl der bewussten Einleitung des Prozesses einen paradoxen Charakter. Wir wissen, dass wir uns des Drangs (oder Wunsches), zu handeln, vor der tatsächlichen motorischen Handlung bewusst werden. Das könnte uns zu dem Gefühl veranlassen, dass wir den Prozess bewusst eingeleitet hätten. Das Gefühl, dass wir die Willenshandlung eingelei-

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tet haben, kann jedoch nicht richtig sein; wir sind uns dessen nicht bewusst, dass der Prozess tatsächlich unbewusst stattfindet.» (benjamin libet: Mind Time, 185) Gegen diese Folgerung ist mit «technischen» Argumenten kaum anzukommen, wie etwa mit dem Hinweis auf den Umstand, daß «die Bestimmung des Zeitpunktes der bewussten Entscheidung» sowie die Messung der Bereitschaftspotentiale, die ja sehr klein sind und fast vollständig von den anderen Gehirnaktivitäten überlagert werden, «eine Fehlerquelle» beinhalten könnten, die den Aussagewert des Experimentes gänzlich in Frage stellen würde. (michael pauen: Illusion Freiheit?, 208) Es wäre, macht gerhard roth (Fühlen, Denken, Handeln, 521) gegen einen solchen Einwand geltend, «keine systematische Beziehung zwischen dem zeitlichen Auftreten des Willensaktes und des Beginns des Bereitschaftspotentials» möglich, wenn libets Messungen unzutreffend wären, – es bliebe «rätselhaft, warum Ersteres Letzterem immer folgte. Vielmehr wäre ein völlig unsystematischer zeitlicher Bezug zu erwarten.» Gleichwohl gibt es denn doch zwei Einwände gegen libets Experiment, die neurologisch argumentieren und wirklich bedenkenswert sind. Da ist zum einen die Tatsache, daß libets Aufgabenstellung zu simpel sein könnte: die willkürliche Bewegung eines Fingers oder eines Handgelenks ist eine vollkommen mechanisierte Bewegung, – wir sahen, daß ein Tennisspieler seine in Sekundenbruchteilen abrufbaren motorischen Reaktionen vor allem unter Beteiligung des Kleinhirns vollzieht (vgl. Bd. I 113); würde er erst nachdenken müssen, wie er einen Ball retournieren soll, der mit einer Geschwindigkeit von ca. 130 km/h auf ihn zufliegt, könnte er das Spiel gleich drangeben; andererseits ist für die wie automatisch ablaufenden Bewegungen eine hohe bewußte Konzentrationsbereitschaft sowie eine enorme, alle physischen Reserven mobilisierende Motivation erforderlich, – kurz, es könnte sein, daß die einzelne motorische Willenshandlung zu banal ist, um eine bewußte Entscheidung zu erfordern, daß sie aber gerade in ihrer Bereitstellungsphase sehr wohl von einem bewußten Willen gelenkt ist; dem Bewußtsein käme in diesem Falle «nur» die Aufgabe zu, die schon vorhandene motorische Mechanik, wie ein Autofahrer ein Auto, in die «richtige» Richtung zu lenken, im Falle des Tennisspielers also den Ball möglichst unangenehm für den Gegner zurückzuschlagen. Die Willensfreiheit träte in dieser Deutung erst auf einer höheren Stufe des Bewegungsablaufs in Erscheinung: nicht zwischen dem motorischen Bereitstellungspotential und der Ausführung der Bewegung, sondern in der «Modellierung» des Bewegungsablaufs; und selbst diese «Formung» der Bewegungen von Arm, Hand, Rückgrat, Beinen müßte, obwohl als ganze bewußt, in allen Einzelheiten unbewußt vollzogen werden, um rasch genug abzulaufen.

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Ein weiterer Einwand richtet sich denn auch gegen die methodische Voraussetzung, das Bereitschaftspotential selbst lege bereits das motorische Verhalten fest. Das muß selbst nach libets Messungen durchaus nicht so sein. Näherhin nämlich ist das Bereitschaftspotential, das libet über dem supplementärmotorischen Areal (SMA) und über dem prämotorischen Areal gemessen hat (vgl. Abb. A 12; Bd. I 80 –81; 167), im ersten Teil symmetrisch, im zweiten aber ist asymmetrisch-kontralateral. Es ist «also anzunehmen, dass zum symmetrischen Bereitschaftspotential noch irgend etwas hinzukommen muß, ehe die Reaktion wirklich ausgelöst wird, und dies könnte der freie Wille sein.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 521) Wie soll zum Beispiel ein symmetrisches Bereitschaftspotential die Entscheidung festlegen können, ob eine Bewegung mit der linken oder mit der rechten Hand ausgeführt wird? Mithin könnte das asymmetrische (lateralisierte) Bereitschaftspotential der Ausdruck einer willentlichen Festlegung sein. Dieser Möglichkeit gingen patrick haggard und martin eimer (On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements, in: Experimental Brain Research, 126/1999, 128–133) in einem eigenen Versuch nach, indem sie, anders als libet, nicht nur das symmetrische, sondern auch das lateralisierte Bereitschaftspotential maßen; von diesem glaubt man, daß es die Aktivität des dorsolateralen prämotorischen und motorischen Cortex zum Ausdruck bringt und «spezifischer für die nachfolgende Bewegung» ist «als das symmetrische Bereitschaftspotential». (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 522) haggard und eimer stellten ihren Probanden die Aufgabe, innerhalb von drei Sekunden eine linke oder eine rechte Taste zu drücken, und fanden, daß die Wahl zwischen rechts und links durchschnittlich zwischen 355 und 353 ms vor der Bewegung selbst subjektiv nicht als unterschieden erlebt wird; der Beginn des lateralisierten Bereitschaftspotentials lag bei einer «freien» Wahl zwischen links und rechts bei 798 ms, bei einer «fixierten» Wahl (nur links oder nur rechts) bei 895 ms vor Handlungsbeginn. Mit einem Wort: auch das lateralisierte Bereitschaftspotential, ob «frei» oder «fixiert», lag stets vor dem Zeitpunkt des Willensentschlusses, und zwar um durchschnittlich 350 ms. (Vgl. gerhard roth: A. a. O., 522.) Allerdings zeigten die Meßdaten der einzelnen Probanden zum einen eine große Streuung, zum anderen trat bei etwa 25% das lateralisierte Bereitschaftspotential erst nach der Entscheidung der Versuchspersonen auf. «Will man nicht davon ausgehen», wendet michael pauen deshalb ein, «dass hin und wieder einmal die Wirkung vor der Ursache auftrat, dann wird man sich die Frage stellen müssen, ob hier wirklich eine kausale Abhängigkeit der bewussten Entscheidung vom

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Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials vorliegt.» (michael pauen: Illusion Freiheit?, 207) Genau das aber halten haggard und eimer für gegeben. gerhard roth resümiert ihr Resultat (vielleicht allzu sicher): «Es kann nunmehr (sc. nach den entsprechenden Versuchen, d. V.) keinen Zweifel daran geben, dass unter den gegebenen Bedingungen der Entschluss, eine bestimmte vorgegebene oder frei zu wählende einfache Bewegung auszuführen, mehrere hundert Millisekunden nach Beginn des lateralisierten Bereitschaftspotentials auftritt, und dabei eindeutig einem frühen oder späten Beginn dieses Potentials folgt. Hierbei ist die bereits erwähnte Tatsache besonders zu beachten, dass das lateralisierte Bereitschaftspotential der ausgelösten Bewegung viel spezifischer (und zeitlich kürzer) vorhergeht und dass die mit ihm erfasste Aktivität nach allem, was wir wissen, die Bewegung in ihren Details festlegt. – Wir müssen also davon ausgehen, dass unter den gegebenen Bedingungen das Gefühl, etwas jetzt zu wollen . . ., sich erst kurze Zeit nach Beginn des lateralisierten Bereitschaftspotentials entwickelt, und dass die erste Komponente, das symmetrische Bereitschaftspotential, sich weit vor dem ‹Willensentschluss› aufbaut. Der Willensakt tritt auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 523) Eine eindeutige Konsequenz aus diesem Befund hat mittlerweile daniel m. wegner (The Illusion of Conscious Will, 2; dt.: die Illusion des bewußten Willens) gezogen. (Vgl. hubertus breuer: Gedankenschranken, in: Gehirn und Geist, 2/2003, 10 –12.) «Dies», schreibt wegner mit Bezug zu den Versuchen von libet, haggard und eimer, «bedeutet . . ., dass der bewusste Wille eine Illusion ist. Er ist eine Illusion in dem Sinne, dass die Erfahrung, eine Handlung bewusst zu wollen, kein Anzeichen dafür ist, dass der bewusste Gedanke die Handlung verursacht hat. So gesehen, könnte der bewusste Wille in der Tat eine außergewöhnliche Illusion sein – das Gegenstück dazu, dass ein Magier einen Elefanten aus der Falte seines Taschentuches hervorzaubert. Wie ist es möglich, dass es uns so erscheint, als würde unser Wille unsere Handlungen hervorbringen, wenn dies doch gar nicht der Fall ist?» (Zit. n. michael pauen: Illusion Freiheit?, 209; vgl. zu daniel m. wegners Thesen auch hubertus breuer: Gedankenschranken, in: Gehirn und Geist, Dossier: Angriff auf das Menschenbild, 1/2003, 52 –54; sukhvinder s. obhi – patrick haggard: Der freie Wille auf dem Prüfstand, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Gehirn und Erleben, 2/2006, 8 –13.) Diese Frage erscheint jetzt nur allzu berechtigt, und sie läßt sich beantworten. Als erstes kann man mit wolfgang prinz (Freiheit oder Wissenschaft?, in: Mario von Cranach – Klaus Foppa: Freiheit des Entscheidens und Handelns,

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98) auf die Beeinflussung der gesellschaftlichen (Vor)Urteile hinweisen. «Daß wir uns frei fühlen, auch wenn wir nicht frei sind», schreibt er, «verdanken wir den Interpretationskonstrukten des in modernen Gesellschaften verbreiteten psychologischen Common Sense. Dieser Common Sense (sc. engl.: allgemein herrschende Ansicht, d. V.) und der mit ihm einhergehende Handlungsjargon sind das Vehikel, über das Strukturmerkmale der Gesellschaft in das Seelenleben ihrer Akteure zu diffundieren. Die Idee der Willensfreiheit ist danach ein politisches Konzept, das in den Diskursen von Moral und Recht psychologische Wirksamkeit entfaltet.» Der Glaube an die «Willensfreiheit» stellt mithin ein soziales Konstrukt dar, nicht anders, als «die Person» in der Psychoanalyse lacans eine reine Zuschreibung der Gesellschaft bildete; der Zweck dieser – in der Tat von Gesellschaft zu Gesellschaft variablen – Auffassung von der Freiheit des Willens liegt augenscheinlich in der moralisch-juristischen Verfügbarmachung des Einzelnen durch die Sozietät: schließlich kann man einen Menschen für seine Taten nur dann gerechterweise zur Verantwortung ziehen und ihn gegebenenfalls mit empfindlichen Strafen belegen, wenn er als mit freiem Willen begabt betrachtet wird. Ganz entsprechend verwahrt sich denn auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages zwischen 1992–1995, herbert helmrich, gegen die libetschen Insinuationen (Das verbiete ich mir. Im Hirn: Bereitsein ist noch kein Wollen, in: FAZ, 30.12.2003, S. 33); doch kann man die öffentliche Moral verteidigen, indem man bestimmte Forschungsergebnisse sich schlicht «verbietet»? – Allerdings bleibt es die Frage, warum sich das Individuum so leicht und so (fast) ausnahmslos in einem derart wichtigen Punkt von seiten der Gesellschaft zu einer illusionären Auffassung über sich selber verleiten läßt. Wie bildet sich die subjektive «Evidenz», frei zu sein? Eine ganze Reihe von Erklärungen kommen dabei in Frage. Die erste stammt von david hume und ist uns bereits bei der Beschäftigung mit den assoziativen Lernvorgängen begegnet (vgl. Bd. I 306– 308). In seinem Hauptwerk Ein Traktat über die menschliche Natur von 1740 führte er aus, daß Wille «nichts anderes meine, als den innerlichen Eindruck, den wir fühlen und dessen wir uns bewußt werden, wenn wir mit Bewußtsein eine Bewegung unseres Körpers oder eine Perzeption des Geistes ins Dasein rufen.» (2. Buch, 3. Teil, 1. Abschn., S. 136) So wie wir – zumindest gemäß der Emotionstheorie von william james und karl g. lange – zunächst merken, daß wir weinen, und dann erst ein Gefühl der Traurigkeit erleben (vgl. Bd. I 571–572), so ist nach hume auch der Wille nur ein subjektiver Eindruck, der sich einstellt, wenn wir einer körperlichen oder geistigen Bewegung bewußt werden; und wie wir bei der Betrachtung äußerer Erscheinungen, die «beständig und unab-

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änderlich miteinander verbunden sind», zwischen ihnen einen kausalen Zusammenhang herstellen, so sollten wir eigentlich auch bei «der Beurteilung menschlicher Handlungen . . . nach denselben Grundsätzen» verfahren. (david hume: A. a. O., 141; 140) Denn: «Keine Verbindung . . . ist beständiger und sicherer als die Verbindung gewisser Handlungen mit gewissen Motiven und Charakteren.» (david hume: A. a. O., 141) Daß wir gleichwohl «die Freiheitslehre zur Herrschaft . . . gelangen» sehen, hat nach hume (Ein Traktat über die menschliche Natur, 2. Buch, 3. Teil, 2. Abschn., S. 145–150) drei Gründe: 1) Wir erleben unsere Taten nicht als notwendig, wofern wir nicht Gewalt und Zwang auf uns einwirken spüren; diese «Freiheit der Spontaneität» aber, die im Gegensatz zu Gewalt und Zwang steht, darf nicht verwechselt werden mit der «Freiheit der Indifferenz», die als einzige das Wirken von Notwendigkeit und Ursächlichkeit aufheben würde. (Vgl. david hume: A. a. O., S. 145.) 2) «Wir fühlen, daß unsere Handlungen in den meisten Fällen von unserem Willen abhängen, und bilden uns nun ein, wir fühlten, daß der Wille selbst von uns nicht abhängig sei.» (david hume: A. a. O., 146) Das heißt, man verwechselt Handlungsfreiheit mit Willensfreiheit. Und 3) man argumentiert mit «der Religion, die sehr überflüssiger Weise in diese Frage hineingezogen» wird, um «eine Hypothese abzuweisen unter dem Vorwand ihrer gefährlichen Folgen für Religion und Sittlichkeit». (david hume: A. a. O., 146) Gerade dagegen verwahrte sich david hume. Alle «menschlichen Gesetze», meinte er, gründeten «sich auf Belohnung und Strafe», und «diese Art von Notwendigkeit» sei «für Religion und Moral so wesentlich . . ., daß ohne sie beide völlig zerstört würden». (david hume: A. a. O., 148) Würde das Tun eines Menschen – entsprechend der «Freiheitshypothese» – nicht seiner Person, seinem Charakter entspringen, so bliebe sein Handeln rein zufälliger Natur und es würde «unmöglich, daß die Person deswegen Gegenstand der Strafe oder Rache werde . . . Nur wenn das Prinzip der Notwendigkeit Geltung hat, gewinnt ein Mensch durch seine Handlungen Wert oder Unwert.» (david hume: A. a. O., 149) Um der Zurechenbarkeit (also auch um der Strafbarkeit) willen muß daher nach hume paradoxerweise das menschliche Wollen als kausal determiniert betrachtet werden. – Augenscheinlich bilden hume und kant mit ihren Arbeiten die logischen Pole in der Debatte um die Freiheit: während der letztere die Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Moralität postulieren zu müssen meinte, glaubte der erstere sie in gleicher Absicht leugnen zu sollen. Freilich blieb die «Zuschreibung», die hume vornahm, eine äußere, von einem «objektiven» Beobachter stammende, und es ist nicht zu sehen, wie Moralität und Religiosität Bestand haben könnten, wenn ein Mensch sich selbst ebenso – als unfrei – betrachten würde.

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Ganz im Gegenteil sehen wir die Menschen sich ihre Taten als in Freiheit vollzogene zurechnen, und der Grund dafür dürfte, tiefer noch als in gewissen logischen Verwechslungen, in der Eigenart ihres Selbstbewußtseins gegründet sein; jedenfalls legt sich dieser Gedanke nach allem, was wir neurologisch über die Entstehung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein gesagt haben, wie selbstverständlich nahe. Gegen die Ansicht, Freiheit – definiert als Selbstbestimmung – sei etwas objektiv Gegebenes, läßt sich der ebenso einfache wie fundamentale Einwand ins Feld führen, daß das Selbst sich gerade dadurch bilde und eben darin bestehe, eine Reflexivität zu ermöglichen, die es vor den eigenen Augen als Subjekt seiner Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche und Planungen erscheinen lasse; alles, was jean-paul sartre uns phänomenologisch zeigen konnte, deckt sich vollkommen mit dieser Innenansicht des Bewußtseins für sich selbst; Bewußtseinsinhalte können trügerisch sein, auch wenn sie subjektiv als evident erscheinen, und sie werden als solche erkennbar, sobald wir die Gründe begreifen, aus denen sie hervorgehen. Jenseits der (trotz allem nicht unstrittigen) Debatte um libets Experiment ist dies die Position, die insbesondere gerhard roth als einer der prominentesten Vertreter des Neurodeterminismus einnimmt. (Vgl. Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Gehirn und Geist, 6/2004, 30 –36; vgl. dagegen christian schwägerl: Die Schönheit der Hirnfuge. Elf deutsche Spitzenforscher fordern per Manifest das Ende des neuronalen Reduktionismus, in: FAZ, 15. Okt. 2004, S. 42; christian geyer: Hört auf mit der Effekthascherei, in: FAZ, 16.6.2005, S. 40.) «Welche Funktion könnte das Ich (sc. in unserer obigen Sprechweise «das Selbst», d. V.) haben?» fragt gerhard roth und antwortet, das Ich sei als erstes «das Zentrum einer virtuellen Welt . . ., die wir als unsere Erlebniswelt erfahren, als Wirklichkeit . . . Diese erlebte Welt», fährt er fort, «wird von unserem Gehirn in mühevoller Arbeit über viele Jahre hindurch konstruiert und besteht aus den Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühlen, Wünschen und Plänen, die unser Gehirn hat. Innerhalb dieser Welt bildet sich . . . langsam ein Ich aus, das sich zunehmend als vermeintliches Zentrum der Wirklichkeit erfährt, indem es den Eindruck entwickelt, es ‹habe› Wahrnehmungen (d. h. dass Wahrnehmungen auf es bezogen sind), es sei Autor der eigenen Gedanken und Vorstellungen, es rufe aktiv die Erinnerungen auf, es bewege den Arm, die Lippen, es besitze diesen bestimmten Körper, und so fort. – Selbstverständlich ist dies eine Illusion, denn Wahrnehmungen, Gefühle, Intentionen und motorische Akte entstehen innerhalb der Individualentwicklung

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lange bevor das Ich entsteht. Dieses übernimmt – einmal entstanden – auch nicht die tatsächliche Kontrolle über diese Zustände.» Statt dessen erfülle es als erstes seine Funktion «als Zuschreibungs-Ich: Das Gehirn entwickelt eine von Bewusstsein begleitete Instanz, über die es zu einer cortikalen Erlebniseinheit wird, und damit kommt es zur Ausbildung von Identität. Dieser Prozess ist stark an die Ausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses gebunden.» – Eine zweite Funktion des Ich bestehe «im Handlungs-Ich bzw. im WillensIch». Auch hier gehe es «um die Schaffung einer virtuellen Instanz, die sich selbst Intentionen, Absichten und Handlungsfähigkeit zuschreibt.» Dies sei unerläßlich, weil die Repräsentation aller Systeme und Subsysteme im Bewußtsein, die an der Auslösung einer Handlung beteiligt sind, «eine effektive Handlungssteuerung schwierig oder gar unmöglich machen» würde. – Eine dritte Funktion bestehe «im Interpretations- und Legitimations-Ich. Das bewusste, sprachliche Ich hat die Aufgabe, die eigenen Handlungen vor sich selbst und insbesondere auch vor der sozialen Umwelt zu einer plausiblen Einheit zusammenzufügen und zu rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, ob die gelieferten Erklärungen auch den Tatsachen entsprechen.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 395– 396; vgl. auch thomas metzinger: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität, in: Christoph S. Herrmann u. a.: Bewusstsein, 242 –269.) Tatsächlich deutet vieles auf eine solche Sicht der Dinge hin. Erinnern wir uns nur daran, wie das Gehirn den optischen Input zu einem Bild der Wirklichkeit zusammensetzt, ohne daß wir von all diesen komplizierten Vorgängen irgend eine bewußte Vorstellung besäßen; tritt aber das selbstkonstruierte Bild in unser Bewußtsein, so glauben wir augenblicklich, daß es unser Ich sei, welches das Subjekt der Wahrnehmung bilde (vgl. Bd. I 439– 459); dieser Glaube an unsere Ichhaftigkeit, an unsere Personalität aber gründet keineswegs auf unumstößlichen Tatsachen – der Buddhismus bereitete uns schon vor auf diese prinzipielle Desillusionierung derartiger vermeintlicher Selbstgewißheiten. Wie weit die Selbstzuschreibung geglaubter freier Willensentschlüsse irrtümlicherweise gehen kann, ist uns aus vielen schon genannten Gestaltbildern neurotischer oder psychiatrischer Erkrankungen geläufig: Wohl niemand wähnt sich so frei wie eine Person, die an einer bipolaren affektiven Störung leidet und sich gerade in einer manischen Phase befindet (s. o. S. 150 –152); ähnliches kann auch geschehen unter Alkoholeinfluß (vgl. Bd. I 540 –548) oder in den «entgrenzenden», das Ichbewußtsein auflösenden Wirkungen psychedelischer Drogen (vgl. Bd. I 553 –561); in letzterem Falle wird das Ich, obwohl es nur Zustände erlebt, die im eigenen Gehirn produziert werden, darauf beharren, etwas

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«Wirkliches» zu beobachten, nicht anders, als es in epileptiformen oder schizophrenen Halluzinationen der Fall zu sein pflegt. (Vgl. franz x. vollenweider – margreet f. i. vollenweider-scherpenhuyzen – katja ludewig: Zwischen Wahn und Wirklichkeit, in: Gehirn und Geist, 4/2002, 36– 42.) Offenbar schreibt das Ich sich automatisch alle psychischen Zustände und Wahrnehmungen zu, die im Bewußtsein auftauchen. (Vgl. gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 514.) Besonders augenscheinlich wird dieser Automatismus bei den – an sich höchst bedenklichen – Hypnose-Demonstrationen in Varieté und Fernsehen. Da tun Menschen unter fremdem Befehl Dinge, für die sie sich in bewußtem Zustand sicher schämen würden: sie fangen an, sich auszuziehen, vollführen bizarre Bewegungen, kriechen unter den Stuhl, nur um nach ihrer Rückversetzung in den Wachzustand zu erklären, es sei ihnen zu heiß gewesen, sie hätten etwas Gymnastik treiben wollen oder sie hätten nach einer verlorenen Geldmünze suchen wollen. Ganz wie Zwangsneurotiker ihre Marotten und Tics als etwas unbedingt Vernünftiges und aus Überzeugung frei Gewolltes zu rechtfertigen pflegen, so wird das Ich auch am Ende einer Hypnose seiner Funktion nachkommen und alles Geschehene als etwas in Freiheit Gewirktes zu kaschieren suchen. Desgleichen führt eine Stimulation der Faserbahnen, die vom Thalamus durch die Basalganglien zum Cortex ziehen (vgl. Abb. A 12), zu Bewegungen, die, obgleich extern erzeugt, der Patient sich selber zuschreibt. (Vgl. gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 516.) daniel m. wegner (The Illusion of Conscious Will, 149) erblickt in solchen Fehlzuschreibungen denn auch Belege für seine These vom illusionären Charakter der Willensfreiheit. Gegen eine solche Argumentation läßt sich nicht anführen, ich könne mich halt «hin und wieder einmal in meinem eigenen Willen» täuschen, «wenn ich . . . einen nicht wirksamen Wunsch für einen wirksamen Willensakt halte oder wenn mir eine faktisch wirksame Intention nicht bewusst wird»; vor allem seien solche «Irrtümer . . . in solchen Szenarien zu erwarten, die weit von normalen Handlungssituationen abweichen.» (michael pauen: Illusion Freiheit?, 214) Es geht nämlich darum, daß die Selbstzuschreibung einen automatischen Vorgang darstellt, der die Struktur des Selbstbewußtseins ausmacht, ja, der überhaupt erst erklärt, für welchen Zweck ein solches Bewußtsein sich entwickelt hat. Freiheit, verstanden als Selbstbestimmung, ist offenbar nicht wirklicher als der Mechanismus der Selbstzuschreibung in allen anderen Fällen der Wahrnehmung, der Gedankenführung, der Aufmerksamkeitslenkung usw. Ein Autor wie julius kuhl (Wille und Freiheitserleben: Formen der Selbststeuerung, in: J. Kuhl – H. Heckhausen: Motivation, Volition und Handlung, 745) meint so-

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gar, es sei die Vorstellung von «objektiver Freiheit im Sinne der nicht vollständigen kausalen Determiniertheit psychischer Vorgänge . . . eine Art naiver Realismus», ähnlich wie der erkenntnistheoretische Realismus mit seiner Vorstellung, die Dinge seien just so, wie wir sie wahrnähmen; eine Person, die erlebt, daß sie ihre Ziele ungehindert verfolgen kann, glaube halt, sie sei nicht determiniert und handle frei (julius kuhl: A. a. O., 747). «Worum es letztlich geht,» meint gerhard roth (Fühlen, Denken, Handeln, 533), «ist die Autonomie menschlichen Handelns, nicht Willensfreiheit. Autonomie ist die Fähigkeit unseres ganzen Wesens, innengeleitet, aus individueller Freiheit (sc. im Sinne von Unabhängigkeit gegenüber externen Faktoren, d. V.) heraus zu handeln, und zwar gleichgültig ob bewusst oder unbewusst.» Und ganz im Sinne humes führt er aus: «Gerade dies würde durch eine Willensfreiheit, die sich außerhalb des limbischen Bewertungssystems und damit gegen die Erfahrung (sc. der individuellen Biographie, d. V.) stellt, verhindert. Autonomie im starken Sinne ist mit Willensfreiheit unverträglich.» (Vgl. gerhard roth: Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Christian Geyer [Hg.]: Hirnforschung und Willensfreiheit, 218 –222; wolf singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: A. a. O., 30– 65.) Nachdrücklicher läßt sich der Eindruck der «Selbstbestimmung» nicht als ein subjektiver Schein demontieren; nicht daß wir selber frei etwas wollen, nur daß wir selber es sind, die zwangsläufig etwas frei zu wollen glauben (das in Wirklichkeit durch Phylogenese und Ontogenese sowie durch den individuellen Werdegang determiniert ist), ergibt sich aus den so interpretierten Befunden der Neurologie.

c) Das Problem der Willensfreiheit: eine dialektische Vermittlung Es muß, wer in angegebener Weise der Auffassung des «Neurodeterminismus» zustimmt, nicht auch schon ein Vertreter des metaphysischen Determinismus sein, wonach alle Prozesse in der Welt einer durchgehenden Naturnotwendigkeit unterliegen; gleichwohl hängt das eine mit dem anderen zusammen: Wie soll es in einer determinierten Welt Freiheit geben können? peter van inwagen (An Essay on Free Will, 16; 56) formuliert die Auffassung von der Determiniertheit unseres Handelns auf Grund der Determiniertheit der Welt in dem sog. «Konsequenz-Argument»: «Wenn der Determinismus zutrifft, dann sind

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unsere Handlungen die Konsequenzen von Naturgesetzen und Ereignissen in der fernen Vergangenheit. Aber es hängt nicht von uns ab, was vor unserer Geburt passierte, und es hängt ebenfalls nicht von uns ab, wie die Naturgesetze sind. Dies bedeutet, dass die Konsequenzen dieser Umstände (einschließlich unserer gegenwärtigen Handlungen) nicht von uns abhängen.» (Zit. n. michael pauen: Illusion Freiheit?, 137.) Doch stimmt diese Behauptung? Einleuchtend an van inwagens These ist die Unmöglichkeit eines Menschen, Ereignisse in der Vergangenheit zu manipulieren oder die Naturgesetze zu kontrollieren; es ist ebenso klar, daß aus den Vorgängen der Vergangenheit sich Festlegungen für die Gegenwart ergeben; doch warum soll es von vornherein unmöglich sein, mit den jetzt so entstandenen Tatbeständen kreativ umzugehen? Auf diesen Einwand laufen mit Recht die Überlegungen hinaus, die michael pauen (Illusion Freiheit?, 136–154) gegen das «Konsequenz-Argument» geltend macht. Nehmen wir an, jemand kaufe sich ein Auto; das Gefährt wurde hergestellt entsprechend den Naturgesetzen und im Verlauf eines Verfahrens, auf das der Käufer keinerlei Einfluß hatte; beides aber hindert ihn jetzt durchaus nicht, ganz im Gegenteil, es ermöglicht ihm gerade erst, mit seinem Auto ab sofort in eigener Regie zu (ver)fahren. Festgelegt aus der Vergangenheit ist die gesamte Welt der sartreschen «Faktizität»; doch gerade sie steht nun zur Disposition entsprechend den bedeutungverleihenden Vorgaben unseres eigenen «Entwurfs». Um von einer Determination unseres Wollens und Handelns in der Gegenwart durch die Macht der Vergangenheit sprechen zu können, müßte demgegenüber gezeigt werden, daß wir innerlich einer durchgehenden Kausalität unterliegen, das heißt, wir müßten im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes nachweisen können, wie die Gesetze der Physik die Gesetze der Chemie festlegen, diese die Gesetze der Biologie, diese die Gesetze der Psychologie (wenn es denn solche gibt!), und diese müßten die Gesetze der menschlichen Geschichte bestimmen (die erst noch zu finden wären); in einem strengen Sinne müßten wir mithin eine rein reduktionistische Beweiskette vorlegen können, um die Willensfreiheit mit Berufung auf eine universale Naturkausalität leugnen zu können. Nun besteht der «Traum» der Physik in der Tat in eben einer solchen «Theorie von allem» – von dem Astronomen pierre simon de laplace (1749 – 1827) mit seiner Mechanik des Himmels von 1799 beginnend bis hin zu albert einstein (1879 –1955) und seinen «Schülern» im 20. Jh. In einem Artikel aus dem Jahre 1931 Wie ich die Welt sehe bekannte der Begründer der Relativitätstheorie freimütig: «An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube

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ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: ‹Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will› hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewußtsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, daß wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht läßt.» (albert einstein: Mein Weltbild, hg. v. Carl Seelig, 7) In gewissem Sinne konsequent schließt einstein an gleicher Stelle die Vorstellung eines Gottes aus, der die Züge einer Person mit einem freien Willen zeigen oder gar als ein weltjenseitiger Richter auftreten könnte: «Einen Gott,» schreibt er ausdrücklich, «der die Objekte seines Schaffens belohnt und bestraft, der überhaupt einen Willen hat nach Art desjenigen, den wir an uns selbst erleben, kann ich mir nicht einbilden. Auch ein Individuum, das seinen körperlichen Tod überdauert, mag und kann ich mir nicht denken; mögen schwache Seelen aus Angst oder lächerlichem Egoismus solche Gedanken nähren. Mir genügt das Mysterium der Ewigkeit des Lebens und das Bewußtsein und die Ahnung von dem wunderbaren Bau des Seienden». (albert einstein: A. a. O., 10) Es ist sehr die Frage, ob eine solche kosmische Religiosität wirklich «genügt», um die Herausforderung der individuellen Existenz zu bestehen (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 737–742); für alle aber, die – zum Beispiel im «Bibelgürtel» der USA – speziell einstein für ihre Theorie vom «intelligent design» vereinnahmen möchten, die sie dann flugs mit dem Schöpfergott der Bibel identifizieren, der sich in Christus «geoffenbart» habe, bedeutet es gewiß einen herben Schock, wenn sie lesen müssen, wie gerade einstein 1929 in einem Telegramm an Rabbi herbert s. goldstein erklärte: «Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit dem Schicksal und den Handlungen der Menschen abgibt.» Und weiter im gleichen Jahr: «Für Spinoza sind das Psychische und das Physische nur verschiedene Erscheinungsformen einer einheitlichen gesetzlichen Wirklichkeit. Diese Auffassung ist als wissenschaftliche Erkenntnis Allgemeingut aller geistig strebenden Menschen geworden; je besser man das Wirken des Universums versteht, um so näher kommt man Gott.» (alice calaprice: Einstein sagt, 175) Ja, in einem Bild, das der hinduistischen Bhagavadgita entstammen könnte, schrieb einstein in der Saturday Evening Post vom 26. Okt. 1929: «Alles wird bestimmt, der Anfang wie auch das Ende,

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durch Kräfte, über die wir keine Macht haben. Es bestimmt für die Insekten wie für die Sterne. Menschen, Pflanzen oder kosmischer Staub, wir tanzen alle nach einer bestimmten Melodie, die aus der Ferne von einem unsichtbaren Pfeifer angestimmt wird.» (alice caprice: Einstein sagt, 174) – In dem «Lied der Gottheit» der großen Naturreligion Indiens spricht der Gott Vishnu zu dem kampfesmüden Kunti-Sohn Ardschuna ganz ähnlich: Der Herr, der in den Herzen weilt, Durch seiner Maya Wundertat Läßt tanzen aller Wesen Schar Wie Gliederpuppen an dem Draht. (Bhagavadgita, XVIII 61, S. 101)

Dieser Marionettentanz des Daseins, der sich dem Wahrheitsuchenden beim Betrachten des Lebens offenbart, läßt sich wissenschaftlich in der Tat nur behaupten, wenn, im Sinne spinozas, das «Psychische» und das «Physische» (Denken und Ausgedehntsein, die res cogitans und die res extensa des descartes) auf ein und denselben Ursprung zurückgeführt werden können. – Ist das aber möglich? Ist es menschenmöglich? Auf diese Fragen richten sich manche Einwände, die von den Verteidigern der Willensfreiheit gegen die Vorstellung eines universalen Determinismus geltend gemacht werden; und ganz unbegründet ist ihre Skepsis nicht. Denn was überhaupt ist ein «Naturgesetz»? – Die Natur selber kennt keine Gesetze; sie ist einfach. Es sind wir Menschen, welche die Abläufe der Natur nach unseren Verstandesgesetzen zu ordnen versuchen (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 339 –372: Was ist ein Naturgesetz?); schon von daher ist es ganz unwahrscheinlich, daß es jemals Gesetze geben wird, welche die Wirklichkeit vollständig zu beschreiben vermöchten; vielmehr spricht alles dafür, daß die Welt weit größer ist als unser Geist, der ihr entstammt. Des weiteren: Es ist offensichtlich, daß selbst im Rahmen der von Menschen formulierten Naturgesetze unsere Kenntnis des Zusammenspiels dessen, was wir als die vier Grundkräfte der Natur bezeichnen (Gravitation, Starke Wechselwirkung, Schwache Wechselwirkung und Elektromagnetische Wechselwirkung; vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 809– 881), nach wie vor höchst unvollkommen ist; man würde derzeit gewiß nicht jeden Tag in den Naturwissenschaften etwas Neues herausfinden, wenn wir bereits auch nur annähernd richtig über die Natur Bescheid wüßten. Wie also will man sich da ohne Anmaßung zu der Behauptung versteigen, etwas anderes lasse sich nicht erkennen als das, was die gegenwärti-

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gen Naturwissenschaften, insbesondere die Neurologie, just in den letzten paar Jahrzehnten erkannt hätten – ja, es existiere überhaupt nicht? Niemals außerdem läßt sich beweisen, daß etwas nicht existiert; warum also soll es die Freiheit des Menschen nicht geben, wenn es unmöglich ist, ihre Existenz ein für allemal auszuschließen? Und dann: Es spricht gegen jenen Reduktionismus das von uns gerade im Zusammenhang mit dem Auftreten von Geist und Bewußtsein erwähnte Phänomen der Emergenz. Natürlich bauen die verschiedenen Wissenschaftsgebiete aufeinander auf, aber sie gehen nicht ineinander auf; es führt kein gerader Weg – sagen wir: – von der Physik zur Wirtschaftswissenschaft (bei der man schon bezweifeln kann, ob sie überhaupt eine Wissenschaft ist oder ob sie nicht bloß den Versuch darstellt, bestimmte Vorgänge der gegenwärtigen Marktlage mathematisch transparent zu machen); wohl ist es sinnvoll, zwischen «fundamentalen» und weniger grundlegenden Naturerkenntnissen zu unterscheiden, doch ergibt sich aus der «Fundierung» des «Höheren» im «Niederen» noch lange keine «Determination». Ein Rad zum Beispiel – immerhin eine der ganz entscheidenden Erfindungen in der Geschichte der Menschheit – ist definiert durch die Gesetze der Geometrie des Kreises, aber es ist nicht determiniert durch die spezielle Ausführung seiner Bauelemente: Nabe, Speichen und Felge, und seine Eigenschaften sind nicht identisch mit irgendeinem seiner Teile. (Vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 406– 412.) Für das Problem der Freiheit läßt sich das Emergenz-Theorem allerdings nicht rein negativ (als erkenntnistheoretische Einschränkung des Reduktionismus) geltend machen, indem wir etwa darauf hinweisen wollten, daß sich bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen komplexer Systeme nicht vorhersagen lassen (was auch gerhard roth im Gespräch mit dem Journalisten jochen paulus und dem Juristen klaus günther zu dem Thema: Gut oder böse: Können wir wirklich wählen? in: Bild der Wissenschaft, 3/2005, 74 –76, S. 75 einräumt); gewiß, allenthalben sind wir umgeben von Vorgängen, die unvorhersehbar sind oder doch nur in der statistischen Betrachtung großer Mengen von zusammengehörigen Einzelphänomenen annäherungsweise sich abschätzen lassen – etwa wann und wo es regnen, wie der Schnee fallen, an welcher Stelle des Bodens Gras hervorkommen, wie viele Tonnen Fische es im nächsten Sommer im Fluß geben wird usw. Alle diese Ereignisse entziehen sich einer genauen Prognose, sie unterliegen einem hohen Maß an unkalkulierbaren Zufällen; doch handelt es sich dabei allemal um ein «deterministisches Chaos», – um ein Bündel von Zufällen, die allesamt kausal hervorgebracht wurden und kausal aufeinander wirken; mit Freiheit hat das nichts zu tun. Es ist deshalb eine wichtige Feststellung, wenn wir betonen, daß Unerkennbarkeit im Raum des

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Notwendigen absolut nicht so etwas wie Freiheit begründen kann, – weder logisch (nur weil ich nicht sehe, wie etwas zusammenhängt, soll es in Freiheit geschehen) noch, wie wir gleich sehen werden, ontologisch (das Nicht-Erklärbare soll das Freie sein). Vielmehr muß es uns positiv darum zu tun sein, die Struktur von etwas wirklich neu in der Evolution Auftauchendem (von etwas «Emergentem») in ihrem Wesen zu erfassen, und dabei kann erneut nicolai hartmann (1882 –1950) zur Orientierung dienen, auf dessen «Seinswissenschaft» wir bereits hingewiesen haben, als wir die – scheinbar alles bestimmende – Wirkungsweise des Hirnstamms besprachen (vgl. Bd. I 83 –84). In seiner Ethik von 1926 (41962) formulierte nicolai hartmann als «das Schema, nach welchem sich die ontologische Möglichkeitsaporie (sc. Ausweglosigkeit, von griech.: die aporía – Ratlosigkeit, Mangel, Unmöglichkeit, d. V.) der persönlichen Freiheit – wenigstens prinzipiell – löst», ein «Wechselverhältnis zweier kategorialer Abhängigkeitsgesetze»: das «Enthaltensein», das «dem kategorialen Grundgesetz (dem Gesetz der Stärke)» entspricht, und das «‹Nichtenthaltensein›», das «dem Gesetz der Freiheit» entspricht. «Im Sinne des ersteren», führte hartmann aus, «gibt es die durchgehende Notwendigkeit, die von den niederen zu den höheren Gebilden waltet; die niederen sind die stärkeren, gegen sie kann keine höhere Formung etwas ausrichten. Und nur dieses Gebundensein nach ‹unten› bedeutet die durchgehende deterministische Notwendigkeit, nicht aber ein Gefangensein in der Bedingtheit. Denn sie ist kein gleichzeitiges Gebundensein nach oben zu.› Das ist es, was das andere Gesetz ausdrückt: es gibt keine Gebundenheit des kategorialen Novums als solchen in die Elemente, die es aufnimmt und über denen es sich erhebt; die Eigenart des höheren Gebildes hat die niederen Gebilde bloß zur Materie, zur passiven, indifferenten Grundlage. Sie selbst, mit allem, was aus ihr folgt, ist über ihnen kategorial ‹frei›, autonom. Sie hat ihre spezifische Determinante in sich selbst.» (nicolai hartmann: Ethik, 795 –796) Freilich räumte hartmann sogleich ein, daß es «Vermessenheit» wäre, in «die Einzelheiten des ontischen Bedingungskomplexes hineinzuleuchten, . . . die Totalität der Bedingungen . . . bliebe doch der Einsicht unerreichbar. Aber», fügte er hinzu, «es bedarf dessen auch nicht, um die ontologische Möglichkeit, die Kompossibilität (sc. die Kompatibilität, d. V.) von persönlicher Freiheit und durchgehendem, allseitigem (keineswegs bloß kausalem) Seinsdeterminismus im Prinzip einzusehen.» (nicolai hartmann: A. a. O., 796) Wohlgemerkt: Diese «Gewißheit bedeutet nicht, daß jede Person in jedem Augenblick, in jeder Handlung oder gar jedem Verhalten überhaupt notwendig frei wäre . . . Der Mensch ist gemeinhin in mancherlei Richtung unzurechnungsfähig und verantwortungsunfähig;

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ja vielleicht ist er niemals ‹ganz› verantwortungsfähig, ‹ganz› freies Wesen. Aber er kann es sein – prinzipiell – und er soll es sein. Sittliche Freiheit ist ein Aufder-Höhe-Stehen des Menschentums in ihm, wie es nicht ein jeder in jedem Augenblick haben kann. Und schon der geringste Bruchteil wirklichen Freiseins bestätigt die Realität seiner Freiheit, ist schon der Beweis, daß er nicht nur abhängiges Gebilde unter determinierenden Prinzipien, sondern auch zugleich selbst determinierendes Prinzip neben anderen Prinzipien ist – und zwar jeder für sich ein eigenes, individuelles Prinzip.» (nicolai hartmann: A. a. O., 796–797) Nun besagt der – nicht-reduktionistische – Umstand, daß etwas nicht vollständig «von unten» (durch die Bedingtheiten einer kategorial tieferen Schicht) determiniert ist, noch nicht, daß es auch schon «frei» ist – es kann zum Beispiel durch die äußeren Gegebenheiten und insbesondere durch die immanenten Systembedingungen selbst nach wie vor vollkommen festgelegt sein: – Das Bild vom Autofahrer und seinem Auto (plato bereits hatte gesprochen von dem Wagenlenker und seinem Gefährt; vgl. Phaidros, 253e – 254 b, Kap. 35, in: Sämtliche Werke, IV 34) träfe in diesem Falle durchaus nicht zu; eher müßten wir uns an dem Bild einer Struktur orientieren, die sich innerhalb eines neuen Aggregatzustandes bildet: Eis zum Beispiel geht bei Wärmezufuhr in Wasser über und wird bei weiterer Erhitzung infolge des ungeordneten Aufsteigens heißer Flüssigkeitströpfchen irgendwann durch das Konkurrenzverhalten verschiedener kollektiver Bewegungsformen in Rollenbewegungen geraten, welche sogenannte bénardsche Zellen (nach henri bénard, 1874 –1939) ausbilden (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 645– 648); diese Strukturen spielen fortan selber die Rolle eines Ordners für die aufsteigenden Flüssigkeitsmoleküle. Vorgänge dieser Art bieten ein gutes Modell für die Selbstorganisation von Systemen fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht bei hohem Energiedurchfluß, und sie tragen insofern nicht wenig zur Erklärung jener Prozesse bei, die vor 3,5 Mrd. Jahren von der unbelebten zur belebten Materie geführt haben dürften. Von «Freiheit» kann bei solchen Vorgängen, obwohl sie emergente Eigenschaften zeitigen und obwohl sie den Aufbau einer kategorial «höheren» Sphäre ermöglichen, allerdings erkennbar keine Rede sein; auch wenn derartige selbstorganisierende Systeme von einer bestimmten Stufe an all die Merkmale aufweisen, die wir als Kriterien für das Auftreten von «Geist» benannt haben (insbesondere die Sensibilität für Ursachen, welche als Informationen dienen und als solche in einer neuen Form der Verursachung auf das System zurückwirken), ist damit nicht ohne weiteres schon «Freiheit» gegeben. Offenbar war und ist es ein gravierender Fehler der idealistischen Philosophie

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ebenso wie der (christlichen) Theologie, beides: Geist und Freiheit miteinander zu identifizieren, während es uns jetzt zugute kommt, daß wir vor allem das Auftreten von Bewußtsein und Selbstbewußtsein als Vorgänge zu begreifen versucht haben, die bereits einen «geistigen» Zustand der Materie voraussetzen (s. o., S. 418 –419). Um den Unterschied zwischen «Geist» und «Freiheit» an dieser Stelle zu verdeutlichen, können wir noch einmal auf die – schier unglaubliche – Reaktionsfähigkeit des Immunsystems zurückblicken (s. o., S. 60–74): all die verschiedenen Zellformen der unspezifischen wie der spezifischen Immunabwehr stehen in Verbindung mit Interleukinen, die als ein eigenes Informationssystem mit bestimmten «Befehlen» die Proliferation oder die Drosselung bestimmter Zelltypen bewirken; die entsprechenden Vorgänge sind außerordentlich komplex und kompliziert, aber sie tragen nicht den Hauch von Freiheit an sich. Durchaus vergleichbar stellte sich uns der Aufbau des Hormon- und des Nervensystems dar (vgl. Bd. I 175–180); auch hier geht es um die Verarbeitung einer Unmenge von Informationen, doch in einer biochemisch voll und ganz determinierten Form. Wichtig dabei ist evolutionsgeschichtlich nun aber die Tatsache, daß eine Erweiterung der Verarbeitungs- und Reaktionsmöglichkeiten offenbar nur etabliert werden konnte, indem die Anzahl und Form der beteiligten Komponenten vervielfältigt wurde: es mußten immer neue spezialisierte Hormone, Transmitter und Neuronentypen mit bestimmten Funktionsleistungen entwickelt werden, um den evolutiven Aufstieg der Vielzeller zu begleiten und zu gewährleisten; und dieses Verfahren der ständigen Ausdehnung neuronaler Strukturen zur Steigerung und Erweiterung psychischer Leistungen scheint irgendwann an ein natürliches Ende geraten zu sein. So sahen wir zum Beispiel, daß der REM-Schlaf vermutlich entwickelt wurde, weil eine weitere Ausdehnung des präfrontalen Cortex zugunsten einer verbesserten Informationsbewertung und -speicherung wohl nicht mehr möglich war (vgl. Bd. I 368). Die Vorgänge des REM-Schlafs bleiben uns bezeichnenderweise aber unbewußt, und der Erfolg dieses Verfahrens vor allem bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten dürfte ebenfalls begrenzt sein; einen endgültigen Durchbruch in der Optimierung der Informationsverarbeitung und der Einleitung angemessener Reaktionsweisen muß es indessen bedeutet haben, als – unter dem Druck des Überlebenskampfes – das Bewußtsein entstand. Wir haben gesehen, wie unser Gehirn nicht nur die Parallelverarbeitung des sensorischen Inputs in verschiedenen Systemen kennt, sondern ebenso auch die hierarchische und funktionelle Untergliederung von Systemen (vgl. Abb. B 45); dabei fanden wir bereits bei der Vorverarbeitung von Informationen auf den untersten Stu-

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fen der Synchronisation neuronaler Ensembles, wie es zu einem ständigen Wechselspiel zwischen niederen und höheren Hirnarealen kommt (vgl. Abb. B 56); ein gleiches stellten wir bei den einfachsten motorischen Verrichtungen fest, indem eine bewußte Handlungsplanung im präfrontalen Cortex nur durch Indienstnahme der dorsalen Schleife zwischen Cortex, Basalganglien und Thalamus realisiert werden kann (vgl. Abb. A 12; Bd. I 81–82). Und dieses Ineinander von Top-down- und Bottom-up-Prozessen läßt sich nun verallgemeinern. Alle Leistungen des Gehirns, die wir als «psychisch» würdigen, indem sie an Bewußtsein gebunden sind (wie Wahrnehmen, Erinnern, Fühlen, Denken etc.), werden durch «reentrante» Schleifen ermöglicht, wie sie in Abb. D 8 und D 22 dargestellt sind, wobei den von «oben nach unten» führenden Vorgängen (den Top-down-Prozessen) eine besondere Bedeutung zukommt. Denn nach allem, was wir sahen, wurde das Bewußtsein gerade zu dem Zweck etabliert, um zwischen den vielfältigen Inhalten, die im Konkurrenzkampf rivalisierender Neuronen-Ensembles ins Bewußtsein vordringen, eine Wahl in der Aufmerksamkeitslenkung vorzunehmen und so durch eine eigene Aktivität den Grad der Synchronisation getrennter Module und Neuronengruppen zu modulieren (s. o. S. 510– 514). Dabei sind die interpretativen Vorgaben insbesondere aus dem limbischen System (die emotionale Bedeutungsverleihung, die eine Art Relevanzindikator für die gemeldeten Wahrnehmungsinhalte darstellt) für die zu erwartende Reaktion zunächst gewiß maßgebend. So sahen wir etwa, wie die Wahrnehmung eines visuellen Objekts (einer Spinne) über eine Expreßleitung (am Bewußtsein vorbei) vom Thalamus zur Amygdala führt und von dort über den Hypothalamus den Sympathicus und den Hirnstamm zu einer sofortigen Notfallreaktion veranlassen kann (vgl. Abb. B 115; B 117); für eine solche reflexartige Reaktion würde die Einschaltung von Bewußtsein nur eine zeitverzögernde Komplikation darstellen. Doch an demselben Beispiel läßt sich eben deshalb auch erkennen, wozu die Einrichtung bewußter Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen sinnvoll bzw. erforderlich war: Dieselbe Wahrnehmung (der Anblick einer Spinne) wird parallel auch über eine corticale Bahn geführt und erlaubt dadurch zeitverzögert einen prüfenden Vergleich zwischen den Gegebenheiten jetzt (der aktuellen Situation) und den im Gedächtnisspeicher abgelegten Erinnerungen (z. B. eventuellen neurotischen Symboldeutungen); ermöglicht wird dadurch ein in eigentlichem Sinne kognitiver Akt, der darüber entscheidet, was als eine «wirkliche» Gefahr zu betrachten ist und was nicht. Eine wesentliche Voraussetzung dafür bildet die Einführung einer Kontinuität des Erlebens in der Zeit (vgl. Abb. D 12): es wird möglich, zu überlegen, was «damals» sich ereignet hat, daß eine Spinne in

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der Gegenwart als derart furchterregend empfunden werden kann, während die bewußte Erkenntnis heute die Harmlosigkeit des «Objektes» festzustellen vermag; ja, es eröffnet sich nunmehr ein Spielraum für die Chance, durch geeignete therapeutische Verfahren (wie Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse) die eigene Erkenntnis (das Urteil des präfrontalen Cortex) so weit zu stabilisieren, daß eine Dauerentwarnung beim Anblick einer Spinne die frühere phobische Reaktion abzulösen vermag. Es handelt sich mithin um ein eindrucksvolles Beispiel für einen (chronifizierten) Top-down-Prozeß, der das Resultat eines kognitiven Verarbeitungsvorgangs (das Urteil: europäische Spinnen sind ungefährlich) gegen den massiven Automatismus des limbischen Systems durchsetzt; die Erkenntnis realer und psychischer Zusammenhänge kontrolliert und modifiziert in diesem Falle vom präfrontalen Cortex her die Reaktionsweise der subcorticalen Systeme (vgl. thomas goschke: Der bedingte Wille, in: G. Roth – K.-J. Grün: Das Gehirn und seine Freiheit, 129 –134: Präfrontaler Kortex und willentliche Handlungssteuerung), und dieser Tatbestand spricht entschieden gegen die Interpretation von Ich und Freiheit, die insbesondere gerhard roth in seinen eben zitierten Ausführungen vorlegt. Mit Vorbedacht haben wir einen wichtigen Unterschied zwischen «Ich» und (Selbst)Bewußtsein gemacht, indem wir den Begriff Ich für ein sprachfähig gewordenes Selbstbewußtsein reservieren wollten. In diesem Sinne läßt sich allemal mit gerhard roth sagen, daß das Ich «später» komme als all die Prozesse der Informationsverarbeitung, die seine Grundlage bilden; von den evolutiven Errungenschaften des Bewußtseins und Selbstbewußtseins aber kann man nicht sagen, sie seien nur eine Illusion von erweiterten Vergleichsmöglichkeiten zwischen Erinnerung und Wahrnehmung, mithin von realen Entscheidungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen sich anbietenden Optionen, mithin von selbstbestimmter Aktion jenseits des bloßen Schemas von Reiz und Reaktion; von Bewußtsein und Selbstbewußtsein muß man sagen, daß sie diese Möglichkeit der Freiheit sind. Natürlich kann – und wird – man an dieser Stelle sogleich einwenden, daß auch jetzt von «Freiheit» nicht gesprochen werden könne, indem ja lediglich andere Determinanten in Gestalt neuer Informationen, vermittelt durch bestimmte Erlebnisse, Kontakte u. a., in das Bewußtsein eingetreten seien und dieses halt zu einer veränderten Einsicht und Reaktionsweise geleitet hätten. Das stimmt, gewiß; gleichwohl ist es richtig, wenn michael pauen (Illusion Freiheit?, 102) in der «Vergrößerung des Handlungsspielraumes» an sich schon eine Erweiterung von Freiheit erblickt, indem etwaige Konflikte zwischen bestehenden Präferenzen (zum Beispiel: fliehe eine Gefahr, aber verhalte dich

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nicht kindisch) sich auflösen oder indem eine bessere Abschätzung der Konsequenzen des eigenen Verhaltens (du begibst dich nicht in Gefahr, wenn du nicht wegläufst) möglich wird. Allerdings genügt es jetzt nicht mehr, bei pauens «Minimalkonzeption» stehenzubleiben und unter «Freiheit» in angegebener Weise lediglich die Möglichkeit zu verstehen, daß eine Handlung, egal ob und inwieweit sie determiniert ist oder nicht, wesentlich von mir selbst, nach den Prinzipien von Autonomie und Urheberschaft, auf Grund eben gewisser personaler Fähigkeiten und Präferenzen, initiiert wird; es gilt vielmehr zu zeigen, daß die «neuen Determinanten», auf welche als Informationen das Bewußtsein antwortet, sich in qualitativ anderer Art auswirken als eine «Determination» auf der Basis physikalischer oder biochemischer Kausalität. Daß es sich so verhält, liegt eigentlich auf der Hand, wird aber sonderbarerweise in der neurologisch-philosophischen Diskussion um die Willensfreiheit entschieden zu wenig beachtet. Was wir nämlich gerade am Beispiel der Heilung etwa einer Spinnenphobie beschrieben haben, kann uns noch einmal sehr deutlich zeigen, was es bedeutet, wenn Informationen als Ursachen auftreten. Die Einsicht: eine (europäische) Spinne stellt keine Gefahr dar, kann die Bewußtseinslage eines «Arachnophobikers» (von griech.: die aráchne¯ – Spinne) zweifellos erheblich verändern, desgleichen die psychoanalytische Aufklärung über die unbewußte Sexualangst, die sich womöglich in die Gestalt einer Spinne hineinprojiziert und diese als ein Symbol des weiblichen (oder männlichen) Sexualorgans erscheinen läßt (vgl. karl abraham: Die Spinne als Traumsymbol, in: Gesammelte Schriften, I 240– 246); in jedem Falle ist es ein geistiger Inhalt, der die gewünschte Veränderung herbeiführt, und es ist wiederum diese veränderte Situationseinschätzung, welche nun auch die gesamte biochemische Kausalkette entlang der Streßachse fundamental umgestaltet – von schreiender Panik zu beruhigter Gelassenheit beim Anblick einer Spinne. Gewiß, es käme eine solche Bewußtseinsveränderung nicht zustande ohne zum Beispiel die Lektüre eines geeigneten Biologiebuches oder ohne die stundenlange Arbeit mit einem Psychoanalytiker – auch die Bewußtseinsveränderung geht erkennbar zurück auf bestimmte Ursachen; entscheidend aber ist jetzt dies: die Bewußtseinsveränderung selbst, die zu einer dramatischen Veränderung der Biochemie ganzer Teile des Zentralnervensystems wie des peripheren Nervensystems führt, ist selber nicht biochemisch verursacht; wohl ist sie, um sich ereignen zu können, an all die biochemischen und neurologischen Prozesse gebunden, aus denen das Phänomen des Bewußtseins selber hervorgeht; wenn aber, wie wir sehen, das Bewußtsein überhaupt nur zu dem Zweck eingerichtet wurde, um mit Wahr-

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nehmungen, Erfahrungen, Gefühlen, Bewertungen etc. kognitiv umzugehen und einen Spielraum von neuen Einsichten, Bewertungen, Lernvorgängen und Gedächtniseintragungen zu eröffnen, so betreten wir mit dem Auftauchen des Bewußtseins zweifellos eben jene emergente Sphäre, die in die Vorgänge der sie bedingenden Biochemie etwas gänzlich Neues, «Geistiges» einträgt, das die Möglichkeit mit sich bringt, die Prozesse der unteren Ebenen umzugestalten und für eigene Ziele in Dienst zu nehmen. Mit dem Bewußtsein beginnt in der Geschichte der Evolution unleugbar eine wachsende Unabhängigkeit von den Determinanten aus Biopsychologie und Neurologie; fortan ist unsere Entscheidung nicht mehr eine Angelegenheit der Neurologie, festgelegt durch das, was in unserem Nervensystem vor sich geht, sie wird jetzt zunehmend eine Frage der – freilich durch neurologische Prozesse ermöglichten – Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte, die darüber bestimmen, welche biochemischen Kausalreihen in Antwort auf ein konkretes Erlebnis eingeschaltet werden oder nicht. Dieser Unterschied zwischen Ursachen, die Informationen vermitteln, und Informationen, die als Ursachen wirken, bietet offenbar den eigentlichen Schlüssel zur Lösung des Problems, wie Freiheit möglich ist. Es geht dabei durchaus nicht um eine verkappte Form von Idealismus oder Dualismus, es geht um eine simple Ernstnahme des Entstehens emergenter Eigenschaften in komplexen Systemen, indem wir heute den Vorschlag von nicolai hartmann zur Begründung von Freiheit, rund 80 Jahre nach seiner Formulierung, mit den Erkenntnissen der modernen Neurologie verknüpfen können. Dabei kommt augenscheinlich der kognitiven Komponente, die wir mit der Entstehung von Freiheit durch das Auftreten von Bewußtsein verbinden, eine entscheidende Bedeutung zu, denn sie nötigt uns, den Begriff der Emergenz mit Bezug zu dem Freiheitsproblem dialektisch zu denken. Im Kern der Leugnung menschlicher Freiheit steht jene Überzeugung, die wir vorhin noch von arthur schopenhauer in meisterhafter Einfachheit und Klarheit ausgesprochen fanden: Es sollten Motive nichts anderes sein als (kausale) Ursachen, die als solche ins Bewußtsein träten. Solche Motive gibt es selbstredend – wir haben sie etwa am Beispiel der Wärmeregulation (vgl. Bd. I 482 –485) und der Nahrungsaufnahme (vgl. Bd. I 485 –497) kennengelernt und als Bedürfnisse beschrieben, durch deren Erfüllung der Organismus seine Homöostase zu verteidigen beziehungsweise wiederherzustellen suche: Wir empfinden Kälte, und wir zittern (ob der Kälte als Ursache); wir verspüren Hunger, und wir nehmen etwas Nahrung zu uns (so zumindest nach den Sollwerttheorien zur Gewichtsregulation) usw. All diesen motivationalen Körperzuständen

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ist gemeinsam, daß sie von einem gewissen Grad der Steigerung an Zwangscharakter annehmen: irgendwann müssen wir wärmere Kleidung anziehen, müssen wir etwas Eßbares auftreiben. Freilich sahen wir auch, daß schwere Schuldgefühle, wie in der Magersucht, einen noch größeren Zwang zur Unterdrückung oder Verleugnung der entsprechenden Bedürfnisse auszuüben vermögen (vgl. Bd. I 497– 502). Auch dieser seelische Zwang stellt ein Motiv (eine Ursache) dar, in diesem Falle ein Motiv, etwas nicht zu tun. Beide Motive sind Ursachen, und sie treten auf als Ursachen – bis dahin trifft schopenhauers Definition vollkommen zu: Motive sind Ursachen, die wir mit Bewußtsein wahrnehmen. Deutlich aber wird jetzt zugleich der Unterschied, auf den es uns gerade ankommt: im einen Falle – beim Hungergefühl – haben wir es mit rein physiologischen Spannungszuständen zu tun, die zunächst als bloße Signale bewußtwerden, dann aber das Bewußtsein selbst in eine bestimmte Wahrnehmungsrichtung zu kanalisieren beginnen und schließlich aus einem bloßen Neugierverhalten ein zwingendes Appetenzverhalten machen; im anderen Falle haben wir es mit dem Inhalt einer Erfahrung zu tun, die als ein unwiderstehliches Verbot ins Bewußtsein tritt und die Aufforderung zur Nahrungsaufnahme als eine schlimme Versuchung bewertet. Beide Formen von Zwang lassen Freiheit nicht zu, doch mit einem bemerkenswerten Unterschied: gegen das (physiologische) Hungergefühl ist über kurz oder lang nichts anderes zu machen, als das Bewußtsein auf Nahrungssuche gehen zu lassen, – auf eine physische Ursache ist es nur möglich, mit physischen Mitteln zu reagieren. Anders bei einem zwanghaften Nahrungsverbot durch ein schweres Schuldgefühl; seine Ursache liegt in psychischen Zusammenhängen (Bd. I 499 –502), die in aller Regel unbewußt sind; es verhält sich sogar für gewöhnlich so, daß das Nahrungsverbot nicht mehr als äußerlich an das Ich herantritt, sondern zutiefst verinnerlicht wurde, mithin schon gar nicht mehr als Zwang, sondern als eine höchste Form von Bedürfnislosigkeit und subjektiv empfundener Freiheit erlebt wird. Beide Arten von Zwang sind klar unterscheidbar: im ersteren Fall genügt es, das Bewußtsein nach außen zu richten und geeignete Nahrungsquellen zu erschließen; im letzteren Fall ist es buchstäblich «notwendig», das Bewußtsein nach innen zu lenken und die seelischen Bestimmungsgründe, die als (Verbots)Motive (als Ursachen) ins Bewußtsein treten, auf ihre biographische Determination hin zu untersuchen; erst wenn es gelingt, diese Gründe sich selber bewußtzumachen, ist es möglich, den ursprünglich von außen vermittelten, doch dann internalisierten Zwang durch eine neue ichgerechtere Stellungnahme zu ersetzen und damit eine extreme Form der Fremdbestimmung in eine echte Form der Selbstbestimmung zu überführen. Wir werden gleich

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noch sehen, daß eine solche Entwicklung zu Autonomie und Urheberschaft (zu Freiheit) aus einer entscheidenden Veränderung der Ichstruktur (des «Charakters» in der Sprache schopenhauers) hervorgeht und gewiß nicht durch eine rein intellektuelle («kognitive») Einsicht zustande kommt, – sie ergibt sich vielmehr als das Resultat einer – von Person zu Person vermittelten – fundamentalen Erlaubnis zum Sein; hier aber kommt es uns zunächst nur erst darauf an, aus dem Gesagten die richtigen Folgerungen für unsere Fragestellung nach der Freiheit zu ziehen. Was bedeutet es, wenn wir schopenhauers «Ursachen», die als «Motive» ins «Bewußtsein» treten, so deutlich auf zwei verschiedene Schichten der Wirklichkeit verteilt sehen wie Kausalität und Information, wie Materie und Geist, wie Physik und Psyche, wie Ursache und Inhalt? Und was heißt es, wenn etwas in einer Weise ins Bewußtsein zu treten vermag, daß es durch Bewußtwerdung in seiner Wirkung eliminiert wird? Es ist dies ein Punkt, an welchem schopenhauer etwas Wichtiges ausgerechnet von seinem Erzgegner georg wilhelm friedrich hegel (1770 – 1831) hätte lernen können und müssen – um den Preis freilich eines weitgehenden Umbaus seines eigenen philosophischen Gesamtsystems. hegels zentrale Entdeckung bestand darin, Geist, Bewußtsein, als einen dynamischen Prozeß zu verstehen, und so erklärte er, daß die Bewußtwerdung von etwas eine Veränderung für das Bewußtgewordene selber bedeute; durch die Bewußtwerdung werde das Sein als solches aufgehoben und als Wesen gesetzt. Damit geschieht in der Tat etwas sehr Folgenreiches: ein Inhalt, von dem man bisher nur in rein formaler Bestimmung wußte, daß er ist, offenbart sich jetzt als das, was er ist, – er wird mithin erkennbar und begreifbar; das erkennende Bewußtsein tritt dadurch in ein neues Verhältnis nicht nur zu diesem Gegenstand, sondern auch zu sich selbst. In hegels Worten: «Die Nothwendigkeit vertieft sich in dem Begriff: Er, die Freiheit ist die Wahrheit der Nothwendigkeit. Begreifen heißt, etwas als Moment eines Zusammenhanges fassen, der als Zusammenhang ein Unterscheiden und so ein bestimmter und erfüllter ist. Der Zusammenhang nach Ursach und Wirkung ist selbst noch Zusammenhang der Nothwendigkeit, d. h. noch formell – es fehlt dieß, daß ein Inhalt gesetzt ist als für sich bestimmt, traversant ce changement de cause en effet sans change (sc. frz., d. V.:), der den Wechsel von Ursach und Wirkung ohne Veränderung durchläuft. Dann nämlich ist das äußerliche Verhältniß und die Gestaltung verschiedener Wirklichkeit zum Mittel herabgesetzt. Zum Zwecke bedarf es eines äußerlichen Wirkens, das aber die Bestimmung hat, der Bewegung des Zweckes, der in seiner Bewegung sich erhält und sein Uebergehen aufhebt, unterworfen zu seyn. In Ursach und Wirkung ist an sich derselbe Inhalt, aber er erscheint als selbstän-

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dige Wirkliche, die aufeinander einwirken. Der Zweck aber ist dieser Inhalt, der gegen den erscheinenden Unterschied der Gestaltung und Wirklichkeit als Identität mit sich gesetzt ist.» (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II 159) Viele, darunter gewiß auch schopenhauer, konnten und können mit dieser hermetischen Sprache absolut nichts anfangen, – sie erscheint ihnen als ein sinnloses Wortgeklingel; doch was hegel meint, ist an dieser Stelle sonnenklar, wenngleich es sich gewiß auch einfacher ausdrücken läßt, etwa so: Auf der Ebene der Tatsachen wirkt ein Ding auf ein anderes; hier herrscht das Gesetz der Wirkursächlichkeit (der causa efficiens), der (blinden) Notwendigkeit; das Erkennen (die Bewußtwerdung) dieses Zusammenhangs aber schafft etwas Neues: es macht aus dem Vorhandenen ein Mittel zum Erreichen eines Zwecks; es führt damit in die Sphäre kausaler Notwendigkeit eine wesenhaft neue Form der Ursächlichkeit ein: die Zielursächlichkeit (die causa finalis). Damit bleibt die kausale Notwendigkeit an sich so bestehen, wie sie ist, und doch verwandelt sie sich gerade damit in ein Instrument von neuen Zielsetzungen in Freiheit. Entscheidend an diesem Gedanken ist die Einsicht, daß Notwendigkeit und Freiheit zwar einander widersprechen, daß sie sich aber nicht ausschließen, sondern zusammengehören, ja, in ihrem Widerspruch eine höhere Einheit bilden. Wir sahen bereits, daß die Gottheit – etwa bei spinoza und leibniz –, indem sie nur sich selbst (ihrem Wesen) folgt, vollkommen notwendig und doch zugleich ganz und gar frei handelt: sie kann nur tun, was die Vernunft ihr gebietet, diese Vernunft aber ist sie selber. Noch einmal in hegels Worten: «die absolute Nothwendigkeit . . . enthält an ihr selbst die Freiheit: denn eben ist sie das Zusammengehen ihrer mit sich selbst; sie ist schlechthin für sich, hängt nicht von Anderem ab, ihr Wirken ist das freie, nur das Zusammengehen mit sich selbst, ihr Prozeß ist nur der des Sichselbstfindens, dieß aber ist die Freiheit.» (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II 25) «Die Nothwendigkeit ist die Vermittelung, die sich selbst aufgiebt, sie ist an sich die Freiheit.» (georg wilhelm friedrich hegel: A. a. O., II 26) Was so für das Absolute, das Unendliche, gilt, besitzt an sich Gültigkeit auch für das Relative, das Endliche (das metaphysisch in jenem enthalten ist). Alles Erkennen vollzieht sich als «das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität»; während das «formelle Denken . . . sich . . . den bestimmten Grundsatz (macht), daß der Widerspruch nicht denkbar sei», zeigt sich vielmehr, daß «das Denken des Widerspruchs das wesentliche Moment des Begriffes ist». (georg wilhelm friedrich hegel: Wissenschaft der Logik, II 496) Wenn man philosophisch demnach bestimmen will, was Geist, was Bewußt-

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sein ist, so ist dies am einfachsten möglich, indem man begrifflich den Geist der Materie gegenüberstellt. «Wie die Schwere die Substanz der Materie», schreibt hegel, «so . . . ist die Freiheit die Substanz des Geistes . . .; die Philosophie . . . lehrt uns, daß alle Eigenschaften des Geistes nur durch die Freiheit bestehen, alle nur Mittel für die Freiheit sind, alle nur diese suchen und hervorbringen. Es ist dies eine Erkenntnis der spekulativen Philosophie, daß die Freiheit das einzige Wahrhafte des Geistes sei. Die Materie ist . . . wesentlich zusammengesetzt, besteht aus lauter einzelnen Teilen . . . Sie besteht als ein Außereinander und sucht ihre Einheit . . . Der Geist im Gegenteil ist eben dies, in sich den Mittelpunkt zu haben . . . Er hat die Einheit nicht außer sich; er findet sie beständig in sich, er ist in und bei sich selbst . . . das Beisichselbstsein . . . dies eben ist die Freiheit. Denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein anderes, das ich nicht bin . . . Frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin.» (georg wilhelm friedrich hegel: Die Vernunft in der Geschichte, 55) Indem auch hegel diesen Worten nach Freiheit im Grunde als Selbstbestimmung definiert, leistet er doch begrifflich ungleich mehr: er macht deutlich, daß Bewußtsein als «Beisichselbstsein» gar nicht umhin kann, als sich für frei zu halten, er zeigt zugleich aber auch auf, wie das Bewußtsein diese Freiheit sich selbst ermöglicht: Indem es die Zusammenhänge seiner Abhängigkeit von äußeren wie inneren Gegebenheiten erkennt, hebt es deren (Wirk)Ursächlichkeit auf und verwandelt die Notwendigkeit, den Zwang, dem es sich ausgesetzt sieht, in einen Inhalt und ein Instrument seiner Freiheit. Das «Beisichselbstsein des Geistes», erkennt hegel, «ist Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von sich selbst. Zweierlei ist zu unterscheiden im Bewußtsein, erstens, daß ich weiß, und zweitens, was ich weiß. Beim Selbstbewußtsein fällt beides zusammen, denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur, und er ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen.» (Philosophie der Geschichte, 59) Insofern kann man sagen, daß ein Mensch gerade so frei ist, wie er sich in seinem Selbstbewußtsein durchsichtig geworden ist; oder jetzt mit Bezug auf schopenhauer hin formuliert: Ursachen, die als Motive ins Bewußtsein treten, verwandeln eben dadurch die Art ihrer Kausalität; sie gehen aus der Sphäre der Notwendigkeit über in das Reich der Freiheit. Oder noch einfacher: Freiheit ist nicht die Abschaffung der Notwendigkeit, sondern deren «Aufhebung»; Freiheit ist das «Anderssein» der Notwendigkeit; Freiheit ist erkannte Notwendigkeit. Daß dem so ist, läßt sich leicht überprüfen. Gesetzt, wir lebten in einer Welt der reinen Zufälle, innerhalb deren, wie in der Quantenphysik, allenfalls statistische Vorhersagen möglich wären, so ergäbe sich aus der Ungültigkeit des

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Kausalsatzes der klassischen Physik nicht etwa ein größerer Spielraum für freie Entscheidungen, vielmehr wäre es völlig unmöglich, in einer solchen Welt der Ungewißheit und der Unplanbarkeit irgendeine Entscheidung zu treffen. Entgegen der immer noch sporadisch durch die Literatur geisternden Vorstellung, gerade die quantenphysikalische Akausalität des Naturgeschehens im Mikrokosmos (und die daraus folgende Aufgipfelung eines deterministischen Chaos im Makrokosmos) bilde die unerläßliche Voraussetzung für das Entstehen von Freiheit, verhält es sich gerade umgekehrt: Freiheit basiert auf der Determiniertheit eben jener kausalen Abläufe, in welche sie steuernd eingreifen will (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 889 –893); die unerläßliche Voraussetzung dafür aber ist die Einsicht und die Vertrautheit in eben diejenigen Prozesse, die in Form der Wahrnehmung auf das Bewußtsein einwirken. Beispielsweise werden wir uns nur dann für eine Zug- oder Flugreise entscheiden, wenn wir den Fahrplan dieser Verkehrsmittel kennen und einigermaßen sicher sein können, daß er auch eingehalten wird; wir werden uns nur hinter das Steuer eines Autos setzen, von dem wir glauben, daß seine Mechanik zuverlässig arbeitet; wir können sinnvoll nur in einer Umgebung agieren, in der eine Tasse, die wir ins Regal stellen, auch dort stehen bleibt (Erdbeben ausgeschlossen). Die Sicherheit der uns (an sich) bekannten physikalischen Gesetze ermöglicht uns allererst einen freien Umgang mit den Objekten, deren Verhalten durch sie geregelt wird. Für alle Vorgänge externer Determination leuchtet die dialektische Vermittlung von Notwendigkeit und Freiheit in der hegelschen Philosophie demnach unmittelbar ein: Freiheit ist das Resultat erkannter Notwendigkeit. Aber auch im Umgang mit allen Vorgängen interner Determination gilt das gleiche. «Die fühlende Totalität ist als Individualität wesentlich dieß, sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urtheil in sich zu erwachen, nach welchem sie besondere Gefühle hat und als Subject in Beziehung auf diese ihre Bestimmung ist», schrieb georg wilhelm friedrich hegel (System der Philosophie, III 204), und er leitete «die Verrücktheit», das heißt die ihm bekannten seelischen Erkrankungen, aus einem Widerspruch zwischen der im Bewußtsein des Subjektes «systematisierten Totalität und der besonderen in derselben . . . nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit» ab (a. a. O., III 205). Doch Neurosen und Psychosen lassen sich nicht durch begriffliche Logik beseitigen; im Gegenteil, wenn es einen Beweis für die Ohnmacht von bloßem Wollen und Denken auf dem Terrain des eigenen Ich gibt, so wird er geliefert von all den Formen der Ich-Einschränkung und der Ich-Entfremdung in jenen

