245 105 621KB
German Pages 39 [52] Year 1976
Wilhelm Weischedel Die Frage nach Gott im skeptischen Denken
w DE
G
Wilhelm Weischedel
Die Frage nach Gott im skeptischen Denken herausgegeben von Wolfgang Müller-Lauter
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1976
CIP-Kurztitelau/hahme
der Deutschen
Bibliothek
Weischedel, Wilhelm Die Frage nach Gott im skeptischen Denken / hrsg. von Wolfgang Müller-Lauter. - 1. Aufl. - Berlin, New York: de Gruyter, 1976. ISBN 3-U-006812-5
©1976 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl ]. Trübner • Veit Sc Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz, D r u c k u n d B u c h b i n d e r a r b e i t : Saladruck, Berlin 36
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung des Herausgebers WILHELM WEISCHEDEL
Die Frage nach Gott im skeptischen Denken Das Problem Das skeptische Denken Das skeptische Denken und die Wirklichkeit Das Geheimnis und die Frage nach Gott
7 9 9 10 20 26
WOLFGANG MÜLLER-LAUTER
Von der Zwiespältigkeit eines Philosophen. Rede zum 70. Geburtstag von Wilhelm Weischedel Literaturhinweise zur Rede
33 39
5
Vorbemerkung
des
Herausgebers
Der Vortrag Die Frage nach Gott im skeptischen Denken ist Wilhelm Weischedels letzte Arbeit zur Thematik der Philosophischen Theologie. Er führt Ansätze seines Hauptwerks Der Gott der Philosophen weiter. Weischedel hat den Vortrag selbst noch für den Druck überarbeitet. Etwa zur gleichen Zeit brachte er seine Skeptische Ethik zum Abschluß, die postum im nächsten Jahr erscheinen wird. In meiner Rede zu Weischedels 70. Geburtstag Von der Zwiespältigkeit eines Philosophen habe ich auf die Spannung hingewiesen, die zwischen seiner philosophischen Theologie und seiner skeptischen Ethik besteht. Dabei ging es mir darum, den Grundzug von Weischedels philosophischer Existenz, wie sie sich mir zeigte, herauszustellen. Das mag es rechtfertigen, daß die Rede an dieser Stelle abgedruckt wird. In der ihm eigenen Aufgeschlossenheit hat sich Weischedel den Fragen der Rede gestellt. In seinem letzten Brief an mich vom 19. April 1975 schreibt er: „Ich wüßte nicht mit ein paar Sätzen zu sagen, wie ich die Gegensätze vereinbaren könnte; alles ist da noch im Fluß." Noch der Schwerkranke teilte mir am Telefon Überlegungen zu einer Schrift unter dem Titel Geheimnis und Geheiß mit, die die Vereinbarkeit der Gegensätze aufzeigen sollte. Der Tod hat diesen Plan, wie viele andere Pläne, die ihn bewegten, zunichte gemacht. Berlin, den 23. Dezember 1975
Wolfgang Müller-Lauter
7
WILHELM WEISCHEDEL
Die Frage nach Gott im skeptischen
Denken
Das Problem Mit der Formulierung des Themas „Die Frage nach Gott im skeptischen Denken" 1 ist beabsichtigt, das Problem der Philosophischen Theologie, das den Verfasser schon in seinem Buche „Der Gott der Philosophen" 2 beschäftigt hat, auf die Spitze zu treiben. Denn es scheint schon im ersten Hinblick ausgeschlossen zu sein, daß das skeptische Denken irgend etwas mit der Frage nach Gott zu tun haben könnte, es sei denn, daß es diese Frage und ihren Gegenstand, Gott, leugnet; Nietzsche kann dafür als Beleg dienen. Schon ehe ein ausdrücklicher Begriff vom skeptischen Denken entwickelt worden ist, ist doch offenbar so viel deutlich, daß dieses aller Gewißheit widerspricht und somit auch keine Gewißheit über Gott zuläßt. Führt also nicht das Thema von vornherein sich selber ad absurdum? Kann im Prozeß des skeptischen Denkens ernstlich die Frage nach Gott auftauchen? Wird der Skeptiker nicht Gott zu leugnen versuchen, und wird darum der, der an Gott glaubt, nicht gut daran tun, sich sorgsam von der Skepsis fernzuhalten? Aber womöglich sind diese so naheliegenden Fragen voreilig. Vielleicht ist es doch möglich, die Skepsis und die Frage nach Gott zusammenzubringen. Das darf freilich nicht unter Opferung eines der beiden Momente geschehen. Die Skepsis muß sich rein als solche erhalten, und die Frage nach Gott muß tatsächlich die Frage nach Gott sein. 1
2
Dieser Aufsatz stellt die etwas veränderte Fassung eines Vortrages dar, der am 4. 3. 75 in der Katholischen Akademie in München gehalten worden ist. W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bände, Darmstadt 2 1973.
9
O b dann beide noch vereinbar sind, gilt es zu untersuchen. Zunächst soll das Wesen des skeptischen Denkens ausgelegt werden. Sodann wird zu fragen sein, ob ein solches Denken tatsächlich, wie es den Anschein hat, nichts als wirklich anerkennen kann. Schließlich ist davon zu sprechen, wie sich, gesetzt, es gebe eine in aller fortdauernden Skepsis sich durchhaltende Wirklichkeit, die Frage nach der Wirklichkeit Gottes darstellt.
Das skeptische Denken Der Begriff des „Skeptischen" leitet sich von dem griechischen Wort OKEi|fiö ab, das auch in die deutsche Sprache eingedrungen ist.
ZKeijrio
ist das Substantiv zu
OKenteoöai,
das die
Grundbedeutung von „spähend herumblicken" hat. Skepsis als Weise des Denkens erhält unter diesem Aspekt den Sinn von genauer, prüfender Überlegung. Im Ausgang der Antike bildet sich dann, unter häufiger Berufung auf Sokrates, ein eigentümlich philosophischer Begriff von Skepsis heraus, wobei das Wort in einem eingeschränkten Sinne verwendet wird: als eine solche prüfende Überlegung, die nicht zu einer sicheren Aussage führt, die vielmehr in der Aporie endet. Wer skeptisch denkt, kommt zu keiner positiven, aber auch zu keiner negativen Aussage; er verharrt in der Enthaltung von jeglichem Urteil, in der enoxri. Nach einer langen Spanne des Denkens, in der sich immer wieder, wenn auch vereinzelt, skeptische Tendenzen zeigen, wird im 16. und 17. Jahrhundert mit großer Intensität der spätantike Skeptizismus erneuert. Hier kommt es entweder zu einer durchgängigen Verzweiflung am Erkennen oder zu einer ausgeprägten skeptischen Lebenshaltung, die entgegen allem Dogmatismus die Freiheit des Geistes zu bewahren trachtet. Zu nennen sind insbesondere Montaigne, Charron, aber auch, trotz seiner schließlichen Zuflucht im Glauben, Pascal. Montaigne schreibt: „Philosophieren heißt Zweifeln", doch arbeitet 10
er sich nicht, wie Descartes, aus diesem Zweifel rasch zur Gewißheit empor. Charron behauptet: „Wir sind geboren, die Wahrheit zu suchen; sie zu besitzen gehört einer höheren und größeren Macht an". Pascal sagt: „Wir verlangen nach der Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit"; „wir haben sowohl Wahres wie Gutes nur teilweise und vermischt mit Schlechtem und Falschem". Doch bleibt es bei diesen Denkern im wesentlichen bei der Feststellung der skeptischen Resultate des Denkens. Was es aber für das Wesen des Denkens bedeutet, daß es, wo es konsequent ist, im Unentschiedenen verharren muß, wird in dieser Zeit noch nicht durch eine gründliche Analyse dieses Denkens selbst aufgeklärt. Descartes spielt in der Geschichte des philosophischen Skeptizismus insofern eine bedeutsame Rolle, als er mit aller Eindringlichkeit den radikalen Zweifel zum Ausgangspunkt des Denkens macht. Er faßt die wesentlichen Zweifelsgründe zusammen: die Unzuverlässigkeit der Sinne, die UnUnterscheidbarkeit von Traum und Wachen, die Möglichkeit, daß der Mensch von seinem Ursprung her nicht in die Wahrheit, sondern in eine grundsätzliche Verkehrtheit gesetzt worden sein könne. Doch Descartes überwindet diesen radikalen Zweifel rasch, und zwar zunächst durch den Gedanken der unmittelbaren Selbstgewißheit, wie sie selbst im Zweifel als solchem wirksam ist, und sodann durch den Beweis des Daseins eines Gottes, der den Menschen nicht täuschen kann und nicht täuschen will. So kommt Descartes nach allen Anfechtungen durch die Skepsis am Ende zu einer Wiederherstellung der Seinsgewißheit in ihrem vollen Umfang und damit zu einer Uberwindung der Skepsis. In neuerer Zeit stellt insbesondere David Hume sich die Aufgabe, sich mit dem Skeptizismus auseinanderzusetzen, wobei er diesem auch in seinem eigenen Denken einen weiten Raum gewährt. Scharfsinnig stellt er verschiedene Formen des Skeptizismus heraus. Zunächst erwähnt er den aller Forschung und aller Philosophie „vorangehenden" Skeptizismus, wie ihn etwa Descartes vertritt. In diesem Skeptizismus sieht Hume ein vortreffliches Schutzmittel gegen Irrtü11
