133 79 4MB
German Pages [563] Year 2016
Fausto Fraisopi
Philosophie und Frage Band 2: Untersuchungen über die Formen der Mathesis
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817858
.
B
Fausto Fraisopi Philosophie und Frage
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Das grundsätzliche Fragen liegt immer und ständig dem Wissen zugrunde. Ein grundsätzliches Fragen ist notwendig, wenn man die Komplexität unserer Zeit und unserer Welt verstehen will. Was uns aber heutzutage fehlt, ist die Verbindung zwischen der elementaren Situation jedes grundsätzlichen Fragens und der inflationären Vervielfachung von Wissensformen und partiellen Theorien. Damit einhergehend verliert die Philosophie den Sinn der Form eines ersten Wissens (prôtê epistêmê) als vorrangige Form eines Denkens, das den Wissensformen Einheit geben und den Sinn des Wissens für den Menschen erschließen könnte. Das Buch zielt darauf ab, im Dialog mit der phänomenologischen sowie mit der analytischen Tradition eine neue Schau zu entwickeln, welche die elementare Situation der Frage nach dem Sinn und die Komplexität des Realen wieder miteinander in Verbindung bringt. Ausgehend von der Frage nach dem Sinn kommen Grundfragen in den Blick, welche, jede auf ihre Art und Weise, einen Horizont öffnen, in dem das Denken eine Erweiterung seines Verstehens erreicht: der Horizont der Metaegologie, der Metatheorie, der Metaontologie und zuletzt der Metametaphysik. Durch die Entwicklung der Korrespondenz zwischen Grundfragen und Horizonten des Denkens öffnet sich nicht nur die Perspektive einer Archäologie, sondern die Perspektive der Zukunft des Wissens.
Der Autor: Fausto Fraisopi ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Husserl-Archiv.
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Fausto Fraisopi
Philosophie und Frage Band 2: Untersuchungen über die Formen der Mathesis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48785-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81785-8
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
ἔστι γὰρ ἀπαιδευσία τὸ μὴ γιγνώσκειν τίνων δεῖ ζητεῖν ἀπόδειξιν καὶ τίνων οὐ δεῖ Aristoteles
»Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle.« I. Kant
»Keine Erkenntnislinie, keine einzelne Wahrheit darf verabsolutiert und isoliert werden.« E. Husserl
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Inhalt
Erster Band Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
Kapitel I.
status quaestionis . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Kapitel II.
Die verwirrende Frage . . . . . . . . . . . . . .
99
Kapitel III.
Die Dimension der Theorien . . . . . . . . . . .
99
Kapitel IV.
Jenseits des Sinnes von Sein . . . . . . . . . . . .
99
Kapitel V.
Über die Topoi des Wissens . . . . . . . . . . . .
100
Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
Nachwort. Vom spekulativen Denken . . . . . . . . . . . . .
100
VII https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Inhalt
Zweiter Band Vorwort zum zweiten Band . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
I. TEIL META-EGOLOGIE Kapitel I. Das Feld der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . .
139
§ 1. Die Deklinationen des phänomenologischen Ethos; § 2. Die Bedeutung der Prinzipien; § 3. Das Prinzip der Phänomenologie; § 4. Die Verbindung zwischen der Reduktion und dem Ich-(das ist)-Horizont; § 5. Die Verbindung zwischen der Reduktion und der Phänomenalität; § 6. Die Verbindung zwischen dem Ich-Horizont und der Phänomenalität; § 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung. Kapitel II. Logik und Phänomenologie des Fragens
. . . . . . . 158
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung; § 9. Die Frage (als Nachfrage) und ihr Ereignis; § 10. Passivität und Kontextualität der Frage; § 11. Topographie des Gebiets der Frage; § 12. Über die Abstufung der Phänomene in der Polarität »leere/gesättigte Gegebenheit«; § 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit als »Moment des radikalen Empirismus«; § 14. In Richtung des Extrems der »armen« Gegebenheit als Frage; § 15. Metatheoretische, metaphysische Fragen und die Frage nach dem »Ich«. Kapitel III. Theoretische Strukturen . . . . . . . . . . . . . . § 16. Die Frage als »transzendental-ursprüngliches Phänomen«; § 17. Das Ich und die Deixis; § 18. Das »Ich« und die gegenstandslose Vorstellung; § 19. Die Zweideutigkeit der Frage; § 20. Die Frage als Ereignis; § 21. Die intentio intellectus; § 22. Das intentum: »mein-Ich-in-der-Frage-»Was/wer bin ich?«; § 23. Die Frage, die sich neutralisiert; § 24. Die neutralisierte Frage, die Schau, die Selbstaffektion; § 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese; § 26. Die wesentliche Trennung; § 27. An-Egoität und Sinnesmangel; § 28. Das Ich als Distanz; § 29. Die spekulative Situation und das Multiversum. VIII https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
191
Inhalt
Kapitel IV. Spekulative Strukturen . . . . . . . . . . . . . . .
237
§ 30. Ich-Horizont; § 31. Die verlorene Subjektivität und die Öffnung der ontologischen Analyse; § 32. Die spekulative Situation; § 33. Der »Ich-Horizont« jenseits des Seins; § 34. Der »Ich-Horizont« und das »Selbst«; § 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung; § 36. Spekulative Situation und Modularität; § 37. »Ich-Horizont« und egologische Relativität; § 38. Erfahrung und materiales Apriori; § 39. Aktuelles materiales Apriori und Kontextualität; § 40. Charaktere der HSB; § 41. Gewinn und Verlust der Identität; § 42. Das »philosophische Subjekt«.
II. TEIL META-THEORIE Kapitel V. Der metatheoretische Horizont . . . . . . . . . . .
289
§ 43. Das philosophische Subjekt und die Nicht-Sache der Philosophie; § 44. Das »im Leeren« philosophierende Subjekt; § 45. Das »im Leeren philosophierende Subjekt«, die Metaphysik und die metatheoretische Dimension; § 46. Die Frage, der Akt und die spekulative Charakterisierung ihres Noemas; § 47. Das Metatheoretische als Erscheinendes; § 48. Das Metatheoretische als solches; § 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke; § 50. Der □metatheoretische Gegenstand (oder der Gegenstand der □metatheoretischen Anschauung); § 51. »□Eidos« und »□Logos« als Namen für eine komplexere Wirklichkeit; § 52. Die Abschattungen und die Beziehungen zwischen den □MG. Kapitel VI. Die metatheoretische Erfahrung
. . . . . . . . . . 329
§ 53. Für eine Phänomenologie des Metatheoretischen; § 54. Das erste Abbild des Metatheoretischen; § 55. Die Analyse des □MG vom Standpunkt der Erkenntnis- und der Wissenschaftstheorie; § 56. Phänomenologische Analyse des □MG gemäß dem Eidos; § 57. Das □Eidos und die Modellierung; § 58. Phänomenologische Analyse des □MG gemäß seinem Logos; § 59. Der Gegenstand und seine Modelle;
IX https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Inhalt
§ 60. Das □Eidos und das Werden des □MG; § 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des Gegenstands. Kapitel VII. Die metatheoretische Dimension
. . . . . . . . . 374
§ 62. Der □MG und seine Dynamik; § 63. Strukturelle Modifikationen und semantische Variationen: Vom □MG und seiner Mereologie; § 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen; § 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension; § 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien des □MG; § 67. Der visuelle Status der metatheoretischen Erfahrung und die Morphologie der Eigenschaften; § 68. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität I: Die Beziehungen zwischen den Gegenständen; § 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II: Statische und dynamische Beziehungen; § 70. Das ontologische Problem des Metatheoretischen.
III. TEIL META-ONTOLOGIE Kapitel VIII. Ontologie als Gegenstand . . . . . . . . . . . . .
421
§ 71. Zirkularität, die sich auf die metatheoretische Dimension auswirkt; § 72. Gegenstandstheorie als Theorie; § 73. Gegenstandstheorie als □MG; § 74. Erschöpfung des Vorrangs: Die metatheoretische Relativität der Gegenstandstheorie; § 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs; § 76. Prôtê Epistêmê in der metaphysischen Hypothese; § 77. Die Neutralisierung und die Erscheinung der Gegenstandsstruktur; § 78. Die strukturelle und genetische Einheit der Ontologie und ihr »Vakuum«; § 79. Die erste Form des Vakuums; § 80. Die zweite Form des Vakuums; § 81. Die Dritte Form des Vakuums; § 82. Analyse der Zirkularität; § 83. Die »privative« Situation der Gegenstandstheorie als solche; § 84. Die holistische Aporie und die privative Situation. Kapitel IX. Die Metaontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . § 85. Die Vollständigkeit der ontologisch-privativen Situation: Die Metaontologie; § 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie; § 87. Die ontologische Frage als »GegenX https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
459
Inhalt
stand«; § 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie; § 89. Die Momente der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν«; § 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage; § 91. Die Analyse der Frage: Erste Abstraktion; § 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion. Kapitel X. Metaontologie und Individuation
. . . . . . . . . . 499
§ 93. Metaontologie vs. Metaphysik; § 94. Die meta-ontologische Schwelle und ihre Dimensionalität; § 95. Die Vieldeutigkeit der Frage; § 96. Vieldeutigkeit und Metaphysik; § 97. Die Doppeldeutigkeit jenseits der Metaphysik: »On what there is«; § 98. Die beiden Sinne der Doppeldeutigkeit und die Bedeutungen der Metaphysik; § 99. Ontologische Relativität und metaontologischer Raum; § 100. Metaontologie und Anschauung; § 101. Anschauung und Singularität; § 102. Die Brechung des metaontologischen Gleichgewichts.
IV. TEIL DER RAUM DER MATHESIS Kapitel XI. Protothesen und Immanenz
. . . . . . . . . . . . 537
§ 103. Die Frage nach dem Realen; § 104. Die meta-metaphysische Situation; § 105. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin: Die Individuation; § 106. Die Öffnung des Horizonts der Mathesis; § 107. Protothese-(G) und radikaler Empirismus; § 108. Protothese-(p) und Individuationsprotokolle; § 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung; § 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung; § 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration. Kapitel XII. Die Dimension der Modelle und die Mathesis . . . .