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sonderbaren Zuständen, die wir als Phobie, Depression, Paranoia, Schizophrenie u.ä. kennengelernt haben. Wir haben dabei im Übergang von den Neurosen zu den Psychosen gesehen, wie sich der Anteil des am ehesten psychisch Zugänglichen immer mehr in Richtung des vordringlich psychiatrisch (mithin neurologisch) Behandelbaren verschiebt, doch wie die geistigen Inhalte niemals aufhören, ihren Einfluß geltend zu machen. Was sich etwa in der Angst eines Schizophrenen abspielen mag, läßt sich – in Anwendung der uns vertraut gewordenen neurologischen Erklärungen für derlei Bewußtseinszustände (s. o., S. 219 –230) – oft erst nach einer medikamentös erzielten Beruhigung der schlimmsten Angstvorstellungen einfühlen und verstehen; dann aber kann man dem Patienten nur wirksam helfen, wenn man ihn in den Stand versetzt, ein unverstelltes Empfinden und Fühlen für sich selbst zurückzugewinnen und sich in seinem eigenen Werdegang, inklusive der Entstehung seiner seelischen Konflikte, einigermaßen zusammenhängend zu begreifen. Denn erst dann wird es möglich sein, die Beziehung zu den Eltern, die Auseinandersetzung mit ihren «Imagines», die Identifikation mit bestimmten Rollenerwartungen, das riesige Reservoir des verdrängten psychischen Materials, die Verformungen und Fixierungen der Triebentwicklung, die Fehlanpassungen an frühkindliche Situationen voller Angst und Schuldgefühle, die Aufspaltungen des Ich in verschiedene, meist widersprüchliche Komplexe und Funktionseinheiten – kurz: die Frage nach sich selbst noch einmal konstruktiv aufzugreifen. Die Bedingung für einen solchen «Umbau» des Ich ist allemal eine andere Person, die mit ihrer Einfühlung, mit ihrem Verstehen, mit ihrer Geduld jenen Raum der Erlaubnis, der Nicht-Verurteilung, der «Gnade» eröffnet, von dem wir sagten, daß in ihm allein eine Person sich zu entwickeln und zu leben vermöge. «Erkenntnis» von «Notwendigkeit» als Vorgang der Selbsterkenntnis ist, wie sich zeigt, an starke emotionale Vorgaben gebunden, die es ermöglichen, in einem wärmeren Klima den «Permafrostboden» der Seele aufzutauen und einem reicheren Leben zurückzuschenken. All diese neuen Erfahrungen treten zweifelsfrei als «externe Ursachen» an den Einzelnen heran; doch ihre Wirkung ist erkennbar keine kausale Verknüpfung mehr im Sinne der Verbindung, die etwa in der Chemie gebrannter Kalk (CaO) mit Kohlenstoffdioxid (CO2) zu Kalkstein (CaCO3) eingeht. Wann immer menschliche Beziehungen sich ähnlich den Gesetzen der Chemie gestalten sollten, wie johann wolfgang von goethe (1749 –1832) es in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809 schildert, herrscht eine Zwangsgesetzlichkeit, die gerade das Gegenteil von Freiheit bildet und die moralische Persönlichkeit auf tragische Weise in Frage stellt: «Mir sind», wirft warnend in

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goethes Roman Charlotte ein, «leider Fälle genug bekannt, wo eine innige unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben, und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward.» (Die Wahlverwandtschaften, 1. Teil, 4. Kap., S. 37) Es geschieht gewiß nicht selten, daß menschliche Beziehungen in Wirklichkeit gar keiner «Wahl» entstammen, sondern in ihnen «eine Naturnotwendigkeit» sich auswirkt, gerade so, wie in goethes Beispiel Kalkstein (CaCO3) sich aus «Kalkerde (sc. gebranntem Kalk, CaO, d. V.)» und «einer zarten Säure . . ., die uns im Luftstrom bekannt geworden ist (sc. Kohlensäure – H2CO3 –, die in Kohlenstoffdioxid – CO2 – und Wasser zerfällt; eigentlich ist hier CO2 der Reaktionspartner, d. V.)» verbunden hat, dann aber mit verdünnter Schwefelsäure (H2SO4) sich zu Gips (CaSO4 · 2 H2O) neu zusammenfindet, während «jene zarte luftige Säure (sc. Kohlensäure – H2CO3 – bzw. Kohlenstoffdioxid – CO2 –, d. V.) . . . entflieht» (a. a. O., 1. Teil, Kap. 4, S. 36); man wird in solchen Fällen psychoanalytisch die Macht eben jener gerade erwähnten unbewußten Übertragung der Elternimagines am Werke sehen und auf eine Befreiung aus dieser Psychodynamik durch Bewußtmachung hoffen. Eine solche «Bewußtmachung» aber vollzieht sich gerade nicht mehr als ein kausaler Prozeß – er ist weder extern noch intern als ein Ursache-Wirkungsverhältnis nach dem Vorbild chemischer Reaktionsabläufe beschreibbar; worum es sich handelt, sind vielmehr Formen personaler Begegnung, in welchen die Freiheit des einen zur Anregung, zur Ermutigung, zum Vorbild, zur Ermöglichung der Freiheit des anderen in Freiheit wird. Das steht hinter dem schon mehrfach zitierten Leitsatz, den sigmund freud (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, XV 86) der Psychoanalyse als Ziel und Auftrag voranstellte: «Wo Es war, soll Ich werden.» Er beschreibt – wenn wir es in philosophischen Kategorien ausdrücken wollen – die Umwandlung von Wirkursachen in Zielursachen durch den Akt der Erkenntnis: endlich beginnt das Ich eines Menschen mitsamt seiner ganzen Geschichte sich selbst zu gehören, indem es seiner selbst bewußt wird. Ein gleiches läßt sich – an dieser Stelle nur angedeutet – auch von der Funktion des Selbstbewußtseins sagen. Es wurde nötig, so fanden wir, infolge der immer komplexeren Formen sozialen Zusammenlebens in der Evolution vor allem der höher entwickelten Wirbeltiere (Vögel und Säuger). Die Rückspiegelung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein erfolgte wohl, nicht nur bildlich gesprochen, «in den Augen» der anderen – der Gruppenmitglieder, der Artgenossen. Welche neuen Ängste, Entfremdungen, Aggressionspotentiale, Rivalitätskämpfe usw. dieser Neuerwerb mit sich brachte und bringt, haben wir ge-

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nügend beschrieben; darüber hinaus haben wir ausführlich geschildert, in welche Formen kollektiver Erkrankung und kollektiven Wahns Menschen in unseren Tagen wie selbstverständlich, nur weil sie «Bürger» eines bestimmten «Staates» im Rahmen einer bestimmten «Kultur» und einer bestimmten sozialpolitischen «Ordnung» sind, hineingezwungen werden (s. o., S. 52– 54; 152 –167; 231–260). An dieser Stelle spätestens aber hört das Problem der Freiheit auf, ein nur biopsychologisches Thema zu sein; es geht über in eine soziologische Frage; und auch darüber sollten wir im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit noch ein paar abschließende Sätze sagen. Bekanntlich fragte sich 1651 bereits thomas hobbes (1588 –1679), wie unter der Voraussetzung des «Kriegs aller gegen alle», wie er im «Naturzustand» herrsche, ein Gemeinwesen einzurichten sei, das Frieden ermöglichen (Leviathan, 13. Kap., S. 115) und Freiheit erlauben könnte (a. a. O., 19. Kap., S. 172); als Lösung des Problems entwickelte er die Idee des Staatsvertrages, bei dem «jeder zu einem anderen sagte: ‹Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.› Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben.» (thomas hobbes: A. a. O., 17. Kap., S. 155) Da erwächst infolge der Angst aller vor allen die soziale Freiheit aus einem «freiwilligen» Freiheitsverzicht im Gemeinwesen Staat; die bürgerliche «Freiheit» schränkt sich fortan in den Rahmen der Rechte und Pflichten ein, welche die Autorität verordnet (a. a. O., S. 229), wobei gelten soll: «das Recht ist Freiheit, d. h. Ausnahme von den bürgerlichen Gesetzen. Bürgerliches Gesetz hingegen ist Verpflichtung, wodurch die natürliche Freiheit entweder aufgehoben oder beschränkt wird.» (thomas hobbes: A. a. O., 26. Kap., S. 242) Eben dieses natürliche Recht auf Freiheit stellte im Jahre 1690 john locke (1632 –1704) an den Anfang seiner Erwägungen Über die Regierung. «Die natürliche Freiheit des Menschen», erklärte locke, «bedeutet, daß er frei ist von jeder höheren Gewalt auf Erden und nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen, sondern lediglich dem Gesetz der Natur untersteht. Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft bedeutet, daß er keiner anderen gesetzgebenden Gewalt untersteht als der durch Übereinkunft in dem Staatswesen begründeten, und daß niemandes Wille über ihn herrscht und seine Rechte nicht geschmälert werden, es sei denn durch die Beschlüsse der Legisla-

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tive gemäß dem in sie gesetzten Vertrauen.» (Über die Regierung, IV 22, S. 24) Doch langt das zur Freiheitsgewährung und -bewahrung aus? Wenn es um die gesellschaftlich vermittelte Freiheit geht oder vielmehr um die Freiheit, die sich trotz aller gesellschaftlichen Zwänge zu erhalten sucht, darf das Votum des von uns schon mehrfach zitierten Hauptvertreters des politischen Liberalismus im 19. Jh. nicht fehlen: john stuart mill (1806 –1873) und seine 1859 erschienene Studie Über die Freiheit, in der sich wie nirgendwo sonst der Glaube an den Fortschritt der Menschheit durch Gedankenfreiheit niedergelegt findet und zugleich das Recht auf individuelle Freiheit gegenüber dem Zugriff der Staatsmacht verteidigt wird, auf Grund der Überzeugung, Wahrheitsfindung werde durch freien Meinungsaustausch am besten gefördert: «die volle Bedeutung mancher Wahrheiten», heißt es dort, «kann nicht begriffen werden, ehe sie uns nicht durch persönliche Erfahrung bewiesen wurde. Aber selbst deren Sinn würde man viel besser verstehen und das Verstandene noch weit tiefer einprägen, wenn man sich daran gewöhnt hätte, das Für und Wider von verständnisvollen Leuten erörtert zu hören.» (Über die Freiheit, 2. Kap., S. 60) Und weiter: «Nicht dadurch, daß man alles Individuelle zur Einförmigkeit abflacht, sondern indem man es ausbildet . . ., wird das menschliche Wesen zu einem edlen und schönen Gegenstand der Betrachtung.» (A. a. O., 3. Kap., S. 87) Insbesondere «Personen von Genie» seien «individueller als andere Leute, folglich weniger fähig, sich ohne schmerzhaften Zwang in eine der wenig zahlreichen Formen hineinzupassen, die die Gesellschaft bereithält, um ihren Mitgliedern die Mühe zu ersparen, sich selbst einen Charakter zu formen.» (A. a. O., 3. Kap., S. 89– 90) Weit entfernt, den Charakter einer Person in schopenhauerschem Sinne als Quelle der Unfreiheit zu betrachten, erscheint das selbstbewußte und selbstbestimmte Individuum hier als Träger einer Freiheit, die als unverzichtbares Gut eines gedeihlichen Zusammenlebens höchsten Schutz beanspruchen darf. Das Sympathische an mills Gedanken ist in all diesen rechtsphilosophischen Erwägungen die Tatsache, daß er bereits 1848 in den Principles of Political Economy die Frage nach der individuellen Freiheit innerhalb einer liberalen Wirtschaftsordnung unter Berücksichtigung der ökonomischen Hintergründe diskutierte und dem Liberalismus den sicheren Untergang verhieß, wofern er zur Ideologie der Rechtfertigung bloßer Kapitalinteressen verkommen sollte, statt die Arbeiterschaft in den gesellschaftlichen Fortschritt zu integrieren. So finden sich bei mill klassische sozialistische Forderungen wie «Mitbeteiligung an den Betrieben durch Eigentumsbildung an den Betriebsmitteln», «Vermehrung des Reichtums nicht nur in den Händen einiger weniger, sondern aller Ar-

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beitenden» und schließlich die «Brechung der wirtschaftlichen und politischen Vormacht des grundbesitzenden Adels». (Zit. n. manfred schlenke: Nachwort zu john stuart mill: Über die Freiheit, 176) mill dachte bei diesen Worten allerdings nicht in den Begriffen des Klassenkampfes wie karl marx (1818 –1883), mit dem er, ohne näheren Kontakt und geistigen Austausch, 20 Jahre lang in derselben Stadt, in London, wohnte; niemals forderte er wie dieser die Abschaffung des Privateigentums; doch von einem bestimmten Grad des Pauperismus (der Verarmung, von lat.: der pauper – Armer) und der gesellschaftlichen Ausbeutung an versteht man die Sätze aus dem Manifest der Kommunistischen Partei, ebenfalls aus dem Jahre 1848, wie ein Fanal der Freiheit des Menschen in der Gesellschaft: «In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit (sc. in ihrer Geldform, als Kapital, sowie in den bereitgestellten Produktionsmitteln, d. V.) zu vermehren», schreibt marx. «In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern. – . . . In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich (sc. es «arbeitet», es «vermehrt» sich, «es geht» außer Landes, d. V.), während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich ist. – Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und Freiheit! Und mit Recht . . . – Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf. – Fällt aber der Schacher, so fällt auch der freie Schacher . . . – Ihr entsetzt euch darüber, daß wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert . . . – Ihr werft uns mit einem Worte vor, daß wir euer Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir.» (franz borkenau: Karl Marx, 111) Gleichgültig, wie man zu solchen Analysen und Programmen im einzelnen steht, man begreift, warum im Fortgang der hegelschen Dialektik des Freiheitsbegriffs als erkannter Notwendigkeit die Transparenz bzw. die Intelligibilität von Politik und Produktion nebst der daraus folgenden gesellschaftlichen Praxis als unerläßliche Grundlage jedweder Freiheit des Einzelnen in Staat und Gesellschaft in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. In der Diskussion um das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit, Determinismus und Selbstbestimmung, Heteronomie und Autonomie ergibt sich aus der vorgeschlagenen dialektischen Vermittlung eine wesentliche Veränderung vor allem auch im Verständnis der Naturwissenschaften, und zwar mit

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erheblichen Konsequenzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft im ganzen. Statt, wie vielerorts üblich, diejenigen Naturwissenschaftler, insbesondere Neurologen, der Hybris oder der «Unwissenschaftlichkeit» zu zeihen, die im Rahmen ihrer Forschungen ein «freies» Wollen und Handeln von Menschen (oder, bezogen auf den Weltenlauf, eines Gottes) ausschließen, gilt es vielmehr – entsprechend der Erkenntniskritik von immanuel kant – in aller Form anzuerkennen, daß keine Naturwissenschaft mit der Kategorie der Freiheit arbeiten kann und darf. (Vgl. paul hoff – steve klimchak: Freiheit, die wir meinen, in: Gehirn und Geist, 1/2004, 28– 32, S. 32.) An dieser Stelle bleibt die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, auf welche erneut john stuart mill (System der induktiven und der deduktiven Logik von 1843) als erster hingewiesen hat, formal-logisch unaufhebbar. Andererseits ist das Freiheitsproblem nach dem Gesagten nicht mehr lösbar, indem man nach kants Vorbild Geist und Freiheit in eine transzendente, nicht-empirische, rein «intelligible» Sphäre jenseits der Welt der «Erscheinungen» verlegt. So wie das, was in der Metaphysik einmal als «Seele» bezeichnet wurde, sich im Verlauf der neurologischen Untersuchungen als eine Funktion von Hirnprozessen dargestellt hat, so auch das Bewußtsein, so auch das Selbstbewußtsein. Wenn es Freiheit geben soll, so deshalb nicht in einer Leugnung der Notwendigkeit, die in den Prozessen der empirischen Welt liegt, sondern in einer Rückwendung dessen, was aus diesen Vorgängen entstanden ist, auf sich selbst. Alle Naturwissenschaft, insbesondere die Neurologie, muß folglich betrachtet werden als Teil dieser individuellen wie kollektiven Dialektik der Bewußtwerdung der menschlichen Geschichte: Gerade indem die Naturwissenschaften nichts anderes erkennen können (und methodisch dürfen!) als Prozesse in Notwendigkeit, vermehren sie objektiv den Spielraum der Freiheit im Umgang jedes Einzelnen mit sich selbst und mit der ihn umgebenden menschlichen Gesellschaft. Der Widerspruch ebenso wie seine Versöhnung steckt in dem einen Satz: Eben weil die Naturwissenschaften die Freiheit zugunsten der Notwendigkeit verleugnen, ermöglichen sie eine Freiheit, die alles Notwendige in ein Mittel ihrer Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung zu verwandeln vermag. Insofern mag man georg wilhelm friedrich hegel – nach Abstrich all seiner Illusionen darüber, «daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei» (Philosophie der Geschichte, 48 –49) – denn doch zustimmen, wenn er proklamierte: «Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.» (georg wilhelm friedrich hegel: A. a. O., 61)

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d) Das Problem der Willensfreiheit: theologisch Wer die letzten Sätze des hegel-Zitates liest, muß freilich bedenken, daß sie gerade nicht nur das Entstehen der Freiheit aus der Erkenntnis der (Natur-) Notwendigkeit beschreiben wollen, sondern weit mehr noch die Einordnung des menschlichen Geistes (der endlichen, subjektiven Vernunft) in den göttlichen Geist (die unendliche, objektive Vernunft), wie er sich in der «Idee», der Einheit von Realität und Begriff, ausspricht. Die gesamte Geschichte des Kosmos wie des Menschen versuchte hegel rein pantheistisch als den Weg der Gottheit zu sich selber zu erfassen, «in Form der religiösen Wahrheit nämlich, daß die Welt nicht dem Zufall und äußerlichen zufälligen Ursachen preisgegeben sei, sondern eine Vorsehung die Welt regiere». (georg wilhelm friedrich hegel: Philosophie der Geschichte, 53) Die menschliche Freiheit erschien ihm demnach als bloße Zwischenstufe einer sich vollziehenden göttlichen Notwendigkeit, die in Naturgeschichte wie Menschengeschichte dahin finde, in der Einheit mit sich selbst ihre Freiheit zu begründen. (Zur Darstellung von hegels Geschichtsphilosophie vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 64 –69.) Wir sind diesem Konzept der Grundlage nach vorhin bereits in der Philosophie baruch spinozas sowie in der Weltbetrachtung albert einsteins begegnet, wenngleich dort nicht in der dynamisierten, vergeschichtlichten Form hegels, die in gewissem Sinne den Evolutionsgedanken vorwegnahm, noch ehe er in den Naturwissenschaften (zunächst in der Geologie, dann in der Biologie, erst um 1920 schließlich auch in der Kosmologie) sich durchsetzen konnte. Die Naturgesetze als Objektivationen der Gedanken Gottes – diese Vorstellung besitzt im Abendland allerdings eine lange philosophische Tradition. Sehr wichtig war dabei freilich, daß die Gottheit keine personhaften Züge annahm; im Gegenteil, das «Göttliche» verschmolz in der Vorstellung von einer absoluten Notwendigkeit mit dem Unwiderstehlichen, dem Schicksalhaften, in welches auf unheimliche Weise auch das Zufällige, das Unberechenbare, das Absurde hineinspielt. An die heimarméne¯, an das unbedingt zwingende Schicksal als geheimnisvolle Macht im Hintergrund selbst der olympischen Götter, glaubten bereits die Alten Griechen (vgl. walter pötscher: Heimarméne¯, in: Der kleine Pauly, II 972 –973), – ein Gedanke, der sich am frühesten und klarsten bei heraklit (um 500 v. Chr.) ausspricht. «(Wie) ein Haufen aufs Geratewohl hineingeschütteter Dinge (?) die schönste (Welt)ordnung», erklärte

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der dunkle Philosoph aus Ephesos (Fr. 124, in: hermann diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 31), und er fügte hinzu: «Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen.» (Fr. 102, in: hermann diels: A. a. O., 29) In Übereinstimmung damit, aber auch im Widerspruch dazu entwickelte der gebürtige Phönizier zenon aus Kition auf Zypern (um 333 –264) die Philosophie der Stoiker (so benannt nach der Stoá, der Bunten Halle am Nordende der Agorá, des Marktplatzes, in Athen), in deren Mittelpunkt die Überzeugung stand, daß es im Universum nichts Zufälliges gebe, sondern daß alles durch ein unveränderliches Gesetz gelenkt werde, wobei es die gleiche Vernunft sei, die den Kosmos durchziehe und die auch dem menschlichen Herzen gebiete: Naturordnung und sittliche Ordnung sollten – wie wir es in der hinduistischen Weltsicht ausgesprochen fanden – ein und dasselbe sein, und die Unterwerfung unter die Notwendigkeit der Natur deshalb des Menschen wahre Sittlichkeit. Durch panaitios von Rhodos (um 185 – um 110) wurde diese Anschauung im 2. Jh. v. Chr. auch den Römern vermittelt. Vor allem der Philosoph lucius annaeus seneca (um 0– 65) vertrat im 1. Jh. n. Chr. die stoische Lehre. In seiner Schrift Über die Vorsehung erklärte dieser große Moralist am Hofe Neros: «Nicht einmal das, was wirr und ohne Ordnung (sc. incerta – eig.: unberechenbar, d. V.) scheint, Regen meine ich, Wolken und Blitzschläge Zucken und Feuermassen, wie sie sich aus geborstenen Berggipfeln ergießen, das Beben des schwankenden Bodens und anderes, was der unruhevolle Teil der Natur rings um die Erde in Bewegung setzt, ereignet sich regellos, obwohl es plötzlich eintritt; vielmehr hat dies seine Ursachen, ebenso wie das, was man an fremden Orten erblickt und für ein Wunder hält, wie inmitten der Fluten warme Quellen und neue Inseln, die aus dem weiten Meer emporsteigen.» (I 3; in: Philosophische Schriften, lat.-dt., I 5) Da alles eine Ursache hat, ist (zumindest auf einer tieferen Ebene) alles «vorherbestimmt». Wohl anerkannte seneca, daß es viel an vermeintlichen Übeln im Weltenlauf gebe, doch wollte er seinen Freund Lucilius «mit den Göttern versöhnen, die es mit den Besten am besten meinen» (I 5; in: Philosophische Schriften, lat.-dt., I 5); und um diese Überzeugung zu vermitteln, stellte er dem Adressaten seiner Schrift das Beispiel einer Vielzahl tapferer Römer vor Augen, die um hoher Ziele willen selbst schlimme physische Leiden nicht scheuten, sondern seelisch sogar an ihnen reiften. Für die Lebensführung folgte in seinen Augen daraus: «Entscheidungen des Schicksals leiten uns, und wieviel einem jeden Zeit bleibt – die erste Stunde, da man zur Welt kommt, hat es festgelegt. Ursache hängt von Ursache ab; private und öffentliche Verhältnisse reißt die dau-

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ernde Weltordnung mit sich. Deswegen muß tapfer alles getragen werden, weil nichts, wie wir meinen, zufällig geschieht, sondern alles verursacht eintritt. Vor Zeiten ist festgesetzt worden, woran du dich freuen sollst, worüber weinen, und mag noch so große Vielfalt scheinbar das Leben jedes einzelnen gestalten, das Ergebnis kommt auf eines hinaus: wir empfangen Vergängliches, selber vergänglich. Was also entrüsten wir uns? Was klagen wir? Dazu sind wir geboren. Verfahre, wie sie will, die Natur, mit unseren Körpern, ihrem Eigentum; wir, freudig bei allem und mutig, wollen bedenken, nichts gehe zugrunde, was uns gehört. Was ist eines werthaften Mannes Haltung? Sich darzubieten dem Schicksal. Bedeutender Trost ist es, mit dem All fortgerissen zu werden: was immer es ist, das uns so zu leben, so zu sterben geheißen hat, mit derselben Unausweichlichkeit bindet es auch die Götter; unwiderrufliche Bahn führt Menschliches gleicher Weise und Göttliches.» (V 7–8; in: Philosophische Schriften, lat.-dt., I 31–33) Für die Stoa bedeutete wahrer Gottesdienst mithin nichts anderes als eine Einstellung, welche die Notwendigkeit – und Absurdität – des Schicksals ebenso heroisch akzeptierte wie in der Moderne etwa der Existentialismus. Amor fati (lat.: die Liebe zum Schicksal) – Einverständnis mit dem Unabänderlichen – kennzeichnete eine solche Grundhaltung. Die Lebensmaxime, die sich daraus ergab, hat kein geringerer als Kaiser marc aurel (121–180, Kaiser von 161–180) in seiner Schrift Wege zu sich selbst (XII 1, S. 92) in der Mahnung zu einem naturgemäßen Leben in Charakterfestigkeit und innerer Ausgeglichenheit zusammengefaßt: «Alles jenes, zu dem auf Umwegen zu gelangen du dir wünschst, kannst du schon haben, wenn du es dir nicht selber mißgönnst, das heißt wenn du alles Vergangene zurücklässest und alles Zukünftige der Vorsehung anheimstellst und einzig das Gegenwärtige auf Frömmigkeit und Gerechtigkeit richtest. Frömmigkeit, damit du, was dir zugeteilt wird, liebst, denn zu dir brachte es die Natur und dich zu ihm. Gerechtigkeit aber, damit du frei und ohne Umschweife die Wahrheit sagst und tust, was nach Gesetz und Gebühr ist. Weder fremde Schlechtigkeit soll dich hemmen noch fremde Annahme und Stimme, aber auch nicht die Empfindung des um dich gewachsenen Fleisches. Denn was leidet, wird zusehen. Wenn du nun, sobald du einmal am Ausgang des Lebens stehst, alles übrige zurücklässest und nur dein Leitvermögen und das Göttliche in dir ehrst und keine Furcht davor hast, einmal dein Leben zu beenden, sondern davor, nie mit dem naturgemäßen Leben anzufangen, wirst du ein Mensch sein, würdig der Welt, die dich erzeugt hat, und wirst aufhören, ein Fremder im Vaterland zu sein und als unerwartet anzustaunen, was täglich geschieht, und von dem und dem abhängig zu sein.»

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Wie sich zeigt, war es in der stoischen Lehre möglich, unter der Hand eines unpersönlichen Schicksals einen «Soldatenmut» aufzubringen ähnlich einem Legionär, der unter dem nicht weiter zu befragenden Befehl seines Kommandanten sogar unter unwürdigsten Bedingungen, sogar unter Todesgefahr, seine Pflicht verrichtet. Dieses Verhältnis eines dienstwilligen Einverständnisses mit dem Unvermeidbaren mußte sich nun aber fundamental ändern mit der (jüdisch-christlichen) Vorstellung eines persönlichen Gottes, der einerseits – wie der Weltenhintergrund der Stoiker – wissend um den Gang der Natur wie der menschlichen Geschichte in allen Details von Anbeginn bis Ende vorgestellt wurde, der denknotwendig aber andererseits die ins Absolute gesteigerten Attribute der Allwissenheit, Allmächtigkeit und Allgüte aufweisen mußte. Als Person ist ein solcher Gott ansprechbar, mitfühlend, fähig zu absichtsvoller Lenkung der Welt; er ist womöglich beeinflußbar durch Gebete und Opfer, und er ist moralisch geradezu verpflichtet, den Gerechten und Getreuen durch Wundertaten beizuspringen. Daraus erwächst ein Problem, das die Theologen aller drei monotheistischen Religionen (Juden, Christen und Muslime) immer wieder beschäftigen mußte: das Verhältnis von göttlicher Vorsehung (Notwendigkeit) und menschlicher Freiheit. Ohne daß wir uns hier in Einzelheiten ergehen müßten, läßt sich bei dieser Fragestellung generell auf zwei Aspekte hinweisen. Zum einen: Ausgehend von dem Bild einer Gottheit, welche die Grundlagen der menschlichen Moralität in sich verkörpert, scheitert der Mensch notwendigerweise an einer Welt, die seinen Ausgangserwartungen derart offensichtlich diametral widerspricht. Wenn die Gottheit persönliche Züge von Weisheit und Güte an sich trägt, wie kann in der Welt dann so viel an Unheil und Qual existieren? – Es ist das uns so vertraute Theodizee-Problem, die Frage nach der «Rechtfertigung Gottes» (von griech.: der theós – Gott, die díke¯ – Gerechtigkeit), welche die abendländische Theologie seit den Tagen der Aufklärung nicht mehr zur Ruhe kommen ließ und die beginnend mit dem 19. Jh. als eine nicht zu verschließende Quelle des Unglaubens aus dem Urgestein des christlichen Gottesbildes aufbrechen mußte. (Vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 213 –231; 231– 240; ders.: . . . und es geschah so, 222 –226; 408 –420; ders.: Im Anfang . . ., 1083–1091; 1091–1103.) Um einfühlbar zu machen, wie fremd und irritierend einem im jüdischchristlichen Sinne Gläubigen der Weltenlauf zwischen Schicksal und Fügung, zwischen Schickung und Verhängnis erscheinen muß, genügt ein kurzer Abschnitt aus der Erzählung Abdias von 1842 aus der Feder adalbert stifters (1805 –1868). «Es gibt Menschen», schreibt der österreichische Dichter, «auf welche eine solche Reihe Ungemach aus heiterm Himmel fällt, daß sie endlich

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da stehen und das hagelnde Gewitter über sich ergehen lassen: so wie es auch andere gibt, die das Glück mit solchem ausgesuchten Eigensinne heimsucht, daß es scheint, als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um, damit es nur zu ihrem Heile ausschlage. – Auf diese Weise sind die Alten zu dem Begriffe des Fatums gekommen, wir zu dem milderen des Schicksals. – Aber es liegt auch wirklich etwas Schauderndes in der gelassenen Unschuld, womit die Naturgesetze wirken, daß uns ist, als lange ein unsichtbarer Arm aus der Wolke, und tue vor unsern Augen das Unbegreifliche. Denn heute kömmt mit derselben holden Miene Segen, und morgen geschieht das Entsetzliche. Und ist beides aus, dann ist in der Natur die Unbefangenheit wie früher. – Dort, zum Beispiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt – und wieder nach einem Weilchen wallt der Silberspiegel, wie vorher. – Dort reitet der Beduine zwischen der dunklen Wolke seines Himmels und dem gelben Sande seiner Wüste: da springt ein leichter glänzender Funke auf sein Haupt, er fühlt durch seine Nerven ein unbekanntes Rieseln, hört noch trunken den Wolkendonner in seine Ohren, und dann auf ewig nichts mehr. – Dieses war den Alten Fatum, furchtbar letzter starrer Grund des Geschehenden, über den man nicht hinaus sieht, und jenseits dessen auch nichts mehr ist, so daß ihm selber die Götter unterworfen sind: uns ist es Schicksal, also ein von einer höhern Macht Gesendetes, das wir empfangen sollen . . . – Aber eigentlich mag es weder ein Fatum geben, als letzte Unvernunft des Seins, noch auch wird das einzelne auf uns gesendet; sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen – die Kette der Ursachen und Wirkungen – und in das Haupt des Menschen ward die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen, und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinab zu zählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht.» (adalbert stifter: Studien, in: Werke in drei Bänden, I 521– 605: Abdias, 523– 524) Vielleicht, so die verbleibende Hoffnung der Gläubigen, verbirgt sich hinter der grausamen Kälte der Naturgesetze denn doch die sinnreiche Mechanik einer gütigen Gottheit, deren Planungen wir allerdings erst vom Ende her genügend begreifen, um sie in ihrer majestätischen Schönheit dann freilich um so mehr recht würdigen und rühmen zu können. Gerade so dachte leibniz, gerade so wollte es hegel, nur daß die beiden Philosophen jene Einsicht bereits gewonnen zu haben wähnten, die dem Heimgesuchten, selbst wenn sie zuträfe, kaum je zum Trost gereichen könnte, will er doch mehr sein als nur ein Kausalglied der «Kette».

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Und noch ein zweites gilt generell für den Versuch einer Verbindung von Vorsehung (Notwendigkeit) und Freiheit: Das Problem der Theologen mit der Freiheit des Menschen ergab und ergibt sich nicht eigentlich naturphilosophisch, sondern biblisch. Alle drei monotheistischen Religionen verstanden und verstehen sich von einer Offenbarung her, die ihrem jeweiligen «Gründer» (Abraham bzw. Mose, Jesus und Mohammed) zuteil geworden sei. Die theologischen Schulen aller drei Glaubensrichtungen neigen deshalb in Vergangenheit wie Gegenwart unbeirrt zu der Annahme, sie verfügten auf Grund eben dieser «Selbstmitteilung» Gottes über ein quasi objektives Wissen vom Wesen der Gottheit, das es ihnen ermögliche, die Welt und das menschliche Schicksal aus der Sicht Gottes selbst betrachten und beurteilen zu können. Gerade bei der Erörterung zahlreicher psychoanalytischer und neurologischer Befunde zu dem Eindruck religiöser Erfahrungen haben wir gesehen, wie wenig Erlebnisse von Visionen und Auditionen, so subjektiv glaubhaft sie im Einzelfalle auch sein mögen, dazu geeignet sind, für objektive Tatsachen genommen zu werden: niemals sind sie ein «Einbruch» «von außen» oder das Resultat eines übernatürlichen «Eingriffs», – jedenfalls kann eine solche Einschätzung nicht als eine wissenschaftliche Erklärung derartiger Phänomene durchgehen; es handelt sich bei solchen religiösen Erfahrungen nach allem Gesagten vielmehr um Vorstellungen, die im menschlichen Gehirn sich ereignen und vom menschlichen Gehirn erzeugt werden; erst die persönliche und soziale Deutung oder Bedeutungsverleihung fügt solchen Begebenheiten die eigentlich religiöse Dimension hinzu. Diese Hinzufügung der religiösen Dimension bzw. diese Umgestaltung einer Wahrnehmung(sstörung) zu einer göttlichen Offenbarung ist theologisch nur möglich, wenn unter «Offenbarung» eine Begegnung zwischen Ich und Du, zwischen Person und Person verstanden wird. Das Sprechen von Offenbarung muß theologisch deshalb unbedingt in der schwebenden Sprache symbolischer Mitteilung verbleiben, um sich nicht selber mißzuverstehen, – als Beispiel für das Gemeinte mag noch einmal die Bekehrung des Apostels Paulus vor Damaskus hilfreich sein (s. o., S. 679– 680). Verständlicherweise haben die Betroffenen (die «Offenbarungsträger») selber schon ihre Widerfahrnisse als ein objektives Geschehen geglaubt und ihren Zeitgenossen mitgeteilt, bis daß – in beliebig weiter historischer Entfernung – ganze Generationen von theologisch Gelehrten sich anschickten, weit weniger «prophetisch» und «enthusiastisch», sondern eher persönlich unberührt bzw. «wissenschaftlich» distanziert, in wesentlich theoretischer Absicht die großen Erfahrungen ihrer Gründer in ein System, in einen möglichst geschlossenen «nexus mysteriorum» (lat.: eine – logische – Verbindung zwischen den geheim-

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nisvollen Inhalten) zu bringen. Statt die projektiven Inhalte der menschlichen Psyche in den Offenbarungsbildern ins Innere zurückzuholen und damit einer Intensivierung der Existenz dienlich zu machen, führte die theoretisierende Verobjektivierung der ursprünglich persongebundenen Erlebnisinhalte zu einem begrifflich erstarrten, dogmatischen Wissen in einem Status vollkommener psychischer Entfremdung. Vermutlich muß das immer wieder so sein; vielleicht gibt es wirklich ein Entwicklungsgesetz der Religionen, wie gustav mensching (Die Religion. Eine umfassende Darstellung ihrer Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, 288 –302) es aufstellen wollte, wonach auf die Phase einer großen Vision und Intuition in der Anfangszeit einer neuen religiösen Bewegung notwendigerweise eine Epigonenepoche intellektualisierender Dogmatiker und institutionalisierender Priester sowie beamteter Gemeindeaufseher folgt; in jedem Falle aber bringt eine solche Verlaufsgeschichte es mit sich, daß aus Bildern des Vertrauens Doktrinen der Macht werden. (Zur Religionspsychologie solcher Verfestigungen vgl. e. drewermann: Glauben in Freiheit, I 51– 95: Das prophetische Vorbild . . . und die lehramtliche Travestie oder: Ätiologie einer Krankheit; 96–139: Kirchenlehre als Entfremdung oder: Die Symptomatologie einer Krankheit; 140 –191: Kirchliche Sozialpsychologie und Zwangsneurose oder: Die Diagnose der Erkrankung.) Eine ferne Gottheit steht nunmehr den Menschen mit dem Attribut absoluter Macht und Majestät gegenüber. Man kann sich leicht vorstellen, was unter solchen Voraussetzungen aus Bibelversen sich ergeben wird, wonach Gott selbst das Herz des Pharaos «verstockte» (Ex 4,21), oder aus Koranversen, die – durchaus biblisch – besagen, daß Gott es ist, der «in Irrtum und auf dem rechten Weg» wandeln läßt, «wen er will» (Koran, XVI 94; vgl. Ex 33,19; Röm 9,15–18). Zu Recht weist hans küng bei seiner Darstellung des Gedankens der Vorherbestimmung Gottes im Islam darauf hin, daß bereits in der Zeit der Umaiyaden in Damaskus um 700 n. Chr. «die politischen Eliten . . . aus begreiflichen Gründen» an dem Gedanken der Schicksalsbestimmung durch Allah interessiert waren (Der Islam, 280– 290, S. 281); doch gilt ein gleiches auch für das Christentum, als es, um im 4. Jh. zur Staatsreligion Roms aufsteigen zu können, die Gestalt des Mannes aus Nazareth in einen allgewaltigen Gottessohn, in den Pantokrator (von griech.: pãs – alles, und kratýs – gewaltig), verwandelte. (Vgl. erich fromm: Die Entwicklung des Christusdogmas, in: Gesamtausgabe, VI 19– 25: Die sozialpsychologische Funktion der Religion; vgl. zur Gottessohnschaft Jesu auch e. drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden, 607– 632.) Es ist an dieser Stelle nicht (mehr) unsere Aufgabe, die offizielle Kirchentheologie aus diesen ihren selbstgeschaffenen Sackgassen herauszuführen;

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es genügt, mit der psychoanalytischen Religionskritik schon im ersten Drittel des 20. Jhs. darauf hinzuweisen, daß ein solches dogmatisiertes Gottesbild selber notgedrungen eine Reihe schwerer Einschränkungen des Denkens und des Fühlens zur Folge haben muß. (Vgl. theodor reik: Dogma und Zwangsidee, 44 –52; e. drewermann: Glauben in Freiheit, I 161–173.) Die meisten Menschen der Gegenwart jedenfalls haben nicht länger das Problem, wie man in logischer Artistik trotz allem doch noch den Allmachtsanspruch Gottes und den Gedanken der Vorherbestimmung mit der Freiheit und Verantwortung des Menschen in Vereinbarung bringen könnte, vielmehr stellt sich ihnen die Aufgabe, wie die Grunderfahrung des Religiösen sich zurückgewinnen lasse, um Gott endlich und erneut als die Macht wiederzuentdecken, die Freiheit allererst ermöglicht. Daß gerade die Texte (in der Bibel ebenso wie) im Koran so und nicht anders zu lesen sind, zeigt sich am Beispiel der gerade zitierten Sure XVI 94, die unmittelbar nach der Betonung der absoluten Macht Gottes, ohne darin einen Widerspruch zu erblicken, fortfährt: «ihr (sc. die Menschen alle, d. V.) werdet einst Rechenschaft geben müssen über das, was ihr getan.» Die Allmacht und Allwissenheit Gottes ist an dieser Stelle gerade die Vollmacht des Menschen in der Zuständigkeit und Zurechenbarkeit seines Lebens. Gott kennt und umfängt den Menschen ganz, und dieser gewinnt gerade dadurch die Kraft zu seinem eigenen Dasein. Nun steht jedoch gerade in diesem Punkte am Anfang des Christentums eine Erfahrung, welche die gesamte Problemstellung, als sei sie (theologisch oder ideologisch) nicht schon schwierig genug, wie mit Mutwillen ins Extrem treibt: es geht um das Empfinden der radikalen Unfreiheit des freien Willens, ausgesprochen in dem Dogma von der «Erbsünde» des Menschen und seiner radikalen Erlösungsbedürftigkeit durch die Rettungstat Christi. Es ist dieser Teil der christlichen Lehre, der (vor allem infolge seiner sexualneurotischen Implikationen) eine solche Hypothek von Schuldgefühlen und Irrationalitäten zu tragen hat, daß er selbst auf den Lehrstühlen der systematischen Theologie oft nur noch wie im verborgenen mitgeführt wird, lediglich um die Einzigartigkeit der Person des «Erlösers» (Jesu Christi) hervorheben zu können; in Wirklichkeit aber liegt gerade in dieser paradox anmutenden Auffassung der eigentliche Kern der christlichen Botschaft – im Unterschied etwa zu Judentum und Islam –, und wir bedürfen dieser Sicht auf den Menschen unbedingt, weil allein sie eine Dimension der menschlichen Existenz erschließt, an welcher die sonst schier unentscheidbare Frage nach der menschlichen Freiheit ihre mögliche Antwort findet. Kommen wir noch einmal zurück auf den Punkt, den wir in unserer bisheri-

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gen Diskussion mit den Forschungsergebnissen der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Neurologie, bereits erreicht zu haben glaubten: Freiheit, so sagten wir, sei keine Naturtatsache, und sie könne prinzipiell kein möglicher Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis sein; wenn es sie tatsächlich geben sollte, dann nur, indem durch einen Akt der Bewußtwerdung die kausal ablaufenden Prozesse der äußeren wie der inneren Natur die Grundlage für einen neu entstehenden Entscheidungsspielraum mit zuverlässiger Planbarkeit und kalkulierbarem Handlungsrisiko eröffneten; insbesondere gegenüber den internen psychischen Determinanten (der eigenen Biographie, des persönlichen Unbewußten, der charakterbedingten Persönlichkeitsstruktur) sei Freiheit nur durch Selbsterkenntnis und Ich-Reifung zu erringen. Dann aber, dachten wir, lasse sich von Freiheit wirklich sprechen, habe doch die eigene Persönlichkeit durch diese Entwicklung einen Standpunkt eingenommen, der es ihr erlaube, nicht anders mit ihren Gedanken und Gefühlen umzugehen, als daß daraus sich Willensentschlüsse und Verhaltensweisen zu formen vermöchten, die wesentlich nur von ihr selber abhingen; einzig Entscheidungen und Handlungen dieser Art, die aus der Identität des Ich hervorgehen, verdienen ja die Bezeichnung frei (im Sinne von «selbstbestimmt»). Daher glaubten wir auch sagen zu können: Ein Mensch sei so frei, wie er selbst sei; je weniger Selbst, desto weniger Freiheit; beides sei eins. Und doch bewegten und bewegen wir uns mit alldem offenkundig in einem begrifflichen Zirkel. Denn was ist das «Selbst»? Wir müssen nur noch einmal aufzählen, unter welchen Einflüssen dieses Selbst sich formt (oder geformt wurde!): genetische Festlegungen, vorgeburtliche Faktoren, frühkindliche Prägungen, milieureaktive Bahnungen, die Laune der Lebensumstände und deren Rückwirkungen auf die sich bildende Persönlichkeit – dies alles zusammen schließlich malt ein Bild, welches das Selbstbewußtsein als sein Ich, als sein Selbst zu betrachten gewillt ist. Doch kann, ja, muß der Einwand gegen die einfache Gleichsetzung von Freisein und Selbstsein unter diesen Umständen nicht sofort lauten, daß dieses «Selbst» doch selbst nur ein Produkt aus all den genannten Faktoren sei und daß sogar die Korrekturen, die es – zum Beispiel im Verlaufe einer Psychoanalyse – an dem nicht von ihm selber gefertigten «Bild» vorzunehmen versuche, nichts weiter sein könnten als ein paar Retuschen, die auch wieder nur aufgetragen würden nach den Vorlieben bestimmter ideeller Vorgaben? In der Tat: solange wir einem Menschen nur sagen können, sein «Selbst» erkläre sich biologisch, neurologisch, psychologisch und soziologisch – er sei halt das Kind seiner Eltern, ausgestattet mit ihrem Erbgut, ausgesetzt ihren Erzie-

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hungseinflüssen, versehen mit einem Gehirn, das entsprechend seinen Anlagen und Möglichkeiten sich unter den gegebenen Voraussetzungen entwickle, so daß er, je nach den Bedingungen, mehr oder minder glücklich oder unglücklich mit den Menschen zu seiner Zeit und an seinem Ort zurechtkommen werde –, solange definieren all die genannten anthropologisch relevanten Wissenschaftszweige bei ihrer Suche nach der Freiheit zwangsläufig die Unfreiheit; es ist aber erst die Theologie – und jetzt speziell ihre «Erbsündenlehre» –, die diese Tatsache als unvermeidlich offenbar macht, da sie als einzige dazu nötigt, mit den Notwendigkeiten eines so definierten Daseins zu brechen. Nehmen wir, um das Gemeinte zu verdeutlichen, noch einmal (idealtypisch) den Prozeß einer gut verlaufenden Psychotherapie und setzen wir dabei den Fall eines der amerikanischen Soldaten, die nach ihren ersten Kampfeinsätzen an PTSD (an Posttraumatischem Streß-Syndrom, D = engl.: disorder-Störung, s. o. S. 258 –260) erkranken und «schlimmstenfalls» frühzeitig nach Hause zurückkehren müssen; nur der Name – so wissen wir – ist neu, das Entsetzliche an sich ist von alters her bekannt. In allen Kriegen wurden und werden deshalb Militär«seelsorger» zur Stärkung der Kampfmoral der Truppe mit «ins Gefecht» geschickt; wir hörten schon, daß im Irak-Krieg die von heimgekehrten Soldaten verübten Gewalttaten in den USA an Zahl und Brutalität ein Ausmaß erreichen, daß das Pentagon auf dieses Problem reagieren mußte und einen entsprechenden psychologisch-psychiatrischen Betreuungsdienst zur «Resozialisierung» ihrer «durchgedrehten» «Killer-Maschinen» einrichtete. Ohne Schwierigkeiten können wir uns vorstellen, wie ein 23jähriger Soldat fühlen wird, der mitansehen muß, wie die Geschosse seiner High Speed-Gun menschliche Körper zerfetzen, vor allem wenn diese «Körper» die Leiber von Kindern, Frauen und wehrlosen Männern sind. Die streßbedingte «Störung» eines solchen Mannes kann sehr tief gehen: Er fragt sich, was er da eigentlich gerade gemacht hat, ob er sich nicht ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, ob er das, was er da getan hat und weiter tun soll, jemals gewollt hat, – er fragt sich, mit einem Wort, wer er selber «eigentlich» ist. Und wie wird nun ein Psychiater der US-Army oder irgendein anderer Psychotherapeut, der in der (amerikanischen) Gesellschaft gut genug verankert ist, um ihre Zielsetzungen und Überzeugungen prinzipiell zu teilen, auf diese Situation antworten? Sein Patient stellt sich selber zutiefst in Frage – aber warum? Er ist als Soldat zum Mörder geworden? – Nein, er hat nur seine Pflicht getan; er hat für hohe Ideale gekämpft und dabei selbstlos und opferbereit sein Leben aufs Spiel gesetzt; er hat Grund, auf sich mit Hochachtung zu schauen, statt sich mit falschen Schuld- und Schamgefühlen zu traktieren. Selbst sein Präsident sagte

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noch neulich: «Wir sind stolz auf unsere Soldaten, die heldenhaft unsere Freiheit verteidigen.» – Er hat jegliche Lust am Leben verloren, weil er anderen Menschen das Leben genommen hat? – Aber nicht doch! Jeder Mensch, jedes Tier will leben, und es liegt in uns allen, um unser Überleben zu kämpfen. Als ein gut ausgebildeter Soldat war er nur schneller als sein(e) Gegner; im Entscheidungsmoment «Er oder Ich» war seine Hand rascher und sicherer am Abzug, das ist alles. Außerdem: ein toter Soldat nützt seinem Vaterland nichts (mehr); für einen guten Soldaten ist es eine Pflicht, möglichst lange am Leben zu bleiben und seine Haut zumindest möglichst teuer zu Markte (d. i. zu Grabe) zu tragen; nur das hat er getan. – Es steht, wohlgemerkt, nicht zu erwarten, daß ein Therapeut, der seine Aufgabe ernst nimmt, direkt und direktiv einen traumatisierten Soldaten patriotisch zu indoktrinieren versucht; doch das ist auch nicht nötig. Es langt vollkommen aus, die uralten Mechanismen zu reaktivieren, die uns Menschen bis in die Hirnstrukturen hinein tief genug mit dem Leben verbinden und diese noch einmal fest und bewußt genug zu bejahen: die lebenrettenden Angstsignale der Amygdala, die von ihr eingeleitete sympathicone Streßreaktion, das mesolimbische Belohnungssystem im Fall des Erfolges, der generalisierte Durchsetzungswille des Bewußtseins, der Leistungswille des Selbstbewußtseins – auf allen Ebenen und an jeder Stelle genügt ein freundlich begleitendes therapeutisches Brummen, ein bestätigender Blick, um die naturgegebenen Reaktionsmuster einer positiv gestimmten, lebenbejahenden, dynamisch nach vorn blickenden Haltung wiederzugewinnen. Am Ende, so sollen wir hoffen, ist das PTSD überwunden. Unser Soldat ist wieder ganz der alte: er tut – sogar überzeugter denn je – erneut seinen Dienst, er ist noch treuer in seiner Pflichtauffassung, er taugt als Vorzeigefall für gelungene Krisenbewältigung. Er hat sich selbst, seine Identität – seine Freiheit wiedergefunden. Oder etwa nicht? Der geschilderte Therapieverlauf, mit Verlaub, ist keine Karikatur; er entspricht ganz und gar den Erwartungen der bürgerlichen Normalität, er ist (also!) ein Teil des kollektiven Wahns der Gesellschaft (s. o. S. 231– 248). Doch eben deshalb müssen wir die Lage so scharf konturiert wie möglich zeichnen, um als ein elementares Bedürfnis die Sehnsucht nach einer anderen Welt zu wecken, mithin die Suche nach einer Alternative anzuregen. Gibt es sie überhaupt – eine Alternative? Nehmen wir an, unser PTSD-Patient geriete bei buddhistischen Mönchen in Therapie oder bei einem Quäker, der jedweden Kriegsdienst für unvereinbar mit der Botschaft Jesu erachtet; auch solche Therapeuten würden methodisch behutsam arbeiten, auch sie würden es ablehnen, die Abhängigkeit ihres Patien-

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ten auszunutzen, um ihm missionarisch ihre weltanschaulichen Ansichten einzupflanzen. Und doch gestattete ihnen ihre Sicht der Dinge ein weit intensiveres Verständnis für die Selbstinfragestellung eines durch die Grausamkeit seiner eigenen Taten traumatisierten Soldaten: Hat er nicht recht, eine Gesellschaft für zutiefst schizophren zu halten, die von ihm beides verlangt: mal acht Stunden im Büro Akten zu sortieren, zwei Stunden zu Hause mit den Kindern zu spielen und in der Nacht noch die Frau zu verwöhnen, dann aber auszuziehen, um auf Befehl Wohnhäuser, Brücken, Autobahnen, Sendestationen, Wasserund Elektrizitätswerke zu bombardieren und dabei beliebig viele Frauen und Kinder zu töten oder bis zur Unkenntlichkeit mit Streubomben und Napalm (mit sogenannten «Antipersonen-Waffen») zu zerfetzen und zu verbrennen? Doch ginge es bei all dem keinesfalls nur um die Zweifel an der Umerziehung von Menschen zu «Killer-Profis»; zur Debatte stünden die Strukturen einer Gesellschaft insgesamt, die sich nach wie vor die «Option» militärischen Eingreifens (bis hin zu Atomwaffeneinsätzen) «offenhält»: Was für eine Bereitschaft, buchstäblich wie bildlich, «über Leichen zu gehen», liegt der Wirtschaft, der Finanzwelt, der Politik eines solchen Gemeinwesens zugrunde? Und wie steht es mit der Selbstverständlichkeit, im Entscheidungsmoment des «Er oder Ich» die Hand halt schneller zum Halfter zu führen? All die Zielvorgaben und Erfolgsstrategien der Evolution – kann man, darf man sie als den natürlichen Bodensatz der menschlichen Existenz und Geschichte einfach übernehmen und weiterleben? Schon als wir von der Bedeutung des Hirnstammes für unser Denken und Handeln sprachen, haben wir uns des Eindrucks nicht erwehren können, daß, neurologisch betrachtet, der Hirnstamm den präfrontalen Cortex fest «im Griff» hat (vgl. Bd. I 88– 89), daß, biopsychologisch gesprochen, die archaischen Gefühle des limbischen Systems die planende Vernunft des präfrontalen Cortex stärker kontrollieren als umgekehrt und daß, paläoanthropologisch gesehen, die Verhaltensbereitschaften der Altsteinzeit kaum gebremst unsere Gegenwart durchziehen und Gefahr machen, die Zukunft zu zerstören (vgl. Bd. I 589). Gerade dies aber ist die Diagnose, die das Christentum als eine Erlösungsreligion zu stellen wagt: es spricht mit dem Blick auf unsere gewohnte, vertraute Welt als von der Sphäre des «alten Menschen» (vgl. Röm 6,8; Kol 3,9; Eph 4,22), und es erwartet dessen Überwindung in der Gestalt des «neuen Menschen» (Kol 3,10; Eph 2,15; 4,24), für den als Prototyp es die Person des Mannes aus Nazareth nimmt (Eph 2,14; vgl. e. drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden, 162–176: Mk 1,9 –13: Von Wiedergeburt und Selbstfindung). Es ist, wenn es so steht, nicht länger möglich, zu einer wahren

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Form von Menschlichkeit zu reifen, ohne all die uns so vertrauten Praktiken der bürgerlichen Welt als unmenschlich zu entlarven und sich aus ihnen herauszulösen. Die Bergpredigt des Neuen Testamentes (Mt 5 –7) erweist sich dabei als ein Katalog humaner Evidenzen zur Orientierung auf dem Weg zur Freiheit. (Vgl. e. drewermann: Das Matthäus-Evangelium, I 367– 427: Mt 5,1–12: Die Bergpredigt und die Seligpreisungen; 448 –462: Mt 5,21– 26: Versöhnen statt Töten.) Entscheidend in unserem Zusammenhang ist das Heraufdämmern einer neuen – eigentlichen, wo nicht einzigen – Form von Freiheit. Bis jetzt noch immer ließ gegen das Festhalten an der Vorstellung der Willensfreiheit der Einwand sich erheben, alle vermeintliche Autonomie müsse schon deshalb illusionär sein, weil wir bei allen Entscheidungen, die wir unabhängig von externem Zwang zu treffen versuchten, uns doch nur, dressierten Tanzbären gleich, im Kreise bewegten – stets innerhalb des Zirkusrondells der archaischen Vorgaben all dessen, was uns überhaupt für erstrebenswert gelten kann. Nicht allein sigmund freuds These von der scheinbaren Allmacht des Lustprinzips bedürfte auf dem Wege zu wirklicher Freiheit ihrer Auflösung; wir erinnern uns dabei an die drei Lustzentren des Dopamin-Systems, vor allem an die Bahn, die vom Ventralen Tegmentalen Areal (VTA) zum Nucleus accumbens und von dort zum präfrontalen Cortex führt (vgl. Abb. B 75); und wir fragen uns, ob sich mit neurologischen Mitteln die These je besser belegen läßt, daß auch unsere «geistigen» Entscheidungen im Rahmen von emotionalen «Wertevidenzen» bzw. affektiven Belohnungsprämien getroffen werden, die unser Denken auf festen Bahnen halten? Doch wenn es sich so verhält, sind dann nicht selbst unsere vermeintlich so rationalen Urteile, die wir nach langem Nachdenken und Überlegen fällen, nur die Erfüllungsaufträge uralter (emotionaler und triebhafter) Vorurteile? frans de waal, der uns bereits bei der Aufklärung so mancher Tricks im Zusammenleben von Primaten als Lehrmeister zur Seite stand, schildert in seinem Buch Der Affe in uns ebenso ausführlich wie eindrucksvoll eine Vielzahl von Mechanismen, die auch und gerade bei unserer mit den Schimpansen aufs engste verwandten Species uneingeschränkt ihre unveränderte Durchsetzungskraft behaupten. Wir lesen des morgens die Zeitung, wir schauen des abends die Tagesnachrichten – beides als recht vernünftig anmutende Aktivitäten; doch was, ehrlich gefragt, nimmt dabei unser Interesse in Anspruch? Welch ein Politiker hat sich mit wem vor der Kamera präsentiert, welche Machtspiele strukturieren gerade den Aufbau der Hierarchie im Regierungslager, welche Affären an sexuellen Liebschaften oder an korrupten Machenschaften lassen sich neuer-

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lich unserer Führungselite nachsagen, welche Gefahren drohen im Innern und Äußeren (an den Reviergrenzen), welche Aufgeregtheiten unterbrechen die Alltagslangeweile – lauter Themen, die ganz analog jede Schimpansengruppe in Trapp halten; und dann erst das Kräftemessen der Kombattanten im Sport – welches «Männchen» war im Wettlaufen oder im Boxkampf wem überlegen? und zudem die Verführungskünste der Stars im Show-Geschäft – welches «Weibchen» lockte bei der Verleihung von «Oscar» und «Bambi» mit der raffiniertesten Mode, reizte mit dem tiefsten Ausschnitt? Und nicht zu vergessen, die Frage der Nahrungsbeschaffung – um wieviel stiegen die Lebenshaltungskosten im letzten Monat, wie teuer ist das Benzin nach den neuesten Schätzungen auf dem Rotterdamer Spot-Markt? – Man braucht all diese Entsprechungen im Verhalten von Tier und Mensch nur zu ergänzen durch die reich bebilderte ethnologische und kulturanthropologische Studie von peter marsh und desmond morris über Die Horde Mensch, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die gesamte menschliche Geschichte nur eine schlecht kaschierte Repetition all der Possen und Posen darstellt, die schon vor dem Auftreten des Menschen seit Jahrmillionen in der Tierreihe immer und immer wieder in ermüdender Monotonie aufgeführt werden. «Das», dozierte noch hegel (Philosophie der Geschichte, 78), «ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt.» Umgekehrt, möchte man meinen: die Leidenschaften lassen die «Vernunft» für sich arbeiten, um immer kommodere Formen der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und immer gräßlichere Austragungsformen ihrer Grausamkeiten zu ersinnen und zu ermöglichen. Die «steuernde» Vernunft erscheint dabei gerade als so hilfreich wie der Kompaß im Binnackel (dem Kompaßhäuschen) dicht vor dem Steuerruder einer Dreimast-Bark mitten im Sturm: In der Aussichtslosigkeit, Kurs zu halten, läßt er doch mindestens das Ausmaß der Abdrift in etwa erahnen . . . Für das Thema Freiheit folgert daraus etwas Wichtiges: Mag auch der Einzelne gute Gründe haben, sich nach gelungener – womöglich psychoanalytisch vermittelter – Auseinandersetzung mit seinen unbewußten Antrieben und Reaktionsweisen für «weniger intern determiniert», also in erweitertem Umfang für «frei» zu halten, so kann er doch diese seine Freiheit scheinbar immer noch nicht anders nutzen als ein freigelassener Sklave an Bord eines Schiffes, das vor raumem Wind in den Untergang läuft: Wohl kann er – mit schopenhauer – tun, was er will; er kann (vielleicht) sogar – mit hegel – sich bewußtmachen, was zu wollen «vernünftig» ist; aber er kann die Unterströmung seines Daseins, die Abdrift im ganzen seiner Existenz kaum je beeinflussen, geschweige denn aus eigener Kraft einen neuen Kurs steuern; er kann seine Freiheit nicht leben.

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Das könnte er nur – durch Abmustern! Er müßte – ein «neuer Mensch» werden! Genau das ist die Diagnose des Christentums. Die Kernaussage der Sündenfallerzählung (Gen 3,1–7) im Alten Testament sowie der Gleichnisse Jesu im Neuen Testament über die Befindlichkeit des Menschen in der Welt ist hier gerade diese: Nicht etwas, – alles ist falsch («sündhaft») im menschlichen Leben, und wir drehen uns in den Wänden unserer Gefangenschaft bei aller Vernunft, bei allem guten Willen, ja, sogar im Vollzug aller möglichen bürgerlichen Tugenden nur immer schneller im Kreise. Für alle philosophische Ethik ist ein solcher Standpunkt geradewegs skandalös; freilich tritt dieser «Skandal» natürlich nur offen zu Tage, wenn die christliche Theologie ihre eigene Überzeugung in diesem Punkt wirklich ernst nimmt. nicolai hartmann – vor 80 Jahren – konnte und mußte darauf (noch) reagieren: «Es liegt», schrieb er, «im Wesen der moralischen Schuld, daß sie eine Last ist, und daß der Mensch diese Last auf sich nehme und tragen muß, oder aber von ihr erdrückt werden muß. Im religiösen Begriff der Sünde aber tritt hierzu noch ein zweites Moment: die Last macht den Menschen auch schlecht, macht ihn unfähig zum Guten, versperrt ihm den Weg zur sittlichen Erhebung. Dadurch erst wird sie dem Menschen zum Fluch, zum bösen Geschick. Und hier ist der Ansatzpunkt für das Werk Gottes am Menschen, die Erlösung. – Damit wird die Sünde zu etwas Substanziellem, vom Menschen und seinem Tun Ablösbarem gestempelt . . . Das Übel ist vom Standpunkt der Religion gar nicht eigentlich die böse Tat, bzw. der böse Wille – denn diese können ja nicht rückgängig gemacht werden, sollen auch in der Erlösung gar nicht aufgehoben werden, sie werden vielmehr nur ‹vergeben›, werden nicht zugerechnet –, sondern das eigentliche Übel ist die Last, das Tragenmüssen und das sittliche Gehemmtsein durch die Last. Das Schuldigsein an der bösen Tat (sc. in ethischer Betrachtung, d. V.) kann niemandem abgenommen werden, weil es unabtrennbar ist vom Schuldigen – man müßte ihm denn das Schuldigsein selbst absprechen und ihm damit die sittliche Zurechnungsfähigkeit bestreiten. Die Sünde aber, sofern sie (sc. in religiöser Betrachtung, d. V.) im Gegensatz zum sittlichen Sinn der Schuld als ein Abtrennbares verstanden wird, kann abgenommen werden. – Diesen Sündenbegriff kennt die Ethik nicht. Sie hat für ihn keinen Raum . . . eine prinzipielle Unfähigkeit des Menschen zum Guten durch sie (sc. die Last der Schuld, d. V.) gibt es (sc. in der Ethik, d. V.) nicht. Die Möglichkeit sittlicher Erhebung», postulierte hartmann denn auch als Moralphilosoph, «besteht (sc. in der Ethik, d. V.) immer grundsätzlich (sc. wohingegen in der religiösen Betrachtung das tragische Getriebe der Schuld den Weg zu sittlicher Erhebung prinzipiell versperrt, d. V.) . . . Die Sehnsucht zum Guten ist

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(sc. in der Ethik, d. V.) nie und unter keinen Umständen leere Ohnmacht (sc. wie in der – christlichen – Religion, d. V.). Sie gerade ist die aktuellste Macht zum Guten.» (nicolai hartmann: Ethik, 817–818) Dieser Darstellung zufolge besteht die christliche «Alternative», die «Erlösung», also wesentlich in einer (rein deklaratorischen) «Abnahme» der Schuld, in ihrer Nicht-Anrechnung im «Strafgericht» Gottes, das damit aufhört, ein solches noch länger zu sein; und in der Tat: so kann man, so sollte man vor allem die protestantische «Rechtfertigungslehre» ihren Worten nach unzweideutig verstehen. Was sich in hartmanns Antinomien-Lehre zwischen Ethik und Dogmatik im 20. Jh. wiederholte, besaß sein großes Vorbild historisch in der Kontroverse zwischen erasmus von rotterdam (1466 oder 1469 –1536) und martin luther (1483 –1546), zwischen der Schrift De libero arbitrio diatribe sive collatio (Diatribe oder Untersuchung über den freien Willen) von 1524, einer ganz und gar akademischen Erörterung aus der Feder des einen, und der engagierten, ja, enragierten Erwiderung De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) von 1525 aus der Feder des anderen. Um den Sinn und die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung zu verstehen, die zweifellos den Kern des Selbstverständnisses der Ethik ebenso betrifft wie des Christentums, ist es sehr hilfreich, an luthers theologischen Mitstreiter, ja, Lehrmeister in dieser Frage, an philipp melanchthon (1497–1560), zu erinnern, der bereits 1521 in seinen Loci communes (I 19) erklärt hatte: «Da . . . alles, was geschieht, gemäß der göttlichen Vorherbestimmung notwendig geschieht, gibt es keine Freiheit unseres Willens.» Dabei hatte er sich ausdrücklich auf das 9. und 11. Kap. des Römerbriefes berufen, indem er schrieb: «. . . weder die Furcht Gottes noch das Vertrauen auf Gott wirst du anderswoher sicherer lernen, als wo du (einen) Geist mit diesem Wort ‹Vorherbestimmung› vertraut machst.» (Loci communes, I 27) Man hat in der Forschung gemeint, melanchthon habe diese seine deterministische Prädestinationslehre später in den Scholia in epistulam Pauli ad Colossenses von 1527 dahin präzisiert, daß dem Menschen im bürgerlichen Bereich Urteilsfähigkeit und Willensfreiheit verbleibe; doch auch in den Loci communes (I 42 –43) räumte er durchaus «eine gewisse Freiheit in äußeren Werken» ein: «daß es in deiner Macht steht, einen Menschen zu grüßen oder nicht zu grüßen, dieses Gewand anzuziehen oder nicht anzuziehen, Fleisch zu essen oder nicht zu essen»; für solche Entscheidungen stellte er fest: da «Gott die äußeren Werke nicht beachtet, sondern die inneren Regungen des Herzens, deshalb hat die Schrift nichts über diese Freiheit ausgesagt.» In den wesentlichen Fragen aber, die über des Menschen Heil

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oder Unheil entscheiden, vor Gott, sind die Aussagen der Schrift nach melanchthon eindeutig: Hier kann der Mensch nicht wählen. Nach diesen in aller Klarheit formulierten Worten wird der Mensch von der Macht des Bösen in einer Weise besetzt gehalten, die ihm – ganz im Sinne des Bildes von dem freigelassenen Sklaven auf dem Unglücksschiff – zwar jede Freiheit läßt, dies oder das zu tun oder zu lassen, die ihm aber nicht einräumt, den «Kurs», die Gesamtausrichtung, das Vorzeichen vor der Klammer der Summe seiner Handlungen im ganzen zu bestimmen; nur «äußerlich» erscheint somit der Mensch als frei, – in Wahrheit, «innerlich», in seiner Motivation ist er ein Getriebener. Ganz gleichlautend nun fällt die theologische Auskunft martin luthers in dieser Frage aus. Bereits 1518 hatte der Reformator in der Heidelberger Disputation die These verfochten: «Freiheit des Willens gibt es nach dem Sündenfall nur noch dem Namen nach, und sofern der freie Wille tut, was an ihm ist, begeht er Todsünde.» (Die Heidelberger Disputation, These XIII, in: Die Werke Luthers in Auswahl, I 385) Sieben Jahre später, eben in jener gegen erasmus von rotterdam gerichteten Streitschrift Vom unfreien Willen, in welcher er eingangs ausdrücklich auf melanchthons Loci Bezug nimmt (in: Die Werke Luthers in Auswahl, III 152), stellte luther (erneut mit Berufung auf Röm 9,18: «Er erbarmt sich, wessen er will, und er verstockt, wen er will») mit Emphase heraus: «Als ob wir Menschen, wenn wir nur wollen, könnten, was er (sc. Gott, d. V.) verlangt! . . . Denn wer kann seinem Willen widerstehen? Wer möchte Barmherzigkeit erlangen, wenn er nicht will? Wer möchte weich werden, wenn er verstocken will? Es liegt nicht in unserer Hand, seinen Willen zu ändern, und erst recht nicht, Widerstand zu leisten, wenn er uns verstocken will; durch diesen Willen werden wir gezwungen, verstockt zu sein, ob wir wollen oder nicht.» Und weiter: «Wenn Gott im voraus weiß, so geschieht das mit Notwendigkeit, wo aus der Schrift von vornherein entschieden ist, daß Gott weder irren noch sich täuschen kann.» (martin luther: A. a. O., III 284 –285) Wer diese Worte liest, wird kaum anders denken, als daß sie einen reinen Fatalismus lehren wollten; zudem mag man sich fragen, wie denn ein Mensch jemals in die schicksalhafte Verfluchung seines ganzen Lebens einwilligen könnte; doch die Antwort darauf hatte luther sich selbst bereits in der Vorlesung über den Römerbrief aus dem Jahre 1515/1516 gegeben, in der er zu der gleichen Stelle (Röm 9,18) bemerkte: «Diese Worte bewirken . . ., daß der Mensch seine Verdammnis anerkennt und daran verzweifelt, aus eigener Kraft selig zu werden . . . Hier . . . lernt er, daß es die Gnade ist, die ihn wieder aufrichtet, frü-

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her als sein ganzer Wille und über sein eigenes Wollen hinaus.» (In: Die Werke Luthers in Auswahl, I 221) Was in solchen – erschreckend wirkenden – Darlegungen gemeint ist, läßt sich durchaus nicht fassen, indem man es, trotz seiner offensichtlichen Paradoxität, irgendwie doch noch in ein «logisches» Systemdenken einzuordnen versucht. So bemüht sich etwa friedrich hermanni (Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens, in: Friedrich Hermanni – Peter Koslowski: Der freie und der unfreie Wille, 165–187), den Streit zwischen dem Wortführer des Humanismus und dem Wortführer der Reformation im 16. Jh. dadurch zu schlichten, daß er sich den Überlegungen von gottfried wilhelm leibniz in einem Anhang zu Die Theodizee (S. 467) anschließt, in dem dieser behauptet, daß man die Taten eines Menschen nicht abschätzen könne, «ohne die Beschaffenheiten, denen sie entspringen, zu berücksichtigen». «Um für seine Handlungen verantwortlich zu sein», folgert daraus friedrich hermanni (Luther oder Erasmus?, in: A. a. O., 185), «muss der Mensch keineswegs sein handlungsbestimmendes Wesen wählen oder ändern können. Dies zeigt sich, wenn man die subjektive Unhintergehbarkeit des eigenen Selbst bedenkt. Ich kann den Kernbestand meines eigenen Selbst, der in den mir zurechenbaren Handlungen zum Ausdruck kommt, nicht als etwas von mir Unterscheidbares betrachten, das auch ganz anders sein könnte und auf das ich gleichsam schicksalhaft festgelegt wäre.» Doch genau dies ist die Meinung der «Erbsündenlehre» des Christentums, wie sie von den Reformatoren mit besonderem Ernst wieder und wieder eingeschärft wird. Das Problem ist nur, daß die systematische Theologie auf den Kathedern bis heute sich weigert, das, was sie den Worten nach in der Erbsündenlehre beschreibt, als einen psychologisch einfühlbaren Zustand der menschlichen Existenz zu begreifen; denn dazu müßte sie all die Formen seelischen Leids, die wir in Neurose wie Psychose geschildert haben, auf den entscheidenden Grundgegensatz des Erlebens und der Lebensführung hin durchsichtig machen: auf die Frage, ob ein Mensch lebt aus Angst oder Vertrauen bzw., was auf dasselbe hinauskommt, ob sich sein Dasein aufführt in einem Feld der Gnadenlosigkeit oder der «Gnade». Wie ein Mensch empfindet, der, physisch wie psychisch bis in sein innerstes Wesen verletzt, von den Widersprüchen der Welt förmlich zerrissen wird, hat mit unvergleichlicher Wucht der amerikanische Dichter herman melville (1819 –1891) in seinem Roman Moby Dick von 1851 in der Gestalt von Kapitän Ahab zu schildern gewußt. Tief beeinflußt von den Gedanken johannes calvins (1509 –1564), der in seinem Unterricht in der christlichen Religion von 1536 sich zur Frage der göttlichen Prädestination ganz ähnlich äußerte wie

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martin luther (vgl. johannes calvin: Unterricht in der christlichen Religion, III 21,1, S. 615; III 21,5, S. 618– 619), verbindet melville das quälende Ringen des Menschen um seine innere Einheit auf das engste mit dem Gefühl einer schicksalhaften Festgelegtheit wider Willen. «Was ist das», fragt in diesem Schlüsselroman des menschlichen Daseins Ahab sich selbst und seinen ersten Steuermann Starbuck, «– welch namenloses, unerforschliches, unirdisches Etwas, welch trügerischer, verborgener Herr und Gebieter, welch grausamer, erbarmungsloser Herrscher zwingt mich, daß ich mich gegen jede natürliche Regung von Liebe und Sehnsucht so unaufhörlich vorwärts treibe, vorwärts dränge, vorwärts stoße, mich ohne jede Rücksicht dazu bringe, das zu tun, was ich in meinem eignen, tiefsten Herzen noch nicht einmal zu denken wagte? Ist Ahab Ahab? Bin ich’s, ist’s Gott oder wer sonst, der diesen Arm erhebt? Wenn aber nicht einmal die große Sonne sich aus sich selbst bewegt, sondern als Botenjunge durch den Himmel läuft; wenn ohne eine unsichtbare Macht auch nicht ein einziger Stern sich drehen kann, wie kann dann dieses eine kleine Herz hier schlagen, dies eine kleine Hirn Gedanken hegen – es sei denn, Gott treibt diesen Herzschlag, denkt diese Gedanken, lebt dieses Leben, und nicht ich. Beim Himmel, Mann, wir werden um und um gedreht in dieser Welt wie jenes Gangspill dort; das Schicksal ist die Spake. Und siehe! Allzeit lächelt jener Himmel, wogt dieses unergründliche Meer! Schau – nimm diesen Thunfisch! Wer gab’s ihm ein, dort jenen fliegenden Fisch zu jagen und zu fangen? Was geschieht mit Mördern, Mann? Wer soll denn richten, wenn man sogar den Richter vor die Schranken zerrt?» (Moby Dick, CXXXII 822 –823) In dieser Frage und Klage Ahabs greift der melvillesche Roman in elementarer Wildheit zurück auf die vorchristliche, heidnische Erfahrung eines Fatums jenseits von Freiheit (vgl. e. drewermann: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, 345– 353), und zwar nicht, um eine stoische Allversöhntheit mit dem Universum herzustellen, sondern ganz im Gegenteil, um den wütenden Protest eines buchstäblich «unerlösten» Menschen inmitten einer heillos zerbrochenen Welt zu beschreiben. Der von der deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Katholische Erwachsenen-Katechismus von 1985, als er – mehr als 100 Jahre nach melvilles Roman – versuchte, die christliche «Erbsündenlehre» auszulegen, betrachtete als den Kern der Unfreiheit des Menschen, als den Grund für den qualvollen Widerspruch, ja, für die Zwangsgesetzlichkeit zum Zerstörerischen, ganz richtig die «Entfremdung (sc. des Menschen, d. V.) von Gott» mit der Folge der «Entfremdung . . . von der Welt, den Mitmenschen und von sich selbst.» (A. a. O., 135) In der Tat: Die AhabMenschen leiden zutiefst an der ihnen fremd gewordenen arglistig-lustvollen

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Grausamkeit der Natur, die in das Herz eines jeden Lebewesens eingeschrieben ist wie ein dämonisches Gesetz; sie fühlen sich wie durch öde Wüsten und verschneite Gebirge getrennt von den Befindlichkeiten der Menschen an ihrer Seite, die sie so mißtrauisch beäugen wie die «Wölfe» in thomas hobbes’ Urzustand; doch am schlimmsten: sie kennen sich selbst nicht! Sie wissen nicht mehr, wer sie sind. Sie sind sich selber fremd! Alles, was sie denken, die Disziplin, die sie sich abverlangen, die Rastlosigkeit, mit der sie sich in ihre Arbeit stürzen, – all das, gesteigert womöglich bis zur Genialität, wird getragen von einem fremden Willen, mit dem sie negativ, im Widerspruch zu sich, verschmolzen sind. Abb. D 36 zeigt in einer Buchillustration von albrecht appelhans (1900 – 1975) den einbeinigen Kapitän der «Pequod» auf Waljagd – Ahab, wie er, selbst ein Getriebener, die Rudergasten vor sich antreibt zu seiner rasenden Fahrt in den Untergang. Man braucht solche Texte, man braucht solche Bilder, um wirklich zu ermessen, was die Lehre von der radikalen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen im Christentum eigentlich meint. Bibelkundige werden sich erinnert fühlen an den ohnmächtigen Hilferuf Pauli in Röm(erbrief) 7,15.17.18.19.24: «. . . ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich . . . Dann aber bin ja nicht ich es, der da handelt, sondern die mir einwohnende Sünde . . . Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich . . . Ich elender Mensch. Wer wird mich erlösen . . .?» Sie alle – paulus, melanchthon, luther, calvin, melville . . . – verweisen gemeinsam auf einen einzigen Punkt: was ist ein Mensch oder, richtiger, was muß aus einem Menschen werden, der Gott verloren hat? Wie wirkt die «Entfremdung» von Gott sich in ihm aus? An anderer Stelle (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, I 87– 97; 97–106; II 221– 235; III 226– 263) ist ausführlich gezeigt worden, wie die Bibel in Gen 3,1–24 (in der sogenannten Sündenfallerzählung) die Verformung des Daseins im ganzen beschreibt, wenn ein Mensch seiner Lage inmitten der Welt bewußt wird, ohne vom Ursprung her sich in Gott gehalten zu wissen. Gott zu verlieren bedeutet in der Theologensprache zumeist gerade so viel, wie sich eines Regelverstoßes gegenüber dem klar umschriebenen Kirchengott schuldig zu machen; doch wenn es sich so verhielte, käme es niemals zu jenem alles verändernden Unterschied, ja, Gegensatz von Ethik und Religion, von «Schuld» und «Sünde», – von Freiheit und Unfreiheit, wie nicolai hartmann ihn ganz richtig dargestellt hat. Wer Gott verliert, stürzt nach allem bisher Gesagten aus der entscheidenden Sphäre von Bejahung, von Geborgenheit, von Berech-

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Abb. D 36: albrecht appelhans: Ahab auf Waljagd (1958)

tigung hinaus in eine buchstäblich gnadenlose Welt der fundamentalen Negiertheit, der radikalen Ausgesetztheit, der totalen Überflüssigkeit. Es gibt für eine solche Perversion des Daseins im ganzen nur eine einzige Erklärung: die Dynamik der Angst, wie wir sie von sören kierkegaard kennengelernt haben (Bd. I 649– 659). Angst und Verzweiflung sind denn auch die Begriffe, mit denen das Leben des Menschen im Felde der Gottesferne («jenseits von Eden») sich am genauesten beschreiben läßt: als das Dasein eines exzentrisch Gewordenen, eines Exulanten der Existenz, eines Vertriebenen und Getriebenen, eines Heimat- und Haltlosen, eines Entwurzelten. (Vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, I 134 –143; II 267–276; III 251–263.) Ganz so, wie dostojewski

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den Absturz Goljädkins in den Abgrund seiner Angst beschrieb (s. o., S. 250 –251), müssen wir uns das Grundgefühl eines jeden vorstellen, der innerlich mit sich selbst zerfällt, weil er die Welt nicht findet, die er zu seiner Selbstentfaltung unbedingt bräuchte. Ein solcher Mensch gehört sich selber nicht mehr. Ein solcher Mensch kann Freiheit nicht haben. – Wie sollte es auch anders sein? All die Zeit über haben wir betont, daß es eine Personwerdung im Grunde nur geben kann in einem Feld der Zugewandtheit, im Gegenüber einer anderen Person, die im Letzten, Absoluten Gott ist. Wie also vermöchte ein Mensch in moralischem Sinne «gut» zu sein, welcher die Güte entbehrt, die allein ihn leben ließe? Zweifellos kann er nicht anders, als in die kierkegaardsche, in die antihegelianische Dialektik hineinzugeraten, in welcher die Bewegungen der Logik sich «aufheben» zu Existenzvollzügen zwischen Leben und Tod, zwischen Segen und Fluch, zwischen Himmel und Hölle. Um die offenbare Nichtigkeit seines Daseins inmitten der bloßen «Natur» mit eigenen Mitteln zu widerlegen, muß ein solcher Mensch im Endlichen, mitten im (Kohlen)«Staube» versuchen, nach sartreschem Vorbild, etwas Unendliches – einen Diamanten – aus sich hervorzupressen, und er wird jene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit, aus Notwendigkeit und Möglichkeit, welche die Freiheit ist (vgl. Bd. I 654– 657), niemals erreichen. Im Versuche, das Fehlen Gottes durch die Anstrengung zu kompensieren, sich selber zu etwas Absolutem – zu etwas Gottgleichem – zur Begründung und Rechtfertigung der eigenen Existenz zu entwerfen, kann der Mensch nur immer wieder scheitern bis zum Zusammenbruch. In einem virtuellen Gespräch mit herman melville haben wir uns einmal auszumalen versucht, wie es möglich sein könnte, «Ahab» aus der Hölle zu holen, in die er mit solchem Ungestüm sich selber hineinmanövriert hat (vgl. e. drewermann: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, 397– 422: Das Fehlen des Vertrauens oder: Elemente einer vermenschlichten Religion), und wir sahen, daß es dabei wesentlich darum geht, gegen den Eindruck der inneren wie äußeren Abgelehntheit trotz allem das Gefühl einer tieferen Bejahung zu setzen, die es allererst (wieder) erlaubt, als Mensch zu leben mitsamt all den Schwächen, Gebrechlichkeiten und Unvollkommenheiten, die dazu gehören, nur «Kreatur» zu sein; es kommt darauf an, hinter der gräßlichen Maskerade einer Natur, die sich nur im Schlingen und Verschlungenwerden erhält, das Bild eines Gottes wiederzufinden, der «väterliche» (oder «mütterliche») Züge annimmt; im Zentrum aller Bemühungen muß der Versuch stehen, inmitten dieser gnadenlosen Welt das Empfinden einer Bejahung und Bestäti-

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gung zu vermitteln, die bedingungslos gegeben wird, ohne Leistung und «Verdienst» – als reine «Gnade» in der Sprache der Theologen. Bei all dem handelt es sich um eine Sicht auf den Menschen, welche die ganze Diskussion um die menschliche Freiheit nicht nur «ergänzt», sondern von Grund auf verändert. Schon die Frage, ob es die «Person» des Menschen «wirklich» gibt, ließ sich mit den Mitteln der Neurologie, aber auch mit den Mitteln der Kulturanthropologie oder der Psychoanalyse nicht schlüssig beantworten, – sie löste sich auf in den Glauben an eine absolute Person, deren Nähe es allererst ermöglicht, daß selbstbewußte Wesen zu einem eigenen «Ich», zu einer «Person» erwachen. Desgleichen sehen wir jetzt, daß die Frage nach der Freiheit mit den Mitteln der Naturwissenschaften (Neurologie und Biopsychologie) sowie der Geisteswissenschaften (Anthropologie und Ethik) sich nicht eindeutig klären läßt, – auch sie mündet ein in den Glauben an eine andere Freiheit, die allererst uns zur Freiheit zu befreien vermag (vgl. karl rahner: Theologie der Freiheit, in: Schriften zur Theologie, VI 215 –237, bes. S. 235– 237: Freiheit als befreite Freiheit). Doch von diesem Punkt an beginnt – noch einmal – die existentielle Dialektik sören kierkegaards zu greifen: Wer wagt es schon, von der «Pequod», von der Dreimast-Bark auf dem Kurs in den Untergang, «abzumustern»? Wer riskiert schon, nach dem Vorbild des Mannes aus Nazareth auf alle (irdischen) Vorstellungen von Erfolg, von Anerkennung, von Glück, von Reichtum, von Macht zu verzichten, um ringsum nur noch leidende, unglückliche Menschen zu sehen auf der Suche nach einer Liebe, die sie in der notwendigen Weise niemals empfangen haben? Der griechische Dichter, Philosoph und Staatsmann nikos kazantzakis (1883 –1957) ließ auf seinen Grabstein in Kreta die Worte schreiben: Ich hoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.