mer und voreilige Meinungen, aber auch, wenn dieser Standpunkt konsequent durchgeführt wird, die Unmöglichkeit, dem Menschen einen Zustand der Sicherheit und Überzeugung über irgend einen Gegenstand zu verschaffen. Wichtiger ist für Hume der von ihm so genannte „nachfolgende" Skeptizismus. Dieser richtet sich gegen die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen und damit der Welterkenntnis. Wir haben nur Bilder von den Dingen, nur Vorstellungen, und wir wissen nichts über deren Verknüpfung mit Gegenständen. Es bleibt nur „ein gewisses unbekanntes, unerklärliches Etwas als Ursache unserer Auffassungen". Wird freilich von dieser Feststellung her die Möglichkeit des menschlichen Erkennens überhaupt bestritten, dann lehnt Hume diesen „übertriebenen Skeptizismus" ab, weil er allzu sehr den natürlichen Instinkten des Menschen widerstreite und also für das Leben nutzlos sei. Hume setzt sich dagegen für einen „gemäßigten" Skeptizismus ein, der die Forschung auf diejenigen Gegenstände beschränkt, „die sich für die engen Fähigkeiten des menschlichen Verstandes am besten eignen". Für die Geschichte des Skeptizismus ist Kant von entscheidender Bedeutung. Natürlich wäre es verkehrt, wollte man sein Philosophieren auch nur im Bereich der Problematik der „Kritik der reinen Vernunft" als skeptisches Denken bezeichnen. Allzu deutlich setzt er seine kritische Methode gegen den Skeptizismus ab, vor allem wie sich dieser bei Hume darstellt. Gleichwohl findet sich in Kants Hauptwerk ein Stück skeptischen Denkens, und zwar in dem Hauptstück über „Die Antinomie der reinen Vernunft". Hier werden die wesentlichen Probleme der metaphysischen Kosmologie erörtert: ob die Welt dem Räume und der Zeit nach endlich oder unendlich ist, ob die Dinge aus einfachen Teilen zusammengesetzt oder ins Unendliche teilbar sind, ob es eine Kausalität aus Freiheit oder nur eine Kausalität nach Naturgesetzen gibt, ob ein schlechthin notwendiges Wesen existiert oder nicht. Bei all diesen Fragen lassen sich, so zeigt Kant, mit einsichtigen Gründen entgegengesetzte Antworten vertreten; eben darin besteht der Widerspruch, die Antinomie, dieses „seltsamste Phänomen der 12
menschlichen Vernunft". Auch die Frage einer philosophischen Erkenntnis Gottes und das Problem der Unsterblichkeit der Seele werden im Rahmen der theoretischen Philosophie Kants offen gelassen. Der Gegenstand der metaphysischen Theologie könnte „eine bloße Erdichtung" sein. Denn „für das Dasein eines Urwesens, als einer Gottheit, oder der Seele, als eines unsterblichen Geistes", ist „schlechterdings kein Beweis in theoretischer Absicht für die menschliche Vernunft möglich". Kant will freilich nicht bei einer „skeptischen Hoffnungslosigkeit" stehen bleiben; sie wäre für ihn „der Tod einer gesunden Philosophie". In einer genaueren Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens findet er einen Ausweg aus der Skepsis; diese geht in das kritische Verfahren über. Die Antworten auf die metaphysischen Grundfragen kommen miteinander in Widerstreit, weil die Basis, auf der diese Fragen aufgeworfen werden, zu schmal ist. Unsere Erkenntnis kann nur Erscheinungen in einer endlichen Welt erfassen, nie die Sache, wie sie an sich selber ist; jene metaphysischen Probleme dagegen betreffen die übersinnliche Welt. Trotz dieser transzendentalen Lösung der Schwierigkeit ist wichtig, daß Kant das Problem des skeptischen Denkens neu und radikal aufwirft, weshalb sich denn auch in seinem Gefolge ein ausdrücklicher Skeptizismus, etwa bei Aenesidemus-Schulze, entwickeln kann. Uberhaupt bleibt von entscheidender Bedeutung die Intensität, mit der Kant das Problem des Skeptizismus aufrollt und dessen Unlösbarkeit auf der Ebene des auf die Sinnenwelt eingeschränkten theoretischen Denkens aufweist. Zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus kommt es bei Hegel. Zunächst einmal zollt dieser dem skeptischen Denken seinen Tribut. Es ist notwendig, daß das Endliche in seinem scheinbar gesicherten Sein infrage gestellt wird, damit die Philosophie das werden kann, was sie sein soll: die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen. Man muß das selbstverständliche Bestehen des endlichen Seienden fraglich machen; denn solange es unfraglich ist oder sich für unfraglich hält, bläht es sich zu dem einzig wahren 13
Seienden auf und verhindert so den Durchblick auf das Unendliche, in dem es doch gehalten ist. Eben dieses Fraglichmachen des Endlichen vollzieht der Skeptizismus; er offenbart das „Wanken alles Endlichen". Daher gehört er, als erste Stufe, mit zu einem rechten Philosophieren; es ist notwendig, daß das Philosophieren den Skeptizismus zwar durchläuft, ihn aber schließlich hinter sich läßt. Das skeptische Denken kommt also bei Hegel nicht voll zur Auswirkung. Kaum daß es in Gang gesetzt ist, wird es schon wieder entschärft. Es wird in das Hegels ganze Philosophie bestimmende Wissen um das Absolute hinein aufgehoben. Skeptisches Denken ist für diese Philosophie nur darum notwendig und wird nur dadurch gerechtfertigt, daß es Hindernisse beiseite räumt, die der Entfaltung des absoluten Denkens im Wege stehen. Die Gesamtansicht Hegels, die Deutung aller Wirklichkeit von einem absoluten Standpunkt her, wird jedoch in der Zeit nach seinem Tode höchst problematisch. In der Gegenwart ist die Situation so, daß eine absolute Metaphysik, wie Hegel sie entwirft, fraglicher denn je geworden ist. Man kann heute nicht mehr ohne weiteres von einem göttlichen absoluten Geiste her philosophieren. Diese Situation aber ist entscheidend für die Möglichkeit eines erneuten Hervortretens des Skeptizismus. Er ist jetzt nicht mehr in eine absolute Philosophie eingebunden, sondern kann sich rein als solcher verwirklichen und sich schrankenlos entfalten. Zu einem reinen Skeptizismus kommt es insbesondere unter dem Einfluß Nietzsches. Dieser betont: „ E s ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, daß die Menschen einmal im ganzen und allgemeinen skeptisch werden". Schon jetzt gilt, daß das Denken, wo es wesentlich wird, skeptisches Denken sein muß. „ D i e großen Menschen sind notwendig Skeptiker". Diese Skepsis kann sich zu einem völligen Verschwinden der Wahrheit radikalisieren. Nietzsche sagt daher: Die „letzte Skepsis" behauptet: „ D i e Wahrheiten des Menschen sind die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen". Weil der zeitgenössische Skeptizismus nicht bis zur absoluten Leugnung aller Wahrheit fortschreitet, steigert ihn Nietzsche zum 14
Nihilismus. Dieser ist insofern eine Radikalisierung des Skeptizismus, als er die Möglichkeit von Wahrheit nicht bloß bezweifelt, sondern strikt verneint. „ D e r Nihilisten-Glaube" ist „der Glaube, daß es gar keine Wahrheit gibt". Insbesondere setzt sich der Nihilismus gegen die metaphysische Weltauslegung ab, die bisher die Deutung der Wirklichkeit bestimmt hatte. In diesem Zusammenhang greift er vor allem jede philosophisch-theologische Interpretation der Wirklichkeit an. Seine Grundbehauptung lautet: „ G o t t ist t o t " ; Gott selbst ist „unsere längste L ü g e " . Die Philosophie aber muß sich von solchen unbegründeten und unbegründbaren Voraussetzungen, wie es die Hypothese „ G o t t " ist, fernhalten. Indem sie dem Faktum des Todes Gottes Rechnung trägt, wird sie vollendeter Nihilismus. Das grundsätzlich Neue an der Auffassung Nietzsches ist, daß er den Nihilismus nicht als eine ein für allemal gültige Weltsicht betrachtet. Dadurch würde er ja zu einer absoluten Wahrheit gemacht, was er seinem Wesen nach nicht sein kann. Nietzsche versteht den Nihilismus vielmehr als ein geschichtliches Phänomen, das sich freilich nicht zufällig verwirklicht, aber auch nicht dem Plane einer imaginären Geschichtsvorsehung entspringt, das vielmehr das Fazit aus der gesamten Geschichte des europäischen Geistes zieht. Insofern kann Nietzsche sagen, es gehe um die notwendige Heraufkunft des Nihilismus. Darin erblickt er das hervorstechendste Kennzeichen des gegenwärtigen Zeitalters und der unmittelbar bevorstehenden Zukunft. „Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus". Von daher erhält die Gegenwart ihren eigentümlichen Charakter. „ D i e Zeit, in die wir geworfen sind", ist „die Zeit eines großen inneren Verfalles und Auseinanderfalles. Die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich". Eben das ist das Charakteristische des zum Nihilismus gesteigerten Skeptizismus. Eine besonders bedeutsame Form des Skeptizismus zeigt sich bei Camus, und zwar in dessen Begriff des Absurden. Diesen sieht er als 15