576
§ 112. Metaphysisches Modell vs. □metaontologische Modelle; § 113. Was ist ein □MOM?; § 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«; § 115. Erfahrungsboden als epistemische Chora; § 116. Metaontologische Modelle (□MOM); § 117. Die Komplexität und die □MO Modellierung; § 118. Der naive Charakter der dreidimensionalen XI https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Inhalt
Voraussetzung und der Übergang zur Mo/dellierung; § 119. Grundlinien der □MO Modellierung; § 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ; § 121. Die Existenzfrage in den □MO Topoi und die Idee der Physis. Kapitel XIII. Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
. . . . 616
§ 122. Der Horizont der Mathesis; § 123. Dekonstruktion und Mathesis; § 124. Die spekulative Reduktion; § 125. Metaphysische Frage und Theologie; § 126. Metaphysische Frage und Kosmologie; § 127. Metaphysische Frage und Anthropologie; § 128. Dekonstruktion und □MO Modellierung; § 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis: a) Das Menschliche als Mehrdeutigkeit; b) Mehrdeutigkeit des Weltlichen und Faserung des Realen; c) Das Heilige und seine Mehrdeutigkeit; § 130. Die Formen der Mathesis; § 131. Die Form der Mathesis. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
655
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
XII https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
Dieser Band überdenkt auf systematische und detaillierte Art und Weise die Analysen, die im ersten Band bereits synthetisch dargestellt wurden. Die Länge und die extrem analytische Form der Betrachtungen, die hier entwickelt werden, sind keineswegs überflüssig, als ob es sich um eine rein doktrinäre Übung handelte. Sie sind umso notwendiger, wenn man bedenkt, welche Mühe und welche Arbeit die Form der Wissenschaft an sich erfordert, um ihre Thesen nicht unter dem Siegel der Willkür sondern der Strenge erscheinen zu lassen. Wer sich einmal dem Habitus der Strenge, der charakteristisch für jede Wissensform ist, hingegeben hat, kann leicht verstehen, dass jegliche radikale Untersuchungen, und vor allem diejenigen über so etwas wie eine protê Epistêmê immer eine tiefere Strenge erfordern: die Weite des Feldes der damit verbundenen Analysen ist genau proportional zu der Zeit, die solche Analysen brauchen, und zu der Komplexität der strukturellen Verbindungen, welche zwischen ihren thematischen Komponenten bestehen. Ein Vorwort kann sich folglich nur darauf begrenzen, die Idee einer solchen Komplexität zu umreißen und die Verbindung zwischen dem spekulativen Kern der Untersuchung und der großen Mannigfaltigkeit der gegenwärtigen Forschung aufzufassen. Solche Forschungen, selbst wenn sie keine spekulative Einheit zeigen, haben nichtsdestotrotz den höchsten Wert, um Regionen des heutigen Wissens auf eine extrem detaillierte und präzise Art und Weise zu beschreiben. Während der erste Band »nur« die Form eines Horizonts zu diesen zerstückelten Räumen geben konnte, muss der zweite dessen Regionen methodisch artikulieren und sie in Dimension verwandeln. Das Wissen bzw. die Wissenschaft findet ihre höchste Konkretion immer in der Arbeit mit Menschen für andere Menschen. Aber Wissen braucht auch viel Zeit, Geduld, Mühe, Wörter, die heute fast komisch erscheinen können, weil die Imperative des Wissenschafts127 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
managements andere sind: wenig Zeit, Minimalismus, Pragmatismus, Leistungsgeschwindigkeit, Projektanträge, Workshops, Project Financing, impact factor, Interdisziplinarität usw. Das Problem ist, dass man durch die Selbstunterwerfung unter diese Imperative – die das Wissen in »Spottobjekte« verwandeln – ipso facto die Möglichkeit verliert, zu sagen, wovon genau solche Spottobjekte Spottobjekte sind, weil die allgemeine Vernetzung des Wissens in einer solchen Fach-Spezialisierung einfach zerbrechen wird. Das gilt leider umso mehr in der philosophischen Forschung. I. Das erste Kapitel dient genau dazu, eine solche Zerstückelung der philosophischen Fragestellung zu überwinden und mittels eines wesentlich neutraleren phänomenologischen Ansatzes die Problematik der Phänomenalität selbst zu öffnen. Es ist sicher, dass eine solche Neutralität heutzutage viele Leute skandalisieren kann: die clerici der heutigen Analytischen Philosophie, die sich (aus guten Gründen) für Vertreter einer Hegemonie halten, die clerici der Phänomenologie, die der sogenannten »hermeneutischen« Philosophie, oder diejenigen clerici, die heute massenhaft (überhaupt in Europa) betteln, um am Tisch der Hegemonie angenommen zu werden, wenn auch nur als Hofnarren. Aber der Grund von Forschung, wenn es sich um Forschung handelt, ist nicht die Erzeugung oder die Vermeidung eines »Skandals«, sondern überhaupt und einfach: Wissen. »Neutral phänomenologisch vorgehen« bedeutet hier (wie in anderen Ansätzen der folgenden Kapitel), dass etwas, das sich zeigt, zuerst so, wie es sich zeigt, und dann durch die Korrespondenz zwischen der logisch-sprachlichen Dimension und dem anschaulichen Gehalt einer Erfahrungsform zu betrachten ist. Ein solches neutral phänomenologisches Vorgehen dient dazu, genau den Raum der Phänomenalität zu erforschen und auszudehnen, um darin Formen der Erfahrung – wie die der Frage – zu finden und zu beschreiben. Aus diesem Grund wird man sich nicht über die Tatsache wundern, dass die ersten Paragraphen des Kapitels nicht zu einer Charakterisierung der Frage voranschreiten, sondern die Phänomenalität als solche betrachten und eine allgemeine Fragestellung der Prinzipien entwickeln, die eine nicht-naive bzw. grob reduktionistische Beschreibung der Erfahrung leiten. Jedoch ist die Einschreibung der Frage (und der Logik, die sie strukturiert) in einen phänomenologischen Diskurs keine einfache bzw. unfruchtbare Übung, als ob es genug wäre, die Klasse der Phä-
128 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
nomene der Phänomenologie um ein anderes fremdes Element zu erweitern. Nach dem Wesen der Frage und ihrem Erfahrungscharakter zu fragen, um eine solche Erweiterung des phänomenalen Feldes zu entwickeln, erfordert tatsächlich, den Erfahrungscharakter aller Phänomene und die Grundprinzipien der Erfahrung selbst zu hinterfragen, vor allem vom Standpunkt des Anschauungsgehalts und der Grenzen der Anschaulichkeit, die dasjenige sind, mit dem sich der Horizont der Erfahrung eigentlich beschreiben lässt. II. Das zweite Kapitel dient dazu, die Frage nach der »Frage« zu stellen und eine »phänomenologische« Analyse der Frage zu einer gewissen Forschungskonstellation in Verbindung zu setzen. Es geht um die Forschungen, die seit den sechziger Jahren, aufgrund der fundamentalen Studien von Jaakko Hintikka einerseits und Mary und Arthur Prior anderseits, unter der Bezeichnung »IMI – Interrogative Model of Inquiry« 1 oder allgemeiner gefasst »Erotetic Logic« zusammengefasst werden. Ein solcher Ansatz erscheint aus vielen Gründen entscheidend: erstens weil die Phänomenologie (trotz anfänglicher Skizzen) nie eine wirklich intentionale und eidetisch-systematische Analyse des Erlebnisses »Frage« entwickelt hat; zweitens weil die Erotetic Logic (Interrogativlogik) ihre sehr produktiven Untersuchungen geleitet hat, aber so, als seien die Fragen etwas, das in der logisch-semantischen Luft der Sprache hänge. Die Fragen sind in erster Linie als ein Modus zu verstehen – obwohl sui generis –, durch den die Individuen sich zur Welt öffnen und die Welt erfahren. Eine solche lange und systematische Erschließung der Struktur der Frage ist jedoch wichtig für zwei andere Aspekte, die unmittelbar mit der allgemeinen Struktur der Untersuchung verbunden sind. Der erste ist, dass die Wissenschaft bzw. das Wissen, in bestimmten Momenten ihrer Entwicklung, oft zyklisch, Grundfragen stellt. Um Grundfragen ohne Naivität stellen zu können, um das Wesens des erfragten »Was« genau aufzufassen, muss man die Struktur der Frage kennen, um dann richtig in dieser Struktur das Wesen der Grundfragen erkennen zu können. Nur durch die Erkenntnis des Wesens der Grundfragen und ihres existentialen und zugleich epistemischen Vgl. J. Hintikka, On the logic of an interrogative model of scientific inquiry, Synthese, 47, 1981: 69–83; Inquiry as Inquiry: A Logic of Scientific Discovery, Dordrecht, 1999. 1
129 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
Charakters, kann man in den Grundfragen (auch falls sie zweideutig sind) spekulative Figuren auffassen, welche die Dynamik des Wissens selbst bestimmen. Der zweite, etwas technischere Aspekt ist der, dass eine relativ starke theoretische Verbindung zwischen der IMI und der strukturalistischen Wissenschaftstheorie besteht, die, wenn sie gut genug erkundet wird, uns im Wesentlichen zu der Metatheorie bringen kann. 2 III. Das dritte Kapitel ist dem gewidmet, das man als die erste ursprüngliche Deklination der Sinnfrage definieren könnte: die Frage »Was/wer bin ich?«. Ohne die Analysen des ersten Bandes zu wiederholen bzw. die des zweiten Kapitels antizipieren zu wollen, reicht es aus, eine extrem paradoxe Situation »literarisch« zu bemerken: Ein Gespenst geht um in der Geschichte der Menschheit und des Denkens, die Frage »Was/wer bin ich?«. Die Frage begleitet das Denken und die Philosophie (in allen Formen der Spiritualität und seit ihrem Ursprung). Das Paradoxe ist, dass die Frage nie als Gegenstand einer systematischen Analyse gesetzt und folglich nicht vom Standpunkt ihrer eigenen Erfahrungsform her betrachtet wurde. Hier noch einmal: Die Traditionen kreuzen sich, treffen aufeinander, ohne dass sie anhalten, um das Wesentliche erkennen zu können. Es ist unmöglich, im Rahmen eines kurzen Vorworts die Geschichte der Frage und ihrer Missverständnisse in einem Satz zusammenzufassen. Es genügt, anzumerken, dass erstens solche Missverständnisse aus der Unkenntnis ihres »Erfahrungsform-Seins« entstehen und zweitens schon die Tradition der Theorie des Erhabenen auf die Frage trifft, ohne sie als zu der Erfahrung des Erhabenen zugehörig anzuerkennen, ebenso wie auch die Traditionen der Gnosis, des Augustinismus und des Cartesianismus auf die Frage treffen. Kant erkennt die Frage »Was ist der Mensch?« als architektonische Grundfrage der Vernunft an, ohne davon eine umfassende Analyse zu geben (diese muss, in der Architektonik der Vernunft, als Artikulation der drei anderen Fragen gesucht werden). Auch Heidegger erkennt die Frage in ihrem gründlichen Ereignischarakter an, ohne die Folgen einer solchen Anerkennung explizit zu machen. Die 2 Vgl. dazu M. Sintonen, Structuralism and the Interrogative Model of Inquiry, in W. Balzer – U. Moulines (Eds.), Structuralist Theory of Science. Focal Issues, New Results, Berlin – New York, 1996, S. 45–74.