Allein ein Vertrauen, das über die Ängste der Welt hinweghebt und die Fehlerwartungen eines endgültigen Glücks auf Erden tilgt, vermag den Menschen zu dem Ort wahrer Unabhängigkeit zu führen: zu seiner unendlichen Hinordnung auf Gott. Person, Unsterblichkeit und Freiheit bilden, wie wir sehen, drei Seiten der menschlichen Existenz, die gemeinsam auf den einen Grund verweisen, aus dem das Sein des Menschen, seine Bestimmung und sein Tun entspringen. Wie also ist diese Freiheit in Gott, diese Einheit von Vorherbestimmung und

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Geborgenheit, anders zu denken denn als ein Verhältnis der Liebe? All die «endlichen» Determinanten, die, selbst und gerade als bewußt gewordene, den Menschen schon aus lauter Angst nur immer noch tiefer in die Grundgegebenheiten seiner biologischen Zwecksetzungen zurückdrücken müssen, lassen sich einzig «sublimieren» oder, besser, «transzendieren» in einem Raum, an welchem eine heilige Zweckfreiheit waltet. Eine personale Selbstentscheidung, in welcher ein Mensch «wirklich . . . souverän über sich . . . verfügen» könne, setze «Integrität» voraus, meinte karl rahner (Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz, in: Schriften zur Theologie, I 377–414, S. 403) mit dem Blick auf den «Ersten Adam»; doch solch eine Ganzheit des Daseins, die Selbstverfügung ermöglicht, bedeutet für uns «Kinder Evas» ein Ende der Zerspaltenheit in jener Welt der Gnadenlosigkeit, die wie ein Fluch über uns allen liegt: nach dem Bilde Jesu dürfen wir glauben gegen den Tod an das Leben und gegen die Gewalt an die Güte und gegen den Haß an die Liebe. Die absolute Prädestination Gottes, die in den Worten von melanchthon, luther und calvin als ein logischer Widerspruch zur menschlichen Freiheit erscheint, meint im letzten nichts weiter als die Unmöglichkeit eines Menschen, sich selber zu finden ohne Vertrauen und ohne Liebe. Philosophisch mag man die Liebe beschreiben als einen heilsamen göttlichen Wahnsinn, wie platon (Phaidros, 243 e 9 –245 a 8, Kap. 22, in: Sämtliche Werke, IV 25– 26) es tat; psychoanalytisch mag man in ihr ein Gegenstück zur Hypnose erblicken, wie sigmund freud (Psychische Behandlung, in: Gesammelte Werke, V 307) es versuchte; neurologisch mag man in ihr eine Auswirkung der Hormone Vasopressin und Oxytocin sowie die Folge eines Anstiegs des Cortisolspiegels erkennen (vgl. Bd. I 615); theologisch wird man nicht anders sagen können, als daß sie diejenige neue Determination (aus dem Unendlichen) darstellt, die Freiheit (gegenüber dem Endlichen) allererst möglich macht, indem sie den Menschen als ganzen sich selber zurückschenkt. Nie ist ein Mensch gebundener als in der Liebe – und niemals freier. In ihr allein finden Gottes Wille und menschliches Wollen zur Einheit zusammen, entdeckt sich die menschliche Freiheit als eine immer schon gemeinte und gemochte. Erkannt hat dieses logische Paradox bzw. diese Wesensauszeichnung der menschlichen Existenz aurelius augustinus (354 – 430). In der Sammlung seiner Vorträge über das Evangelium des Johannes kommt dieser größte Vertreter eines strengen Vorsehungsglaubens unter den Kirchenvätern auch auf jene Stelle von Joh 6,44 zu sprechen, an welcher es heißt: «Niemand kann kommen zu mir, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht.» «Ein bedeutsamer Hinweis auf die Gnade!» findet augustinus und hebt hervor: «Niemand kommt, außer er wird gezogen. Wen er (sc. der Vater, d. V.) zieht

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und wen er nicht zieht, warum er den einen zieht und den anderen nicht zieht, darüber sollst du kein Urteil fällen wollen, wenn du nicht abirren willst.» (XXVII 2, in: Ausgew. Schriften, V 29) Gott also handelt absolut und souverän; doch das ist nur die eine Seite; die andere Seite ist es, daß Glauben eine Bewegung des Herzens, also freiwillig ist. Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn wir einen Vergleich bemühen: «Denk dir einen Liebenden», schreibt augustinus, «er versteht, was ich sage; denk dir einen Sehnsüchtigen, denk dir einen Hungernden, denk dir in dieser Wüste einen Wanderer und Durstenden und nach der Quelle des ewigen Lebens Lechzenden; denk dir einen solchen, er weiß, was ich sage.» (XXVII 4; in: Ausgew. Schriften, V 32) Die ganze Offenbarung Gottes ist diesen Worten nach Faszination, inneres Bedürfnis des ganzen Wesens, liebende «Anziehung»: «Dem Schafe zeigst du einen grünen Zweig und ziehst es an. Dem Knaben zeigt man Nüsse und zieht ihn an, und wohin er läuft, davon wird er angezogen, durch Liebe wird er angezogen, ohne eine Verletzung des Körpers wird er angezogen, durch ein Band des Herzens wird er angezogen. Wenn nun diese Dinge, welche unter den irdischen Genüssen und Ergötzlichkeiten den Liebenden gezeigt werden, anziehen, . . . sollte dann der vom Vater geoffenbarte Christus nicht anziehen? Denn nach was verlangt die Seele in höherem Grade als nach der Wahrheit? Wohin muß sie einen gierigen Schlund richten, warum wünschen, daß der Gaumen drinnen zur Beurteilung des Wahren gesund sei, als eben um Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Ewigkeit zu essen und zu trinken?» (XXVII 5, in: Ausgew. Schriften, V 33) Demnach ist die Art der göttlichen Vorsehung identisch damit, daß wir der Sehnsucht des eigenen Herzens folgen, und der von Gott zum Glauben «Gezogene» folgt ganz und gar sich selbst, so wie ein Liebender nicht anders kann, als der Liebe zu folgen, die sein ganzes Dasein durchströmt. Die göttliche Bestimmung ist, so verstanden, identisch mit der Stimme des eigenen Herzens; und die höchste Freiheit (die größte Übereinstimmung mit sich selbst) ist identisch mit vollkommener Bestimmtheit. «Natur» und «Gnade», Mensch und Gott, Willensfreiheit und Vorherbestimmung verhalten sich nach diesem Erklärungsmuster wie Verlangen und Erfüllung, wie Wollen und Befriedigung, wie Suchen und Gefundensein. Was aber ist es dann mit den «Nicht-Gefundenen», mit den Ungeliebten, den Abgewiesenen, den Gescheiterten? Wenn Menschen Personen nur zu werden vermögen, wenn sie eine «Integrität», die Freiheit erlaubt, nur erlangen können in einem Raum voraussetzungsloser Gnade, wie steht es dann mit den Begriffen von Gut und Böse, wie ist darüber hinaus zu verfahren mit den sogenannten «Straftätern» – welche «neuroethischen» und «theologischen» Konsequenzen

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für unser Rechtssystem ergeben sich letztlich aus dem Gesagten? Und vorweg noch: Was bedeuten die Erkenntnisse der Neurologie für die Zukunft allein schon durch die praktischen Möglichkeiten, die sie eröffnen, und durch die Einsichten, die sie gestatten?

e) Neuroethische und theologische Konsequenzen α) Eine Verhältnisbestimmung Man kann über das Problem der Willensfreiheit nicht in theoretischer Absicht diskutieren, ohne sogleich die Frage der «praktischen Vernunft» mitzuhören: was die jeweiligen Erörterungen denn nun für unser Handeln und Verhalten bedeuten. Freiheit ist kein möglicher Gegenstand der Naturwissenschaften, so sagten wir; wenn es sie gibt, so nur jenseits der kausalen Erklärungszusammenhänge; – bis dahin behält immanuel kant vollkommen recht; nicht recht gehabt hätte er freilich, wenn er hätte sagen wollen, was mit seiner Ansicht in der gegenwärtigen Debatte gern, doch gegen seine Aussageabsicht, verbunden wird: daß es für Entscheidungen in Freiheit keinerlei Gründe, mithin auch keine Zurechenbarkeit einer Tat für den Handelnden gäbe; bereits die Einhaltung des kategorischen Imperativs als des Formalgesetzes aller Sittlichkeit war für den Königsberger Philosophen vor über 200 Jahren Grund genug, die Idee der Freiheit mit einer solchen Zurechenbarkeit zu verbinden; daß es, in Ableitung daraus, eine Fülle an konkreten Motivationsinhalten geben wird, war Teil auch seiner Position. Zugeben muß man allerdings, daß kant keinen Weg sah, zu zeigen, wie die Naturnotwendigkeit, welcher das «empirische Ich» unterliegt, mit einer Setzung von Kausalität in Freiheit aus der Sphäre des «intelligiblen Ich» einhergehen könnte. An dieser Stelle half uns hegels Dialektik weiter mit der These, daß Geist, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, die aus Prozessen der Naturnotwendigkeit hervorgehen, durch die Erkenntnis eben dieser Prozesse sich selbst zur Freiheit erheben. Notwendigkeit bedingt Freiheit, Freiheit setzt Notwendigkeit voraus; doch als ein Vermögen, die Naturprozesse eigenen Zielen entgegenzulenken, vermittelt die Freiheit eine andere Art von Ursache als die Wirkursächlichkeit der Naturwissenschaften. Mit der Freiheit betreten wir die Sphäre selbstgesetzter Zwecke, die zwar auf der Ebene der causa efficiens aufruht, doch weder mit ihr identisch ist noch von ihr her erklärt werden kann. Daß es sich so verhält, zeigt sich sogleich recht praktisch an der Dialektik, welcher alles naturwissenschaftliche Denken selbst unterliegt: Jede zutreffende

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Erklärung eines Naturgeschehens bedeutet eine Erkenntnis, die es ermöglicht, zielgebend und verändernd auf einen bestimmten Kausalablauf einzuwirken, – so weit, so gut. Doch jetzt: Welche Ziele soll man verfolgen, welche Ziele darf man verfolgen? Man braucht solche Fragen nur zu stellen, und man begreift augenblicklich die Begrenztheit aller Aussagen im Rahmen naturwissenschaftlichen Denkens. Die Physik des 20. Jhs. zum Beispiel fand heraus, wie man Uranatome spalten und Wasserstoffkerne fusionieren kann, und daraus ergab sich die Möglichkeit, Nuklearbomben zu bauen (vgl. e. drewermann: Im Anfang . . ., 503); doch die Entscheidung für oder gegen eine solche «Option» gehörte und gehört ganz und gar nicht mehr in die Hände von Physikern (vgl. e. drewermann: A. a. O., 1111–1112). Ein gleiches läßt sich sagen von den Voraussetzungen biologischer oder chemischer Kriegsführung (vgl. Bd. I 239 –240); eine gleiches gilt generell. Denn auch ohne den Wahnsinn einer militärischen «Nutzung» naturwissenschaftlicher Erkenntnis öffnet sich stets das nämliche Problem: Wissen um die Naturzusammenhänge erweitert den Handlungsspielraum im Umgang mit Naturgegebenheiten, es bietet aber als solches keinerlei menschliche oder moralische Orientierung. Die Frage, was ist, unterscheidet sich absolut von der Frage, was sein soll, was sein darf, und dieser Differenz unterliegt (natürlich) jetzt auch die Neurologie: sie mag so viele kausalnotwendige Abläufe im Zentralnervensystem aufklären und erklären, als sie kann und will, – sie erschließt gerade dadurch Räume von Handlungsmöglichkeiten, für deren Gestaltung sie die Verantwortung in keiner Weise übernehmen kann. Weil das so ist, hat sich in den letzten Jahren ein neues Fach unter dem Namen Neuroethik etabliert: es ist von seiten der Neurowissenschaften eine Einladung an Anthropologen, Philosophen, Theologen, Psychologen, Künstler . . ., mitzuüberlegen, welch eine Bedeutung den bereits gewonnenen – und den sich abzeichnenden neuen – Einsichten in die Funktionszusammenhänge des menschlichen Gehirns für unser Selbstbild und für unser Handeln zukommen könnte. An Themen solch notwendiger Nachdenklichkeit mangelt es nicht. Als wir zum Beispiel auf die neurologischen Ursachen des Autismus zu sprechen kamen, haben wir uns die Zusammenhänge an den technischen Modellen neuronaler Netzwerke klarzumachen versucht (s. o., S. 269– 280); wir haben dabei stets betont, daß das menschliche Gehirn kein «Computer» ist, und doch leben wir bereits in einer Welt, die in Forschung, Verwaltung und Kommunikation, aber auch in Überwachung, Militär und Wirtschaft ohne «künstliche Intelligenz» nicht mehr existieren könnte; ist es da nicht in gewissem Sinne einfach nur logisch, davon auszugehen, daß auch die Schaffung von künstlichem

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Bewußtsein bald schon möglich sein wird? Die gleichen Erklärungsmuster, mit denen sich die Entstehung von Bewußtsein in biologischen Systemen beschreiben läßt, müßten sich im Prinzip auch auf nicht-biologische Systeme übertragen lassen, um dort so etwas wie Subjektzentrismus, «Egoismus» und zielgerichtete Aktivitätsplanung zu etablieren. (Vgl. julia wolf: Die Verbindung von Gehirn und Elektronik, in: Christoph S. Herrmann u. a.: Bewusstsein, 362 –371: Medizinethische Problemfelder der Neuroprothetik.) «Was werden wir tun», fragt provozierend der Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft, thomas metzinger (Unterwegs zu einem neuen Menschenbild, in: Gehirn und Geist, 11/2005, 53), «wenn Roboter Bürgerrechte fordern?» Würde man, wenn die technischen Möglichkeiten sich ergäben, wirklich darauf verzichten wollen, die Kampfjets und Panzer der Zukunft mit androiden Kriegsmaschinen zu bestücken? Überhaupt das Militär! Welche Möglichkeiten zum «Brechen der Persönlichkeit» durch physische und psychische Folter es gibt, haben wir schon angedeutet (Bd. I 92 –95); doch die vollkommene Auslieferung des Menschen an den Menschen steht noch bevor, das heißt, sie wird unter dem Titel Brain Reading (engl.: Gedankenlesen) gerade mit Hochdruck vorangetrieben. So zeichneten im Jahre 2004 die beiden israelischen Neurologen uri hasson und rafael malach mit Hilfe der Kernspintomographie die Hirnaktivitäten ihrer Probanden beim Betrachten eines Wildwestfilms auf und fanden, daß bei Nahaufnahmen des Leinwandhelden der posteriore Gyrus fusiformis (vgl. Bd. I 417), der an der Gesichtserkennung beteiligt ist, stimuliert wurde; beim Ziehen eines Revolvers wurde der Sulcus postcentralis (vgl. Bd. I 130 –131; 166) mit seinen somatosensorischen Arealen aktiviert. (Vgl. uri hasson u. a.: Intersubject Synchronization of Cortical Acitivity During Natural Vision, in: Science, 303/ 2004, 1634–1640.) Wenn man erst einmal weiß, was sich im Gehirn beim Betrachten bestimmter Bilder abspielt, sollte man auch umgekehrt aus der Betrachtung der Hirnaktivitäten die Inhalte bestimmter Wahrnehmungen oder Vorstellungen ableiten können; und tatsächlich gelang es schon im Jahre 2000 kathleen o’craven und nancy kanwisher, aus neuronalen Aktivitätsmustern zu 85% richtig abzulesen, ob ihre Probanden gerade an ein Gesicht oder an ein Haus dachten. (Vgl. stephan schleim: Zeig mir dein Hirn – und ich sag dir, was du denkst, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 62.) Und die Forschungen gehen weiter. Wir erinnern uns an die «binokulare Rivalität» (vgl. Bd. I 438 –439; 457), daß, im Falle wir mit je einem Auge etwas Verschiedenes sehen (zum Beispiel beim Blick durch ein Mikroskop, wenn die eine Hälfte des Gesichtsfeldes ins Bewußtsein tritt und die andere ausgeblendet

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wird), unser Gehirn die Wahrnehmung des einen oder des anderen Auges zugunsten von Eindeutigkeit unterdrücken wird. john-dylan haynes (geb. 1971) in Leipzig und geraint rees in London nun gelang es kürzlich, aus den Aktivitätsmustern der visuellen Areale bis zu 90% genau abzuleiten, mit welchem Auge ihre Probanden, die in der einen Hälfte ihres Gesichtsfeldes einen blauen, in der anderen einen roten Kreis gezeigt bekamen, gerade welche Farbe sahen. (Vgl. john-dylan haynes – geraint rees: Mental States from Brain Activity in Humans, in: Nature Reviews Neuroscience, 7/2006, 523– 534.) Von der Dechiffrierung solcher relativ einfacher Wahrnehmungen bis hin zur Entschlüsselung einzelner Gedanken oder gar gedanklicher Zusammenfügungen wird es gewiß noch ein weiter Weg sein; doch muß man nicht geradezu als sicher setzen, daß im Zeitalter des von george w. bush im Jahre 2001 für das kommende Jahrhundert verkündeten Antiterror-Krieges jede sich bietende Technik in den Verhörpraktiken von Militär, Polizei und Justiz sofort genutzt werden wird, um Absichten und Kenntnisse von Verdächtigen oder Delinquenten zu decodieren? Wird man dann nicht schon vor der Einreise in die USA oder vor Anstellung in einem sicherheitsrelevanten Amt Gesinnungstests einzuführen und durchzuführen bestrebt sein? – Oder auch nur Tests zur Betriebstauglichkeit! Wir haben gesehen, welch eine große Rolle die Amygdala (nach der CRHHypothese; s. o., S. 108) bei der Auslösung von Depressionen spielt; dementsprechend untersuchten greg siegle und sein Team mit Hilfe der fMRT die Aktivitäten der Amygdala bei depressiven Probanden, wenn diese «traurige» Wörter wie «Hungersnot» oder «Massenmord» zu hören bekamen – fast eine halbe Sekunde lang «nahm die Aktivität der Amygdala zu». (ulrich kraft: Schöne neue Neuro-Welt, in: Das Manifest, in: Gehirn und Geist, 6/2004, 25) Tests dieser Art könnten heute bereits als ein (ergänzendes) diagnostisches Hilfsmittel genutzt werden; könnte es aber nicht auch in Bälde schon sein, daß in einer «wichtigen» Behörde (in Politik, Militär, Verwaltung . . .) entsprechende Eignungstests verpflichtend gemacht werden, um das Risiko einer Einstellung psychisch labiler Mitarbeiter zu minimieren? Alles, was Neurologen entdecken, hat direkt mit uns selber zu tun; das macht sie (möglicherweise) so nützlich und ganz sicher auch höchst gefährlich in den Händen unweiser Entscheidungsträger. Eine weitere beunruhigende Tatsache: Derzeit suchen Pharmaindustrie und Werbung nach Möglichkeiten, das Bewußtsein zu durchleuchten und «durchzustylen», stets vorangetrieben durch einen unerbittlichen Konkurrenzdruck auf dem «freien» Markt. Wir hörten schon, wie der – bis heute nicht sehr erfolgreiche – Wettbewerb um die Herstellung synthetischer «Endorphine» als der

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idealen Schmerzmittel geradezu hysterisch geführt wurde (Bd. I 109; 519 –520) oder wie man neuere Erkenntnisse über das Vomeronasale Organ, mit dessen Hilfe wir Menschen unbewußt auf sexuelle olfaktorische Signale reagieren sollen, sogleich durch Produktion und Vertrieb von «Vomeropherinen» wirtschaftlich zu nutzen versucht (Bd. I 466 –469). Offen steht für solches Bemühen natürlich vor allem das breite Feld der «bewußtseinerweiternden» Drogen, vom aztekischen Zauberpilz (Bd. I 554– 555) bis hin zum synthetischen LSD (Bd. I 556– 561): – was alles wird da bei noch besserer Kenntnis der Wirkungen von Neurotransmittern, Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Hormonen eines Tages marktgerecht zu plazieren sein? Die Grenzen «zwischen legalem und illegalem Drogenkonsum» verschwimmen heute bereits. «Der für die Pharmaindustrie wirklich interessante Markt», meint thomas metzinger (Unterwegs zu einem neuen Menschenbild, in: Gehirn und Geist, 11/2005, 52), «besteht nämlich aus Leuten, die sich nicht trauen, illegale psychoaktive Substanzen zu nehmen, kein echtes medizinisches Problem haben, jedoch ihr Wohlbefinden oder ihre Intelligenz durch solche neuen Drogen erhöhen möchten. In Amerika stehen Ärzte schon jetzt unter dem Druck, dass sie Kunden verlieren, wenn sie solchen Verschreibungswünschen Widerstand leisten. Genau darauf setzen die Konzerne.» Und warum nicht? könnte man fragen. Wenn die «Bürgerdroge» Kaffee von Millionen Menschen verwendet wird, um «wach» zu werden oder zu bleiben (vgl. Bd. I 548–550), wenn Amphetamine eingesetzt werden, um Soldaten kriegstüchtig zu halten (Bd. I 526), wenn Alkoholkonsum einfach dazugehört, um bei einem Schützenfest oder einer Fußballparty richtig «mitzumachen» (Bd. I 522; 543), wo will man dann die Grenze zwischen normal, verrückt oder verboten ziehen? Wir aberkennen im Sport (noch) eine Leistung, die nur durch die Einnahme von Doping-Mitteln erzielt wurde; doch was, wenn es eines Tages üblich werden sollte, die geistige Leistungsfähigkeit mit implantierten Chips im Gehirn oder durch chemische Verfahren von «Gehirndoping» zu heben (so wie wir heute schon mit Hilfe durchblutungfördernder Medikamente die Gedächtnisfähigkeit im Alter zu erhöhen suchen)? Wie lassen sich überhaupt noch individuelle Unterschiede würdigen in einer Welt, da eben diese Unterschiede durch den Konkurrenzkampf aller gegen alle in Richtung jeder nur möglichen «Verbesserung» manipuliert werden sollen? Und wäre es ethisch nicht geradezu verwerflich, Kindern diese Erweiterung ihrer Möglichkeiten vorzuenthalten? Fragen dieser Art ließen sich endlos weiter stellen; doch es zeigt sich hier bereits dreierlei. Zum ersten: Die Neurologie erweitert das Feld des heute oder bald schon

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Machbaren ins Außerordentliche; doch indem sie erklärt, wie etwas ist, klärt sie in keiner Weise, was damit zu tun ist. Insofern nötigt das neue Fach Neuroethik zu einer Rückbesinnung auf den deutlichen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. «Die moderne Hirnforschung . . . wird eine größere Veränderung im allgemeinen Menschenbild mit sich bringen als jede andere wissenschaftliche Revolution vor ihr. Neurowissenschaften und Evolutionstheorie machen deutlicher als je zuvor, dass wir nicht nur sehr verletzliche, sondern allem Anschein nach auch ganz und gar sterbliche Wesen mit einem ganz und gar innerweltlichen Ursprung sind», schreibt – noch einmal – thomas metzinger (Unterwegs zu einem neuen Menschenbild, in: Gehirn und Geist, 11/2005, 54) und zitiert zustimmend den Bremer Hirnforscher hans flohr, «dass die Hirnforschung dem Menschen seine göttliche Wurzel abschneidet»; und martha j. farah, Direktorin eines Centrums für Kognitive Neurowissenschaft in Pennsylvania, erklärt (a. a. O., 54): «Die Unvereinbarkeit zwischen der intuitiven oder religiösen Sichtweise auf Personen und der Sichtweise der Hirnforschung wird sehr wahrscheinlich weit reichende soziale Konsequenzen haben.» (Vgl. martha j. farah: Neuroethics: The Practical and the Philosophical, in: Trends in Cognitive Sciences, 9/2005, 34 –40.) Doch es ist nicht zu sehen, warum dem so sein sollte. Ganz im Gegenteil, je besser die Neurologie ihre Arbeit verrichtet, desto nötiger erscheint eine religiöse Sicht auf das Dasein des Menschen. Wahr ist, daß die Naturwissenschaften den metaphysischen Unter- oder Überbau der (christlichen, speziell der katholischen) Theologie im Sprechen von «Schöpfung», «Menschwerdung», «Person», «Seele», «Freiheit» und «Unsterblichkeit» (wohl endgültig) zum Einsturz bringen oder schon gebracht haben; doch alle Metaphysik ist, wie platon in seinen Dialogen noch wußte, die rationalisierte Form eines mythischen Wissens, dessen Wahrheit wesentlich symbolischer Natur ist und sich einer begrifflichen Darstellung entzieht. Es war insofern ein Fehler der abendländischen Philosophie, den Glauben der Religion mit einem beweisbaren Lehrinhalt verwechselt zu haben; aber es wäre heute ein durchaus vergleichbarer Fehler, die beweisbaren Lehrinhalte der Naturwissenschaften in einen neuen Mythos, in einen neuen Glauben, in einen Religionsersatz umwandeln zu wollen. Wissen und Glauben, Neurologie und Theologie sind nicht dasselbe, doch als unterschiedene und klar zu unterscheidende gehören sie um der Einheit des menschlichen Bewußtseins willen zusammen. Die gerade gestellten Eingangsfragen genügen bereits, um noch einmal zu belegen, daß und warum es sich so verhält. So wenig die Naturwissenschaften mit ihren Methoden irgendeine ethische

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Orientierung, irgendeine Sinndeutung, irgendeine Wertzuschreibung der menschlichen Existenz zu bieten vermögen, so wenig vermag die von ihnen erklärte Natur dergleichen zu schenken. Keinesfalls, sagten wir immer wieder, darf ein Mensch mit anderen fühlenden Wesen so gefühllos verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Die Individualität eines Menschen – sie besitzt im Rahmen der Biologie allenfalls einen Übergangswert als Trägerin der Gene für deren «egoistische» Durchsetzung im evolutiven Kampf ums Dasein (vgl. e. drewermann: . . . und es geschah so, 408– 420); die Frage nach dem Grund unserer Existenz – sie ist biologisch beantwortbar einzig mit dem Hinweis auf ein blindes Spiel des Zufalls; schon um von «Person» wirklich sprechen zu können, brauchten wir mehr als Naturwissenschaft; um von Freiheit zu reden, mußten wir die Zuständigkeit der Neurologie sogar eindeutig hinter uns lassen. Was soll aus Menschen werden, die sich zwar als frei betrachten müssen, aber zum Vorbild ihres Seins- und Selbstverständnisses nichts weiter haben sollen als das Wissen um ihre endgültige Sterblichkeit und um ihren «innerweltlichen Ursprung»? Ob ein Mensch sich sieht nur als «Staub der Erde» oder ob er den «Atem des Lebens» in sich gewahrt (Bd. I 15), entscheidet über die gesamte Art und Weise, wie er selber lebt und wie er den Kreaturen an seiner Seite begegnet: als Wegbereiter zum Grab oder als Gefährte der Ewigkeit – der Unterschied könnte größer nicht sein. Auch und gerade hier sah kant völlig richtig: Es bedarf der Inhalte der Religion, um als (moralischer) Mensch existieren zu können – den Glauben an Freiheit, den Glauben an Unsterblichkeit, den Glauben an «Gerechtigkeit» vor Gott. Keiner dieser Inhalte ist wissenschaftlich beweisbar; doch eben: die Leere der Wissenschaft, ihre Welterklärung ausschließlich nach den Gesetzen von Mathematik und Physik, macht das Postulat der «Vernunft» nach einer qualitativ anderen Antwort nur um so dringlicher. Wir brauchen unendlich viel mehr, um mit der Unendlichkeit dessen, was wir als «Geist», als «Ich», als «Seele» bezeichnen, wirklich leben zu können. Und zum zweiten: So wenig wie die Natur, vermag unsere Kultur eine «vernünftige» Antwort auf die Frage zu geben, wie wir mit den neuen Möglichkeiten umgehen sollten, die uns die Neurowissenschaften derzeit eröffnen. Wieder: im Gegenteil! Solange unsere Gesellschaft von Ängsten bis hin zur politisch verwalteten Paranoia beherrscht wird, werden wir jede naturwissenschaftliche Erkenntnis mittelbar oder unmittelbar in ein Instrument zum Töten und Vernichten verwandeln. Solange die Wissenschaften selber wesentlich als Transmissionsriemen von Kapital- und Machtinteressen dienen sollen, sind Menschlichkeit und Weisheit von ihnen nicht zu erwarten. Das Paradox besteht, daß es (zur Zeit noch) einen globalen Informationsaustausch in und zwi-

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schen den Wissenschaften gibt und daß die gefundenen Einsichten (im Prinzip noch) allen gehören: kein Naturgesetz, kein Naturzusammenhang, keine Naturerkenntnis gilt da als Besitz eines Sponsors oder Investors, und doch erheben mächtige Firmen Patentrechte auf Pflanzen und Tiere, durch deren Genveränderungen sie sich enorme Gewinne für alle Zukunft erhoffen; – unmöglich deshalb, in einer solchen Forschungs- oder Verwertungsstelle noch über die Erlaubtheit oder auch nur über den wirklichen Nutzen bestimmter «Errungenschaften» nachzudenken; die Globalisierung des Kapitalismus geht einher mit der Partikularisierung konkurrierender Interessen. Wohlgemerkt ist die Mißbrauchbarkeit von allem, was naturwissenschaftlich sich erkennen läßt, im Grunde ein Teil der notwendigen Ambivalenz von allem Endlichen; um so wichtiger freilich wäre es, zu klären, wem und wofür etwas «nützlich» sein soll oder nicht. Und da gibt es ein sicheres Negativkriterium: wenn etwas nur «meinem» Labor, «meiner» Firma, «meiner» Nation, «meinem» Militär – oder überhaupt nur mir selbst: meinem Ego mit seiner Machtgier, Geldgier oder Ruhmsucht – zugute kommen soll, so verstößt es auf Grund eben dieser Partikularität der Interessen zweifelsohne gegen die Universalität des Naturzusammenhangs selbst. Allerdings: die Dinge so zu betrachten, wird existentiell nicht ohne Konsequenzen bleiben. So wie ein Theologe gewiß rasch seinen Posten verlieren wird, wenn er nicht den ideologischen Engführungen «seiner» Kirche folgt, sondern sich frei macht für eine Sprache, die des «Umfangenden», die Gottes würdig ist, so gefährdet gewiß auch ein Naturwissenschaftler rasch seine sichere Dienststelle, wenn er es mit der Zweckfreiheit jeglicher Wahrheitssuche in Forschung und Wissenschaft «allzu» genau nimmt. Doch gibt es hier ein «allzu»? Ist es nicht um der eigenen Identität willen unerläßlich, sich diese Freiheit zu erkämpfen und zu erhalten? Müssen wir nicht, um als Menschen leben zu können, vom «Narrenschiff» «abmustern» und die Festlegungen durch die Zielsetzungen des Irdischen: Macht, Ansehen, Geld . . . hinter uns lassen? Die christliche Sicht auf den Menschen, indem sie selbst das persönliche Scheitern in Erfolg und Karriere durchaus nicht ohne weiteres als Niederlage wertet, liefert einen Beitrag zur «Neuroethik», der menschlich absolut unverzichtbar ist . . . Ansonsten besteht die Gefahr, daß der Verstand der Naturwissenschaften der Unvernunft des Allgemeinen auf schlimme Weise dienstbar wird. Und zum dritten: Wonach – positiv – soll speziell ein Neurowissenschaftler sein Handeln im Raume der Gesellschaft denn nun einrichten? Die Antwort auf diese Frage fällt so schwer nicht aus, wie es für gewöhnlich dargestellt wird. Man muß sich nur erinnern: Es war einmal eine Zeit, da die Neurologie ein Fach

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innerhalb der medizinischen Fakultät darstellte; sie wurde gelehrt und ausgeübt zu dem Zweck, Leid zu vermindern und Krankheit zu heilen. So sollte es bleiben oder wieder werden. Ein großes Problem mit der Neurologie und in der Neurologie ergäbe sich jedenfalls, wollte diese selber ihre eigene Herkunft und Zielsetzung einfach vergessen. Die Handlungsanweisung könnte und müßte lauten, daß alle «Nutzanwendungen» neurologischer Forschungsergebnisse ganz und gar in den Dienst eines ärztlichen Bemühens gestellt werden sollten. Es läge dann sogleich auf der Hand, was nach dieser Regel zu tun und zu lassen wäre. «Intelligenzdoping» zum Beispiel könnte einen (begrenzten) Nutzen im Kampf gegen Altersdemenz aufweisen – einige Therapieansätze zur Dämpfung oder zur Verhinderung der alzheimerschen Erkrankung haben wir kennengelernt (vgl. Bd. I 340 –341); als Instrument von persönlichem Ehrgeiz jedoch sollten leistungsteigernde Manipulationen des Gehirns genauso verboten bleiben wie die berüchtigten Anabolika zum Muskelaufbau im Leistungssport. Ein Arzt hat nicht die Aufgabe, im Sinne bestimmter gesellschaftlicher Erwartungen die Natur zu «verbessern», er hat die Pflicht, die Kräfte der Natur zum Wohl von Menschen einzusetzen – notfalls auch gegen den herrschenden Konkurrenzdruck aus Politik und Wirtschaft. Oder: Amphetamine, so hörten wir, wurden entwickelt, um Asthmakranken Linderung zu schaffen (vgl. Bd. I 524 –526); sie gehören absolut nicht in die Hände von «Ärzten», die skrupellos genug sind, mit ihnen die Soldaten ihrer Einheit für den nächsten Kampfeinsatz «scharf» zu machen. Oder: Experimente mit künstlicher Intelligenz sowie Versuche, «biologische» und «technische» Systeme miteinander zu verknüpfen (also zum Beispiel das Zentralnervensystem mit Chips zu verschalten), finden eine humane Berechtigung, wenn es darum geht, die geistigen und motorischen Ausfälle bei Schlaganfallpatienten eines Tages mit Hilfe neuronaler Prothesen auszugleichen; doch eine solche Zielsetzung hat nichts zu tun mit dem Science Fiction-(Alb)Traum der Schaffung von Androiden, die als intelligente und selbstbewußte «American Soldiers» die Entscheidungsschlachten der Zukunft im Auftrag einer irregeleiteten Politik zu schlagen hätten. Und so Punkt für Punkt. – Die Situation ist in der Neurologie nicht prinzipiell verschieden von der Lage in anderen Bereichen der modernen Medizin: die plastische Chirurgie zum Beispiel ist ein wahrer Segen für Unfallopfer mit Verletzungen insbesondere an Gesicht und Händen; sie ist allemal hilfreich bei Frauen nach einer krebsbedingten Brustamputation; aber sie sollte nicht dazu herhalten müssen, Frauen und Männer nach den wechselnden Standards der gesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen zu modellieren; zumindest sollte geprüft werden, ob das individuelle Verlangen, körperlich nach den Traummaßen von Models und

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Schauspielern geformt zu werden, nicht selbst bereits neurotischen Ursprungs ist und zum Erreichen eines soliden Selbstbewußtseins infolgedessen nicht eher eine psychotherapeutische Hilfestellung denn ein chirurgischer Eingriff angezeigt ist. Natürlich sind die Übergänge zwischen gesund und krank fließend; doch nur der Gesundheit ist eine ärztliche Disziplin verpflichtet. Was sich bei alledem abzeichnet, ist eine Richtungsentscheidung nicht nur für das gerade anhebende 21. Jh., sondern wohl weit darüber hinaus. Allerspätestens mit dem Bau der ersten Uran-Spaltbombe in Los Alamos, an welcher sich die besten Physiker ihrer Zeit auf amerikanischem Boden beteiligten (vgl. robert jungk: Heller als tausend Sonnen, 127; 132 –135), hat die Wissenschaft ihre politische und menschliche Unschuld verloren. «Unsere Waffe», erklärte robert julius oppenheimer (1904 –1967), der ab Juli 1943 die Leitung des Manhattan-Projekts, des Baus der ersten Atombombe, übernommen hatte, nach dem Desaster von Hiroshima und Nagasaki, «hat die Unmenschlichkeit und Gnadenlosigkeit des modernen Krieges unbarmherzig dramatisiert. In einer urhaften Weise, die von keiner Banalität, von keinem Humor und keiner Übertreibung ausgelöscht werden kann, haben die Physiker die Sünde kennengelernt; und das ist ein Wissen, das sie niemals verlieren können.» (Zit. n. Chronik 1954, 68.) Inzwischen können wir Atome spalten oder zusammenfügen; wir können das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen verändern; wir können den Bewußtseinszustand von Menschen mit psychoaktiven Substanzen und durch psychochirurgische Eingriffe erheblich manipulieren; doch wohin wir schauen, zeigt sich, daß für sämtliche neu entstandenen Möglichkeiten der ärztliche Vorbehalt ein wirksames moralisches Kriterium des sittlich Erlaubten oder Verbotenen abgeben kann und abgeben muß: Cäsiumstrahler mögen helfen, Krebsgeschwüre mit Hilfe radioaktiver Strahlung zu entfernen; mit Mitteln der modernen Genetik darf man hoffen, eines Tages manche Erkrankungen des Zentralnervensystems verhindern oder heilen zu können; die Behandlung von psychiatrisch Kranken ist ohne Psychopharmaka, zum Beispiel ohne die tricyklischen Antidepressiva (Bd. I 702–703; s. o. S. 109) und ohne die Benzodiazepine (Bd. I 703–705), gar nicht mehr vorstellbar. Der so erreichbare Nutzen wird indessen in dem Maße auf gefährliche Weise vertan, als das aufgehäufte Wissen und Können seiner therapeutischen Funktion entkleidet und statt dessen in eine Handelsware zur Profitmaximierung des vorgeschossenen Kapitals (der «Forschungsinvestitionen») verwandelt wird, und ebenso in gleichem Maße, als durch militärische «Nutzung» das Heilsame ins geradewegs Kränkende, das Therapeutische ins Tödliche, das Medizinische ins Maliziöse pervertiert wird. Statt daß die Eliten in Wissenschaft und Forschung sich in das

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bestehende System von Geld und Gewalt einpassen, stehen sie gerade wegen der bedeutenden Fortschritte der Naturwissenschaften in den letzten 50 Jahren in der Pflicht, umgekehrt die Gesellschaft (Wirtschaft und Politik) den Bedingungen ihrer eigenen Rationalität anzupassen: Wissen ist ein gemeinsames Gut aller Menschen, und es schändet diese Gemeinsamkeit, wer sich als Wissenschaftlicher dazu hergibt, seine Kenntnisse in den Dienst begrenzter Gruppeninteressen zu stellen. Nur was der ganzen Menschheit zugute kommt, entspricht dem Anspruch eines naturwissenschaftlichen Ethos. Mit einem Wort: Die Ethik medizinischer Forschung ist die Beschränkung auf ein medizinisches Handeln. Gilt dies generell, so bleiben doch – wie angekündigt – zwei Punkte, die sich bei der Erörterung der «neuroethischen» Konsequenzen aus dem bisher Gesagten unbedingt nahelegen: da ist einmal die Frage der Tierversuche, auf deren ethische Problematik wir an jeder sich bietenden Stelle hingewiesen haben (vgl. Bd. I 39– 43), und dann die Frage der Bedeutung der Einsichten moderner Neurologie für die forensische Psychologie und Psychiatrie: Was folgt aus der Debatte um die Willensfreiheit für das Verständnis von «Gut» und «Böse», was für das Strafrecht und die Rechtsprechung, was für unseren Umgang mit «Bösewichten» und «Kriminellen»?

β) Von Tieren und Menschen oder: Das Postulat einer neuen Ethik Die «ärztliche Restriktion» medizinischer (also auch neurologischer) Forschung und Behandlung gerät sogleich in ein schier unlösbares Dilemma in der Frage der Tierversuche: Muß nicht, um Schaden von Menschen abzuwenden, ein ungeheures Maß an Leid an Tiere weitergegeben werden? Stellen wir als keiner ethischen Diskussion bedürftig all die Versuche beiseite, in denen man Tieren Qualen auferlegt, um ihre Wirksamkeit an Menschen zu erproben. Von Kaiser nero (37– 68, Kaiser von 54– 68) berichtet sueton (Leben der Caesaren, Kap. 33, S. 252), daß der römische Diktator, als er Britannicus, den Sohn des Claudius und der Valeria Messalina, «aus Eifersucht auf dessen Stimme» – ein Sänger, der er war – ermorden wollte, ein Gift verwandte, das er, um sicher zu gehen, zuerst an einem Bock ausprobierte, der nach fünf Stunden starb, und dann, in stärkerer Konzentration, an einem Ferkel, das sofort verendete. Derartige Experimente fügen sich ganz und gar in das Bild, das sich in der Erinnerung an jenen Wüterich auf dem Caesarenthron der Nachwelt eingeprägt hat. Doch genau ein gleiches, nur vervieltausendfacht, geschieht, ver-

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borgen vor den Augen der Öffentlichkeit, geheimgehalten und entzogen jeder demokratischen Kontrolle, in den Labors, auf den Schießständen, auf den militärischen Stützpunkten und Testgebieten all den Tag. Als zum Beispiel am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll die Wasserstoffbombe «Bravo» gezündet wurde mit einer Sprengkraft von 15 Megatonnen TNT (ca. 600 × Hiroshima), nahm man nicht nur eine Strahlenverseuchung von rund 300 Südseeinsulanern beim radioaktiven Fallout in Kauf, man testete die Auswirkung der Bombe gezielt auch an etwa 40 000 Wirbeltieren (Ziegen, Schafen, Kaninchen), die man in gestaffelter Entfernung positioniert hatte, um zu sehen, wie die Druckwelle, die Hitzeentwicklung und die radioaktive Strahlung der Bombe auf ihre Ohren, ihre Haut und ihr Erbgut wirken würden. Mit 40 Jahren Verspätung erfuhr die Weltöffentlichkeit schließlich, daß die USA in den 40er, 50er und 60er Jahren auch mindestens 1200 Amerikaner in 48 radioaktiven Tests als «Versuchskaninchen» hergenommen hatten: psychiatrisch Kranke hatten radioaktives Jodid injiziert bekommen, Sträflingen waren die Hoden bestrahlt worden, unheilbar an Krebs Erkrankte waren im New Yorker Stadtteil Bronx mit Strontium-85 «behandelt» worden. (brigitte lebens: USA enthüllen ihre strahlende Vergangenheit, in: Neue Westfälische, 5. Juli 1994) In der Zeit des Kalten Krieges verloren 10 000e amerikanischer Soldaten «als leicht verfügbare Probanden . . . in medizinischen Versuchen des US-Militärs und der CIA an der heißen medizinischen Heimatfront Gesundheit und Leben. – Die lange Geschichte medizinischer Gefängnisexperimente in den USA gipfelte auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges. So hat die US-Army zwischen 1964 –1968 Albert Kligman und Herbert W. Copelan von der Pennsylvania-Universität mehr als 386 000 Dollar für Experimente mit harten bewußtseinsverändernden Drogen zur Verfügung gestellt, die an 320 Insassen des Holmesburg-Staatsgefängnisses in Philadelphia ohne hinreichende Aufklärung der Versuchsopfer erprobt wurden. Das USMilitär wollte herausfinden, welche Dosis der Drogen ausreicht, um Soldaten kampfunfähig zu machen . . . Erprobt wurden im selben Gefängnis auch giftige Chemikalien, die zu Hautrötungen, Blasenbildungen und unerträglichen Schmerzen führten. Das Militär wollte so ‹lernen›, ob und wie sich die menschliche Haut gegen chronische Giftangriffe (sc. der eigenen Armee!, d. V.) schützen kann. – Bei den erprobten Giften handelte es sich um Dioxin und andere Komponenten von Agent Orange, das im Vietnamkrieg breitflächig als chemisches Kampfmittel eingesetzt wurde.» (wolfgang u. eckart: Gefährliche Anstalten, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Sept. 2006, 13) In der Folgezeit untersuchte man die Holmesburg-Probanden auf Krebs; – man war sich über die cancerogene Wirkung von Dioxin also vollkommen im klaren; etwa 150 000 vi-

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etnamesische Kinder kamen mit schweren genetisch bedingten Mißbildungen und Erkrankungen zur Welt. – Ein anderes monströses Beispiel bietet die Tuskegee-Syphilis-Studie, die an 400 armen, ungebildeten, syphiliskranken Afroamerikanern zwischen 1932 und 1972 durchgeführt wurde: man enthielt ihnen das um 1947 eingeführte Penicillin absichtlich vor und ließ sie bis in die Endstadien der Syphilis, die man erforschen wollte, elend zugrunde gehen. (wolfgang u. eckart: A. a. O., 13) Wer geglaubt hätte, die unmenschlichen Experimente von Nazi-Ärzten in den Konzentrationslagern, die hingebungsvoll die Folgen schwerer Verwundungen und Erfrierungen zum Nutzen der kämpfenden Truppe im Osten «am lebenden Objekt» zu studieren versuchten, stellten etwas einzigartig Abscheuliches dar, so ungeheuerlich, daß es niemals und nirgendwo eine Nachahmung fände, muß sich bitter getäuscht sehen: es zählt zu den ganz «normalen» Praktiken! In den 70er Jahren wurden «mehr als 90 Prozent aller amerikanischen Pharmaka an Gefängnisinsassen getestet». (wolfgang u. eckart: A. a. O., 13) Speziell in der militärischen «Forschung» ist es bis heute üblich, immer abscheulichere Waffen (konventionelle, chemische, biologische, atomare) an «minderwertigen» Menschen zu erproben, um sie dann auch zur Vernichtung von «höherwertigem» Leben, wie den Soldaten oder «illegalen» Kämpfern einer feindlichen Macht, einzusetzen. Unter solchen Umständen scheint man tatsächlich einen gewissen moralischen Fortschritt darin erblicken zu müssen, daß man medizinische Experimente nicht länger mehr bedenkenlos an Sklaven, Kriegsgefangenen, «Verbrechern», «Behinderten» oder «Entarteten» durchführt, sondern (zumindest idealiter) «nur noch» an Tieren – so wie man die Ersetzung von Menschenopfern durch Tieropfer als einen religionsgeschichtlichen Beitrag zur Zivilisierung der menschlichen Gesellschaft betrachten kann. Die quälerischen und mörderischen Experimente des Militärs an Tieren erweisen sich vor dieser Entwicklung freilich nur als noch monströser, da man sie durchführt, nicht um die mit ihnen verbundenen Abscheulichkeiten Menschen zu ersparen, sondern um sie ungehemmt gerade auf Menschen anzuwenden. Das Problem bei Tierversuchen, die tatsächlich einer Verbesserung des ärztlichen Wissens und Könnens zur Linderung von Unheil und Krankheit im Umgang mit Tieren und Menschen dienen sollen, stellt sich dagegen weit schwieriger. So sahen wir (Bd. I 32 –33; 41– 42), daß die Neurologie über lange Zeiträume hinweg in erheblichem Umfang auf die Läsionsforschung angewiesen schien und zahllose Experimente an Tieren als nötig befand, um feststellen zu können, welche Hirnverletzungen welche neurologischen Ausfallerscheinungen nach sich ziehen würden. Wir müssen uns, um diese übliche Vor-

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gehensweise in der Neurologie beurteilen zu können, nur an die Split-BrainExperimente erinnern, die ronald e. myers zur Erforschung der Funktion des Corpus callosum an Katzen durchführte (Bd. I 434 –435), und wir kommen nicht umhin zu erklären, daß wir viele, wo nicht die meisten der in diesen zwei Bänden aufgeführten neurologischen Erkenntnisse den Resultaten aus Tierversuchen «verdanken». Auf der anderen Seite haben wir auch Stelle für Stelle das Gefühl für die ethische Fragwürdigkeit, ja, für den moralischen Selbstwiderspruch solcher Experimente zu wecken oder wachzuhalten gewußt: Wenn man Versuche am Zentralnervensystem oder am peripheren Nervensystem von Tieren durchführt, weil ihre Gehirne und neuronalen Verschaltungen mit den Verhältnissen im menschlichen Körper zum größten Teil oder ganz übereinstimmen, müßte man dann nicht mit ihnen auch fast oder vollständig so umgehen wie mit Menschen? Statt mit der Massenquälerei von Tieren in gewohnter Weise fortzufahren, läge es also gerade an den Neurologen, ihre inzwischen beachtlichen Forschungsergebnisse zum Aufbau einer neuen Moral zu nutzen und eben darin einen Hauptteil ihrer ethischen Verantwortung in unserer Gesellschaft zu erkennen. So wie vor 150 Jahren schon charles darwins Einsichten in die grundlegende Verbundenheit von Mensch und Tier zu einer fundamentalen Neubesinnung der biblisch-christlichen Anthropozentrik in den ethischen Vorstellungen des Abendlandes hätten führen müssen, so wäre es heute an uns, die moralischen Folgerungen zu formulieren, die sich aus der neurologischen Evidenz ergeben, daß es derselbe Schmerz, dieselbe Furcht, dieselbe Wut, dieselbe Hilflosigkeit sind, die eine Ratte, eine Katze, ein Schimpanse und eben auch ein Mensch empfinden können. «Die einfache Ratte», so hatten wir den Neurobiologen richard f. thompson zitiert (vgl. Bd. I 691), «kann genauso stark unter psychischem Stress leiden wie der komplizierte Homo sapiens.» Es sind dieselben Loci, es sind dieselben Strukturen im Gehirn aller höheren Säugetiere, welche dieselben Empfindungen und Gefühle codieren; eben deshalb ist und war es überhaupt nur möglich, an ihren Reaktionen zu studieren, welch ein neurologisches Korrelat die entsprechenden Erfahrungen besitzen. Dann aber ist es unerläßlich, eine grausame experimentelle Praxis zu überdenken, deren Rechtfertigung einzig auf dem vermeintlichen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier basiert(e), und nicht immer aufs neue stupide das «Argument» von der «Unvermeidbarkeit» von Tierversuchen in Forschung und Wissenschaft zu wiederholen. Selbst wenn diese «Unvermeidbarkeit» wirklich gegeben wäre, dürfte sie gerade nach den Erkenntnissen der modernen Neurologie über die Wesensverwandtschaft von Menschen und Tieren – in ethischer Betrachtung – so wenig eine Rolle spielen, wie aus ihr ein

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Recht auf Experimente an Menschen abzuleiten wäre. Die Neurologen sollten somit selber die bevorzugten Träger ebenso wie die ersten Adressaten einer derartigen ethischen Neubesinnung sein. Die Folgerungen aus ihren Erkenntnissen betreffen – ernst genommen! – nicht mehr und nicht weniger als den gesamten Katalog der derzeit (noch) gültigen gesetzlichen Bestimmungen über den «Gebrauch» und «Verbrauch» von Tieren – bei den Tierversuchen, in der Massentierhaltung, beim Transport, beim Schlachten und Töten, in der Gentechnologie, bei Zucht, Handel und Haltung. (Vgl. ingeborg bingener: Das Tier im Recht, 34– 69 zu den Tierversuchen; S. 70 –81 zur Massentierhaltung; norbert hoerster: Haben Tiere eine Würde?, 95–104; paola cavalieri: Die Frage nach den Tieren, 140–159.) Es ist insofern sehr bedauerlich, daß gerade und immer noch Neurologen sich zu den Hauptfürsprechern des vermeintlichen «Rechts» auf Tierversuche zum Zwecke von Forschung und Wissenschaft machen, statt der dringend gebotenen Neuorientierung der Ethik das Wort zu reden. Um die Monstrosität der herkömmlichen Denk- und Vorgehensweise bei Aufrechterhaltung der bisherigen Tierversuchs-Praxis zu belegen, ist das militärische Experimentieren mit Tieren ebenso geeignet wie der zivile Sektor. Militärische Versuche müssen nicht ausschließlich dem Töten dienen. Denken kann man etwa an die Schimpansen, mit denen man in der Brooks Air Force Base in Texas in den 80er Jahren untersuchte, ob sie nach einer radioaktiven Verstrahlung noch immer imstande sein würden, einen Flugsimulator zu steuern (vgl. peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, 63–71), – der pervers anmutenden Phantasie von Militärs, die Tieren «zugetan» sind, scheint ganz offenkundig keine Grenze; ja, wie peter singer schreibt, die «Vermutung ist naheliegend, daß die Streitkräfte durch die Konzentration auf Krieg, Tod und Verletzung gegenüber dem Leiden abgestumpft sind.» (A. a. O., 71) Hoffen immerhin könnte man, daß die zivile wissenschaftliche Forschung zum Wohl von Mensch und Tier sich qualitativ von der rüden Skrupellosigkeit der Militärs mit ihrer vermeintlichen Pflicht zum möglichst effizienten Töten unterscheiden würde. Doch im Grunde wissen wir es längst besser. Schauen wir uns in Abb. B 107 noch einmal das sechs Monate alte Rhesusaffenjunge an, das harry f. harlow den eigenen Worten nach «von Geburt an in nackten Drahtkäfigen» aufzog, um an ihm und seinen Leidensgenossen «die Auswirkungen totaler sozialer Isolation» zu studieren, nur um schließlich festzustellen, daß eine «genügend strenge und anhaltende frühe Isolation die Tiere auf ein soziales und emotionales Niveau reduziert, bei dem die primäre soziale Reaktion Angst ist.» (Zit. n. peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung

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der Tiere, 72.) Bereits 1951, noch bevor harlow so emsig der Frage nachzugehen begann, wie es möglich sei, Affenkinder psychisch für den Rest ihres Lebens zu schädigen, hatte john bowlby, der sich mit den Folgen des Mutterverlustes bei Kriegswaisen und Flüchtlingskindern beschäftigt hatte und der später mit dem Artikel The nature of the child’s tie to his mother (in: International Journal of Psychoanalysis, 39/1958, 350 –373) hervortrat, bei einem Besuch harlow gefragt: «Warum versuchen Sie eigentlich psychopathische Affen zu produzieren? Sie haben doch schon mehr psychopathische Affen in diesem Labor, als es jemals zuvor auf der ganzen Erde gegeben hat.» (Zit. n. peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, 72 –73.) Doch harlows Ehrgeiz ging dahin, nicht nur «psychopathische» (richtiger: schwer neurotische) Affen zu «produzieren», ihm kam bald schon die «faszinierende Idee», bei Affenbabys schwere Depressionen auszulösen; so erfand er jene Mutterattrappen aus Stoff, die wir in Abb. B 108 besichtigen konnten. Was auf diesem Bild nicht zu sehen ist, verrät indessen erst die wahre Virtuosität dieses hochangesehenen und nach wie vor allerorten zitierten Großmeisters der Erforschung des «Isolationssyndroms»: harlow nämlich mutierte die Stoff-Mutterattrappen in raffinierte Monster; man kann die Gräßlichkeit seiner Versuche nicht treffender wiedergeben, als er selber mit seinen eigenen Worten den ganzen Reichtum seiner Eingebungen und seiner Befunde dargestellt hat: «Das erste dieser Monster», schrieb er, «war eine Affenmutter aus Stoff, die nach Plan oder auf Anforderung mit großem Druck Preßluft ausstieß. Sie blies praktisch dem Tier die Haut vom Körper. Was tat das Affenbaby? Es drückte sich fester und fester an die Mutter, weil ein verängstigtes Kind sich um jeden Preis an seine Mutter klammert. Wir erzielten keinerlei psychopathisches Verhalten. – Wir gaben aber nicht auf. Wir bauten eine andere Mutterattrappe, die so heftig schaukelte, daß dem Baby der Kopf wackelte und seine Zähne klapperten. Aber das Baby klammerte sich nur um so fester an die Ersatzmutter. Dem dritten Monster bauten wir einen Drahtrahmen im Körper ein, der hervorsprang und das Baby von der Oberfläche des Bauches wegstieß. Das Baby rappelte sich sofort vom Boden auf, wartete, bis der Rahmen im Stoffkörper verschwunden war, und klammerte sich wieder an die Mutterattrappe. Zuletzt bauten wir unsere Stachelmutter. Auf Befehl fuhr diese Mutter auf der ganzen vorderen Seite des Körpers spitze Messingstacheln aus. Obwohl die Babys über diese scharfe Zurückweisung verzweifelt waren, warteten sie, bis die Stacheln zurückwichen, kamen dann zurück und klammerten sich an die Mutter.» (Zit. n. peter singer: A. a. O., 73–74.) Die Feststellung, daß die Rhesusaffen-Babys «verzweifelt» waren, verrät eine für Behavioristen methodisch geradezu verbotene Fähigkeit zur Empathie

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– nach welchen objektiven Kriterien läßt sich schon Verzweiflung diagnostizieren und nach welchen Stärkegraden läßt sie sich quantifizieren? –, doch alles, was ihre Einfühlung diese Forscher lehrte, scheint ihnen nur gezeigt zu haben, daß sie sich auf dem richtigen Weg befanden und auf ihm noch gewaltige Fortschritte erzielen konnten: Wie nämlich, wenn statt der künstlichen MutterMonstren echte Monster-Mütter zum Einsatz kämen? Gedacht, getan: harlow und sein Team zogen weibliche Affen in völliger Isolation auf, standen dann aber vor dem Problem, daß die so aufgewachsenen Tiere sich auf keine Kontakte einließen, durch die sie hätten schwanger werden können; also baute man ein «Vergewaltigungsgestell» und beobachtete hernach die Äffinnen, wie sie ihre Babys zur Welt brachten und «betreuten»; und in der Tat, es kam, wie zu erwarten: Ein Teil der Mütter ignorierte die Neugeborenen gänzlich; die «anderen Affen» aber waren – wieder nach harlows eigenen Worten – «gewalttätig oder töteten. Einer ihrer liebsten Tricks bestand darin, den Schädel des Babys mit ihren Zähnen zu zertrümmern. Aber das Verhalten, von dem einem wirklich übel werden konnte, bestand darin, das Gesicht des Babys auf den Boden zu klatschen und es dann hin- und herzureiben.» (Zit. n. peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, 74.) Wer nun freilich denken würde, es sei harlow und seinem Team über die von ihnen induzierte Schlechtigkeit der verzweifelten Äffinnen, die den Anblick ihrer flehenden Kinder offenbar nicht ertragen konnten, so schlecht geworden, daß sie ihre Versuche endlich erschüttert abgebrochen hätten, täuscht sich in der Mentalität von Experimentatoren, die mit Tieren in dieser Weise zu verfahren gewillt und imstande sind. Im Jahre 1972 berichtete harlow davon, wie ihn die Beschreibung von Depressionen bei Menschen auf eine neue Idee gebracht hatte: In einem Artikel hatte er gefunden, daß Depressionen geschildert wurden als die Verkörperungen eines seelischen Zustandes aus «Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, versunken in einem dunklen Schacht der Verzweiflung»; und so machten er und sein Team sich alsbald daran, in jener typisch wahnhaften Verwechslung von Symbol und Wirklichkeit ihren Versuchstieren einen derartigen «Schacht der Verzweiflung» zu bauen: Sie erstellten «eine vertikale Kammer, deren Seiten aus Stahl nach innen geneigt waren, so daß sie einen gerundeten Boden formten, und sperrten junge Affen bis zu 45 Tage lang darin ein. Sie stellten fest, daß die Affen nach wenigen Tagen einer solchen Einzelhaft ‹die meiste Zeit zusammengekauert in einer Ecke der Kammer zubrachten›. Das Eingesperrtsein verursachte ‹ernste und beständige psychopathische (sc. neurotische oder psychotische, d. V.) Verhaltensweisen von depressiver Art›. Sogar noch neun Monate nach der Befreiung saßen die Affen

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mit um den Körper geschlungenen Armen herum, anstatt sich wie normale Affen zu bewegen und ihre Umgebung zu erkunden.» (peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, 75) Doch wie valide ist ein solches Ergebnis? Wie bewertet man die verschiedenen Variablen, die diese Versuche beeinflußt haben können: die Form und Größe des «Verzweiflungsschachtes», die Länge der Gefangenschaft oder das Alter und Geschlecht der Tiere? All das wollte erforscht werden . . . Und wie erst, wenn man die «Verzweiflungsschächte» in «Tunnel des Schreckens» umformte? – Es liest sich wie ein später Triumph, wenn harlow schließlich verkündete, es sei ihm gelungen, junge Rhesusaffen in den «psychologischen Tod» zu treiben, «indem er sie mit plüschbezogenen Mutterattrappen zusammenbrachte, die normalerweise eine Temperatur von 37 °C aufwiesen, aber rasch auf 2 °C abgekühlt werden konnten, um eine Art mütterlicher Zurückweisung nachzuahmen». (peter singer: A. a. O., 75) Wahrscheinlicher ist wohl, daß die Affenkinder die Abkühlung des Körpers ihrer «Mutter» als eine letzte und endgültige «Zurückweisung» erlebten: – als deren Tod nämlich, und daß sie nur deshalb offenbar selbst am liebsten gleich hätten mitsterben wollen. Aber nun: Seit harlow «vor mehr als dreißig Jahren seine Versuche über den Mutterentzug begann», schrieb peter singer (a. a. O., 77) bereits im Jahre 1975, «sind in den Vereinigten Staaten mehr als 250 solcher Versuche durchgeführt worden. In diesen Versuchen wurden mehr als siebentausend Tiere Prozeduren unterworfen, die Qualen, Verzweiflung, Angst, allgemeine psychische Vernichtung und Tod bewirkten . . . Das erstaunlichste an dieser Geschichte ist aber, daß (sc. amerikanische, d. V.) Steuerzahler und Steuerzahlerinnen für alle diese Forschungen bezahlt haben – allein für die Versuche über den Mutterentzug mehr als 58 Millionen Dollar.» Natürlich kann man diese zahlungsbereite Willfährigkeit auf die bürgerliche Gehorsamsbereitschaft gegenüber «Autoritäten» zurückführen, wie stanley milgram (geb. 1933) (Das Milgram-Experiment, 17– 29: Die Problematik des Gehorsams) sie in erschreckender Weise aufgezeigt hat; denn was hätte in unserer der «progressiven Dynamik» des liberalen Marktes verpflichteten Gesellschaft (neben den Erfolgszahlen von Aktien in der Börsennotierung) ein höheres Prestige als der weiße Kittel von «Wissenschaftlern» und «Ärzten»? Doch das Problem reicht tiefer. Gewiß, auch das Wachpersonal in Camp Delta von Guantanamo auf Kuba tut nur gehorsamst seine Pflicht, wenn es an Menschen, die «keine Rechte» haben, wie US-Kriegsminister donald rumsfeld schon im Jahre 2002 die Menschheit wissen ließ, all die Praktiken, von der Isolationshaft über die Verzweiflungsschächte bis hin zu den Temperatur-Kontroll-Räumen (vgl. Bd. I 93), in Anwendung bringt, mit denen harlow vor jetzt vier

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Jahrzehnten so erfolgreich Affenbabys und Affenmütter in Verzweiflung und Wahnsinn zu treiben wußte; man könnte dem entnehmen, daß wir alles, was wir mit Tieren anstellen, irgendwann, statt es Menschen zu ersparen, bestimmt auch auf Menschen übertragen werden, spätestens wenn es gilt, gegen «Untiere» in Menschengestalt vorzugehen; doch auf den entscheidenden Fehler in allem hat – wieder! – arthur schopenhauer hingewiesen, indem er die Ethik des jüdisch-christlichen Abendlandes der Art des Umgangs mit Tieren in Asien gegenüberstellte, «als wo die Religion die Thiere genugsam schützt und sogar sie zum Gegenstand positiver Wohltätigkeit macht . . . Dagegen sehe man die himmelschreiende Ruchlosigkeit, mit welcher unser christlicher Pöbel gegen die Thiere verfährt, sie völlig zwecklos und lachend tödtet, oder verstümmelt, oder martert . . . Man möchte wahrlich sagen: die Menschen sind die Teufel der Erde, und die Thiere die geplagten Seelen.» (Parerga und Paralipomena, 2. Bd., Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, in: Sämtliche Werke, VI 394 –395) «Jedoch», fährt schopenhauer an gleicher Stelle nur allzu berechtigt fort, «was soll man vom Pöbel erwarten, wenn es Gelehrte und sogar Zoologen giebt, welche, statt die ihnen so intim bekannte Identität des Wesentlichen in Mensch und Thier anzuerkennen, vielmehr bigott und bornirt genug sind, gegen redliche und vernünftige Kollegen, welche den Menschen in die betreffende Thierklasse einreihen, oder die große Aehnlichkeit des Schimpansen und Orang-Utans mit ihm nachweisen, zu polemisiren und zu zelotisiren (sc. zu eifern, von griech.: ze¯lou˜ n – eifern, d. V.).» (A. a. O., 396) Und er schildert ein Beispiel, das in seiner «Abscheulichkeit» den modernen Praktiken (vgl. Bd. I 494 –495, die Versuche zur Scheinfütterung von Ratten) in nichts nachsteht: ein Experiment, bei dem man zwei Kaninchen «planmäßig todhungern» hatte lassen, «um die ganz müßige und unnütze Untersuchung anzustellen, ob durch den Hungertod die chemischen Bestandteile des Gehirns eine Proportionsveränderung erlitten! . . . Lassen denn», fragt schopenhauer ebenso zeitlos wie zu Recht empört, «diese Herren vom Skalpel und Tiegel sich gar nicht träumen, daß sie zunächst Menschen und sodann Chemiker sind? – Wie kann man ruhig schlafen, während man unter Schloß und Riegeln (sc. im Universitätslabor, d. V.) harmlose, von der Mutter gesäugte Thiere hat, den martervollen, langsamen Hungertod zu erleiden? Schreckt man da nicht auf im Schlaf?» (A. a. O., 397) Nein, kann die Antwort bis heute leider nur lauten, das tut man nicht. Infolge des Schweigens und infolge der Mitbeteiligung von Neurologen werden derzeit «mehr als 10 000 Primaten . . . in Europa pro Jahr in Grundlagenforschung und Industrie eingesetzt: in Deutschland waren es 2003 knapp

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2000.» (marieke degen: Verwandte im Labor, in: Berliner Zeitung, 22. Juni 2006, S. 15) Soeben zum Beispiel steht der Neurowissenschaftler alexander thiele, aus Newcastle in Britannien kommend, vor der Frage, ob er die Ursachen der alzheimer-Erkrankung und des Hyperaktivitätssyndroms an der Berliner Charité an Makaken erforschen darf oder nicht. Seit 1992 wären dies wieder die ersten Primatentests in Berlin – doch nur in Berlin. Im Deutschen Primatenzentrum in Göttingen werden just eben neue Wirkstoffe zur Behandlung der parkinson-Erkrankung an Weißbüschelaffen erprobt. (marieke degen: A. a. O., 15) Offenbar sieht sich gerade die Neurologie ethisch derzeit vor eine Entscheidung von großer Tragweite gestellt: Experimente und Forschungsreihen dieser Art sind nur möglich, weil die Species des Homo sapiens sapiens selbst der Familie der Hominiden und der Ordnung der Primaten zugehört (vgl. e. drewermann: Der sechste Tag, 3. erw. 2004, S. 546– 549; david macdonald: Die große Enzyklopädie der Säugetiere, 291). Schimpansen, Gorillas und OrangUtans sind taxonomisch völlig korrekt als unsere «Vettern» zu bezeichnen, und die Weißbüschelaffen (Callithrix jacchus), die zur Familie der Krallenäffchen (Callitricidae) zählen, gehören mit uns gemeinsam der Unterordnung der Haplorhinae (der Trockennasenaffen) zu, die von der Familie der Koboldmakis (der Tarsidae) über die Tieraffen zu den Menschenaffen reicht. Diese Tatsache selbst sollte den Ausschlag geben. Es ist nicht länger möglich, einer Ethik zu gehorchen, die in vermeintlichem «Offenbarungswissen» mit christlichem Anspruch die so mühsam und qualvoll errungenen Einsichten der Biologie des 19. und 20. Jhs. nach wie vor ignorieren zu dürfen glaubt; es müßten vielmehr – ihrer Nähe zu Schmerz, Angst und Verzweiflung wegen – in unseren Tagen an erster Stelle gerade die Neurologen im Verein mit ihren Kollegen aus Humanmedizin und Veterinärmedizin sein, die einmütig erklären, was schopenhauer vor 150 Jahren bereits forderte: «daß die Thiere, in der Hauptsache und im Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir, und daß der Unterschied bloß im Grade der Intelligenz, d. i. Gehirnthätigkeit liegt, welcher jedoch ebenfalls zwischen den verschiedenen Thiergeschlechtern große Unterschiede zuläßt; damit den Thieren eine menschlichere Behandlung werde. Denn erst wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit in’s Volk gedrungen seyn wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben seyn; – und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Quaal einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen; wie heut zu Tage geschieht.» (arthur schopenhauer: Parerga und

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Paralipomena, 2. Bd., Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, in: Sämtliche Werke, VI 399– 400) Wir können und brauchen an dieser Stelle nicht zu diskutieren, daß gegen die Tierversuche allein schon ihre überaus dürftige Aussagekraft für den Menschen spricht: nach kürzlich durchgeführten Prüfungen in Bayern sind nur «bei 0,3 Prozent der untersuchten Studien . . . tierexperimentelle Befunde auf Menschen übertragbar. Doch selbst bei diesen 0,3 Prozent konnten Erkenntnisse aus Tierversuchen nicht in eine neue Therapie für Menschen umgesetzt werden.» (petra mayr: Erkenntnisgewinn ungenügend, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 50, 2006, S. 18) Ein wichtiger Faktor, der zu erheblichen Verzerrungen der Datenerhebung führt, ist dabei die Qual selbst, die den Tieren in den Experimenten zugefügt wird; daß gleichwohl in Pharmaindustrie, Politik und Justiz (in dieser Reihenfolge: Geld, Macht und Rechtsauffassung) nach wie vor an den Nutzen der Tierversuche «geglaubt» wird, läßt sich wohl nur durch eine sonderbare Untätigkeit der Neurologen erklären: sie als erste müßten die Öffentlichkeit darüber informieren, wie Schmerz und Streß sich auf Tiere auswirken, sind sie es doch, die gerade mit Hilfe von Tierversuchen die zur Debatte stehenden psychosomatischen Zusammenhänge aufgedeckt haben (s. o., S. 34– 35; 83; 105; 117 –118; 122–125 u. ö.). Inzwischen dringen vor allem britische Behörden darauf, daß Wissenschaftler das Leid protokollieren müssen, mit dem sie die Tiere bei ihren Versuchen belasten (vgl. Nature, online, 5.4.2006); als Maßstab soll dabei der Appetit gelten: Nach Einschätzung der «Gesellschaft für Versuchstierkunde» in Hannover gilt ein Rückgang der Nahrungsaufnahme auf 40% als Zeichen einer «mäßigen» Belastung, völlige Nahrungsverweigerung wird als Hinweis auf eine «starke» Belastung gewertet, wobei als weitere Indikatoren auch «Teilnahmslosigkeit, Zittern, Krämpfe oder Selbstverstümmelung» hinzugezogen werden. «Die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz nennt außerdem Änderungen der Körpertemperatur, der Herzfrequenz und des Blutdrucks als Anzeichen für Schmerz.» (wiebke rögener: Tagebuch der Schmerzen, in: Süddeutsche Zeitung, 11. April 2006) Wem es nach allem, was er bisher über Angst und Streß gelesen hat, als empörend erscheinen will, daß man überhaupt noch in dieser Weise darüber diskutiert, wie sich das mutwillig herbeigeführte Leid der Tiere objektiv (er)messen läßt, dem wird – als ein weiteres Beispiel für eine psychosomatische Reaktion – nun wirklich die grüne Galle kommen, wenn er erfährt, daß in Deutschland ein Versuch von Antragstellern als nur «mäßig belastend» eingestuft werden konnte, bei dem zum Beispiel zwei Tiere zusammengenäht werden sollten, um ihre Kreisläufe zu beobachten –

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ein sogenannter Parabiose-Versuch (vgl. wiebke rögener: A. a. O.). Unter diesen Umständen duldet es kein Ausweichen und keine Ausreden mehr: speziell die Neurologen stehen in der Pflicht und Verantwortung, ihr Wissen, das sie in unzähligen Tierversuchen gewonnen haben, endlich in die Forderung nach einer sofortigen Beendigung der Tierversuche umzusetzen, – ein Gebot der «Neuroethik» in wörtlichem Sinne. Dabei läßt sich die Argumentation fugenlos in die Notwendigkeit einer Überwindung des menschlichen Art-Chauvinismus einfügen, wie sie von Tierrechtlern und Ethikern längst vorbereitet wurde. (Vgl. peter singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, 343– 398: Speziesismus heute; 399– 402: Der erste Schritt über die Speziesbarriere hinaus: Das Great Ape Project; klaus franke: «Die Zeit zum Widerstand ist gekommen». Tierversuche, in: Klaus Franke: Mehr Recht für Tiere, 205 –223; bruno schrep: Nummer 17 starb bei Splittertreffern. Tierversuche bei der Bundeswehr, in: Klaus Franke: A. a. O., 223 –232; ilja weiß: Das unerträgliche Maß. Tierschutzgesetze und ihre Anwendung, in: Klaus Franke: A. a. O., 233– 253; jörg weber: Grundrechte für Tiere und Umwelt. Die Erde ist nicht untertan, 76 –89: Die Sache mit der Religion; helmut f. kaplan: Der Verrat des Menschen an den Tieren, 232– 237: Politik, Religion und Tierrechte. Tierrechte und Religion; zur allgemeinen Orientierung über die anthropologischen und kultursoziologischen Aspekte des Themas vgl. heinz meyer: Der Mensch und das Tier, 21– 32: Bemächtigung, Nutzung und Herrschaft.) Dem ständigen Einwand, es seien Tierversuche für die medizinische Forschung und für die Erprobung von Therapien (noch) unverzichtbar, widersprechen die seit Jahren verbesserten zahlreichen Ergänzungs- und Ersatzmethoden zu den herkömmlichen Tierversuchen: diese ließen sich – bei einigem Problembewußtsein und gutem Willen – nicht nur im traditionellen Rahmen (etwa bei der skandalösen, aber üblichen LD-50-Toxizitätsbestimmung, L = letal, tödlich, D = Dosis; eine «Messung», welche die Konzentration eines Stoffes ermittelt, bei deren Verabreichung 50 % der Tiere sterben!) erheblich reduzieren, sondern auch durch bereits angewendete alternative Verfahren weitestgehend ersetzen: durch Untersuchungen an Mikroorganismen, durch Zellkulturverfahren (in vitro-Tests), durch Testungen an Geweben, durch computergestützte Voraussagen von toxischen Reaktionen (bei der Entstehung reaktiver Metabolite z. B.). (Vgl. hans-günther sonntag: Heutiger Stand der Alternativen zum Tierversuch, in: Wolfgang Hardegg – Ingeborg Livaditis – Michael Vogt: Tierschutz durch Alternativen, 42– 65.) Doch es geht hier wohlgemerkt nicht um eine bloße Methodenkritik oder um Vorschläge für etwaige kostengünsti-

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gere Varianten innerhalb der bisherigen Pragmatik, es geht um eine fundamentale ethische Neubesinnung. «Als Voraussetzung für ein gesetzliches Verbot von Tierversuchen müssen wir . . . mit der Vorstellung aufräumen, daß die Natur und speziell die Tierwelt für unsere Bedürfnisse beliebig ausgebeutet werden darf, daß wir Mäuse und Ratten als beliebig vermehrbare Wegwerf-Meßinstrumente zweckentfremden dürfen und daß wir die (sc. unter anderem auch, d. V.) durch ein sündhaft selbstzerstörerisches Verhältnis zu unserem Körper bedingten Gesundheitsschäden mit tierexperimentell erprobten Chemikalien wieder ausgleichen können.» (bernhard rambeck: Mythos Tierversuch, 127) Statt daß wir die Mißhelligkeiten in unseren Köpfen durch endlose Quälereien den Tieren auferlegen, statt daß wir die psychosomatischen Hilferufe unserer von Streß zermarterten Seelen und Körper mit Medikamenten symptomatisch übertönen, sollten wir unsere medizinischen Kenntnisse besser dazu nutzen, die Bedingungen unseres «zivilisierten» Zusammenlebens gesünder zu gestalten (s. o., S. 52 –55). Dabei ist klar, daß ein solches «neuroethisches» Umdenken natürlich nicht an den Grenzen unmittelbarer medizinischer Intervention stehen bleiben kann; es ist, wie bernhard rambeck (Mythos Tierversuch, 128) richtig schreibt, «Teil einer ökologischen Gesamtbewegung, welche sich mit den ungeheuren Schäden, die der Mensch in seiner Selbstherrlichkeit anrichtet, beschäftigt. Tierversuchsgegner stellen sich gemeinsam mit anderen Gruppierungen, welche sich mit Gentechnologie, Massentierhaltung, Pelztierhaltung, Waldsterben, Gefahren der Kernenergie und Umweltzerstörung etc. kritisch auseinandersetzen, einer hemmungslosen Ausbeutung der Natur entgegen und begreifen unser Ökosystem als sehr störanfälliges und in vielfältiger Weise miteinander vernetztes System.» Letztlich ist es unvermeidbar, all den Formen der «Nutzung» von Tieren in Jagd, Züchtung, Handel, Haltung, Schlachtung und Vermarktung nachzugehen, in denen wir wie selbstverständlich mit den Tieren machen, was wir wollen. Man erinnere sich nur an die auch im ZDF gezeigte Darstellung von manfred karremann (geb. 1961) und karl schnelting (geb. 1930) über Tiere als Ware – wie man in der Massentierhaltung Schweine, Kälber und Geflügel hält (a. a. O., 16–37) oder wie zum Beispiel von den gerade geschlüpften Küken in Deutschland bereits am ersten Lebenstage jährlich 44 Millionen (die Hälfte aller ausgebrüteten Küken der Legehennenrassen) vergast werden, um als Schweinefutter verarbeitet zu werden (a. a. O., 30 –32), und man kommt nicht umhin, auch über unsere Nahrungsgewohnheiten intensivst nachzudenken. (Vgl. nina kleinschmidt – wolf-michael eimler: Wer hat das Schwein zur Sau gemacht. Mafia-Methoden in der deutschen Landwirtschaft,

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26 –29: Agrarindustrie in Germany; axel meyer: Warum kein Fleisch? Sieben Gründe für eine fleischlose Ernährung, 79 –92: Ehrfurcht vor dem Leben. Der ethische Aspekt; 93–110: Als die Opfergabe zur Speise wurde. Der religiöse Aspekt.) Es war schon platon, der den Ursprung von Krieg und Gewalt darin erblickte, daß «der Grund und Boden, welcher damals hinreichte, die Damaligen zu ernähren, . . . nun zu klein . . . und nicht mehr groß genug» sei, nachdem man ausgedehnte Gebiete in Weideflächen für «Schlachtvieh» umgewandelt hatte. (Politeia, 373 d, Kap. 14, in: Sämtliche Werke, III 110) Allein unsere Nahrungskette, in der wir erst unsere Haustiere als Nahrungskonkurrenten mit gerade dem Getreide und Soja füttern, das wir zu eben diesem Zweck anderen Menschen vorenthalten, stellt eine enorme Energievergeudung dar, die nicht nur die Umwelt erheblich belastet, sondern eine der Mitursachen für den Hungertod von Millionen Menschen jedes Jahr bildet. «Weltweit könnte die Landwirtschaft wesentlich mehr Menschen ernähren, wenn wir alle nur pflanzliche Nahrungsmittel zu uns nähmen.» (neil a. campbell – jane b. reece: Biologie, 1441; armin risi – ronald zürrer: Vegetarisch leben, 34– 47: Fleischproduktion, Welthunger und Naturzerstörung; vgl. auch eugen drewermann . . . und es geschah so, 248; ders.: Der tödliche Fortschritt, 56 –57; vgl. zur Frage der Tierversuche auch a. a. O., 6. erw. 1990, 389– 392.) Auch für uns Menschen würde der Übergang zu einer eher vegetarischen Lebensweise also ganz entscheidende ökologische und ökonomische Vorteile bringen; doch vor allem um nicht seelisch uns selber weiter zu verrohen, sollten wir die Verpflichtung zur Schonung der Tiere, die sich so eindrucksvoll in der indischen und pythagoreischen Reinkarnationslehre ausspricht, als eine unabweisbare moralische Konsequenz aus dem Weltbild der modernen (Neuro)Biologie ohne Wenn und Aber akzeptieren und wirtschaftlich, politisch und rechtlich in einen entsprechend verbindlichen Verhaltenscodex übersetzen.