charakteristisch für unsere Gegenwart an. Was ist nun das Absurde? Dem Wortsinn nach ist es das Fehlen von Sinn, die Unsinnigkeit oder gar die Widersinnigkeit, die Unverstehbarkeit. Diese Absurdität wird von Camus zunächst als ein Wesenszug der begegnenden Welt geschildert. „Die Welt ist voller irrationaler Dinge"; sie ist selber als ganze „nur ein riesiges Irrationales". Genauer betrachtet zeigt sich jedoch: Die Absurdität entspringt eigentlich nicht aus der Welt als solcher, sondern aus der Begegnung des Menschen mit ihr. Der Mensch geht an die Wirklichkeit mit der Erwartung heran, daß sie sich als sinnhaft und verstehbar erweisen könne. Diese Hoffnung wird jedoch enttäuscht. Anstelle der Sinnhaftigkeit zeigt sich dem Menschen die Absurdität der Welt; sie springt ihn gleichsam an. Das kann überall im Alltag geschehen. So ist denn das Absurde, richtig verstanden, der „Zwiespalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und der enttäuschenden Welt". Doch die Erfahrung der Absurdität entspringt nicht bloß aus der Begegnung mit der Welt. Sie kann auch im Menschen selber aufsteigen: als Erschrecken vor der Unbegreifbarkeit des eigenen Ich. „Ich werde mir selber immer fremd bleiben", sagt Camus daher. Zugleich entdeckt der Mensch „die tiefe Nutzlosigkeit allen individuellen Lebens". Hinzu kommt die Enttäuschung, daß es in der Welt nichts Absolutes gibt, ja, daß man nicht anders kann, als in aller Wahrheit zu verzweifeln. Diese Einsicht in die universale Unverstehbarkeit und Unwahrheit wird durch den Gedanken an den Tod, „diese elementare und endgültige Seite des Absurden", noch verschärft. Alles also ist in der Sicht von Camus absurd. Mit diesem Gedanken bringt er eine allgemeine skeptische Stimmung der Gegenwart zu vollendetem Ausdruck. Nach diesem kurzen Blick auf die Geschichte des Skeptizismus läßt sich dessen Begriff nun zusammenfassend darlegen. 1. Der Skeptizismus ist diejenige philosophische Ansicht, der nach eingehender Prüfung in mehr oder minder hohem Grade alles als fraglich erscheint. 16
2. Der Skeptizismus ist durch ein grundsätzliches Mißtrauen in die Fähigkeit des menschlichen Erkennens, zur Wahrheit und zur Gewißheit zu gelangen, gekennzeichnet. 3. Der Skeptizismus kann mehr oder weniger konsequent auftreten. 4. Der Skeptizismus kann sich als notwendigen Anfang und Durchgangspunkt für das Philosophieren, aber auch als dessen Endpunkt verstehen. 5. Je mehr sich das Philosophieren der Gegenwart nähert, um so reiner tritt im Gegenzug zu aller Metaphysik der grundsätzliche Skeptizismus hervor. 6. Die heutige Situation der Philosophie ist dadurch bestimmt, daß der Skeptizismus in der eigensten Konsequenz des als Fragen verstandenen Philosophierens zur alleinigen Herrschaft zu gelangen trachtet. Die zuletzt aufgestellte These muß noch genauer belegt werden. Zunächst ist zu beachten, daß sich eine solche Tendenz weit über den engeren Bereich der Philosophie hinaus in den verschiedensten Regionen des menschlichen Daseins findet. Uberall sind die sicheren Erkenntnisse, die gewissen Maßstäbe, die fordernden Leitbilder fraglich geworden. Das zeigt sich im Alltagsleben und in der in diesem herrschenden Moral ebenso wie in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Kunst. Orientierungslosigkeit und Verlust des Gültigen breiten sich allenthalben aus. So ist es nicht verwunderlich, daß auch das Philosophieren der Gegenwart ein problematisches Bild bietet. Weithin beschränkt es sich auf die bloße Auslegung von Details der Geschichte der Philosophie, häufig so, daß dabei die philosophischen Probleme als solche gar nicht aufgeworfen werden. Oder es zieht sich, wie in der sich „Hermeneutik" nennenden Richtung, auf die Interpretation der Tradition zurück, um daraus seine Probleme zu schöpfen. Oder das Philosophieren weiß sich, wie in der „Kritischen Theorie" von Horkheimer, Adorno und Habermas, auf die bloße, sich selber nicht mehr begründende Negierung des Bestehenden zurückgeworfen. Oder es gelangt 17
schließlich, wie in der „Analytischen Philosophie" in ihren verschiedenen Spielarten einschließlich der „Sprachphilosophie" nur zu formalen Fragestellungen, etwa über die Struktur von Begriffen, Sätzen und Schlüssen oder über die Bedeutung von Worten. Angesichts dieser gegenwärtigen Situation des Denkens ist es auch begreiflich, daß die Philosophie überall da, wo ihre Sachprobleme zur Diskussion stehen, keine stichhaltigen Antworten mehr findet. Die Erschütterung, die von Nietzsches Gedanken des heraufziehenden Nihilismus ausgegangen ist, hat sich immer mehr ausgebreitet und ist zu einem wesentlichen Moment im allgemeinen Zeitbewußtsein geworden. Alle als gesichert erscheinenden Verbindlichkeiten des Denkens, ja Verstand und Vernunft selber, sind äußerst verdächtig geworden. Soll es also überhaupt noch Philosophie geben, dann muß sie dem Skeptizismus als der die Zeit bestimmenden Denkweise Rechnung tragen, muß den Untergang jeglichen sich als gesichert vermeinenden Denkens auf sich nehmen und muß demgemäß Skeptizismus sein. Der die Gegenwart bestimmende Skeptizismus darf sich nun freilich nicht auf die skeptische Position versteifen, als wäre sie eine sichere Basis; damit würde er nur zu einer neuen negativen Form des Dogmatismus. Er kann auch nicht Nihilismus im Sinne einer eindeutigen Verneinung alles Positiven sein. Seine eigentümliche Bedeutung erfüllt er nur, wenn er sich mitten inne zwischen Bejahung und Verneinung hält. Er muß in jeder Hinsicht offener Skeptizismus sein. Insofern bedeutet Skepsis soviel wie radikales Fragen. Eine genauere Analyse der Geschichte der Philosophie, wie sie in dem Buch „Der Gott der Philosophen" durchgeführt wird, zeigt, daß das Philosophieren von jeher darauf ausgegangen ist, Skeptizismus in diesem Sinne zu werden. Es ist von Anfang an Fragen, ein „Suchen", wie Aristoteles sagt, ein Suchen nämlich nach der Wahrheit als der Offenbarkeit der Wirklichkeit. Philosophieren vollzieht sich seitdem als Fraglichmachen und Infragestellen dessen, was sich als fraglose und selbst18