130 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
Analytische Philosophie, welche Wittgenstein folgend tiefe Analysen von Fragen der Philosophie entwickelt hat (vor allem Carnap und Nagel), hat nie an die Tatsache gedacht, dass vielleicht eine zweideutige bzw. nutzlose oder müßige Frage, eine existentiale Erfahrung sowie zugleich ein radikal epistemisches Moment sein könnte. Dies hängt tatsächlich mit der Verblendung zusammen, die unsere heutige Welt affiziert, d. h. mit der Meinung, dass man sich unbedingt auf die instrumentelle Nützlichkeit der Sachen zu konzentrieren habe und alles, was nicht dem Profit dient, verwerfen müsse. Eine solche Tendenz hat nur das armselige Ergebnis, den Gelehrten (in dem Brunnen) in die schlechteste Karikatur der thrakischen Magd zu verwandeln. Das dritte Kapitel fasst, durch die Fixierung der logischintentionalen Strukturen des Fragens, eine solche Frage als Erfahrung und als grundlegende Figur der Öffnung jeder existentialen sowie epistemischen Dimension auf und folglich als die Entstehung der spekulativen Dimension, die daraus stammt. IV. Das vierte Kapitel, das die meta-egologischen Analysen vollendet, entwickelt die spekulativen Folgen der Erfahrung der Frage »Was/wer bin ich?«. Hier konvergieren noch einmal mehrere Traditionen des Denkens und mehrere Forschungskonstellationen über demselben Boden, ohne richtig in Dialog zu treten. Weder den Studien der Neurowissenschaften und der Psychologie noch den Ergebnissen der Philosophie des Geistes oder gewisser Entwicklungen der Phänomenologie gelingt es, die Sache selbst einer solchen Situation, ihre Invariante, zu fixieren, selbst wenn sie verschiedene wichtige Aspekte der wesentlich spekulativen Situation der Erfahrung und der Modularität der Selbstbeziehung auffassen. 3 Es ist, als ob die Debatten über das Spiegelstadium und die Spiegelneuronen, die Studien über das Multiple Self und über die neurokognitive Formung der Selbstbeziehung, die Interpretationen des Habitusbegriffs und der Passivität bei Husserl und der Lebensform bei Wittgenstein, aber vor allem die Ansätze über die Erste-Person-Perspektive sich treffen, ohne miteinander zu sprechen. Die spekulativen Strukturen, die im vierten Kapitel beschrieben werden, versuchen, sehr bescheiden, eine gemeinsame Topologie zu weben – weil sie auf die Sache der subjektivierten Erfah-
3 Vgl. Th. Metzinger, Being no one. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge (MA), 2003.
131 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
rung selbst zentriert sind –, und versuchen, methodisch den Ansatz zur Metatheorie propädeutisch zu öffnen. V. Das fünfte Kapitel, das den zweiten Abschnitt »Metatheorie« ausdrücklich öffnet, ist der Versuch, die metaphilosophische Situation bzw. die metaphilosophische Schwelle anhand ihrer radikalen Erfahrung zu denken. Es geht darum, die Frage »Was ist die Philosophie?« als Erfahrung und nicht nur als doktrinäres, wenn nicht gar rhetorisches Element zu denken. Es gibt mehrere scharfsinnige Studien (z. B. die von Timothy Williamson) über die Metaphilosophie, die seit den sechziger Jahren bis heute fast eine Mode geworden ist, eine Mode, deren Erweiterung oft proportional zu ihrer Leere ist. Anhand dieser Leere oder der Leere jeder Metaphilosophie als Lehre entwickelt das fünfte Kapitel einen Ansatz, der nicht »metaphilosophisch« im klassischen Sinne ist, d. h. im Sinne einer Philosophie der Philosophie. Der Ansatz, der durch die metaphilosophische Schwelle der Frage geht, betrachtet genauer gesagt nur ihre intentionale Logik und orientiert sich tatsächlich an der Sache selbst des Denkens und des theoretischen Denkens insbesondere, d. h. dem möglichen Zugang zu Wissensformen. VI. Das sechste Kapitel entwickelt eine erste phänomenologische Form des Zugangs zu den Theorien, welche als Erfahrungsform zu denken ist. Dies bedeutet, dass man die invarianten Formen unseres »Sich-auf-Theorien-Beziehens« sucht, die meistens in unserer Sprache und in unserem Imaginären (und auch in vielen Formen interdisziplinärer Ansätze) implizit bleiben, um davon eine Grammatik der metatheoretischen Schau bzw. Erfahrung zu skizzieren. Natürlich haben bereits Foucault einerseits (in der Archäologie des Wissens) und die strukturalistische Wissenschaftstheorie andererseits (Sneed, Stegmüller, van Fraassen) versucht, eine solche Zugangsform hervorzuheben und zu systematisieren. In der Perspektive Foucaults war dies propädeutisch, um die historische Sedimentierung von Wissensformen zu zeigen, in der Perspektive der strukturalistischen Wissenschaftstheorie, um die unterliegenden Strukturen wissenschaftlicher Ansätze zu formalisieren. Jedoch haben beide Ansätze leider in zwei verschiedenen Feldern gearbeitet, oft aufgrund einer kulturellen bzw. idiosynkratischen Begrenzung. Doch ist der Hauptgrund, aufgrund dessen eine solche Komplementarität nicht verstanden worden ist, in dem Mangel einer radikalen Perspektive der Fragestellung über das 132 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
Wesen der Metatheorie selbst als metatheoretische Erfahrung, die nur zu einer Untersuchung der prôtê Epistêmê gehören kann, zu suchen. VII. Das siebente Kapitel unternimmt zunächst einmal die Beschreibung der Schau aus einer metatheoretischen Perspektive, welche die Begriffe und die allgemeinen Gesetzte definiert, um in künftigen Forschungen eine solche Schau richtig und praktisch entwickeln zu können. Dies wird nur möglich durch den Versuch, nochmals eine Konstellation von Problemen zu betrachten und philosophisch zu behandeln, die mit Ausnahme weniger Studien im Feld der Philosophie und der gegenwärtigen Debatte kaum anerkannt worden sind. Die ausführliche Analyse, die sich dort befindet, entspricht im Wesentlichen der Notwendigkeit, eine Bildung der Schau zu einer anderen Auffassungs- bzw. Erfahrungsform jeder theoretischen Struktur zu entwickeln. Um dies zu schaffen, ist es vor allem nötig, eine Perspektive einzunehmen, in der die Dimensionen der Theorien (oder der theoretischen Strukturen) auf spekulative Art und Weise gedacht werden. Es bedeutet tatsächlich, mittels desjenigen zu denken, was sich heute als ein extrem mächtiges Modellierungs- bzw. Simulationswerkzeug komplexer Phänomene zeigt: das Network Modeling. Wenn wir die Theorie bzw. die theoretischen Strukturen oder Wissensformen als Netzwerke denken (was schon Foucault und die strukturalistische Wissenschaftstheorie skizziert hatten), können wir einen weiteren Schritt machen. Dies bedeutet wesentlich, in einem Gedankenexperiment zu denken, dass man eine Graph-Modellierung von Theorien, theoretischen Strukturen, Wissensformen erzeugen könnte, die uns einen visuellen sowie einen begrifflich-informationellen Zugang zu jedem Aspekt solcher Strukturen geben könnte. Stellen wir die Frage: Was bedeutet es oder was könnte es bedeuten, die Dimension der Wissensformen, d. h. des menschlichen Wissens, visuell zu erkunden und zu erfahren? VIII. Anhand des intrinsischen Imprädikativität-Paradoxes der metatheoretischen Dimension öffnet das achte Kapitel die metaontologische Dimension durch die Annahme der Ontologie als thematischer Gegenstand einer Analyse, der sich in der Imprädikativität zeigt. Statt sich auf eine unmittelbare und grobe Art und Weise an der Beschreibung der Metaontologie als Grundlegung der Ontologie zu orientieren, versucht das Kapitel, das »Meta-« selbst der Metaontologie zu 133 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
verstehen. Nur so kann sich eine solche Analyse an die intrinsische Konstitution der Ontologie (als immer unvollständigere Reduktion des Realen zu einer formalen Struktur) wenden. Wenn das »Meta-« nicht als strukturales, invariantes und vorausgesetztes Moment verstanden wird, sondern als historische und theoretische Bewegung, die aus der Unvollständigkeit jeder Ontologie als souveräne Theorie entsteht, zeigt es sich zuerst in der Relativität der Ontologie, im metatheoretischen Sinn verstanden. Die Auffassung eines solchen »Meta« bereitet, von der metaontologischen Dimension ausgehend, eine neue Betrachtung der Quine’schen und Meinong’schen Positionen vor, die wir in der gegenwärtigen Debatte über die Metaphysik finden können. IX. Nachdem die intrinsische Bewegung des »Meta-« fixiert ist, die derjenigen, die einer Gegenstandstheorie entspricht, immer und konstitutiv folgen muss, beschreibt das neunte Kapitel die elementare, wesentliche Situation der Auffassung, d. h. der (immer notwendigerweise metatheoretischen) Erfahrung der Ontologie bzw. der Gegenstandstheorie als thematischer Gegenstand einer Analyse. Im Herzen dieser theoretischen Struktur und am Anfang ihrer Ontogenese findet man die Frage, die zuerst ihre eigene Entwicklung bestimmt: »τί τὸ ὄν;« Die Frage ist nun auch als thematischer Gegenstand gegeben, durch die Werkzeuge, die die Interrogativlogik und die Logik der Theorien uns gegeben haben. Das »metatheoretischer GegenstandSein« und das »Erfahrung-Sein« der ontologischen Frage zeigt eine wesentliche Korrespondenz bzw. Komplementarität. Die entsprechende Korrespondenz bzw. Komplementarität zwischen der phänomenologischen und der metatheoretischen Analyse zeigt, dass die ursprüngliche und wesentlich problematische Verbindung zwischen Ontologie und Metaphysik genau von dem Gefragten aufgrund seiner Zweideutigkeit entsteht. X. Von dieser Verbindung ausgehend, die in der gegenwärtigen Debatte der analytischen Philosophie und der Phänomenologie sehr weitgehend (aber nicht mehr radikal) in Frage gestellt wird, entwickelt das zehnte Kapitel einen Ansatz zu der Frage, die in die Quine’schen Form übersetzt wird: »What is there?« Durch eine solche Übersetzung, hat man nicht nur Zugang zur Metaontologie als (Patt-) Situation jeder naiven Metaphysik, sondern erfährt auch ihre eigene Dimensionalität, insbesondere mit Blick auf den Gehalt, den die Me134 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