γ) Von Verbrechen und Verbrechern oder: Eine religiöse Vermahnung Im Umgang mit den Tieren ergibt sich aus den Einsichten der modernen Neurologie die Dringlichkeit einer ethischen Neubesinnung. «Wir sind nicht die Einzigen, die bewusste Schmerzerlebnisse oder negative Gefühle wie Todesangst und Panik haben können», formuliert – mehr als vorsichtig – thomas metzinger (Unterwegs zu einem neuen Menschenbild, in: Gehirn und Geist, 11/2005, 53) diesen Sachverhalt. Aber auch im Umgang mit Menschen stehen wir allem

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Anschein nach vor einem Umbruch unserer moralischen und juristischen Vorstellungen. «Wenn alles menschliche Erleben, Verhalten und Denken auf neuronalen Prozessen beruht – was heute kaum jemand mehr ernsthaft bestreitet –, dann müsste es im Prinzip durch Naturgesetze vorherbestimmt sein. Dann bliebe jedoch kein Raum für den freien Willen, für den ‹unbewegten Beweger›, der nicht durch materielles Geschehen im Kopf determiniert wäre.» (paul hoff – steve klimchak: Freiheit, die wir meinen, in: Gehirn und Geist, 1/ 2004, 29) Im großen und ganzen haben wir dieser Einschätzung zustimmen müssen: Menschen, die sich an anderen Menschen in schwer störender oder gar zerstörerischer Weise vergehen, sollten zumindest unter der Vermutung stehen, daß sie – mit schopenhauer gesprochen – zwar tun, was sie wollen, aber nicht wirklich wollen können, was sie wollen; auf die Art ihres Wollens haben sie – ohne eine oft erhebliche therapeutische Anstrengung und selbst bei dieser ohne Gewähr für einen guten Ausgang – keinen Einfluß; da sind sie Getriebene, Unfreie. Um es so zu sagen: Auch das Gute, das Menschen tun, mag – wie zum Beispiel im Falle mancher Religionsgründer oder Heiliger (s. o., S. 655– 656; 677) – unter innerem Zwang (etwa dem Diktat des Überich) erfolgen, es stellt gleichwohl die einzige Handlungsweise dar, für welche sich ein Mensch bewußt und als mit sich identisch entscheiden kann; insofern braucht das Heilende, Gesunde, Gelingende in aller Regel keine besondere Ursache, die es als extern oder intern festgelegt und eingeengt erklären müßte. Anders das, was wir «unheil», «krank» oder «böse» nennen; hier ist es geradezu unerläßlich, den «vorherbestimmten» Weg in die Deformation und in die Destruktion en détail aufzuklären, und dies nicht zuletzt auch aus methodischen Gründen. Bis vor wenigen Jahrzehnten noch gewann die Neurologie Erkenntnisse nicht aus dem gesunden Gehirn, sondern aus dem kranken (oder richtiger gesagt: aus dem krank gemachten) Gehirn, eben weil die Störungen neuronaler Abläufe sich als etwas eng Umschriebenes darstellen (zur Läsionsforschung vgl. Bd. I 41–42), während der Ausgang von einer komplexen Funktionsleistung («ich sehe meine Freundin im Zimmer») ein kaum überschaubares Feld an Vielfalt zur Voraussetzung hat (vgl. Bd. I 439– 459: Das Ich und sein Gegenstand). Ganz entsprechend mußte sich die Psychoanalyse von Anfang an auf die Untersuchung psychischer Erkrankungen konzentrieren, und es war ein ebenso beliebter wie berechtigter Vorwurf, den man gegen sie ins Feld führte, daß sich vom Kranken her nicht das Gesunde, vom Verbrecherischen her nicht das Normale verständlich machen lasse. Wir brauchen diese Debatte hier nicht fortzusetzen; es genügt, methodisch davon auszugehen, daß man die Entste-

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hung eines Delikts am besten begreift, wenn man es als das Ergebnis einer Kette determinierender Faktoren betrachtet; denn nur in diesem Falle wird man zu all den Fragen hingeführt, die neurologisch wie psychologisch die Genese einer Persönlichkeit nachzuzeichnen erlauben, während die entgegengesetzte Vorgehensweise in jene abstrakt-idealistische Freiheitshypothese mündet, die wir vorhin bei kant (und sartre) kennengelernt haben: wir erhalten dann zwar eine unbedingte und absolute Verantwortung für eine Handlung, wir vermögen aber für diese Handlung die Person nicht mehr zu finden, die sie vollbracht haben könnte. Nehmen wir als Beispiele die besonders abstoßenden Gewalt- und Sexualverbrechen und fragen, was die Neurologie über die allgemeinen Störungen der (früh)kindlichen Psychogenese hinaus für die Entstehung von Gewalt und Sexualkriminalität an Ursachen benennen kann. Als wir uns mit der neurologischen Erforschung der menschlichen Sexualität beschäftigt haben, konnten wir nicht gerade den Eindruck gewinnen, wir beträten ein Terrain, auf welchem sich – wohlabgesteckt und klar gesondert von den «Gesunden» – die Pädophilen, Sadisten, Vergewaltiger etc. tummelten (vgl. Bd. I 620 –622); und auch bei der Begründung von Gewaltverbrechen halten sich die Erkenntnisse der Psychologie wie der Neurologie noch sehr im allgemeinen. (Vgl. aber bereits franz alexander – hugo staub: Der Verbrecher und sein Richter von 1929, in: Psychoanalyse und Justiz, 308 –313: Eine psychoanalytische Kriminaldiagnostik.) So zählt der amerikanische Psychologe roy baumeister (Evil – Inside Human Violence and Cruelty, 1999) vier Gründe auf, derentwegen Menschen «Böses» tun, mithin Gewalt und Grausamkeit ausüben und verüben (vgl. jochen paulus: Die vier Wurzeln des Bösen, in: Bild der Wissenschaft, 3/2005, 58 –63); und zwar: 1) Das Böse kann eingesetzt werden als Mittel zum Zweck; – so können Kriege, ethnische «Säuberungen», Vertreibungen, Vergewaltigungen, Folterungen etc. einem bestimmten (bevölkerungs- oder staats)politischen Ziel dienen, das unter Umständen in sich bereits für ebenso verbrecherisch gelten muß wie die Handlungen, die unternommen werden, es zu erreichen (zumindest im heutigen Rechtsempfinden der internationalen Staatengemeinschaft). Freilich unterscheidet sich das Verhalten eines diszipliniert nach Befehl agierenden Soldaten in einem wichtigen Punkte von dem eines «gewöhnlichen» Kriminellen: Die Vorgehensweise eines Gewalttäters im Affekt folgt gerade nicht einer zweckrationalen Strategie, sondern entspringt einer mangelnden Selbstkontrolle, ja, es könnte sein, daß die Evolution den Impuls zum umweglosen Agieren geradezu prämiert und sogar genetisch verankert hat. (Vgl. jochen pau-

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lus: Die vier Wurzeln des Bösen, in: Bild der Wissenschaft, 3/2005, 60.) Der Verbrecher verhielte sich, wenn diese Annahme zuträfe, wie ein «Wilder», der den Weg der (Selbst)Domestikation des Menschen im Verlauf der Sozialgeschichte in seiner eigenen Sozialisation nur ungenügend durchlaufen hat. 2) Das Böse kann auftreten als Sadismus: Die Theorien der Psychoanalyse zur Entstehung dieser speziellen sexuellen Perversion versuchen zu erklären, wieso die Zufügung von Schmerz Lust bereiten kann, etwa durch eine Fixierung der Libido-Entwicklung auf die zweite prägenitale Phase (vgl. sigmund freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Gesammelte Werke, V 99). Fest steht, daß Sadisten ihre Missetaten verüben, weil sie die Qual ihres Opfers genießen – zum Beispiel um sich, ersatzweise, für erlittene Demütigungen und Zurückweisungen zu rächen. In der Literatur unterstellt man Menschen, die objektiv monströse Taten begehen – etwa der Wachmannschaft eines Konzentrationslagers oder den Soldaten in dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib – nicht selten eben solche quasi privaten sadistischen Motive; doch die Wirklichkeit ist schlimmer: Menschen, die einen Mord begehen (mußten), beginnen manchmal erst bei ihrem Tun die Macht zu spüren, mit der sie über Leben und Tod eines anderen Menschen entscheiden; sie fühlen, daß sie damit eine absolute Grenze überschreiten, und wenn sie sich jetzt noch von den Resten eines verbleibenden Schuldgefühls befreien, erleben sie eine rauschhafte Überlegenheit. Verbrechen können süchtig machen wie eine Droge. (Vgl. jochen paulus: Die vier Wurzeln des Bösen, in: Bild der Wissenschaft, 3/2005, 61) So beschreibt der Führer des arabischen Aufstandes gegen die Türken zwischen 1915 –1918, thomas edward lawrence (von Arabien, 1888–1935), in seinem Bericht Die sieben Säulen der Weisheit aus dem Jahre 1926 in schonungsloser Ehrlichkeit das «Massaker», das er in der Schlacht von Gheza anrichtete, bei der «keine Gefangenen» gemacht wurden (Kap. 26, S. 599– 600). Es mag «gewissenlose» Sadisten geben, wie donatien-alphonse-françois marquis de sade (1740 –1814) sie in Justine oder Das Mißgeschick der Tugend von 1791 schildert; doch findet sich im Vorbau einer solchen Triebzielperversion recht häufig eine sogar überdurchschnittlich gewissenhafte Person, die ihre Schuldgefühle verdrängen mußte, um den einmal begonnenen Weg einer grenzenlosen Machtausübung weiter beschreiten zu können. 3) Verletzter Narzißmus kann zur Ursache des Bösen werden: Diese Einbahnstraße in die Kriminalität ist wohl nicht nur die am meisten befahrene, sie ist auch die in der psychoanalytischen Theorie am sorgfältigsten beschriebene. Wenn wir früher bei paul federn und heinz kohut gesehen haben, wie eng Ich-Entwicklung und Narzißmus zusammenhängen (s. o., S. 185–191; 192 –

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198), so können wir ohne weiteres verstehen. daß eine der Hauptquellen der Gewalt «die Pathologie des Narzißmus» ist (erich fromm: Die Seele des Menschen, in: Gesamtausgabe, II 208), die ihre gefährlichste Form freilich nicht in der «explosiven Wut» (in mangelnder Selbstkontrolle) erreicht (a. a. O., II 208), sondern «in dem Versuch, die Wirklichkeit so umzuformen, daß sie bis zu einem gewissen Grad zu seinem (sc. des Täters, d. V.) narzißtischen Selbstbild paßt». (erich fromm: A. a. O., II 209) Der «Führer» adolf hitler (1889 – 1945) verkörperte eine solche Möglichkeit, aber auch herman melvilles Kapitän Ahab in dem Roman Moby Dick oder william shakespeares Richard III.; all diese Charaktere handeln aus einem verletzten Ehrgefühl bzw. aus dem Empfinden tiefer Minderwertigkeit heraus. 4) Nicht minder unheilvoll, weil kollektiv wirksam, kann der Zusammenhang zwischen Ideologie, Politik und Religion geraten. (Vgl. robert s. robins – jerrold m. post: Die Psychologie des Terrors, 127–158: Das Bedürfnis, Feinde zu haben: Nationalismus, Terrorismus und paranoide Massenbewegungen; 194 –242: Töten im Namen Gottes; 243 –269: Theoretiker des politischen Wahns.) Speziell im Blick auf die «deutsche» Vergangenheit im 20. Jh. zeigt zum Beispiel christopher r. browning: (Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die «Endlösung»), wie auch Menschen, die aus persönlichen Motiven heraus niemals ein Verbrechen begehen würden, durch ihre Bereitschaft, einen «heiligen» oder «geschichtsnotwendigen» Auftrag zu erfüllen, in kriminelle Taten schlimmsten Ausmaßes verwickelt werden können. «Befehl ist Befehl» – das sagten nicht nur die Nazi-Granden 1947 im Nürnberger Prozeß zu ihrer Entschuldigung, das erklärte noch am 9. Aug. 1995 der Bomberkommandant Major sweeney, als ein Moderator des RTL ihn befragte, was er in den 50 Jahren nach dem Abwurf der Atombombe auf Nagasaki empfunden habe; sweeney fügte noch hinzu: «Jeder Soldat der Welt würde genauso gehandelt haben.» Ähnlich äußerte sich Oberst paul w. tibbets, der drei Tage zuvor die Bombe über Hiroshima ausgeklinkt hatte: «Ich habe nie bereut und mich nie geschämt, denn ich glaubte damals, daß ich meine patriotische Pflicht tat, als ich den Befehlen folgte, die man mir gab.» (Chronik 1945, S. 146) stanley milgram hat in seinem schon zitierten Versuch (Das Milgram-Experiment, 17–29: Die Problematik des Gehorsams) aus dem Jahre 1963 diesen Zusammenhang unzweideutig klar aufgezeigt. «Der typische Soldat», sagt er, «tötet, weil man ihm befohlen hat zu töten und er es als seine Pflicht ansieht, Befehlen zu gehorchen. Der Akt . . . entspringt nicht destruktiven Trieben, sondern der Tatsache, daß die Versuchspersonen in eine Sozialstruktur integriert wurden und unfähig sind, aus ihr auszubrechen.» (stanley milgram: A. a. O.,

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193) Was also wird passieren, wenn ein heiliger Mann, ein Religionsgründer, wie Mose in Num 31,14 –18 wütend oder «eifernd» die Ermordung von allem, «was männlich ist unter den Kindern» der Midianiter, befiehlt sowie von allen «Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind», und «alle Mädchen, die unberührt sind», zum Lebendbesitz seinen Schergen bestimmt? Man darf sich offenbar nicht wundern, wenn, nach diesem Vorbild, die Israeliten später, nach ihrer «Landnahme», mit 12 000 streitbaren Männern nach Jabesch in Gilead aufbrechen und dort «mit der Schärfe des Schwerts die Bürger . . . mit Weib und Kind» erschlagen und die «vierhundert Mädchen, die Jungfrauen waren und keinem Mann angehört hatten . . . ins Lager nach Silo» schaffen, um sie den Benjaminitern zu übergeben. (Ri 21,10 –12) – Übrigens, was für eine Prüfung, herauszufinden, welche Mädchen «unberührt» sind! Der zugehörige Sadismus einer solchen Vorgehensweise ist der Bibel nicht erst der Erwähnung wert. Nun sind die «Täter», die zu den Exekutoren eines kollektiven Wahns oder eines kriminellen Gruppenauftrages werden, in aller Regel «unverdächtige», durchaus im Normalmaß des bürgerlichen Durchschnitts angesiedelte Persönlichkeiten; es darf deshalb für höchst unwahrscheinlich gelten, daß irgendeine neurologische Untersuchung in ihren Gehirnen einen Befund erheben könnte, der von sich her auf ein verbrecherisches Potential hinwiese; es genügt ja, wie wir sahen, bereits jene «Übernormalität», jene fatale Gleichsetzung von «Gewissen» und Überich (als dem Produkt entsprechender Konditionierungen), und es wird sich nicht vermeiden lassen, immer mal wieder, je nach dem Geschichtsverlauf, durchaus gute Familienväter und pflichtbewußte Steuerzahler als Handlanger ungeheuerer Massenmorde am Werke zu sehen. Gleichwohl gibt es natürlich das Verbrechen, das von Einzelnen verübt wird, die dann von der Gesellschaft an den Pranger gestellt werden, und so bleibt die Frage, was die heutige Neurologie darüber zu sagen vermag. Tatsächlich läßt sich neurologisch zeigen, daß insbesondere impulsive Gewalttäter bereits in Kindheit und Jugend bestimmte neuroanatomische Defizite aufweisen, die eine erhöhte Neigung zu gewalttätigem Verhalten bedingen, insbesondere wenn noch ungünstige Eindrücke in der Kindheit (wie eine unsichere Elternbindung, körperliche Mißhandlungen – «Strafen!» – oder sexueller Mißbrauch) hinzutreten; charakteristischerweise lassen sich bei der relativ kleinen Zahl von planvoll und kaltblütig agierenden Gewalttätern solche spezifischen Hirnveränderungen nicht erkennen (vgl. daniel strüber – monika lück – gerhard roth: Tatort Gehirn, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 46), bis vielleicht auf diesen: Vergleichsuntersuchungen zwischen zehn gesunden und zehn «psychopathischen» Probanden ergaben bei letzteren in Situationen, die

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von den «Gesunden» als durchaus erregend (ängstigend) erlebt wurden, im fMRT so gut wie keine Erregung in den emotional wichtigen Hirnarealen des präfrontalen Cortex, der Insula und der Amygdala. (rolf degen: Der angeborene Schutzfaktor, in: Bild der Wissenschaft, 3/2005, 65) Woran das liegen könnte, läßt sich vermuten. Bei der Besprechung der Entwicklung eines Kindes haben wir gesehen, wie im Alter von etwa sieben Monaten zwei Fähigkeiten heranreifen, die das Verhalten entscheidend verändern: das Kind lernt, seine Mutter als ein eigenes Wesen mit eigenen Gefühlen zu erkennen (es bildet eine theory of mind, eine Vorstellung von der seelischen Gestimmtheit eines anderen, aus), und es beginnt, zwischen «bekannt» und «fremd» zu unterscheiden (s. o., S. 487). Und nun könnte es sein, daß Menschen, die wir als «Psychopathen» klassifizieren, bereits in dieser frühen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung empfindlich gestört wurden: sie konnten womöglich niemals wirklich lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen («Empathie» zu entwickeln), und sie konnten mithin niemals die Vorsicht erwerben, die nötig ist, um unbekannten Personen durch allmähliches Kennenlernen näherzukommen. Die Aufnahmen der fMRT demonstrieren anscheinend nur das im Gehirn Struktur gewordene Defizit aus Kindertagen, so wie sich im Knochenaufbau eines Menschen an den sogenannten harris-Linien (nach henry albert harris, 1886–1968) die Phasen von Hunger und physischer Entbehrung nachweisen lassen, die er als Kind erlitten hat. Ihre wesentliche Aussagestärke besitzt die heutige Neurologie demnach durch Untersuchungsergebnisse an Gewalttätern in engerem Sinne, also bei Tätern mit mangelnder Impulskontrolle: solche Personen verfügen über eine sehr geringe Frustrationstoleranz, sie lassen sich leicht provozieren, und sie können nach ihrer Tat durchaus Reue zeigen, ohne daß sich freilich ihr Verhalten – auch nicht durch Züchtigung oder Gefängnisaufenthalt – merklich verändern würde. Die klassische neurologische Erklärung für diesen Symptomkomplex besteht in der Frontalhirn-Hypothese. Bereits am Fall von Phineas P. Gage haben wir gesehen, wie eine Verletzung des Frontalhirns das «Gleichgewicht» zwischen den «geistigen Fähigkeiten» und den «animalischen Neigungen» empfindlich stören kann (vgl. Bd. I 32; 584). Doch es bedarf keiner Eisenstangen, um den Gefühlshaushalt eines Menschen durcheinanderzubringen. Wie wir wissen, übt insbesondere der orbitofrontale Cortex auf den Hypothalamus und auf Teile des limbischen Systems wie die Amygdala einen hemmenden bzw. steuernden Einfluß aus (vgl. Bd. I 118 –119); die Frontalhirn-Hypothese besagt nun, daß «die psychobiologische Wurzel antisozialen Verhaltens in einem defekten Regelkreis zwischen kontrol-

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lierendem Präfrontalcortex und limbischem System» besteht. (daniel strüber – monika lück – gerhard roth: Tatort Gehirn, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 47) Dabei kann es natürlich sein, daß der präfrontale Cortex selbst auf Grund bestimmter Schädigungen außerstande ist, eine vorausschauende Risikoabschätzung bei Gewaltausbrüchen vorzunehmen. So untersuchte adrian raine in Los Angeles mit Hilfe der PET verurteilte Mörder und fand «eine oft geringere Stoffwechselaktivität in frontalen Hirnregionen als bei normalen Personen». (A. a. O., 48) Zumeist aber werden wir damit rechnen müssen, daß die Vorderhirn-Kontrolle durch ein psychisches «Notfallprogramm», das mit der Ausschüttung großer Mengen von NA einhergeht, einfach zu einer vorübergehenden Wirkungslosigkeit verurteilt wird (s. o., S. 227– 228; 343 –345); erst beim «Aufwachen» begreift der Betreffende dann, was er «im Affekt» getan hat. Nun werden Gewaltdelikte fast ausschließlich von Männern verübt; insbesondere in der Pubertät, zwischen 13 –15 Jahren, steigen Gewalttätigkeiten unter Jungen rapide an, um dann wieder abzuklingen. Als Grund dafür steht das männliche Sexualhormon Testosteron «unter Anklage», das die BlutHirn-Schranke überwindet und in der Tat auch an die Rezeptoren von Hypothalamus und Amygdala zu binden vermag; doch während die männliche Aggressivität bei vielen Tierarten nachweisbar mit dem Testosteronspiegel zusammenhängt, ist eine solche Beziehung beim Menschen nicht eindeutig nachgewiesen. (Vgl. daniel strüber – monika lück – gerhard roth: Tatort Gehirn, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 50; vgl. Bd. I 600 –601; 621.) Vor allem lautet die eigentliche Frage, was den Anstieg des Testosteronspiegels bewirkt, und da scheint es, daß es chronische Konkurrenz- und Konflikterfahrungen sind, die den Testosteronspiegel auf Dauer hochregeln. So könnte sich erklären, warum Frauen zwar nicht weniger aggressiv sind als Männer, aber weit weniger zu Gewalttätigkeiten neigen: Bei ihnen «drosseln . . . offenbar Östrogene das Konkurrenzverhalten». (daniel strüber – monika lück – gerhard roth: A. a. O., 50) Östrogene greifen auch in den Serotoninhaushalt ein, und von diesem in den Raphe-Kernen gebildeten Neurotransmitter wissen wir, daß er die Schmerzweiterleitung hemmend beeinflußt (Bd. I 513– 514; 694) und angstlösend wirkt (Bd. I 705); umgekehrt geht Serotoninmangel mit Angstgefühlen und entsprechender Aggressionsbereitschaft einher. Gehört haben wir, wie man Depressionen heute unter anderem damit zu behandeln sucht, daß man mit Hilfe von SSRIs (Selective Serotonine Reuptakte Inhibitors) den Serotoninspiegel zu heben und damit streßlindernd einzugreifen sucht (vgl. Bd. I 705; s. o., S. 109); auch erfuhren wir, wie verlorene Zweikämpfe schon bei männlichen Flußkrebsen dazu führen können, die Wirkung von Serotonin zu verrin-

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gern (s. o., S. 117–118). Es spricht also manches dafür, daß Serotonindefizite, hervorgerufen durch chronischen Streß – beginnend mit Störungen in der Beziehung zur Mutter, Erfahrungen von Einsamkeit und Mißhandlungen etc. – sowie durch eine Vielzahl verlorener Zweikämpfe, in einen Teufelskreis führen können: das Gefühl von Angst und Unterlegenheit erzeugt eine Aggressivität, die den Typus des ständigen «Verlierers» hervorbringt. Was allein in einer solchen Feststellung zugunsten einer wirklichen «Prävention» oder therapeutischen Hilfe für Gewaltkriminelle liegt, wäre unschätzbar, wenn es nicht längst schon psychologisch allbekannt wäre, ohne daß es bisher gesellschaftliche Konsequenzen gezeitigt hätte: es gälte, den «Verlierern» die Art ihrer Konflikte bewußtzumachen, sie aus der Dauerkonkurrenz herauszuführen und ihnen angemessene Lösungsstrategien aufzuzeigen, – vielleicht braucht man ja kein Schlachtfeld von «Besiegten», um die eigene Angst zu besiegen und sich «richtig drauf» zu fühlen . . . Wenn wir erst einmal biopsychologische Ursachen für Gewaltdelikte in Erwägung ziehen, so ist natürlich auch an genetische Faktoren zu denken. Wohlgemerkt, es gibt ein «Verbrecher-Gen» so wenig wie ein «Gott-Gen»; dafür ist alles, was wir fühlen, denken und wollen, neuronal viel zu komplex organisiert. Aber wenn Serotoninmangel eine derart große Rolle bei Angst und Aggression spielt, ist es selbstredend unerläßlich, nachzuschauen, welche Gene (bzw. welche von ihnen codierten Enzyme und Transportmoleküle) für Synthese und Transport von Serotonin wichtig sind, welche für die Synthese seiner Rezeptoren und welche beim Abbau dieses Neurotransmitters mitwirken (hier ist vor allem das Enzym MAO von Bedeutung). Von MAO hörten wir schon, daß eine zu geringe Aktivität dieses Enzyms den Grund zu fehlender Selbstkontrolle und kriminellem Verhalten bilden kann. (Vgl. Bd. I 253; 703; e. drewermann: . . . und es geschah so, 355; hubertus breuer: Im Hirn des Verbrechers, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 71–72.) Für die Serotoninsynthese zuständig ist, wie wir wissen (vgl. Bd. I 255), u. a. das Enzym Tryptophan-Hydroxylase, das den Syntheseschritt von Tryptophan zu 5-OH-Tryptophan (5HTP) katalysiert; und nun scheint für eine «erhöhte Aggressivität» in der Tat «eine Variante des Tryptophan-Hydroxylase-Gens verantwortlich» zu sein. (daniel strüber – monika lück – gerhard roth: Tatort Gehirn, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 48) Doch ein solcher Zusammenhang, so wichtig er sein mag, erklärt gewiß nicht alle Formen von Gewaltdelikten. Uns stets vor Augen halten müssen wir, daß sich Gewaltdelikte grob sortiert in zwei Kategorien einteilen lassen: Ein großer Unterschied besteht ganz offensichtlich zwischen Gewalttaten, die im Affekt verübt werden (und deshalb

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meist rasch aufgeklärt werden), und solchen, die raffiniert geplant und durchgeführt werden (so daß sie oft nicht einmal als solche erkannt werden). Beide Formen von Gewalttaten verlangen verschiedenartige Erklärungen. Um ein Verbrechen «strategisch» planen zu können, sollte die kognitive Funktionsleistung des präfrontalen Cortex nicht gestört sein; bei diesen «erfolgreichen» Gewalttätern sollten wir eher das Bild jenes «emotionslosen Psychopathen» erwarten, dessen Amygdala Angst nicht zu kennen scheint; vermuten lassen sich daneben auch Veränderungen im (dopaminergen) Belohnungssystem; doch hier «gibt es . . . noch Forschungsbedarf». (daniel strüber – monika lück – gerhard roth: Tatort Gehirn, in: Gehirn und Geist, 9/2006, 50) Bei den «erfolglosen Psychopathen» hingegen, die entweder zu planlos oder zu affektiv besetzt zu Werke gehen, haben die gerade erwähnten Untersuchungen von adrian raine unter anderem auch eine unterschiedliche Größe der Hippocampi in den beiden Hirnhälften nachgewiesen, bedingt vermutlich durch Störungen bereits der frühkindlichen Hirnentwicklung. «Möglicherweise schwächen diese Veränderungen die Zusammenarbeit zwischen Hippocampus und Amygdala, sodass emotionale Informationen nicht mehr richtig verarbeitet werden. Versagt dann auch noch der präfrontale Cortex als Kontrollinstanz, könnte das die unangemessenen verbalen und körperlichen Reaktionen erklären, wie sie bei Gewalttätern mit antisozialer Persönlichkeitsstörung häufiger beobachtet werden.» (daniel strüber – monika lück – gerhard roth: A. a. O., 50) Wissen wir jetzt also, warum und wie Menschen zu Verbrechern werden? Mitnichten, wir sind weit davon entfernt; ja, es sieht so aus, daß wir den entscheidenden, den eigentlich menschlichen Faktor in der Ursachenforschung noch gar nicht erwähnt haben. «Wenn man die Lebensgeschichte all jener Menschen aufarbeitet, die innerhalb ihrer Familie und Bekannten verletzt und getötet haben, dann kommt man zur Überzeugung, dass sie irgendwann einmal aus Mangel an Fähigkeit oder aus Mangel an Möglichkeit zu einer vernünftigen Kommunikation einen Punkt erreicht haben, wo die Sache eskaliert ist . . .», schreibt der uns schon bekannte Kriminalpsychologe thomas müller (Bestie Mensch, 92) und ergänzt: «Ein Gespräch in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Art und Weise geführt, bedeutet Deeskalation, das Gespräch in einer anderen Form geführt, absolute Eskalation. Ursache und Wirkung.» Insbesondere, meint müller, ähnelten «die Biographien von jenen Tätern, welche die komplexesten Sexualverbrechen begehen, . . . einander in einigen Punkten ganz erstaunlich. – In den meisten Fällen kommen sie als junge Kinder in eine Situation, wo sie einen beunruhigenden Umstand nicht mehr verarbeiten kön-

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nen. Sie sind nicht mehr in der Lage, darüber zu sprechen, weil ihnen in den meisten Fällen ein Ansprechpartner fehlt. Jetzt flüchten sie sich dorthin, wo sie plötzlich mächtig sind, um den Stiefvater, der fortwährend ihre eigene Mutter schlägt, vernichten zu können . . . Sie flüchten in ihre Phantasien. Gewaltphantasien, die sich im Alter von sechs, sieben und acht Jahren ausprägen, genährt durch den fortwährenden Konsum von Gewaltvideos und Spielfilmen, bei denen der Held innerhalb von 90 Minuten 150 Menschen umbringt. Diese Gewaltphantasien ziehen sich in der Regel wie ein roter Faden in jenen Altersbereich, wo der Körper durch die hormonelle Überschwemmung die ersten körperlichen Erregungen verspürt und der Junge beginnt, sich mit Sexualität zu beschäftigen. Nun verbinden sich aber die Gewaltphantasien mit normaler Sexualität, und das ist die Basis für jedes Sexualverbrechen. Macht, Dominanz und Kontrolle in Verbindung mit sexuellen Handlungen ist der Ausgangspunkt, bei dem die Täter zunächst beginnen, andere Mädchen und Frauen anzustoßen, niederzuschlagen, zu verletzen, um in weiterer Folge ihre Dominanz und Kontrolle dadurch auszuleben, dass sie ihre Opfer für längere Zeit behalten, ihre Bewegungsfreiheit einschränken, körperliche oder verbale Fesseln anlegen, um ihre Kontrolle und Dominanz zum Ausdruck zu bringen. Eine Vergewaltigung ist eine sexuelle Handlung, die ein nicht sexuelles Bedürfnis befriedigt. Erniedrigung, Demütigung, Macht und Kontrolle sind die Bedürfnisse des Täters» (thomas müller: A. a. O., 124 –125) – der, muß man hinzufügen, sich am Ende genau so und noch schlimmer verhält als sein «Stiefvater». Was sich aus einem solchen Panoramabild ergibt, ist der Eindruck, «dass jeder Mensch, der frei in seinen Entscheidungen ist, einen unglaublichen Luxus besitzt» (thomas müller: Bestie Mensch, 185); oder in den Worten gerhard roths ausgedrückt: «Nach all den Befunden, die in diesem Buch präsentiert wurden (sc. in roths Arbeit Fühlen, Denken, Handeln, d. V.), müssen wir von Folgendem ausgehen: Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden, und dies gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder nicht, ob sie sich schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen. Sie werden in dem jeweils einen oder anderen Fall eventuell völlig unterschiedliche Dinge tun, aber sie tun dies nicht frei. Die Gene, die vor- und nachgeburtlichen Entwicklungen und Fehlentwicklungen, die frühkindlichen Erfahrungen und Traumatisierungen, die späteren Erfahrungen und Einflüsse aus Elternhaus, Freundeskreis, Schule und Gesellschaft –, all dies formt unser emotionales Erfahrungsgedächtnis, und dessen Auswirkungen auf unser Han-

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deln unterliegen nicht dem freien Willen.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 541) Doch dieses «deterministische Weltbild widerspricht nicht nur unserem intuitiven Selbstverständnis. Es lässt sich auch nur schwer mit Begriffen wie ‹Freiheit›, ‹Verantwortung› und ‹Schuld› vereinbaren.» (paul hoff – steve klimchak: Freiheit die wir meinen, in: Gehirn und Geist, 1/2004, 29) In der Tat ist es nicht klar, wie insbesondere das heutige Strafrecht, basierend auf dem Begriff der Gerechtigkeit, aufrechterhalten werden könnte, wenn das Geflecht von Ursachen, die unser Verhalten bestimmen, mit dem Fortschritt der Wissenschaften sich immer dichter zusammenzieht. Selbst wenn die Lücken unserer Erkenntnis nach wie vor viel zu groß sind, um den Glauben unseres «intuitiven Selbstverständnisses» an die Freiheit des Willens als eine «wissenschaftlich widerlegte Illusion» zu akzeptieren, so erweist sich doch das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell, in dem, wie erläutert, der Begriff Freiheit nicht vorkommen kann, als derart erfolgreich gerade bei der Beantwortung so schwieriger Fragen wie denen nach der Entstehung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein, daß allein die Vermutung eines durchgehenden Determinismus genügend Grund besitzt, um die herkömmliche Praxis von Anklage, Schuldspruch und Verurteilung (als Zumessung eines standardisierten Strafmaßes) aus Gründen der «Gerechtigkeit» für unberechtigt erscheinen zu lassen. An keiner Stelle jedenfalls besitzt die Thematik der Willensfreiheit eine solche Virulenz wie im Umgang mit Menschen, die mit den herrschenden Regeln des Zusammenlebens in ihrer gesellschaftlichen Umgebung gebrochen haben. Man möchte meinen, Menschen ohne Freiheit könnten im moralischen Sinne nicht «schuldig» werden und so könne man sie gerechterweise auch nicht bestrafen. Doch das Strafen kann viele Gründe haben, auch unabhängig von der Idee einer Gerechtigkeit, die, wie in der Lehre immanuel kants, vom Staat realisiert werden sollte. Bereits thomas hobbes (1588 –1679), der zur Willensfreiheit negativ eingestellt war, hielt doch um so mehr vom Nutzen der Strafe. «Freier Wille», schrieb er, «bedeutet nicht die Freiheit des Willens, sondern des Wollenden», denn frei werde jemand genannt, «welcher durch nichts gehindert wird, das zu tun, wozu er Geschicklichkeit und Kräfte besitzt». (Leviathan, 21. Kap., 188) Demnach können «auch Freiheit und Notwendigkeit miteinander zugleich bestehen. So strömt das Wasser im Flußbette frei und doch zugleich aus natürlicher Notwendigkeit abwärts. Auf dieselbe Art sind alle willkürlichen Handlungen, welche ihrer Natur nach frei sind, weil sie ihre Ursachen haben, diese wieder andere Ursachen, usw. bis zu der ersten allgemeinen Ursache, nämlich dem Willen Gottes, dennoch notwendig.» (A. a. O., 188 –

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189) Da nun aber «alle Verbrechen durch die Begierden erzeugt» würden, komme es darauf an, die Dynamik unserer Triebe gewissermaßen auf dem ihnen eigenen Niveau in die richtige Bahn zu lenken: «Die Furcht», meinte hobbes, sei «unter allem die unschuldigste Leidenschaft, ja, die einzige, welche die Menschen überhaupt von Verbrechen zurückhält.» (A. a. O., 27. Kap., 248) Der Sinn des Strafens lag für den englischen Philosophen deshalb in der Prävention – in der Verhinderung von Gesetzesübertretungen; denn so definierte er: «Strafe ist ein Übel, welches dem Übertreter eines Gesetzes von seiten des Staates in der Absicht zugefügt wird, daß die Bürger abgeschreckt und zum Gehorsam bewogen werden.» (A. a. O., 28. Kap., 258) – In die gleichen Fußstapfen trat auch david hume (1711–1776), indem er in Ein Traktat über die menschliche Natur (Teil III, Abschn. 2, S. 148) feststellte: «Alle menschlichen Gesetze gründen sich auf Belohnung und Strafe. Damit ist ohne weiteres als Fundamentalprinzip anerkannt, daß diese Motive einen Einfluß auf den Geist haben, daß sie die guten Taten erzeugen und die schlechten verhindern.» Im Grunde handelt es sich bei dieser Argumentation um eine gelungene Mischung aus Determinismus und Pragmatismus, die zugleich den Vorteil bietet, daß sie den überkommenen Formen staatlicher Gesetzgebung weitestgehend entgegenkommt; und so kann man verstehen, daß diese rechtsphilosophische Position gerade denjenigen Neurologen besonders zusagt, die in der Gegenwart am stärksten die naturgesetzliche Festgelegtheit des menschlichen Willens hervorheben und mit den Praktiken unserer Gesellschaft in Übereinstimmung bringen möchten – gerhard roth zum Beispiel. Wenn wir davon ausgehen, daß ein Delinquent zu seiner (Un)Tat von Motiven getrieben wird, die er in Freiheit nicht zu steuern vermag, was, überlegt gerhard roth vollkommen richtig, folgt dann «daraus für das Strafrecht und die Gesellschaft allgemein?»; und erstaunlicherweise antwortet er auf diese wichtige Frage ganz so wie hobbes und hume vor 400, 300 Jahren. «Die meisten Menschen», schreibt er, «begehen nicht deshalb keine Straftat, um nicht im metaphysischen Sinne schuldig zu werden, sondern weil sie die negativen Konsequenzen der Tat fürchten, und zwar entweder aufgrund einer lebhaften Vorstellung dieser Konsequenzen (Haftstrafe, gesellschaftliche Ächtung usw.) oder aufgrund einer bewusst-unbewussten Scheu, auch Gewissen genannt, die Folgen einer negativen emotionalen Konditionierung sind. – Ein Verzicht auf den Begriff der persönlichen Schuld bedeutet (sc. deshalb, d. V.) keineswegs ein(en) Verzicht auf Bestrafung einer Tat als Verletzung gesellschaftlicher Normen. Dies ist bereits in der Idee der General- und Spezialprävention enthalten. Täter werden danach nicht deshalb bestraft, weil sie mutwillig schuldig geworden

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sind, sondern weil sie gebessert werden sollen, falls dies möglich ist; andernfalls muss die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden.» (gerhard roth: Fühlen, Denken, Handeln, 541) Doch so erhaben und vernünftig diese Vorstellungen auch daherkommen mögen, lassen sie sich im letzten nicht halten. Vielerlei ist dagegen einzuwenden. Zum einen: Dieser Argumentation zufolge soll der Staat also gerade deshalb strafen dürfen, strafen müssen, um innerhalb des psychischen Kausalgetriebes (insbesondere durch die Verknüpfung bestimmter Erinnerungen mit den Vorstellungen von Lust und Unlust) diejenigen Faktoren einzubauen, die ein sozialverträgliches Verhalten als erstrebenswert erscheinen lassen. Wenn ein einzelner Delinquent bestraft wird, so mithin zu dem Zweck, an ihm ein Exempel der Abschreckung für andere zu statuieren, in dem Bewußtsein wohlgemerkt, daß bei ihm selber eben diese supponierte abschreckende Wirkung von Strafen seine eigene Straftat eben nicht verhindert hat und es deshalb wohl auch ungewiß bleibt, bei wem sonst die abschreckende Wirkung der Bestrafung greifen könnte; alle, die ein Verbrechen begehen, so viel ist klar, lassen sich durch die Androhung von Strafe nicht abschrecken; zugunsten des Abschreckungskalküls kann man folglich allenfalls mit der Zahl der nicht begangenen Verbrechen argumentieren, doch diese Zahl ist unbekannt und völlig arbiträr (vom bloßen Gutdünken abhängig); sie kann rechtsphilosophisch daher nicht ernsthaft geltend gemacht werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Ergebnis historischer Untersuchungen, wonach die Zahl verübter Kapitalverbrechen offenbar von der allgemeinen Wirtschaftslage abhängt (vgl. aus dem Jahre 1931 die Statistik in Deutschland bei erich fromm: Zur Psychologie des Verbrechers, in: Gesamtausgabe, I 11–14), nicht aber von der Abschaffung oder Wiedereinführung der Todesstrafe; ist dann, fragte schon albert camus (1913 –1960) (Die Guillotine, in: A. Camus: Fragen der Zeit, 150), die Gesellschaft «nicht wenigstens zum Teil für das Verbrechen verantwortlich, das sie mit so großer Strenge bestraft?» Fest steht, daß man derlei Widersprüche nicht mit «rechtspolitischen» (wenn schon nicht rechtsphilosophischen) Argumenten beiseite schieben kann: Wenn nicht einmal die Todesstrafe wirklich abschreckend wirkt (und bei Christenmenschen wohl auch nicht die Androhung ewiger Höllenstrafen), so muß man sich wohl eingestehen, daß bei einer Tat im Affekt das künstlich erzeugte Angstmotiv versagt und bei einem raffiniert geplanten Verbrechen die Aussicht, unentdeckt zu bleiben, ein subjektiv tragfähiges Kalkül darstellt. Zum anderen: Da der Wert von Strafen zur Abschreckung mithin als äußerst zweifelhaft bewertet werden muß, bleibt demnach nur die Hoffnung auf die «Besserung» des Delinquenten durch Strafen; doch damit begibt man sich un-

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weigerlich auf logisches Glatteis: Denn die Idee bereits, einen Menschen «bessern» zu können, indem die Gesellschaft aller «guten» Bürger ihn seelischen oder körperlichen Torturen unterzieht, stellt genau das dar, was man in der Psychoanalyse als «Rationalisierung» bezeichnet –, es handelt sich um die Scheinrechtfertigung eines starken Affektes, dessen Durchbruch man sich selbst genehmigen möchte und den man sich dazu als um eines vorgeblich edlen Zieles willen geschehend schönredet. Einmal abgesehen davon, daß nicht wenige Gangster eine Menge vergleichbarer «Begründungen» vorbringen könnten, um ihr Bedürfnis nach Revanche und Rache, um ihre Impulse von Hass und Wut, um ihre Neigung, gegen ihre Angst sich zu schützen durch den Erwerb von Macht und Kontrolle, – um alle möglichen Primitivreaktionen ins sittlich Wertvolle, ja, Verdienstvolle emporzuheben, vermöchte die «Besserung» eines Täters nur zu erfolgen, wenn er die auferlegte «Strafe» nicht – wie in aller Regel! – als etwas gewaltsam von außen Aufoktroyiertes begriffe, mithin als das bloße Resultat eines verlorenen Machtkampfes deutete, sondern wenn er die Strafe von innen her als eine wirkliche Chance zur Aufarbeitung der begangenen Tat und zur Wiedergutmachung des Schuldanteils zu akzeptieren gesonnen wäre. Doch dem ist nicht so. thomas müller faßt seine traurigen Erfahrungen mit dem modernen Strafvollzug in folgenden erschütternden Worten zusammen: «Die Beschäftigung mit der Schuld war eine zentrale Frage, denn wir erkannten, dass wir in den Dutzenden, Hunderten, ja Tausenden Einzelgesprächen mit Menschen, die andere vergewaltigt und gequält, umgebracht, beraubt, bestohlen und gedemütigt hatten, kaum jemanden trafen, der aus seiner Sicht schuldig war. Es war immer ein Schicksal. Es war ein Verhalten des Opfers. Es waren außergewöhnliche Lebensumstände.» (thomas müller: Bestie Mensch, 185) Hier leben Menschen ohne jegliches Einfühlungsvermögen in andere, ohne jegliche Fähigkeit, die Wirkung ihrer Handlungen auf ihre Mitmenschen nachzuempfinden oder gar im vorhinein einschätzen zu können, – und wie sollte es unter diesen Voraussetzungen anders werden, als es dann tatsächlich ist: Diese Täter erleben sich als Opfer (der Rache von seiten der «Guten» und «Richtigen», von seiten der «ehrbaren» Bürger, von seiten der «bürgerlichen» Gesellschaft, am Ende gar von seiten ihrer Opfer . . .), und es ist nicht zu sehen wie sie unter ihrem Trotz (gegen ihr Weggesperrtsein, gegen ihre Ausgrenzung, gegen ihre Herabsetzung, gegen ihre Demütigung) sich zu «besseren» Menschen entwickeln könnten – also zu sensiblen und einfühlsamen, zu warmherzigen und hilfsbereiten, zu verläßlichen und pflichtbewußten, zu selbstbeherrschten und disziplinierten, zu verantwortungsfreudigen und sozial engagierten Charakteren . . .

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Und des weiteren: roths Rechtfertigungen des geltenden Strafrechts kommen über den lerntheoretischen Mechanismus von Konditionierung und Gegenkonditionierung, wie in den Fütterungsversuchen pawlowscher Hunde (vgl. Bd. I 299– 304), erkennbar nicht hinaus. Die Folgen dieser «behavioristischen» Psychologie kann man – nun wirklich zur Abschreckung – seit langem besichtigen, zum Beispiel in dem amerikanischen Film von stanley kubrick (1928 –1999) Uhrwerk Orange aus dem Jahre 1971, der die Umerziehung eines gewalttätigen Bandenführers durch eine Art Gehirnwäsche zur Unterdrükkung seiner Aggressivität demonstriert, oder in der Wahl, vor die man in den USA (zur Entlastung der überfüllten Gefängnisse und zur Verbilligung des Strafvollzugs) Verurteilte stellt, zwei Jahre Gefängnis gegen acht Wochen Boot-Camp einzutauschen, woselbst alles, was unmenschlich ist: eine endlose Kette von Demütigungen, Erniedrigungen, willkürlichen Beschimpfungen, absurden Gehorsamsforderungen nebst militärischem Drill, am Ende das Wunder einer tiefgreifenden Vermenschlichung bewirken soll, – eine Kapitulation der Pädagogik vor ihrer eigenen Aufgabe in schlimmster Form. Wer Strafen zur «Abschreckung» und «Besserung» befürwortet, macht sich eines Weltbildes verdächtig, in dem Menschen auf die Stufe zu dressierender Tiere entwürdig sind und in dem der Gedanke von Moral und Gerechtigkeit anscheinend keine Rolle mehr spielt. Wir müssen nur erwähnen, daß in den USA gerade jetzt die Forderungen sich mehren, die geächteten Versuche aus den 70er Jahren wieder zuzulassen, und wir begreifen die enorme Gefahr, die darin liegt, den Gedanken der Gerechtigkeit im Umgang mit «Verbrechern» auszuklammern: «in den vergangenen dreißig Jahren (hat sich) die Gefängnispopulation in den USA von 300 000 auf 2,3 Millionen mehr als vervierfacht (sc. und man fragt sich: warum wohl, d. V.) und (ist) die Anzahl von HIV- und Hepatitis-C-Erkrankten (sc. in den Gefängnissen, d. V.) überproportional hoch» (wolfgang u. ekkart: Gefährliche Anstalten, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Sept. 2006, 13); könnte es da nicht auch einen Teil der «Abschreckung» bilden, «der amerikanischen pharmazeutischen Industrie den Zugriff auf eine immense Zahl leicht verfügbarer und preiswerter menschlicher Versuchskaninchen (sc. wieder zu) eröffnen»? (wolfgang u. eckart: A. a. O., 13) gerhard roth steht fernab von dem Verdacht, solche Ideen zu unterstützen; doch was für ein Menschenbild entsteht, wenn er ausdrücklich erklärt, daß das, was wir Gewissen nennen, in seinen Augen nichts weiter sei als das Produkt von «negativen emotionalen Konditionierungen»? Wohl hat auch sigmund freud das Wort Gewissen mit seinen Vorstellungen vom «Überich» gleichgesetzt, in dem er eine Form verinnerlichter Gewalt aus Kindertagen er-

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blickte; aber freud wußte auch, daß ein solches Überich zu wirklich moralischen Handlungen außerstande ist, daß es die Persönlichkeitsreifung verhindert und daß es nichts weiter zu Wege bringt als die Unterwerfung des Einzelnen unter das Diktat der gesellschaftlichen Autoritäten, die später als Nachfolger der Elterngestalten die Herrschaft über das Ich übernehmen. Sollte eine solche Beschreibung wirklich geeignet sein, um zu verstehen, warum Sokrates im Gefängnis sitzt? Man müßte dann glauben, der Weise von Athen sei von seinem «daimonion» (griech.: der inneren Stimme, seinem «Dämon») in einer Art gelenkt worden, die aus dem weissagenden Gott zu Delphi eine zwanghafte Vaterautorität mit dem Anspruch auf Sonderrechte gegen die staatliche Gesetzgebung gemacht habe. Eine solche Möglichkeit hat bereits thomas hobbes diskutiert, indem er erörterte, ob der Staat es hinnehmen könne, daß Menschen Verbrechen begingen aus Gottesfurcht (vgl. Leviathan, 27. Kap., S. 249), – natürlich nicht, wie er meinte. Man kann kaum anders sagen, als daß der Begriff der Menschlichkeit sich an gerade dieser Frage entscheidet, ob das Gewissen als letztverbindliche Schiedsstelle über Gut und Böse im Herzen jedes Einzelnen identisch gesetzt wird mit freuds «Überich» oder ob eben dieses starre Ensemble aus infantilen Ängsten und Abhängigkeiten sich – gerade durch Psychoanalyse zum Beispiel – auflösen läßt, um einer persönlichen, reflektierten und situativ flexiblen stellungnehmenden Instanz im Ich zu weichen. Es war anna freud (1895 –1982), die aus guten Gründen bezweifelte, daß die meisten Menschen je zu etwas anderem sich entwickelten als zu einer «Moral» der sozialen Angst (anna freud: Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung, 50 –51); dieser Reaktionstyp der Gewissenlosigkeit aber ist genau das, was gerhard roth in dem oben aufgeführten Zitat vorschwebt; es ist indes nun 70 Jahre her, daß freuds Tochter auf die enormen Gefahren hinwies, die mit aller Massenpsychologie unweigerlich verbunden sind. Wir hörten schon – es genügt ein Staat, eine Gesellschaft, ein Wirtschaftssystem, eine Bezugsgruppe, die nach Anschauungen antritt, welche den kollektiven Wahngebilden entsprechen, die wir als gesellschaftliche Pathologie beschrieben haben (s. o., S. 231–248), und wir sehen den Einzelnen widerstandslos Verbrechen begehen, als wenn es sich dabei um seine Pflichten handeln würde. Gehorsam als Surrogat persönlicher Verantwortung, Gewissen als Resultat von mehr oder weniger bewußten Konditionierungen (Erziehungseinflüssen), der Verlust der Persönlichkeit und deren Ersatz durch eine manipulierbare Marionettenausgabe des Allgemeinen – wenn dies die Folgerungen aus der modernen Neurologie für unser Rechtssystem sein sollen, dann gibt es wahrlich Grund genug, noch einmal das Buch von aldous huxley (1894 –1963) Schöne neue

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Welt aus dem Jahre 1932 zu lesen und sich zu fragen, ob wir eine solche Zukunft wirklich wollen können. So viel steht fest: Arbeiten wir die Psychologie des Überich nicht durch zur Freiheit des persönlichen Gewissens, wird aller Fortschritt der Wissenschaften dazu beitragen, unser Sklavendasein noch geschickter zu verwalten und als noch unentrinnbarer zu gestalten. Gott Lob, lassen sich freilich andere, ganz konträre Folgerungen aus denselben neurologischen Einsichten ziehen, und sie erst würden jene dramatische Veränderung unseres Menschenbildes einleiten, die mit der Leugnung der Willensfreiheit in naturwissenschaftlicher, psychologischer und theologischer Betrachtung eigentlich verbunden wäre. Während ein Plädoyer für die alte Strafpraxis im Grunde nur die Vergangenheit mit allen alten Irrtümern festschreibt, könnte die moderne Neurologie tatsächlich einen wichtigen Beitrag dazu leisten, im Umgang gerade mit Gesetzesbrechern, mit «Verbrechern», ein Stück Weisheit zu gewinnen, das die Welt verändern würde; indem die moderne Neurologie gerade in der Ursachenforschung zentrale Einsichten der Psychoanalyse im großen Umfang zu bestätigen vermag, ergibt sich aus ihren Befunden in der Tat nicht mehr und nicht weniger als eine intensivierte Fortsetzung jener Kulturrevolution, als welche die Psychoanalyse vor 100 Jahren angetreten ist. Es geht letztendlich um den theoretisch-praktischen Beitrag der Neurologie zur Befreiung, theologisch: zur Erlösung des Menschen. Einen wegweisenden Vorschlag dazu hat bereits vor 75 Jahren erich fromm (1900 –1980), gestützt allein auf die Psychoanalyse, in zwei Aufsätzen: Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz von 1930 und in der schon genannten Arbeit Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft von 1931, gemacht. «Die moderne Strafjustiz», notierte kritisch fromm, «faßt sich ja selbst als eine Art Pädagogik auf. Sie verzichtet offiziell auf den Gedanken der Rache und behauptet, daß ihre Absicht sei, den Verbrecher zu bessern, und daß ihre Methode im großen und ganzen das zweckmäßige Mittel zur Besserung des Täters sei. Die Besserung wird auf eine doppelte Weise zu erreichen versucht: auf eine negative, indem man glaubt, den Täter durch die Strafe so einzuschüchtern und abzuschrecken, daß er in Zukunft ein ruhiger, gesitteter Bürger würde, und auf eine positive, indem man sich bemüht, durch ein System von fein abgestuften Belohnungen für gutes Verhalten, durch Arbeitszwang, erbaulichen Zuspruch eines Geistlichen und manches andere mehr, den Verbrecher zu einem sozial brauchbaren Menschen zu erziehen. Die Erfahrung (sc. vor bereits über 70–100 Jahren, d. V.!) zeigt, daß diese Methoden, die ja nichts anderes sind als die üblichen Methoden der Erziehung (Strafandrohung, Versprechen von Belohnung und Zwang zur Ar-

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beit) wenig Erfolg haben. Die theoretische Einsicht beweist, daß diese Methoden auch wenig Erfolg haben können. Insoweit Menschen gegen die Gesetze der Gesellschaft verstoßen, weil die Not von Hunger, Durst und anderen elementaren Bedürfnissen sie dazu drängt, kann nicht die Strafe das zweckmäßige Mittel sein, sie davon abzuhalten. In diesen Fällen gibt es nur eine Besserung, nämlich die, die wirtschaftliche Existenz des ‹Verbrechers› so sicherzustellen, daß es eines Verbrechens zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse nicht bedarf. Insofern es sich aber nicht um ‹Notverbrecher›, sondern um ‹Triebverbrecher› handelt, kann der heutige Strafvollzug im allgemeinen ebensowenig als zweckmäßig angesehen werden. Die analytische Erfahrung hat ja zur Genüge gezeigt, wie wenig Handlungen, die in Wirklichkeit durch unbewußte Impulse bedingt sind, durch Beeinflussung des bewußten Teils der Persönlichkeit zu verhindern sind, und die Erfahrung zeigt, daß dies beim verbrecherischen Neurotiker ebensowenig der Fall ist, wie beim nichtkriminellen.» (erich fromm: Der Staat als Erzieher, in: Gesamtausgabe, I 8) Doch warum hält dann die staatliche «Ordnung» von den Babyloniern und Assyrern bis hin zu den «Demokratien» der Gegenwart unverändert, was das Prinzip angeht, an ihrer Strafjustiz fest? Da lautete fromms Antwort: «Die heutige, wie alle bisherige Gesellschaft, ist aufgebaut auf schweren Triebverzichten von seiten der großen Masse, auf Unterordnung der Masse unter die herrschende Schicht und, von der psychologischen Seite her gesehen, auf dem Glauben an die Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse bzw. an die überlegene Einsicht und Weisheit der Herrschenden. Diese psychische Einstellung hat ihr Vorbild und ihre Quelle in der Einstellung des Kindes zum Vater. Die reale Situation, in der sich das Kind dem Vater gegenüber befindet, macht es nötig, seine physische Überlegenheit zu fürchten, seine geistige Überlegenheit zu bewundern und zu verehren, und häufig wird das Kind am besten mit seiner Situation fertig, wenn es ihm gelingt, seine Abneigung gegen den verbietenden und Triebverzicht fordernden Vater in bewundernde Verehrung zu verwandeln. – Diese seelische Einstellung des Kindes gegenüber dem Vater ist diejenige, die dem Staat bei der großen Masse seiner Bürger erwünscht und notwendig ist. Er muß sich aller Mittel bedienen, um sich der Masse als Vaterimago darzubieten und es auf diese Weise zu bewerkstelligen, daß der einzelne die Einstellung, die er einst zum Vater hatte, auf die Herrschenden überträgt . . . Eine dieser Methoden ist die Strafjustiz.» (erich fromm: Der Staat als Erzieher, in: Gesamtausgabe, I 9) Mit einem Wort: Die Strafjustiz dient weder der Abschreckung noch der Besserung potentieller oder realer Delinquenten, sie dient dem Machterhalt der herrschenden Klasse über die von ihr niedergehaltenen Schichten; sie reprä-

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sentiert, ins Soziale ausgeweitet, die Strafgewalt, die im Patriarchalismus in jeder Familie dem Vater im Umgang mit seinen Kindern und Familienangehörigen zugesprochen wird; sie beabsichtigt und bewirkt mithin nichts anderes, als die Masse der Unterdrückten in kindlicher Abhängigkeit zu halten und so die innergesellschaftliche revolutionäre Sprengkraft der zur strukturellen Gewalt verfestigten Gegensätze durch die Gefühle von Angst und Ohnmacht niederzuhalten; in Wahrheit erweist die Praxis der Strafjustiz damit nur ihren durch und durch atavistischen, unmenschlichen und zutiefst unmoralischen Charakter. Der Beweis: Wer, wenn nur Gewalt ihn beherrscht, hätte je etwas anderes gelernt, als daß es im Leben nichts Köstlicheres gibt, als selber die Stelle eines solchen «Vaters» in Familie und Staat einnehmen zu können, um jenes Vorrecht zu erwerben, endlich selbst nun den Prügel des Profoß zu schwingen? Und umgekehrt gefragt: Wie viele aufrechte Menschen, völlig Unschuldige, Wohlmeinende, Freiheitliebende, Hochgesinnte, die, gewaltsam oder friedfertig, nach Art des Sklavenaufstands des Spartacus (73 –71 v. Chr.) oder nach Art des Christus, nach Art der Jeanne d’Arc (1412 –1431) oder des Sokrates, das Zwangsregime autoritärer Herrschaft von außen oder von innen, direkt oder indirekt, zum Einsturz zu bringen drohten, mußten nicht allein deshalb schon eben dieser «Strafjustiz» zum Opfer fallen? Wer aber erscheint dann als der größere Verbrecher? Der Staat, dieses «kälteste aller kalten Ungeheuer», wie friedrich nietzsche ihn nannte (Also sprach Zarathustra, 1. Teil, Vom neuen Götzen, 51), oder der Brecher, den sie «Verbrecher» nennen, nur weil er neue Tafeln bringt (a. a. O., 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln, 26, S. 236)? Auf deren einer muß nach dem zur Strafjustiz Gesagten jetzt unumgänglich stehen, es sei von der (veralteten) Praxis der «Rechtspflege» im Umgang mit Gesetzesübertretern allein das Ziel der «Besserung» (der «Resozialisierung») übrigzubehalten, und dieses Ziel sei gerade nicht mit «Strafen» zu erreichen; statt dessen müßten sozial- und individualtherapeutische Hilfsmaßnahmen im Vordergrund stehen. Eigentlich ergibt sich eine solche Forderung wie selbstverständlich aus der Annahme der grundsätzlichen Unfreiwilligkeit einer sogenannten «Straftat». Ein Verbrechen, wie wir es betrachten, ist nicht länger mehr zu interpretieren als ein Akt von Böswilligkeit und Mutwilligkeit, es ist im Gegenteil ein deutliches Signal der inneren Getriebenheit und Hilflosigkeit. Ja, wir gelangen zu einer auf den ersten Blick vielleicht paradox erscheinenden, doch bei Lichte besehen nur folgerichtigen Gleichung: daß, je schwerer eine (Un)Tat wiegt, sie desto weniger als «frei gewollt» betrachtet werden kann, – daß sie, anders gesagt, nur um so mehr nicht nach Strafe, sondern nach Hilfe ruft. – Im Umgang mit Jugendlichen ist dieser Grundsatz mittlerweile (fast schon) ein Teil der Gesetz-

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gebung. «Helfen statt Strafen auch bei jugendlichen Dieben» überschrieb bereits 1956 der schweizer Psychoanalytiker und Pädagoge hans zulliger (1893 –1965) zum Beispiel eines seiner in Schule und Elternhaus erzieherisch am meisten verändernd wirkenden Bücher, in dem Bewußtsein, daß man generell bei einem Kind, das im Laden etwas mitnimmt, das sein Geschwisterchen mißhandelt oder das seine Katze quält, einen Konflikt annehmen muß, den es mit eigenen Mitteln nicht lösen kann. Aber eines Tages sind Kinder (biologisch) alt genug, um als «Jugendliche» zu gelten, und irgendwann, juristisch genau mit 18 Jahren, werden aus Jugendlichen Personen, auf welche – ausgenommen die Fälle einer schweren Reifungsverzögerung – das Erwachsenenstrafrecht in Anwendung kommt. Während unter der Sensationsberichterstattung der Medien der Ruf der «öffentlichen Meinung» nach «härteren» Strafen bei Gewalt- und Sexualdelikten immer lauter wird (also nach Strafen, die immer früher und immer länger greifen sollen), hat das Bundesverfassungsgericht soeben ein Grundsatzurteil erlassen, nach dem bis Ende 2007 der Jugendstrafvollzug den «besonderen Anforderungen» von Jugendlichen besser angepaßt werden soll. «Das Gericht wies mehrmals auf die besondere Situation von Jugendlichen hin. Sie befänden ‹sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten› verbunden sei . . . Freiheitsstrafen wirkten sich für Jugendliche besonders einschneidend aus. So hätten sie ein anderes Zeitempfinden und litten stärker unter erzwungenem Alleinsein. – Konkret verlangte das Verfassungsgericht, die Besuchsmöglichkeiten für familiäre Kontakte deutlich auszuweiten. Innerhalb der Anstalten müssten einerseits positive Kontakte aufgebaut und nicht unnötig beschränkt werden, andererseits müssten Gefangene vor Übergriffen geschützt werden. Ziel des Vollzugs müsse die soziale Integration sein.» (helmut kerscher: «Biologisch, psychisch und sozial im Übergang», in: Süddeutsche Zeitung, 1. Juni 2006) Natürlich kann man diesem Urteil nur zustimmen, ja, es mutet seltsam an, daß es eines solchen Urteils, das, einmal gefällt, inzwischen zwischen den Finanzierungsinteressen von Bund und Ländern hin und her zerrieben wird, überhaupt je bedurft hat, scheint es doch sonnenklar, daß man Menschen, die schon schwer geschädigt sind, ganz sicher nicht sozial integrieren wird, indem man sie auf lange Zeit möglichst weitgehend von allen normalen Sozialkontakten abschneidet. Daß die meisten Menschen im «Knast» (von jiddisch: Knäsät – Versammlungsort; im heutigen Israel das Parlament) nicht «gebessert», sondern erst richtig kriminalisiert werden, daß sie als «Knastbrüder» und «Vorbestrafte» allerorten auf Hindernisse bei der Wiedereinglie-

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derung in den bürgerlichen Alltag treffen, daß allein deshalb schon die Rückfallquote gerade bei Gewalt- und Sexual«straf»tätern außerordentlich hoch ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Deshalb noch einmal: Jedes Verbrechen ruft um Hilfe, der heutige «Strafvollzug» aber schreit nach Veränderung, wenn denn die «Besserung» des Delinquenten nicht nur eine Alibikosmetik bei der nach amerikanischem Vorbild tatsächlich stattfindenden Verlagerung der staatlichen Gefängnisaufsicht in die Hände privater – also «kostengünstigerer» – Betreiber sein soll. Wie man Kindern und Jugendlichen und ganz analog auch Erwachsenen demgegenüber tatsächlich mit «Prävention» und Reintegrationshilfen sozialund individualpsychologisch zur Seite stehen kann, mag modellhaft das Projekt «Faustlos» zeigen, das der Ärztliche Direktor der Abteilung für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie in Heidelberg, manfred cierpka, ins Leben gerufen hat. In seinem Buch Faustlos – Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen (S. 16 –20) weist er unter den Ursachen der Gewaltentstehung vor allem auf die ökonomisch-gesellschaftlichen Faktoren hin sowie darauf, daß «durch die kulturellen Vorbilder Gewalt, Macht und Gewinnstreben verherrlicht, die tradierten Autoritäten hingegen abgelehnt werden». (A. a. O., 19) Ökonomische Faktoren und Identitätskrisen zählten schon für erich fromm zu den wichtigsten Faktoren bei der Entstehung von Verbrechen (vgl. erich fromm: Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft, in: Gesamtausgabe, I 11–30); in einer bedeutenden Arbeit von 1964 über Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (in: Gesamtausgabe II, 159 –268, S. 169–178: Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit; 199– 223: Individueller und gesellschaftlicher Narzissmus) wies erich fromm besonders auf das Motiv des gekränkten Narzißmus hin – von malignem Narzißmus mit dem Anspruch, «Macht, Dominanz und Kontrolle über andere Menschen zu besitzen», spricht die moderne Kriminalpsychologie (vgl. thomas müller: Bestie Mensch, 145) und meint damit das gleiche. «Prävention» und «Hilfe». – «Vorbeugen ist besser als nachsorgen», – mit diesen Worten resümiert manfred cierpka denn auch die «Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Bindungsforschung (sc. s. o. S. 478 –483, d. V.) und der Psychoanalyse aus den letzten Jahrzehnten» (Faustlos, 23) mit Bezug zu den Erfordernissen von Grundschulkindern; wenn aber das «Nachsorgen» notwendig wird, weil das «Vorsorgen» bereits versagt hat – im Umgang also mit «erwachsenen» Delinquenten –, scheint es noch weit mehr geboten, das Versäumte nachzuarbeiten. Was sich daraus ergibt, ist klar. Es bedeutet, den «Strafvollzug» als solchen