verständliche Wahrheit ausgibt. Als solches Fragen hat sich das Philosophieren im Laufe seiner Geschichte immer mehr radikalisiert. Immer wieder sind neue Probleme aufgetaucht. Immer wieder sind Antworten versucht worden. Immer wieder aber hat sich erwiesen, daß sie nicht endgültig sind; sie lösen sich stets in neue Fraglichkeiten hinein auf, weil sie auf ungegründeten Voraussetzungen beruhen. Dieser Vorgang läßt sich an den Grundzügen der Geschichte der Philosophie von Sokrates bis zu Hegel aufweisen. Von da an wird dann die Fraglichkeit selber zum ausdrücklichen Thema: bei Feuerbach, bei Marx, bei Nietzsche, bei Heidegger. Das aber besagt: Das entscheidende Geschehen in der langen Geschichte der Philosophie ist nicht die Aufstellung von philosophischen Behauptungen, sondern das philosophische Fragen als solches; dieses ist das eigentliche movens der Geschichte des Denkens. Heute nun ist das Philosophieren völlig zu sich selbst gekommen, und zwar insofern, als es endgültig zum radikalen Fragen geworden ist, einem solchen nämlich, das alles in den Wirbel des Fraglichmachens hineinzieht. Jede sich als gewiß anbietende Wahrheit wird in diesen Strudel hineingesogen. Alles als sicher und fest Erscheinende wird zum Einsturz gebracht. Und dies nicht aus der Willkür des Philosophierenden heraus, sondern von der als fraglich und immer fraglicher erfahrenen Wirklichkeit selber her, die dazu zwingt, ihre Fraglichkeit zu bedenken. Die Grunderfahrung des gegenwärtigen Denkens ist so die Erfahrung der radikalen Fraglichkeit. Das heißt natürlich nicht, daß das Fragen nicht auf eine Antwort aus wäre. Es wäre ja müßig, bloß ins Leere hinein zu fragen, ohne sich eine Lösung der Probleme zu erhoffen. Doch das Fragen erfährt in seinem Vollzug, daß ihm die Antworten immer wieder zerschellen. Eben dadurch wird es zu einem radikalen Skeptizismus. Ihn durchzuhalten und auszustehen gehört zu der wesentlichen denkerischen Aufgabe des Menschen unserer Zeit. Insofern ist das radikale Fragen kein beliebiges Unternehmen des Gedankens, kein leichtfertiges Spiel der unverbindlichen Zertrümmerung aller Gewißheit. Es ist von einem äußersten Ernst. Philosophieren nämlich ist keine Sache der blo19
ßen Theorie. Es ist eine Angelegenheit der Existenz, ein Grundvorgang in unserem Dasein. Das skeptische
Denken und die
Wirklichkeit
Hat sich das Problem nach den bisherigen Ausführungen nicht weit von dem Ziel entfernt, die Frage nach Gott mit dem skeptischen Denken zusammenzubringen? Wenn der unsere Gegenwart kennzeichnende Skeptizismus so radikal ist, wie er eben dargestellt wurde, dann kann doch überhaupt keine Gewißheit übrig bleiben, am wenigsten eine Gewißheit über Gott. Dann geht vielmehr alle Wirklichkeit, auch und gerade die Wirklichkeit Gottes, im Wirbel des Fragens unter. Müßte man also nicht, wenn man ehrlich sein will, hier haltmachen und auf alle weitere Bemühung verzichten, etwas über die Wirklichkeit überhaupt und im besonderen über jene Sphäre zu sagen, in der man Gott zu vermuten gewöhnt ist. Ist aber der Skeptizismus tatsächlich schon zureichend bestimmt, wenn er als der Zweifel an aller Wirklichkeit verstanden wird? Müßte man nicht sein Verhältnis zur Wirklichkeit noch eingehender bedenken? Wie aber soll man die Frage ansetzen? Offenbar müßte man in dieser Absicht aufzeigen können, daß der Skeptizismus trotz seiner Radikalität an Grenzen stößt, die er nicht überschreiten kann. Er müßte also irgendwo in seinem Fragen an ein nicht mehr fraglich zu machendes Ende kommen. Der Skeptiker müßte von einer Wirklichkeit betroffen werden, die er nicht mehr infrage stellen, über die er also auch nicht mehr fragend verfügen kann, die sich vielmehr im auch noch so radikalen Fragen als Wirklichkeit durchhält und bewährt. Man muß sich freilich davor hüten, an diesem Punkte voreilig zu behaupten, es gebe zweifelsfrei eine solche letzte Wirklichkeit, und eben diese sei Gott. Dazu neigen manche Theologen. Helmut Gollwitzer 3 etwa läßt sich zwar weitgehend auf den Skeptizismus ein und 3
20
Helmut Gollwitzer und Wilhelm Weischedel, Denken und Glauben, Ein Streitgespräch, Stuttgart 1965.
erkennt an, daß für den Denkenden unserer Gegenwart alles fraglich werden kann. Dann aber versichert er, es gebe ein Einziges, das wesensmäßig nicht fraglich werden könne: Gott. Den Grund, weshalb dieser der radikalen Fraglichkeit enthoben sein soll, sieht Gollwitzer darin, daß Gott derjenige ist, der seinerseits alles radikal infrage stellt. Der letzte Grund der Fraglichkeit könne nicht mehr selber fraglich gemacht werden. Diese Argumentation ist aber nicht stichhaltig. Warum soll denn etwas, das den Menschen radikal infrage stellt, nicht selber wieder dem Fragen unterworfen werden können? So kann ich doch etwa einen Menschen, der mich mit seiner Anrede in die Fraglichkeit versetzt, wiederum fraglich machen. Warum soll es sich bei Gott anders verhalten? Und weiter: Wird nicht Gottes Existenz tatsächlich immer wieder angezweifelt? Das aber wäre unmöglich, wenn Gott der wesensmäßig Unfragliche wäre. Daß er das sei, kann also nur eine Aussage der Glaubensgewißheit sein, nicht aber eine Einsicht des Denkens. Dieser theologischen Ausschweifung des Gedankens gegenüber bleibt also dem Skeptizismus ein Recht und seine Macht. Im Blick auf ihn ist jetzt die vorhin entwickelte Frage zu stellen, ob es für ihn eine Grenze und ein Ende gibt, an denen er notwendig Halt machen muß. Noch einmal sei daran erinnert: Der Skeptizismus macht alles fraglich. In einem ersten Aspekt, in der Richtung auf die Außenwelt, gilt in dieser Perspektive: Es ist fraglich, ob die mir entgegentretende Weltwirklichkeit tatsächlich so ist, wie sie mir erscheint. Hier setzt ein charakteristisches Argument Kants in der „Kritik der reinen Vernunft" ein. Er meint, was der Skeptiker nicht bezweifeln könne, das sei, daß hinter den fraglichen Erscheinungen sich etwas verberge, was so oder so, in vielen Gestalten, erscheine: ein unfragliches Ding an sich, das freilich als solches unwahrnehmbar, ein bloßes X sei. Dieses allem, was erscheint, zugrundeliegende Etwas wäre also die Grenze, an die der Skeptiker stößt. Hier träte ihm eine unbezweifelbare Wirklichkeit entgegen. Mag auch das Erkennen seiner nicht habhaft werden: es ist doch ein Wirkliches. 21
Betrachtet man jedoch dieses Ergebnis genauer, dann zeigt sich: Der Schluß, den Kant zieht, ist voreilig. Man muß daher noch einen zweiten Aspekt hinzunehmen. Auch jenes Etwas, das sich hinter den Erscheinungen verbergen soll, könnte ja der Gegenstand einer Täuschung sein. Es könnte sein, daß das menschliche Ich mit Hilfe seines Vermögens der Einbildungskraft sich von sich selber her eine Welt entwürfe, die an sich nicht existiert. Damit fiele alle Wirklichkeit, auch die eines unerkennbaren, aber als notwendig vorauszusetzenden Dinges an sich, dahin. Dieser Gedanke mag manchem als ein bloßes Hirngespinst vorkommen; gleichwohl muß man ihn denken, wenn man am radikalen Skeptizismus konsequent festhalten und nicht in irgend einen Dogmatismus ausweichen will. Daher ist dieser Gedanke im Verlauf der Geschichte der Philosophie ernsthaft und nicht bloß als spielerische Denkmöglichkeit gedacht worden. Der frühe Fichte etwa ist der Auffassung, die ganze äußere Wirklichkeit sei nur ein denkerischer Entwurf des Menschen. In Wahrheit gebe es als einzige Wirklichkeit nur das menschliche Selbstbewußtsein. Dieses entdecke in der Betrachtung seiner selbst, daß es endlich sei, daß es in Grenzen eingeschlossen sei. Diese seine Begrenztheit nun lege sich das Selbstbewußtsein so zurecht, als ob sie von einer an sich bestehenden Außenwelt verursacht sei. In Wirklichkeit, so behauptet Fichte, gebe es jedoch nur das weltentwerfende Ich und sonst nichts. Das ist die extreme idealistische Position, die Fichte freilich im weiteren Verlauf seines Denkens zugunsten einer philosophisch-theologischen Position aufgibt. Für unsere Frage besagt das: Das Feld des Bezweifelbaren reicht offensichtlich weiter, als es im ersten Aspekt erschienen war. Auch jenes Ding an sich unterliegt noch der radikalen Fraglichkeit. Gleichwohl gibt es auch hier noch etwas, was in allem skeptischen Infragestellen beharrt: jenes Ich nämlich, daß sich eine äußere Wirklichkeit bildet oder vielmehr einbildet. Dieses Ich wäre dann die gesuchte Grenze des Skeptizismus. Doch auch an diesem Punkte, am Ende des zweiten Aspekts, darf sich ein radikaler Skeptizismus nicht beruhigen. Fragt er wirklich ra22