taphysik in der Metaontologie selbst annimmt. Wenn es möglich ist, innerhalb dieses Horizonts verschiedene gleichermaßen »relative« Formen der Ontologie als regionale Ontologien aufzufassen, welche nicht notwendigerweise hierarchisch geordnet sind, stellt sich dann das metaphysische Problem der Bestimmung des Realen (bzw. des Seienden) und des Gehalts sowie der Möglichkeit einer solchen Bestimmung, die aus der ontologischen Relativität entstehen können. XI. Die fundamentale Tendenz der Metaphysik, die sich innerhalb der metaontologischen Dimension und nach der ontologischen Relativität gezeigt hat, findet ihren klaren Ausdruck in der Frage: »Was ist real/das Reale?«. Von der Zweideutigkeit der Frage ausgehend arbeitet das elfte Kapitel an der Beschreibung der metametaphysischen Situation, die wie zuvor als Schwelle verstanden wird und als Eröffnungsmoment des Horizonts der Mathesis erscheint. In Bezug auf eine solche Situation, welche die wesentlich problematische Struktur der Frage selbst enthüllt, umreißt sich die positionale Ko-Implikation, die jede Sach-Erfahrung als solche bestimmt, d. h. die Ko-positionalität des Realen, als allgemeinem Terminus, und der Singularität. Hier können sich viele offene Probleme treffen (Probleme der Qualia, vielleicht auch der quined Qualia, der Protokollsätze in der Wissenschaftstheorie, des Realismus in der analytischen Philosophie, und der Urdoxa, der originär gegebenen Anschauung und der Lebenswelt in der Phänomenologie) und ein Gemeinfeld der Interaktion finden. Um zu verstehen, in welchem Sinn der wesentlich deiktische Akt der Individuation einer Singularität (in ihrer bestimmten Form und in ihrem Existenzcharakter) und die positionale unveränderliche Beziehung zum Realen mitwirken, entwickelt man auf eine detailliertere Art und Weise zwei fundamentale Aspekte, die in den vorherigen Abschnitten nicht in Frage gestellt wurden: die Struktur der Protothesen (Qualia- Protokollsätze, Realismus) und die Implementierung zwischen Mereologie und Topologie (Mereotopologie, wie sie in den Ansätzen von Varzi, Smith und anderen erforscht wurde) als ontologische Regionalisierung einer formal-ontologischen Struktur, die der Singularität ihre Instanziierungsform vorschreibt. XII. Nach der ersten elementaren Strukturierung des Horizonts der Mathesis entwickelt das zwölfte Kapitel die Form der Gegenständlichkeiten, die sich in einem solchen Horizont befinden, und ihre mögliche Modellierung. 135 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vorwort zum zweiten Band
Von der Beschreibung der □MOM (grob gesagt: der intrinsischen ontologischen Modelle jeder theoretischen Struktur als □MG) ausgehend, wird zuerst eine Kontextualisierung der Ideen selbst versucht, eine metaontologische Modellierung in dem Bereich der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problematik. Es geht um Probleme, die oft als antinomisch erscheinen, wie zum Beispiel das Problem der Theory Ladenness (Hanson und andere) und das des Mythos des Gegebenen (Sellars und Andere). Dann wird einen Schritt weitergegangen und wird die Kreuzung, die Synthese, die Verschmelzung solcher Modelle versucht, was im Bereich der heutigen Komplexitäts- und Systemtheorie gefordert wird, um ein »Gegenstand-worüber« des Diskurses zu bekommen. Dieser Schritt artikuliert sich in zwei Momenten: der Anwendung der Kategorientheorie zur Modellierung und der Auffassung der Dynamik solcher Modelle (als algebraische n-dimensionale Räume) durch die Idee der topoi Grothendiecks. Nur an diesem Punkt kann man so etwas wie die »Formen der Mathesis« denken und ihren wesentlich spekulativen Gehalt auffassen. XIII. Das dreizehnte (und letzte) Kapitel interpretiert die theoretischen Ergebnisse des zwölften vom Standpunkt der Metaphysikkritik. Durch einen dekonstruktivistischen Ansatz, der nur von der Beschreibung der Strukturen des Mathesis-Horizonts her möglich erscheint, kehren wir zu den metaphysischen Fragen (auch im Carnap’schem Sinne verstanden) zurück. Von der Reduktion solcher Fragen ausgehend, wird versucht Felder bzw. gemeinsame Forschungsräume zu beschreiben, in denen eine interdiziplinäre Mit-wirkung von theoretischen Strukturen (in Bezug auf die Geistes-, die Naturund die Religionswissenschaften) eine erste Verortung finden kann. Von der kritischen Aufhebung der metaphysischen Residuen, die darin eingeschrieben bleiben können, versuchen wir, durch die Öffnung von vieldimensionalen Räumen, die den Horizont der Mathesis strukturieren können, schließlich ihre invariante Form zu denken.
136 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
I. TEIL META-EGOLOGIE
»Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει« Aristoteles, Metaph., 1, 980 a 21
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
§ 1. Die Deklinationen des phänomenologischen Ethos Die Phänomenologie ist eine epistemische Einstellung, die sich an unserer Erfahrung von Sachen orientiert. Ihre Aufgabe liegt zunächst in der Beschreibung der Strukturen, die unsere Erfahrung von etwas leiten. Diese Beschreibung widersetzt sich jeder Begründung eines Weltbildes und jeder Aussage über die Welt (oder andere Dinge), die eine Aussage über »letzte Dinge« sein möchte. Zu diesem Zweck gibt es eine Metaphysik à bon marché, die schon immer existierte und auch in Zukunft existieren wird. Um etwas so Eigenartiges wie die Frage (als Nach-Frage) zu denken, die in den philosophischen Diskursen kaum Erwähnung findet, muss man von Prinzipien ausgehen, wie sie die Phänomenologie liefert. Es handelt sich um Prinzipien, die in diesem Stadium der Untersuchung nur als ein Gemisch aus pragmatischen Regeln und einigen strukturellen Indikationen auftreten. Dies stellt kein Problem dar, da zunächst verstanden werden muss, um was es sich handelt, wenn man von Phänomenologie spricht. Wenn die Forschung einer Entscheidung entspringt, ist auch die phänomenologische Forschung oder diejenige Forschung, die sich der Phänomenologie bedient, um gewisse Strukturen der Realität hervorzuheben, von einem ethischen Charakter, einem Ethos, geprägt. Das Ethos kann in der reinen und strikten Absicht zur Passivität gegenüber dem Grund der Phänomenalität zusammengefasst werden, also in einem Entzug des Denkens vom primären und vordergründigen Instinkt zur Metaphysik. Dieses Ethos liegt in der reinen Intention, »nichts zu tun«, sondern nur »den Schein erscheinen zu lassen, sodass er seine vollständige Erscheinung erreicht.« 1 Wir entscheiden uns also für die phänomenologische Analyse, um das Spektakel dessen zu eröffnen, was wir haben, und dessen, was uns als 1
J.-L. Marion, Étant donné, cit., S. 13.
139 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
»Welt« (oder einfacher als »Sein«) der Gegenstände gegeben ist, indem es sich zeigt. Wir entscheiden uns des Weiteren für die phänomenologische Analyse, um das eigenartige und komplexe Spektakel, das die Erfahrung für uns ist, zu betrachten und zu verstehen, um »die Erlebnisse so streng wie möglich aus sich selbst und als sie selbst erscheinen zu lassen« 2. Um dieses eigenartige Spektakel, das unser Erleben der Welt ist, zu betrachten und zu verstehen, um davon ausugehend auf die Sinnfrage zu antworten, die unter unserer Entscheidung versteckt bleibt, benötigt man allerdings eine klare, reine Sichtweise der Offenheit der Phänomene. Folglich müssen wir dieser Phänomenalität alle Vorurteile und damit die falschen Theorien und Schemata, die wir selbst der reinen Phänomenalität, als Verstand, als Gefühl, als Vernunft, auferlegen, entziehen. Dieser Entzug trägt den Namen der »Reduktion«. Die Reduktion ist eine Reduktion auf die Phänomenalität sowie auf deren reine Schau und keine Reduktion der Phänomenalität als solche (verstanden als transitive Operation an einem herzustellenden Fach). Die einzige transitive Operation der Reduktion ist eine Operation an der Sichtweise: Die Prinzipien operieren von da an im Sichtfeld, um sich im durch die Entscheidung geöffneten Horizont das, was da ist, ungetrübt durch andere epistemische Blickwinkel zeigen zu lassen. In diesem Sinne sind die vier phänomenologischen Prinzipien nur Kardinalpunkte, um sich in dem durch die Reduktion geöffneten Horizont zu orientieren, und sind keinesfalls reduzibel oder könnten hierarchisiert werden. Sie verweisen gegenseitig aufeinander und stehen in einem Spiegelungsverhältnis zueinander. Das Ethos – was seinem Hauptsinn gemäß einen Aufenthalt, eine Situation meint 3 – gliedert sich damit in die folgenden vier Punkte: 1. Soviel Schein, soviel Hindeutung aufs Sein. 2. Zu den Sachen selbst! 3. Ich-Horizont. 4. Je mehr Reduktion, desto mehr Gegebenheit.
§ 2. Die Bedeutung der Prinzipien Diese Prinzipien verweisen jedoch auf die Notwendigkeit, ein strukturelles Verhältnis zwischen ihnen zu finden. Denn nur in ihrer Ebd. Vgl. L. Honnefelder, Art. Sittlichkeit/Ethos. In: M. Düwell, C. Hübenthal, M. H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik, Stuttgart – Weimar 2002, 491–496, S. 491.