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umzuwandeln in einen sozialtherapeutischen Schutzraum (natürlich auch zum Schutz der anderen, aber vor allem zum Schutz des Täters vor sich selbst, vor seinen Ängsten und den angstverzerrten Projektionen in der Wahrnehmung sowie vor den eigenen angstverursachten Gewalttätigkeiten). In diesem Falle aber müßte nicht nur die Strafe selbst, statt relativ schablonenhaft nach fertigen Paragraphen verhängt zu werden, der jeweiligen Situation eines Delinquenten flexibel und kreativ angepaßt werden, es müßte vor allem der Täter selbst im entscheidenden bereits gebessert sein, um die auferlegte «Strafe» nicht eigentlich als eine verordnete Zwangsmaßnahme, sondern im Gegenteil als eine angebotene Chance zur Besinnung zu begreifen und zu ergreifen. In eklatantem Widerspruch zu gerhard roth, der die Frage des «persönlichen Verschuldens» unabhängig davon erörtert, ob «die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder nicht» (gerhard roth: Denken, Fühlen, Handeln, 541), haben wir darauf bestanden, daß es für die Frage freiheitlichen Handelns keinesfalls gleichgültig ist, ob einem Menschen die Motive seines Handelns bewußt sind oder nicht; – um die unbewußte Dynamik und Mechanik frühkindlicher Prägungen und Erlebnisverarbeitungen zu einer neuen, selbst getroffenen und selbst verantworteten Stellungnahme zu öffnen, kommt es uns vielmehr ganz entscheidend gerade auf die Bewußtwerdung all der genannten Faktoren und Motive an, die unser Verhalten beeinflussen. Eine solche Bewußtwerdung, so haben wir im Rahmen unserer Überlegungen zum Begriff der Person herausgearbeitet, kann nur erfolgen in dem Erfahrungsaustausch einer warmherzigen, von Wohlwollen und Vertrauen getragenen Beziehung. In einem solchen «Schutzraum» der Akzeptanz, der Geborgenheit und der Liebe kann sich allererst – therapeutisch begleitet und seelsorglich umfangen, statt «verurteilt» und «ausgegrenzt» – ein «Raum der Gnade» öffnen, der das dann wachsende Bedürfnis nach Buße in ein inneres Verlangen nach Wiedergutmachung der begangenen Schuld zu läutern vermöchte. Wiederum in unvereinbarem Gegensatz zu gerhard roth ist in einem solchen Erfahrungsraum von personalem Dialog und persönlicher Akzeptanz «Gewissen» nicht mit «einer bewusst-unbewussten Scheu» gleichzusetzen oder gar mit «einer negativen emotionalen Konditionierung» zu erklären (gerhard roth: A. a. O., 541); es stellt ganz im Gegenteil recht eigentlich die «Türe» dar, die sich nur mit nicht-verurteilendem Verstehen «aufschließen» läßt und durch die der «Raum», in dem nach immanuel kant und sigmund freud «Menschwerdung» überhaupt erst möglich ist, betreten werden kann. Man braucht nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, was es für ein Kind bedeutet, ohne Wärme, Geborgenheit und Liebe aufwachsen zu müssen,

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und was es für ein Kind, für einen Erwachsenen heißt, über die wichtigsten Erfahrungen, Gefühle und Gedanken nicht, mit niemandem, sprechen zu können. Es gibt in diesem Falle nur zwei Möglichkeiten: die Verleugnung oder die Verdrängung. Entweder man formt zur Verhüllung der Wahrheit, die man wohl kennt, doch nicht mitteilen kann, eine parallele Anders-Welt – man spaltet die Wirklichkeit ebenso wie das Ich in zwei gegensätzliche Hälften auf –, oder man entzieht den beunruhigenden Bewußtseinsinhalten die Wortvorstellung – man verdrängt das Unsagbare und Unsägliche, mit der Gefahr, daß es im Unbewußten ein unheimliches Eigenleben zu führen beginnt; ein Großteil der Gewaltdelikte läßt sich psychoanalytisch als Durchbruch eben dieses verdrängten Materials der Psyche erklären. Umgekehrt besteht die menschliche (therapeutische) Bemühung logischerweise darin, das zwangsweise Verstummen in einem Feld der Erlaubnis und des Vertrauens rückgängig zu machen. – Wie aber müssen wir uns dieses Feld der Erlaubnis und des Vertrauens in unserem Alltag vorstellen? Wie sollen wir unser Grauen, unseren Abscheu, unseren Ekel und Widerwillen vor den Taten und den Tätern bezwingen, auf daß wir nicht immer wieder aufs neue entsetzt wegschauen, weglaufen, – wegsperren? Wo können wir die Menschlichkeit, Wärme und Güte lernen, die wir unbedingt brauchen, um dem und den «Bösen» standzuhalten? Wer schlägt eine Brücke, die uns hinüberführt zu all den Mördern und Schlächtern, auf daß wir beginnen würden, sie zu verstehen? Wer erzählt uns Geschichten der «Heilung» und «Heilwerdung», in denen die vermeintlichen «Monstren» und «Bestien» uns als Menschen sichtbar werden? Und vor allem: wer öffnet uns die Augen für unsere Wesensverwandtschaft mit all den Verbrechern, die wir uns nur zu gerne – schon zum Selbstschutz bzw. zum Erhalt unserer persona – als die von uns völlig Unterschiedenen und absolut Anderen vom Leibe halten würden? Es sind die Dichter, die in ihrer Seele – und in den großen Romanen und Dramen der Weltliteratur – eine Verbindung schaffen zwischen allen Menschen auf Erden: zwischen den Heiligen und den Teufeln, zwischen den Guten und den Bösen, zwischen den Opfern und ihren Peinigern . . . Die wohl wichtigste Frage, die thomas müller (Bestie Mensch, 183) aufwirft, lautet, wie es solche Menschen von der Art eines william shakespeare geben kann, der in seiner Seele einen Unhold vom Format eines Jago oder eines Richard ersinnt, oder von der Art eines friedrich schiller, der in Die Räuber im Jahre 1781 in der Gestalt des Franz Moor einen Verbrecher aus gekränktem Narzißmus auf die Bühne stellt; – wie es also Dichter geben kann, die ganz offenbar «die gleichen Fähigkeiten» besitzen, «wie jene Menschen, die hochkomplexe Serienstraftaten» begehen – anderenfalls fehlten ihnen doch wohl

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Einfühlungsvermögen und psychische Übereinstimmung, um die Charaktere ihrer Protagonisten des Bösen entfalten zu können –, und die sich selber trotz dieser seelischen Verwandtschaft keinerlei Gewaltdelikt «zu Schulden» kommen lassen. Der entscheidende Unterschied besteht offenbar in einer recht frühen Weichenstellung der Biographie eines Menschen, und er hat, wie gesagt, wesentlich zu tun mit der Aussprechbarkeit oder Unaussprechbarkeit eines zentralen Konfliktes. Die Dichter, die Künstler, verfügen über eine Sprachmächtigkeit und eine Ausdrucksfähigkeit, die es ihnen gestattet, ihre Konflikte gegen alle Widerstände exemplarisch für eine große Zahl von Menschen mitzuteilen; ihre quasi therapeutische Wirkung besteht vor allem darin, daß sie es dem Publikum ermöglichen, sich mit den eigenen psychischen Problemen in jenen literarischen Gestalten wiederzuerkennen und ersatzweise in ihnen die eigenen Gefühle nachzuempfinden, mithin sich dadurch ihrer bewußtzuwerden. (Vgl. bereits im Jahre 1912 otto rank: Das Inzestproblem in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie dichterischen Schaffens, 19 –20.) Das wohl eindringlichste Beispiel zum Verstehen eines Mörders (und ineins damit für die Überwindung der inneren Gefährdung durch dichterische Versprachlichung) bietet der russische Dichter fjodor michailowitsch dostojewski (1821–1881). Nicht zu Unrecht bescheinigte der Psychoanalytiker theodor reik (1888 –1969) ihm die Phantasie eines Massenmörders (In Gedanken töten. Bewußte und unbewußte Todeswünsche in psychoanalytischer Sicht, 1981), beschäftigen sich doch alle Romane dieses Autors mit Morden, Selbstmorden, Attentaten und den sie vorbereitenden und begleitenden Gedanken und Gefühlen. Vor allem in seinem Roman Schuld und Sühne hat dostojewski das Paradigma eines Verbrechens geschaffen, das alle moralisch-juristischen Vorstellungen von einem «kaltblütigen» und «gewissenlosen» Mörder ebenso irritieren muß (und will) wie die der entsprechenden psychologischen «Täterprofile». Obwohl es nicht möglich ist, an dieser Stelle auch nur annähernd die überaus komplexe Motivation zu beschreiben, die den jungen Studenten Rodion Raskolnikow dahin treibt, die alte Pfandleiherin Aliona und ihre bigotte (Bet)Schwester Lisaweta mit einer Axt zu erschlagen (vgl. e. drewermann: «Dann werden alle alles verstehen», in: Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sei, 133–163), läßt sich doch zeigen, welch unerhörte Konsequenzen sich rechtlich – und religiös – ergeben müssen, sobald man beginnt, einen Verbrecher und seine Tat in dostojewskischem Sinne tief genug zu begreifen. Es gibt Gewaltdelikte, die durch mangelnde Kontrolle des präfrontalen Cortex im Affekt geschehen, so sagten wir gerade; wie aber, wenn ein Verbrechen

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verübt wird sozusagen unter «Über»kontrolle des vorderen Stirnlappens infolge «falscher» Gedanken, aus mangelnder geistiger Orientierung, aus dem Versuch heraus, eine möglichst ehrliche Bilanz des Gangs der menschlichen Geschichte zu gewinnen? Gewiß, Raskolnikow haßt die alte Pfandleiherin, weil schon die Tatsache ihn beschämt, in seiner Armut ihrer zu bedürfen; überdies erträgt er es nicht, daß seine Mutter und seine Schwester sich in Krämerseelen verwandeln, indem sie durch eine erniedrigende Zweckheirat das Geld für sein Studium aufzubringen versuchen; im ganzen rebelliert Raskolnikow gegen eine Gesellschaft, in welcher die Reichen die Armen erniedrigen und beleidigen, in welcher die Gewalt, wenn sie nur siegreich ist, umjubelt wird und in welcher alle moralischen Schranken und Rücksichtnahmen als bloße Heuchelei zur Ruhigstellung der Schwachen, der Duckmäuser, der Durchschnittsbürger erscheinen. In Überlegungen, die aus der Feder friedrich nietzsches stammen könnten, brütet Raskolnikow vor sich hin, um eine Welt zu konstruieren, in welcher allein das Recht des Stärkeren gilt – das Recht des Großen, des Genies, des Welteroberers, desjenigen, der es wagt, über Leichen zu gehen, desjenigen, der die Nerven besitzt und behält, ein Napoleon zu sein . . . Auf dem Wege dahin freilich muß Raskolnikow sich nicht nur mit Geld «verproviantieren», er muß vor allem sein Mitgefühl, seine Gutmütigkeit – sich selbst in der Weichheit seines Wesens erschlagen. In einem Albtraum unmittelbar vor der Tat offenbart sich ihm, was sein bereits gefaßter Mordplan für ihn eigentlich bedeutet: als ein noch kleiner Junge an der Hand seines Vaters sieht er, wie ein Kutscher mit einer Eisenstange brutal ein braunes Pferdchen erschlägt (fjodor michailowitsch dostojewski: Schuld und Sühne, 1. Teil, 5. Kap., S. 60 –65); diesen Jungen in sich muß er überhören; sich selbst wird er vernichten mit der Tötung der alten Wucherin. Aber waren sie so nicht alle, welche die Welt bewundert? Ist es nicht die Pflicht eines «außergewöhnlichen Menschen», das Bestehende zu zerstören (a. a. O., 3. Teil, 5. Kap., 280 –289)? Natürlich nimmt Raskolnikow sich vor, ein perfektes Verbrechen zu begehen, – doch schon während der Tat entgleitet ihm seine Vorgehensweise in eine Kette unvorhergesehener Zufälle, und im Grund spricht es schließlich sogar für ihn, daß er so handelt, wie alle Menschen, die ihr Schuldgefühl verdrängen mußten, um zu ihrem Verbrechen fähig zu werden: er legt ein vollständiges Geständnis vor dem Untersuchungsbeamten Samiotow ab (2. Teil, Kap. 6, S. 175 –179; vgl. 2. Teil, Kap. 2, S. 114–117), wenn auch erst nur in Form einer Hypothese darüber, wie er sich hätte verhalten können, wenn er das Verbrechen begangen hätte; zunächst genießt er nur die Macht, daß ihm der faktenversessene Polizist mit seinen («naturwissenschaftlichen»)

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Methoden nicht einmal die Tat wird nachweisen können, geschweige denn daß er zu begreifen vermöchte, warum sie begangen wurde; dann aber begibt er sich noch einmal an den Tatort (a. a. O., 2. Teil, Kap. 6, S. 186 –190), von dem er sich wie magisch angezogen fühlt. Solche Verhaltensweisen lassen sich als «Selbstverrat» eines Täters psychoanalytisch gut erklären (vgl. theodor reik: Der unbekannte Mörder, 62–71: Der Selbstverrat; 82 –90: Die Rückkehr zum Tatort); doch worauf es dostojewski in seiner Schilderung vor allem ankommt, ist die Klärung der Frage, wie ein Verbrecher dahin geführt werden kann, seine Tat überhaupt als ein Vergehen zu erkennen und es dann vor sich und den anderen als solches zu bekennen. Es ist möglich, daß Menschen aus einem allgemeinen Schuldgefühl heraus ein Verbrechen gestehen, das sie gar nicht begangen haben, wie der Anstreicher Nikolai, der ersatzweise die Rolle Raskolnikows übernimmt (fjodor michailowitsch dostojewski: Schuld und Sühne, 4. Teil, 5. Kap., S. 384 –386); wie aber wird ein Mensch fähig, «richtig» wahrzunehmen und «richtig» Verantwortung für seine Schuld zu übernehmen? Die Reihe der Indizien, die äußeren Fakten bleiben immer zweideutig, – schließlich wird «aus hundert Kaninchen niemals ein Pferd» und aus hundert Verdachtsmomenten niemals ein Beweis (a. a. O., 6. Teil, 1. Kap., S. 491), ja, die Rekonstruktion des Tathergangs kann am Ende so unwahrscheinlich werden, daß ein derartiges Verbrechen in dieser Form eigentlich gar nicht hätte verübt werden können. Selbst die Psychologie, mit welcher der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch den offenbar kranken, überreizten, insgeheim verzweifelten Rodion in die Enge zu treiben sucht, führt über lange Strecken hin nur zu einem geistigen Machtkampf ohne Erfolg. Da liegt etwas ganz Besonderes vor, erkennt Porfirij, ein ganz und gar modernes Verbrechen; da berauschte sich jemand an seinen eigenen Ideen und gelangte zu seinem Entschluß, «wie man vielleicht von einem Felsen abstürzt oder von einem Kirchturm, er ist sozusagen gar nicht mit seinen eigenen Füßen gegangen, als er hinging, um die Tat zu tun . . . er hat seinen Mord, den Mord an zwei Menschen auf Grund seiner Theorie begangen . . . er mag krank gewesen sein, aber da ist noch etwas Auffallendes: er hat gemordet, hält sich aber trotzdem für einen anständigen Menschen, verachtet die anderen, geht einher wie ein lilienweißer Engel». (A. a. O., 6. Teil, 1. Kap., S. 497) Porfirij ist sich ganz sicher, daß Rodion das Verbrechen begangen hat; doch nicht darauf kommt es an; entscheidend ist, daß der junge Student selbst sein Verbrechen als solches wahrzunehmen lernt, und die Voraussetzung dafür bildet allein die Stimme einer Liebe, die ihn, den Delinquenten, bei all dem Furchtbaren, das er getan hat, nicht verloren gibt.

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Eine solche Stimme besitzt in dostojewskis Roman einzig die Dirne Sonja. Nur sie, eine ebenso Verlorene wie dieser Mörder, wird sich mit ihm verbünden; und diese beiden ganz und gar «unterirdischen Menschen», wie Dimitrij Karamasoff später sagen wird (fjodor michailowitsch dostojewski: Die Brüder Karamasoff, 11. Buch, 4. Kap.; 2. Bd., S. 740), werden allein imstande sein, das Lied der Auferstehung, den Hymnus des Siegs über den Tod, in den Katakomben der Verzweiflung anzustimmen. Es ist nicht nur, daß sie, die Hure und der Mörder, gemeinsam die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–45) lesen (fjodor michailowitsch dostojewski: Schuld und Sühne, 4. Teil, 4. Kap., S. 353– 358), es ist vor allem, daß Rodion, der alles hinter sich abgebrochen hat, nur noch Sonja hat, um mit ihr zusammen weiterzugehen (a. a. O., S. 358). In diesem Moment weiß sie freilich noch nicht, daß er es ist, der ihre Freundin Lisaweta ermordet hat; doch nur in dem Vertrauen, das er zu ihr faßt, wird er nach und nach fähig, ja, unausweichlich dahin gedrängt, ihr seine Tat zu gestehen; als sie dann alles erfährt, wirft sie sich ihm verzweifelt an die Brust und preßt ihn fest an sich, gibt es doch auf der ganzen Welt keinen Unglücklicheren als ihn. (A. a. O., 5. Teil, 4. Kap., S. 450– 451) Sonja wird seine ganze «Beichte» anhören: seine Napoleon-Phantasien, seine Minderwertigkeitsgefühle, seine reaktiv überhöhten Ich-Ideale, seine Selbstüberforderungen, seine Kälte und seine Einsamkeit, seine grenzenlose Verzweiflung, seinen Zwang zu rücksichtsloser Härte, seine Weigerung, sich das begangene Unrecht einzugestehen, die gedrechselten Argumente seiner Selbstrechtfertigung, seine Qual, sich selbst in dieser Hölle auszuhalten, – bis daß Raskolnikow nichts weiter spürt, als «wieviel Liebe sie für ihn» hat (a. a. O., 5. Teil, 4. Kap., S. 461); und wenn er zunächst auch sogar diese Liebe empfindet wie eine neuerliche Last, so wird er doch Sonjas Heiligenbildchen annehmen, das diese einst mit der ermordeten Lisaweta gegen deren Kreuz getauscht hatte: der Mörder verschmilzt mit der Ermordeten, der Täter mit dem Opfer in einer Liebe, die sie beide verbindet (a. a. O., 5. Teil, 4. Kap., S. 462). Eine andere «Strafe», will dostojewski mit diesem vielleicht «christlichsten» Roman der Weltliteratur sagen, ist der Not der Verzweiflung eines Menschen, der zum Verbrecher geworden ist, nicht adäquat, als daß er in den Prozeß einer Läuterung hineingeführt, hineinbegleitet wird, die ihn befähigt, der Wahrheit, der Erkrankung wie Gekränktheit seines Daseins, geständig zu sein; gerade dazu aber ist ein Mensch nur imstande, wenn er, der in Lieblosigkeit Erstarrte, eine Liebe spürt, die ihn nie mehr verläßt. Es ist ein Vorgriff auf jene «Gerechtigkeit», um derentwillen wir wünschen und glauben mochten, es gebe ein ewiges Leben, jenseits des Todes, jenseits der Gräber, jenseits des Ver-

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gessenseins, jenseits des Verbrechens: Endlich darf ein Mensch, als «Dichter» seines Lebens, die Geschichte seiner Person zu Ende erzählen. Es ist ein Stück «Eschatologie», das in aller «Justiz», die Menschen über Menschen auszuüben versuchen, enthalten sein müßte: ein Prinzip der Gnade, das jene Unfreiheit aufhebt, die biopsychologisch, neurologisch, psychologisch – auf allen Ebenen – dazu gehört, daß Menschen zu Verbrechern werden. Es ist wie in der «Erbsündenlehre» der christlichen Dogmatik: Erst wenn die Kerkertüren sich öffnen, wenn man aus dem Dunkel herausgetreten ist, im Rückblick, erkennt man, daß all das, was bis dahin als unvermeidbar, als zwangsläufig, als alternativelos erschien, vom jetzt gewonnenen Standpunkt aus betrachtet durchaus die Kraft nicht hätte haben müssen, haben dürfen, die man – aus Angst, aus Minderwertigkeitsgefühlen, in Abwehrphantasien aller Art – ihm zugeschrieben hat (vgl. e. drewermann: Strukturen des Bösen, III 540– 562: Die Schuld an der Notwendigkeit der Sünde). Erst wenn die Nebel sich lichten, beginnt mit den morgendlichen Strahlen der Sonne auch jenes brennende Gefühl der Scham und der Schuld, das – in einem danteschen Gang durch das Purgatorium (lat.: Fegefeuer) – eine wirkliche, allmählich reifende Verwandlung des «alten Menschen» herbeiführt, eine Nachreifung der Persönlichkeit in der Kraft eben jener Liebe, deren Fehlen das Menschsein verhinderte. Es ist diese christlich seit 2000 Jahren grundgelegte, von den Theologen der Gegenwart freilich zumeist an die Ethik (oder an eine leere Ritualmagie von Taufe und Kirchenzugehörigkeit) verratene Wahrheit im Herzen aller Menschen, daß es im Angesicht all des Furchtbaren, das Menschen begehen (können), nur eine einzige Form von «Gerechtigkeit» gibt: es zu überlieben durch ein tieferes Verstehen. An dieser Stelle könnte die moderne Neurologie gerade mit ihrer naturwissenschaftlich bedingten These von der Unfreiheit des menschlichen Willens unschätzbare Dienste für eine vermenschlichte «Recht»sprechung von morgen leisten: Zurückschauend auf die Rechtsgeschichte des Abendlandes (oder anderer Kulturtraditionen) muß es zutiefst erschrecken, wie oft bei dem Versuch, «Recht» zu sprechen, Unrecht entstand. Wen alles hat man da getötet, gefoltert, eingekerkert bis zum Verfaulen bei lebendigem Leib, nur weil er anderer Meinung war als die Herrschenden, nur weil er sich außerhalb der «Ordnung» verliebt hatte, nur weil er, um seine Familie zu ernähren, am Rande einer fürstlichen Waldung einen Hasen erlegt hatte . . . Es geht nicht allein um die offensichtliche Tatsache, daß Rechtsauffassungen sich wandeln können, – noch vor 70 Jahren steckte man in Deutschland Homosexuelle in Konzentrationslager und verurteilte Frauen, die ihre «Leibesfrucht» abtrieben, zum Tode, beides mit höchster Billigung und Unterstützung der katholischen Kirche, die

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in Verhaltensweisen wie diesen auch heute noch eine «schwere Sünde» erblickt; es geht auch nicht nur um die jederzeit bestehende Möglichkeit des Irrtums in der Bewertung und in der Zurechenbarkeit einer «Straf»tat; es geht vielmehr um die Beseitigung des Grundirrtums in aller bürgerlichen Rechtsprechung: Kein Mensch verübt «freiwillig» ein Verbrechen; keinem Menschen wird «Gerechtigkeit», indem man ihn straft; denn die Defizite seiner Personwerdung – die Fixstellen seiner Unfreiheit – lassen sich nur nacharbeiten – oder ablösen – durch eine personale Zuwendung, die das Fehlende ergänzt und selbst das «krumm» Gewachsene mit Schönheit begabt. An dieser Stelle kann man die moderne Neurologie nur auffordern, die Revolution wirklich einzuleiten, die in ihren Einsichten in die Determinanten menschlichen Verhaltens tatsächlich angelegt ist, und sich nicht zur ideologischen Rechtfertigung der bisherigen «Rechtsprechung» herzugeben, die auf erkennbar so brüchigen Füßen steht, wie Christentum und Psychoanalyse es immer schon behauptet haben. Vor 80 Jahren bereits beschrieb theodor reik jenen Prozeß, «in dem das Schuldgefühl so lange gegen die verdrängten Triebregungen ankämpft, bis es zu ihrem Bundesgenossen wird. Ich nenne diesen Fall den des Untertauchens des Verdrängenden in das Verdrängte. Es waren bestimmte Gegenbesetzungen gegen die verpönten Vorstellungen aufgerichtet worden, aber diese Gegenbesetzungen erwiesen sich als zu schwach. Die abgewehrten Triebregungen sind übermächtig geworden und haben auch alle jene Faktoren, die zu ihrer Bekämpfung bestimmt waren, in ihren Bereich herübergezogen. Es ist ähnlich wie manchmal bei Rettungsaktionen von Ertrinkenden: der Retter wird mit dem Gefährdeten in die Tiefe gezogen. So ähnlich wird das moralische Schuldgefühl oft den Triebdurchbruch erleichtern und die Befriedigungsintensität erhöhen.» (theodor reik: Der unbekannte Mörder, 304) Gerade dieser Weg war es, den sören kierkegaard vor Augen hatte, als er zur Erläuterung der Lehre von der «Ursünde» den Gedanken des Gebotsübertritts aus Angst vor der Möglichkeit der Übertretung entwickelte (vgl. Bd. I 649– 659); der dänische Religionsphilosoph analysierte (ähnlich wie dostojewski) die geistige Seite einer solchen Getriebenheit; der deutsche Psychoanalytiker betonte entsprechend seinem methodischen Ansatz die triebtheoretische Seite des gleichen Geschehens, beide im Verweis auf die Unmöglichkeit einer moralischen (oder juristischen) Lösung, ist es doch gerade die Moral (oder die Angst vor der «Strafe»), die ursächlich in das Motivationsgeschehen eines Verbrechens involviert ist. kierkegaard machte dafür die Ambivalenz, die Verzerrung des Gottesbilds im Felde der Angst verantwortlich, reik die Ambivalenz der gegenwärtigen Kultursituation; sie, meinte er, habe «es verschuldet,

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daß der Mensch unbefriedigt ist, wenn er seinen Trieben folgt – wegen Einspruchs der Moralforderungen –, und unbefriedigt ist, wenn er ihnen widersteht – wegen der im Tiefsten unveränderlichen animalischen Natur des Menschen –, unbefriedigt, wenn er den Stachel erträgt, und unbefriedigt, wenn er gegen ihn löckt. Angesichts dieser Sachlage, welche die herrlichste aller Welten beherrscht (sc. wie gottfried wilhelm leibniz lehrte, d. V.), muß man den herzerfrischenden Optimismus mancher Philosophen wirklich bewundern. – Ich meine, es besteht wenig Hoffnung, daß sich Wesentliches im Seelenleben der Menschen ändern werde. Sie bleiben arme und duldende Kreaturen, duldend noch dort, wo sie leiden machen. Vielleicht ist es schon ein Trost, solche Trostlosigkeit festzustellen, statt sie zu beschönigen, umzudeuten, zu verniedlichen und zu vertuschen.» (theodor reik: Der unbekannte Mörder, 304 –305) Doch eben wenn wir alles das nicht tun, wenn wir ganz im Gegenteil die Einsichten der modernen Neurologie dahin nutzen, die Hilflosigkeit und die Ausgeliefertheit des Menschen noch viel tiefer und ausgedehnter zu erkennen als gedacht, dann muß alles sich ändern im Umgang gerade mit Menschen, die als Gebrochene zu Verbrechern werden. «Sie (sc. die Straftäter, d. V.)», meinte carl gustav jung in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1933 unter dem Titel Blick in die Verbrecherseele (Gesammelte Werke, 18, 1, S. 374), «wären vor Begehen der Tat immer höchlichst erstaunt gewesen, wenn man ihnen einen Mord zugemutet hätte. Zumindest dachten sie sicher niemals daran, einen Mord zu begehen . . . Ein so kompliziertes Wesen ist der Mensch, und er, der von allen Dingen so vieles weiß, weiß von sich selbst eigentlich doch am wenigsten.» Das Wissen heute im Rahmen von Psychoanalyse und Neurologie steht trotz aller Fortschritte noch immer den menschlichen Tragödien relativ hilflos gegenüber. Spätestens aber wenn die Schuld unerträglich wird, wenn alle Buße vergebens scheint, wenn die Wiedergutmachung schier ins Unmögliche aufwächst, werden wir merken, daß es im wesentlichen nicht mehr gehen kann um eine «Heilung» durch Menschen – und versuchten sie noch so wohlmeinende Ärzte, Therapeuten oder Priester; was im letzten bleibt, ist buchstäblich eine «Erlösung» allein durch Gott: All das, was wir in den christlichen Bildern von «Auferstehung» und «Himmel» symbolisiert sahen, was wir ausgedrückt fanden in der ägyptischen Vorstellung vom Totengericht und was wir als unerläßlich erkannten schon zur Personwerdung eines jeden Menschen in dem lutherischen Begriff der «Gnade», all das wird uns begegnen, wenn wir Gott gegenübertreten und erleben, daß in seiner Gegenwart Liebe und Gerechtigkeit nicht länger mehr einen Gegensatz bilden, sondern zu einer Einheit verschmel-

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zen. – Endlich erzählt die Geschichte unseres Lebens sich «richtig»! Dies vor Augen aber gibt es niemanden mehr, der zu Gericht sitzen dürfte über einen anderen Menschen. Dann gilt aufs Wort die Quintessenz der «Bergpredigt»: «Richtet nicht, damit ihr nicht – von Gott – gerichtet werdet.» (Mt 7,1) Oder die Bitte des Vaterunsers: «Vergib uns unsere Schuld, so wie wir (hiermit) vergeben allen unsren Schuldnern.» (Mt 6,12). (Vgl. e. drewermann: Das Matthäus-Evangelium, I 579– 591; 526– 535.)

Bibliographie

Anhang

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Bildnachweis

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schließlich Oligophrenien, in: Psychiatrie und Psychotherapie, 427; 24: Uta Frith: Autismus, in: Gehirn und Bewußtsein, 100; 25, 28: Geoffrey E. Hinton: Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen, in: Gehirn und Bewußtsein, 138; 142; 26, 27, 30, 31, 32: Manfred Spitzer: Geist im Netz, 104; 106; 127; 128; 131 Teil D 1: James L. Gould – Carol Grant Gould: Bewusstsein bei Tieren, 48; 2, 3: Steven Laureys – Marie-Élisabeth Faymonville – Pierre Maquet: Wie bewusstlos ist bewusstlos?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 86; 84; 4, 5: Jean-Pol Tassin: Moleküle des Bewusstseins, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 79; 80; 6: Jean Delacour: Was kann die Neurologie erklären?, in: Spektrum der Wissenschaft, Spezial: Bewusstsein, 1/2004, 17; 7, 9: Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 255; 241; 8, 19, 20, 21, 22: Gerald M. Edelman: Das Licht des Geistes, 64; 51; 55; 38; 103; 10: Francis Crick: Was die Seele wirklich ist, 259; 11: Christof Koch: Kintopp der Sinne, in: Gehirn und Geist, 4/2005, 44; 12, 34, 35: Benjamin Libet, Mind Time, 150; 166; 176; 13: Monika Pritzel u. a., Gehirn und Verhalten, 473; 14: Daniel N. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 56; 15: Eric R. Kandel: Sprache, in: Eric R. Kandel – James H. Schwarz – Thomas M. Jessell: Neurowissenschaften, 653;

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16, 17: Sabina Pauen: Denken vor dem Sprechen, in: Gehirn und Geist, 1/2003, 46; 48; 18: Lise Eliot: Was geht da drinnen vor?, 525; 23: Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich, 371; 24: Edmund Leach: Claude Lévi-Strauss, 52; 25: Edward Lucie-Smith, Erotik in der Kunst, 82; 26: Rüdiger Vaas: Hotline zum Himmel, in: Bild der Wissenschaft, 7/2005, 33;

28, 29: John C. Eccles: Gehirn und Seele, 229; 232; 30, 33: Emma Brunner-Traut: Gelebte Mythen, 41; 73; 31: Carl Gustav Jung: Symbole der Wandlung, in: Gesammelte Werke, V 309; 32: Veronica Ions, Ägyptische Mythologie, 123; 36: Joachim Kruse, Illustrationen zu Moby Dick, 160

Personen

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Register

Personen Aalberse, R. C. 79 Abraham, Karl 129ff., 139, 151, 176ff., 182, 192, 451, 463, 547, 850 Abu Bakr al Charraz 607 Abulafia, Abraham Ben Samuel 607f. Ader, Robert 34f. Adler, Mortimer Jerome 699 Adler, Rolf 88 Aghajanian, George 651 Ahron von Karlin 535 Alacoque, Marguerite-Marie 56 Aldenhoff, Joseph B. 118, 120 Alexander, Franz 26, 28, 43, 49, 192, 913 Alighieri, Dante 103 Alperovitz, Gar 235 Alt, Ernst 247 Altmeyer, Susanne 30 Alzheimer, Alois 289, 339, 388, 610, 822, 896, 907 Améry, Jean 575 Amorth, Gabriele 247 Andreasen, Nancy 106, 109f., 113f., 116, 168, 173, 213, 216, 221, 225 Appelhans, Albrecht 882f. Arbman, Ernst 731 Aristoteles 293, 389, 395, 691, 741, 760 Arnold, Matthias 128, 246 Arp, Hans 161 Arzt, Volker 316ff., 320 Aschaffenburg, Gustav 217 Ashbrook, James B. 654 Ashvagosha 436f. Asperger, Hans 264 Assmann, Jan 730f., 785f. Augustinus, Aurelius 621, 642, 693, 886f. Aurel, Marc 865 Axelrod, Julius 109

Baars, Bernard 310 Baker-Eddy, Mary 22 Barnett, Samuel Anthony 306 Barthes, Roland 578 Bastiaan, J. 43 Bateson, Gregory 198ff., 203ff., 208ff., 241, 266, 411ff., 419, 423, 475, 709f. Baumeister, Roy 913 Bechter, Karl 67, 71, 81 Beck, Andreas 90f. Beckmann, Dieter 40 Behrens, Stephan 220 Bellarmin, Robert 391 Belliveau, John 325 Bellow, Saul 724 Ben-Chorin, Schalom 680 Bénard, Henri 846 Benedetti, Gaetano 145f. Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) 158, 247, 658 Benninghoff, Alfred 38, 47, 66, 362 Benveniste, Émile 568 Bergson, Henri 379, 403ff., 436, 593 Bernhart, Joseph 159 Bernini, Gian Lorenzo 656 Bertalanffy, Ludwig von 430 Besedovsky, Hugo 85 Bhagwan Shree Raijneesh (s. Osho) 600 Bibring, Edward 136 Bieri, Peter 814 Billerbeck, Paul 761 Bingener, Ingeborg 902 Binswanger, Ludwig 184 Birchwood, Max 225 Birmelin, Immanuel 316ff., 320 Blakeslee, Sandra 671f. Bleuler, Eugen 168ff., 180, 248, 262f., 284f., 288, 381 Bock, Jörg 479ff. Borchert, Wolfgang 249

990

Personen

Borkenau, Franz 861 Bornkamm, Günther 680 Bosch, Hieronymus 238, 240 Bosseckert, Hans 37 Boutroux, Émile 407f. Bowlby, John 129, 903 Bowman, Robert I. 313 Brant, Sebastian 239f. Braun-Scharm, Hellmuth 262f. Braun, Allen 326 Braun, Katharina 479ff. Braus, Dieter F. 214f., 219f., 222 Bräutigam, Walter 36, 80 Breuer, Hubertus 834, 919 Breuer, Josef 22 Brinktrine, Johannes 764 Broca, Pierre Paul 329, 531 Brodmann, Korbinian 365, 671 Brooks-Gunn, Jeanne 471 Brownell, Gordon 322 Browning, Christopher R. 915 Bruegel, Pieter 238, 240, 248 Bruker, Max O. 36 Bruning, J. W. 61 Brunner-Traut, Emma 778, 788ff. Brunner, Hellmut 744 Bruno, Giordano 390f., 397, 409, 706, 719 Buber, Martin 535f., 554ff., 594, 607, 619 Buchheim, Anna 823 Buddha (Siddhartha Gautama) 155, 161, 379, 430, 771 Buddhaghosa 377 Bullinger, Kaspar 247 Bund, Elmar 556 Burkhardt, Dietrich 202 Buser, Pierre 311f., 316f. Bush, George W. 891 Buytendijk, F. J. J. 493 Cade, John 116 Calaprice, Alice 842 Calvin, Johannes 880ff., 886 Calvin, William H. 447f. Campbell, Neil A. 61ff., 72, 299, 328, 493, 911 Camus, Albert 924 Cannon, Walter Bradford 34, 38, 228, 343 Caprice, Alice 843 Carlsson, Arvid 222 Carus, Carl Gustav 33

Cavalieri, Paola 902 Ceming, Katharina 607 de Cervantes Saavedra, Miguel 250 Chalmers, David J. 422 Changeux, Jean-Pierre 493, 707f. Chomsky, Noam 594 Christian, Paul 36, 43, 51, 80 Chrousos, George P. 79 Cierpka, Manfred 932 Clemens XIII. 56 Cloninger, Robert 684, 686 Cohen, Ira L. 269, 281 Cohen, Nicholas 34f. Conze, Edward 377 Cremerius, Johannes 27, 37, 78 Crick, Francis 373, 382f., 708 d’Aquili, Eugene 674f., 725 Dahlke, Paul 161, 437f., 605 Damasio, Antonio R. 388, 416f., 422, 494, 496, 540, 543, 546 Dante, Alighieri 754, 939 Darwin, Charles 158, 161, 172f., 202, 296f., 316, 374, 382, 392ff., 407, 419, 434, 456, 499, 503, 521, 595, 633, 901 Davies, Nigel 654 Davis, Michael 104 Deecke, Lüder 826 Degen, Marieke 906f. Degen, Rolf 917 Dehaene, Stanislas 347 Deimer, Petra 449 Deister, A. 96 Delacato, Carl H. 264 Delacour, Jean 358ff., 362f., 368 Delay, Jean 221 Delvaux, Paul 722ff. Demokrit 377, 402 Deneke, Friedrich-Wilhelm 41f., 545 Deniker, Pierre 221 Denzinger, Henricus 562, 767, 789 Descartes, René 33, 294, 297, 373, 402, 405f., 408, 548, 569, 571, 575, 693f., 698, 700f., 705, 802, 843 Deutsch, Felix 27 Diekmann, Anne 819 Diels, Hermann 533, 749, 764f., 864 Dilthey, Wilhelm 807, 813 Dix, Otto 257

Personen Döblin, Alfred 99 Dondelinger, Edmund 781ff. Dornes, Martin 453, 460, 483, 494 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 250f., 424, 606, 613ff., 620, 623, 647, 670, 683f., 704, 792, 799, 883, 935ff., 940 Down, John Langdon Haydon 290 Drenckhahn, Detlev 38, 47, 66, 362 Drewermann, Eugen 20, 23, 36, 61f., 77, 86, 90, 92, 94, 112, 131, 159, 236, 241f., 245, 248, 251f., 255, 257, 290, 296, 306, 322, 328f., 380, 387, 390f., 393ff., 410f., 417, 419f., 437, 439, 445, 448, 450, 454, 472, 476, 523, 531, 536, 539, 552, 558, 560, 574, 588, 590, 596, 609, 624ff., 630, 633, 639ff., 654, 666, 678, 687, 701, 703, 710, 715, 719, 721, 725, 745, 762ff., 776f., 791, 796ff., 801, 814, 818ff., 825, 842ff., 846, 856, 863, 866, 869f., 874f., 881ff., 889, 894, 907, 911, 919, 935, 939, 942 Driesch, Hans 408 Dröscher, Vitus B. 441 Drossman, D. A. 32 Dumas, Alexandre 336f. Dürer, Albrecht 240 Eaves, Lindon 685 Ebeling, Erich 743f. Eccles, John Carew 121, 691, 693ff., 698ff., 711f., 714, 717, 724, 808, 821f. Eckart, Wolfgang U. 899f., 926 Edelman, Gerald M. 364, 370, 374, 376, 395, 501, 504, 519, 521ff., 531ff., 539f., 604, 700, 712, 714 Edwards, Donald H. 117 Eggum, Arne 128, 245 Eicher, Peter 785, 787, 791 Eimer, Martin 833f. Eimler, Wolf-Michael 910 Einstein, Albert 153, 776, 841f., 863 Elenkov, Ilia J. 76, 79 Eliade, Mircea 430, 636f., 653 Eliot, Lise 479, 483, 488f., 497ff. Ellegard Jensen, Adolf 738 Empedokles 764f. Engel, Georg L. 32 Erasmus von Rotterdam 240, 878f. Erikson, Erik H. 130, 541, 567f. Esfeld, Michael 815 Eudes, Jean 56

991

Fabricius, Hieronymus 62 Fages, Jean-Baptiste 135 Fanghänel, Jochen 39, 68, 86, 362 Farah, Martha J. 893 Faymonville, Marie-Élisabeth 331ff., 339 Federn, Paul 185ff., 547f., 914 Feltkamp, T. E. W. 76 Fenichel, Otto 133, 135f., 139 Ferenczi, Sándor 133, 197f., 547 Fichte, Johann Gottlieb 194, 415, 548, 569, 648 Fink, Gerhard 748f. Fiore, Charles 755 Fischer, Helga 123 Fisher, James 300 Fittschen, Bernd 83 Flanders Dunbar, Helen 28 Flaubert, Gustave 52 Fließ, Wilhelm 253f. Flohr, Hans 373, 709, 893 Fonda, Henry 474 Fortes, Meyer 565f. Fossey, Dian 450 Foucault, Michel 102, 240, 243f., 576, 589, 601f. Fox, George 656 Franke, Klaus 909 Freeman, Walter J. 506 Freud, Anna 137, 140, 195f., 927 Freud, Sigmund 22ff., 30, 94, 96, 102f., 125, 135, 146, 148, 150f., 157, 173ff., 182, 185ff., 191ff., 197f., 200f., 230, 241, 247, 252ff., 357, 406, 424, 446, 451, 463, 519, 541f., 546ff., 568f., 575f., 581ff., 587, 589f., 593, 602, 628, 634, 656, 658ff., 669f., 683, 824f., 858, 875, 886, 914, 926f., 933 Freyberger, Harald J. 37, 58, 76 Freyberger, Hellmuth 37, 76 Fricke, Russell A. 117 Friederici, Angela D. 560 Frisch, Karl von 306, 308f. Frith, Uta 262f., 265f., 268f. Fromm, Erich 567, 869, 914f., 924, 928f., 932 Galen, Claudius 21, 102f. Galilei, Galileo 390 Gallup Jr., Gordon G. 449 Galton, Francis 273 Garff, Joakim 163

992

Personen

Gaschler, Katja 67, 71, 81 Gast, Ursula 250, 256 Gauci, M. 36 Gazzaniga, Michael S. 363 Gemma, Andrea 247 Genzmer, Felix 750ff. Gershon, Elliot S. 115 Geyer, Christian 837 Gibran, Khalil 688f. Gladigow, Burkhard 749 Glasenapp, Helmuth von 377, 432, 598, 605, 769, 771, 775, 788 Gleason, Curtis A. 825 Glöckner, Dorothea 163 Glöer, Nele 255 Goehler, Lisa E. 85 Goerke, Heinz 21 Goethe, Johann Wolfgang von 93, 857f. Gold, Philip W. 67f., 76f., 79, 83 Goldman-Rakic, Patricia Shoer 216f., 226, 358 Goldstein, Herbert S. 842 Golgi, Camillo 270, 404 Goodale, Melvyn A. 349 Goodall, Jane (s. auch van Lawick-Goodall, Jane) 124, 317, 476f., 556 Gorki, Maxim 799 Goschke, Thomas 849 Gosciniak, Hans-Thomas 112 Gottesman, Irving I. 219 Gould, James L. 300ff., 306f., 314f., 319, 442, 449f. Graber, Gustav Hans 553 Granqvist, Pehr 672 Grant Gould, Carol 300ff., 306f., 314f., 319, 442, 449f. Gray, Jeffrey 351ff. Gray, John 743f. Greenspan, Ralph 114 Griffin, Donald R. 297ff., 302ff., 306ff., 311, 313f., 387, 441f., 449 Grimm, Jacob und Wilhelm 94, 131, 278, 550 Groddeck, Georg 24f. Gruen, Arno 231ff., 248, 600 Guardini, Romano 163, 167 Gundlach, Rolf 746 Günther, Klaus 844

Haber, Fritz 537 Haeckel, Ernst 408 Häfner, Heinz 168, 211f., 214, 216, 219f., 222, 225 Hagemann, Ludwig 763 Haggard, Patrick 833f. Hahnemann, Samuel 21 Haley, Jay 199 Hambrecht, Martin 31 Hammer, Dean 686f. Hanke, Mila 329 Hannig, Rainer 56, 731, 794 Harlow, Harry Frederick 107, 127, 138, 462, 479, 481, 902ff. Harris, Henry Albert 917 Hartmann, Heinz 543 Hartmann, Nicolai 407, 845f., 851, 877f., 882 Hassanein, Fathy 746 Hassenstein, Bernhard 465 Hasson, Uri 890 Hauff, Wilhelm 59 Hauser, Kaspar 584 Haynes, John-Dylan 891 Hebb, Donald Olding 273, 311, 340, 368, 373, 505, 521 Hediger, Heini 297, 315, 448f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 161, 243f., 248, 282f., 304, 397ff., 408f., 420, 427, 569, 588, 593, 596, 630, 698, 816, 853ff., 861ff., 867, 876, 884, 888 Heidegger, Martin 161, 185, 376, 549, 601ff., 630, 702, 816, 818 Heigl-Evers, Anneliese 444 Heijnen, C. J. 72 Heiligenberg, Walter 447 Heinemann, Dietrich 124, 481 Heinroth, Johann Christian August 22 Helfrich, Klaus 242 Helmkamp, Michael 80, 82f. Helmrich, Herbert 835 Hennig, Jürgen 61f., 65, 82, 84 Henrich, Dieter 648 Heraklit 533, 749, 863 Hermanni, Friedrich 880 Herrmann, Jörg Michael 49, 57 Herzog, Michael 815 Heschl, Richard 353, 668 Heusler, Andreas 752 Heusser, Hans Rudolf 387

Personen Heyer, Gustav Richard 27 Hinde, Robert A. 300 Hinton, Geoffrey E. 270, 273, 279 Hippokrates 21 Hitler, Adolf 236, 915 Hobbes, Thomas 243, 859, 882, 922f., 927 Hobson, Peter 464, 494, 501 Hoerster, Norbert 902 Hoff, Gregor Maria 693 Hoff, Paul 862, 912, 922 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 251 Hofmann, Alfred 651 Holzer, Horst 247 Homer 740, 743, 754 Hornung, Erik 762, 786 Hoskins, Josiah 278 Houdé, Olivier 491ff., 495ff. Hubel, David H. 394 Hufeland, Christoph Wilhelm 88 Hughlings-Jackson, John 172f. Hultkrantz, Åke 731f. Hume, David 295, 354, 377ff., 414, 426, 548, 771f., 775f., 825, 835f., 840, 923 Humphrey, Nick K. 298, 443 Huntington, George 290 Husserl, Edmund 569f., 574, 816, 821 Huxley, Aldous 651, 927 Hygin 188 Ibsen, Henrik 209f. Imbert, Michel 348ff. Ions, Veronica 744, 783 Jackson, Chris 225 Jackson, Don D. 199 Jacobson, Edith 142, 543 Jäger, Ludwig 560 Jamblichus 20 James, William 378f., 655f., 660, 835 Janet, Pierre 181, 252 Janssen, Paul 221 Jaskiw, George E. 225 Jedin, Hubert 767 Jendoysiak, Udo 322 Jensen, Adolf Ellegard 242, 733ff., 737ff. Jeremia 774 Jessell, Tom 114 Johannes Paul II. 247, 284, 295, 658 Johansson, Gunnar 356

993

Jones, William P. 278 Jouvent, Roland 357 Julien, Robert M. 223, 225 Jung, Carl Gustav 178ff., 185, 187, 191, 252, 257, 273, 308f., 413, 479, 505, 548ff., 557f., 565, 576, 584, 589, 593, 608, 627f., 660ff., 780f., 824, 941 Jung, Ernst F. 742f. Jung, Mathias 80 Jungk, Robert 235, 897 Kafka, Franz 155, 773 Kandel, Eric R. 114, 394, 706 Kanner, Leo 262ff., 268 Kant, Immanuel 88f., 92, 97, 160, 347, 378, 381, 386, 388, 392, 398, 403, 410, 452, 549ff., 569f., 603, 705, 736, 758, 797, 813ff., 818, 820f., 825, 830f., 836, 862, 888, 894, 913, 922, 933 Kanwisher, Nancy 890 Kaplan, Helmut F. 909 Karcher, Eva 257 Karremann, Manfred 910 Kawai, Masao 315 Kazantzakis, Nikos 885 Kees, Hermann 781 Kellein, Thomas 129 Kellermann, Ulrich 788 Kerekjarto, Margit von 83 Kerényi, Karl 20, 95, 743, 747 Kernberg, Otto F. 139ff., 541f., 547, 612 Kerscher, Helmut 931 Kierkegaard, Sören 153, 163f., 195, 236, 536ff., 611, 613, 719f., 794, 802, 883ff., 940 Kirk, Katherine 685 Klages, Ludwig 408 Klein, Melanie 133f., 136, 139f., 462, 547, 612 Kleinschmidt, Nina 910 Kleist, Heinrich von 305 Klimchak, Steve 862, 912, 922 Kline, Nathan S. 221 Klüver, Reymer 259 Knoll, Alfons 164 Koch, Christof 358, 373ff., 382ff., 708 Koch, Peter 248 Koelbing, Huldrych M. 19, 21 Köhle, Karl 82 Köhler, Thomas 110ff., 222 Köhler, Wolfgang 314, 449

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Personen

Kohonen, Teuvo 270ff. Kohut, Heinz 191ff., 451, 541, 547, 914 Kolb, Bryan 382 Kollenbaum, Volker-E. 43 Köpping, Klaus Peter 563, 566 Kornhuber, Hans H. 826 Korsakow, Sergei Sergejewitsch 289, 822 Kraepelin, Emil 168, 176 Kraft, Ulrich 672, 674, 891 Kretschmer, Ernst 177 Kretschmer, Wolfgang 177 Krickeberg, Walter 242, 639 Kropiunnigg, Ulrich 87 Krug, Antje 20f. Kruijt, Alb. C. 728, 737 Kübler-Ross, Elisabeth 753 Kubrick, Stanley 235, 926 Küchler, Thomas 83 Kuhl, Julius 839f. Küng, Hans 563, 789, 792, 798, 869 Kurthen, Martin 718 Kwong, Ken 325 Lacan, Jacques 568f., 575ff., 581ff., 594, 602, 835 Laing, Ronald D. 207 Lambert, Martin 171f., 174, 222, 225 de Lamettrie, Julien Offray 400ff., 409 Lamprecht, Friedhelm 29, 36f., 42, 44, 54 Landsburg, Alan 755 Lang, Hermann 594, 601ff. Lange, Karl G. 835 Langston, J. William 286, 289 de Laplace, Pierre Simon 392, 841 Laudenslager, Mark L. 68 Laureys, Steven 331ff., 339 Lauterbur, Paul C. 323 Laux, Gerd 111, 118, 221f. Lawrence, Thomas Edward 914 Le Saux, Dom 607 Leach, Edmund 578ff., 590 Lebens, Brigitte 899 LeDoux, Joseph E. 394, 501, 504f., 514, 516ff., 520, 540, 700, 710 Leibbrand, Werner 22 Leibniz, Gottfried Wilhelm 187, 305, 391, 402f., 706, 760, 810, 813, 854, 867, 880, 941 Lempp, Reinhart 147f. Leo XIII. 56

Leslie, Alan M. 265 Lessing, Gotthold Ephraim 550 Lessmöllmann, Annette 560 Lévi-Strauss, Claude 575ff., 586, 589ff., 610 Lévy-Bruhl, Lucien 576 Lewis, Michael 471 Lex, Tina-Patricia 112, 114, 118, 121, 258 Liä Dsï 160 de Liagre Böhl, Franz Marius Theodor 742 Libet, Benjamin 382, 384ff., 724, 825ff., 837 Liedtke, Reinhard 37 Liek, Erwin 90 Lindauer, Martin 306f. Lindqvist, Margit 222 Linke, Detlef B. 717ff., 755ff. Locke, John 859 Löffler, Fritz 257 Logothetis, Nikos K. 350, 367 Lorenz, Konrad 117, 123, 297, 445, 479 Lovell, Harry B. 313 Lown, Bernard 88, 94 Lucie-Smith, Edward 656 Lück, Monika 916ff. Ludewig, Katja 839 Lumet, Sidney 474 Luther, Martin 606, 620ff., 631, 642ff., 798, 809, 878f., 881f., 886, 941 Lyell, Charles 392, 590 MacDonald, David 328, 907 Machleidt, Wielant 222 MacLean, Paul 294 Mader, Ludwig 188 Maes, Michael 75f. Mahler, Margaret S. 136ff., 261, 451, 458, 461, 547 Maier, Bernhard 662f. Maier, Steven F. 68, 85 Malach, Rafael 890 Malinowski, Bronislaw 589 Mann, Thomas 23f. Manns, Peter 820 Maquet, Pierre 326, 331ff., 339 Markowitsch, Hans-Joachim 87, 250 Marquis de Sade, Donatien-AlphonseFrançois 914 Marsh, Peter 202, 876 Martin, Nicholas 685 Marx, Karl 593, 861

Personen Masterson, James F. 139, 141ff. Matthew, Stephen 499 Maul, Stefan M. 742 Mauss, Marcel 563ff., 662, 768 Mayr, Petra 908 Mazoyer, Bernard 321ff., 330 McMahan, E. A. 313 Meckelburg, Ernst 311 Mehler, Jacques 491 Melanchthon, Philipp 878f., 882, 886 Melville, Herman 155f., 204f., 252, 256f., 424, 721, 880ff., 884, 915 Mensching, Gustav 869 Mentzos, Stavros 145, 148ff. Menzel, Randolf 309 Mesmer, Franz Anton 22 Metzinger, Thomas 838, 890, 892f., 911 Meyer, Adolf-Ernst 27 Meyer, Axel 910 Meyer, Heinz 909 Meyer, Wolfgang 43 Meynert, Theodor 286 Michel, Anneliese 247 Michelangelo Buonarroti 716 Miedaner, Terrel 494 Milgram, Stanley 905, 915 Mill, John Stuart 801f., 860ff. Miller, Alice 254 Millikan, George C. 313 Milner, A. David 349 Minsky, Marvin 274 Mitscherlich, Alexander 236 Mitscherlich, Margarete 236 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 92f. Moody, Raymond A. 753 Morenz, Siegfried 786 Moritz, Steffen 217, 266 Morris, Desmond 202, 876 Morton, John 265 Müller-Karpe, Hermann 430 Müller, Thomas 289, 517, 920f., 925, 932, 934 Mullin, Glenn H. 754 Munch, Edvard 128f., 131, 245f., 281, 424, 716 Myers, Ronald E. 901 Mynarek, Hubertus 757 N. Stern, Daniel 464 Naccache, Lionell 347

995

Nager, Frank 58 Nagera, Humberto 186, 188, 546 Necker, Louis Albert 381 Nelson, Monique 746 Nemeroff, Charles B. 107, 109 Nemesios von Emesa 760 Nero 898 Neubig, Herbert 149f. Newberg, Andrew 674f., 725 Newton, Isaac 392 Nietzsche, Friedrich 160, 409, 676f., 679, 681f., 690, 793, 796, 930, 936 Nikhilananda, Swami 762 Nilsson, Lennart 61 Nimuendaju, Curt 735 Nocke, Franz-Josef 752 Nunberg, Hermann 184 Nürnberger, Woldemar 165 O’Craven, Kathleen 890 Obhi, Sukhvinder S. 834 Oeser, Erhard 293f. Oesterreich, Konstantin 548f. Oger, Erik 411 Oldenberg, Hermann 156, 597 Olm, Véronique 103 Olness, Karen 35 Oppenheimer, Robert Julius 897 Origenes 759, 767, 789, 792 Osho (Bhagwan Shree Rajneesh) 600f. Osmond, Humphrey 652 Otto, Rudolf 637 Otto, Walter F. 652 Ovid (Publius Ovidius Naso) 747ff., 752, 765 Pacherie, Élisabeth 310, 312, 354 Panaitios 864 Panksepp, Jaak 123 Pannenberg, Wolfhart 619 Papert, Seymour 274 Papez, James W. 34 Paracelsus, Theophrastus 21, 57 Parkinson, James 261, 283ff., 339, 381, 502, 504, 610, 829, 907 Parmenides 624f. Pascal, Blaise 237, 537, 802f. Pascalis, Oliver 460 Pauen, Michael 805ff., 811f., 832ff., 839, 841, 849f.

996

Personen

Pauen, Sabina 484ff., 489f. Paul, Hartmut 80, 82f. Paulesu, Eraldo 351 Paulus 641f., 882 Paulus, Jochen 82, 844, 913f. Pawlow, Iwan Petrowitsch 34, 200, 926 Pearl, Dennis K. 825 Pennisi, Elizabeth 86 Penrose, Roger 380, 796 Pepperberg, Irene M. 329 Persinger, Michael 672 Peseschkian, Nossrat 49, 54 Peter, Hugo Arnim 102 Philostrat 766 Piaget, Jean 454, 491f., 494f. Pichot, Pierre 116 Pinel, John P. J. 106, 109ff., 222ff., 285f., 288f., 349 Pinel, Philippe 244 Pius IX. 56, 89 Pius X. 56 Pius XII. 56 Planck, Max 366, 380 Platon 19, 21, 338, 390, 693f., 702, 705, 724, 730, 736f., 758ff., 777f., 793, 803ff., 846, 886, 893, 911 Plotin 572, 693 Plum, Fred 336 Plutarch 744, 765 Plutchik, Robert 157 Popper, Karl R. 694ff., 698, 703f., 706, 711f., 714, 716f. Posner, Jérôme 336 Post, Jerrold M. 915 Pothast, Ulrich 816 Pötscher, Walter 863 Premack, David 316 Prigogine, Ilya 411 Prinz, Wolfgang 831, 834 Pritzel, Monika 213f., 216, 287ff., 322 Pythagoras 20, 740, 764f. Rädler, Thomas J. 215, 220, 222 Rahner, Karl 57, 262, 282, 885f. Raichle, Marcus E. 322, 326 Raine, Adrian 918, 920 Ramachandran, Vilaynur S. 671f. Rambeck, Bernhard 910 Ramón y Cajal, Santiago 404

Rank, Otto 935 Rause, Vince 675, 725 Reece, Jane B. 61ff., 72, 299, 328, 493, 911 Rees, Geraint 891 Reik, Theodor 870, 935, 937, 940f. Remarque, Erich Maria 249 Remplein, Heinz 470 Rendtel, Constanze 92 Renggli, Franz 466 Rensch, Bernhard 395, 397, 705 Renzikowski, Christoph 758 Richards, Mark 258 Richartz, Mark 98 Richter, Horst-Eberhard 40, 42 Richter, Rainer 36, 80 Rieder, Ronald O. 115 Riesman, David 567 Rijkers, G. T. 72 Risi, Armin 911 Roberts, Keith 239 Robinet, Jean Baptiste René 402f., 409 Robins, Robert S. 915 Roeder, Günther 744 Rögener, Wiebke 908 Rohde-Dachser, Christa 97 Röschenthaler, Ute 564 Rose, Hans K. 104, 112, 152 Roth, Gerhard 329, 359, 361ff., 372f., 509, 515, 708f., 711f., 714ff., 753, 828ff., 832ff., 837ff., 844, 849, 916ff., 923, 925ff., 933 Rousseau, Jean-Jacques 561 Rüegg, Johann Caspar 35, 37, 39f., 42, 44ff., 58, 67, 70, 72ff., 85ff. Ruf, Matthias 214 Rumsfeld, Donald 905 Ryden, Hope 441 Sacks, Oliver 380f., 383, 386 Sagan, Carl 294 Sapolsky, Robert M. 67, 104ff., 111 Sartre, Jean-Paul 568ff., 588, 596, 601, 816ff., 822, 837, 841, 884, 913 de Saussure, Ferdinand 518, 577 Schack, Adolf Friedrich von 156 Schadewaldt, Wolfgang 740f. Schaefer, Hans 29, 33 Scheffler, Axel 266 Scheich, Henning 480 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 415

Personen Schiller, Friedrich von 721, 819, 934 Schimmel, Annemarie 607, 764 Schindler, Raoul 444 Schipper, M. E. I. 61 Schiwy, Günther 575ff., 583, 589 Schjelderupp-Ebbe, Thorleif 444 Schleiermacher, Friedrich 798 Schleim, Stephan 890 Schlenke, Manfred 861 Schmeling, Inka 537 Schmidt-Traub, Sigrun 112, 114, 118, 121, 258 Schmidt, Klaus 729 Schmidt, Kurt 156, 606 Schmiedeskamp-Böhler, Irmgard 255 Schmitt, Andrea 214, 219 Schmitz, Marlies 264 Schneider, Kurt 233 Schneider, Reinhold 239 Schnelting, Karl 910 Scholtyssek, Christine 329 Schönborn, Christoph 389 Schonecke, Othmar W. 49, 57 Schönmetzer, Adolfus 562, 767 Schopenhauer, Arthur 158ff., 163, 409, 427f., 430, 433, 551, 593, 601, 625f., 681, 772, 810f., 816, 822f., 830, 851ff., 860, 876, 906f., 912 Schott, Siegfried 745 Schou, Mogens 116 Schreber, Daniel Paul 174, 176 Schrep, Bruno 909 Schultz-Hencke, Harald 184f. Schultz-Venrath, Ulrich 22, 25f. Schulz, Karl-Heinz 83 Schulz, Regine 794 Schwägerl, Christian 837 Searle, John R. 831 Seeber, Christine 762 Sefrin, Dieter 566 Seidel, Matthias 794 Selye, Hans 53 Seneca, Lucius Annaeus 20, 864 Sethe, Kurth 783 Shakespeare, William 59, 165, 752, 915, 934 Sherrington, Charles Scott 394 Siegle, Greg 891 Siirala, Martti 232 Singer, Peter 902ff., 909 Singer, Wolf 353, 366ff., 373, 506, 561, 708, 840

997

Skinner, James E. 50 Slijper, Everard J. 124 Snyder, Solomon H. 221, 223 Sokrates 19, 803f. Solitaire, M. 165 Söllner, Wolfgang 79 Sommer, Volker 318 Sonntag, Hans-Günther 909 Soubirous, Bernadette 89 Speidel, Hubert 28 Spiegelberg, Frederic 436f. Spinoza, Baruch de 242, 402, 706, 775f., 812f., 843, 854, 863 Spittler, J. F. 408 Spitz, René Arpad 261, 454, 470, 542f. Spitzer, Manfred 118, 269, 271ff., 275ff. Spyer, K. Michael 48 Stang, Ragna 246 Staub, Hugo 913 Steinvorth, Ulrich 815, 820 Stemmann, Ernst August 80 Stern, Daniel N. 450ff., 467ff., 473ff., 493, 497f., 542, 548, 554, 617 Sternberg, Esther M. 67f., 76f., 79, 83 Stevenson, Robert Louis 251 Stifter, Adalbert 93, 866f. Storch, Volker 347 Storm, Theodor 59, 165 Strack, Hermann L. 761 Straube, E. 218 Stroud, J. M. 382 Strüber, Daniel 916ff. Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 898 Sweeney, Charles 915 Szondi, Leopold 548, 669ff., 679 Tassin, Jean-Pol 226ff., 340ff. Teilhard de Chardin, Pierre 396f., 409f., 705, 716 Tetrud, James W. 289 Thiele, Alexander 907 Thomas von Aquin 282 Thompson, Richard F. 113, 347f., 901 Tibbets, Paul W. 235, 915 Tillich, Paul 608, 635ff., 640f., 645f., 661 Tipler, Frank J. 796f. Tischner, Herbert 728f. Tölle, Rainer 177 Tolman, Edward C. 311

998

Personen

de la Tourette, Georges Gilles 829 Truman, Harry 235 Tschechow, Anton Pawlowitsch 155 Tschirch, L. 29 Tylor, Edward B. 726ff., 732f., 735, 737, 739 Uexküll, Thure von 27f., 30, 33 Uhde, Bernhard 725 Vaas, Rüdiger 654f., 667f., 671ff., 685ff. van Beethoven, Ludwig 716, 721 van den Tweel, Jan G. 61, 81 van der Leeuw, Gerardus 729 van der Zee, J. S. 79 van Inwagen, Peter 840f. van Langendonck, Gert 259f. van Lawick-Goodall, Jane (s. auch Goodall, Jane) 124, 318 Vergil (Publius Vergilius Maro) 754 Verne, Jules 724 Vester, Frederic 53f. Vianney, Jean-Baptiste Marie 820 Viaud-Delmon, Isabelle 357 Victorri, Bernard 472, 560, 688 Vöhringer, Christian 238 Volk, Stephan A. 110 Vollenweider-Scherpenhuyzen, Margreet F. I. 839 Vollenweider, Franz X. 839 von der Malsburg, Christoph 364, 506, 708 von Langendonck, Gert 259 von Rad, Gerhard 774 von Salvini-Plawen, Luitfried 158 Vorländer, Karl 401, 403 de Vries, J. E. 81 de Waal, Frans 317ff., 444, 875 Walter, Henrik 218 Watson, James Dewey 319 Weakland, John H. 199 Weber, Ferdinand 761 Weber, Jörg 909 Weber, Kaspar 27, 38 Webster, Elizabeth L. 79 Wegner, Daniel M. 834, 839 Weinberger, Daniel R. 225 Weiß, Ilja 909 Weiskrantz, Larry 347 Weizsäcker, Viktor von 33

Welsch, Ulrich 347 Werbick, Jürgen 643, 648 Werbos, Paul J. 279 Werfel, Franz 653 Wernicke, Carl 498, 531 Whishaw, Ian Q. 382 Wickler, Wolfgang 597 Wilder, Roland L. 76 Wilhelm, Richard 608 Wilhelm von Ockham 302 Willis, Thomas 293f., 700 Wilson, Edward Osborne 633f. Wilsson, Lars 441 Winnicott, Donald Woods 451 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 275 Wittmer-Butsch, Maria 91 Wolf, Hans-Jürgen 247 Wolf, Julia 890 Woodruff, Guy 316 Wright, Elwood W. 825 Wygotski, Lew Semjonowitsch 472f., 483 Wynn, Karen 492f. Yeh, Shih-Rung 117 Zahrnt, Heinz 644, 655 Zarathustra 789 ˇ Zd’árek, Jan 202 Zeki, Semir M. 352f. Zenon 864 Zepf, Siegfried 29, 32 Ziadeh, May 688 Zihl, Josef 381 Zimmer, Heinrich 430, 432ff., 437 Zola, Émile 337f. Zulliger, Hans 930 Zürrer, Ronald 766f., 911 Zweig, Stefan 22

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Abfall – Leistungsabfall 113 – Östrogenproduktion 220 Abgabe (Freisetzung, Freigabe) – eines Positrons 321 – von ACTH 67, 108–109 – von CRH 80 – von Enkephalin 515 – von Glucocorticoiden 96 – von Histamin 36 – von Noradrenalin 38, 39, 40, 45–46, 58, 228 – von toxischen Substanzen 62 – von Transmittern 45–46, 58, 105 Abgleich – höhere und niedere Hirnareale 278 Abhängigkeit – der Schizophrenie vom Verwandtschaftsgrad 218 – von Nicotin 38 Abruf von Gedächtnisinhalten 345, 575, 832 Abspeicherung von Informationen 461 absteigende Bahnen 47, 48, 50, 355, 360, 515, 710 Abstraktion 310, 316 Abtreibungspille 111 Abwehr – immunologische 34–35, 60–83, 847 – von Schmerzen 430 Acetylcholin (ACh) 45, 286, 287, 320, 339, 362, 822 ACTH (adrenocorticotropes Hormon, Corticotropin) 67, 68, 81, 108 Acht-Monats-Angst 487 Adenin 687 Adenosinmonophosphat, cyclisches (cAMP) 45 Adenosintriphosphat (ATP) 45 ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin) 886 ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) 483, 907 Adrenalin – als Neurotransmitter 418, 686, 822

999

– Angst und Streß 37, 38, 39, 40, 42, 44, 57, 67, 105, 120, 416 – Beeinflussung des Blutdrucks 37, 38, 39, 40, 42, 44, 57, 120 – Beeinflussung der Herzfrequenz 37, 38, 39, 40, 42, 44, 57, 120 – präfrontaler Cortex 50, 57 – sympathisches Nervensystem 67, 105 – und Immunsystem 67 adrenerge Nervenzellen, sympathoadrenale Zellinie, synthetisieren Noradrenalin 45, 50 adrenerge Rezeptoren 38, 57, 120 adrenerge Synapsen 58, 106 adrenerge Übertragung 45, 58 adrenocorticotropes Hormon (ACTH, Adrenocorticotropin) 67, 68, 81, 108 Affe(n) – Ethik, Tierversuche 320–321 – Evolution 296, 375 – Intelligenz 491 – Kaspar Hauser-Experimente, Harlow 479, 902–905 – Tierversuche zu Wahrnehmung und Bewußtsein 350, 367 – Wahrnehmung und Bewußtsein 350, 367 – s. a. Makaken, Primaten, Rhesusaffen, Schimpansen afferente Fasern 509 afferenter Schenkel, Reflexbogen 87 – und Territorialverhalten 117 Aggression – und Depression 113, 146–147, 195 – und Epilepsie 670 – und Psychosomatik 80, 82–83 – und Serotonin 918, 919 Agnosie – Objektagnosie 349, 350 – Prosopagnosie 348, 349 Agonist(en) – von DA 289 – von NA und Serotonin 109 AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) 83 Aktionspotential 360, 507 Aktivierung – anteriorer Gyrus cinguli 506 – des Parasympathicus 49 – des Sympathicus 39

1000 – – – – – – – – – – –

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

frontaler Cortex 350, 362 Hippocampus 506 Hirnregionen 121, 217, 229 Immunologische 65, 67, 81 in neuronalen Netzwerken 274, 275 präfrontaler Cortex 329, 675 primärer auditiver Cortex 334 Rezeptoren 229 Streßachse 513 visueller Cortex 350, 351, 353, 364 von Neuronen bei Lernvorgängen 273 Aktivierungssystem, retikuläres (ARAS) 526 Aktivität – Amygdala 891 – Basalganglien 520 – bei Depression 120–121, 132 – bei Manie 114 – dopaminerger Neuronen 216, 222, 223, 224, 225, 226 – Enzymaktivität 45, 289 – Formatio retikularis 362 – frontaler Cortex 497 – Gyrus cinguli 78 – Hyperaktivität des Immunsystems 79 – Killerzellaktivität 65, 71 – monoaminerge, Depression 109, 110 – motorische 289 – neuronale, bei Schlaf 229, 230 – neuronale Netzwerke 269, 270 – noradrenerge, Streß 58 – noradrenerge und serotonerge, Depression 109 – Nucleus caudatus 829 – Parietallappen (Scheitellappen) 675, 753, 826 – phagocytäre 70 – präfrontaler Cortex 216, 287, 345, 496, 501 – RVLM-Region 46 – sexuelle, bei Depression 108 – Spikeaktivität 375 – stereotype, bei Autismus 265 – Streß-Achse 83, 110 – Sympathicusaktivität 45, 46, 47, 83 – Temporallappen (Schläfenlappen) 350, 672, 676 – Vagusnerv 85 akustisch 202, 480, 481, 507

Albträume 673 Aldosteron 46 Algorithmus 279 Algorithmus, neuronale Netzwerke 279 Alkoholismus 148, 151, 164, 647, 808, 892 Allel(e) 687 Allergien – und IgE 71, 77 – und Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse 77, 80 – und Konditionierung 36 – und Mastzellen 62 – und Placebo 36, 75 Alles-oder-Nichts-Ereignis 270 Alles-oder-Nichts-Prinzip 320, 374 Alpha-Rezeptoren – für Noradrenalin 38, 39, 58, 227, 228, 229, 343 – Alpha-1-Rezeptoren, NA 38, 39, 227, 228, 229 – Alpha-1b-Rezeptoren, NA 227, 228, 229, 343 – Alpha-2-Rezeptoren, NA 58 Alpha-Rhythmus 382 Alpha-«Tier» 277, 444, 445, 446 Altersentwicklung, Synapsen 485 Altersverteilung – Schizophrenie 219 – Parkinson 284 Alzheimer-Krankheit 289, 339, 388, 610, 822, 896, 907 Amine – Catecholamine 39, 80 – Monoamine 109, 110, 229, 230, 289, 506, 507, 686, 822 – s. a. Adrenalin, Dopamin, Histamin, Noradrenalin, Serotonin Aminogruppe 109 Aminosäure-Decarboxylase 289 Aminosäuren 288, 523 Ammoniak 537 Amnesie (Gedächtnisstörung) 388 Amphetamin(e) 110, 226, 892, 896 Amphibien 347, 387, 626 Amphioxus 296 Amputation 252, 896 Amygdala (Corpus amygdaloideum, Mandelkern) – Angst- und Schutzstarre 49, 104

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte – und Angst 105, 328, 345, 357, 394, 429, 504, 513, 514, 517, 725, 848, 873, 891, 916, 917, 920 – und Autismus 269, 502 – und Bewertungssystem 363, 370, 509, 522 – und CRH 67, 104, 891 – und Depression 105, 891 – und Dopamin-Rezeptoren 225 – und Gewaltdelikte 918, 920 – und Herzjagen 50 – und Hippocampus 342, 394, 517, 518, 519, 667, 672, 713, 725, 920 – und Hirnentwicklung 482, 502 – und limbisches System 67 – und Nahtoderfahrungen 757 – und präfrontaler Cortex 50, 226, 342, 345, 363, 514 – und Schizophrenie 214, 215, 218, 225 – und Streßachse 67, 104 – und Temporallappen-Epilepsie 671 – und Testosteron 918 Anfall (Anfälle) – katatonischer Anfall 184 – Krampfanfälle 115 – Ohnmachtsanfälle 755 – Schlaganfall 290, 325, 330, 332, 336, 381, 388, 896 – Tachykardien 40, 669 – Epilepsie 380, 665, 668, 669, 670, 671, 673, 676, 679, 680, 682, 683, 684, 757, 839 Angiotensin II 46 Angriff – Angriffshormon s. a Adrenalin, Noradrenalin – Flucht oder Angriff 38, 60, 343 – Notfallreaktion 38 – und «Depression» bei Gänsen 123 – und Kommunikation 202 Angriffshormon 42, 44 Angriffslust 117 Angst – Angstbahnen 357, 359 – Angstkonditionierung 505 – und Amygdala 105, 328, 345, 357, 394, 429, 504, 513, 514, 517, 725, 848, 873, 891, 916, 917, 920 – und Kaspar-Hauser-Experimente 479, 902–905

1001

– und Noradrenalin 37–38, 51, 85, 105, 109, 514, 516 Angstkonditionierung 505 Angstzustände 672 Anorexia nervosa (Magersucht) 93, 130, 185, 257, 852 anorganische Chemie 193 Antagonist(en) – Corticosteron-Antagonisten 70 – CRH-Antagonisten 104 – DA-Antagonisten 220, 222 Antagonismus, neuromodulatorischer 344 anterior 216 anteriorer Gyrus cinguli (anteriorer cingulärer Cortex) 217, 334, 346, 482, 501, 506, 520, 667 anterograde Amnesie 388 Antibiotika 84 Anticholinergika 288 Antidepressiva 109–111, 897 – neue Antidepressiva 110, 111 – SSRIs 109–110, 918 – tricyclische Antidepressiva (TCA) 109, 110, 897 Anticonvulsiva 116 antidiuretisches Hormon (ADH, Vasopressin) 886 Antigen(e) 61, 63, 64, 65, 71, 72, 74, 76, 77, 85, 87 Antigenpräsentierende Zellen (APZ) 65 Antigenreiz 65 Antigen-Rezeptor 64 Antihistaminika 221 Antikörper (Immunglobuline, Ig) 34, 63, 64, 65, 68, 72, 74, 75, 77, 81 – IgE 71, 77 Antipsychotica 221, 222–223, 229 Aphasie 289 apikaler Dendrit 480 Aplysia (Meeresschnecke) 226, 274, 340, 368, 706 Appetenzverhalten 852 Appetit, Leidindikator in Tierversuchen 908 ARAS (aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem) 362, 372, 526 Arbeitsgedächtnis – bei Parkinson 216, 227, 229 – bei Schizophrenie 287