dikal, dann muß er, in einem dritten Aspekt, sogar die Möglichkeit denken, daß auch das Ich nicht existiere, daß also alles scheinbare Wissen von einem Wirklichen nur eine Art von Traum ohne einen Träumenden sei. Wieder ist es der frühe Fichte, bei dem sich diese Reflexion findet. „Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. Ich selbst weiß überhaupt nicht und bin nicht. Bilder sind: Sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt: in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt." Fichte verwirft freilich diesen Gedanken sofort wieder und findet im ethischen Bereich, vom Gewissen her, eine neue Realitätszuversicht. In den zitierten Sätzen Fichtes ist offensichtlich die extremste Form des Skeptizismus ausgesprochen: Es gibt schlechterdings nichts. Und doch müssen hier die Bedenken beginnen. Zunächst einmal: Diese Position ist eher Nihilismus als Skeptizismus. Denn der Nihilismus leugnet ja alles Sein und behauptet dementsprechend das reine Nichts. Damit aber wird er selber zu einer dogmatischen Position. Der Skeptizismus dagegen, auch in seiner radikalsten Form, behauptet nicht das Nichts, sondern läßt offen, ob es überhaupt etwas gibt oder nicht. Kann jedoch der nihilistische Gedanke im Ernst gedacht werden? Ist es überhaupt denkbar, daß im ausgesprochenen Sinne nichts existiert? Das würde doch bedeuten: Es gibt weder eine Außenwelt als das, was dem Ich entgegentritt, noch ein Ich, dem diese Welt begegnet. Ja, es gibt nicht einmal den Vorgang des Infragestellens, von dem 23
her der Gedanke des Nichts doch erst konzipiert wird. Diese radikale Negierung alles Seins aber ist unmöglich. Mag auch alles, was mir erscheint, mag auch ich selber vor meinen Augen nichtig werden: Daß überhaupt der Prozeß des radikalen Fraglichmachens vor sich geht, von dem her alles als möglicherweise nichtig erscheint, ist nicht wegzudisputieren. In diesem Prozeß des radikalen Fraglichmachens stürzt zwar alles in die Ungewißheit und Fraglichkeit; alles kann sein oder nicht sein. Doch das Tun des Skeptikers, durch das jener Absturz in die absolute Ungewißheit geschieht, bleibt als letzte Gewißheit bestehen. Wollte man auch diese noch fraglich machen, dann hörte der Prozeß des Fraglichmachens selber auf, der doch faktisch, wenn es den radikalen Skeptizismus geben soll, in Gang bleiben muß. Daß so am Ende alles Fragens jener Prozeß zwar noch befragbar, aber nicht mehr abzuleugnen ist, weist dem Skeptizismus seine Grenze. Das sieht wie eine Analogie zu dem Verfahren des Descartes aus. Auch er geht davon aus, daß alles zweifelhaft ist. Aber in allem Zweifeln bleibt für ihn doch das zweifelnde Ich bestehen; das einzig Unbezweifelbare ist die Selbstgewißheit des Ich. Das hat eine formale Ähnlichkeit mit dem Gedankengang, wie er eben dargelegt worden ist. Und doch gibt es einen Unterschied. Bei dem Prozeß des Fraglichmachens, der sich in den bisherigen Überlegungen als das einzig Gewisse durchhielt, handelt es sich gerade nicht um das Ich; denn auch dieses ist in der radikalen Fraglichkeit untergegangen. Es geht vielmehr nur um den Prozeß des Fraglichmachens als solchen. Man muß diesen Prozeß, wenn der Gedanke auch nicht leicht zu denken ist, von dem Ich, das den Prozeß vollzieht, trennen. Daß mit dem Fraglichmachen als solchem ein sich in aller Skepsis Durchhaltendes gefunden hat, ist für die Frage nach der Wirklichkeit wichtig. Zunächst hat es den Anschein, als lösten sich im radikalen Fragen des Skeptikers alle Wirklichkeiten auf. Nun aber zeigt sich: Vor dem völligen Hinabsinken in den Abgrund der möglichen Nichtigkeit wird allein eines bewahrt: das Fraglichmachen als solches. Das Tun des Skeptikers selber stellt also eine beharrende Wirklichkeit dar. 24
Das aber heißt: Daß es überhaupt etwas Wirkliches gibt, ist nicht zu bezweifeln. Das scheint freilich ein mißlicher Standpunkt zu sein. Das philosophische Tun steht hier ganz auf sich selber. Nur weil der Prozeß des Fraglichmachens stattfindet, kann der radikale Skeptiker sagen: Es gibt Wirklichkeit. Das aber sieht wie eine Münchhauseniade aus: Das Philosophieren zieht sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf der möglichen Nichtigkeit. Und doch scheint dieser Gedanke die einzige Möglichkeit zu sein, wie im Zeitalter des radikalen Skeptizismus und im unabwendbaren Geschehen des Fraglichwerdens von allem Wirklichkeit wiedergewonnen werden kann. Will man sich das Gesagte konkreter verdeutlichen, dann kann man vom Entschluß zum Philosophieren reden, den der Philosophierende in seinem faktischen Dasein faßt. Zunächst muß er sich der Gewißheit seines Ausgangspunktes versichern. Dieser aber ist nichts anderes als sein radikales Fragen. Zu ihm also muß er sich entschließen, wenn er überhaupt nach der Wirklichkeit fragen will. Anders ausgedrückt: Im Beginn des Philosophierens steht ein Grundentschluß. In ihm sieht sich der Mensch zum Philosophieren im Sinne des radikalen Fragens als erster Gewißheit bestimmt. Ist aber für das Problem des Verhältnisses des skeptischen Denkens zur Frage nach Gott durch die vorangehenden Überlegungen etwas gewonnen? Zunächst ist das offenbar nicht der Fall. Wirklichkeit als solche weist noch nicht auf die Existenz Gottes hin. Und doch scheint ein Weg dahin gebahnt zu sein. Man könnte etwa so argumentieren: Es gibt Wirklichkeit, wenn auch nur die des Fraglichmachens als solchen. Diese Wirklichkeit ist endlich. Das Endliche ist in sich selber unvollkommen; es bedarf eines Unendlichen, in dem es gehalten ist, ja das es bewirkt. So käme man zu einem Gottesbeweis in der Art derer, die Thomas von Aquino entworfen hat. Doch hier muß dem schweifenden Gedanken Einhalt geboten werden. Der eben vorgetragene Schluß wäre nur dann stichhaltig, wenn die Voraussetzung gesichert wäre: daß nämlich das endlich Wirkliche von sich selber her 25
auf etwas anderes hinweist, von dem es bewirkt ist, daß es also geschaffenes Wirkliches ist. Das aber läßt sich aus der Perspektive eines radikalen Skeptizismus nicht mit Gewißheit ausmachen. So ist von der nunmehr erreichten Basis her kein Gottesbeweis möglich.
Das Geheimnis und die Frage nach Gott Soll die Frage nach Gott überhaupt in den Gesichtskreis treten, dann bedarf es offenbar weiterer Schritte. Auch für sie bildet das skeptische Denken als radikales Fragen den Ausgangspunkt. Von ihm wurde zuletzt ausgesagt: Es zeigt sich als die einzig gewisse Wirklichkeit. Man kann das auch so ausdrücken: Was im radikalen Fragen als letzte Einsicht gewonnen wird, ist, daß die Wirklichkeit, die als fraglich erscheint, sich als Geheimnis darbietet. Denn Fraglichkeit und Geheimnis korrespondieren einander. Alles Fragen fragt nach etwas, das im Augenblick des Befragtwerdens Geheimnis ist. Damit ist ein neuer Aspekt gefunden, und zwar für das ganze Feld des skeptischen Denkens. Auf das Moment des Geheimnisses muß sich daher nun ausdrücklich der Blick richten. Zunächst soll an einigen konkreten Beispielen das Verweisen des radikalen Fragens auf das Geheimnis veranschaulicht werden. Das erste geht von der Frage aus, was es bedeutet, daß ein Ding ist. Das muß dem fragenden Betrachter, je mehr er sich darauf besinnt, um so rätselhafter vorkommen. Dieses Ding könnte ja auch nicht sein. So steht es in der Fraglichkeit des Seins und Nichtseins, wie sie das skeptische Denken eigens hervorhebt. Daß es nun doch in seinem Dastehen manifestiert, daß es nicht nicht ist, sondern ist, läßt sich nicht mehr rational aufklären. Hier bleibt es beim Geheimnis: dem Geheimnis des Seins überhaupt. Es zeigt sich umfassender und eindringlicher als bei einem einzelnen Ding im Blick auf die Welt im ganzen: daß sie ist und doch ständig in der Möglichkeit des Nichtseins steht. Eben das ist ihre 26