2 3
140 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 2. Die Bedeutung der Prinzipien
strukturellen Verbundenheit beschreiben sie den Horizont eines wissenschaftstheoretischen Ansatzes. Diese Verbundenheit kann sich wiederum nur aus ihrer Erläuterung ergeben. Das erste Prinzip expliziert das Verhältnis zwischen der wissenschaftstheoretischen Einstellung und der Erscheinung. Nur dort, wo sich eine Sache zeigt (was nicht nur Sinneseindruck bedeutet), kann ein wissenschaftstheoretischer Ansatz in Bezug auf »die Erfahrung dieser Sache« entwickelt werden. Dieses Prinzip kann als elementar bezeichnet werden und zeigt sich zunächst als Antwort auf die unumgehbare Frage nach einem »Datum«, 4 um bestätigen zu können, dass man die Erfahrung von etwas macht. Es ist zudem tautologisch, da es keinesfalls zeigt, welche Gattungen von Erscheinungen man als Erfahrung-von-etwas klassifiziert. In ihm zeigt sich nur, dass mit der Erscheinung bzw. der Aufzeigung das Sein verbunden ist und dass man nur in der absoluten Immanenz der Erscheinung (als Offenbarwerdung) von Sein sprechen kann. Diese Behauptung einer absoluten Immanenz – wie die Herbart’sche 5 Radikalisierung eines Prinzips, das schon in der Kritik der reinen Vernunft 6 entscheidend enthalten ist – ist keinesfalls eine idealistische oder antirealistische Herangehensweise. Die absolute Immanenz im Feld des Erscheinens ist nicht die Begrenzung des Existierenden auf das, was sich dem jeweiligen Individuum nur in der Wahrnehmung offenbart. Denn die Spur der Erscheinung überträgt sich in mannigfaltigen Weisen (durch Dokumente, durch intersubjektive Situationen usw.) derart, dass es hier nicht in Frage kommt, von Fossilien zu sprechen, als läge darin der Stützpunkt eines robusten Realismus. 7 Der Realismus zeigt sich schon im Vorlauf des Prinzips, da in ihm die Immanenz der Erfahrung zur Wirklichkeit des Erscheinens ausgesagt wird, und zwar außerhalb jedes Solipsismus. Was das Prinzip jedoch nicht benennt, ist das Komplement, das die realistische These von einer spekulativen und leeren Wir verwenden das »Datum« hier in seiner nicht-anthropologisierten Bedeutung. »Datum« und »das, was da ist« oder »was es gibt« sind hier synonym, denn das, was sie unterscheidet, ist nicht ihr Name, sondern die Herangehensweise, die um sie herum gebaut wird. Für eine Kritik des »Gegebenen«, vgl. J. Benoist, Critique du donné. Archives de philosophie, 73/1, 2010: 9–27. Vgl. § 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«. 5 Vgl. J. F. Herbart, Hauptpunkte der Metaphysik. In Sämtliche Werke, Frankfurt a. M., 1964, Bd. 2, S. 187. 6 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., B 626 – A 598. 7 Vgl. Q. Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris, 2006, S. 25 f. 4
141 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
Behauptung trennt. Was ist der Gegenstand unserer Erfahrung der Wirklichkeit? Die Zweideutigkeit, die dem Ausdruck »Erscheinung« (phainomenon) zwingend innewohnt, überträgt sich auf und beeinflusst durch die Erscheinung, die wir erfahren, den Sinn des Ausdrucks »Sache«. Das zweite Prinzip ist dasjenige, das auf die theoretische und spekulative Orientierung des phänomenologischen Ansatzes verweist. 8 Dieser Ansatz ist strukturell. Er ist unabhängig von der immer wieder auftretenden Praxis, aus der Philosophie eine im Wesentlichen doxographische Praxis zu machen, in der das Denken und eo ipso die Suche nach der Wahrheit gedemütigt wird. Wenn es darum geht, zu einer unvoreingenommenen Schau zu kommen, kann diese nicht aus Kommentaren hervorgehen. Gleichzeitig ist diese »unvoreingenommene« Schau, die von der Phänomenologie gesucht wird, nicht die sinnliche Anschauung (um zu dieser zu gelangen, müsste man die Philosophie beenden und sich der Wahrnehmung hingeben), sondern die Anschauung des »Wie« ich Sachen erlebe, in der Art und Weise, in der ich von ihnen eine Erfahrung habe. Das heißt, dass der von der Phänomenologie untersuchte Gegenstand nicht nur die Dinge sind, die sich mir in der Wahrnehmung zeigen, sondern die Typologie selbst des »Sich-sehen-Lassens«, des Erfahrung-Werdens. Die »Sache selbst« ist, dem Anspruch eines leeren Empirismus zum Trotz, die Mannigfaltigkeit von Strukturen der Bedeutsamkeit, in denen und durch die wir die Erfahrung von etwas als etwas in seiner vollen Bedeutsamkeit und nach einem etwaigen anschaulichen Status machen. Die Erfahrung von etwas ist damit ein Gewebe von strukturellen Verhältnissen, das sich in einer wesenhaften Verweisung auf eine Struktur zeigt. Diese Struktur ist das Wesen, das Eidos. 9 Die Anschauung, die Erfassung der »Sache selbst« unserer »Erfahrung von etwas« ist in erster Linie die Anschauung der Verbindung zwischen dem, was ich erfahre, und seiner typischen Struktur nach dem Typus des »Sichsehen-Lassens«. Dieser Typus zeigt eine strukturelle Begrenzung. Doch das zweite Prinzip trifft keine Aussage darüber, wie sich diese strukturelle Begrenzung ausbildet. Die strukturelle Begrenzung bedeutet nicht, dass sich der gleiche Gegenstand nicht in anderen Arten und Weisen des Erscheinens zeigen kann, sondern dass der strukturelle eidetische 8 9
E. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Hua 25, 1987, S. 6. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 14.
142 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 2. Die Bedeutung der Prinzipien
Rahmen einen Erfahrungshorizont öffnet. Daraus folgt, »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der »Intuition« originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt.« 10 Es handelt sich um das Prinzip der eidetischen Situationalität jeder Sach-Erfahrung 11 und somit um die Bestätigung eines radikalen Kontextualismus. Folglich kann dieses Prinzip nicht auf eine idealistische These reduziert werden: die Bestätigung der Zugehörigkeit des Erlebens zum »Ich«, dem es sich zeigt. Diese reduktive Interpretation sei denen überlassen, die dem Prinzip (aller Prinzipien) den Geist eines egologischen Transzendentalismus austreiben wollen. Die Grenzen der typischen Formen der Erfahrung sind nicht vom Ego instituiert, sondern gehen von einer morphogenetischen Sedimentierung der kognitiv-intentionalen Strukturen und/oder einer Sedimentierung der »Erfahrungsform«, die nichts mit dem transzendentalen Ego zu tun hat, aus. Die Transzendentalität der Erfahrung liegt – wie wir sehen werden – darin, dass die Erfahrung eines einzelnen Individuums nur die Form selbst darstellt, in der sich das Spiegelungsverhältnis jeder Erfahrung von etwas instanziiert. Die Lebensform oder die Erfahrungsform von etwas kann nur als Sach-Erfahrung dergestalt sein, kann die Erscheinung nur in eine eidetische Struktur einrahmen, weil diese Erfahrung ihre Instanziierung in der individuellen Erfahrung findet. Das Ich erfährt etwas immer in einem Horizont oder in der Form einer horizonthaft bestimmten Erfahrung. Was hier unsicher bleibt, ist der Status der Verbindung zwischen diesem »Ich« und diesem »Horizont«. Was ebenfalls unsicher bleibt, ist die Antwort auf die Frage, wie man von dem Bewusstsein der Situationalität aller Sach-Erfahrung dazu gelangen kann, auf deskriptivem Wege die Strukturen erkennbar zu machen, die, ausgehend von der Horizontstruktur, die SachErfahrung ausmachen. In diesem Sinne wird die Praktik der Reduktion bzw. der Ausklammerung eine Handlung, die es zu wiederholen gilt, damit sich die Sach-Erfahrung in ihrer anschaulichen Fülle offenbaren kann. »Je mehr Reduktion, desto mehr Gegebenheit« verEbd. S. 51. Der Begriff der Sach-Erfahrung ist weiter als und inkludiert die Dingerfahrung und antwortet auf die Notwendigkeit, Formen der Erfahrung der Sachen (im weitesten Sinne) zu denken, die keine Dingerfahrung sind [infra § 121].
10 11
143 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
weist nicht auf eine Austreibung der Subjektivität, um das zu erreichen, was sie übersteigt. Die Wirklichkeit übersteigt die Subjektivität in jedem Fall, da die Idee eines »atomaren« Subjekts, eines Kernsubjekts, nur ein Götze ist. Das Prinzip der Wiederholung der Reduktion ist nur das Anzeichen einer Praktik, der es darum geht, Stück für Stück die mit der Sach-Erfahrung zusammenhängenden eidetischen Strukturen zu ermitteln und die Schau auf die Sache der Erfahrung zu fixieren.
§ 3. Das Prinzip der Phänomenologie Man kann versuchen, ein einziges Prinzip der phänomenologischen Frage aus den Schnittpunkten ihrer vier Hauptpunkte zu ermitteln. Als »Mittelpunkt des Horizonts« verbindet dieses Prinzip die vier Prinzipien oder Deklinationen der phänomenologischen Methode: Durch einen reiterierbaren Akt der Reduktion jeder wissenschaftstheoretischen These und jedes Vorurteils über die Erscheinung öffnet sich der universelle Untersuchungshorizont dessen, was sich zeigt (dessen, was da ist), im Raum des Ichs, in all seiner phänomenologischen Reinheit.
Sein Korollar ist: Die Einschreibung der Erscheinung in diesen Raum ermöglicht eo ipso die strukturelle Beschreibung dieser Erscheinung. 12
Dieses Prinzip, dessen Anführung die vier genannten Deklinationen verbindet, fasst deren methodische Verbundenheit (und damit ihre pragmatische Natur) zusammen, ohne jedoch Probleme verhindern zu können [infra §§ 100–101]. Man weiß allerdings inhaltlich so nicht mehr von der Phänomenologie, als man durch die vier Deklinationen wusste. Man weiß nur, dass sie sich aus sich selbst entwickeln kann, außerhalb – wenigstens ex principio – einer kontinuierlichen historischen Auseinandersetzung. Dieses Prinzip sagt uns vor allem, dass wir selbst, die wir neu zu philosophieren beginnen müssen, die wir uns einen universellen Untersuchungsweg bahnen müssen, uns auf Von hier an werden die beiden Ausdrücke »das, was sich sehen lässt« und »das, was es gibt« als von einem phänomenologischen Standpunkt aus synonym gebraucht werden, ohne dabei das Bewusstsein dafür zu verlieren, dass es natürlich »das, was es gibt« gibt, ohne dass es sich sehen lässt. Um von ihm als Existierendem sprechen zu können, muss es sich jedoch zum einen oder anderen Zeitpunkt zeigen.
12
144 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 4. Die Verbindung zwischen der Reduktion und dem Ich-(das ist)-Horizont
ein einziges methodologisches Prinzip – nach den Regeln der Sparsamkeit – stützen können, dessen hauptsächliche Implikationen wir, wenn nicht vollständig, so doch ausreichend untersucht haben. Ungeachtet dessen sind aber noch die Natur, die Reichweite und vor allem die Folgen dieses Prinzips zu befragen. Man weiß zunächst nicht, ob dieses Prinzip – als methodologisches Prinzip – in ein anderes Prinzip ganz anderer Natur eingegliedert werden sollte: Man weiß also nicht, welcher Natur dieses fundamentalere Prinzip sein sollte, das dieses nur methodologische Prinzip begründet. Folglich weiß man nicht, ob die Phänomenologie, welcher der Status einer universellen Methode eingeräumt wurde, selbst eine wesenhafte und notwendige Entwicklung erleiden wird. Der entscheidende Aspekt – der uns daran hindert, triumphale Ankündigungen bezüglich der Grundlegung einer universellen phänomenologischen Ontologie oder der Grundlegung aller Philosophie auf dem ego zu machen – liegt darin, dass wir, abgesehen von der endoxa, weder etwas über die Elemente, die sich in der Nennung des Prinzips zeigen, noch etwas über die Evidenz des Prinzips wissen. Wie könnte ein Prinzip der Phänomenologie als solches ohne einen etwaigen Evidenzcharakter angenommen werden? Können wir nicht nur Sach-Erfahrungen, sondern auch eine Erfahrung von der Horizonthaftigkeit unseres intentionalen Lebens selbst machen? Um auf diese Fragen zu antworten, müssen die verschiedenen Elemente der Formulierung des Prinzips expliziert werden. Man kann in dem Prinzip die drei Elemente finden, die es im Ganzen ausmachen: ein Akt der Reduktion, die Offenheit eines Ich-(das ist)-Horizonts und eine Phänomenalität, die sich als Menge von Gegebenheiten in ihrer Reinheit dem Ich übergibt. Die Wiederaufnahme der Probleme der Ausführung des Prinzips kann nur in einer Aufklärung der Verbindungen zwischen folgenden drei Elementen liegen: die Verbindung a) zwischen der Reduktion und dem Ich-Horizont, b) zwischen der Reduktion und der Phänomenalität, c) zwischen dem Ich-Horizont und der Phänomenalität.