1002

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– und Bewußtsein 340, 341, 345, 355, 358, 369, 376, 404, 436, 503, 509, 510, 511, 518, 519, 520, 526, 534, 544, 570, 707 – und Traum 674 Area (Areal, Cortexareal, Feld) – Broca-Areal 333 – cingularis (Gyrus cinguli, cingulärer Cortex, Brodmann-Areal) 49, 78, 215, 217, 329, 333, 334, 336, 374, 480, 482, 501, 506, 519, 510, 511, 520, 667 – entorhinalis (Regio entorhinalis, entorhinaler Cortex) 269, 342, 502, 506, 509 – frontaler Cortex (Stirnrinde) 50, 214, 225, 335, 336, 350, 364, 267, 373, 413, 488, 506, 514, 520, 668 – Gyrus angularis 519, 668, 753 – Gyrus dentatus 489, 519 – Gyrus fusiformis 218, 352, 348, 353, 890 – Gyrus postcentralis 78, 360 – Insula (Insel, insulärer Cortex, Inselrinde, Inselcortex) 49, 215 – orbitofrontaler Cortex 214, 329, 515, 917 – Orientierungs-Assoziations-Areal (OAA) 674, 675 – parahippocampalis (Gyrus parahippocampalis) 509 – posterior-parietale Cortex 348, 509, 519 – postrema (Area postrema) 225 – präfrontaler Cortex 50, 51, 214, 216, 217, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 287, 329, 333, 334, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 347, 354, 355, 363, 374, 496, 501, 503, 506, 507, 508, 509, 510, 514, 516, 518, 519, 527, 531, 666, 668, 675, 708, 709, 725, 847, 848, 849, 874, 875, 917, 918, 920, 935 – prämotorischer Cortex 833 – somatosensorischer Cortex 78 – supplementärmotorisches (SMA und prae-SMA, medialer supplementärmotorischer Cortex) 833 – striata (primärer visueller Cortex, Streifencortex, V 1) 350, 351, 352, 364, 508, 668 – Area tegmentalis ventralis (VTA) 226, 342, 344, 345, 875 – temporolimbische Rinde 216 – übergeordneter (sekundärer) auditorischer Cortex (Wernicke-Areal, sekundäre Hörrinde) 351, 531

– übergeordneter (sekundärer) visueller Cortex (prästriärer Cortex) 350 – VTA (Area tegmentalis ventralis) 226, 342, 344, 345, 875 – VTE (visuell-temporales Feld, visuelles Feld im inferior-temporalen Cortex, ITC) 350, 363, 364 – V 1 (primärer visueller Cortex, Area striata, Streifencortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 – V 2 (visuelles Feld) 352 – V 3 (visuelles Feld) 381 – V 4 (visuelles Feld) 352, 353, 364, 668 – V 5 (visuelles Feld im mediotemporalen Areal, MT) 353, 365, 381, 668 – Wernicke-Areal (übergeordneter – sekundärer – auditorischer Cortex, sekundäre Hörrinde) 531 Ärgerreaktion 314 aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase 289 Arrhythmien 49, 50 arterielles Blut 326 Arteriosklerose 44 Assoziationsbahn 215 Assoziationscortices (Assoziationsareale, Assoziationsfelder) 305, 320, 333, 334, 335, 336, 338, 348, 350, 363, 368, 374, 382, 503, 506, 519, 674, 696 – OAA 674, 675 Assoziationsexperimente 35, 273 assoziatives Lernen 34, 200, 226, 352, 456, 825, 835 Assoziationstechnik 604 Assoziationstheorie 454 Asthma 36, 37, 77, 79, 80, 87, 143, 896 Asymmetrie der Gehirnstrukturen 498, 672, 833 Atemmuskulatur 36 Atemwege 39 Atmung 79, 333, 381, 460, 675 – bei Angst 51, 52, 87 Atom(e) 109, 396, 397, 402, 706, 708, 889, 897 Atomkrieg 309, 474, 874, 897, 900, 915 Atomwaffenversuche 81 ATP (Adenonintriphosphat) 45 auditorischer primärer Cortex (primäre Hörrinde) 334

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte auditorischer übergeordneter (sekundärer) Cortex (Wernicke-Areal, Brodmann-Areal , sekundäre Hörrinde) 531 Aufmerksamkeitsstörung (ADHS, Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) 483, 907 Aufputschmittel 226, 227 aufsteigende Bahnen 47, 416 aufsteigendes retikuläres aktivierendes System (ARAS) 362, 372, 526 Autismus 169, 212, 261–266, 268–269, 277, 280–282, 289, 316, 464, 501 – Definition 263 – frühkindlicher, Kanner 262, 263, 264, 265 – neurologische Erklärung, Zuviel an Neuronen 280–283, 502, 889 Autoimmunerkrankung 35, 74–77, 80, 85, 152 autonomes Nervensytem (vegetatives Nervensystem) 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 autoregenerativer Kreislauf, Immunsystem 72 Autorezeptor(en) 58, 109, 110 Axon(e) 511 Backpropagation 278, 279 Backpropagations-Regel 278 Bahnen (Nervenfasern) – absteigende 47, 48, 50, 355, 360, 515, 710 – Angstbahn 357, 359 – aufsteigende 47, 416 – Assoziationsbahn 215, 217 – dorsale Bahn, Wo-Bahn 348, 349, 350, 351, 508 – dopaminerge 225, 227, 286 – noradrenerge 50 – Projektionsbahnen (-fasern) 50 – reentrante Bahnen 540 – Schmerzbahn 86, 328, 355, 429, 515 – Vagusnerv 46, 47, 68, 85, 416 – ventrale Bahn, Was-Bahn 348, 349, 350, 351, 353, 363, 364, 508 Bahnung – Assoziationsbahnung 217 – bei Depression 118–120, 139 – milieureaktive 871

1003

bakterielle Infekte 70, 83 Bakterien 63, 65, 70, 72, 83, 84, 448, 624 Balken (Corpus callosum) 215, 327, 346, 363, 517, 901 Bandscheibenschäden 74 Bandscheibenvorfall 423, 515 Barbiturate 221 Barorezeptoren 46, 47 Barorezeptorreflex 47, 48, 710 basale Dendriten 480 basales Vorderhirn 333, 388 Basalganglien 342, 345, 421, 520, 525, 528–531, 829, 839, 848 – Parkinson 286, 287, 829 – Schizophrenie 215, 225 Basalkern (Nucleus basalis) 286 basische Farbstoffe 61 basolaterale Amygdala 342, 504 Basophile 61, 62, 65, 71 basophile Granulocyten 61, 62, 65, 71 Bauch 85 Bauchspeicheldrüse BDNF (brain derived neurotrophic factor) 104, 106, 111, 822 bedingte Reflexe 34 Behaviorismus 297–299, 315, 353, 370, 449, 903, 926 Belohnung 287 Belohnungssystem 105, 287 Benzodiazepine (BDZ) 897 Berührung 333, 432 Betablocker 57, 58 Beta-Dynorphin 67 Beta-Rezeptoren 38, 39, 57, 58, 120 – Beta-1-Rezeptoren 57 – Beta-2-Rezeptoren 57 Beta-«Tiere» 277, 444, 445 Beugehaltung, Parkinson 284 Beute 124, 301, 317, 347, 387, 428 Beutegreifer 231, 443 Beuteltiere 328 Beuteschema 387 Bewegungswahrnehmung 668 Bewußtsein – bei Primaten 298, 317, 319, 443, 470, 471, 476, 499, 517, 530, 531, 577, 700, 875 – C-Zustände 528 – Kriterien für Bewußtsein bei Tieren 311–312

1004

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– primäres 295, 312, 316, 332, 338, 370, 371, 374, 388, 440, 495, 496, 503, 520, 526, 527, 529, 531, 534, 535, 540, 559, 571, 604 – sekundäres 312, 440, 495, 503, 520, 529 – und Arbeitsgedächtnis 340, 341, 345, 355, 358, 369, 376, 404, 436, 503, 509, 510, 511, 518, 519, 520, 526, 534, 544, 570, 707 – und Dopamin 503, 507 – und Frontallappen 334, 335, 336, 340– 344, 345, 350, 354, 355, 363, 364, 412, 503, 506–511, 514–516, 518, 519, 520, 525, 527, 531, 666, 708, 709, 848 – und Hippocampus 334, 342, 345, 363, 370, 372, 388, 503, 506, 509, 517, 518, 519, 531 – und Hypothalamus 333, 360, 370, 520, 526, 534, 540, 848, 917 – und Konvergenzzonen 509 – und Noradrenalin 320, 345, 362, 385, 507, 514, 529, 530, 707 – und subthalamische Ebene 362, 520 – und Sympathicus 308, 309 – und Thalamus 320, 326, 328, 334, 335, 336, 360, 361, 362, 373, 412, 507, 509 – Wachbewußtsein 226, 362, 372, 421, 506 B-Gedächtniszelle(n) 65, 71 Biber 441–443 bildgebende Verfahren 214, 269, 320, 329, 351, 412, 484, 495, 533 Bindungsproblem 346, 364, 503, 506, 507, 523, 708 binokulare Rivalität 367, 508, 890 Biorhythmen, Schlafen und Wachen 105, 111 bipolare affektive Störung 112, 113, 114, 115, 116, 151, 152, 838 bipolare Depression 98 bipolares Gen 113 biographisches (episodisches) Gedächtnis 388, 461, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 Blindheit 24, 30, 31, 52, 382 – Farbenblindheit 113 Blindsehen 345, 347, 348, 350, 351, 364 Blockade – von Rezeptoren 221, 222, 225, 227, 229 – von Nerven 50 Blut 34, 39, 42, 44, 50, 61, 62, 64, 65, 68, 71, 77, 82, 102, 120, 293, 766 Blutadern 39, 44, 45, 120

Blutbahn 85, 117, 325, 326 Blutdruck 38, 39, 40, 42, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 60, 221, 415, 416, 675, 908 blutdrucksenkende Neuronen 47, 416 Blutegel 155 Blütenpollen 36 Blutfarbstoff 325 Blutfluß 287, 321 Blutgefäße 39, 40, 44, 46, 48, 57, 70, 77 Blutgruppengen 113 Blut-Hirn-Schranke 85, 288, 289, 918 Bluthochdruck (Hypertonie) 39, 40, 43, 44, 47, 51, 52, 116 Blutkörperchen – rote s. Erythrocyten 34, 325 – weiße (Leukocyten) 61, 62, 64, 73 Blutpfropfen 44 Blutplasma 63 Blutzellen 62 Blutzuckerspiegel 38, 60, 84 B-Lymphocyten 63–65, 69, 70, 72, 73, 74, 75 Botenstoffe – Immunsystem 65, 72, 85, 86 – sekundäre 45, 118, 706 – Streß 37 Bottom-up-Prozesse 278, 375, 510, 848 Bradykardie 39 Bradykinese (Verlangsamung der Bewegungen) 284 Bradyphrenie 286 brain-derived neurotrophic factor (BDNF) 104, 106, 111, 822 Brechzentrum 225 Broca-Areal 329, 333, 531 Brodmann-Areale 365, 671 Bronchialasthma 36, 77, 80 Bronchien 39, 60, 120 Brust – Angina pectoris 44 Brustkrebs 896 Brutpflege 295, 466 B-Typ 53, 82 Bursa Fabricii, B-Lymphocyten 62 Butyrophenone 221, 223, 224 B-Zellen 65, 71 cAMP (cyclisches Adenoninmonophosphat) 45 Cannabis 823

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Cannons Notfallreaktion 38, 228, 343 Catecholamine 38 caudale-ventro-laterale Medulla oblongata 47, 50, 416 Center-Surround-Prinzip 271, 272 Cephalaea 113 Cerebellum (Kleinhirn) 293, 421, 525, 528, 529, 832 cerebraler Blutfluß 287 cerebrospinales Nervensystem 308, 309 C-Fasern 78; 515 CGL (Corpus geniculatum laterale) 348, 360, 523 CGM (Corpus geniculatum mediale) 360 Chaosforschung 626, 710, 711 chemischer Krieg 248, 889, 899, 900 Chiasma opticum (Sehbahnkreuzung) 347 chirurgischer Eingriff 167,896, 897 Chlor 537 Chloralhydrat 221 Chlorpromazin 220–223, 229 cholinerge Neuronen 229 cholinerges System 287, 526, 702 Chordatiere 395 Chorea Huntington (Veitstanz) 290 chromaffine Zellen 38, 416 Chromosomen 112, 113, 686 chronische Angst 514 chronischer Streß 19, 37, 46, 51, 54, 60, 67, 68, 105, 106, 115, 120, 424, 918 cingulärer Cortex (Gyrus cinguli, Cortex cingularis, Brodmann-Areal) 49, 78, 215, 217, 329, 333, 334, 336, 374, 480, 482, 501, 506, 519, 510, 511, 520, 667 Cingulum 215 circadiane Rhythmen 515 clonale Proliferation 72 Clonidin 58 Clozapin 224, 229 Coca-Blätter 652 Cocain 110 Codierung 340, 350, 365, 370, 419 Colliculus (-i) superior(es) (vorderes Vierhügelpaar), Tectum 348 Commissura anterior 346 Computer 294, 302, 303, 304, 305, 356, 359, 443, 524, 694, 700, 796, 827, 889, 909 Coping-Strategien 52, 113

1005

Corpus (-ora) – amygdaloideum (Amygdala, Mandelkern) s. Amygdala – callosum (Balken) 215, 327, 346, 363, 517, 901 – geniculatum laterale (CGL, seitlicher Kniehöcker) 348, 360, 523 – geniculatum mediale (CGM, mittlerer Kniehöcker) 360 Cortex (Area, Areal, Feld) – Broca-Areal 333 – cingulärer (Gyrus cinguli, BrodmannAreal) 49, 78, 215, 217, 329, 333, 334, 336, 374, 480, 482, 501, 506, 519, 510, 511, 520, 667 – entorhinaler (Regio entorhinalis) 269, 342, 502, 506, 509 – frontaler (Stirnrinde) 50, 214, 225, 335, 336, 350, 364, 267, 373, 413, 488, 506, 514, 520, 668 – Gyrus angularis 519, 668, 753 – Gyrus dentatus 489, 519 – Gyrus fusiformis 218, 352, 348, 353, 890 – Gyrus postcentralis 78, 360 – Insula (Insel, insulärer Cortex, Inselrinde, Inselcortex) 49, 215 – orbitofrontaler Cortex 214, 329, 515, 917 – Orientierungs-Assoziations-Areal (OAA) 674, 675 – parahippocampaler (Gyrus parahippocampalis) 509 – posterior-parietaler Cortex 348, 509, 519 – postrema (Area postrema) 225 – präfrontaler Cortex 50, 51, 214, 216, 217, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 287, 329, 333, 334, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 347, 354, 355, 363, 374, 496, 501, 503, 506, 507, 508, 509, 510, 514, 516, 518, 519, 527, 531, 666, 668, 675, 708, 709, 725, 847, 848, 849, 874, 875, 917, 918, 920, 935 – prämotorischer Cortex 833 – somatosensorischer Cortex 78 – supplementärmotorischer (SMA und prae-SMA, medialer supplementärmotorischer Cortex) 833 – striata (primärer visueller Cortex, Streifencortex, V 1) 350, 351, 352, 364, 508, 668

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– Area tegmentalis ventralis (VTA) 226, 342, 344, 345, 875 – temporolimbische Rinde 216 – übergeordneter (sekundärer) auditorischer Cortex (Wernicke-Areal, sekundäre Hörrinde) 351, 531 – übergeordneter (sekundärer) visueller Cortex (prästriärer Cortex) 350 – VTA (Area tegmentalis ventralis) 226, 342, 344, 345, 875 – VTE (visuell-temporales Feld, visuelles Feld im inferior-temporalen Cortex, ITC) 350, 363, 364 – V 1 (primärer visueller Cortex, Area striata, Streifencortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 – V 2 (visuelles Feld) 352 – V 3 (visuelles Feld) 381 – V 4 (visuelles Feld) 352, 353, 364, 668 – V 5 (visuelles Feld im mediotemporalen Areal, MT) 353, 365, 381, 668 – Wernicke-Areal (übergeordneter – sekundärer – auditorischer Cortex, sekundäre Hörrinde) 531 Cortexläsionen 350, 673, 674 corticaler Chauvinismus 376 corticale Karten 525 corticale Konvergenzzonen 507, 508, 512, 710 cortico-corticales Reentry 528 Corticosteron 70 Corticotropin (ACTH, adrenocorticotropes Hormon) 67, 68, 81, 108 Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) 67, 68, 76, 77, 79, 80, 81, 104, 107, 108, 109, 111, 120, 502, 891 Cortisol 37, 70, 73, 74, 76, 77, 79, 80, 81, 84, 85, 109, 120, 886 Cortisol-Rezeptoren 73 CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon, Corticoliberin) 67, 68, 76, 77, 79, 80, 81, 104, 107, 108, 109, 111, 120, 502, 891 C-Typ 53 cyclisches Adenosin-3’,5’-monophosphat (cAMP) 45 Cyclophosphamid 34, 35 Cytokine 63, 68, 70, 72, 74, 77, 85 Cytosin 687 cytotoxische Substanzen 64, 288 cytotoxische Wirkung 288

cytotoxische Zelle 63, 65 C-Zustände, Bewußtsein 528 Darm 37, 39, 60, 62, 113 Darmerkrankung 37, 113 Darwinismus 158, 161, 172, 173, 394, 407, 419, 499, 633 – neuronaler 374, 382, 503, 521, 708 Decarboxylase 289 Decortizieren 180 Defensivverhalten 206 Degeneration 246 – neuronale 338, 523, 524, 525, 533 Degeneriertheit 523, 524, 525 dehydriertes Cortisol 109 deklaratives Gedächtnis 104, 359 Delirium 240, 244, 253 Delta-Regel 278 Dementia – paranoides 174 – praecox 168, 176, 177, 178, 179 Demenz 168, 891 Dendrit(en) – apikaler 480 – basaler 480 dendritische Zellen 65, 66 Depolarisation, Membranen 50, 58 Deprenyl 289 Depression – Bahnung 118–120 – bipolare 98 – CRH-Hypothese 108, 109, 502, 891 – Diathese-Streß-Theorie 110, 118, 157, 686 – Entstehungsmodell 119, 145 – genetische Veranlagung 106, 107, 110, 117, 118, 120, 147 – Monoamin-Hypothese 109, 110, 502 – und Amygdala 105, 891 – und Dopamin 118 – und Glucocorticoide 111, 822 – und Hippocampus 104 – und Noradrenalin 109, 339, 822 – und Serotonin 117, 118, 122, 165 – und Streß 101, 104, 105, 106, 110, 111, 120, 157 Deprivation – emotionale 479, 482, 483 – soziale 479

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Desoxyhämoglobin 325 Desoxyribonucleinsäure (DNA) 319, 420, 448 Desynchronisation 359, 363 Detektoren 322 Detektorzelle für senkrechte Kanten 363 Determinismus 402, 407, 840, 843, 845, 861, 922, 923 – Neurodeterminismus 837, 840 Diabetes 37 Diagnostik 23, 29, 90 Diastole 40 Diathese-Streß-Modell 110, 118, 157, 686 Diencephalon (Zwischenhirn) 216, 293, 320, 326, 360 Differentialdiagnose 114 Differenzierung – Zellen 62, 64, 71 Differenzierungsfähigkeit, Zellen 62 Diskriminierungsaufgabe 217 Disposition – genetische 219, 254 Dissoziation – frontotemporale 216 DNA (Desoxyribonucleinsäure) 319, 420, 448 dominante Vererbung 288 Dominanz, Hemisphäre 327, 353 Dominanzsäulen, Neuronen 509 L-Dopa 45, 288, 289, 381 Dopamin (DA) – und Belohnung 105, 345, 482, 875, 920 – und Bewußtsein 503, 707 – und Depression 118 – und Glucocorticoide 105 – und Parkinson 283, 286, 287, 288, 289, 502, 829 – und präfrontaler Cortex 226, 227, 340, 341, 342, 343, 344, 507, 518, 666 – und Schizophrenie 216, 217, 220, 222–229, 320, 339, 340, 341, 343, 502, 666 – und Streß 105, 225 – und Traum 320 Dopaminagonisten 289 Dopaminantagonisten 220 Dopaminhypothese der Schizophrenie 222, 224, 227, 228 dopaminerges System 105, 224, 227, 229, 286, 287, 342, 381, 526, 686, 875

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Dopaminmangel 227, 286, 287, 289 Dopaminrezeptor(en) 220, 221, 222, 223, 226, 822 Dopaminsynapsen 106, 222, 223, 289 Doppelblindstudien 672 Doppelhelix, DNA 319 Dornsynapsen 480, 482 dorsale Raphe-Kerne 229 dorsale Sehbahn 346, 348, 349, 350, 508 dorsale Schleife 848 dorsolateraler präfrontaler Cortex 214, 287, 329, 668 dorsomedialer präfrontaler Cortex 214 Dosis – LD-50-Wert, Tierversuche 909 – Strahlendosis 323 D1-Rezeptor 220, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 289, 343 D2-Rezeptor 220, 221, 222, 223, 224, 225, 229, 239, 502 D4-Rezeptor 220, 222, 224, 225 Drogen 14, 183, 320, 339, 651, 652, 661, 665, 666, 676, 757, 806, 838, 892, 899 Druck 39 – Blutdruck 38, 39, 40, 42, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 60, 221, 415, 416, 675, 908 Druckschmerzhaftigkeit 78 Druckwelle, Bombe 899 Drüsen 67 – Purpurschnecken 158 – Thymusdrüse 63 Durchblutung 30, 39, 44, 77, 322, 323, 674, 892 Durchblutungsstörungen 44 dynamisches Kerngefüge 527, 529, 533 dynamisches Weltbild 772 Dynorphin 67 Echolalie 263 Echolot-Orientierung 297 EEG (Elektroencephalogramm) 359, 360, 363, 672 Effektororgan 48 Effektorsysteme 514, 515 Effektorzellen 64 efferente Faserverbindungen 509 efferenter Schenkel des Reflexbogens 87 Eigendrehung, Spin 323 Eigenschaftscluster 280

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Eigenwahrnehmung (Propriorezeption) 356, 526 Eingangsmuster 273 Eingangsneuronen 273 Eingangssignal 272 Eingeweide 39 Eingeweidesinn 47 Einheitszentrum 572 Eiweißstoffe 35, 63, 71, 72, 325, 686 Ekstase 651, 652, 653, 657, 671 elektrische Reizung 50 elektrische Stimulation 50, 115, 829 Elektroden 115, 350, 827 Elektroencephalogramm (EEG) 359, 360, 363, 672 Elektromyogramm (EMG) 827, 828 Elektronen 322 elektronische Netzwerke 269 Elektroschock 68, 104, 105 Elementarteilchen 395, 433, 626, 791 EMG (Elektromyogramm) 827, 828 Embryonalentwicklung 62, 281, 290, 395, 521, 823 emotionale Bedeutungsverleihung 667, 848 emotionale Konditionierung 923, 926, 933 empirische Säuglingsforschung 464 Encephalitis (Hirnhautentzündung) 380 Encodierung 255, 453, 479, 528 Endhirn (Großhirn, Telencephalon) 49, 179, 180 Endkerne, Hirnnerven 68 endokrine Systeme 80 Endokrinologie 32, 395 Endorphine 891 Energie 60, 67, 70, 72, 85 – Elektrische 775 – innere 775 Energieansammlungen 153 Energiebilanz 419, 427 Energieeinsparung 68, 70 Energieerhaltungssatz 396, 775 Energieform 775 Energiehaushalt 14 Energiereserven 38 Energieverbrauch 414, 482 Engramm(e) (Gedächtnisspuren) 191 Enkephalin(e) 355, 515 Ensembles von Neuronen 351, 364, 368, 369, 373, 374, 382, 383, 386, 393, 503, 505, 511,

520, 522, 523, 524, 527, 533, 701, 708, 830, 848, 927 entorhinaler Cortex 269, 342, 502, 506, 509 Entspannungsphase – Herz 39, 40 Entstehungsmodell einer Depression 119, 145 Entzug – Mutterentzug 905 – Schlaf 672 Entzündung(en) (Infektion) – entzündungsfördernde Substanzen 65, 72 – entzündungshemmende Substanzen 70, 71, 74 – Freisetzung von Substanz P 78 – Gelenkentzündung 76, 77, 78 – Hirnhautentzündung 380 – Lungenentzündung 25, 72, 476 – neurogene 78 – Neutrophile 61, 63, 70, 71 – Venenentzündung 515 – Virusentzündung 388 Enzym(e) 45, 106, 822 – Decarboxylase 289 – Monoaminooxidase 289, 919 – Proteinkinase 45 – Renin 46 – Tryptase 36 – Tyrosin-Hydroxylase 45, 51, 288, 919 Enzymaktivität 45 – MAO 289, 919 – Tyrosin-Hydroxylase 45 Eosinophile 61, 62, 65, 71 epigenetische Prozesse 161, 396, 823 Epilepsie 380, 665, 668, 669, 670, 671, 673, 676, 679, 680, 682, 683, 684, 757, 839 Epinephrin s. Adrenalin Epiphyse (Zirbeldrüse, Corpus pineale) 373 episodisches Gedächtnis 461, 518, 519, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 Erbanlagen 106, 288, 685, 686, 693, 871, 897, 899 erblich bedingt 253, 288 Erfahrungsmuster, Netzwerk 281 Ergänzungs- und Ersatzmethoden, Tierversuche 909 Ermüdung – neurasthenische 177 – Sehzellen 346

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Erregung – noradrenerge 57, 58 Erregungsmuster 353, 684 Erregungssystem 675 Ersatzmutter 903 Erythrocyten (rote Blutkörperchen) 34, 325 Eßanfälle 140 Eßstörungen 37 EXOR-Problem 275–277 explizites Gedächtnis 488, 509, 518, 713 extrapyramidales System 225, 286 Extrasystolen 40 Extrasystolie 113 exzitatorische Neuronen 506 exzitatorische Neurotransmitter 38, 50–51, 339, 515 exzitatorische Synapse 482, 515 exzitatorisches postsynaptisches Potential (EPSP) 368 Fallout, Atomwaffen 81 Farbeigenschaften, Zellen 61 Farbenblindheit 113, 423 Farbensehen 353, 354, 506, 673, 891 Farbflecken, Primaten 450 Farbhalluzinationen 651 Farbkonstanz 368 Farbqualia 355 Farbstoffe 61 Färbung, Golgi 270–271 Farbwahrnehmung 351, 352, 353, 363, 368, 369, 405, 414, 423, 425, 508, 523, 668, 673, 674 Fasern – absteigende 360 – afferente 509 – aufsteigende 360 – C-Faser 78, 515 – Efferente 509 – Geschmacksfasern 68 – reziproke 364 – Schmerzfasern 86, 328, 355, 429, 515 – visceroafferente 47 Feedback – negatives 58, 87, 109 – propriozeptives 459, 460 Feedback-Hemmung (negative Rückkopplung) 58, 109

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Feld (Area, Areal, Cortexareal) – s. Area, Cortex Fette 38 Fetus 107, 214 Fieber 400, 669, 690 figurales Neugedächtnis 287 Figur-Hintergrund-Relation 147 Filialprägung 480, 481, 483 Filterfunktion, Wahrnehmung 216 Filtermechanismus 385 Fixierung, Blick 450 Fledermaus 297 Fliegenpilz 651 Flugsimulator, Tierversuche 902 Flußkrebs 117, 120, 122, 446, 918 Formatio reticularis (Retikulärformation) 46, 332, 333, 335, 336, 362, 372; 413, 506 Formwahrnehmung 605 freie Radikale 288 Freisetzung – eines Positrons 321 – von ACTH 67, 108–109 – von CRH 80 – von Enkephalin 515 – von Glucocorticoiden 96 – von Histamin 36 – von Noradrenalin 38, 39, 40, 45–46, 58, 228 – von toxischen Substanzen 62 – von Transmittern 45–46, 58, 105 Frequenz 39, 40, 45, 47, 324, 360, 372, 379, 382, 384, 675, 908 Freßzellen 61, 63, 65, 70 frontaler Cortex 50, 214, 225, 335, 336, 350, 364, 267, 373, 413, 488, 506, 514, 520, 668 Frontallappen (Stirnlappen) – DA-System 286 – Entwicklung 497, 725, 488, 496, 501 – Handlungskontrolle 329, 360, 829, 848 917, 918, 920, 935 – Herzrhythmus 50 – und Bewußtsein 334, 335, 336, 340–344, 345, 350, 354, 355, 363, 364, 412, 503, 506–511, 514–516, 518, 519, 520, 525, 527, 531, 666, 708, 709, 848 – und Gewalttaten 918, 920, 935 – und Parkinson 286–287 – und Religiosität 668, 673, 675, 725 – und Schizophrenie 214, 215, 217

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Frontalhirn-Hypothese 917, 918, 920, 935 frontotemporale Dissoziation 216 Funktion – EXOR-Funktion 276–277 funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) 323, 320, 321, 323, 325, 326, 329, 348, 352, 422, 891, 916, 917 GABA (γ-Aminobuttersäure, GammaAminobuttersäure) 507 Gamma-Interferon 71 Gamma-Oszillationen 372 Gammaquanten 322 Gamma-«Tiere» 277, 444, 445 Ganglien 45, 308 – Basalganglien 215, 225, 286, 287, 342, 345, 421, 520, 525, 528–531, 829, 839, 848 – Paraganglien 86 Ganglion (-ia) 48 Gastritis 37 Gedächtnis – biographisches (episodisches) 388, 461, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 – s. a. Arbeitsgedächtnis – deklaratives 359 – explizites 488, 509, 518, 713 – implizites 368, 713 Gedankenentzug 169 Gelenke 76, 78, 526 Gelenkentzündungen 76, 77, 78 Gelenkerkrankungen 78 Gelenkschmerzen 78, 79 Gelenkschwellungen 74 Gene 45, 81, 106, 112, 113, 122, 124, 261, 268, 686, 687, 822, 919 – Gottes-Gen 687, 822, 919 – Verbrecher-Gen 919 Genese 147, 172, 290 – Krankheitsgenese 29, 32, 43, 147, 195 – Pathogenese 29, 43, 195 – Phylogenese 173, 821, 840 Genetik 13, 120, 211 genetische Blaupause, Gehirn 116 genetische Veranlagung – Alzheimer 822 – Autismus 264, 268, 281 – Depression 106, 107, 110, 117, 118, 120, 147

– Immunsystem 64 – Korsakow 822 – Parkinson 288 – Psychose 100, 147, 176 – Psychosomatik 29 – Schizophrenie 218, 219 Geniculatum s. Corpus geniculatum Genitalbereich 188 Genitalien 318 Genmanipulation 227 Genom 612, 685, 822 Genort 113 Genotyp 112 Geruchstäuschungen 666 Geschlechtschromosom 112 Geschlechtshormone – Östrogen 220, 221 Geschlechtsmerkmale 448 Geschlechtspartner 447 Geschlechtstrieb 432 Geschlechtsverhältnis, Autismus 265 Geschmack 35 Geschmacksfasern 68 Geschmackssinn 47 Geschmackstäuschungen 170, 666 Geschmackswahrnehmung 449, 450, 468, 479, 504, 617, 664, 674, 701 Geschwindigkeit, Neutrophile 61 geschwindigkeitsbestimmendes Enzym 45, 51 Gesichtererkennung 348, 363–364, 460, 489, 890 Gestaltwahrnehmung 278, 368, 375, 507 Gestik 200, 206, 338, 448, 476, 529, 531, 532, 555, 561, 578, 746 Gewebe 65, 71, 77, 78, 79, 109, 322, 324, 325, 404, 909 Gewebeflüssigkeit 77 gewichtete Eingaben, Nervenzellen 269–274, 276–278 Gewichtsregulation 709, 851 Gifte (Toxine) 62, 63, 64, 70, 84, 179, 226, 286, 288 Giftgas 537, 898, 899 glatte Muskulatur 38, 45, 46, 48, 67 Gleichgewicht – biochemisches 74 – präfrontaler Cortex und subcorticale Regionen 227, 343

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte – thermodynamisches 539, 846 Gleichgewichtsorgan 668 Gliazellen 71 globale Aktivitätszustände 708 globale Kartierung 525 globale Kategorien 486, 489, 490, 491, 521 globaler Arbeitsraum 310, 358 Globin 325 Globus 113 Globus pallidus 214, 215, 362 Glucocorticoide – Blockierung der Wirkung 111 – Depression 111, 822 – Feedback-Mechanismus 109 – Rezpetoren 106, 111 – Schädigung des Gehirns 111 – Streß 38, 67, 80, 104–105, 107, 108, 255, 823 – synthetische 109 Glucose 38, 321, 332, 333 gluonische Bindung 716 Glutamat 481, 507 Golgi-Färbung 270, 404 Granula, sekretorische 64 Granulocyten 61, 62, 64, 65, 71 Grau, periaquäduktales (Zentrales Höhlengrau) 48, 513, 526 graue Substanz 215, 332 Graugans 123, 124 Graupapagei 469, 543 Grippe 68, 72, 83, 704 Gyrus (-i) – angularis 519, 668, 753 – cinguli (cingulärer Cortex, BrodmannAreal) 49, 78, 215, 217, 329, 333, 334, 336, 374, 480, 482, 501, 506, 519, 510, 511, 520, 667 – dentatus 489, 519 – fusiformis 218, 352, 348, 353, 890 – parahippocampalis 509 – postcentralis 78, 360 Habituation 830 Hämatopoese 62 Hämoglobin 325, 326 Halbwertszeit 321, 323 Halluzinationen 339, 355, 425, 652, 666, 754, 757 – akustische 353, 652, 666, 668

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– auditorische 179 – bei Schizophrenie 170, 172, 173, 179, 182, 183, 215, 223, 263, 289, 839 – der Körperempfindungen 170 – drogeninduzierte 183 – epileptoide 14, 682 – Farbhalluzinationen 353, 364, 651 – visuelle 170, 353, 652, 666, 668, 753 Haloperidol 220, 221, 222, 223, 229 Harnausscheidung 46 Haube, Mittelhirn 226, 344 Haut 35, 36, 39, 65, 67, 70, 71, 77, 79, 80, 81, 349, 384, 385, 669, 671, 827, 828, 903 Hautflechte 35 Hautreaktion, allergische 35 Hautrötungen 79, 899 Hauttumore 81 Hautverletzungen 70 Hautzellen 71 Hebb – Lernregel 273, 311, 340, 368, 373, 505, 521 – Kriterien für Bewußtsein bei Tieren 311–312 Helferzellen 63–65, 70–74 Helicobacter pylori 32 Helix 319 Heroin 286 Herzrhythmusstörungen 49, 50 Heterosexualität 188 Heuschnupfen 36, 37 Hinterhauptslappen (Okzipitallappen) 329, 347, 348, 350, 367, 496, 519, 527, 673, 755 Hinterhorn (Cornu dorsale) 78 Hippocampus – Entwicklung 482, 488, 503 – Gedächtnisbildung 104 – und Angst 394, 517, 725 – und Autismus 269, 502 – und Bewußtsein 334, 342, 345, 363, 370, 372, 388, 503, 506, 509, 517, 518, 519, 531 – und Depression 104 – und Filialprägung 482 – und Gewalttäter 920 – und Immunsystem 86, 87 – und Glucocorticoide 111 – und religiöse Erlebnisse 667, 672 – und Schizophrenie 215, 216, 225, 226 – und Streß 51, 86, 104, 107, 111

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– und vorgeburtlicher Streß 107 Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) 67, 68, 70, 77, 81, 713 Hirnhautentzündung 380 Hirnnerven – VII. Hirnnerv 47, 68 – IX. Hirnnerv 47, 68, 416 – X. Hirnnerv 47, 68, 416 Hirnnervenkerne 46 Hirnstamm 45, 46, 47, 50, 68, 85, 225, 320, 326, 333, 342, 360, 370, 506, 509, 514, 520, 534, 725, 819, 845, 848, 874 Hirntod 330, 331 Histamin 36, 62, 77, 79, 221 HIV-Infektion 83, 926 Hoden (Testis) 899 Höhlengrau, zentrales (periaquäduktales Grau) 48, 513, 526 Hominiden 517, 560, 907 Homo – rudolfensis 626 – sapiens 476, 626, 701, 758, 901, 907 Homöopathie 21 Homöostase 415, 416, 511, 516, 526, 534, 540, 709, 851 Homosexualität 823, 939 Homunculus 416 Hörminderung 113 Hormone – ACTH (adrenocorticotropes Hormon, Corticotropin) 67, 68, 81, 108 – Aldosteron 46 – Cortisol 37, 70, 73, 74, 76, 77, 79, 80, 81, 84, 85, 109, 120, 886 – CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon, Corticoliberin) 67, 68, 76, 77, 79, 80, 81, 104, 107, 108, 109, 111, 120, 502, 891 – NA 68 – Östrogen 220, 918 Hormonkaskade – CRH-ACTH-Cortisol 81 Hormonsystem (endokrines System) 68, 84, 88, 416, 627, 847 hot spot 184 humorale Immunabwehr 63, 64, 80 Hund(e) 314, 375, 414, 469, 472, 487, 491, 494, 543 – als Kategorie 484, 486, 487

– Pawlow 34, 200, 926 – Todeskampf, Tierversuch 297 Hunger – Kohlenhydrathunger 113 Hydroxylase 45, 51, 288, 919 Hydroxylase-Gen 45 Hyperaktivität (ADHS, Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) 483, 907 hyperkomplexe Zelle 508 Hyperphagie 671 Hypersexualität 671 Hypertonie 46 Hypophyse (Hirnanhangdrüse) 67, 68, 70, 77, 81, 713 Hypothalamus – depressorische Zone 49 – und Bewußtsein 333, 360, 370, 520, 526, 534, 540, 848, 917 – und Blutdrucksteuerung 47 – und Gewaltdelikte 918 – und Herzrhythmus 50 – und Immunsystem 86, 87 – und NTS 47, 48, 86 – und religiöse Erlebnisse 667 – und Schizophrenie 225 – und Streßachse 47, 48, 67, 68, 77, 108, 109, 110, 513, 514, 848, 917 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System 77, 81, 87, 109, 110, 225, 513, 514, 917 Hypothese – CRH-Hypothese, Depression 108, 109, 502, 891 – Dopamin-Hypothese, Schizophrenie 222, 223, 225, 227, 228, 289, 666 – Frontalhirn-Hypothese 917 – Monoamin-Hypothese, Depression 109, 110, 502 – Synchronisationshypothese 364, 506, 708 Hypotonie 37, 49 Ig s. Immumglobuline Immunabwehr 34, 35, 60, 61, 62, 64, 66, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 80, 81 – spezifische 67, 847 – unspezifische 62 Immunantwort 34, 62, 63, 65, 67, 68

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Immunglobuline (Ig) 36, 65, 71 – IgE, Antikörper 65, 71, 77 IL s. Interleukine Immunkonditionierung 35 Immunologie 32, 395, 523 Immunreaktion 34, 35, 60, 74, 77, 78, 85, 86, 713, 847 Immunschwäche 34, 80 Immunsignalstoffe (Lymphokine) 71 Immunsuppression 70, 74 Immunsystem 13, 34, 35, 37, 60, 61, 62, 63, 67, 68, 70, 74, 75, 77, 79, 81, 84, 85, 86, 87, 91, 416, 417, 633, 710, 713 – Autoimmunerkrankungen 35, 74, 75, 76, 77, 80, 85, 86, 152 Immunzellen 62, 63, 64, 65, 66, 68, 416 implizites Gedächtnis 368, 713 Impuls – elektrischer 39 – Nervenimpuls 45 Impulserhaltungssatz 322, 396 Impulsfrequenz 45 Impulsrate 45 Infarkt 40, 44 Infektanfälligkeit 83 Infektionen 338 – bakterielle 70, 83 – Botenstoffe 85 – HIV 83, 926 – Salmonellen 83 – virale 70, 81, 118, 214 Infektionskrankheiten 72, 80, 84 inferiorer Parietallappen 674 Informatik 410, 415, 434 Informationsverarbeitung – Bottom-up- und Top-downProzesse 375 – bewußter, langsamer, kognitiver Modus 340, 341, 344, 355 – parallel, untergliedert, hierarchisch 508 – unbewußter, schneller, analoger Modus 341 inhibitorische Neurotransmitter 339, 362, 506 inhibitorische Schleife 529 Input 226, 272, 273, 275, 280, 281, 354 – externer 351, 370, 374, 520, 540, 543 – interner 370, 527, 534, 540 Inputeigenschaften 280 Inputmuster 280

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Inputneuron 270, 275, 276, 278 Inputschicht 270, 271, 273, 274, 276, 278 Insel (Insula, insulärer Cortex, Inselrinde, Inselcortex) 49, 215 Insekt 300, 302, 303, 307, 308, 309, 313, 314, 347, 350, 387, 420, 441 Instinkte 24 Instinkthandlungen 295, 296, 300, 303, 343, 376, 441, 627 Interferone 70, 71 Interleukine (IL) 63, 68, 74, 81, 412, 847 – Interleukin 1 (IL-1) 71, 72, 74, 75, 76, 77, 81, 85, 86 – Interleukin 2 (IL-2) 70, 71, 72, 73, 74, 76, 81 – Interleukin 3 (IL-3) 71 – Interleukin 4 (IL-4) 70, 71, 77 – Interleukin 5 (IL-5) 71 – Interleukin 6 (IL-6) 71, 75, 76, 81, 86 – Interleukin 10 (IL-10) 70 – Interleukin 12 (IL-12) 70, 76, 81 intermodal 467 Interneuron(e) 355, 515 intralaminäre Kerne 334, 361 intrathalamischer Regelkreis 362 intravenös 288 introspektives (sekundäres, reflexives) Bewußtsein 312, 440, 495, 503, 520, 529 Invertebraten 376 Ischämie 44 Isotope 321 Kaffee 892 Kaliumionen 58 Kaliumionenkanäle 58 Kalk 857, 858 Kalkstein 857, 858 Kapazität 359, 420 Karten, Gehirn 273, 274, 322, 523, 525 Kaspar-Hauser-Experimente 479, 902–905 Kaspar-Hauser-Kinder 261, 584 Katecholamine (Catecholamine) 38, 80 Katze 280, 366, 367, 368, 372, 375, 427, 449, 469, 487, 491, 494, 545, 555, 556, 592, 901, 931 – als Kategorie 484, 486, 487 Kerne/Kerngruppen (Nucleus/i) – Hirnnervenkerne 46 – intralaminäre Kerne 334, 361

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– Locus coeruleus 50, 51, 58, 67, 105, 113, 227, 229, 286, 336, 342, 344, 345, 362, 363, 506, 529, 530, 651 – motorisches Kerngebiet, Hirnstamm 46 – Nucleus accumbens 225, 226, 342, 345, 482, 520, 875 – Nucleus basalis Meynert 286 – Nucleus caudatus 225, 829 – Raphe-Kerne 105, 229, 286, 287, 336, 362, 482, 506, 918 – Relaiskerne des Thalamus 360, 361, 362 – Solitariuskernkomplex 47, 50, 68, 86, 416 – thalamische 360, 361, 362 – Vaguskern 47, 50, 68, 85, 86, 87 – Zellkern 45 Kernenergie 910 Kernspin 324, 325, 326 Kernspintomographie (MRT) 323, 325, 890 – funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) 323, 320, 321, 323, 325, 326, 329, 348, 352, 422, 891, 916, 917 Kernumwandlung 322 Killerzellen – cytotoxische 63, 64, 65, 72, 73, 74, 76 – natürliche (NK) 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 81, 82 Kinasen (Proteinkinasen) 45 Kindling 115, 671 Kleinhirn (Cerebellum) 293, 421, 525, 528, 529, 832 klonale Deletion 75 Klone 64, 72 Kniehöcker s. Corpus geniculatum Knochenmark 61, 62, 65, 70 kognitive Fähigkeit – DA und NA 227 kognitiver, bewußter, langsamer Modus 86, 226, 228, 340, 341, 344, 355 Kohlenhydrate 113 Kohlensäure 858 Kohlenstoff 323 Kohlenstoffdioxid 857, 858 Kohonen-Netzwerk 270–274 Kohonen-Schicht 270–274 Kokain (Cocain) 110 Kommentkämpfe 446 Kommunikation – zwischen Gehirn und Immunsystem 79, 85, 86

Konditionierung 34–36, 167, 713, 916, 923, 925, 926, 927, 933 – Angstkonditionierung 505 – Gegenkonditionierung 925–926 – kontextuelle 505 – operante 297, 299, 315 – Pawlowsche 32, 200, 926 Kontraktion – Extrasystole, Herz 40 – Muskel 829 – Systole, Herz 39 konvergente Repräsentation 510 Konvergenzmodell 504 Konvergenzstufen 512 Konvergenzzonen 507, 508, 509, 510, 511, 514, 515, 519, 520, 710 Koordination von Informationen, präfrontaler Cortex 229, 230 Koordinationsstörungen – Hirnstamm 46 – präfrontaler Cortex 229, 230 körpereigene Zellen 61, 63, 64, 65, 71, 72, 81 körperfremde Zellen 71 Körpergewicht, Regulation 47 Körperschlagader 47 Korsakow-Syndrom 290, 822 Kortex s. Cortex Krampfzustände 658, 908 Krebs 25, 37, 64, 80, 81–83, 90, 94, 81, 82, 304, 633, 896, 897, 899 Kreislauf, biologisch 38, 40, 43, 44, 46, 47, 51, 52, 72, 81, 113 Kreislaufstörung 43, 81, 113 Kreislaufzentrum 46, 47 künstliche Intelligenz 269, 380, 889, 896 Kurzzeitgedächtnis 217, 488 Kybernetik 13, 199, 356, 415, 416 langsame Immunabwehr 62, 67, 73, 86 langsame (kognitive, bewußte) Informationsverarbeitung 86, 226, 228, 340, 341, 344, 355 langsame Schmerzleitung 78, 86 Langzeitgedächtnis 255, 420, 436, 471, 488, 509, 516, 520, 531 Läsion(en) 216, 331, 332, 334, 348, 350, 673, 674, 900, 912 Läsionsforschung 334, 348, 900, 912 – bei Affen 216 lateralisierte Bereitschaftspotentiale 833, 834

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Lateralisierung 327, 484 L-Dopa 45, 288–289, 381 Leber 37, 38, 60, 730 Leitfähigkeit 349 Lernen – assoziatives 34, 352 – Deutero-Lernen 201 – Imitationslernen 263, 359 – implizites 368 – kompetitives 273, 274 – Lernen I und II, Bateson 201 – prozedurales 528 Leukocyten (weiße Blutkörperchen) 61, 62, 64, 73 Lewis-Ratten («Tiermodell» für Polyarthritis) 76 limbisches System 67, 78, 86, 216, 225, 294, 329, 335, 342, 362, 363, 369, 372, 394, 479, 481, 482, 483, 488, 501, 511, 514, 515, 516, 519, 667, 673, 675, 725, 829, 830, 840, 848, 849, 873, 874, 917 Lipopolysaccharide 85 Liquorgängigkeit – von L-Dopa 289 Lithium (Li+-Ion) 115, 116 Lithiumchlorid (LiCl) 115, 116 Locus coeruleus (himmelblauer Ort) 50, 51, 58, 67, 105, 113, 227, 229, 286, 336, 342, 344, 345, 362, 363, 506, 529, 530, 651 Locked-in-Syndrom 331, 336, 337, 338 longitudinale Relaxationszeit 325 LSD (Lysergsäurediethylamid) 345, 353, 380, 421, 651, 892 Lunge(n) 35, 38, 39, 60 Lungenentzündung 25, 72, 476 Lungenkrebs 304 Lupus erythematodes 35, 76 Lustzentren, Gehirn 286, 875 lymphatische Organe 64, 65 lymphatisches System 67 Lymphe 64, 65 Lymphflüssigkeit 63 Lymphknoten 35, 64, 67 Lymphocyten 62, 64, 68, 70, 74 – B-Lymphocyten 62, 63, 64, 65, 70, 72, 73, 74, 75, 77, 81 – T-Lymphocyten 63, 64, 70, 72, 73, 74, 75, 76 lymphoide Stammzellen 62

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Lymphokinausschüttung 65 Lymphokine 71 lymphoretikuläres Organ, Vögel 62 Lysergsäurediethylamid (LSD) 345, 353, 380, 421, 651, 892 Magen 37, 460 Magengeschwüre und Streß 32, 37, 60, 113, 143 Magenkrebs 37 Magenulcus 32 Magenschleimhaut 32 Magersucht (Anorexia nervosa) 93, 130, 185, 257, 852 Magnetfeld 324, 325, 326, 672 magnetisches Moment 323, 324, 325, 326 Magnetresonanztomographie (MRT) 214, 215, 323 – funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) 323, 320, 321, 323, 325, 326, 329, 348, 352, 422, 891, 916, 917 Makaken 226, 315, 318, 352, 448, 493, 543, 907 – s. a. Affen Makrophagen 61, 63, 65, 71, 72, 74, 76, 81, 85, 86 Malaria 86, 259 Mandelkern (Amygdala) – Angst- und Schutzstarre 49, 104 – und Angst 105, 328, 345, 357, 394, 429, 504, 513, 514, 517, 725, 848, 873, 891, 916, 917, 920 – und Autismus 269, 502 – und Bewertungssystem 363, 370, 509, 522 – und CRH 67, 104, 891 – und Depression 105, 891 – und Dopamin-Rezeptoren 225 – und Gewaltdelikte 918, 920 – und Herzjagen 50 – und Hippocampus 342, 394, 517, 518, 519, 667, 672, 713, 725, 920 – und Hirnentwicklung 482, 502 – und limbisches System 67 – und Nahtoderfahrungen 757 – und präfrontaler Cortex 50, 226, 342, 345, 363, 514 – und Schizophrenie 214, 215, 218, 225 – und Streßachse 67, 104

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– und Temporallappen-Epilepsie 671 – und Testosteron 918 Mangelversorgung, Gehirn 53, 753, 757 Manie 101, 102, 104, 106, 112, 114, 115, 116, 132–135, 137, 150–152, 191, 228, 244, 822, 838 MAO (Monoaminoxidase) 289, 919 MAO-Hemmer (MonoaminoxidaseHemmer) 109, 110, 289 Mastzellen 36, 62, 65, 79 Maus – Tierversuche 35, 64, 81, 83, 85, 86, 227, 482, 910 medialer Temporallappen 215, 509 mediotemporales Areal (MT) 365 Medulla oblongata (Verlängertes Mark, Nachhirn) 46, 47, 50, 86, 225, 332, 416 Meeresschnecke (Aplysia californica) 226, 274, 340, 368, 706 Meerschweinchen 481 Membran(en), Zelle 58, 64, 109, 418, 628 mentale Wahrnehmungsstörung 268 Mesencephalon (Mittelhirn) 48, 226, 326, 332, 334, 338, 342, 344, 513 mesolimbische Areale 225 mesolimbisches Belohnungssystem 873 Metabolismus 222 Methylgruppe 109 1-Methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin (MPTP) 286 Meynertscher Basalkern 286 Migräne 380, 423, 755 Milch 300, 462 Milchvieh 130 Milz 35, 39, 64, 67 Mittelhirn (Mesencephalon) 48, 226, 326, 332, 334, 338, 342, 344, 513 Modelle – Diathese-Streß-Modell 110, 118, 157, 686 – Konvergenzmodell 504 – MPTP-Modell, Tierversuch 288 – Netzwerkmodelle 262, 269 Module, neuronale 13, 353, 354, 355, 363, 364, 369, 373, 375, 382, 420, 453, 503, 505, 507, 710, 848 – Gott-Modul 668, 671 Monoamine 109, 110, 229, 230, 289, 506, 507, 686, 822

Monoamin-Hypothese, Depression 109, 110, 502 Monoaminoxidase (MAO) 289, 919 Monoaminoxidasehemmer 109, 110, 289 Monoamin-Transporter 686, 822 Monocyten 61, 62, 63, 65, 71 monosynaptischer Reflexbogen 706 Monotremata 328 Morbus – Alzheimer 289, 339, 388, 610, 822, 896, 907 – Parkinson 261, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 339, 381, 502, 504, 610, 829, 907 Morphium 89 Motivationales System 465 Motivationskonflikt 299 Motivationszustand 415, 515, 516, 712 Motorik 113, 170, 264, 265, 286, 294, 469 motorische Karte der Körperoberfläche 525 motorische Kerngebiete 46 motorisches Bereitstellungspotential 832 motorisches Gedächtnis 460 motorisches System 525 MPTP 286, 288, 289 multimodal 674 Multiversen 411 Muskel 30, 39, 56, 67, 338, 459, 500, 828, 829 – Herzmuskel 39, 44, 56, 57, 58 Muskelaufbau, Anabolika 896 Muskelbewegung 33 Muskelerkrankung, rheumatische 78 Muskelschmerzen 79 Muskelsteifheit 229 muskuläre Verspannung 113 Muskulatur 36, 284 – Gefäßmuskulatur 44, 45, 46 – gestreifte 459 – glatte 38, 45, 46, 48, 67 – Herz 39, 44, 57, 58 – Skelettmuskulatur 39 – Willkürmuskulatur 30, 31, 210, 211, 459 Muster – Ausgabemuster (Outputmuster) 278 – Eingangsmuster 273 – Eingabemuster (Inputmuster) 273, 274, 280 Mutation 352, 393, 407, 493 Mutterkornalkaloide 289 Myelinisierung 488, 499

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte NA (Noradrenalin) – Agonisten von NA 109 – als Hormon 44, 68 – NA-Wiederaufnahmehemmer 109, 110 – präfrontaler Cortex 50, 51, 58, 228, 229, 341, 343, 344, 345, 507, 514, 666 – Rezeptoren 38, 57, 58, 67, 106, 227, 228 – sympathisches Nervensystem 38–39, 40, 42, 45, 46, 67 – Synthese 45, 46, 51 – und Bewußtsein 320, 345, 362, 385, 507, 514, 529, 530, 707 – und Depression 109, 339, 822 – und Gewaltbereitschaft 918 – und LSD 345, 651 – und Schizophrenie 227, 339, 341, 342, 666, 822 – und Streß 37, 40, 42, 45, 51, 67, 105, 228, 339, 416, 514, 516 – und Traum 320, 362 Nachahmungslernen 359 Nahrung 300, 301, 302, 303, 313, 314, 315, 317, 332, 469, 479, 515, 516, 596, 801, 851, 852, 876, 910, 911 Nahrungserwerb 313, 332, 387, 429 Nahrungskette 911 Nahrungskonkurrenten 911 Nahrungsverweigerung 908 natürliche Killerzellen (NK) 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 81, 82 Nebennieren 70 – chromaffine Zellen 38, 416 Nebennierenmark 37, 38, 44, 67, 416 Nebennierenrinde 37, 46, 77, 81, 87, 108, 109, 110 Nebenwirkungen 222, 225, 229, 289 negative Rückkopplung 58, 87, 109 negatives Synapsengewicht 276 Neocortex (Cortex cerebri, Isocortex) 294, 347, 363, 484 Nervenbahnen – absteigende 47, 48, 50, 355, 360, 515, 710 – Angstbahn 357, 359 – aufsteigende 47, 416 – Assoziationsbahn 215, 217 – dorsale Bahn, Wo-Bahn 348, 349, 350, 351, 508

– – – – – – –

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dopaminerge 225, 227, 286 noradrenerge 50 Projektionsbahnen (-fasern) 50 reentrante Bahnen 540 Schmerzbahn 86, 328, 355, 429, 515 Vagusnerv 46, 47, 68, 85, 416 ventrale Bahn, Was-Bahn 348, 349, 350, 351, 353, 363, 364, 508 Nervenendigungen 45, 58, 77 Nervenfasern 48, 78, 226, 338, 342, 344, 352, 360, 382, 416, 429, 482 Nervengase 517, 537 Nervengift 226, 517, 537 Nervenimpulse 45 Nervenleitungen 50 Nervenstränge 47, 50 Nervensystem – autonomes (vegetatives) 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 – Evolution 274 – extrapyramidales 286 – neuroplastische Veränderungen 78 – parasympathisches 49 – peripheres 42, 58, 309, 338, 540, 713, 850, 901 – Strickleiternervensystem 308, 309 – sympathisches 35, 38, 42, 44, 47, 49, 51, 53, 58, 60, 67, 75, 79, 83, 105, 308, 309, 513, 848 – vegetatives (autonomes) 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 – Wechselwirkung mit Immun- und Hormonsystem 68, 84, 87 – zentrales 34, 35, 37, 45, 78, 85, 86, 303, 306, 308, 309, 320, 338, 340, 341, 395, 401, 412, 418, 420, 421, 540, 543, 713, 714, 850, 889, 896, 897, 901 Nervenwachstumsfaktor, BDNF 104, 106, 111, 822 Nervus (-i) – VII. facialis 47, 68 – VIII. vestibulocochlearis – IX. glossopharyngeus 46, 47, 68, 416 – X. vagus 46, 47, 68, 416 Nest 299–304, 441 Netzhaut (Retina) 348, 755 Netzhautkarte 523 Netzwerk – Kohonen- 270–274

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– neuronale 13, 262, 270, 273, 278, 279, 281, 420, 506, 512, 525, 560, 708, 716, 889 – semantische 217 – zweischichtiges 275–276, 279 – dreischichtiges 276–277, 279, 280 – Zufallsnetzwerke 411 Netzwerkmodell 269 neurale Karte (corticale Repräsentation) 273, 274, 322, 523, 525 neuroaktive Peptide 686 neurodegenerative Erkrankungen 338 neurogene Entzündungen 78 neurogene Hypertonie 44 neurogene Sympathicusaktivierung 42 Neurogenese im Gehirn – Wachstumsfaktoren (BDNF) 104, 106, 111, 822 Neuroleptika 215, 221–225, 229 Neuromodulatoren 118, 219, 220, 227, 320, 340, 342, 344, 412, 502, 503, 506, 507, 520, 522, 666, 710, 892 neuronale Gruppenselektion, Theorie der (TNGS) 519, 521, 522, 523, 524, 525, 526, 527, 533, 534 neuronale Module 13 neuronale Netzwerke 13, 262, 270, 273, 278, 279, 281, 420, 506, 512, 525, 560, 708, 716, 889 neuronale Plastizität 78, 213, 504, 505, 506, 507, 510, 512, 514, 823 neuronaler Darwinismus 374, 382, 393, 499, 503, 521, 708 neuronale Schaltkreise 335, 341, 483, 499, 506, 521, 522, 523, 524, 525 Neuropeptide 67, 78, 717, 892 – Beta-Dynorphin 67 – Neuropeptid Y 45 – Substanz P 77, 78 Neuroplastizität 78, 213, 504, 505, 506, 507, 510, 512, 514, 823 Neuropsychologie 87, 671 Neurotoxin(e) 286, 288 Neurotransmitter 38, 68, 107, 108, 110, 117, 118, 121, 219, 227, 283, 286, 288, 320, 323, 329, 339, 342, 385, 412, 418, 502, 503, 504, 506, 518, 612, 666, 684, 687, 706, 713, 822, 892, 918, 919 – s. a. Acetylcholin, Adrenalin, Dopamin, Noradrenalin, Serotonin etc.

neurotropher Faktor 104, 111 Neutrophile (neutrophile Granulocyten) 61, 63, 70, 71 nicht-gestreßte Tiere 83 nicht-konditionierte Tiere 34, 35 Nicotin 38, 823 Nicotinabhängigkeit 38 NK (natürliche Killerzellen) 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 81, 82 NMDA-Rezeptoren 481, 756 NMDA-Synapsen 373, 709 NO (Stickstoffmonoxid) 756 Non-REM-Schlaf 360, 352 Noradrenalin (NA, Norepinephrin) – Agonisten von NA 109 – als Hormon 44, 68 – NA-Wiederaufnahmehemmer 109, 110 – präfrontaler Cortex 50, 51, 58, 228, 229, 341, 343, 344, 345, 507, 514, 666 – Rezeptoren 38, 57, 58, 67, 106, 227, 228 – sympathisches Nervensystem 38–39, 40, 42, 45, 46, 67 – Synthese 45, 46, 51 – und Bewußtsein 320, 345, 362, 385, 507, 514, 529, 530, 707 – und Depression 109, 339, 822 – und Gewaltbereitschaft 918 – und LSD 345, 651 – und Schizophrenie 227, 339, 341, 342, 666, 822 – und Streß 37, 40, 42, 45, 51, 67, 105, 228, 339, 416, 514, 516 – und Traum 320, 362 Notfallreaktion 38, 44, 67, 228, 343, 848, 918 Nozizeptoren 78 NPY (Neuropeptid Y) 45 NTS (Nucleus tractus solitarii) 47, 48, 50, 416 Nucleus (-i) – Hirnnervenkerne 46 – intralaminäre Kerne 334, 361 – Locus coeruleus 50, 51, 58, 67, 105, 113, 227, 229, 286, 336, 342, 344, 345, 362, 363, 506, 529, 530, 651 – Nucleus accumbens 225, 226, 342, 345, 482, 520, 875 – Nucleus basalis Meynert 286 – Nucleus caudatus 225, 829 – Raphe-Kerne 105, 229, 286, 287, 336, 362, 482, 506, 918

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte – Relaiskerne des Thalamus 360, 361, 362 – reticularis thalami 362 – Solitariuskernkomplex 47, 50, 68, 86, 416 – thalamische 360, 361, 362 – Vaguskern 47, 50, 68, 85, 86, 87 – ventralis posterior 360 – ventralis posteromediales 360 Nucleotidbasen 523 Objektagnosie 349, 350 Occipitallappen (Okzipitallappen, Hinterhauptslappen) 329, 347, 348, 350, 367, 496, 519, 527, 673, 755 Ödeme 79 Ohrenschmerz 113 Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) 329, 347, 348, 350, 367, 496, 519, 527, 673, 755 olfaktorische Kommunikation 202, 892 olfaktorische Wahrnehmung 505, 507, 508 Onkologie 82, 83 Ontogenese 821, 840 operante Konditionierung 297, 299, 315 Opiate/Opioide 227, 756 Opium 221 optische Ataxie 349 optische Kommunikation 202 optische (visuelle) Wahrnehmung 327, 346, 347, 348, 349, 350, 353, 354, 359, 360, 366, 373, 380, 381, 382, 394, 452, 453, 454, 504, 505, 507, 508, 510, 512, 707, 713, 838 orale Verabreichung, Dopamin 288 orbitofrontaler Cortex 214, 329, 515, 917 Organisationshöhe 13, 716 Organtransplantationen 35 Osteoporose 81 Östrogene 220, 221, 918 Östrogenproduktion, Abfall 220 Oxytocin 886 Pädophilie 913 PAG (periaquaeductales Grau, Zentrales Höhlengrau) 48, 513, 526 Paleostriatum Pallidum (Globus Pallidus) 214, 215, 362 Panik 123, 143, 144, 194, 195, 197, 206, 343, 513, 850, 911 Panikattacke 49, 58, 80 Paraganglien 86 Parahippocampus 214, 215

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Paraldehyd 221 parallele Verarbeitung 13, 505, 506, 507, 508, 510, 514, 516, 520, 521, 710, 713, 847, 848 Parasiten 63, 65, 428, 448 Parasympathicus 49 Parietallappen (Scheitellappen) 324, 333, 334, 348, 349, 350, 365, 367, 370, 498, 509, 519, 520, 525, 527, 529, 668, 673, 674, 675, 676, 725, 753, 826 Parkinson-Erkrankung 261, 283–289, 504, 610 Parkinson-Syndrom 261, 284–285, 287, 339 – Bewegungsarmut 284–285 – L-Dopa 288–289, 381 – dopaminerge Systeme 283, 286–289, 502, 829 – MPTP-Modell 286 – Tierversuche 286, 907 Pawlowsche Konditionierung 34, 200, 926 Penicillin 900 Peptide 72, 75 – Angiotensin II 46 – artfremde 68, 75 – neuroaktive 686 – Neuropeptide 67, 78, 717, 892 – Neuropeptid Y 45 – Substanz P 77, 78 Perforin(e) 64 periaquaeductales Grau (Zentrales Höhlengrau) 48, 513, 526 peripheres Nervensystem (PNS) 42, 58, 309, 338, 540, 713, 850, 901 Peripherie, Körper 85, 86, 87 PET (Positronen-Emissions-Tomographie) 320, 321, 322, 323, 326, 327, 329, 332, 333, 334, 351, 918 Peyote-Kaktus 651 Phagocyten (Freßzellen) 61, 63, 64, 65, 70 Phagocytose 61, 64 Phantomschmerz 125 Phase – sensible 479, 499 – Systole und Diastole, Herz 39–40 Phasenkohärenz 324, 325 Phenothiazinderivat 223–224 Phenothiazine 220, 222 Phosphorylierung 45, 51 Phylogenese 173, 821, 840 Pilze, Parasiten 65

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Placebo 35, 36, 75, 88, 89, 633, 634, 713 Placebokonditionierung 35 Placebotherapie 36, 633, 634, 713 Placenta 107, 823 Placentalia 328 Planum temporale 498 Plaques 44 Plasmazellen 64, 65, 71, 72, 74 Plastizität, neuronale 78, 213, 504, 505, 506, 507, 510, 512, 514, 823 Polarisation 309 Polyarthritis (Gelenkrheumatismus) 76–77, 87, 633 – s. a. neurogene Entzündungen polymodale Wahrnehmung 451 Pons (Brücke) 332, 338, 362 positive Rückkopplung 78, 79 Positronen-Emissions-Tomographie (PET) 320, 321, 322, 323, 326, 327, 329, 332, 333, 334, 351, 918 postencephalitisches Syndrom 380, 381, 382 posteriorer parietaler Cortex 509, 519 posteriorer superiorer Parietallappen (PSPL) 674, 675 postganglionäres Neuron 38, 42, 45, 46, 48, 79 postsynaptische Membran 58, 222 posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatisches Streß-Syndrom) 58, 75, 76, 98, 258, 516, 872 Potential – Aktionspotential 360 – Bereitschaftspotential 826, 827, 828, 829, 831, 832, 833, 834 präfrontaler Cortex 50, 51, 214, 216, 217, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 287, 329, 333, 334, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 347, 354, 355, 363, 374, 496, 501, 503, 506, 507, 508, 509, 510, 514, 516, 518, 519, 527, 531, 666, 668, 675, 708, 709, 725, 847, 848, 849, 874, 875, 917, 918, 920, 935 präganglionäres Neuron 38, 45, 46, 47 prämotorischer Cortex 833 Prägung 479, 480, 481, 483, 521 – Filialprägung 480, 481, 483 primärer visueller Cortex (V1, Area striata, Streifencortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 primärer auditorischer Cortex (primäre Hörrinde) 334

primäres Bewußtsein 295, 312, 316, 332, 338, 370, 371, 374, 388, 440, 495, 496, 503, 520, 526, 527, 529, 531, 534, 535, 540, 559, 571, 604 Primaten – Evolution 328, 341, 395, 517, 539, 626, 711 – Tierversuche 286, 317, 479, 906–907 – und Bewußtsein 298, 317, 319, 443, 470, 471, 476, 499, 517, 530, 531, 577, 700, 875 – s. a. Affen Priming 118, 120, 496 Progesteron 111 Progesteronrezeptoren 111 Projektionen 229, 287 Projektionsbahnen 50 Proliferation 67, 72, 73, 76, 81, 847 Propriozeption 455, 459, 460, 516, 526, 534, 540 Prosopagnosie 348, 349 Proteine 63, 71, 75, 686, 822 Proteinkinase(n) 45 Proton 321, 323, 716 Prototheria 328 Protozelle 395, 420 prozedurales Lernen 528 Psyche – und Immunsystem 32, 60, 75, 81, 84, 85, 86 – und Körper 26, 27, 32, 50, 87, 96, 290 – und Krankheit 33, 34, 37, 79, 84, 85, 86, 87, 96 – und Krebs 81 Psychedelika 345, 652, 665, 838 Puls 731 Pulsdruck 40 Purinbase 687 Purpurschnecke 158 Pyramidenzelle(n) 216, 227, 343, 373, 708 Pyrogen 85 Qualia 354, 355, 527, 533 Quantenphysik 380, 411, 433, 711, 796, 797, 808, 855, 856 Quecksilbersäule 39 Radioaktivität 81, 321, 322, 323, 899, 902 Rangordnung, soziale Dominanz 123

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Raphe-Kerne (Ncll. Raphes) 105, 229, 286, 287, 336, 362, 482, 506, 918 Ratte(n) – Tierversuche 34, 35, 68, 70, 76, 77, 83, 104, 105, 107, 220, 311, 478, 479, 482, 633, 823, 906, 910 – und Bewußtsein 311, 375, 507, 901 Rauwolfia serpentina 221 Reflexbogen 86, 87 Reflex(e) – Aggressionsreflex 14 – Barorezeptorreflex 47, 48 – Totstellreflex 49, 104 – unbedingter 34 Reentry 364, 365, 370, 521, 523, 528 Regelkreis 38, 75, 87, 362, 709, 710, 851 Regeneration 30 Regulation 26, 45, 47, 68, 74, 76, 110, 229, 362, 534, 709, 710, 851 – Selbstregulation 415 Reiz(e) 40, 114, 226, 228, 332, 334, 340, 341, 346, 350, 354, 355, 369, 374, 383–385, 387, 405, 447, 455, 479, 480, 481, 486, 496, 505, 511, 553, 595, 671, 674, 825, 849 – Brechreiz 225, 229 – externer Reiz 341, 351, 370, 374, 422, 520, 527, 533, 540, 543, 674 – fluchtauslösende 123 – interner Reiz 370, 520, 527, 534, 540, 674 – Juckreiz 77, 79 – schmerzhafte 51, 334 – spezifische 121 Reiz-Reflex-Schema 595, 691, 698 Reizung 51, 384, 385, 668, 753, 828, 829 Relaiskerne des Thalamus 360, 361, 362 Relativitätstheorie 153, 841 Relaxationszeit 325, 326 Releasing-Hormone 76, 79 Remission, spontane 83, 90 REM-On-Neuronen 229, 362, 506 REM-Off-Neuronen 362, 506 REM-Phasen 230, 327, 345 REM-Schlaf 326, 359, 362,506, 847 Renin 46 Repräsentation – bewußte 312, 359, 363 – corticale 78, 273, 673

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– innere (interne) 347, 369, 371, 376, 400, 462, 503 – konvergente 510 – mentale 312, 316, 489 – Metarepräsentation 266, 268, 269, 369–370, 561 – neuronale 351 – neurale Karte 273, 274 – Objektrepräsentation 487, 541 – Selbstrepräsentanz 541 Reproduktionserfolg 298, 798 Reserpin 221 Resistenzgene 448 Retikulärformation (Formatio reticularis) 46, 332, 333, 335, 336, 362, 372; 413, 506 retikuläres Aktivierungssystem, aufsteigendes, ARAS 362, 372, 526 Retina (Netzhaut) 348, 486, 523, 696, 755 retrograde Amnesie 388 reuptake (Wiederaufnahme) 109 Rezeptor(en) – adrenerge 38, 57, 120 – Alpha-1-Rezeptor 38, 39, 227 – Alpha-1b-Rezeptor 227, 228, 229, 343 – Alpha-2-Rezeptor 58 – Antigenrezeptor 64 – Autorezeptoren 58, 109 – Barorezeptor 46, 47, 48 – Beta-Rezeptoren 38, 39, 57, 58, 120 – Beta-1-Rezeptor 57 – Beta-2-Rezeptor 57, 58 – Cortisolrezeptor 73 – CRH-Rezeptor 111 – Dopaminrezeptor 106, 220, 221, 222, 482 – D1-Rezeptor 220, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 289, 343 – D2-Rezeptor 220, 221, 222, 223, 224, 225, 229, 239, 502 – D4-Rezeptor 220, 222, 224, 225 – Glucocorticoide 106 – NMDA-Rezeptor 481, 756 – noradrenerge 38, 57, 58, 106, 109 – Progesteron 111 – Serotoninrezeptor 106, 109, 110, 224, 229, 482 Rezeptorblocker 111 reziproke Assimilation 454 reziproke Innervation 364, 365, 376, 523, 525, 526, 529, 533, 534

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

reziproker Signalaustausch 521 Rhesusaffe 902, 903, 905 – s. a. Affen Rheuma 78, 423 rheumatoide Arthritis 76, 78 Rhythmen – Arrhythmie 49, 50 – Herz 39, 49 – Herzrhythmusstörungen 49, 50 – Schlaf-Wach-Rhythmus 105, 111 – Sinusrhythmus 39 Riechen 202, 290, 504, 505, 507, 892 Riechhirn (Rhinencephalon) 509 Riesenfreßzellen 61 Rigor (Steifheit), Parkinson-Syndrom 284 rote Blutkörperchen (Erythrocyten) 34, 325 Rötelerkrankung 268 Rückenmark (Medulla spinalis) 38, 46, 47, 48, 78, 328, 418, 420, 428, 429, 515 Rückkopplung (Feedback) 29, 46, 58, 87, 109, 222, 290, 364, 412, 426, 459, 460, 514, 539–540 – negative 58, 87, 109 – positive 78, 79 – propriozeptives 459, 460 Rückkopplungssignal 222 Rückkopplungsschleife 353, 417, 421, 700, 710 Rückmeldung, Fehler 278 Rückwärtshemmung (Feedback-Hemmung) 58, 109 Ruhetremor, Parkinson-Syndrom 284 Ruhezustand 39, 284, 321, 323, 327 Saccharin 34, 35 Sauerstoff 14, 44, 321, 323, 325, 326, 668, 672, 753, 755, 756, 757 Sauerstoffmangel 332, 668, 672, 756 Sauerstofftransport, Blut 325, 326 Schaltkreis(e), neuronale 47, 117, 205, 213, 217, 287, 335, 341, 483, 499, 506, 521, 522, 523, 524, 525 Scheitellappen (Parietallappen) 324, 333, 334, 348, 349, 350, 365, 367, 370, 498, 509, 519, 520, 525, 527, 529, 668, 673, 674, 675, 676, 725, 753, 826 Schicht – Kohonen-Schicht 270–274 – Netzwerke 270–276

Schimpanse 124, 314–319, 444, 448–450, 472, 476, 477, 493, 556, 701, 712, 875, 876, 901, 902, 906, 907 Schizophrenie(n) 13, 100, 139, 167 – Altersverteilung 219–220 – der Gesellschaft 231–237 – Dopaminhypothese 221–223, 225, 227, 289, 320, 339, 340, 341, 343, 344, 502, 666 – double bind 199–213, 241, 242 – erbliche Komponente 686, 822 – Erkrankungsrisiko 218 – Ichkomplex 179 – Ichpsychologie 185–198 – Jung, C. G. 179, 181–185 – multiple Persönlichkeit 248, 252 – neurologische Betrachtungen 213–218, 221 – Östrogen 220 – Paranoia 173–176 – paranoider Typus – Psychoanalyse 173–178, 230 – Psychopharmaka 225 – Psychose 136 – schizophrenogene Mutter 136 – Symptome 168–173, 223–225, 228, 262, 263, 264, 268 – und Streß 228 – Unterschied zur Neurose 180, 181 – Unterschied zur Psychopathie 232–236 Schläfenlappen (Temporallappen) 214, 215, 216 – Temporallappen-Epilepsie 671, 673 – und Bewußtsein 509 – und Gedächtnis 388 – und Konvergenzzone 509 – und religiöse Erfahrung 671, 672, 673 – und Schizophrenie 214, 215 – und Träume 673 – und Wahrnehmung 329, 348, 350, 353, 365, 384, 525, 753 – und Werte-Kategorien-Gedächtnis 527 Schlaf, neurologisch 229–230, 305, 320, 326, 327, 330, 332–333, 359, 360, 362, 421, 504, 649, 848 – REM-On-Neuronen 229, 362, 506 – REM-Off-Neuronen 362, 506 – REM-Phasen 230, 327, 345 – REM-Schlaf 326, 359, 362,506, 847