Fraglichkeit und zugleich das undurchdringliche Geheimnis des Seins selber. Als zweites Beispiel sei die Erfahrung des Todes und der Vergänglichkeit genannt. Wenn das skeptische Denken fragt, was es mit dem Tode auf sich hat, dann stößt es auf ein unlösbares Rätsel. Man kann glauben, der Tod sei nur der Übergang in ein anderes Leben; aber keiner hat diese These je erweisen können. Man kann andererseits annehmen, mit dem Tode sei alles zu Ende; aber auch das ist eine unbegründete Hypothese. So bleibt die Fraglichkeit als letztes; im Anblick des Todes zeigt sich besonders aufdringlich das unentzifferbare Geheimnis im Dasein des Menschen. An ihm scheitert das Denken. Das gleiche gilt für den Blick auf die Vergänglichkeit, die über alle Wirklichkeit gebreitet ist und die den Grund zu allem Seienden zu bilden scheint. Daß alles entgleitet und vergeht, hat von jeher das skeptische Denken auf sich gezogen. Von der Vergänglichkeit her wird die Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang zutiefst rätselhaft. Gibt es überhaupt ein Bleibendes? Oder ist die Vergänglichkeit das letzte Wort über die Wirklichkeit? Wieder stößt das Denken auf das Geheimnis. Ein drittes Beispiel: Das skeptische Denken kann sich die Frage stellen, was denn die Welt als ganze sei. Wie weit erstreckt sie sich? Wo ist ihr Ende? Denn als endliche muß sie doch offenbar irgendwo aufhören. Aber was ist dann außerhalb der Welt? Oder gibt es gar kein solches Außerhalb? Doch dieser Gedanke scheint undenkbar zu sein. Denn man kann entweder eine geschlossene endliche Welt oder eine Unendlichkeit, in die man jene eingebettet vermutet, zu denken versuchen; doch in beiden Fällen wird das Denken vom Schwindel befallen. Das Geheimnis der Wirklichkeit drängt sich also in diesem Felde unmittelbar auf. Dasselbe kommt in neueren physikalischen Erwägungen zum Vorschein. Sollte die Welt, wie manche Physiker vermuten, durch eine Art von Urknall entstanden sein, dann stellt sich unabweislich die Frage, was oder wer diesen in Gang gebracht haben könnte. Oder sollte man hierfür, wie andere wollen, den reinen Zufall 27
verantwortlich machen? Man sieht: Wieder steht das skeptische Denken vor dem unauflöslichen Geheimnis. Man könnte über das bisher Beschriebene hinaus noch weitere mögliche Erfahrungen des Geheimnisses nennen: etwa den andern Menschen in seiner Undurchdringlichkeit oder die Fremdheit des Einzelnen in seiner Welt oder die Unstimmigkeit im Ganzen der Geschichte. Doch mag es mit dem Gesagten genug sein. Denn nun muß das Geheimnis selber, das sich in all diesen Erfahrungen zeigt, ins Auge gefaßt werden. Wird es etwa von dem skeptischen Denken allererst erzeugt, in dem Sinne, daß dieses in seinem Vorgehen die geheimnislose sogenannte Wirklichkeit ins Geheimnisvolle wendete und so das Geheimnis hervorbrächte? Das ist ersichtlich nicht der Fall. Das Geheimnis begegnet von sich selber her dem skeptischen Denken, es tritt ihm entgegen, ja, es drängt sich ihm auf. Es ist gegen allen Andrang des Fragens widerständig. Nicht eigentlich rühren wir an das Geheimnis, sondern dieses rührt uns an. Man kann deshalb mit Recht sagen: Das Geheimnis ist eine Wirklichkeit. Denn zum Begriff des Wirklichen gehört zum ersten, daß es sich dem Menschen aufdrängt, zum zweiten, daß dieser nicht dawider kann, und zum dritten, daß es sich als von sich selber her seiend zeigt. Diese Merkmale treffen auf das Geheimnis zu. Darin unterscheidet es sich von allem dem Menschen sonst noch Begegnenden. Dieses, Dinge wie andere Menschen, hat nicht die gleiche Widerständigkeit für das Fragen; es läßt sich ja gerade im Blick auf seine Wirklichkeit in die Fraglichkeit auflösen. Das Geheimnis dagegen wird im skeptischen Denken als nicht mehr fragliche Wirklichkeit erfahren. Von daher läßt sich das Verhältnis des skeptischen Denkens zum Geheimnis bestimmen. Vergleicht man nämlich die beiden Wirklichkeiten, die sich als einzige im radikalen Fragen durchgehalten haben, den Prozeß dieses Fragens selber und das Geheimnis, auf das er stößt, dann wird man anerkennen: Das Geheimnis wird nicht erst durch das skeptische Fragen hervorgerufen; dieses stößt vielmehr auf das Geheimnis als auf die äußerste ihm erreichbare Wirklichkeit, die von sich 28
selber her ihm entgegentritt. Das ist denn auch das Verhältnis, wie es sich aus der Sache selber ergibt. Das radikale Fragen würde niemals in Gang kommen, wenn sich ihm nicht zuvor das Geheimnis, in das hinein es fragt, als Anstoß zum Fragen kundgegeben hätte. So ist das Geheimnis als das, was allem Denken vorangeht, das Unvordenkliche, was also allem Denken zuvor ist, ohne doch als solches eigens gedacht werden zu können. Erst wenn sich das skeptische Denken dem unvordenklichen Geheimnis ausgesetzt weiß, kann es seinen eigentümlichen Weg beginnen. Doch nun ist eine selbstkritische Frage zu stellen. Haben sich die Überlegungen, obgleich in den Hinweisen auf das Geheimnis immer wieder vom skeptischen Denken die Rede war, nicht doch schließlich weit von diesem entfernt? Während nämlich bisher der Prozeß des Fraglichmachens als die einzige Wirklichkeit erschien, drängt sich nun eine weitere und ursprünglichere Wirklichkeit ein: die Wirklichkeit des Geheimnisses. Steht also die hier vorgetragene Konzeption auf einem doppelten Boden? Müßte es dem skeptischen Denken nicht fremd sein, daß es noch eine andere unfragliche Wirklichkeit außer ihm selber geben soll? Doch hier ist das vorhin Ausgeführte zu bedenken. Das Geheimnis als das Unvordenkliche geht dem radikalen Fragen voraus und ist so dessen Ermöglichung. Es gäbe kein radikales Fragen, wenn es kein Geheimnis gäbe, das jenes anzieht. Die Wirklichkeit des Geheimnisses gehört somit wesentlich zum skeptischen Denken. Das besagt: Um auf das Geheimnis zu stoßen, braucht das skeptische Denken keine Umkehr und schon gar nicht eine Bekehrung zu vollziehen. Es braucht sich nur selber in seinem Ursprung richtig zu verstehen; dann wird es sich als vom Geheimnis in sein Fragen gestoßen begreifen und wird darum die Wirklichkeit des Geheimnisses anerkennen. Nimmt man so das Geheimnis als Wirklichkeit und als letzte Wirklichkeit an, dann scheint man in die Nähe von Mystik und christlichem Glauben zu geraten. Denn auch für die Mystik ist das erste das Mysterium der Gottheit, das weder als Sein noch als Nichtsein, weder 29
als Grund noch als Abgrund, also in keiner eindeutigen Aussage, angemessen gefaßt werden kann. Das Wissen von der Gottheit ist so ebensosehr Erkenntnis wie Verzicht auf Erkenntnis: ein Umkreisen des Geheimnisses. Was sodann den christlichen Glauben angeht, so kennt auch er die Geheimnisse des unbekannten Gottes, des deus absconditus, den er hinter aller Offenbarung vermutet; auch er spricht von der unergründlichen Tiefe Gottes. Doch man muß sich an diesem Punkte hüten, voreilig den Schluß zu ziehen, das im skeptischen Denken anvisierte Geheimnis sei mit dem Gott der Mystik oder des Christentums gleichzusetzen. Um zu entscheiden, wie es mit der Göttlichkeit des Geheimnisses steht, sind noch weitere Überlegungen erforderlich. Die Frage ist, ob mit der Nennung des unvordenklichen Geheimnisses eine Gewißheit über Gott gefunden worden ist. Keineswegs. Vorerst ist nur so viel deutlich. Es gibt als Voraussetzung und als Anstoß des skeptischen Denkens ein unvordenkliches Geheimnis, und dieses Geheimnis ist eine erste und ursprüngliche Wirklichkeit. Eines kann man freilich schon jetzt sagen: Die Überlegung ist vom skeptischen Denken her unmittelbar an die Frage nach Gott herangerückt. Denn wenn das Geheimnis als die letzte Wirklichkeit gefaßt werden muß, die nicht der Fraglichkeit aller endlichen Dinge und aller endlichen Personen unterworfen ist und also auch in ihr nicht untergeht, dann steht es offenbar in der Dimension, in der auch das Göttliche als die ursprüngliche Wirklichkeit gesucht werden muß. So hat denn auch Schelling kein Bedenken getragen, das „Unvordenkliche" als Gott zu bezeichnen. Man kann also nunmehr sagen: Vom skeptischen Denken her führt eine unmittelbare Linie bis zu der Frage nach Gott. Ist es aber darüber hinaus berechtigt, dem unvordenklichen Geheimnis auch tatsächlich den Namen Gottes beizulegen? Hierauf kann man offenbar nur mit einem zweideutigen Satze antworten: Das unvordenkliche Geheimnis ist sowohl Gott wie nicht Gott. Will man sich diese paradoxe Behauptung näher verdeutlichen, dann muß man zunächst sagen, was man unter „ G o t t " versteht.