§ 4. Die Verbindung zwischen der Reduktion und dem Ich-(das ist)-Horizont Die erste Auswirkung der Reduktion besteht sicherlich darin, dasjenige offenbar werden zu lassen, was den traditionellen Erkenntnis145 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
kategorien der Subjektivität zu entgehen scheint. Das »Ich«, in dem sich die Phänomene zeigen, ist weder das metaphysische Ego noch das transzendentale Ego als Kern oder Konstitutionspol. Als »Offenheitwohin« verstanden ist das Ich zu schwach, um das fundamentum inconcussum von irgendetwas darzustellen. Von diesem sehr schwachen »Ich«, das zu schwach für eine Letztbegründung ist, muss dasjenige beschrieben werden, was sich uns zeigt. Denn wenn man das »Ich« befragen will, kann man es nur unter der Bedingung befragen, dass es sich uns zeigt, das heißt ein Phänomen wird. Die Bedingung für die Befragung des Ichs liegt darin, dass es sich einem Horizont der Sichtbarkeit, in dem und durch den alles – und folglich auch es selbst – »sichtbar und als Träger einer Evidenz anerkannt werden kann« 13, unterwerfen muss. Aber das Prinzip sagt uns nichts oder fast nichts darüber. Im Gegenteil, es lässt uns daran zweifeln, ob es möglich sei, dem Ich eine etwaige Evidenz zuzusprechen. Das »Ich« hat naiven ontologischen Theorien zum Trotz eine zweideutige Natur. Es ist »etwas«, aber dieses Etwas zeigt sich zunächst als eine Offenheit. Welche Art von etwas ist eine Offenheit? Kann man diese Offenheit in die Kategorien des »etwas« eingliedern? Ungeachtet dessen verstehen wir sehr gut, um was es sich handelt, wenn wir von einer »Offenheit« oder einem »Offenen« sprechen. Die Annahme thematischer Gegenständen der Beziehung zwischen der Reduktion und dem Ich deckt ein Ich auf, das gleichzeitig etwas, aber nichts Substantiales ist. Wenn man vom »Raum-des-Ichs« spricht, weiß man nicht, ob dieser Genitiv auf eine Zuschreibung oder eine Äquivalenz verweist. Ist der Horizont des Ichs das Ich als Horizont selbst oder hat das Ich einen Horizont? Es ist aber unmöglich, einen Horizont zu haben. Es ist möglich, im Sinne des »Innerhalb-eines-Raumes-Seins« einen Platz zu haben und somit eine topologische Charakterisierung zu finden. Die Horizontalität entzieht sich jeder topologischen Charakterisierung. Wenn wir einen Gegenstand haben, das heißt, wenn sich uns ein Gegenstand zeigt, kann dieser Gegenstand in einer klar determinierten Topologie seine Einschreibung finden [infra § 111]. Näher betrachtet zeigt die Annahme der Gegenstandserfahrung aus thematischer Sicht, dass die Erfahrung dieses Gegenstandes bereits einer Topologie folgend konstituiert war. Aber hinsichtlich des Horizonts kann man nicht bestätigen, dass das Ich einen Horizont hat, als wäre 13 Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, Paris, 1963, S. 46; Id., Phénoménologie matérielle, Paris, 1990, S. 81.
146 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 4. Die Verbindung zwischen der Reduktion und dem Ich-(das ist)-Horizont
das Ich etwas bereits in der Voraussicht auf sein Haben dieses Horizonts, als könnte das Ich sich unabhängig von dieser Horizontalität erfassen. Wir können hier nicht die Möglichkeit bestätigen, dass wir uns selbst auffassen können, da wir nicht von dem Ich sprechen, wie es uns die Metaphysiktradition dargestellt hat. Es geht darum, eine selbstbezogene Erfahrung als eine Erfahrung ohne thematische, horizontale Offenheit zu denken. In diesem Sinne sollte die Erfahrung von etwas, das wir als »Eigenes« denken, frei sein von der für die Intentionalität selbst typischen Distanz des »Gerichtet-Seins« bzw. des »Etwas-als-Objekt-Habens«. Wenn sich dieser Gegenstand immer und notwendigerweise in einer gewissen psychologischen Distanz zeigt, im Verhältnis zu dem, auf den sich diese Erfahrung bezieht (ganz banal: das Ich), setzt diese Distanz notwendigerweise einen Raum voraus, der die Horizontalität der Erfahrung ist. Wenn es keine Erfahrung ohne psychologische Distanz 14 gibt, kann das Ich, innerhalb dessen diese (neutralisierte) Erfahrung als erlebt innerhalb einer gewissen Struktur anerkannt wird, sich nicht dazu »entscheiden«, einen Raum zu haben oder nicht. In diesem Sinn ist die einzige Hypothese, der wir folgen können, diejenige, dass das Ich Horizont ist und dass die Horizontalität der Erfahrung die einzige Eigenschaft ist, welche die Erfahrung charakterisiert, ohne selbst zum »Gegenstand« reduziert werden zu können. Aber das Faktum, dass das Ich Horizont ist, dass man also zwischen dem Horizont und dem Ich eine Identität anerkennen kann, lässt sich aus der Interpretation des Prinzips erkennen, ohne dass diese Gleichheit zu diesem Moment die geringste Evidenz hätte. Damit diese Identität eine Evidenz haben kann, müsste eine Erfahrung von nichts Geringerem als dem Faktum unserer Horizontalität gegeben sein. Ist der Ich-Horizont eine Gegebenheit? Wie könnte es ohne die erste und letzte Voraussetzung der Gegebenheit als der Für-sich-Selbstgegebenheit oder besser der In-sich-Selbstgegebenheit als Horizont jeder Erscheinung sein? Man sieht sehr gut, auf welche Weise eine solche Anforderung der Evidenz für das Ich (als Offenheit) in zweifacher Hinsicht paradoxal ist, da eine Offenheit sich selbst als Offenheit gegeben sein müsste. Aber wenn der Horizont (als Ich) nur das ist, worin sich etwas zeigt, wie könnte sich dann der Ich-Horizont in sich selbst zeigen? Ohne die Alleinstellung und die Analyse einer solchen Erfahrung bliebe die Struktur des Ich-Horizonts in der Schwebe einer 14
Vgl. M. Henry, L’essence de la manifestation, cit., S. 75.
147 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
»Quasi-Evidenz«, was zu der Gefahr führte, aus ihr eine Art von Postulat zu machen.
§ 5. Die Verbindung zwischen der Reduktion und der Phänomenalität Obwohl das Prinzip des Ich-Horizonts gleichzeitig als Postulat und als Evidenz verstanden wird, zeigt es in jedem Fall den Raum, innerhalb dessen das, was sich zeigt, als Gegenstand der Beschreibung angesehen werden muss. Die Reduktion öffnet, indem sie diesen Raum öffnet, auch die beschreibende Aufgabe selbst, die der Phänomenologie eigen ist: »[I]hr Feld ist die Analyse des in unmittelbarer Intuition aufweisbaren Apriori, die Fixierung unmittelbar einsichtiger Wesen und Wesenszusammenhänge und ihre deskriptive Erkenntnis in dem systematischen Verbände aller Schichten im transzendental reinen Bewußtsein.« 15 Folglich deckt die Reduktion nicht nur die Horizonthaftigkeit des Ichs auf – auf vollkommen kontraintuitive Weise in Bezug auf das konzeptuelle Schema des Dinges, das einen Ort besitzt –, sondern auch die Strukturalität der Sach-Erfahrung, gerade in dem Faktum, eine unmittelbare Anschauung der Sache zu sein. Denn einigen philosophischen Vorurteilen zufolge zeigt sich das Ding auf neutrale Weise (als einfache sense data 16) und erst danach, durch eine Aufladung mit Theorie, sprechen wir ihm seine Struktur zu. 17 Im Gegensatz dazu ist die Sach-Erfahrung bereits strukturiert und die unmittelbare Anschauung instanziiert nur eine Struktur. In diesem Sinne hebt die Ausführung der Reduktion das Spiegelungsverhältnis zwischen der atomaren, punktuellen Dimension der originär E. Husserl, Ideen I, cit., Hua 3, S. 309. Vgl. W. Sellars, Empiricism and Philosophy of Mind, cit., S. 127, 130. Vgl. § 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«. 17 Die Tatsache, dass es neurokognitive Forschungen gibt, die es schaffen, diesen Abstand in Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung auf 10(-x) Sekunden zu bestimmen, hat keinen Einfluss auf eine allgemeine phänomenologische Stellung. Nicht etwa, weil die Phänomenologie – in Anbetracht einer wie auch immer gearteten Sinneserfahrung – auf die Ergebnisse der Kognitionswissenschaften verzichten könnte. Die neuronale (physisch determinierte) Interaktion determiniert nicht die phänomenologische Untersuchung, da diese nur von bestimmten »Realitäten« spricht, die unmöglich physisch (aus einer allozentrischen Sichtweise) abgeleitet werden können, wie die intentionale Inexistenz, obwohl diese Inexistenz in einer bestimmten Weise eine neuronale Grundlage besitzt. 15 16
148 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 5. Die Verbindung zwischen der Reduktion und der Phänomenalität
gegebenen Anschauung und ihrer Struktur lediglich hervor. Und wie im Fall des Ich-Horizonts ist die Struktur, die daraus hervorgeht, kaum ontologisierbar, da dies bedeuten würde, einen (metaphysischen) Raum des Ichs oder in gewisser Weise eine Existenz der Struktur einzugestehen. Die Offenheit eines Raumes des »rein transzendentalen« Bewusstseins – das kein leeres oder rein funktionales Bewusstsein ist, sondern der Horizont des Ichs, in dem die Sach-Erfahrung ihre Erscheinung findet – ist die Offenheit der Vieldimensionalität der Lebenswelt als solche. Die Reduktion dehnt die Erfahrung des Gegenstandes aus, die wir erreicht haben, indem wir unsere Sinneseindrücke verallgemeinert haben, und macht aus ihr ein variables strukturelles und extrem dehnbares Raster. Die Reduktion macht aus der Gegenstandserfahrung (oder Dingerfahrung) eine Sach-Erfahrung. Da der Ich-Horizont nur durch das Mittel der Reduktion zu Tage tritt, tritt die Sach-Erfahrung nur innerhalb des Ich-Horizonts zu Tage und folglich mittels der Reduktion. Nur innerhalb der Sach-Erfahrung können die einzigartigen Momente der Anschauung mit den Verbindungen erfahren werden, die sie mit den Strukturen eingehen, die aus ihnen erst Bedeutsamkeit machen. Aus diesem Grund fordert die Wesensschau oder die eidetische Schau kein anderes »Auge«, ein Auge des Geistes, sondern eine andere Dimension, die offene Dimension der Sach-Erfahrung, die nichts Mythisches oder Poetisches an sich hat. Die Wesensschau ist das, was die Beobachtung der Sach-Erfahrung und deren Analyse in Bezug auf eine oder mehrere Strukturen polarisiert. Diese Strukturen machen aus der Sinneinheit (Noema) einer bestimmten intentionalen Erfahrung und den ihr eigenen Momenten ein intelligibles Etwas. Aber wenn man von dieser Sinneinheit absieht und den Blick auf die Art und Weise, in der die SachErfahrung vonstattengeht, lenkt, stößt man auf die Aktdimension (die selbst von Wesenheiten charakterisiert wird). Dieser Akt ist es, der das kognitive Gegenteil der Erfahrung selbst bildet und der im Ich-Horizont die einzige radikal unpersönliche »Spur« einer Operationssubjektivität darstellt. In jedem Fall kann der Akt als pure, anonyme Funktionalität dem Ich niemals den Sinn der Subjektivität wiedergeben, vorausgesetzt, dass es diesen je besessen hat.