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte Schlafentzug 672 Schlaf-Wach-Rhythmus 105, 111, 332, 344 Schlaganfall (Apoplexie) 290, 325, 330, 332, 336, 381, 388, 896 Schmerz(en) – Immunsystem 72, 74–79, 417, 633 Schmerzabwehr 430 Schmerzbahnen 86, 328, 355, 429, 515 Schmerzempfinden 329, 332, 346, 349, 359, 375, 429, 430, 433, 434, 511, 515, 516, 631, 707, 712, 899, 901, 907, 908 Schmerzkontrolle 355, 634, 710, 918 Schmerzreiz 51, 334 Schnecken 158 schnelle Immunabwehr 67 schnelle (unbewußte, analoge) Informationsverarbeitung 86, 226, 228, 229, 341 schnelle Schmerzbahn 86, 328 Schwangerschaft 76, 107, 214, 268, 498, 584, 658, 733, 823, 904 Schwanzkern (Nucleus caudatus) 225, 829 Schwarze Substanz (Substantia nigra) 286, 288, 289, 336 Schweine – Massentierhaltung 910 – Tierversuche 50 Schwelle – Aktivierungsschwelle 276, 277 – Bewußtseinsschwelle 181, 374, 382 – für Schmerzreiz 51 – Reizschwelle 115, 123 – Vulnerabilitätsschwelle 220 Schwellenwert 269–270, 276, 277 Schwertwal 124 Second Messenger (Zweiter Botenstoff) 45, 118, 706 Seehase, Aplysia 226, 274, 340, 368, 706 Sehbahn 347, 349, 486 – dorsale Bahn, Wo-Bahn 348, 349, 350, 351, 508 – ventrale Bahn, Was-Bahn 348, 349, 350, 351, 353, 363, 364, 508 Sehbahnkreuzung (Chiasma opticum) 347 Sehkraft 102 Sehrinde (primärer visueller Cortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 Sehstörungen 113 Seitenventrikel 215

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sekundäre Botenstoffe (second Messenger) 45, 118, 706 sekundärer Cortex 333, 334, 335, 336, 348, 350, 351, 352, 370 sekundäres Bewußtsein 312, 440, 495, 503, 520, 529 sekundäres Repertoire 522 sekundäre Symptome 181 Selbstorganisation 290 Selektive Noradrenalin Reuptake Inhibitoren 109–110 Selektive Serotonin Reuptake Inhibitoren (SSRIs) 109–110, 918 sensible Phase 479, 499 Sensitivierung 830 Sensitivität, Rezeptoren 117, 220, 221 Sensitivitätsminderung 221 sensorische Bahnen 360 sensorische Karte 525 sensorische Neuronen 274 sensorischer Cortex 360, 368, 369, 370, 382, 504, 507, 508, 509 sensorischer Input 369, 512, 520, 540, 848 sensorische Systeme 508, 509, 510, 516, 520 Sensorium 31 Septum 226, 342, 370, 509 Serotonin – Ängstlichkeit 919 – Autorezeptoren 110 – bei Flußkrebsen 117, 118, 122 – Raphe-Kerne 105, 229, 286, 287, 336, 362, 482, 506, 918 – Rezeptoren 106, 109, 224, 229 – und Depression 117, 118, 122, 165 – und Bewußtsein 320, 339, 344, 418, 507 – und Gewaltbereitschaft 919 – und LSD 345 – und Schlaf-Wach-Rhythmus 320, 344, 362 – und Schmerzinhibition 515 – und Streß 105 – und Trennung von der Mutter 482 Serotoninagonisten 109 Serotoninwiederaufnahmehemmer 109, 110, 918 Sexualhormone 918 Sexualität 56, 83, 140, 163, 174, 176, 178, 202, 319, 429, 447, 448, 515, 671, 797, 823, 913, 921

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Sexualorgane 850 Sexualpartner 578 Sexualtrieb 669 Sexualverbrecher 913, 920, 921, 931 sexuelle Aktivität 109, 114 sexuelle Errregung 673 sexueller Mißbrauch 916 sexuelle Perversion 914 sexuelle Signale 203, 892 Signal – Angstsignal 343, 725, 873 – Ausgangssignal 276 – Eingangssignal 272, 278 – in der Kommunikation 200, 201, 202, 203, 206, 208, 210 – in Netzwerken 269, 272, 276 – propriozeptive 534, 540 – Testosteronsignal 823 Signalstoffe, Immunsystem 63, 71, 86 Signalübertragung 45, 46, 51, 58, 85, 86, 213, 220, 222, 227, 229, 269, 382, 412, 416, 418, 522 Single-Photon-Emmissions-Tomographie (SPECT) 674, 675 Sinus caroticus 47 Sinusknoten 39 Sinusrhythmus 39 Solitariuskernkomplex 47, 50, 68, 86, 416 Sollwert 46, 47, 416, 709 Sollwerttheorien 47, 710, 851 Soma 50 somatosensorischer Input 543 somatosensorischer Cortex 78, 334, 384, 385, 520, 668, 890 sozial lebende Tiere 298, 441, 443, 444, 559, 596, 698 soziale Deprivation 479, 483 soziale Isolation 172, 482, 902 soziale Kommunikation 448, 450, 451, 458 soziales Verhalten 445, 448 Spalt, synaptischer 110, 222 Spaltungsirresein 168, 716 Spannungscephalaea 113 Speicherbläschen 45, 686 spezifische Immunabwehrmechanismen 61, 62, 63, 64, 66, 67, 70 spezielles Werte-Kategorien-Gedächtnis 370, 520 Spiel 54, 124, 200, 207, 210, 241, 256, 266

– Als-ob-Spielen 265 – Spiel und Nicht-Spiel, Kommunikation 200, 207, 241, 256 Spieltrieb 263, 315 Spielzeug 489, 490, 497 spinales Interneuron 515 Spontanremission 83, 90, 91 SSRIs (Selektive Serotonin Reuptake Inhibitoren) 109–110, 918 Stamm Fisher, Mäuse 77 Stamm Lewis, Mäuse 76 Stammzellen 62, 71 Stickstoff 321, 537 Stickstoffmonoxid (NO) 756 Stimulation 49, 50, 115, 384, 385, 467, 480, 672, 753, 839, 890 Stirnhirn 50, 57, 58, 216, 226 Stirnlappen (Frontallappen) – DA-System 286 – Entwicklung 497, 725, 488, 496, 501 – Handlungskontrolle 329, 360, 829, 848 917, 918, 920, 935 – Herzrhythmus 50 – und Bewußtsein 334, 335, 336, 340–344, 345, 350, 354, 355, 363, 364, 412, 503, 506–511, 514–516, 518, 519, 520, 525, 527, 531, 666, 708, 709, 848 – und Gewalttaten 918, 920, 935 – und Parkinson 286–287 – und Religiosität 668, 673, 675, 725 – und Schizophrenie 214, 215, 217 Stirnrinde (frontaler Cortex) 50, 214, 225, 335, 336, 350, 364, 267, 373, 413, 488, 506, 514, 520, 668 Stoffwechsel 179, 331, 332, 334, 359, 414, 439, 482, 515, 918 – Dopaminstoffwechsel 288 Stoffwechselanomalien 179 Streifencortex (Corpus striatum, primärer visueller Cortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 Streß – Adrenalin 37, 38, 39, 40, 42, 44, 57, 67, 105, 120, 416 – chronischer 19, 37, 46, 51, 54, 60, 67, 68, 105, 106, 115, 120, 424, 918 – Diathese-Streß-Theorie 110, 118, 157, 686 – Dopamin 105, 225

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte – Glucocorticoide 38, 67, 80, 104–105, 107, 108, 255, 823 – Hippocampus 51, 86, 104, 107, 111 – Hypothalamus 47, 48, 67, 68, 77, 108, 109, 110, 513, 514, 848, 917 – Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System 77, 81, 87, 109, 110, 225, 513, 514, 917 – kognitive Aspekte 89 – Noradrenalin 37, 40, 42, 45, 51, 67, 105, 228, 339, 416, 514, 516 – posttraumatisches Streß-Syndrom 58, 75, 76, 98, 258, 516, 872 – Psychosomatik 38, 40, 44, 45, 51, 55, 57, 60, 66, 67, 68, 70, 73, 77, 79, 80, 82, 83, 84, 86, 94, 96, 107, 108, 147, 225 – Streßerleben 43 – und Depression 101, 104, 105, 106, 108, 110, 111, 120, 157 – und Frustration 48 – und Krankheit 13, 89, 93 – und Schizophrenie 225, 227, 228 – vorgeburtlicher 107 Streßachse 47, 48, 61, 67, 68, 77, 84, 85, 108,109, 110, 502, 513, 514, 848, 850, 917 striatale Neuronen 287 Striatum (Corpus striatum) 286, 342 Strömungswiderstand 44, 46 subcorticale Strukturen 226, 227, 229, 340, 343, 345, 348, 372, 514, 525, 529, 530, 530, 829, 849 Substantia nigra (schwarze Substanz) 286, 288, 289, 336 Substanz P 77, 78 subthalamische Ebene, Bewußtsein 362, 520 Sulcus postcentralis 890 supplementärmotorisches Areal (supplementär-somatosensorischer Cortex) 833 Suppression 68, 70, 74 Suppressorzellen 63, 65, 73, 74, 75 Sympathicus – und Angst und Streß 38, 39, 42, 44, 45, 46, 49, 53, 58, 60, 75, 79, 83, 105, 513, 848, 873 – und Bewußtsein 308, 309 – und Hypertonie 45, 46, 47, 48, 50, 51 – und Immunsystem 35, 67, 83, 87 Sympathicotonus 44, 45, 47, 51, 58, 75, 83, 105

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Synapsen – adrenerge 58, 106 – dopaminerge 106, 222, 223, 289 – Dornsynapsen 480, 482 – monosynaptischer Reflexbogen 706 – neuromuskuläre 702 – NMDA-Synapse 373, 709 – polysynaptische Schleife 529 – serotonerge 109, 110, 106 – Schaftsynapsen 482 Synapsengewichte 271–274, 276–278 Synapsenselektion 482, 486 Synapsenstärke 525 Synapsenüberschuß 482 Synapsenvermehrung 481 synaptische Aktivität 323, 512 synaptische Plastizität 504 synaptische Potentiale 368 synaptische Übertragung 58, 321, 412, 511, 512 synaptischer Spalt 222, 716 Synästhesie 345, 352, 354, 355 Synchronisation 340, 347, 360, 364, 365, 366, 367, 368, 369, 372, 374, 375, 382, 383, 384, 453, 503, 506, 507, 511, 520, 523, 524, 707, 848 Synchronisationstheorie 350, 364, 372, 505–506, 708 Synchronizität 308, 508 synergistische Effekte 39, 104 Systole 39, 40 systolischer Blutdruck 40, 44 System – autonomes (vegetatives) Nervensystem 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 – Belohnungssystem 105, 287, 873 – dopaminerges System 105, 224, 227, 229, 286, 287, 342, 381, 526, 686, 875 – extrapyramidales 225, 286 – Immunsystem 13, 34, 35, 37, 60–63, 67, 68, 70, 74, 75, 76, 77, 79, 81, 84, 85, 86, 87, 91 – Kreislaufsystem 44 – limbisches System 78, 86 – monoaminerges System 110 – noradrenerges System 51, 67 – parasympathisches Nervensystem 49 – peripheres 42, 58, 309, 338, 540, 713, 850, 901

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

– Strickleiternervensystem 308, 309 – serotonerges 287 – sympathisches Nervensystem 35, 38, 42, 44, 47, 49, 51, 53, 58, 60, 67, 75, 79, 83, 105, 308, 309, 513, 848 – Transmittersysteme 104, 108, 287 – vegetatives (autonomes) Nervensystem 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 – Wechselwirkung mit Immun- und Hormonsystem 68, 84, 87 – zentrales Nervensystem 34, 35, 37, 45, 78, 85, 86, 303, 306, 308, 309, 320, 338, 340, 341, 395, 401, 412, 418, 420, 421, 540, 543, 713, 714, 850, 889, 896, 897, 901 Systemtheorie 199, 400, 410, 434, 626 Tachykardie 39, 40, 49, 669 Tasthalluzinationen 170 Tastsinn (Hautsinn) 30 Tauben 491 Taubheit 30, 31, 144 T-Gedächtniszelle 65 Tegmentum 342 Temperatur 354, 905, 908 Temperaturerhöhung 85 Temperaturregulation 709 Temporallappen (Schläfenlappen) – Temporallappen-Epilepsie 671, 673 – und Bewußtsein 509 – und Gedächtnis 388 – und Konvergenzzone 509 – und religiöse Erfahrung 671, 672, 673 – und Schizophrenie 214, 215 – und Träume 673 – und Wahrnehmung 329, 348, 350, 353, 365, 384, 525, 753 – und Werte-Kategorien-Gedächtnis 527 temporolimbische Rinde 216 Testosteron 448, 823, 918 Teufelskreis – biochemisch 38, 51, 67, 78, 87, 105, 132 thalamo-corticale Ebene 360, 361, 363, 376, 520, 526, 527, 528, 529, 530, 533, 709 Thalamus – Expreßleitung 328, 357, 429, 513, 848 – Schizophrenie 214, 215, 216, 229 – und Bewußtsein 320, 326, 328, 334, 335, 336, 360, 361, 362, 373, 412, 507, 509 – und Schlaf 229

Thalamuskerne 360, 361, 362 T-Helfer-Lymphocyten (T-Helfer-Zellen) 63, 64, 65, 71, 72, 74 Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TNGS) 519, 521, 522, 523, 524, 525, 526, 527, 533, 534 Thermodynamik 411, 539, 775, 846 Thymus 63, 64, 75 Thymuszellen (T-Zellen) 63, 64, 65, 67, 70–76 Tiefenwahrnehmung 523 Tiefschlaf 326–327, 332 Tierversuche – Affen 216 – «decortizierte» Tiere 180 – Depression 109, 111, 115 – Elektroschock 104, 105 – erlernte Hilflosigkeit 105–106 – Flußkrebse 117, 122 – Immunsystem 34–35, 64, 67–68, 70, 81, 83, 85, 86 – Katzen 901 – Mäuse 35, 64, 81, 83, 85, 86, 227 – Parkinson 286, 288 – Prägung 478 – Primaten 286, 317, 479, 906–907 – Ratten 34–35, 68, 70, 76–77, 83, 104–105, 107, 220 – Schizophrenie 220, 226 – Streß 52, 57, 67–68, 83, 86, 101 – Trennungsexperimente 107 T-Killerlymphocyten (T-Lymphocyten, cytotoxische) 63, 64, 65, 72, 73, 74, 76 T-Lymphocyten (T-Killerlymphocyten, cytotoxische) 63, 64, 65, 72, 73, 74, 76 TNF-α 71, 78, 86 TNGS (Theorie der neuronalen Gruppenselektion) 519, 521, 522, 523, 524, 525, 526, 527, 533, 534 Top-down-Prozesse 278, 375, 510, 848, 849 Toxine (Gifte) 62, 63, 64, 70, 84, 179, 226, 286, 288 Tractus – neospinothalamicus 328 – opticus 348 – palaeospinothalamicus 328, 429, 515 Transmitter – Depression 104, 106, 107, 108, 110, 117, 118, 121

Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte – Noradrenalin 38, 45–46, 67, 68, 106, 227, 286, 287 – Parkinson 286, 288 – Schizophrenie 219, 223, 227 – s. a. Acetylcholin, Adrenalin, Dopamin, Noradrenalin, Serotonin etc. Transmitterfreisetzung 45–46, 58, 105 Transmittersysteme 104, 108, 320, 323, 652, 756, 666 Transplantation 35 Transportmoleküle 687, 822, 919 Traum – neurologische Betrachtung 229, 230, 320, 326, 327, 331, 332, 344–345, 360, 362, 674, 725 – REM-Schlaf 230, 362 Trias 328 Trichternest 301–304, 441 tricyclische Antidepressiva 109, 110, 897 Trinitrotoluol (TNT) 537 trophische Faktoren, BDNF 104, 106, 111, 822 Tryptophan 919 T-Suppressorzellen 63, 65, 73, 74, 75 Tuberkulose 35, 72, 83, 92, 245 Tumore 325, 338 Tumor-Nekrose-Faktor α 71, 76, 78 Tumorwachstum 83 Tumorzellen 63- 65, 71 Typ – Genotyp 112 – Rezeptortypen 38, 220, 222, 227, 229 Tyrosin 45, 288 Tyrosin-Hydroxylase (TH) 45, 51, 288 T-Zellen 65, 67, 71 Tc-Zelle 63, 64, 65, 72, 73, 76 TH-Zelle 63, 64, 65, 71, 72, 74 TS-Zelle 63, 65, 73 übergeordneter (sekundärer) Cortex 333, 334, 335, 336, 348, 350, 351, 352, 370 Übererregung, neurologisch 57, 58, 223, 224, 225, 381, 482, 651, 671, 684 Übergewicht 49 Übersensitivierung 218 Überträgerstoffe s. Transmitter Ulcus 32, 37 Umwelteinfluß 29, 504 Umweltzerstörung 910

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unbedingter Reflex 34 unipolare Affektpsychose 112, 152 Urtikaria (Nesselfieber) 37 Uterus 111 Vaguskern 47, 50, 68, 85, 86, 87 Vagusnerv 46, 47, 68, 85, 416 Vaguspräponderanz 49, 50 Vasopressin (ADH, antidiuretisches Hormon) 886 vegetatives Nervensystem (VNS, autonomes Nervensystem) 26, 30, 31, 32, 39, 67, 84, 105, 120, 675 Vene(n) 39 Venenentzündung 515 ventrale Bahn, Was-Bahn 348, 349, 350, 351, 353, 363, 364, 508 Ventrales Tegmentales Areal (VTA, Area tegmentalis ventralis) 226, 342, 344, 345, 875 Ventrikel – dritter 215 – Herz 39 – Hirnventrikel 214, 215 – Seitenventrikel 215 ventro-laterale Medulla oblongata 47 ventromedialer Cortex 214, 673 Verlängertes Mark (Medulla oblongata) 46, 47, 50, 86, 225, 332, 416 Vesikel, synaptische 686, 822 Vigilanz (Wachsamkeit) 51, 58, 326, 332 Virus 63, 65, 70, 72, 81, 83, 118, 214 visceroafferente Fasern 47 visueller Cortex – VTE (visuell-temporales Feld, visuelles Feld im inferior-temporalen Cortex, ITC) 350, 363, 364 – V 1 (primärer visueller Cortex, Area striata, Streifencortex) 350, 351, 352, 364, 508, 668 – V 2 (visuelles Feld) 352 – V 3 (visuelles Feld) 381 – V 4 (visuelles Feld) 352, 353, 364, 668 – V 5 (visuelles Feld im mediotemporalen Areal, MT) 353, 365, 381, 668 visuelle Wahrnehmung 327, 346, 347, 348, 349, 350, 353, 354, 359, 360, 366, 373, 380, 381, 382, 394, 452, 453, 454, 504, 505, 507, 508, 510, 512, 707, 713, 838

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Naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte

Vögel 62, 123, 124 – Feind-Verleitungsverhalten 299 – Hierarchie, soziale 444 – Öffnen von Milchflaschen 300 – Prägung 481 – Werkzeuggebrauch 313 – Zugvögel 629 Vomeronasalorgan (Jacobson-Organ) 504, 892 Vorderhirn – Basales 388 – Kontrolle, Verhalten 496, 918 – Prägung 480 – Traum 362 Vorhof, Herz 39 Vorläuferzelle(n) 62, 65 Wachkoma 331, 333, 334, 336 Wachsamkeit (Vigilanz) 51, 58, 326, 332 Wachstumsfaktoren – BDNF 104, 106, 111, 822 – für T-Zellen 71, 72 Wachzustand 320, 327, 333, 359, 673, 839 Wahrnehmung – Bewegungswahrnehmung 668 – Eigenwahrnehmung 356, 526 – Farbwahrnehmung 351, 352, 353, 363, 368, 369, 405, 414, 423, 425, 508, 523, 668, 673, 674 – Formwahrnehmung 605 – Filterfunktion 216 – Geschmackswahrnehmung 449, 450, 468, 479, 504, 617, 664, 674, 701 – Gestaltwahrnehmung 278, 368, 375, 507 – olfaktorische Wahrnehmung 505, 507, 508 – polymodale Wahrnehmung 451 – Tiefenwahrnehmung 523 – visuelle Wahrnehmung 327, 346, 347, 348, 349, 350, 353, 354, 359, 360, 366, 373, 380, 381, 382, 394, 452, 453, 454, 504, 505, 507, 508, 510, 512, 707, 713, 838 Was-Bahn 348, 349, 350, 351, 353, 363, 364, 508 Wasser – «Arznei» der Natur 89 – symbolische Bedeutung 92 Wasserbestellung, Wüste 275 weiße Substanz 215, 332

Weißstreifendelphin 124 Wettbewerb, neuronaler 271, 375 willkürliches Nervensystem 30, 32 Willkürmuskulatur 30, 31, 210, 211, 459 Wo-Bahn 348, 349, 350, 351, 508 Wölfe 160 Wolf, Rotkäppchen-Beispiel 278, 280 Würmer 62 Wuthormon 38 X-Chromosom 112, 113 Zelldifferenzierungsreihen 64 Zellen – antigenpräsentierende (APZ) 64, 65 – B-Zelle 65, 71 – chromaffine 38, 416 – dendritische 65, 66 – Effektorzelle 64 – Freßzelle 61, 63, 64, 65, 70 – Gliazelle 71 – Mastzelle 36, 62, 65, 79 – natürliche (NK) 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 81, 82 – Plasmazelle 64, 65, 71, 72, 74 – pluripotente 71 – REM-On-Zelle 229, 362, 506 – REM-Off-Zelle 362, 506 – Riesenfreßzelle 61 – Stammzelle 62, 71 – T-Gedächtniszelle 65 – Tumorzelle 65, 67, 71, 81 – Tc-Zelle (cytotoxische Zellen) 63, 64, 65, 72, 73, 76 – TH-Zelle (Helferzelle) 63, 64, 65, 70, 71, 72, 73, 74 – TS-Zelle (Suppressorzelle) 63, 65, 73, 74, 75 Zellkern 45 Zellkörper 269 Zellmembran 64 Zelltod 104, 281 Zelltypen 65 zelluläre Immunabwehr 80 Zellwand 70, 76 Zellzwischenraum 77 Zentrales Höhlengrau 48, 513, 526 Zentralnervensystem (ZNS) Zittern 30, 284, 288

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte ZNS (zentrales Nervensystem) 34, 35, 37, 45, 78, 85, 86, 303, 306, 308, 309, 320, 338, 340, 341, 395, 401, 412, 418, 420, 421, 540, 543, 713, 714, 850, 889, 896, 897, 901 Zweiter Botenstoff 45, 118, 706 Zwerchfell 168, 210 Zwillingsforschung 107, 219, 685, 822 Zwischenhirn (Diencephalon) 216, 293, 320, 326, 360 Zwischenschicht 274, 276, 277, 280 zyclisches Adenosin-3’,5’-monophosphat (cAMP) s. cyclisches 45 Zytokine (Cytokine) 63, 65, 68, 70, 72, 74, 77, 85, 86 zytotoxische Zellen (cytotoxische Zellen) 63, 64, 65, 72, 73, 74, 76

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte abaissement du niveau mental 178, 181, 187 Abbild – der Außenwelt 280, 676 – Ich-Komplex, Abbild des Schicksals 185 – Imagines 133–134, 191 Abendland 159–160, 282, 564, 590, 599, 604, 641, 728, 730, 732, 740, 759, 777,788, 863, 901, 939 – christliches 551, 647, 700, 757, 758, 762, 906 abendländische Philophie/Theologie 13, 19, 158, 159–160, 199, 248, 282, 377, 388, 430, 624, 690, 777, 866, 893 Aberglaube 14, 172, 230, 474, 659, 661 Abgeben und Aufnehmen, Atmung 79–80 Abgelehntheit 211 Abgrenzung 80, 148, 149, 190, 230 Abgrund – der Verweigerung 155 – Goljädkin 251, 884 – Kontingenz 463 – und Chaos 248 – von Tod und Vergänglichkeit 94, 162 Abhängigkeit – infantile 660, 930

1029

– seelische 41, 43, 54, 141, 146, 149, 206 – von der Sprache 588 – von Vater und Mutter 659 Ablösung – des Ich vom Selbst 553 – des Kindes von der Mutter 148 – der Libido von der geliebten Person 175 Abraham 677, 787, 868 Abschiedsgespräch – Munch von seiner Mutter 128 – Sokrates 804 Absolute, das 14, 59, 164, 165, 397, 403, 572, 587, 628, 632, 739, 817, 855, 866, 884 Abspaltungen 97, 181, 234, 248, 255, 259, 662 Abstraktion(en) 310, 316, 491, 495, 496, 590, 816 Abstraktionsebene 199 Abstraktionsfähigkeit – bei Autismus 262, 269, 277, 280, 283 – bei Schizophrenie 216–217 – Philosophie, Tiere 282 Absurdität 720, 791, 816, 865 Abtreibung 111 Abtreibungspille 111 Abwehr – Abwehrmaßnahmen des Ich 140 – Abwehrmechanismus der Projektion 548 – Abwehrphantasien 939 – gegen homosexuelle Triebe 175, 184 – ideologische 394 – und Angst 96–97, 106, 134 – und Psychose 96–97, 137, 140, 144, 179, 184, 191, 197, 256 – von Triebregungen 25–26, 31, 96–97, 175, 184, 191, 192, 193, 195–197 Acht-Monats-Angst 487 Adam 247, 392, 608, 760, 886 ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) 483, 907 Affe(n) – Angst 479–480 – Bewußtsein 317, 318, 375, 444, 470, 507, 875 – Beziehung zur Mutter 627 – Ethik, Tierversuche 320–321 – Evolution 296, 375 – Intelligenz 491

1030 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Kaspar Hauser-Experimente, Harlow 479, 902–905 – Tierversuche zu Wahrnehmung und Bewußtsein 350, 367 – Trauer 124 – Wahrnehmung und Bewußtsein 350, 367 Affektabstimmung 467, 468 Affektbesetzung 177 Affekte (Emotionen, Gefühle) – aufgestaute 171 – narzißtische 127 – und Borderline-Persönlichkeit 140 – und Parkinson 285 – und Psychose 178–179, 190 – und Schizophrenie 169, 171, 172, 173, 179, 185, 217 – Verschiebung von Affekten 177 affektive Bedeutungsverleihung 78 affektives Gleichgewicht 148 affektive Mangelzufuhr 261, 262 affektive Störungen 98, 101–108, 111–113, 115–118, 136, 150–152, 167, 195, 211, 320, 339, 822, 838 affektive Verblödung 169, 173, 217 affektiv gefärbte Psychose 145–146 Affektkontrolle 194–195 Affektstarre 113, 169 Affektstau 171 Affektverblödung 381 Affektverflachung 169, 173, 217 Affektverwandlung, Paranoia 175, 177 Aggression 434, 445, 616, 636, 858 – als Ichtrieb 446, 547 – Autoaggression 683 – projizierte 133 – und Borderline-Persönlichkeit 141 – und Depression 113, 146–147, 195 – und Epilepsie 670 – und Individuation 138 – und Psychosomatik 80, 82–83 – und Territorialverhalten 117 – und Verhalten 14, 202–203, 277 – verdrängte 32, 130–131, 548 – von Müttern 80 Agnostizismus 403 Ägypter – Seelenbegriff und Jenseitsvorstellung 730, 731, 741, 744–746, 754, 762, 765, 777, 778, 781, 785–791, 794–796, 941

– Weite des Herzens 56 Ahab, Kapitän 204, 252, 256–257, 424, 721, 880–884, 915 Ähnlichkeit – autistische und schizophrene Symptomatik 268 – von Begriffen und räumliche Nähe auf Gedächtniskarte 273 – von Sprache und Welt 602 Albträume 177, 230, 239, 434, 595, 610, 724, 936 Alexithymie 29–30 Algorithmus 279 Alkohol – und Bewußtsein 838 – und Geist 421 Alkoholismus 148, 151, 164, 647, 808, 838, 892 Allah 607, 869 Alleinsein, Angst vor 41, 931 Allergien – erlernbar 36 – und Gedächtnisverlust 87 – und Konditionierung 36 – und Placebo 36, 75, 633 – und Psychosomatik 633 Alles-oder-Nichts-Prinzip 320, 374 Allgemeine, das 240, 595, 611, 612, 895, 927 – Irrsinn des 240 Allgemeinhemmung 103 Allgüte 866 Allmacht – als Abwehrmaßnahme des Ich 140 – der Gedanken 336 – des Selbstobjekts 194, 195 – Gottes 174, 242, 391, 866, 870 Alltagsmensch 437 Alltagssprache 59 – Begriffe des alltäglichen Geredes, Hegel 282–283 Allwissenheit 866, 870 Alpha-«Tier» 277, 444, 445, 446 «alte Mensch», der 15, 621 Altern – Angst vor 53 – pathologische Seneszenz 191 Altersverteilung – Schizophrenie 219 – Parkinson 284

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Altes Testament 241, 254 Ambivalenz – bei Depression 129, 130, 131, 133 – Nähe/Distanz 80 – orale Phase 133–135, 151, 157, 158, 159, 160 – und Religion 403, 769, 895, 940 – und Schizophrenie 169 – und Symbole 552 – und Trauer 151 – und Vaterbild 142, 241, 658 Amnesie (Gedächtnisstörung) 388 Amphetamin(e) 110, 226, 892, 896 Amputation – Kapität Ahab 252 Analogie – Analoger Verarbeitungsmodus 226, 228, 229, 230 – Bewegung und Krankheit 25 – des Seienden 632 – Depression im Tierreich 117, 120, 122, 123, 124 – Melancholie und Trauer 125 – Organisation künstlicher Intelligenz und Autismus 269, 281 anale Phase 146, 148, 149, 150, 193 Analerotik 193 Analyse – Kausalanalyse und Sinn 27 – Kommunikationsanalyse 199 Andere, der – im Hintergrund der Persönlichkeit 251 Anerkennung 32, 146, 150, 161, 207, 446, 583, 586, 587, 596, 599, 885 Anfall (Anfälle) – Freßanfälle 140 – katatonischer Anfall 184 – Krampfanfälle 115 – Ohnmachtsanfälle 50 – Panikanfälle 58 – religiöse Anfälle 246 – Schlaganfall 290 – sekundärer Krankheitsgewinn 31 – Tachykardien 40 – s. Epilepsie Anfälligkeit – für Krankheiten 79, 83 Anfang – Ich-Entwicklung 133, 136, 138, 188

1031

– Medizin 19 – psychosomatische Medizin 23 – Streßreaktion 104 Angehörige 42, 98, 132, 246 Angriff – Flucht oder Angriff 38, 60 – Notfallreaktion 38 – und «Depression» bei Gänsen 123 – und Kommunikation 202 Angriffslust 117 Angriffsziel Moskau, Film 474 Angst – Acht-Monats-Angst 487 – angstbesetzte Fehlwahrnehmungen 286 – Angsterleben, Noradrenalin 37–38, 51, 85, 105, 109 – ängstliche Wachsamkeit 51 – bei Depression 13, 101, 105, 106, 113, 123, 165, 195, 212 – bei Goljädkin 251 – bei Hypotonie 49 – bei Kierkegaard 163, 195, 236 – bei Kohut 195–196 – bei Plutchik 157 – der Mutter 107, 139, 194 – der Tiere 15, 55, 57, 104, 122, 123, 124, 153, 231 – direkt nach Geburt 107 – Disgregationsangst 196 – existentielle 13, 53, 59, 167, 251–252, 257 – freiflottierende 49 – frühkindliche 54, 55, 134, 194, 205 – Herzangstneurose 40, 41, 42, 49, 50, 51, 52, 57, 59 – hypochondrische 88 – neurotische 97 – Panik 143, 194 – Paranoia 176 – psychoanalytisch 136, 185, 205, 228, 230 – Strafangst 206 – Teufelsangst 247 – Trennungsangst 138 – und Autismus 263 – und Bewußtsein 13, 14, 89, 153, 230, 257 – und double bind 211–212 – und Kaspar-Hauser-Experimente 479, 902–905 – und Krieg 249, 258–259 – und Magersucht

1032 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – und Psychoanalyse – und Psychose 139, 140, 212 – und psychosomatische Erkrankungen 19, 26, 33, 36, 37, 40–43, 83, 231 – und Religion 245, 247 – und Schizophrenie 168, 172, 176, 189, 217, 218 – und Schuld 159 – und Streß 53, 60, 79, 101, 108, 111 – Veränderungsangst 264 – Verlassenheitsangst 123, 143 – Vernichtungsangst 139 – Versagungsangst 42 – von Schimpansin Fifi 124 – vor Alleinsein 41 – vor der Liebe 93–94 – vor dem Beutegreifer 231 – vor Scheitern 53 – vor Tod 143, 245–246 – vor Verlust des Selbst 196 Angstatmung 87 Angstbereitschaft 43 Angsthysterie 186 Angstlinderung 109 Angstneurose 40, 42 Angsttoleranz 141, 142 Angststarre 49, 50, 104 Angsttheorie 123 Anhedonie 113, 173, 217 anima – brutorum 293, 700 – Jung 551, 552, 824 – rationalis 294, 700 – sensitiva 293 – vegetativa 293 – vitalis 293 animal – rationale 470 – verbale 470 Animalische, das 184 animalischer Magnetismus 22 Animation 356 animus 551, 552, 824 Anorexia nervosa (Magersucht) 93, 130, 185, 257, 852 anorganische Chemie 193 Anpassung – an die Gesellschaft 567, 630, 739, 824

– an die Wirklichkeit 464, 548 – an Streßsituationen 38, 39, 42, 60 – bei multipler Persönlichkeit 248 – bei Neurose 96, 104, 137, 148, 150 – bei Psychose 96, 137 – Fehlanpassungen 857 – psychosomatische Erkrankung 42–43, 82 Anpassungszwänge 630 An-sich-sein 402, 817 Anthropologie 22, 261, 293, 440, 562, 591, 592, 609, 649, 821, 822 – Kulturanthropologie 199, 240, 290, 562, 653, 739, 885 Anticholinergika 288 Anticonvulsiva 116 Antidepressiva 109–111 Antihistaminika 221 Antike 19, 20, 22 antipsychotische Medikamente 221, 222–223, 229 Antisemitismus 252 Antrieb 448, 593, 876 Antriebsarmut 285 Antriebsschwäche 216 Anubis 785 An-und-für-sich-sein 399 Apathie 104, 152, 285 Aphasie 289–290 Apokalypse 143, 789 Apparat, seelischer 182, 541 Appetenzverhalten 852 Appetit159, 305, 734, 908 Appetitlosigkeit 84, 85, 104, 109 Arbeitsdefinition 546, 563, 662 archaische Angst 14 archaischer Kern der Psyche 172, 182, 183, 187, 192, 194, 552 archaischer Narzißmus 192 archaisches Denken 168, 552, 565, 580, 771, 773, 774, 792, 875 archaishe Sprache, Traum 182–183 Archetypen 183, 505, 551–552, 602, 628, 629, 639 – Kinderarchetyp 627 – Mutterarchetyp 479, 627, 628, 629, 767 Ärger – als Emotion 26, 28, 31, 33, 37, 38, 42, 43, 44, 48, 51–52, 57, 60, 79, 82, 101, 102, 103, 106, 108, 130, 157, 228, 314, 483, 774

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Arm 24, 40, 337, 460, 467, 468 Armee 474, 900 Army 872, 899 Arrhythmie 49, 50 Arzt – als Dichter 23, 58, 99, 154, 244 – Empedokles 764 – Gebrüder Grimm 94 – Krankenzimmer Nr. 6, Novelle 155 – Moliere 92–93 – Paracelsus 21 – Priesterärzte 19, 20, 22, 424 – Roman, Zauberberg 23 Askese 174 Asozialität 210, 217, 240 Assoziationen 99, 169, 183, 217 Assoziationsbahnung 217 Assoziationsexperimente 35, 273 Assoziationslockerung 217 Asthma 36, 37, 77, 79, 80, 87, 143, 896 Atem – Gottes 204, 205 – psychosomatisch 79 Atemnot 51 Atemstörung 113 Atheismus 393, 425, 625, 819 Atmung 79 – bei Angst 51, 52, 87 Atombombenabwurf 235, 874 Atomwaffenversuche 81 atypische Form von Depression 75, 79 atypische Neuroleptika 224, 229 Auditionen 170, 179 auditorische Halluzinationen 179, 353, 666, 668 Auferstehung 646, 693, 704, 737, 744, 752, 762, 777, 778, 785, 788, 789, 791, 794–799, 801, 938, 941 Aufklärung 14, 19, 247 Aufmerksamkeit 30, 51, 84, 88, 105, 114, 147, 173, 181, 216, 240, 263, 281 – des Kindes 464, 465, 467, 484, 497 – und Bewußtsein 333, 346, 359, 362, 363, 367, 368, 371, 372, 375, 379, 421, 511, 513, 516, 528, 529, 535, 715, 839, 848 – und Meditation 674 Aufmerksamkeitsstörung (ADHS, Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Aufmerk-

1033

samkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) 483, 907 Ausdrucksweise – von Schizophrenen 169 Ausgesetztheit 15, 127, 135, 156, 479, 883 Aussagelogik 172 Aussichtslosigkeit 106 Ausstoßvictimisation 126 Autismus 169, 212, 261–266, 268–269, 277, 280–282, 289 – Definition 263 – frühkindlicher, Kanner 262, 263, 264, 265 autobiographische Gedächtnisblockaden 250 autobiographisches (episodisches) Gedächtnis 388, 461, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 Autoerotismus 175, 176, 188 Autoimmunerkrankung 35, 74–77, 80, 85, 152 automatische Gedanken 120 automatische Handlungen 169 Automatismen 171, 839, 849 – Vergeltungsautomatismus 775 Autonomie 41, 143, 144, 146, 148, 149, 180, 233, 234, 470, 840, 853, 861, 875 – Prinzip der Autonomie 806, 807, 850 Autoplastik 197 autoplastische Symptome 197 autopsychische Wahnideen 170 autoregenerativer Kreislauf 72 Autoritarismus 245 Autorität – gesellschaftliche 905, 927, 932, 670 – heilende 91 – Vater 241, 660, 927 Autosuggestion 81 Azteken 242, 589, 651, 654, 892 Baby-Nahrung 130 Bahnung – Assoziationsbahnung 217 – bei Depression 118–120, 139 – milieureaktive 871 Baker-Eddy, Mary 22 Bandscheibenvorfall 423, 515 Basiskategorien 486, 487 Bauch, Gefühle aus dem 85 Baum, Symbol 55, 90 Bausteine, Ferenczi 197

1034 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Bedeutungsverleihung 78, 255 bedingte Reflexe 34 Bedrohung 52, 107, 138, 140, 232, 235 Bedürfnisse 137–138, 192, 232, 234 – Anlehnungsbedürfnis 137 – nach Ruhe, Parkinson 285 – nach sprachlichem Kontakt 263 – narzißtische Übertragungsbedürfnisse 192 – Reinheitsbedürfnis 24 – Schlafbedürfnis 114, 516 – Strafbedürfnis 130 – Triebbedürfnisse 137–138, 182, 217, 765 Befehlsautomatien 169, 171 Befriedigung – autoerotische 175 – der Gerechtigkeit 815 – Ersatzbefriedigung 31 – sadistische 670 – Strafbefriedigung 670 Begierde 293, 312, 572, 574, 922 – Buddhismus 163, 432, 433, 604 – Verdrängung 255–256 Begräbnis 819 Begriff – bei Hegel 282–283 – begriffliches Denken 473 – Lernen von Begriffen 472 – naturwissenschaftlich 14 – mentalistischer 299 – Pseudobegriffe 472, 473, 483 – Strukturbegriff 545 – und Metapher 205, 241, 475 – und Symbol 169 – Zahlenbegriff 491, 493 Begriffsbildung 472, 495, 525, 531, 534 Begriffsverschiebung 169 Begriffszuordnungen, Kohonen-Netzwerk 274 Beinamputation, Kapitän Ahab 252 Belagerung 97, 98 Belastung 28, 39, 51, 68, 79, 98, 100, 140, 148, 158, 212, 218, 256, 289, 483, 634, 774, 908 – s. a. Streß Belastungsstörung 259 – posttraumatische 258–259 Belohnung – menschliche Gesetze 836, 928 – Streben nach 764

Belohnungssystem 105, 287 Benennungsaufgabe 217–218 Berufung 22 Berufungsgeschichten 678 Beruhigung 37–38, 57 Besessenheit 247, 445 Besetzung – Affektbesetzung 177 – Definition 186 – Gegenbesetzung 150, 622, 940 – Ich-Besetzung 151, 186 – Ichgrenzbesetzung 186, 187 – Libidobesetzung 137, 157, 188, 191, 542, 548 – Liebesbesetzung 127 – Objektbesetzung 126, 131, 150, 164, 188, 189, 190 Bestätigung 193 Bestrafung 527, 596, 631, 761, 762, 773, 816, 842, 922, 923, 924, 931 – für kannibalistische Tedenzen 129 – Selbstbestrafung 102, 658 Beutegreifer, Angst vor 231 Bewältigung 341, 406, 873 – Bewältigungsstrategie 131, 256 – Bewältigungsversuche, Ratte 105 – Krankheitsbewältigung 52 Bewegung(en) – Akinesie, Parkinson 283 – Bewegungssturm 49 – Bradykinese, Parkinson 284 – Einheit von Wahrnehmen und Bewegen 33 – Hyperkinesien 289 – psychomotorische Verlangsamung bei Depression 105 – Tremor, Parkinson 284 Beweis – der Unendlichkeit des menschlichen Geistes 282 – der Unsterblichkeit der Seele 803 – für Eingreifen Gottes 90 – Gottes 262, 624, 625, 649, 651, 675, 752, 757 Bewertung, emotionale 173, 215 Bewußtsein – bei Primaten 298, 317, 319, 443, 470, 471, 476, 499, 517, 530, 531, 577, 700, 875 – bei Tieren 121, 290

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – bewußter Verarbeitungsmodus 226, 228, 229, 230 – C-Zustände 528 – Entwicklung des Bewußtseins 232, 283, 290 – Ich-Bewußtsein 181, 405, 557, 674, 838 – in der Erkenntnistheorie Kants 283 – in der Philosophie, Kierkegaards 153, 282 – in der Psychoanalyse 31, 132, 175, 182, 191, 230, 251 – in Träumen 182, 226, 229, 230 – Kernbewußtsein 544 – Kriterien für Bewußtsein bei Tieren 311–312 – multiple Persönlichkeit 257 – primäres 295, 312, 316, 332, 338, 370, 371, 374, 388, 440, 495, 496, 503, 520, 526, 527, 529, 531, 534, 535, 540, 559, 571, 604 – religiöses 242, 244, 282, 652 – sekundäres 312, 440, 495, 503, 520, 529 – Selbstbewußtsein 13, 14, 54, 114, 121, 255, 283, 290 – subjektives 304 – Traumbewußtsein 332, 362, 421, 506 – und Angst 13, 14, 89, 153 – und Drogen 14, 226 – und Konvergenzzonen 509 – und Krisen 13, 55 – und Schizophrenie 13, 139, 180–183, 187–188, 199, 213, 214, 217, 228, 230, 652 – und Wahrnehmung 138, 175 – und Willensfreiheit 31 – Wachbewußtsein 226, 362, 372, 421, 506 – Zahlenbewußtsein 492 Bewußtseinsstrom 381, 386, 387, 556, 666 Bewußtseinsverlust 50 Bewußtwerden 24, 230 Beziehung(en) – bei Autismus 263 – bei Borderline-Persönlichkeiten 140 – bei Depression 113, 165 – bei DIS 250 – bei Schizophrenie 169, 172, 176, 212 – double bind 206 – Eltern-Kind 193, 208, 241, 255 – Liebesbeziehung 127, 209 – Mutter-Kind 135, 138, 141, 208, 462, 482, 483

1035

– narzißtische 137 – Objektbeziehungen 135, 137, 139, 140, 144, 148 – Patient-Therapeut 197, 244 – soziale 212, 250, 265, 462 Beziehungsfähigkeit 265 Beziehungsideen, Schizophrenie 172, 177 Beziehungslosigkeit 169 Beziehungsmuster, Entstehung Herzneurose 41 Beziehungsstörung 113 Beziehungswahn 170, 177, 179 – sensitiver 177 Bild, symbolisches 56, 204 biologische Einheit zwischen Mutter und Kind 137 Biorhythmen, Schlafen und Wachen 105, 111 biopsychosoziales Modell 88, 232 bipolare affektive Störung 112, 113, 114, 115, 116, 151, 152 bipolare Depression 98 bipolare Störungen 98, 112–116, 151, 152 Blick – bei Autismus 263 – in die Tiefe 251 Blindheit 30, 52 Blockade, des Gedächtnisses 250 Blume 99, 129, 204, 281, 286 Blut – Anblick von 50 – bei Azteken 242 Bluthochdruck (Hypertonie) 37, 39, 40, 42–47, 51, 52, 54, 58, 116 Blutmühle 159 Borderline-Persönlichkeit 139–144, 147–148, 181, 197, 236 Böse, aus Seele 19 Böse, das 247, 393, 882, 913, 914 böse Brust 140 böse Geister 245 böse Mutter 131 böse Objektbilder 141 böse Objekte 133, 134, 140, 141 böser Genius, Hegel 243 böses Kind 130 böse Selbstbilder 141 Bradykardie 39, 284 Bradykinese (Verlangsamung der Bewegungen) 284

1036 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Bradyphrenie 286 Brahman-atman 674 Brahmanen 436, 597, 604, 677 Britannicus, Sohn des Claudius 898 Bronchialasthma 36, 77, 80 Brust – Angina pectoris 44 – der Mutter, Oralität 129, 130, 133, 135, 140, 157, 188 Brutalität 14, 49, 243, 703, 872, 936 Brutpflegeverhalten 295, 466 B-Typ, Vagotoniker 53 Buddhaghosa 377 Buddhismus 14, 159 – Lehre 377, 379, 430–439, 644–648, 704 – und Bewußtsein/Person 430, 440, 559, 595, 597–600, 604–609, 634, 643–644, 768, 771, 838 causa – efficiens 810, 854, 888 – finalis 810, 854 Ceram 733 Chaos 180, 232, 234, 235, 248, 411, 591, 615, 616, 700 – deterministisches 844, 856 Charakter 102, 120, 141, 154, 193, 205, 208 – narzißtischer 137 – paranoischer 175 – zwangsneurotischer 184 Charakteraufbau 54 Charakterstruktur 121 Chassidismus 535 chemischer Krieg 248 Choleriker 102, 103 cholerische Reaktion 38 Chorea Huntington (Veitstanz) 290 Christentum 14, 241 – Anthropozentrik 901 – christliche Lehre 158, 159, 242, 606–623 – christliche Theologie 606–623 – Dogmatik 158, 758, 772, 789, 939 – Gnade 644–645 – Guardini 167 – Jenseitsvorstellungen 776, 789, 790, 791, 941 – Umgang mit Tieren 906 – und Bewußtsein/Personalität 606–623, 643, 866

– und Gesundheit 244, 248 – und Naturwissenschaft 20 – Unfreiheit des Menschen 870 chronische Abhängigkeit 140, 144, 177, 212 chronische Enttäuschbarkeiten 26 chronische Hilflosigkeit 105 chronische Schmerzen 74, 78, 79 chronischer Infantilismus 193 chronischer Krankheitsverlauf 31, 35, 38, 43, 44, 47, 76, 77, 96, 264 chronischer Streß 19, 37, 39, 45, 51, 53, 54, 60, 68, 104, 106, 120, 424, 514, 918 chronifizierte Ängste 19, 42, 49, 217, 514 Claudius 898 Co-Abhängiger 80 Coca, Rolle bei den Inkas 652 Cocain 111 Codierung 340, 350, 365, 370, 419 Cogito 571 Coping-Strategien 52, 113 C-Typ 53 C-Zustände, Bewußtsein 528 Dämonen 183, 239, 247, 727, 729, 732, 764, 790, 927 Dämonismus 170 Dämonologie 247, 248 Dankbarkeit 156, 263, 776 Darmerkrankung 37, 113 Darwinismus 161, 172, 173, 374, 394, 407, 419, 434, 499, 633 Dasein – Absurdität 791, 816 – Kampf ums 159, 646, 703, 894 – Kontingenz 817 Daseinsanalyse 121, 152 Daseinsangst 646 Daseinsdeutung 14, 195, 241, 702, 757 Deckerinnerung 254, 765 defensives Verhalten 206 Defekt – genetischer 64 – Ichdefekt 144 – im Selbst 194 Definition – Begriff Herz, Rahner 57 – der kindlichen Mitteilungen und Reaktionen 209

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Ich-Definition 250 – Psychopathen 233 Defizit(e) – an Autonomie 138, 146 – Aufmerksamkeitsdefizit 173 – der Mutter 41 – empathische 198 – Gedächtnisdefizit 215 – narzißtisches 146 – set-shifting-Defizite, Parkinson 287 – Theory-of-Mind-Defizite 266 Deformation 451, 912 Degeneration 178, 246 degenerative hysterische Psychose 178 deklaratives Gedächtnis 104 Delphische Theologie 741, 927 Delirium 244, 253 Dementia – paranoides 174 – praecox 168, 174, 176, 177, 178, 179 Demenz 168, 891 Demeter 743, 752 Demokratie 899, 929 Demütigung 914, 921, 925, 926 Dendera 781 Depersonalisation 97, 168, 170, 187, 188, 190, 198, 357, 562, 602, 622, 660 Depression – als Verzweiflung der Unendlichkeit 153, 164 – atypische Form 75, 79 – Bahnung 118–120 – bei Tieren 105–106, 117, 120, 122–125 – bipolare 98, 99 – endogene 98 – Entstehungsmodell 119, 145 – erlernte Hilflosigkeit 105–106, 120 – Erschöpfungsdepression 99 – Galen 102 – genetische Veranlagung 106, 107, 110, 117, 118, 120, 147 – Immunschwäche 75, 79 – Involutionsdepression 98, 99 – Manie 112–117, 118, 150–152 – Melancholie 102, 103, 125–130, 134, 135, 150, 164, 165, 191, 245, 281 – Modelle 142, 145, 149 – neuronale Mechanismen 152

1037

– pschoanalytische Betrachtung 102–103, 121, 125, 129–136, 145–150, 152, 160, 197, 248, 252 – psychogene 98 – Psychopharmaka 108–111 – psychotische 143, 212 – reaktive 98, 99, 120, 285 – Schuldgefühl 102, 152, 157, 160, 171 – somatogene 98 – Trauer 129 – und Aggression 195 – und Existenz 13, 153, 156, 160, 164, 211, 252 – und Krieg 258–259 – und Schlafentzug 111 – und Streß 79, 101, 104–111, 117–119, 157 Deprivation – emotionale 479, 482, 483 – soziale 479 Desintegration 181, 196, 591, 765 Destruktivität 236, 912, 915 Determination 181, 806, 809, 810, 811, 823–825, 830, 841, 844, 850, 852, 856, 886 Deutscher Idealismus 282, 397, 408, 415, 549, 648, 814 Deutung – psychoanalytische 174, 177, 197 – symbolische 21 Dezentrierung 574, 602, 622 Diabetes 37 Diachronie 518 Dialektik 563, 567, 584, 862, 884, 888 – Hegel 861, 884, 888 – Kierkegaard 885 – transzendentale 603, 813 Dialog 14, 21 – abschließender 798 dialogischer Personalismus, Buber 554, 556 Diamant 592, 884 Diamantenschiff 435 Diathese-Streß-Modell 110, 118, 157 dichterische Darstellung 22, 23, 92, 204–205, 242, 252 Dichtung 23 Differenzierung – des Selbst 136, 137, 138, 141, 142, 471 – psychische 136, 137, 142 Differenzierungsfähigkeit 463 Ding an sich 398, 409, 428, 551

1038 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Dionysos 749 Diskontinuität 199–200, 380, 385, 386 Diskriminierungsaufgabe 217 Disposition – genetische 219, 254, 685, 687 – karmische 770 – konstitutionelle 146, 147 – psychische 37, 135, 151, 152 – Verhalten 118 Dissoziation – Persönlichkeit 140, 180, 212, 216, 252, 256, 542, 622, 660 Dissoziative Identitätsstörung (DIS) 250, 256 Divergenz 563 Dogma 89, 158, 241, 242, 297, 394, 625, 639, 723, 772 Dogmatismus 692 Doppelbindung (double bind) 199, 205, 207, 211, 212, 256, 266, 774 Doppelbödigkeit 206, 211, 475 Doppelbotschaft 266 Doppelgänger 250, 251, 356, 550, 770 Dornenkrone 56 Drei-Säulen-Modell 148–150 Drittes Reich 27 Drogen 14, 183 Drohung 52, 107, 138, 140, 232, 235, 773, 791, 924, 928 Druckschmerzhaftigkeit 78 Drüsen, Purpurschnecken 158 DSM – Autismus 263, 265 – Depression 112, 114 – DIS 250, 256 – Schizophrenie 171, 172, 174 DSM-III 114, 172, 250, 263 DSM-IV 112, 171, 174, 258, 265 Du, das (Buber) 554–555, 594, 619 Dualismus 29, 390, 397, 403, 405, 406, 409, 410, 413, 422, 511, 705, 734, 851 – Descartescher 402 – Ich und Es, Freud 587, 593 – Metaphysischer 413, 693 – ontologischer 29 – psycho-physischer 738 Dualunion 129 Dumuzi (Tammuz) 743–744 Dyskardie 113 Dysphorie 113

Dyspnoe 51, 113 Dyssomnie 113 Echolalie 263 Echopraxie 171 Edda 749–752 ego-kosmisches Ich 190 Egozentrik 14, 596, 777 Eifersucht 43, 319, 448, 635, 669, 898 Eifersuchtswahn 170 Eigenschaftscluster 280 Eigensinn 97, 169 Einheit – der Persönlichkeit/des Ich 180, 185, 187, 257, 283, 519 – des Bewußtseins 347, 364, 380, 381, 399, 518, 570, 585 – narzißtische 190 – psychopathologische 197 – von Bewußtsein und Materie 408 – von Gottvertrauen und Selbstvertrauen 92 – von Mutter und Kind 137, 140 – von Seele und Körper 393 – von Selbst und Objekt 141 – von Wahrnehmen und Bewegen 33 Einheitslehre, pantheistische 739 Einsamkeit 55, 97, 101, 103, 124, 127, 136, 172, 184, 285, 475, 479, 584, 790, 919, 938 Einschlafen 230 Einseitigkeit 55, 725 Einverleibung 133, 134, 164 Einzelner, der 444, 565, 575, 630, 639 Ekel 24, 513, 934 Ekstase 651, 652, 653, 657, 671 élan vital 407 Elend – der Menschen 644, 786, 793, 799 – melancholisches 132 Eltern – idealisierte 41 – narzißtische Erwartungen 41, 42, 191 – Loslösung von 628 – und Depression 146, 158 – und Mißbrauch 255 – und Psychoanalyse 253 – und Schizophrenie 193, 206, 208, 212, 213 – von autistischen Kindern 261

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – von Krebspatienten 82 Elternbindung 483, 916 Eltern-Imago 41, 148, 767, 824, 857, 858 Eltern-Kind-Beziehung 481, 482, 483, 857, 916 emergente Eigenschaften 13, 707, 710, 797, 846, 851 Emergenz 703, 844, 851 emergenztheoretischer Materialismus 709 Emergenztheorie 710, 711, 714, 716 Emotionen (Gefühle) – Alexithymie 29–30 – Distanzgefühl 147 – emotionale Vernachlässigung 41, 82, 482 – falsche/simulierte 206–208 – Gefühlsambivalenz 659, 660 – Gefühlskälte 722 – Ich-Gefühl 125, 185, 188–190 – Neurotizismus 84 – Selbstwertgefühl 139, 146, 157, 164, 194 – und Autismus 267–268 – und Borderline-Persönlichkeit 140, 142–144, 146 – und Depression 50, 101–108, 112–115, 120, 125–127, 129–135, 150–151, 157–160, 165 – und DIS 256 – und Gehirn 13, 78, 215–216 – und Gesellschaft 232, 236, 231, 233, 234–235 – und Krieg 256, 249, 259 – und Mißbrauch 255, 256 – und Parkinson 285, 287 – und Psychosomatik 28–30, 36, 40, 42, 43, 50, 54, 80, 82, 84, 85, 88, 92, 93, 97, 99, 101, 120 – und Schizophrenie 168–169, 172, 173–175, 181, 197, 206, 207, 209, 215–218 – von Tieren 122, 123, 202, 293, 294, 297, 298, 303, 470 – Zuwendung durch Mutter 138 Emotionstheorien 835 Empathie 15, 29, 193, 194, 198, 424, 463, 467, 471, 472, 521, 559, 627, 903, 917 Empfängnis, jungfräuliche 90, 781 Empfinden zeitlicher Kontinuität 196 Empfindung – Körperempfinden 170, 666, 678

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– von Schmerz 87, 89, 159, 329, 349, 359, 429, 511, 516, 707 Empfindungslosigkeit 167 Encodierung 255, 453, 479, 505, 509, 513, 516, 528, 531 endogene Depression 98, 116, 152 endogene Psychose 98 endgültiges Verlöschen 438 Endgültigkeit 161, 205, 513 Endlichkeit 94, 153, 164, 167, 632, 648, 703, 719, 720, 741, 757, 791, 884 Energie in der Sprache Freuds 186, 187 Engramm(e) (Gedächtnisspuren) 191 ens absolutum 629 ens a se 629 ens perfectissimum 629 Enthemmung 115 Entfremdung 55, 113, 187–191, 196, 234, 244, 254, 473, 583, 660, 793, 815, 858, 869, 881, 882 Entmythologisierung 652 Entpersönlichung 22 Entschlossenheit, vorlaufende 376 Entschuldigung 915 Entseelung 22, 663 Entspannung 54 Entstehungsmodell einer Depression 119, 145 Enttäuschung 31, 41, 80, 101, 126, 146, 149, 157, 160, 189, 253 Enttäuschungsatheismus 425, 625 Entwicklung – Ich-Entwicklung 133, 134, 136, 138, 141, 148, 150, 182, 188, 192, 451, 914 – Gehirn 214, 220, 225, 268, 269, 281, 290 – kognitive 265 – Libido-Entwicklung 130, 135, 176, 182, 188 – von Selbstbewußtsein 450–478 Entwicklungsverzögerung 265 Entwöhnung 129, 134 Entwürdigung 640, 926 Entwurf 720, 817–819, 841 - Selbst-Entwurf 476, 818 Entzug – Gedankenentzug 169 – Liebesentzug 143–144 – Mutterentzug 905 – Schlafentzug 111, 672

1040 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Entzündung(en) (Infektion) – Gelenkentzündung 76, 77, 78 – Hirnhautentzündung 380 – Lungenentzündung 25, 72, 476 – neurogene 78 – Venenentzündung 515 – Virusentzündung 388 epigenetische Manifestation 396, 823 epigenetische Prozesse 161, 396, 823 Epilepsie 215, 290, 380, 665, 668, 669, 670, 671, 673, 676, 679, 680, 682, 683, 684, 757, 839 Epiphänomen 527, 712, 713 Epiphänomenalismus 711, 712, 714 Episode – generalisierte 461 – manische 114 – und Bewußtsein 386, 461, 475 – und Gedächtnis 461 episodische Dysphonie 140 episodisches Gedächtnis 461, 518, 519, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 episodisches Geschehen 518 Epoche 577, 602, 640, 652, 729 – Epigonenepoche 869 – Husserl 821 Erbarmen 15, 646 Erbanlagen 106, 288, 685, 686, 693, 871, 897, 899 erblich bedingt 253, 288 Erbrechen 25 Erbsünde 90, 431, 760, 870 Erbsündenlehre 872, 880, 881, 939 Erde – Teufel der Erde 159 – und Himmel 167 Erfahrung(en) – Angsterfahrung 196 – Mangelerfahrung 146, 147 – Welterfahrung 158, 172, 240 Erfolglosigkeit 155, 790 Erfüllung 59 – Pflichterfüllung 150, 287 – Rollenerfüllung 172 – Sittengesetz, Kant 161, 814 – Wunscherfüllung 133, 154, 169, 179, 226, 262, 435 Erfüllungsbereitschaft 627 Ergänzung 572

Ergänzungs- und Ersatzmethoden, Tierversuche 909 Erinnerungssprengsplitter 255 Erinnerungsspuren (Gedächtnisspuren) 189, 191 Erkenntniskritik 398, 452, 797, 813, 862 Erkenntnismetaphysik 262, 281, 548 Erkenntnistheorie 194, 281, 282, 347, 412, 413 Erkenntnisvorgang 282 Erkrankungsrisiko – Schizophrenie 214, 218, 219, 220, 222 Erlösung 15, 247, 425, 430, 553, 595, 598, 600, 606, 646, 660, 681, 704, 770, 771, 772, 874, 877, 878, 928, 941 Erlösungsbedürftigkeit 434, 870, 882 Ermordung 99, 517, 634, 726, 916 Ermüdung 177, 346 Ersatzmutter 903 Ersatzobjekt 41 Ersterkrankung – Schizophrenie 219, 220 Erwähltheit 623 Erziehung 54, 130, 157, 248, 261, 724, 927, 928 Es, psychoanalytisch 24, 25, 50, 97, 134, 185, 191, 192, 195, 196, 201 Es-Analyse 182 Es-Depression 146, 149 Eskalation 920 Eskimo 130 essentielle Hypertonie 37, 42–46 Eßstörungen 37 – Anorexia nervosa (Magersucht) 93, 130, 185, 257 Ethik 154, 159, 478, 515, 645, 706, 741, 765, 812, 877, 878, 882, 885, 898, 902, 906, 907, 909, 939 Ethnologie (Völkerkunde) 466, 518, 558, 562, 563, 566, 576,580, 589, 619, 653, 678, 721, 725, 726, 728 – strukturalistische Ethnologie 577, 590, 610, 611, 616–617 Euphorie 339, 384 Eva 886 Evidenz 156, 159, 400, 408, 585, 586, 694, 835, 875, 901 Evolution – biologische13, 15, 118, 123, 159, 161, 274, 282, 290 – der Seele 295

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Evolutionstheorien 172 Erwartung – als Emotion, Plutchik 157 – der Eltern 42, 80 – habituelle 205 – Leistungserwartungen der Gesellschaft 54 – Liebeserwartung 206 – narzißtische 42 – negative 120 – Straferwartung 125 – überhöhte 26 ewige Höllenpein 246, 247 ewige Ruhe 167 ewiges Leben 184, 749, 758, 797, 938 ewiges Verlöschen 165 Ewigkeit 164, 166, 167, 387, 391, 434, 636, 674, 738, 749, 752, 758, 759, 789, 792, 795, 801–803, 812, 842, 887, 894 Ewigkeitshoffnung 741 Ewigkeitsverheißung 742 Exegese 242, 254 Exil 53, 787 Existenz – bei Heidegger 185 – bei Kierkegaard 195, 236 – Dämonen/Hölle 247 – der Seele 13, 598, 728, 736, 771 – Gottes 161, 389, 403, 625, 651, 659 – menschliche 89, 153, 163, 184 Existentialismus 406, 588, 596, 601, 816, 820, 865 Existenzphilosohie 145, 185, 537, 603, 648 Exorzismus 247, 658 Experiment – Assoziationsexperiment 35 – Tierversuche 34, 50, 76, 81, 85, 107, 117, 286 experimentum crucis, Psychosomatik 34 explizites Gedächtnis 488, 509, 518, 713 extrauterine Entwicklung 136 Fall – Ellen West 184–185 – Paranoia, Schreber 174–177 Fallout, Atomwaffen 81 Familienroman der Neurotiker 765 Familienstudien 219 Familienverband 148

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Fanatismus 242 Färbung Gottes, Islam 607 Faschismus 816 Fatalismus 879 Feder, Maat 785, 786 Fegefeuer 757, 764, 792–794, 939 Fehlen – eines Selbst 234 – Gottes 884 Feindgegenwärtigung 231 Feindseligkeit 103, 132, 197, 208, 451, 670 Feindseligkeitsantriebe 49 Feldfrüchte 242 feminine Einstellung gegen Gott, Schreber 174 Ferenczi, Sándor – Beziehung zu Freud 198 Fetisch 638, 665, 729 Fetischdienst 14 Fetischisierung 245, 535 Fetus 107, 214 Fieber 84, 85, 400, 669, 690 – Malaria 86 – Munchbild 245–246 – Nesselfieber 37 – psychogenes 84, 85, 86 fight or flight-Reaktion (Flucht oder Angriff) 38, 48, 60, 96, 105, 123 Film – Angriffsziel Moskau 474 – Full Metal Jacket 235 – Uhrwerk Orange 926 Finalgründe 810 Finalursache 397, 810 Fixierung – psychoanalytisch 126, 135–136, 141, 164, 176, 178, 182, 192, 193, 194 – somatische 113 Fleischnahrung – Massentierhaltung 910–911 – Mittler zur Welt der Götter 735 – Plutarch 765–766 – Taoismus 160 Flöten 729, 744 Fluch 167, 247, 877, 884, 886 Flucht 336, 343, 805, 809 – in religiösen Wahn 210 – vor der Endlichkeit 153, 164 Fluchtdistanz 790

1042 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Flug – der Vögel, Kierkegaard 163 Flugsimulator, Tierversuche 902 Flußkrebs 117, 120, 122 Folge, Krankheit als Folge der Sünde 22 Folter 609, 629, 819, 890, 913 forensische Psychiatrien 898 Form des Leibes, Seele 418 Fortschritt – der Naturwissenschaften 410, 652, 691, 898 – der Neurologie 19, 88, 116 – des religiösen Bewußtseins 242 freier Wille 29, 169, 814–816, 820, 826, 831, 833–835, 838, 842, 856, 862, 870, 878, 879, 880, 912, 921, 922 Freiheit 805–928 – bei Kierkegaard 195, 236 – Last der Freiheit 153 Fremdartigkeit, Gefühl 179, 660 Fremdbestimmung 603, 806, 858 Fremdheit 187 Fremd-Ich 194 Fremd-Selbst 194 Fremdwahrnehmung 540 Freßanfälle 140 Fressen und Gefressenwerden 159 Freude 56, 156, 158, 159, 173, 460, 466, 605, 683, 800 Freundlichkeit in Therapie 198 Freundschaft 101, 629 – Pythagoras 20 – Seneca 20 Friede 59, 249, 537, 606, 642, 661, 682, 754, 755, 799, 859 Frömmigkeit 14, 23, 56, 57, 241, 246, 536, 669, 677, 685, 686, 744, 762, 764,774–777, 786, 865 Fruchtbarkeit 618, 729, 744 Fruchtbarkeitsgott 743 frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom) 263–265, 268 frühkindliches exogenes Psychosyndrom 147 frühkindliche Hirnschädigung 147 frühkindliche Mangelerfahrungen 146, 147 frühkindliche Prägungen 871, 933 Frustration 26, 43, 48, 144 Frustrationstoleranz 142

Führer, Hitler 212, 236, 915 Fundamentalprinzip 923 funktionaler Leidensdruck, psychoanalytisch 44 Funktionsstörungen 32, 51, 96, 216, 225, 287 – Ich-Funktionsstörung 202 Furcht – bei Tieren 901 – im Hinduismus 432 – vor dem Tod 20 – vor Elektroschock 104 – vor Liebesentzug 143 – vor Strafe 596, 764, 776, 922 – vor Zerbrechen des Selbst, Kohut 196 Gang, Parkinson 284 Gastritis 37 Gebärmutter (Uterus) 111 Gebet 60, 158 Geborgenheit 42, 136 Gebot – der Liebe 21 – der Moral 154 – Gottes 536, 620, 621, 639, 640, 642, 643, 647, 648, 669, 775 – negatives 206 – primäres 206 – sekundäres 206 Geburt 734, 737, 744, 759, 766, 778, 781, 786 – Dämonie von Geburt und Tod 164 – Jesu 255 – Jungfrauengeburt 242 Geburtsrecht 694 Gedächtnis – biographisches (episodisches) 388, 461, 527, 531, 544, 546, 556, 560, 561, 756, 779, 838 – deklaratives 359 – explizites 488, 509, 518, 713 – implizites 368, 713 – Kurzzeitgedächtnis 217 – Langzeitgedächtnis 255 – Neugedächtnis 287 – und Angst 51 – und Autismus 266, 269, 280 – und Schizophrenie 215, 216, 228 – und Parkinson 287 Gedächtnisblockaden 250 Gedächtniskarte 273

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Gedächtnislücken 250 Gedächtnisverlust 87, 255 Gedanken – automatische Gedanken 120 – Größengedanken 114 Gedankenbeeinflussung 179 Gedankenentzug 169, 184 Gedankenjagen, Manie 114 Gefangenschaft 15, 55, 207 Gegenbesetzung 150 Gegenprogramm 104 Gegenreformation 391, 654 Gegensteuerung 48 Gegenwart 13, 14, 22, 41, 55, 217, 282 Gegenwelt 225 Gegengestalt – Fürst Myschkin 251 – Goljädkin 250 Geheimnis 25, 92, 170, 184, 253, 290 Gehör 167 – und Sprache Gehörstäuschungen 170 Gehorsam 96, 234, 628, 658, 905, 915, 923, 926, 927 Gehorsamsbereitschaft 906 Geist – als tätiger Geist (intellectus agens) 282 – an Geist erkranken 102, 113, 115, 129, 176, 183, 190, 205, 214, 232, 243, 244, 245 – menschlicher Geist 163, 196, 243, 244, 262, 282, 290 Geister 90, 102, 183, 245, 528, 623, 650, 666, 669, 726, 727, 728, 729, 732, 733, 735, 751, 755 Geisterglauben 19 Geisteskrankheit(en) 102, 113, 115, 129, 176, 183, 190, 205, 214, 232, 243, 244, 245 – Hegel 243, 244 geistige Substanz 283, 377, 690, 701, 725, 758, 760, 775 Geistleiber 795 Geistleiblichkeit 432 Geistmetaphysik 549, 749 – Kierkegaard 153 Geistnatur des Menschen 536, 645 Geistseele 389, 390, 393, 691, 692, 736, 737 Geistsubstanz 417, 720–721 gelbe Galle 102 Geld 53, 103

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Geldausgaben, Boderline-Persönlichkeit 140 Geldgier 895 – Ärzte 92, 239 Gelenkentzündungen 76, 77, 78 Gelenkerkrankungen 78 Gelenkschmerzen 78, 79 Gelenkschwellungen 74 Geltungsanspruch 515, 793 Geltungssucht 32 Gemeinde 94, 243, 249, 438, 771, 772, 869 Gemeinschaft – Graugans 123 Gemeinsinn (sensus communis) 97 Generalisierung 281–282, 525 Generalisierungsproblem 281 Generation 163 Genese – Krankheitsgenese 29, 32, 43, 147, 195, 510 – Pathogenese 29, 43, 195 – Psychogenese 82, 118, 133, 139, 147, 173, 180, 182, 913 genetische Veranlagung – Autismus 264, 268, 281 – Depression 106, 107, 110, 117, 118, 120, 147 – Immunsystem 64 – Parkinson 288 – Psychose 100, 147, 176 – Psychosomatik 29 – Schizophrenie 218, 219 Genitalbereich 188 genitale Phase 148, 150 Geräusche, Nachahmung 266 Gerechtigkeit 14, 20, 157, 161, 614, 630, 641, 642, 644, 645, 669, 773, 775, 785, 787, 788, 791, 792, 804, 815, 816, 865, 887, 894, 922, 926, 938, 939, 940, 941 Gericht – jenseitiges 731, 757, 762, 764, 786, 788–793 – juristisch 931, 942 Geruchstäuschungen 170 Gesamtpersönlichkeit 26, 171, 830 Geschmacksaversion 35 Geschmackstäuschungen 170 Geschwindigkeit – der Informationsverarbeitung 287

1044 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Gesellschaft – Leistungsgesellschaft 54 – Primitivgesellschaften 182 – Wahnsinn der Gesellschaft 232–234, 240, 245, 248–250 Gesetz(e) 21, 22, 43, 59, 237, 238 – Gottes 241 – Sittengesetz 161 Gesetzgebung 111 Gesicht(er) – bei Parkinsonpatienten 284, 285 – von Tieren 202 Gesichtsausdruck 217, 218, 257 Gesprächstherapie 20 Gestaltwahrnehmung 278 Gestik 200, 206 Gestirn 166 Gesundheit 20, 27, 40, 77, 88, 89, 96, 97, 109, 130, 149, 447, 507, 688, 808, 897, 899, 910 Gesundung 93 Getreide 88, 911 Gewalt 53, 54, 60, 95, 161, 235, 238, 242, 254, 257, 872, 886, 898, 911, 913, 914, 916–921, 933–936, 930–932 Gewalttätigkeit 148 Gewissen 21, 134, 148, 160, 235, 515, 544, 614, 669, 788, 916, 923, 926, 927, 928, 933 Gewissensbisse 134, 297 Gewohnheiten 55, 87, 315, 405, 811 Gilgamesch 742, 752 Gilgamesch-Epos 742 Glaube – an Heilung 90 – an Placebos 88, 89 Gleichgewicht – Säftelehre 102 – seelisches 20, 115, 148 Gleichgültigkeit 720 globalisierte Welt 53 Globus 113 Glück 20, 93, 157, 167, 235 Glückseligkeitszuchthaus 618 Glücksstreben 239 Gnade 59, 60, 90, 592, 619–623, 631, 635, 641–644, 647–648, 660, 662, 680–682, 692, 747, 790–791, 795, 810, 857, 779–780, 885–887, 933, 939, 941 Gnadenlosigkeit 790, 802 Goljädkin 250–251, 884

Gott – Allwissenheit Gottes 870 – Atheismus 248 – Barmherzigkeit Gottes 247 – bei Rahner 282 – Beweis Gottes 247, 262 – Dämonologie 247 – Eingreifen Gottes 90 – Existenz Gottes 659 – Fruchtbarkeitsgott 743 – Gesetz Gottes 241 – Gnade Gottes 621 – Gottesfrage 403 – Liebe Gottes 126, 762 – Macht Gottes 91, 174, 242, 658, 870 – Mutter Gottes 56, 90, 677, 658, 665 – Opfer Gottes 242 – Personalität Gottes 14, 623, 634, 648, 650, 705, 801 – Postulat Gottes, Kant 161 – Priesterarzt 19, 20, 21 – Rechtfertigung Gottes 866 – Schöpfergott 13, 389, 403, 626, 842 – Schöpfungswerk Gottes 159 – Sohn Gottes 677, 767, 869 – Soma, Azteken 242 – Totengott 95 – und Aufklärung 14 – und Fall Schreber 174–175 – und depressives Erleben 165 – und Schöpfung 158 – und Tiere 158 – und Welt 158, 159, 240 – Urgottheit 242 – Vegetationsgott 749 – Vertrauen auf Gott 92, 94 – Wahrheit Gottes 655 – Wille Gottes 154 – Wunder Gottes 92 Gottähnlichkeit 813 Gottesbild 425, 606, 635, 648, 655, 665, 813, 866, 870, 940 Gottesebenbildlichkeit 536 Gottesferne 642, 789, 790, 883 Gottesfurcht 536, 680, 927 Gottesgnadentum 628 Gottesidee 626, 649, 735 Gottesurteil 336 «Gott-Gen» 822, 919