30
Denkt man dabei an den Gott des Christentums, dann wird das unvordenkliche Geheimnis zu Unrecht als Gott bezeichnet. Denn zum Begriff Gottes im christlichen Verständnis gehört, wenn man alles Beiwerk beiseite läßt, zum ersten, daß er als transzendenter Schöpfer der Welt angesprochen wird. Zum zweiten ist wesentlich, daß er als Person verstanden wird. Zum dritten kennzeichnet Gott, wie ihn der christliche Glaube begreift, daß er als deus revelatus sich in einem Gottmenschen offenbart. Von diesen drei Bestimmungen kann beim unvordenklichen Geheimnis nicht die Rede sein. Im Vergleich mit dem christlichen Gottesbegriff ist das unvordenkliche Geheimnis also nicht Gott. Aus einer ähnlichen Problemlage heraus hat denn auch Hegel gefragt, ob er dem absoluten Geiste, der in seinem System die Stelle Gottes einnimmt, noch den Namen Gottes beilegen dürfe. Die Konfrontation des unvordenklichen Geheimnisses mit dem christlichen Gottesbegriff besagt nicht, daß die Aussagen des Glaubens als falsch verworfen würden. Dazu hat das Philosophieren schlechterdings keine Befugnis. Vielleicht aber kann man gleichsam im Denkversuch sagen: Der Glaube im christlichen Sinne intendiert letztlich das gleiche, was hier als unvordenkliches Geheimnis bezeichnet worden ist. Aber er drückt es, wie vor allem Bultmann gezeigt hat, in mythologischen Gedankengängen aus, die für den Nichtglaubenden unausweisbar und wenigstens vom Aspekt des Philosophierens her unannehmbar sind. Oder, anders formuliert: Christliches Reden ist ein Reden in Bildern; skeptisch-philosophisches Reden ist ein unmittelbares Reden. Beide aber versuchen sie, jedes auf seine Weise, vom gleichen zu sprechen. Doch wie steht es mit anderen, außerchristlichen Gottesbegriffen? Für die Vorsokratiker ist das Göttliche die äpxri, Ursprung, Urgrund und Abgrund alles Wirklichen. Auch der Gott der philosophischen Mystik weist in seiner reinen Gestalt kaum spezifisch christliche Merkmale auf. Ebenso steht es mit dem pantheistisch verstandenen Gott, wie ihn etwa Spinoza, der frühe Schelling und Hegel lehren; er entbehrt der Momente der Transzendenz, der Personalität und der 31
Offenbarung in einem Gottmenschen. Blickt man auf diesen weiter gefaßten Gottbegriff, dann braucht man nicht zu zögern, auch das unvordenkliche Geheimnis als Gott zu bezeichnen. Dafür spricht auch, daß dem Geheimnis neben der Unvordenklichkeit noch ein weiteres Moment zukommt: die Mächtigkeit. Diese manifestiert sich darin, daß es alles Wirkliche in seinem scheinbar gesicherten Bestand erschüttert und in die Fraglichkeit wirft. Daher wurde in früheren Veröffentlichungen des Verfassers das Geheimnis als das Vonwoher der radikalen Fraglichkeit bezeichnet. So kann man denn abschließend sagen: Indem das skeptische Denken das unvordenkliche Geheimnis als seinen eigenen Ursprung und als Mächtigkeit über aller Wirklichkeit erfährt, redet es von Gott. Die philosophische Aufgabe der Gegenwart aber ist, sich ernstlich auf die Skepsis einzulassen, aber dabei nicht zu vergessen, daß damit die Frage nach Gott nicht erledigt ist, sondern daß sie neu in einem unmittelbaren Sinne vor das Denken gestellt ist.
32
W O L F G A N G MÜLLER-LAUTER
Von der Zwiespältigkeit
eines
Philosophen
Rede zum 70. Geburtstag von Wilhelm Weischedel, gehalten am 11. April 1975 an der Freien Universität Berlin „Seit je zeigen die Philosophen ein doppeltes Gesicht: das eine nach innen gewandt, das andere auf die Wirklichkeit gerichtet". Wilhelm Weischedel schreibt diesen Satz bei Gelegenheit einer Darstellung des Lebens Johann Gottlieb Fichtes. Der Satz gilt in besonderer Weise für den heute zu Ehrenden selbst. Zwar tritt bei Weischedel die Zwiespältigkeit nicht in der Weise hervor, wie er sie als für Fichtes Denken konstitutiv beschrieben hat: als das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Extremen. Aber die Spannung zwischen philosophischer Selbstversenkung und verantwortungsbewußter Zuwendung zur Welt hat sich auch in Weischedels Wirken und Denken bis zur Gegensätzlichkeit dieser beiden Momente gesteigert. Gesagt werden muß dann freilich auch sofort mit Nietzsche, daß man fruchtbar nur um den Preis ist, an Gegensätzen reich zu sein. Die Fruchtbarkeit des Weischedelschen Denkens bezeugt sein umfangreiches Werk. Die Bibliographie, die Gesine Schwan aus Anlaß des heutigen Tages zusammengestellt hat, umfaßt die Titel von 14 Büchern und mehr als hundert Aufsätzen, von seiner Tätigkeit als Herausgeber ganz zu schweigen. Auch nur in großen Zügen auf die Vielfalt der Themen hinzuweisen, die in diesem Werk erörtert werden, fehlt heute und hier die Zeit. Entsprechend umfangreich und vielgestaltig war auch die akademische Lehrtätigkeit Weischedels. Ich erinnere mich nocht gut an das SS 1955, in dem ich meine Tätigkeit als Hilfsassistent bei ihm aufnahm. Weischedel las damals dreistündig über Philosophische Theologie, hielt Seminare über Augustinus' De civitate Dei, über Pascals Pensées, über Descartes' Meditationes. Im 33
Rahmen des von der Freien Universität Berlin eingerichteten Abendstudiums las er - im gleichen Semester - über Gegenwartsprobleme der Philosophie und führte Übungen zu zeitgenössischen philosophischen Texten durch. Unter der Quantität solchen Lehrangebots litt die Qualität nicht. Die bohrende Intensität, mit der Weischedel, auf seine Weise seinem Lehrer Martin Heidegger folgend, Texte auf das in ihnen ungesagt Vorausgesetzte hin befragte, zog die Anspruchsvollen unter den Jüngeren mächtig an. Besonders Ende der 50er Jahre kamen viele Philosophiestudenten nach Berlin, um Weischedel zu hören. Es steht mir noch vor Augen, wie lebhaft es in seinen Doktorandenseminaren zuging. Ich brauche nur die Namen meiner damaligen Assistenten-Kollegen zu nennen, um einen Eindruck von der Vielfalt der in Weischedels Umkreis vertretenen Positionen zu geben: Margherita von Brentano, Norbert Hinske, Michael Theunissen. Man wird uns vier kaum auf einen Nenner bringen können, es sei denn auf den eines von persönlichem Betroffensein und existentiellem Engagement bestimmten Philosophierens, wie Weischedel es vertrat. Auch in seinen Schülern und den ihm Nahestehenden spiegelt sich der Gegensatz, der Weischedels Denken kennzeichnet. Schon damals fühlten sich einige stärker durch die politischen und hochschulpolitischen Vorstellungen angezogen, die Weischedel verfocht, andere wiederum durch seinen fragenden Rückgang in die Voraussetzungen der Metaphysik. Wie weit die Problematik der inneren Vereinbarkeit von beidem Weischedel damals beschäftigte, weiß ich nicht. Ich stand ihm in den politischen Fragen fern; sie wurden in den persönlichen Gesprächen zwischen uns damals weitgehend ausgespart, von gelegentlichen sagen wir Frotzeleien abgesehen. Aber im Gespräch mit anderen mag diese Problematik schon zur Debatte gestanden haben. Ich erinnere mich, als neugieriger Assistent auf einem Sonderdruck, den er dem ihn in Berlin besuchenden Schriftsteller Günter Anders zukommen ließ, die Widmung gelesen zu haben (die ich freilich nicht mehr wörtlich in Erinnerung habe), dies sei ein Gruß „vom anderen Weischedel". 34