149 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
§ 6. Die Verbindung zwischen dem Ich-Horizont und der Phänomenalität Die Offenheit des Ich-Horizonts als »reine transzendentale« Erfahrung stellt nicht die Verbindung eines Subjekts mit einem Objekt, sondern eines Pols kognitiv-intentionaler Funktion mit einem Pol von Gegenstandstrukturen dar, welche die Sach-Erfahrung in der Vielheit ihrer Dimensionen entfalten. Das, was sich zeigt, muss, um in seiner reinen Erscheinung erkannt zu werden, in seiner eidetischen Wesenheit unter dem Status der Reduktion intendiert werden. Um also eine Erscheinung in ihrer Reinheit zu erkennen, muss sie in und durch den Ich-Horizont intendiert werden. Die Gegebenheit stellt sich folglich wie in einem anschaulichen, eidetischen Bewusstsein nach der Veranlagung der wesenhaften Elemente der Erscheinung dar. Dieses intuitive eidetische Bewusstsein ist weder das einfache Bewusstsein des sinnlichen Gegenstands noch eine einfache anonyme Deklination der intentionalen oder psychologischen Distanz, sondern die Distanz selbst, intendiert von der Bi- bzw. Multipolarität, in der sie sich in ihren typischen Strukturen dekliniert. Die Wesensschau der phänomenologischen Analyse intendiert die Spiegelung zwischen der Art und Weise der Entgegennahme des Gegebenen (die intuitive Fülle 18), also der Art und Weise, sich auf es zuzubewegen, und dem Bedeutungsinhalt/der Bedeutungsstruktur, also dem Sinn, der sich in ihm zeigt. Diese innere und für das Bewusstsein notwendige Artikulation – die nicht zwischen einem leeren Subjekt (quis) und einem grauen Objekt (quid) besteht – ist der wesenhafte Charakter aller Erscheinung (oder Gegebenheit) als solche. Der Akt des »Sich-Richtens« des Bewusstseins auf die anschauliche Gegebenheit, die Modalisierung seines »Bemerkens«, ist als intentio oder intentio formalis oder besser »Noese« definiert. Die Bedeutungsnatur des Gegebenen als solchem, sein Sinn (innerhalb seiner Veranlagung), lautet ebenfalls intentio oder intentio objectiva oder besser »Noema«. Der Raum zwischen diesen beiden Dimensionen der Sach-Erfahrung ist das primitive Element, das »psychologische Urdistanz« genannt wird. Als Deklinationsschlüssel aller Formen der Sach-Erfahrung zeichnet sie eine Karte, von der aus es möglich ist, den Horizont der Erfahrungen abzuschreiten, um von Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Hua XIX/2, S. 604–606.
18
150 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung
ihm eine (möglichst) vollständige Topographie abzugeben [infra § 114]. Außerhalb der Reduktion, außerhalb der eidetischen Analyse, würde dies ein »Gedanke« in seiner grundlegenden Allgemeinheit und in seiner Unbestimmtheit heißen. Doch die Bestätigung der reinen Erscheinung der Gegebenheit in einem Ich-(das ist)-Horizont entfernt sich von der naturalistischen Perspektive, nach der »Bewusstsein von etwas« das Denken des Gegenstands hic et nunc ist. Im Horizont des täglichen Lebens ist das »Bewusstsein von etwas« ein abgeleiteter Ausdruck aus der Erklärung des Ausdrucks der Gegebenheit oder besser der Erscheinung. Für die reine Erscheinung, die nur durch und in der eidetischen Analyse zugänglich ist, müssen wir unser vorphänomenologisches Verständnis vom »Bewusstsein von etwas« der eidetischen Analyse unterziehen. Das »Bewusstsein von etwas« als allgemeiner Ausdruck, der aber von dem Ausdruck der Gegebenheit oder der Erscheinung expliziert wird und von der eidetischen Analyse abhängt, findet im Horizont jeder Erscheinung bereits eine erste Deklination: Bewusstsein einer Gegebenheit als aktuelle, erlangte, erinnerte, Bewusstsein einer Gegebenheit im Modus des Zweifels, des Wunsches etc. Im Horizont der reinen Erscheinung der Gegebenheit – unendlich viel reicher in seinen Gegebenheitsmöglichkeiten des Dinges hic et nunc – zeigen sich verschiedene Arten und Erscheinungsweisen für das Ich, das heißt, das Bewusstsein zeigt verschiedene Richtungsmodalitäten bezüglich desjenigen, was ihm gegeben ist (in seiner Erfüllung), und außerdem verschiedene Ebenen und Modalitäten der Erfüllung. Das Bewusstsein in der und durch die Reduktion zeigt verschiedene Arten und Weisen der Intentionalität. Doch gleichzeitig findet es verschiedene (unendliche) Erfüllungen, was die Offenheit der Phänomenalität und ihrer eidetischen Analyse bedingt. Das »Bewusstsein einer Blume« kann sich als Erinnerung zeigen, als direkte Beobachtung, als ästhetische Betrachtung, als Zweifel (»Steht die Blume, die ich gestern gekauft habe, noch auf dem Tisch?«), als Bewusstsein eines Bildes etc. Und jede Form der Gegebenheit besitzt Abstufungen möglicher Erfüllungsstufen.
§ 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung Im Unterschied zu der leeren (und nicht vollen) Sichtweise des Sinnesbewusstseins zeigt die eidetische Analyse der Sach-Erfahrung die 151 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
ganze Komplexität und den Reichtum der erweiterten Bedeutung der »Sichtweise«. Dies öffnet das Feld für die phänomenologischen Analysen: »Im Umkreise unserer individuellen Anschauungen die obersten Gattungen von Konkretionen zu bestimmen, und auf diese Weise eine Austeilung alles anschaulichen individuellen Seins nach Seinsregionen zu vollziehen, deren jede eine prinzipiell, weil aus radikalsten Wesensgründen unterschiedene eidetische und empirische Wissenschaft (bzw. Wissenschaftsgruppe) bezeichnet.« 19 Es ist in der Tat so, dass die Reduktion dem Denken dazu verhilft, Zugang zum Horizont der Gegebenheit zu finden, und zwar, wieder einmal, durch den charakteristischsten Zug der Veranlagung der Erscheinung: die Intentionalität. Das paradoxale Wesen des Bewusstseins als »psychologische Urdistanz« wird im dritten und vierten Kapitel konstitutiv festgelegt. Weit davon entfernt, diesen primitiven Charakterzug erklären zu wollen, für dessen Erklärung man auf wissenschaftstheoretische Thesen außerhalb der Reduktion zurückgreifen müsste, muss man sich auf die Wirkung, die eine Reduktion auf alle ontologischen Verpflichtungen hat, und folgerichtig auf die Einschreibung des Gegenständlichkeitsgebietes in den Ausdrücken der Sach-Erfahrung konzentrieren. Die ontologische Distanz ist dadurch in Bezug auf die Beschreibung des noetisch-noematischen Komplexes aufgehoben, der eine variable, aber gleichzeitig auch konstitutive Geometrie besitzt: Dies ist die Sach-Erfahrung selbst. Wenn das Noema auf das Eidos des noetischen Bewusstseins verweist und diese beiden Eidê untereinander eine eidetische Solidarität besitzen, wird man den noetischen Beschaffenheiten entsprechende noematische Beschaffenheiten des Seins finden: Wahr-Sein, Möglich-Sein, Wahrscheinlich-, Zweifelhaft-Sein usw. 20 Es hat keinen Sinn, nur die Formen der Erfüllung zu verfolgen, um eine Topographie der Sach-Erfahrungen auszuarbeiten, in der die Frage (als Nach-Frage) verortet werden kann. Unter den verschiedenen Dimensionen, nach denen man zunächst eine Topographie der Erscheinungen zeichnen kann, befindet sich sicherlich die Dimension der Erfüllung. Die Vielfalt der Sach-Erfahrungen nach ihrer anschaulichen Erfüllung zu verfolgen, ist sicherlich nicht ausreichend, um eine vollständige Topographie zu entwerfen, entspricht jedoch einer 19 20
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 38. Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua. 1, S. 93.