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Gottwerdung 817 Grammatik 171, 472, 500, 501, 580, 582, 597 Granatenschock 259 Grauen 107, 163, 164, 167, 196 Graugans 123, 124 Grausamkeit 239, 258, 423, 430, 595, 609, 614, 618, 622, 631, 703, 704, 720, 736, 747, 776, 874, 876, 882, 907, 913 Grenze – zwischen Neurose und Psychose 96, 139, 181 Grippe 68, 72, 83, 704 Größenselbst 42, 150 Größenwahn 176 Grübelneigung 113 Grundgesetz der Kommunikationstheorie 199 Gruppe, soziale 13, 54, 124, 202 Gruppenbildung 298 Gruppenmitglieder 316, 442–444, 446, 858 Gruppensolidarität 663 Gute, das 19, 281 Güte 59, 134, 161, 187 gute Brust 140 gute Mutter 131, 250 gute Objekte 133, 134, 140, 141 gute Selbstbilder 141 Hades 740, 741, 743 Halluzinationen 339, 355, 425, 652, 666, 754, 757 – akustische 353, 652, 666, 668 – auditorische 179 – bei Schizophrenie 170, 172, 173, 179, 182, 183, 215, 223, 263, 289, 839 – der Körperempfindungen 170 – drogeninduzierte 183 – epileptoide 14, 682 – Farbhalluzinationen 353, 364, 651 – psychoanalytische Betrachtung 177, 178, 190 – psychotische 676 – visuelle 170, 353, 652, 666, 668, 753 Haltung – infantile 192 – Körper 113, 117, 200, 238, 284 – Milchvieh 130 – psychische 131, 205

1045

Handlungen – automatische 169, 171, 179 – gewalttätige 132 – imaginäre 266 – Mißbrauchshandlung 255 – Schuldgefühle 144 – suizidale 140 – Zwangshandlungen 169, 171 Harmonie 20, 171, 191, 609, 661, 843 Harnuntersuchung, Preise 21 Haß 336, 337, 346, 574, 669, 785, 886, 936 – Selbsthaß 232, 234, 235, 252, 680 – und Krieg 106, 248, 721 – und Psyche 169, 231, 232 – und Psychoanalyse 99, 131–132, 134, 148, 175, 547 – und Psychosomatik 43 Hautflechte 35 Hautreaktion, allergische 35 Hautrötungen 79 Hauttumore 81 Hebephren 210 Heidentum 538, 639 Heiland 56, 675 heilende Kraft der Träume 20 heilige Orte 90 Heiliger 164, 284 Heilige Schrift 242 Heiliges Herz Jesu 56 Heiligtum 20, 565, 654 Heilungen – Araber 21 – durch Liebe 57 – Geisteskrankheit, Hegel 243–244 – Griechen 20–21 – Psychoanalyse 22, 23, 55, 176–178, 245, 568, 850 – Psychosomatik 29, 88, 91 – Schamanen 20, 581 – Selbstheilungen 92 – Selbstheilungsversuche 152, 178, 659 – Spontanheilungen 91 – und Glauben 90, 801 – Wunderheilungen 31, 90, 91, 92, 761 – von «Verbrechern» 934, 941 Heimat 100, 249, 720, 736 Heimatfront 899 Heimatgemeinde 94 Heimatlosigkeit 736, 883

1046 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Heirat 337, 586, 597, 729, 737, 791, 799, 936 Heiraten 93, 729 Held 235, 284 hellenistische Antike 22 Hemmung – Allgemeinhemmung, psychoanalytisch 103 – als Nebenwirkung, Neuroleptika 225 – Depression/Trauer 125 132 – Enthemmung 115 – Feedback-Hemmung 58 – Immunsystem 68, 70 – Intentionshemmung, Schizophrenie 173 – Outputneuron 278 – Suppression 68 Herde 124, 159 Hermeneutik 25, 196, 254, 424, 649, 684, 702, 716, 758, 807 Heroin 286 Herrschaft 159, 438, 600, 608, 732, 791, 824, 836, 909, 927, 930 – psychoanalytisch 181, 196, 547, 765 Herrschaftswillen 245 Herrschaftswissen 15 Herrschaftszeichen 730 Herzangstsyndrom (Herzneurose, Herzphobie) 31, 40–42, 49, 57 Herzrhythmusstörungen 49, 50 Hethiter 635 Heuschnupfen 36, 37 Hierarchie 200, 444, 576, 875 Hieroglyphen 56, 781 Hilflosigkeit 15 – Depression 101, 120, 136, 143, 144 – erlernte 43 – psychische 107, 211, 233, 234 – und Parkinson 284–285 – und Psychosomatik 88 – und Streß 105, 107 Himmel 60, 91, 128, 160, 167, 170, 252 Himmelfahrt 242, 744 Himmelsgöttin, Nut 781–784 Himmelskönigin 783 Hinduismus 551, 608, 690, 758, 762, 777 Hingabe 798 Hitler 236 HIV-Infektion 83

Hochdruckkrankheit 37, 39, 40, 42–47, 51, 52, 54, 58, 116 Hochmut 436, 590 Hoffnung 55, 82, 89, 94, 95, 97, 103, 161 Hoffnungslosigkeit 104, 129, 157, 249 Hölle 103, 129, 167, 170, 184, 238, 239, 246, 247 Homologie 123 Homöopathie 21 Homosexualität 174, 175, 176, 178, 184, 188 Horizont 239 Horus 744 Hospitalismus 261 Hostie 638 hot spot 184 Humanismus 238, 569, 576, 880 Humor 200, 268 Hunger 107, 113, 188 Hyperaktivität 79 Hyperbelfunktion 98 Hyperkinesien 264, 289 Hypermanie 114 Hypertonie 37, 39, 40, 42–47, 51, 52, 54, 58, 116 Hypertrophie 46 Hypnose 27, 180 Hypochondrie 88, 89, 93, 94, 113, 194, 197 Hypotonie 37, 49 Hysterie 23, 25–26, 176–178, 253 – Angsthysterie 186 – Konversionshysterie 25, 30, 186 Ich – Nicht-Ich 186, 194, 230 – Vorstellung eines Ich-denke 283 Ich-Besetzung 186 Ich-Bewußtsein 181, 405, 557 Ich-Bezug 518 Ich-Du-Beziehung 619, 640 Ich-Entwicklung 133, 134, 136, 138, 141, 150, 188, 192, 451, 914 Ich-Funktionen 187, 201, 542 Ich-Funktionsstörung 202 Ich-Gefühl 125, 185, 188–190 Ichgrenze 142, 186–191, 548 Ich-Ideal 548, 938 Ichideal-Depression 146, 150 Ich-Identität 541, 652, 739 Ich-Instanz 542

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Ich-Komplex 179, 181, 185, 252 Ich-Psychologie 136, 145, 184–191 Ich-Stärke 141 Ichtriebe 669 Ich-Verlust 126, 129, 230 Ideal 125, 194, 257 Idealisierung 41, 140, 141 Idealismus 250, 399, 409, 410, 415, 418, 574, 808, 820, 821, 851 – Deutscher Idealismus 282, 397, 408, 415, 549, 648, 814 Idealität 13 Ideal-Objekt 148, 541 Ideal-Selbst 148, 150, 541 Idee – abstrakte 236 – Beziehungsideen 172, 177 – der Verschuldung 132 – Gottesidee 626, 649, 735, 818 – religiöse 686 – Suizididee 98 – und Ich-Komplex 185–186 – Verarmungsideen 132 – Verfolgungsideen 169, 262 – Wahnideen 132, 170, 172, 173, 179, 190, 263, 513 – Zwangsideen 179 Ideenflucht 114, 169 Identifikation 41, 126–127, 129–131, 151, 155, 157, 164, 177, 181, 190, 236, 466, 557, 583, 584, 596, 608, 622, 639, 645, 663, 705, 857 – Fehlidentifikation 154, 211, 438, 558, 602, 622, 662 Identität 75, 204, 235, 250, 256, 283 Identitätsstörung 140, 250, 256 Ideologie 234, 418, 449, 474, 769, 861, 915 Illusion 172, 240, 241, 242, 244, 837, 849, 862, 922 Imagination 88, 93, 424, 588, 722 Imago 197, 303, 584, 929 Imitationslernen 263 Impotenz 113 Impulsivität 140 Inanna 743, 752 Inappetenz 113 Indien 86, 431, 757 Individuation 136, 138, 139, 142, 143, 144, 148, 159, 445, 464, 534, 552, 557, 558, 561, 660, 664

1047

Individuationsphase 138 Individuelle, das 14 individuierendes Prinzip (principium individuationis) Indonesien 739 infantile Abhängigkeit 149, 628, 660 infantile Ängste 927 infantiler Autoerotismus 176 Infantilisierung 245 Infarkt, Herz 40, 44 Inferno, Dantes 103 Informationstheorie 199 Initiative 216 Inka 652 Inkarnation 356, 436, 738, 776 Inkohärenz des Denkens 169, 224 Innerlichkeit des Religiösen 245 Innervation 28, 176 Inselbegabungen, Autismus 262, 269 Instinktverhalten 14, 183 Institution, Religion 242, 245 Integration 141, 148, 185, 217, 228 intellectus agens 282 Intellektuelle, das 161, 171, 212, 286 Intelligenz 244, 264, 265, 269, 282 Intensität – Depression 143 – Komplex 179 Interaktion – biologische 87 – soziale 193, 205, 265 Interdependenz 32 Interpersonalität 465, 554 Intersubjektivität 464–466, 468 Intervention 82, 198 Introjektion 133, 136, 141–144, 466, 612, 622 Introspektion (Selbstbeobachtung) 122, 194, 375 Inzest 935 Ironie 23, 153, 240, 268 Irrtum 161, 198, 201, 237 Ischämie 44 Ischtar 742–744, 752 Islam 14, 241, 662, 763, 764, 777, 869, 870 Isolation, soziale 123, 172, 475, 481, 482, 902–905 Jagd 130, 235 Jagdgöttin 95

1048 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Jahwe 158, 204, 624, 635, 640, 641, 774, 787 jugendliches Irresein 168, 210 Jungfrauengeburt 242 Kälte – emotionale 197 – seelische 53, 254 Kalter Krieg 235 Kampf – Abwehrkampf, psychoanalytisch 177, 181, 184, 237 – Kapitän Ahab 252 – Kommentkampf 122 – Konkurrenzkampf 14, 117 – ums Dasein 159, 245, 646, 703, 894 – ums Überleben 13, 60, 94, 282 – und Depression 123 – und Krieg 249, 259, 872, 890, 896, 899, 900 – und Streß 48 – Verteidigungskämpfe 117 Kampf/Flucht-Reaktion 105 Kampfgeist 130 Kampfmoral 872 Kampfstoffe 899 Kannibalismus 160, 242 kannibalistische Phantasien 135 kannibalistische Tendenzen 129 Kaspar-Hauser-Kinder 261 Kastrationskomplex 193 Katastrophe 144, 157, 202, 236, 255 Katastrophenantizipation 113 Katatonie 124, 184, 210 Kategorien, Wechsel zwischen 287 katholische Kirche 56, 57, 90, 111, 158, 242, 244, 247, 295, 389, 391, 394, 535, 589, 599, 609, 620, 632, 639, 653, 655, 676, 691, 692, 763, 764, 819, 820, 881, 883, 939 Katze 98, 280 Kausalanalyse 27 kausale Erklärung 92, 107, 213, 261–262 Kausalitätsprinzip 388, 735 Kausalzusammenhang 27 Killer, US-Army 235, 357, 872, 874 Klavierspiel 25 Kleinheitswahn 126, 170 Ko-Abhängiger 80 kognitive Fähigkeit 268 kognitiver Modus 226, 228, 229, 230

kognitive Störungen 217 Kokain (Cocain) 110 Kollektiv, das 232, 241 kollektive Erkrankung 241 kollektiver Wahn 241 kollektives Unbewußte, das 182–183, 185, 187, 551, 558, 565, 576, 602 Kollektivpsychose 184 Kommunikation – bei der Heilung 91 – Metakommunikation 208, 210, 266, 268 – soziale 200, 202, 208, 263, 265, 268 Kommunikationsanalyse 199 Kommunikationsfähigkeit 97, 120, 147 Kommunikationsmodi 201 Kommunikationstheorie 199, 201, 209 Kommunikationsstörungen 202, 208, 211, 263, 265 Kompensation 208 Komplex – Ich-Komplex 179–181, 185, 191, 252 – Kastrationskomplex 193 – Komplextheorie, Jung 179–181, 252, 257 – Ödipuskomplex 148, 241 – Vaterkomplex 175 Komplexität 193, 203, 411, 420, 421, 423, 507, 529, 710, 711 Komplextheorie, Jung 199 Konflikt(e) – Ambivalenzkonflikt 80, 151 – auslösender 31 – seelische 22, 24, 26, 28, 29, 31, 36, 42, 53, 100, 102, 103, 120, 126, 127, 130, 136, 138, 143, 148, 151, 154, 160, 175, 176, 178, 182, 191, 198 – soziale 213 – zentraler 43 Konfliktsituation, spezifische 28, 32 Konkordanzrate 106 Konkurrenz 15, 43, 53, 56, 232 Konnotation 89 Konsolidierung des Selbst 193, 196 Kontext, Kommunikation 200, 205 konstitutionelle Disposition, Depression 146, 147 Konstitutionstypen, Kretschmer 177 Kontingenz 407, 643, 780, 817, 818 Kontinuität, zeitliche 196 Konversionshysterie 25, 30, 31, 32, 186

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Kopfjagd 242, 589, 729 Kopfschmerz 25, 113 Korn und Wein 242 körpereigene Identität 75 Körperempfindung 170 Körperich 185, 187 Korsakow-Syndrom 290, 822 Kosmos 14, 239 Krampfanfälle (Convulsionen) 115 Krankengeschichte 23, 185 Krankheitsgewinn 31 kreative Pausen 54 Kreatur 159, 167 kreatürliche Angst 153, 167 kreatürliche Armut 15 Krebs 25, 37, 64, 80, 81–83, 90, 94, 81, 82, 304, 633, 896, 897, 899 Krebspersönlichkeit 82 Kreislauf, des Lebens 163 Kreuz 56, 251, 284 Krieg – Antiterror-Krieg 891 – Atomkrieg 305 – Erster Weltkrieg 75, 249, 259, 284, 537, 547 – Irakkrieg 258–260, 872 – Kalter Krieg 235, 474, 899 – Vietnamkrieg 258, 259, 899 – Zweiter Weltkrieg 221, 249, 259 Kriegsbereitschaft 248 Kriegsmüdigkeit 259 Kriegspropaganda 235 Kriegsrüstung 248 Kriegszitterer 30, 284 Kriminalität 913, 914 Kultur – Pflanzerkulturen 242 – Primitivkulturen 159, 183 – Stammeskulturen 19 – Subkultur 100 Kulturanthropologie 199, 240, 290, 562, 653, 739, 885 Kulturgeschichte 183, 189 Kulturrevolution 15 künstliche Intelligenz 269 Kunstsprache, Schizophrenie 171 künstliche Intelligenz 269, 380, 889, 896 Kurzzeitgedächtnis 217, 488 Kybernetik 13, 199, 356, 415, 416

1049

Labyrinth 101 Lächeln, der Kinder 263 Lähmungen 25, 30 Latenzphase, psychoanalytisch 120 Leben, ewiges 184, 749, 758, 797, 938 Lebensgeister 102 Lebensstil 54, 83 Lebensüberdrüssigkeit 156 Lebertran 35 Leere – des Bewußtseins 602 – Gefühl von 41, 113, 140, 143, 144, 150, 190, 235, 236, 285 – philosophisch 163, 164 – religiös 602 Leib-Seele-Problem 379, 408–410, 511, 691, 694, 705, 708, 711, 713, 714, 717, 718 Leid 15, 20, 22, 23, 26, 59, 89, 94, 101, 112, 127, 132, 150, 152, 154, 155, 157, 159, 161, 163–166, 167, 189, 230, 233, 285 Leidenschaft(en) 24, 244 Leidensdruck, funktionaler 44 Leitbilder 149 Lernen – assoziatives 34, 352 – Deutero-Lernen 201 – Imitationslernen 263, 359 – implizites 368 – kompetitives 273, 274 – Lernen I und II, Bateson 201 – prozedurales 528 Libido 125, 126, 131, 132, 133, 174, 175–177, 187, 188, 190, 583, 587 Libido-Besetzung 137, 157, 188, 191, 548 Libido-Entwicklung 130, 135, 182, 188, 914 Libido-Lösungen 176 Libido-Objekt 126, 133, 151, 463 Libido-Theorie 548 Libidoverlust 113 Liebenswürdigkeit 92 Liebesbesetzung 127 Liebesbeziehung 127, 209 Liebesentzug 143, 144 Liebeserwartung 206 Liebesfähigkeit 125, 132 Liebesfütterung 146 Liebesobjekt 125, 126, 137, 138, 143, 151, 176 Liebessehnsüchte 146 Liebesverlust 127, 134

1050 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Liebeswahn 177 Linguistik 575, 577, 581, 594 – strukturalistische 518 Lokaldiagnostik 22, 23 Lourdes 89–91, 654 Lügen 232 Lupus erythematodes 35, 75, 76 Lust 132, 138, 156, 188 Lustgewinn, versteckter 132 Lustlosigkeit 79 Lustquelle 132 Machtwörter 179, 654 Madonna 56, 90 Magengeschwüre und Streß 32, 37, 60, 113, 143 Magersucht (Anorexia nervosa) 93, 130, 185, 257 Magie 14, 19, 431, 566, 744, 786, 795, 834, 939 Major Depression 76 Makaken 226, 315, 318, 352, 448, 493, 543, 907 Makrobiotik 88 Mangel an gemütlichem Rapport 179 Mangelerfahrung 146, 147, 195 Mangelernährung 35 mangelnde Abstraktionsfähigkeit 269 mangelnde Angsttoleranz 142 mangelnde Individuation 136 mangelndes Selbstwertgefühl 135 mangelnde Zuwendung 130, 146, 147, 261 Manie 101, 102, 104, 106, 112, 114, 115, 116, 132–135, 137, 150–152, 191, 228, 244, 822, 838 Manifestation 14, 159, 396, 413, 651, 655, 659, 663, 665, 667 Manipulation 232, 235, 446, 629, 631, 896 Manipulationsversuche 15 Mann Kain 669–670, 677, 679 Mann Moses 669–670, 677, 679 Märchen 183, 246, 250, 254, 278 – der Gebrüder Grimm 94, 131, 157 – Hauff 59 Maskengesicht, Parkinson 284 Masochismus 132 Materialismus 404, 409, 410, 709 Materie und Geist 13, 199, 391, 402, 405, 853 Marktfrau 238 – abstrakter Begriff 282 Massentötungen, Azteken 242

Maus, Tierversuche 35, 64, 81, 83, 85, 86, 227 Maya 242, 795 Maya, Schleier der 434, 436, 843 Meditation 54 Meer 129, 162, 164, 166, 246, 254 Melancholie 102, 103, 125–128, 130, 134, 135, 150–153, 164–165, 191, 245, 281 mentale Wahrnehmungsstörung, Autismus 268 Messalina, Mutter des Britannicus 898 Meta-Kommunikation 266, 268, 269 Metapher 74, 182, 200, 204, 205, 207, 209, 210, 241, 242, 243, 475, 578, 579, 580, 582, 639 Metaphysik 33, 262, 281 Meta-Repräsentation 266, 268, 269 Metonymie 578, 579, 582 Migräne 380, 423, 755 Militär 74, 90, 184, 211, 231, 235, 259, 304, 357, 474, 517, 629, 704, 769, 872, 874, 889–891, 895, 897, 899, 900, 902, 926 Mimik 200, 284, 285 Minderwertigkeitsgefühle 103, 132 Mißbrauch – Drogen 114 – sexueller 118, 218, 253–257 Mißerfolg 150 Mißtrauen 285 Mißverhältnis – von Wollen und Können 43 Mitleid 14, 21, 122, 160, 231, 233, 393, 517, 572, 631, 646, 681, 682, 773, 793, 800, 805 Mittelalter 21, 92, 102, 237, 244, 294, 405, 470, 623, 653, 662, 789, 790, 791 Modell – Aldenhoffsches Modell, Depression 119, 120 – Diathese-Streß-Modell 110, 118, 157, 686 – Dreisäulenmodell, Depression 149, 150 – für Depression 119, 120, 145, 146, 149 – Hilflosigkeitsmodell 120 – Netzwerkemodelle 262, 269 – Streß-Modelle 110, 118, 225 – Triebabwehrmodell 192 – Verstärker-Verlust-Modell 120 Monadologie 187, 402, 706, 810 Mond 162, 744, 746, 781 Monismus 170, 397, 401, 409, 410, 413, 705 Monophysitismus 767

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Monotheismus 419, 640 Moral 154, 177, 185, 213–214, 259 – Mitleidsmoral 160 Moraltheologie 647 Morbus – Alzheimer 289, 339, 388, 610, 822, 896, 907 – Parkinson 261, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 339, 381, 502, 504, 610, 829, 907 Mord 24, 99, 235, 249, 251, 258, 260, 588, 680, 764, 765, 816, 872, 881, 914, 918, 934–938, 940–941 Mordlust 232 Morphium 89 Müdigkeit 79, 103, 104 Mühsal 161, 428 multiple Persönlichkeit 248, 250, 252, 253, 257, 260, 261 Musik 174 Mut 29, 94, 143 Mutismus 31 Mutter – Abhängigkeit von der Mutter 124, 127, 137, 138, 139, 140, 144, 147, 200, 207–209, 211, 213, 290 – Einfluß der Mutter 41, 80, 103, 107, 148 – Mutter Gottes 56, 90, 677, 658, 665 – Harlow-Versuche 127 – Mutter-Kind 135, 138, 141, 208, 462, 482, 483 – Mutter-Kind-Dualunion 129, 136, 137, 140 – orale Phase 129, 130 – psychoanalytisch 80, 129, 130, 131, 135, 137–144, 147–148, 151, 157, 165, 189, 194, 195, 250 – Schimpansen 124 – schizophrene Mutter 136 – Tod der Mutter 128, 129, 131, 245, 246 – und Autismus 263, 264, 266 – und double bind 200, 207–209, 211, 213 – und Psychosomatik 31 Mythe 95, 183, 188, 242, 552, 564, 576, 580–581, 590, 592, 688, 727, 741, 743, 744 Mythos 426, 579, 581, 724, 733, 737, 744, 893 Nachahmung 263 Nachahmungslernen 359

1051

Nahrung 300, 301, 302, 303, 313, 314, 315, 317, 332, 469, 479, 515, 516, 596, 801, 851, 852, 876, 910, 911 Nahrungserwerb 313, 332, 387, 429 Nahrungsverweigerung – Depression 126 – gefangener Schwertwal 124 Narzißmus 546, 548, 596, 622 – der Eltern 41, 42, 137 – Fixierung im Narzißmus 176 – gekränkter 932, 934 – maligner 932 – pathologischer 139, 914 – primärer 188, 189, 190 – Regression zum Narzißmus 126, 127, 176, 178 – sekundärer 188, 190 – ursprünglicher 127, 188 Narzißmus-Theorie 192, 194, 236 narzißtische Beziehung 127 narzißtische Einheit 190 narzißtische Kränkung 135, 136 narzißtische Objektwahl 126, 127, 131, 151, 188, 236 narzißtische Persönlichkeitsstörung 192, 195, 197, 198 narzißtisches Defizit 146 narzißtisches Libidoobjekt 151 narzißtische Zufuhr 150 Natur, Harmonie mit 20 Naturwissenschaften – moderne 13 – und Geisteswissenschaften 122 – und Religion 14, 15, 154, 163, 205 Nebenwirkungen 116, 221, 222, 225, 229, 289 Negativbewertung 113 negative Erwartungen 120 negative Libido 132 negatives Gebot 206 negative Symptome 172, 173, 224 negative Rückkopplung 58, 87, 109 Negativismus 138, 171 Neologismus 171, 179, 264 Neo-Psychoanalyse 184 Netzwerke, semantische 217 Neues Testament 92, 241, 254 Neugedächtnis 287 neurogene Entzündungen 78 neurogene Hypertonie 44

1052 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Neurose – Angstneurose 42 – Herzneurose 37, 40–42, 57 – Hysterie 253 – Teufelsneurose 247 – und Hirnschädigung 147 – Unterscheidung zur Psychose 96–98, 139, 180–181, 186, 191, 195, 201 – Zwangsneurose 26, 131, 151, 186, 191, 241 Neurosemantik 718 Neurosenlehre 15, 135, 642, 824 Nicht-Ich 186, 194, 230 – bei Fichte 194 Nicht-Identität 249 Nicht-Psychotiker 168 Nicht-Spiel 200 Nichts 53, 164, 240, 251 Nirvana 437, 605, 608, 646, 647, 681 Niveau mental 178, 181, 187 – abaissement du niveau mental 178, 181, 187 Normalität – der Welt 147 – und Psychopath 234, 236 – und Wahnsinn 231, 236 Notfallreaktion 38, 39, 44, 67, 68, 228 Notwendigkeit der Taufe 247 Objekt – Ich-Objektentwicklung 148 – Ideal-Objekt 148 – psychoanalytisch 41, 125–126, 133, 134–137, 138, 140, 141, 144, 148, 150, 151, 187–188, 189, 194, 195 – symbiotisches 138 Objektbesetzung 126, 131, 150, 164, 189, 190 Objektbeziehung(en) 135, 137, 140, 144, 148, 149, 542 Objektbild 141, 189 Objektbindung 137 Objektlibido 133, 177, 546 Objektliebe 127, 176, 188 Objektverlust 126, 129, 149, 150 Objektimagines 138 Objektkonstanz 138, 142, 144 Objektpermanenz 492, 520 Objektrepräsentanz 138, 266, 487, 541 Objektwahl 126, 127, 137, 236

Ödeme 79 ödipale Konfliktlage 148 ödipale Phase 193, 195 Ödipuskomplex 148, 241 Ohnmacht – Gefühl von 92, 101, 103, 136, 146, 172, 245 – psychosomatisch 49, 50 Oligophrenie 262, 263 Onkologie 82, 83 Ontogenese 821, 840 Ontologie 29, 549, 588, 601, 624, 648, 702, 816 operante Konditionierung 297, 299, 315 Opfer – der Gesellschaft 54, 233 – double bind 205, 206, 210 – Menschenopfer 242 – psychoanalytisch 134, 147, 203, 210, 233 – religiös 242 Opferbereitschaft 83 Opfertod 56 Opiate/Opioide 227 Opium 221 orale Aggression 141 orale Ambivalenzgefühle 130, 151, 157, 158, 159, 160 orale Fixierungen 135, 136, 193 orale Introjektion 136, 164 orale Phase 133, 135, 148 oraler Sadismus 129, 130, 160 orale Stereotypien 220 Oralität 129, 135, 192, 193 oral-sadistische Phase 130 oral-sadistisches Defizit 146 Ordnung – bei Schizophrenie 168 – durch Selbstorganisation 290 – in menschlicher Gesellschaft 240 – soziale 118, 123 – und Gesetz 43 Organisation – künstliche Intelligenz 269 – Persönlichkeitsorganisation 139 – Selbstorganisation 290 – Trieborganisation 193 Organisationshöhe 13, 716 Orpheus 747–749, 752, 804 Osiris 730, 744–746, 765, 785, 790 Osteoporose 81

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Paarung 202 Pädophilie 913 Pali, heilige Sprache 377, 598 Panik 123, 143, 144, 194, 195, 197, 206, 343, 513, 850, 911 – durch Isolation 123 – Gefühl von 143, 144, 194–195, 197 – und double bind 206 Panikattacke 49, 58, 59, 80 Panpsychismus 397, 705, 706, 714, 716 Pantheismus 402 Paradies 170, 246, 609, 763, 764, 788, 799 Paradieseingang 246 Paranoia 133–134, 173–178, 182, 197, 210, 286 paranoider Zug der Gesellschaft 231, 232 paranoide Vorstellungen 140 Paragrammatismus 171 Parasympathicus 49 Parkinson-Syndrom 261, 284–285, 287 – Bewegungsarmut 284–285 Parkinson-Trias Partner 31, 54, 123–124, 127, 164 – symbiotischer 139 Partnersuche 202 Passivität 106, 132, 143, 144 Pawlowsche Konditionierung 34, 200 permanente Kriegsbereitschaft 248 permanenter Angstdruck 53 Person – Beziehung zwischen Personen 92 – der Mutter 137, 211 – Einheit der Person 169, 283 – geliebte Person 126, 127 – Gott als Person 14, 174 – Heilung durch andere Person 198 – multiple Person 180 Personalität Gottes14, 623, 634, 648, 650, 705, 801 persönliche Autonomie 41 persönliche Biographie 182 persönliche Fehlidentifikationen 154 persönliches Unbewußtes 182, 183 Persönlichkeit – Borderline-Persönlichkeit 139–140, 147, 236 – Krebspersönlichkeit 82 – psychoanalytisch 44, 127, 130, 134, 154 – und Psychosomatik 28, 29, 32, 43 Persönlichkeitsfaktor 28

1053

Persönlichkeitsentwicklung 917 Persönlichkeitsorganisation 139 Persönlichkeitsspaltung 180, 181, 182 Persönlichkeitsstörung 108, 180, 503 – antisoziale 920 – autistische 261 – depressive 127, 134, 139, 146 – multiple 248–250, 252, 253, 257, 260, 261, 792 – narzißtische 192, 195, 197 – psychotische 690 – schizophrene 171, 180, 181, 201, 212, 233 Persönlichkeitsstruktur 28, 143, 154, 824, 871 Persönlichkeitstypen 28 Persönlichkeitsverlust 551 Perversion 182, 197, 253, 883, 914 Perzeption 187, 354, 377, 548, 835 Pessimismus 159 – metaphysischer, Schopenhauer 159–160 Pfeil und Bogen 182 Pflichten 248–249 Pflichterfüllung 128, 150, 249, 287 Phänomenologie 406, 427, 480, 550, 569, 570, 596, 601, 821 Phantasie(n) 97, 138, 146, 183, 253, 263, 265, 544, 593, 698, 815, 902 – Gewaltphantasien 921, 935 – Größenphantasien 150, 151 – kannibalistische 135 – sadistische 133 – sexuelle 253 – Tötungsphantasien 143, 670 – unbewußte 133 – Weltuntergangsphantasien 175 – Wunschphantasien 175, 179 Phantasietätigkeit 30 Phantomschmerz 125 Pharmaka – Psychopharmaka 57, 58, 108, 110, 111, 115, 153, 225, 229 Phase – orale 133, 135, 148 – oral-sadistische 130 – anale 149, 151 – genitale 148, 150 – Individuationsphase 138, 139 – Latenzphase 120 – manische 116 – ödipale 195

1054 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – – – – –

prägenitale 914 psychotische 129 symbiotische 136, 137, 138, 142 Traumphase 230 vier Phasen der Objektbeziehung, Kernberg 140–141 – Wiederannäherungsphase an Mutter 142 Phasenwechsel, Manie-Depression 116 Phobie(n) 49, 113, 857 Phoneme 499 Phonetik 469 Physikalismus 714 Phylogenese 173, 821, 840 Physiotherapie 288 Placebo 35, 36, 75, 88, 89 Placebo 35, 36, 75, 88, 89, 633, 634, 713 Placebokonditionierung 35 Placebotherapie 36, 633, 634, 713 Plastizität 78, 213, 504, 505, 506, 507, 510, 512, 514, 823 Poesie 84, 200, 243, 475, 721, 798 Polyarthritis (Gelenkrheumatismus) 76–77, 87, 633 polymodale Wahrnehmung 451 Polytheismus 732 Pontifikat 247 positive Erlebnisse 121 positive Gedanken 89 positive Grundstimmung 101 positive Libido 132 positive Rückkopplung 78 positive Symptome 172, 173, 223 posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatisches Streß-Syndrom) 58, 75, 76, 98, 258, 516, 872 posttraumatische Psychose 98 Postulate, Kant 161 Prädisposition, psychische 152 Präexistenz der Seele 736, 758–762, 767, 778–780 Prägung 479, 480, 481, 483, 521 – Filialprägung 480, 481, 483 Pranger 253 Priester 22, 247 Priesterärzte 19, 20, 22 primäre Hypertonie 42 primärer Krankheitsgewinn 31 primärer Narzißmus 178, 188, 189

primäres Bewußtsein 295, 312, 316, 332, 338, 370, 371, 374, 388, 440, 495, 496, 503, 520, 526, 527, 529, 531, 534, 535, 540, 559, 571, 604 primäres Gebot 206 primäre Repräsentation 266 primäre Störung des Selbst 196, 197, 198 primäre Symptome, Schizophrenie 180, 181 Primaten – und Bewußtsein 298, 317, 319, 443, 470, 471, 476, 499, 517, 530, 531, 577, 700, 875 – und Tierversuche 286, 317, 479, 906–907 Priming 119, 120 primitives Selbst 139 «primitive» Völker 19, 182 «Primitivkulturen» 159, 183, 189, 566, 589, 663, 728, 739, 740, 749 primitiver Kern, Psyche 173 primitive Waffen 182 Prodromalphase 172 Progression, Krankheit 289 progressive Auflösung des Selbst 196 Projektion, psychoanalytisch 92, 133, 136, 140, 141, 146, 164, 175, 177, 178, 547, 548, 551, 612, 622, 638, 658, 659, 663–665, 708, 768, 933 Prophet 204, 241, 559, 635, 639, 663, 677, 774, 868, 869 Pseudounabhängigkeit 41 Psyche – archaischer Kern 172 – und Immunsystem 32, 60, 75, 81, 84, 85, 86 – und Heilung 20 – und Körper 26, 27, 32, 50, 87, 96, 290 – und Krankheit 33, 34, 37, 79, 84, 85, 86, 87, 96 – und Krebs 81 – und Umwelt psychiatrische Behandlung 111, 115 psychische Belastungsstörung 258 psychiatrische Erkrankungen 212 psychische Disposition 37, 152 psychische Energie 186, 187 psychische Instanzen, psychoanalytisch 146 psychische Konflikte 26, 36, 120 psychische Realität 233, 254 psychischer Apparat 182

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Psychoanalyse – anale Phase 149, 151 – genitale Phase 148, 150 – Individuationsphase 138, 139 – Introjektion 133, 136, 141–144, 466, 612, 622 – Latenzphase 120 – manische Phase 116 – Neurosenlehre 15, 135, 642, 824 – ödipale Phase 195 – orale Phase133, 135, 148 – oral-sadistische Phase 130 – prägenitale Phase 914 – Projektion 92, 133, 136, 140, 141, 146, 164, 175, 177, 178, 547, 548, 551, 612, 622, 638, 658, 659, 663–665, 708, 768, 933 – symbiotische 136, 137, 138, 142 – Traumphase 230 – Überich 25, 43, 50, 103, 126, 134, 135, 141, 143, 146, 149, 151, 186, 190, 191, 195, 197 Psychoimmunologie 65, 68, 89 psychomotorische Verlangsamung 105 Psychose(n) – altersbedingte 191 – endogene 98 – hysterische 178 – kindliche 136 – latente 194, 199 – posttraumatische 98 – und Depression 131, 136, 147, 228 – und Neurose 23, 96, 98, 100, 139, 186, 191, 195, 197, 201 – und Pharmaka 116, 221 – und Schizophrenie 136, 184, 221, 225, 228 – Wunschpsychose 177 Qualia 354, 355, 527, 533 Rache 132, 151 Rangordnung, soziale Dominanz 122, 123 Rationalisierung 153, 154, 668, 700, 769, 925 Ratte(n) – Tierversuche 34, 35, 68, 70, 76, 77, 83, 104, 105, 107, 220, 311, 478, 479, 482, 633, 823, 906, 910 – und Bewußtsein 311, 375, 507, 901 Reaktionsbildung 26

1055

Realität – Angst vor 230 – bei Hegel, abstrakter Begriffe 282 – Durchsetzung in der Realität 29 – psychoanalytisch 96, 97, 142–144, 182, 185, 186, 187, 188, 191, 230, 232, 233, 253, 254 – und Idealität 14 – Verhältnis zur Realität 96, 169, 182, 185 Realitätsangepaßtheit 328, 548 Realitätsersatz 346 Realitätsgefühl 186 Realitätskontrolle 357, 514 Realitätsprinzip 552, 588 Realitätsprüfung 125, 824 Realitätsverleugnung 255 Realitätsverlust 96 Rechtfertigung 588 – depressiver Weltsicht 153, 160–161 – Gottes 866 – ideologische 248 – lutherisch 621, 631, 878 – zwangsneurotische 154 Rechtlosigkeit 254 Rechtsprechung 161, 898, 940 reduktionistischer Identismus 706, 708, 715 Reduktionismus 397, 706, 708, 844 reflexives Bewußtsein (sekundäres, introspektives) Bewußtsein 312, 440, 495, 503, 520, 529 Reflexmaschine 180 Reformation 238 Regression 127, 150, 151, 176, 178, 182, 187, 188, 190, 192, 195, 336, 581 Reich – Drittes 27, 212, 236 – Römisches 21 Reichtum 59, 238 Reizschwelle (sensorische Schwelle) 115 Religion – Aufgabe der Religion 167, 245 – als seelische Erkrankung 174, 211, 241 – des Pythagoras 20 – Menschheitsreligionen 607 – monotheistische 14 – Naturreligion 742, 775, 843 – Opferungen 242 – religiöse Anfälle 246 – religiöser Wahn 211

1056 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Staatsreligion 869 – Symbole der Religion 57, 90, 183, 241, 243 – und Angst 246 – und Anthropozentrik 57 – und Depression 165 – und Heilung 244–245 – und Naturwissenschaft 14, 91 – und Schwermut 163 – Wunderheilungen 90, 91 Religionsersatz 893 Religionsgründer 912, 915 Religionskritik 634, 638, 660, 662, 679, 870 Religionspsychologie 638, 654–656, 660, 776, 869 Remission, spontane 83, 90 REM-Schlaf 229–230 res cogitans 402, 843 res extensa 402, 843 Resignation 163 retrospektive Angaben 84 Revolution 15, 102 Rhesusaffe 902, 903, 905 rheumatoide Arthritis 76, 78 Rhythmen – Arrhythmie 49, 50 – Herz 39, 49 – Herzrhythmusstörungen 49, 50 – Schlaf-Wach-Rhythmus 105, 111 – Sinusrhythmus 39 Richter 237, 246, 249, 762, 775, 791, 804, 842 Rigor (Steifheit), Parkinson-Syndrom 284 Risiko – Schizophrenie 214, 218, 219, 220 Risikobereitschaft 52 Risikofaktoren 222 Ritual 90, 131, 183, 202, 241, 242, 247, 468, 472, 564, 578, 597, 637, 734, 744, 794, 939 – Exorzismus 247 – Tötungsritual 242 Ritualisierung 262, 463, 597 Ritus 200, 565 Romantik 22 Rotes Meer 254 Rotkäppchen 278- 280 Rückfallquote, Depression 116 Rückkopplung 29, 46, 290 – negative 58, 87 – positive 78

Rückzug 103, 120, 145, 188, 210, 263 Ruhe 194, 205, 285 – ewige 167 Ruhm 237 Sadismus 50, 132, 133, 146, 616, 680, 914, 916 – oraler 129, 130, 160 sadistische Phase, psychoanalytisch – oral-sadistisch 130 sadistisches Überich 134, 141, 146, 195 Sage 254 Sakrament 655 Säule – Dreisäulenmodell, Depression 148–151 Schädellehre 34 Scham 24 Schamane 20 Scheinsieg 24 Scheinverbundenheit 211 Scheitern 42, 53, 164, 184, 212 Scheu – Gans 123 Schicksal 76, 104, 154, 161, 185 – genetisches Schicksal 118 – Triebschicksal 140, 205 Schicksalsfluch 95 Schimpanse – Trauer 124 Schizoidie 53, 197 Schizophrenie(n) 13, 100, 139, 167 – Altersverteilung 219–220 – der Gesellschaft 231–237 – Dopaminhypothese 221–223, 225, 227, 289, 320, 339, 340, 341, 343, 344, 502, 666 – double bind 199–213, 241, 242 – erbliche Komponente 686, 822 – Erkrankungsrisiko 218 – Ichkomplex 179 – Ichpsychologie 185–198 – Jung, C. G. 179, 181–185 – multiple Persönlichkeit 248, 252 – neurologische Betrachtungen 213–218, 221 – Östrogen 220 – Paranoia 173–176 – paranoider Typus – Psychoanalyse 173–178, 230 – Psychopharmaka 225

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Psychose 136 – schizophrenogene Mutter 136 – Symptome 168–173, 223–225, 228, 262, 263, 264, 268 – und Streß 228 – Unterschied zur Neurose 180, 181 – Unterschied zur Psychopathie 232–236 Schlaf – Bruder des 204 – Dyssomnie 113 – neurologisch 229–230 – Wunsch nach Schlaf 50 Schlafbedürfnis 114 Schlafentzug 111 Schlafkuren 221 Schlaflosigkeit 109, 126, 165 Schlaf-Wach-Rhythmus 105, 111 Schlafwandler 217 Schlaganfall 290 Schlüsselerlebnis 152 Schmerz(en) – bei Konversionshysterie 25 – der Tiere 15 – Herzschmerzen 44, 49, 51 – Kopfschmerz 25, 113 – Phantomschmerz 125 – und Depression 13, 113, 125, 150, 156, 165, 189 – und Geisteskrankheit 189, 234 – und Ichentwicklung 189 – und Psychosomatik 33, 40, 51, 70, 74–79 – und Streß 51, 84 – s. a. Nociception Schmerzempfinden 87, 89, 159 – und Individualität 159 Schock – Granatenschock 259 – narzißtischer 136 Schöpfergott 13, 389, 403, 626, 842 Schöpfung 390 – Freude an 156, 158 – Gottes 392, 403, 417, 610, 625, 642, 699, 760, 777 Schöpfungslehre 393 Schöpfungsordnung 158 Schöpfungstheologie 158, 625, 642, 649 Schreckhaftigkeit 51 Schuldbewußtsein 55

1057

Schuldgefühle 22, 43, 80, 93, 97, 99, 113, 129, 130, 131, 143, 144, 146, 148, 150, 152, 157, 158, 159, 160, 165, 190, 208 Schutzreaktion, Ohnmacht 49 Schutzstarre 49 Schwangerschaft 76, 107, 214, 268 Schwarzgalligkeit 102 Schweigen 97 Schweißausbrüche 40 Schwermut 82, 163–165, 246 Schwindelgefühl 25, 40, 113, 289 Seele – Ahnenseelen 728 – Arutam-Seele 726 – Begriff 13, 14, 121, 199 – Freiseele 731, 732 – Geistseele 13, 389, 390, 393, 691, 692, 736, 737 – Hauch-Seele 731, 732 – Ich-Seele 731 – Individualseele 769 – Körperseele 293, 294, 731 – Lebensseele 293, 740 – Leib-Seele-Problem 379, 408–410, 511, 691, 694, 705, 708, 711, 713, 714, 717, 718 – Leid 15, 20, 22, 23, 26, 59, 89, 94, 101, 112, 127, 132, 150, 152, 154, 155, 157, 159, 161, 163–166, 167, 189, 230, 233, 285 – Leiden an der Welt 163, 245 – Muisak-Seele, Rächer-Seele 726 – Organseelen 730, 731 – Pflanzenseele 734–736 – Schattenanteil 251 – Seele der Tiere 159, 290 – Seelenbegleiter, Tod 96 – Seelengeister 294 – Seelengericht 789 – Seelensubstanz 293, 389, 771, 796 – Seelenwägung 789 – seelische Erkrankung 55, 93, 102, 152, 154, 165, 184, 245 – Sitz der Seele 59 – Tierseele 293, 700, 734, 736 – Totenseele 728, 729, 737 – und Leib/Körper 19, 21, 22, 25, 26, 30, 33, 79, 86, 102, 186 – und Sünde 25 – Unsterblichkeit 161, 283 – Vernunftseele 293, 294, 392, 536, 700

1058 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – «Zerfall» der Seele 13, 233, 234, 252 Seelenwanderung 758, 761, 768, 769, 777 Sehnsucht 56, 146, 153 – Todessehnsucht 113 Sehstörungen 113 Seiende, das 282 sekundäre Repräsentation 266 sekundärer Krankheitsgewinn 31 sekundärer Narzißmus 188, 190 sekundäres Bewußtsein 312, 440, 495, 503, 520, 529 sekundäres Gebot 206 sekundäre Störungen 170, 197 sekundäre Symptome, Schizophrenie 181 Selbst – bei Kierkegaard 164, 236 – Differenzierung 136, 138, 140, 141 – Fremd-Selbst 194 – Ideal-Selbst 148, 150 – Konzept, Kohut 192–198 Selbstabsperrung 177 Selbstachtung 127 Selbständigkeit 113, 137, 149 Selbstanklagen 129 Selbst-Annahme 195 Selbstaushöhlung 235 Selbstauslieferung 92 Selbstbehauptung 143, 144 Selbstbeherrschung 179 Selbstbeschimpfung 125 Selbstbespiegelung 132 Selbstbestrafung 102 Selbstbewußtsein 13–14, 54, 114, 121, 255, 283, 290 Selbstbezichtigung 151 Selbstbezogenheit 262 Selbstbild 140, 141 Selbstdisziplin 89 Selbstdurchsetzung 14 Selbstentleerung 92 Selbstentwertung 146 Selbstentwicklung 148 Selbsterhalt 68 Selbsterkenntnis 22, 121 Selbstgefühl 125, 135, 139 Selbstheilung 92, 152, 178 Selbstheit 122 Selbstgespräch 172 Selbsthaß 232, 235, 252

Selbst-Kohärenz 195, 196 Selbstkontrolle 181 Selbstkonzept 141 Selbstkritik 126 Selbstmitteilung 174 Selbstmord 140 Selbstobjekt 141, 193–195, 197, 198 Selbstorganisation 290 Selbstrepräsentanzen 138 Selbstsicherheit 148 Selbstregulativ 146 Selbstschutz 155 Selbsttäuschung 211, 236 Selbsttötung 210 Selbstunsicherheit 40 Selbstunterdrückung 131 Selbstverachtung 152, 233, 252 Selbstverletzung 140 Selbstverlust 113, 143, 195, 236 Selbstvernichtung 102, 138 Selbstverrat 232, 234 Selbstverständnis 19, 158 Selbstverstärkung 40, 121 Selbstverteidigung 21 Selbstvertrauen 42, 92, 101, 150 Selbstverwirklichung 263 Selbstvollzug 153 Selbstvorstellung 142 Selbstvorwürfe 125, 130, 132, 151 Selbstwahrnehmung 140, 152 Selbstwerdung 143 Selbstwertgefühl 127, 135, 146, 157, 164, 194 Selbstzweifel 41, 42, 146, 160 Semantik (Bedeutung) 412, 529, 718 semantische Netzwerke 217 Sensibilität 29, 160, 285 sensitiver Beziehungswahn, Kretschmer 177 Sensorium 31 Sexualität 56, 83, 140, 163, 174, 176, 178, 202, 319, 429, 447, 448, 515, 671, 797, 823, 913, 921 – gehemmte 83 – Homosexualität 174–176, 178, 184, 188 – Sublimation 56 – und Borderline-Persönlichkeit 140 – und Buddhismus 163 – und Depression 109 – und Körperhalluzinationen 170 – und Manie 114

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – unterdrückte 232 Sexualangst 850 Sexualorgane 850 Sexualpartner 578 Sexualtrieb 669 Sexualverbrecher 913, 920, 921, 931 Sexualstraftaten 202–203 sexuelle Aktivität 109, 114 sexuelle Errregung 673 sexuelle Perversion 914 sexuelle Signale 203, 892 sexueller Mißbrauch 253–257, 916 Sicherheit 41, 148, 156, 233 Signale, Kommunikation 200–203, 206, 208, 210 Signifikant 581, 582, 588, 675, 694 Signifikat 582 Sinnesorgane 30, 278 Sinnesreize 226, 228 Sinnestäuschungen 170 Sinneswahrnehmungen 13, 170, 176, 177, 201 Sinnzusammenhänge 27, 171, 281 Sittengesetz 161 Sittliche, das 159 Situation – Angstsituation 134 – double bind-Situation 205, 206, 256 – spezifische Konfliktsituation 28 – Streßsituation 38–39, 43, 50, 60, 77, 80, 82, 83, 101, 104, 106, 228 Soldatenherz 259 Solipsismus 121 Sollwert 46–47 Sollwerttheorie 47 Soma 50 Somatisierung 29 somatogene Depression 98 somatopsychische Erkrankungen 87, 96, 113 Sonnengott 242, 781 sozial lebende Tiere 298, 441, 443, 444, 559, 596, 698 soziale Deprivation 479, 483 soziale Entwicklung 212 soziales Exil 53 soziale Gruppe 13 soziale Interaktion 265 soziale Interessen 84 soziale Isolation 172, 482, 902

1059

soziale Kommunikation 448, 450, 451, 458 soziale Prozesse 32 soziale Realität 233 soziale Rolle 565, 824 sozialer Rückzug 120 soziale Umgebung 213, 264 soziales Verhalten 445, 448 Sozialgefühl 147 Sozialisation sozialisiertes Individuum, das (Hegel) Sozialismus sozialpsychologische Ideologie soziale Rolle 118 Sozialverhalten 114, 117, 118, 121, 264 Soziologie 167, 240 Spaltung – Abwehrmechanismus 140, 144, 168, 180, 181, 213, 234, 248, 251, 255, 259 Spaltungsirresein 168, 233 Spannungspole der Existenz 195 species intelligibilis 282 Spezies-Solipsismus 121 Spezifitätshypothese 28, 32 Spiel 54, 124, 200, 207, 210, 241, 256, 266 – Als-ob-Spielen 265 – Spiel und Nicht-Spiel, Kommunikation 200, 207, 241, 256 Spieltrieb 263, 315 Spielverhalten 263, 265, 266 Spielzeug 489, 490, 497 Spontanremission 83, 90, 91 Sprache – Ersatzsprache 25, 30 – Fremdsprache 498, 499 – Kunstsprache 171 – metaphorische Sprache 172 – Muttersprache 454, 486, 498, 499 – Protosprache 472 – religiöse Bildersprache 57 – Sprachverständnis 477, 509, 520 – Symbolsprache 204, 238, 254, 581, 796 – Tanzsprache, Biene 306 – Traumsprache 582 – Zeichensprache 582, 679 Sprachentwicklung 265 Spracherwerb 471, 473, 475, 476, 491, 492, 497, 499, 518, 521, 531, 532, 534, 543, 545, 560, 688, 701, 717 – Autismus 264

1060 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Sprachfähigkeit 563, 567, 594, 595, 610, 617, 691, 699, 701 Sprachgemeinschaft 475, 532, 567, 611, 619, 620 Sprachlosigkeit 224 Sprachstörungen 171, 173, 215, 216, 263, 264, 265, 284 Sterben – Buddhismus 156, 161, 432 – Osho 601 – Tod als Seelenbegleiter 94 – Tod der Mutter 128, 131 – vor Angst 58 Stereotypien 220, 263, 264 Stimmenhören 170, 180, 184, 206 Stimmungsstabilisatoren 115 Stoa 864, 865 Stolz, auf Uniform 235 Strafe – Ambivalenzgefühle 130 – Erwartung von 125, 126 – für kannibalistische Phantasien 129 – und double bind 206 Strafangst 206, 628 Straffälligkeit 197 Strafjustiz 815, 928–930 Straftat 815, 887, 923, 924, 930, 934, 941 Streß – chronischer 19, 37, 46, 51, 54, 60, 67, 68, 105, 106, 115, 120, 424, 918 – Diathese-Streß-Theorie 110, 118, 157, 686 – Gefechtsstreß 259 – kognitive Aspekte 89 – posttraumatisches Streß-Syndrom 58, 75, 76, 98, 258, 516, 872 – Psychosomatik 38, 40, 44, 45, 51, 55, 57, 60, 66, 67, 68, 70, 73, 77, 79, 80, 82, 83, 84, 86, 94, 96, 107, 108, 147, 225 – Streßerleben 43 – und Depression 101, 104, 105, 106, 108, 110, 111, 120, 157 – und Frustration 48 – und Krankheit 13, 89, 93 – und Schizophrenie 225, 227, 228 – vorgeburtlicher 107 Streßachse 47, 61, 84, 85, 109, 502, 513, 850 Streßalarm 78 Streßauslöser 53

Streßfaktor 53, 84, 106, 225 Streß-Fehlfunktion 79 Streßmodelle 110, 118 Streßreagibilität 80 Strukturalismus 518, 575, 576, 580, 589, 601, 603 Subjekte und Objekte 194 Sublimation 56 Sucht – Alkoholsucht 164 – Eifersucht 43, 170 – Geltungssucht 32 – Magersucht 93, 130, 185, 257, 852 – Opiate und Aufputschmittel 227 – psychoanalytisch 197 – Rachsucht 232 Suggestion 22, 27, 36, 81, 438, 565 Sünde – Erbsünde 90 – Krankheit als Folge der Sünde 22, 24 – religiös 56, 93, 132, 243, 245 Sündenfall 242, 247, 396, 877, 879, 882 Symbiose 136, 458 symbiotische Beziehung 138, 139, 146 symbiotische Phase 136, 137, 138, 139, 142, 148 symbiotische Verschmelzung 136 symbiotisch-psychotisches Syndrom 138 Symbole – Bäume 90 – bei Schizophrenie 169–170, 205–206, 216, 242, 263 – der Religion 183, 210 – Grotten 90 – Herz als Symbol 50, 58 – Konversionshysterie 31 – Krankheit als Symbol 25, 26, 27, 31–32, 50 – Quellen 90 – Symboldeutung 27, 169, 848 – Symbolsprache 238, 242, 254, 581, 796 – Traumsymbol 25, 582, 850 – Wundererzählungen, Bibel 92 Sympathicotoniker 53 Sympathicus Sympathie 198 Symptom – alloplastische 197 – Autismus 264–265, 268

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – – – –

autoplastische 197 Depression 109, 112, 114, 120, 121 DIS 256 Krankheit 23–32, 36, 40, 51, 57, 76, 77, 79, 143, 152 – Parkinson 285, 288 – Schizophrenie 168, 170–173, 178, 180–181, 185, 205, 212, 216, 217, 222–225, 228, 232, 262, 268 symptomatische Behandlung 36, 37 Symptombildung 50, 175, 286 Synästhesie 345, 352, 354, 355 synergistischer Effekt 39, 104 Syntax 358, 458, 477, 530, 578 Synthese(leistung) – von Freiheit und Notwendigkeit 195 – von Unendlichem und Endlichem 195 – von Wunsch und Wirklichkeit 97 – von Zeitlichem und Ewigem, Kierkegaard 164, 167, 195 Systemtheorie 199, 400, 410, 434, 626 Tachykardie 39, 40, 49, 669 Tammuz (Dumuzi) 743–744 Tasthalluzinationen 170 Tastsinn (Hautsinn) 30 Teufel 129, 159, 174, 239, 248, 249, 252 Teufelsangst 247 Teufelsaustreibungen 247 Teufelskreis – biochemisch 38, 51, 67, 78, 87, 105, 132 – psychologisch 41, 51, 67, 80, 87, 121, 152 Teufelsneurose 247 Thanatos 95 Theorie – abaissement-Theorie 182 – Angsttheorie, Panksepp 123 – der Depression 118, 142, 145, 157, 248 – der positiven Verstärkung – Erkenntnistheorie 281, 282 – Evolutionstheorie 172 – Informationstheorie 199 – Kommunikationstheorie 199 – Komplextheorie, Jung 252 – Narzißmus-Theorie 194, 236 – Relativitätstheorie 153 – Sollwerttheorie 47 – Systemtheorie 199 – Trauma-Theorie 254

1061

– Triebtheorie, Freud 192 – vom double bind 199, 211–212, 266 Tiertöterskrupulantismus 159 Tierversuche – Affen 216 – «decortizierte» Tiere 180 – Depression 109, 111, 115 – Elektroschock 104, 105 – erlernte Hilflosigkeit 105–106 – Flußkrebse 117, 122 – Immunsystem 34–35, 64, 67–68, 70, 81, 83, 85, 86 – Mäuse 35, 64, 81, 83, 85, 86, 227 – Parkinson 286, 288 – Ratten 34–35, 68, 70, 76–77, 83, 104–105, 107, 220 – Schizophrenie 220, 226 – Streß 52, 57, 67–68, 83, 86, 101 – Trennungsexperimente 107 Tod – als Jäger 231 – Angst und Tod 94 – der Mutter 128, 131 – Furcht vor 20, 143 – Geburt und Tod 164 – Leben nach dem Tod 246 – Opfertod 56 – Sinn 25 – und Depression 98, 252 – und Liebe 95 Todesangst 20, 52, 911 Todessehnsucht 50, 113 Todesstrafe 805, 815, 924 Todessymptom 670 Todestrieb 26, 447, 587 Todesurteil 803 Todeswünsche 670, 683, 935 Toleranz 76 Tonatiuh, Sonnengott 242 Tonfall 200, 206 Torheit 240 Totalität 248, 571, 572, 574, 586, 731, 817, 845, 856 Totemismus 579, 580 Totenbuch 554, 755, 785, 786 Totstellreflex 49, 104 tragische Welterfahrung 240 Trance 247, 652, 731, 757 Transzendentismus 717

1062 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte Trauer – bei Graugans 123 – bei Schimpanse 124 – bei Schwertwal 124 – des Mitleids 160 – psychoanalytisch 103 – über diesseitige Welt 164, 772 – und Depression 125, 129, 131, 135, 150–153, 156 – und Psychosomatik 94 – und Sucht 164 – und Tod 94, 125, 741, 748, 750 Traum – Funktion, psychoanalytisch 20, 25, 177, 178, 182, 183, 189, 190 Trauma 118, 120, 137, 205, 252, 253, 254, 256, 258 – posttraumatisch 252 – Posttraumatisches Streß-Syndrom (PTSD) 58, 75, 76, 98, 258, 516, 872 Traumbewußtsein 226, 332, 362, 421, 506 Traumdeutung 168, 182, 183, 240, 406 Traumsymbol 25, 254, 582, 850 Trennung – dualistische Trennung von Seele und Körper 30, 422, 692 – von der Herde, Schwertwal 124 – von der Mutter 107, 131 – von Opfern und Tätern 792 – vom Partner, Graugans 124 Trennungsangst 137, 138, 144 Trennungsreaktion 138 Tremor (Zittern) – Parkinson-Syndrom 284 Treue 164, 250 tricyclische Antidepressiva 109, 110 Trieb 25, 31, 50, 126, 130, 132, 137, 141, 154, 177, 182, 184, 185, 191, 192, 193, 194, 196, 217, 286 Triebabwehr-Modelle 192 Triebdurchbruch 940 Triebdynamik 195 Triebentmischung 137 Triebfixierung 192, 193, 194 Triebmischung 137 Trieborganisation 193 Triebpathologie 203, 517 Triebpsychologie 192 Triebregression 192

Triebreifung 192 Triebschicksal 140, 205 Triebstauung 146 Triebtäter 203, 929 Triebtheorie 184, 192, 546, 587, 670 Triebunterdrückung 50, 96 Triebwünsche 568, 616 Triebziel 193, 448 Triebzielinversion 914 Trost 30, 126, 648, 686, 799, 842, 865, 867, 940 Trostlosigkeit 14, 249, 941 Tröstung 741, 801 Tuberkulose 35, 72, 83, 92, 245 Tugend 914 Tumor(e) 81 Tumorwachstum 83 Typ – Archetyp 183 – Konstitutionstyp 177 – logischer 199, 200, 201, 206 – Persönlichkeitstyp 28 – Prototyp 133 – Streßtypen 53, 82 Überanpassung 82 Überbelastung 39, 98 Überernährung 46 Überfürsorge 41, 80 Überforderung 28, 41 Übergewicht 49 Überreaktion, Immunsystem 35, 36, 74, 75, 77, 79, 85, 221 Überich 25, 43, 50, 103, 126, 134, 135, 141, 143, 146, 149, 151, 186, 190, 191, 195, 197 Überich-Depression 146, 150 Überlebenskampf 13 Übernatürliches, Göttliches 282 Überrepräsentation 280 Übertragung 133, 174, 178, 192 Ulcus 32, 37 Unbeherrschtheit 179 Unbewußtes – in der Kommunikation 202, 256 – in der Therapie 196 – kollektives 183, 185, 187 – psychoanalytisch 31, 41, 102, 132, 133, 146, 175, 182, 196, 217, 228, 232 – Schattenanteil 251 – tiefenspychologisch 181

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Traum 182, 230 – unbewußter Verarbeitungsmodus 226, 228 – und Psychosomatik 30, 31 – Verdrängung 31, 177, 182, 251 Unendliche, das 14, 59, 164, 282 Unendlichkeit – Beweis der Unendlichkeit des menschlichen Geistes 282 – Flucht in 153, 164 Unentrinnbarkeit – double bind 211 – Schizophrenie 233 – Sterbedasein 205 Unfreiheit 15, 55, 154, 195 Ungehorsam 234 Unglück 55, 132, 144, 154, 243 unglückliche Dienstmagd 52 Unheilgewärtigung 58 Unheimlichkeit des Daseins – multiple Persönlichkeit 257 – Psychoanalyse 254 – Schizophrenie 172, 228 unipolare Affektpsychose 112, 152 Universalgesetz 238 Unruhe 57, 59, 113, 114, 245 Unschuld 157, 160 Unsicherheit 43, 116, 127, 134, 139, 196, 202, 212, 237 Unsterblichkeit 14, 155, 161, 283 Unterdrückung – Selbstunterdrückung 131 – Triebunterdrückung 50, 96, 154 – von Aggressionen 43, 82, 130 – von Emotionen 102, 103, 211 Unterlegenheit 118 Untersatz, formale Logik 203, 204 Unterscheidung – zwischen Ich und Nicht-Ich, Fichte 194 – zwischen körpereigen und körperfremd 71, 75 – zwischen Metapher und Begriff 204, 205 – zwischen Natur- und Geisteswissenschaften 122 – zwichen neurologischer und psychologischer Betrachtungsweise 121 – zwischen Neurose und Psychose 96, 97, 142, 180, 191

1063

– zwischen Schizophrenen und Psychopathen 233 Unterstützung, Mutter 143, 212 Unterwerfung 146, 150, 206, 234, 245 Unterwürfigkeit 82 unwillkürliche Aufmerksamkeit 147 Urgottheit 242 Urlaub 54, 144, 249 Ursache – psychoanalytisch 181, 196, 198, 253 – und Selbstorganisation 290 – von Krankheit 19, 23, 32, 42, 43, 45, 57, 81, 88, 98, 99, 101, 102, 109, 110, 111, 152, 164, 165, 167, 180, 198, 216, 217, 253, 268, 269, 288 Urszene 253 Urtikaria (Nesselfieber) 37 Uterus 111 Vagus 87 Vater – double bind 211 – Erwartungen des Vaters 80 – in Ibsens Wildente 209–210 – in Märchen 250 – psychoanalytisch 41, 142–143, 148, 151, 174, 175, 178, 189, 193, 241, 253, 254 – sexueller Mißbrauch 253, 254 – von Edvard Munch 246 Vaterautorität 241 Vaterbild 142 Vaterimago 929 Vaterkomplex 175 Vaterland 125, 249 Vatikan 247, 284 Vatikanisches Konzil, Zweites 158 Verallgemeinerung des Inputs 275, 280 Verantwortung 157, 165, 233, 234 Verantwortungsgefühl 43, 114, 285 Verarbeitung – bewußter, kognitiver Modus 226, 228, 230 – double bind 205 – Informationsverarbeitung, Autismus 266, 281 – Informationsverarbeitung, Wahrnehmung 278, 287 – parallele Verarbeitung 13 – psychische 28, 42, 43, 154, 171

1064 Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – Schmerzverarbeitung 78 – unbewußter, analoger Modus 226, 228, 229, 230 verbaler Ausdruck 30, 200, 206, 216 verbales Neugedächtnis 287 Verdrängung – neurotische 96, 97, 132, 160, 191 – psychoanalytisch 31, 160, 175, 177, 190, 191 – und Krebs 82 – von Aggressionen 146 – von Schuldgefühlen 160 – von sexuellem Mißbrauch 255–256 Vererbung, dominante 288 Verfolgung, durch böse Objekte 134 Verfolgungsideen 169, 262 Verfolgungswahn (Paranoia) 170, 175, 176, 232 Verleugnung 82, 140, 241, 255 Vermeidung 236, 280 Vernachlässigung 87 – und soziale und emotionale Entwicklung 41 Vernunft – bei Hegel 244, 248 – praktische Vernunft, Kant 161 – und Glauben 242 – und Religion 242, 245 – und Wahn 237, 240, 244 – Vernunftlose (Tiere) 20 Vernunftseele 293, 294, 392, 536, 700 Verschmelzung 136, 138, 164, 194, 195 Verstand – intellectus agens 282 – Kriterium für Richtigkeit, Kant 97 Verstandesfunktionen 196 Verständigung 202 Verstärkung 173 Verstehen 15 – des Seienden, Heidegger – psychischer Zusammenhänge 29, 92, 130, 212 Versuch-und-Irrtum-Lernen, operante Konditionierung 201 Vertrauen – in Angst/Verzweiflung 55, 230, 232, 245 – in Gott 59, 90, 92, 647, 878 – in Madonna 56 – Selbstvertrauen 41, 42, 92, 101, 139, 150

– und Krankheit 90, 91, 92 Vertrauensfaktor 91 Vertrauensverlust 113 Verwandlungsdroge, Dr. Jekyll 251 Verwandtschaftsgrad, Schizophrenie 218, 219 Verweigerung 91, 130, 155 Verwirrung 23, 136, 202 Verzicht 131 Verzweiflung 103, 167 – Depression 143, 164 – und Trauer 129 Vigilanz 51 Visionen 56, 92, 170, 180, 183, 239, 241, 289 Vögel 123, 124, 158, 160, 163 Vorbild 20, 92, 130, 253 vorgeburtliche Einflüsse 110 Vulnerabilitätsschwelle 220 Vulnerabilitäts-Streß-Modell 225 Waffen 72, 81, 182, 259 Wahn – und Depression 132, 154, 157, 246 – und Religion 210, 241, 242, 245, 248 – und Schizophrenie 170, 172, 173, 174, 175, 179, 182, 211, 224 Wahngebilde 154, 183, 204 Wahnideen 132, 170, 172, 173, 179, 190, 263 Wahnsinn 102 – Begriff, historisch 237, 238, 240, 243 – der Gesellschaft 211, 231, 245, 248, 235, 236, 237, 240, 241, 249, 250 – und Geist 244, 245 Wahrheit – des Begriffs, Hegel 244 – Gottes 240 – und Lüge, Pascal 237 – von Deckerinnerungen 254–255 – Weltsicht in der Depression 153 Wahrheitstafeln 275 Wahrnehmungsstörungen 216, 268 Wahrnehmungsverformung 211 Wald 93 Wasser – «Arznei» der Natur 89 – symbolische Bedeutung 92 Wasserbestellung, Wüste 275 Weisheit 14, 15, 159, 160 Welt – als Schöpfung Gottes 159

Psychologische, philosophische und theologische Begriffe und Sachverhalte – – – – – – –

Daseinsdeutung 14 jenseitige Welt 56, 243 Welterklärung 14 Widersprüche 13 und Gerechtigkeit 160–161 und Individuum 231–232 und Leid 89, 101, 103, 107, 127, 158–160, 164, 165, 231, 233, 237, 238, 240, 258, 283 – und Religion 14, 165, 211, 242, 243, 248 Weltbild – Kleinkind 189 Weltenhintergrund 866 Weltgericht, Hegel 161 Weltgeschichte 620, 622, 788, 862 Weltjugendtag 158 Weltkatechismus 158, 247 Weltkrieg – Erster Weltkrieg 75, 249, 259, 284, 537, 547 – Zweiter Weltkrieg 221, 249, 259 Weltsicht – Bruegel 238, 239 – depressive 153, 154, 157, 158, 160, 162, 164 Weltuntergangsphantasien 175 Weltvernunft 397 Wertschätzung 32 Wesen 28, 163, 168, 241, 250 Westen 14 – Im Westen nichts Neues 249 Widerspruch (-sprüche) – der Psyche 26, 141, 175, 190, 206, 212, 213, 234 – der Welt 13, 158, 212 – des Geistes, Hegel 243–244 – in der Kommunikation, double bind 206, 213 Widerstand – seelischer 24, 25, 151, 174, 253, 255 Wiederannäherungsphase 142 Wiederauftauchen des egokosmischen Ich 189 Wiederentdeckung 23 Wiedergutmachung 56, 80, 147 Wiedergutmachungsversuch 55 Wiederholung 146, 162, 207 Wiesbadener Kongreß 198 Wildheitsmerkmale, paranoische 231

1065

Wille, freier 29, 169, 814–816, 820, 826, 831, 833–835, 838, 842, 856, 862, 870, 878, 879, 880, 912, 921, 922 Willensfreiheit 805, 807, 811, 814, 820, 830, 832, 835, 836, 839–841, 843, 850, 863, 875, 878, 887, 888, 898, 922, 928 Willensschwäche 169 Willensstärke 251 Willkür 161 Willkürmotorik 30, 31, 210 Wirklichkeit – der Begriffe, Hegel 283 – Flucht vor 97, 181, 256, 262 – Schizophrenie 181, 225, 241, 262 – Verleugnung 241 Witz 200, 243 Wörtlichnahme, falsche 245 Wortneubildungen (Neologismen) 171, 179, 264 Wortschatz 264, 265 Wunde 251 Wunder – Jesu 92 – Gottes 242 – psychologisch 22 – Wunderheilungen 31, 90, 91, 92, 761 Wundererscheinungen 174 Wunsch/Wünsche – infantile 175 – nach Individuation 143 – nach Ruhe 50, 167 – nach Tod 50, 92 – nach Verschmelzung 138, 194 – pervertierte 154 – psychoanalytisch 25, 138, 143, 144, 167, 175, 177, 185, 188 – und Wirklichkeit 97, 241, 262 Wunschphantasien 175, 179 Wunschpsychose 177 Wut 31, 38, 42, 51, 55, 82, 101, 103, 106, 130, 140, 143, 206, 235, 249 wütende Margarete 238 Zärtlichkeit 95, 263 Zauberberg, Roman 23 Zeit und Ewigkeit 164, 167 Zeitdruck 53 Zeiterleben, kohärentes 217 Zeitlichkeit 161

1066

Bibelstellen

Zerfahrenheit 168–169 Zerfall der Persönlichkeit 196, 250 Zerstörung 55 – der Freiheit aus Angst – der Psyche 55, 157, 165, 235, 240 – in der Welt 239 – Tierversuche 180 Ziellosigkeit 169 Zittern 30, 59, 245, 284, 288 Zufall 116, 161, 268 Zukunft 15, 131, 178 Zusammenbruch 182, 191, 196, 285 Zuversicht 95, 156 Zuwendung 31, 82, 136, 143, 212, 232 Zwang (Zwänge) 54, 60, 93, 97, 131, 165, 171, 234, 264 zwanghaft 146 Zwangsgedanken 113 Zwangshandlungen 169 Zwangsideen 179 Zwangsneurosen 26, 50, 53, 100, 103, 131, 151, 154, 184, 186, 191, 241 Zwangsstörungen Zwecksetzungen 125, 234 Zweiter Weltkrieg 221, 249, 259 Zweites Vatikanisches Konzil 158 Zwerg 252 Zwillingsforschung 107, 219, 685, 822

Bibelstellen Genesis (Gen) 1,27 1,28 2,19–20 2,2 2,7 3,1–7 3,1–24 3,24 9,1–3 12,3 18,1–15 18,18 22,17–18 25,22 26,3–4

426 158, 608 609 760 392, 426, 566, 732 877 882 246 158 787 677 787 787 761 787

28,12 28,3

239 787

Deuteronomium (Dt) 3,1–22 677 4,1–17 677 4,21 869 4,28 639 13,17–14,31 254 20,3 639 20,4–6 639 20,7 536 28,36 639 33,19 869 Numeri (Num) 31,14–18

915

Richter (Ri) 21,10–12

916

Psalmen (Ps) 58,4 73,3–16 110,1 115,4–8 135,15–18

761 775 640 639 639

Hiob 31,6

789

Hoheslied (Hld) 8,6.7

95

Jesus Sirach (Sir) 38,18

82

Jesaja (Jes) 6,1–13 40,6–7 43,1 44,9–20

677 204 559 639

Jeremia (Jer) 1,4–19 10,3–16 31,33

677 639 241, 774

1067

Bibelstellen Ezechiel (Ez) 1,1–28 2,1–10

677 677

Daniel (Dan) 5,27 12 12,2

789 788 788

Matthäus (Mt) 1,18–25 2,1–23 3,12 5,1–12 5,21–26 5,29–30 5,42 5–7 6,12 7,1 7,17 8,12 10,8 10,28 12,43 13,42.50 16,18 16,26 19,28 23,9 23,12–33 24,27–36 25,31–46 25,40 25,41 25,46 27,52–53

254 254 763 875 875 763 645 875 942 942 621 763 645 763 243, 245 763 790 236 789 628 763 789 795, 789 645 763 763 761

Markus (Mk) 1,9–13 5,1–20 6,14.16 6,30–44 8,1–9 8,31–33 9,2–13 12,18–27

874 445 761 645 645 809 795 794

Lukas (Lk) 2,1–20 15,1–7

254 100, 790

Johannes (Joh) 1,1 11,1–45 1,17 5,28.29 6,40 6,44 8,12 9,2 20,19–23

641 938 641 794 794 886 754 761 795

Römerbrief (Röm) 6,8 7,15.17.18.19.24 9,15–18 9,18

874 882 869 879

1. Korintherbrief (1 Kor) 12,6 397 13,13 800 15,3–5 678 15,8 677 15,38–58 789 2. Korintherbrief (2 Kor) 12,1–5 677 12,9 680 Galaterbrief (Gal) 1,12–16 3,28

677 682

Epheserbrief (Eph) 1,10.23 2,14 2,15 3,19 4,13 4,22 4,24

413 874 874 413 413 874 874

1068 Kolosserbrief (Kol) 1,19 2,9 3,9 3,10

Bibelstellen 413 413 874 874

1. Petrusbrief (1 Petr) 3,18–20 789 4,6 789

Johannesapokalypse (Apk) 14,13 795 21,4 95 21,6 799

Über den Autor

Dr. Eugen Drewermann arbeitet seit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller. Er verfasste über 80 Bücher. Zu seinen Hauptwerken gehören das siebenteilige theologische Grundlagenwerk »Glauben in Freiheit« sowie die Kommentierung aller vier Evangelien des neuen Testaments.

Über das Buch

Immer wieder wurden in der Religionsgeschichte bestimmte Bewusstseinszustände, hervorgerufen durch Drogen, epileptoide Halluzinationen, mangelnde Versorgung bestimmter Hirnareale mit Sauerstoff oder durch elektromagnetische Felder, als Manifestationen göttlicher Mächte und Gestalten gedeutet. An all diesen Stellen kann und muss die Neurologie heute das Werk der Aufklärung vollenden: Gott, Seele, Freiheit und Unsterblichkeit sind keine Begriffe naturwissenschaftlichen Denkens. Die Religion darf Gott nicht vergegenständlichen, will sie nicht Glauben in Aberglauben, Mystik in Magie und Frömmigkeit in Fetischdienst verwandeln. Jenseits der Erklärungen der Naturwissenschaften aber werden die Inhalte des Religiösen nur desto dringlicher, um die Trostlosigkeit des menschlichen Daseins inmitten einer Welt zu heilen, die den Wert des Individuellen nicht zu kennen scheint, in der Gerechtigkeit nicht vorkommt und für die Mitleid gar erscheinen muss als Hindernis in der brutalen Strategie, die Fittesten durchzusetzen. Offenbar muss man die Personalität Gottes glauben, um die Person des Menschen nicht dem Zynismus des Kosmos und der menschlichunmenschlichen Geschichte auszuliefern, muss man das kleine Leben von Menschen und Tieren ins Unendliche setzen, damit es mehr sei als eine Verrechnungsstelle im Energiehaushalt des Ganzen, muss man die Liebe für wirklicher nehmen als die Aggressionsreflexe archaischer Angst. Der 2. Band von „Atem des Lebens“ 2 wendet sich dem Einfluss von Angst und Stress als Auslöser psychosomatischer Erkrankungen und den Krisen des psychischen Erlebens zu, wenn der „Spiegel“ des Bewusstseins zerspringt. Vor dem Hintergrund der neu gewonnenen Denkvoraussetzungen können dann die uralten Menschheitsfragen angegangen werden: Was ist Geist, was ist Bewusstsein? Wie entsteht Selbstbewusstsein? Was besagt die Rede von „Person“? Gibt es eine Freiheit des Willens? Gibt es Erfahrungen von Göttlichem? Was ist mit dem Glauben an eine „Seele“, die sich im Tod durchhält – dürfen wir auf Unsterblichkeit hoffen?

Impressum

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EUGEN DREWERMANN

Atem des Lebens Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott Band 1: Das Gehirn