Damit sind wir wieder beim doppelten Gesicht Wilhelm Weischedels. Unserer dem Psychologischen und Biographischen zugeneigten Zeit mag es angemessen erscheinen, die Wurzel der Zwiespältigkeit Weischedels in seiner Lebensgeschichte zu suchen. Nun berichtet Weischedel selbst gern von den eigentümlichen, nicht selten kurios wirkenden Erziehungspraktiken des von einem strengen pietistischen Geist geprägten Elternhauses. In seinem Beitrag zu einem demnächst erscheinenden Band Philosophie in Selbstdarstellungen schreibt Weischedel, daß ihm in seinen Schulzeugnissen „zwar gute Leistungen, aber ein ausgesprochener Hang zur Rebellion und ein fragwürdiges Betragen bescheinigt" worden seien. Lassen wir einmal beiseite, ob im frühen fragwürdigen Betragen schon der Keim für die Philosophie der radikalen Fraglichkeit lag. Zeitgemäß wäre etwa folgende Deutung: Da ist ein Mann, der sich gegen die väterliche Autorität auflehnt, ihr im tiefsten jedoch so verhaftet bleibt, daß sie z. B. noch in Gestalt seiner philosophischen Theologie Ausdruck findet. Dieses Werk wäre einer solchen Deutung nach nicht mehr als ein Niederschlag unbewußten Strafbedürfnisses, verinnerlichte Aggression, mit dem schließlichen Resultat einer mehr oder weniger gelungenen Identifizierung mit der Vaterinstanz. Wir können jedoch solchen Reduktionismus des ,nichts als' in seiner psychologistischen Spielart getrost beiseite lassen, ohne dem Biographischen seine Bedeutung zu nehmen. Weischedel bestätigt selbst, daß seine erste intensive Beschäftigung mit der Mystik in den Marburger Studienjahren aus dem Bemühen erwachsen ist, mit ihr eine der Hauptquellen des Pietismus, der den Vater prägte, zu erforschen. Die Mystik hat Weischedel auch später nicht mehr losgelassen. Und zwar nicht nur deshalb, weil er in Leipzig Käte Grunewald kennenlernte, die über Tauler promovierte. Seiner Frau an diesem Tage nur beiläufig zu gedenken, ist ein Unrecht, das ich auch Wilhelm Weischedel antue: ist sie doch bis heute seine Mitarbeiterin und wird doch nichts von ihm gedruckt, das nicht zuvor ihrer sachkundigen Kritik ausgesetzt worden ist. Der Mystik gelten schließlich auch die derzeitigen Pläne Weischedels. Wenn ich es recht 35
weiß, beschäftigen ihn jetzt Meister Eckhart und der späte Fichte, dessen Nähe zu mystischem Denken ja vielfach konstatiert worden ist. Weischedels Philosophische Theologie, die sich in seinem Hauptwerk Der Gott der Philosophen und in einer Reihe von Aufsätzen ausgearbeitet findet, ist zweifellos von mystischem Denken gespeist worden. Andererseits hat man sie, und wohl nicht zu Unrecht, als extreme Form des Begründungsrationalismus gedeutet. Wieder stoßen wir, und zwar in der Mitte seines Werkes, auf die Gegensätzlichkeit Weischedels. Das Mystische läßt sich aufzeigen in seiner Beschreibung der via negationis, im Gedanken, daß Gott weder Sein noch Nichtsein zugesprochen werden könne (oder auch beides zugleich), in der Bedeutung, die er der Sprachlosigkeit und dem Schweigen für eine mögliche Begegnung mit der Gottheit einräumt, im Sichberufen auf unmittelbare Präsenz der theologisch relevanten Erfahrungen als Bewahrheitungsinstanz. Solche Charakteristika erwachsen aber bei Weischedel aus dem strengen Begründungszusammenhang philosophischen Denkens. Deshalb ist mir die von ihm beschriebene philosophische Grunderfahrung der radikalen Fraglichkeit oft eher als Resultat kritischer Reflexion erschienen denn als unmittelbarer Anfang, wie Weischedel sie selber auffaßt. Jedenfalls fordert Grunderfahrung im Sinne Weischedels kein sacrificium intellectus. Sie soll als allgemein menschliche Erfahrung ausgewiesen werden können. Darin Weischedel zu immer erneuter Verdeutlichung genötigt zu haben, ist in besonderem Maße das Verdienst Helmut Gollwitzers, der sich wie kein anderer Theologe dem philosophischen Anspruch Weischedels, und dies über lange Jahre hinweg, gestellt hat. Die von beiden im WS 1963/64 gemeinsam an der Freien Universität Berlin gehaltenen und unter dem Titel De filzen und Glauben veröffentlichten Vorlesungen sind Zeugnis eines aufgeschlossenen, sich auf die Position des anderen wirklich einlassenden Fragens, wie es an unseren Universitäten selten geworden ist. Das Verhältnis von Erfahrung und Reflexion muß hier beiseite gelassen werden. Doch in welchem Maße die Spannung zwischen fra36
gendem Rückgang zu Gott und Verantwortung des Menschen in der Welt Weischedels Denken nach wie vor in Bewegung hält, sei an zwei seiner jüngsten, noch unveröffentlichten Arbeiten verdeutlicht. In einem erst vor wenigen Wochen in München gehaltenen Vortrag drängt Weischedel, wenn ich es recht sehe, über das von ihm bisher philosophisch-theologisch Erarbeitete noch hinaus. Das radikale Fragen, das sich inzwischen als konsequente Gestalt skeptischen Denkens versteht, problematisiert die neuzeitliche Frage nach der Existenz des Ich auf seine besondere Weise. Die Gewißheit dieser Existenz geht, ähnlich den Ausführungen Fichtes im Zweiten Buch der Bestimmung des Menschen, in der radikalen Fraglichkeit von allem unter. Bewahrt bleibt allein in solchem Vorgang das Fraglichmachen als solches. Weischedel führt aus, nur weil der Prozeß des Fraglichmachens stattfinde, könne der radikale Skeptiker sagen: „Es gibt Wirklichkeit", Wirklichkeit nämlich im Sinne des beharrend sich durchhaltenden Wirkenden. Ich kann hier nicht darauf eingehen, wie Weischedel von hier aus zur Wirklichkeit als des unvordenklichen Geheimnisses gelangt, das sowohl Gott ist wie nicht Gott; auch kann hier nicht von der Nähe und der Ferne dieses Begriffs des Unvordenklichen zu dem Schellings die Rede sein. Ich beschränke mich auf eine Frage: Wie steht es um das Verhältnis des im Fraglichmachen als solchen untergegangenen Ich zu dem verantwortlich in der Welt handelnden Menschen? Man kann die Frage auch so wenden: Eröffnet die Haltung der radikalen Fraglichkeit noch die Möglichkeit einer philosophischen Ethik? Anders als Heidegger, der in einem anderen Sinne vom ursprünglichen Walten des Geheimnisses spricht, weist Weischedel die Forderung nach einer verbindlichen ethischen Anweisung nicht zurück. Indem er sich dieser Forderung stellt, gelangt das andere der genannten Momente zur Geltung. Vor wenigen Wochen hat Weischedel die Arbeit an seinem Buch Skeptische Ethik abgeschlossen. In seiner Einleitung zu einer Vorlesung, die er an der Kirchlichen Hochschule Berlin im SS 1974 über 37
dieses Thema hielt, hat er auf den scheinbar unauflöslichen Widerstreit hingewiesen, in dem Verbindlichkeit fordernde Ethik und Verbindlichkeit leugnender Skeptizismus stünden. Den Widerspruch aufzulösen, galt das Bemühen der Vorlesung. Weischedel hat in ihr und in den sie begleitenden Colloquien die Möglichkeit einer Vereinbarkeit von Skeptizismus und Ethik dargelegt. Ob er inzwischen den weiterreichenden Anspruch zu erfüllen vermocht hat, das Hervorgehen einer Ethik aus dem Skeptizismus darzutun, wird sein Buch zeigen. In der Vorlesung wurde „die entgegengesetzte Möglichkeit: daß der Skeptizismus bei der bloßen Feststellung... auch der Fraglichkeit alles Handelns stehen bleibt", als Möglichkeit offen gehalten. Die damit wieder zutage tretende Spannung verschärft sich noch, wenn der Anspruch auf eine verbindliche Ethik mit der philosophischen Konsequenz des Untergangs des Ich konfrontiert wird. Wirklichkeit im Sinne von Beständigkeit soll allein dem Fraglichmachen als solchem und dem es ermöglichenden Unvordenklichen zukommen. Hat ethische Verbindlichkeit dann das ihr eigentümlich Beständige von Gnaden des Geheimnisses? Ist das bestandlose Ich das Medium für die sich noch im menschlichen Handeln zum Ausdruck bringende Gottheit? Ich habe den Eindruck, daß sich in der Problematik der Vereinbarkeit von philosophischer Theologie und philosophischer Ethik entscheidet, ob die verschiedenartigen Richtungen, in die sich das Denken Weischedels bewegt hat, letztlich zusammenführen. . . Ich meinte, den Philosophen der radikalen Fraglichkeit nicht angemessener ehren zu können, als so, daß ich sein Philosophieren fragend fraglich zu machen suchte.
38
Literaturhinweise zur Rede Zu S. 33, Z. 5-8: Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Nymphenburger Verlagshandlung, München 3 1973,S. 227.-ZUWeischedels Fichte Deutung s. vor allem: Der Zwiespalt im Denken Fichtes. Walter de Gruyter&Co., Berlin 1962. Zu S. 33, Z. 19-22: Das Verzeichnis der Schriften Wilhelm Weischedels, zusammengestellt von Gesine Schwan, ist veröffentlicht in: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel. Hrsg. v. Alexander Schwan. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975. S. 517-525. Zu S. 35, Z. 7-11: Der Band II der Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Ludwig J. Pongartz, der den Beitrag Weischedels enthält, ist inzwischen (1975) bei Meiner in Hamburg erschienen. Daselbst S. 316-341. Zu S. 36, Z. 27-31: Helmut Gollwitzer und Wilhelm Weischedel: Denken und Glauben. Ein Streitgespräch. Kohlhammer, Stuttgart 1965. Zu S. 37 f., Z. 31 ff.: Wilhelm Weischedels Skeptische Ethik erscheint 1976 bei Suhrkamp, Frankfurt a. M. 39