152 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung
gewissen »Sparsamkeit«. Dennoch kann sie nur einer vorhergehenden Untersuchung über die Natur der Akte folgen, innerhalb derer die gegebene (ursprüngliche) Anschauung das Erfahrungssiegel zur Verfügung stellt. Denn wenn die Typologie der Fülle sich anhand der Art und Weise modelliert, durch welche die Anschauung innerhalb eines Aktes genommen wird oder einen Akt auslöst und so durch den Erfahrungssinn, der das Noema ist, strukturiert wird, erweist sich eine vorhergehende Untersuchung als fundamental, ohne dass dadurch dem Akt selbst ein etwaiger transzendentaler Vorrang zugesprochen werden würde. Die Erfüllung verweist spiegelbildlich auf bestimmte noetische Merkmale. Diese stellen einen »doxischen« Akt dar, der die Seinsmodalität des Gegenstands in der Sach-Erfahrung verortet. Jeder Seinsmodus des Bewusstseinsgegenstandes hat auf Seiten des Noemas seine entsprechende Setzung: Für das reale Sein des Bewusstseinsgegenstandes hat man also auf Seiten des Noemas die doxische Setzung der Sicherheit, während man im Fall des möglichen Seins eines Bewusstseinsgegenstandes auf Seiten des Noemas die doxische Setzung der Vermutung hat und im Fall des wahrscheinlichen Seins eines Bewusstseinsgegenstandes die Setzung der Mutmaßung. Erst an diesem Punkt, wenn man den Unterschied zwischen den doxischen Merkmalen verstanden hat, die jeweils eine dynamische (nicht kreative) Funktion einer anschaulichen »hylê« besitzen kann man dasjenige verstehen, das sich hinter diesen verschiedenen Setzungsmodalitäten versteckt. Um es zu verstehen, reicht es aus, die verschiedenen Modalitäten des Noemas in ihrer Übereinstimmung mit den setzenden Merkmalen zu wiederholen: Beurteilt-Sein für das Urteil, Wirklich-Sein für die doxische Setzung der Gewissheit, Möglich-Sein für die doxische Setzung der Vermutung, Wahrscheinlich-Sein für die Mutmaßung, Zweifelhaft-Sein für die doxische Setzung des Zweifels etc. Was ist dieses letzte Sein, das sicherlich nicht da sein kann, hic et nunc, im Sinne des körperlichen Gegenstands der Wahrnehmung, das also kein ontologisches Sein im strengen Sinne sein kann? Dieser so fremde, so interessante Seinsmodus, der entweder die ontologische Setzung im strengen Sinn oder die anderen doxischen Setzungen umfasst, ist eine Korrelation zwischen zwei Protothesen (und nicht einfach eine Urdoxa) [infra § 107]. Es geht um die nicht explizite Struktur, welche die Wesenheit der Polarität in all ihren Erlebnissen individuiert. Nach dieser Struktur kann die Noese – auch in ihren funktionalen Veränderungen – einem Gegenstandspol bzw. einer Ge153 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
genständlichkeit begegnen, deren Bewusstsein sie sein kann, und also eine Sach-Erfahrung im Hintergrund einer allgemeinen Setzung der Wirklichkeit (die nicht explizit ist) sein. Wenn die Noese (also die Konfiguration der Aktualität des Bewusstseins selbst) sich ändert, kann man nicht meinen, dass man von Mal zu Mal von einer neuen Setzung der Polarität sprechen kann, als hätte man einen Moment t1 mit einem noetischen Charakter, der eine Polarität hervorruft, die verschwinden und zum Zeitpunkt t2 durch eine andere, jeweils von einem anderen doxischen Charakter oder einfacher einer Noese instituierte Polarität ersetzt wird. Den Baum, den ich jetzt im Tal sehe, nehme ich als wirklich war. Einen Moment später regt sich in mir ein Zweifel, ob es sich nicht um eine optische Täuschung handelt. In diesem Fall handelt es sich nicht um zwei verschiedene Momente der Polarität, die sich gegenseitig fremd sind. Die Polarität als psychologische Urdistanz ist immer die gleiche. Das Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein von etwas, also von einer Gegenständlichkeit, die, obwohl sie sich nach der noematischen Veränderung der doxischen Setzungen verändert, für das Denken immer die Merkmale des Seins haben muss. Alle Setzungscharaktere (einer Typologie noetischer Akte) haben als gleichbleibende Struktur eine typische Glaubensform, die sich auf das Merkmal der Präsenz der Gegenständlichkeit innerhalb der Sach-Erfahrung bezieht. So erhält man das möglich Seiende als Äquivalent in der typischen Setzungsform des Möglichen, das wahrscheinlich Seiende in der typischen Setzungsform des Wahrscheinlichen, das zweifelhaft Seiende als typische Setzungsform des Erfragten etc. Eine solche »ursprüngliche Form« nennen wir Protothese-(p), womit eine Protothese gemeint ist, die sich an der thematischen Singularität der Sach-Erfahrung orientiert. Die Protothese als Hintergrund, vor dem sich alle noetischen Merkmale und ihre Veränderungen entfalten, ist etwas der Polarität als psychologische Urdistanz Immanentes. Gleichzeitig zeigt die Sach-Erfahrung eine andere Setzungsform, die sich zur »Welt« (deren Konstitution zwingend unabgeschlossen bleibt) hin orientiert und die Sach-Erfahrung in die allgemeine Erfahrung einschreibt. Diese Setzungsform nennen wir Protothese-(G) [infra §§ 106–107]. Was wir jetzt von der prototethischen Struktur aufgezeigt haben, ist allerdings nur die oberste Schicht ihrer komplexen Natur. Es berührt vor allem nicht die Wesenheit ihres für das Bewusstseinsleben konstitutiven Seins. In diesem Sinne berühren ihre Natur und ihre Problematisierung keine eidetische Topographie des Horizonts 154 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung
der Erscheinung, sondern eher die Untersuchung der Möglichkeit ihrer Entstehung, also den wesentlichen Kern der Offenheit des Bewusstseins. Aber schon die Festlegung eines Hintergrunds, in Bezug auf den sich die Veränderungen und die Überlagerungen der noetischen Schichten und der doxischen Modalitäten des Glaubens entwickeln, zeigt uns den plastischen und variablen Charakter der noetischen Aktivität. Vor dem Hintergrund der Protothese ist es für die eidetische Analyse möglich, die Komplexität der noetischen Struktur als funktionaler Dynamismus in Bezug auf das ursprüngliche Sein ihrer Gegenständlichkeit anzuerkennen. Die protothetische Struktur erweist sich folglich als fundamental für eine Ausweitung des Begriffs des Glaubens und der »Setzung«, indem sie es erlaubt, die noetischen Überlagerungen in der doxischen Setzung der Möglichkeit, der Vermutung, des Zweifels etc. zu untersuchen. Wenn man also, indem man sich im Bewusstsein des Zweifels (im aktuellen Zweifel) befindet, »das, was zweifelhaft ist« betrachtet, kann man dank der ursprünglichen Beziehung der Intentionalität zu ihrem Pol, so wie er sich gibt, also die Protothese, auch das Zweifelhafte selbst als solches und den noematischen Gegenstand nach dem Merkmal, das ihm die Noese des Zweifels zukommen lässt, betrachten. Mithilfe dieses, »mit seinem noematischen Sinn« und »als Seiendes gegebenen«, als zweifelhaft gedachten Gegenstands gelingt es, die Strukturierungen in der noetischen Aktivität und ihre Schichten klarzumachen. Dies wird sich als sehr wichtig erweisen, sobald wir die Region »Frage« untersuchen werden. Aber bevor wir die Region »Frage« betrachten, müssen andere fundamentale Strukturen oder noetische Modalitäten gewonnen werden: die Komplexität und die Neutralitätsmodifikation (bzw. Neutralisierung). 21 Es gibt eine Zusammensetzung des Gegenstands »an der Wand hängendes Bild« durch die intentionale Morphê auf der sensuellen Hylê 22 und durch die Sinngebung in Bezug auf eine Vielheit von Wahrnehmungen dieser gegenständlichen Gestalt. Aber diese betrifft nicht die »andere« Natur, also die ästhetische, die sich in einer übergeordneten Schicht befindet. Ebenso liegt das Wissen über die Elemente, welche die Farben bilden, auf der Ebene einer anderen Schicht, was noch stärker für die Identifikation ihres Sinnes gilt. Aber die auf die Farben oder im Nachhinein auf die Sinnelemente gelenkte Auf21 22
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, § 85, S. 191–196. Ebd. § 109, S. 247–249.
155 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel I Das Feld der Erfahrung
merksamkeit kann nie ohne Neutralisierung der intentionalen Merkmale geschehen, die ihnen vorausgehen. Ohne die Aufmerksamkeit auf das materielle Bild zu neutralisieren, kann ich keine Erfahrung der Farben machen und die Farbe wird auch nicht zu einer »Erscheinung« bzw. einer »Gegebenheit«. Die Neutralisierung als zentrales, der Intentionalität völlig eigenes Phänomen ist also eng mit der noetisch-noematischen Komplexion verbunden. Wenn wir das zentrale Merkmal betrachten wollen, das diese Neutralisierung in der »Situation des Ichs in der Frage (als Frage)« haben wird, müssen wir der Neutralisierung einige Analysen widmen. Die Neutralisierung (bzw. die Neutralitätsmodifikation) wird der Schlüssel sein, um die Natur der intentio (formalis und objectiva) secunda zu verstehen. Sie besetzt eine vollständig isolierte Position und kann folglich keinesfalls in dieselbe Reihe wie die anderen Veränderungen eingeordnet werden. Ihre Besonderheit liegt in ihrem Widerspruch zu jeder im traditionellen Sinne verstandenen doxischen Modalität. Die Neutralisierung ist eine Modifikation, »die jede doxische Modalität, auf die sie bezogen wird, in gewisser Weise völlig aufhebt, völlig entkräftet«. 23 Die Neutralisierung kann niemals mit der Negation gleichgesetzt werden, die, wie die Bejahung, eine Setzung ist und somit die noetisch-noematische Komplexion der Erscheinung überlagert. Sie steht im Widerspruch zu den anderen doxischen Setzungen, aber nicht als eine »reelle Opposition«, indem sie die Merkmale verändert, sondern indem sie die Wesenheit der Setzung beibehält. Sie widerspricht dem Setzungscharakter selbst, indem sie »nicht ausführt«, was sie im Übrigen auch mit dem logischen Widerspruch teilt. Aus diesem Grund kann die Neutralisierung als eine Art Reduktion innerhalb der Reduktion angesehen werden. Sie bildet eine Subtraktion von Aktivität im Erlebnis in einer Weise, in der ihre Bestandteile – vor allem ihre noematischen Bestandteile – vom reinen Blick des Denkens isoliert sind. Dies geschieht mit der, in der und durch die Neutralisierung. 24 Der Zweifel ist nicht mehr ernsthaft Zweifel. Mit der, in der und durch die Neutralisierung handelt es sich um einen neutralisierten Zweifel, dessen Korrelat dasjenige der nicht modifizierten Erfahrungen wiederholt, aber auf eine radikal unterschiedliche Weise zum »einfach Gedachten« oder »einfachen Gedanken«. Nur durch die 23 24
Ebd. S. 247. Ebd. S. 248.
156 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung
Neutralisierung und ihre Wiederholung kann man also, wenn auch nicht den Horizont der Sach-Erfahrung als reine Offenheit des Feldes des Bewusstseins, so doch die Struktur der einzigartigen Sach-Erfahrungen selbst erkunden.
157 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung Man kann zunächst versuchen, die Frage als »Zweifel« zu denken und sie in der Region des »Zweifels« innerhalb des Horizontes der SachErfahrung zu verorten. Die doxische Setzung des Zweifels zeigt wiederum ein Noema, also ein Angezweifeltes, das seine Variation in Abhängigkeit von der Noese erhält. 1 Das Problem liegt darin, Bestimmungen innerhalb der noetischen Region des Zweifels zu finden, um die Frage (als Nachfrage) insofern näher zu bestimmen, als dass sie eine völlige Kongruenz mit dem Zweifel aufweist. Der Zweifel als Verhalten oder Stellungnahme des Ichs 2, also als »an etwas zweifeln«, entwickelt sich zwischen und durch die Setzung oder einfacher durch die Gegebenheit von zwei oder mehr Möglichkeiten, die mehr oder weniger attraktiv sind. Indem wir diese Attraktivität weiterverfolgen, bleibt das Ich aber in seinem Verlangen blockiert, sich innerhalb der Vielheit (oder auch in der Dualität) der Möglichkeiten zu entscheiden. Diese nicht befriedigte Spannung als Bewegung in Richtung des entscheidenden Aktes gehört nicht nur dem »Phänomen« des Zweifels an, sondern auch dem des Erwartens, des sich um das Wissen einer Sache Bemühens im weitesten Sinne. Natürlich steht diese Spannung als Bewegung in Richtung des entscheidenden Aktes in Entgegensetzung zu all diesen Phänomenen – wie dem des prädikativen Akts –, in denen das Ich Position, also Entscheidung, für eine der Möglichkeiten ergreift.
Wir sind hier noch nicht bei der Frage des Gefragten im Gesuchten, also im Befragten, von dem in Sein und Zeit die Rede ist und von dem im dritten Teil dieser Arbeit die Rede sein wird, da es als möglich erscheint, dass die Heiddegger’sche Darstellung hier in die Irre führt oder einfach aufgrund einer zu starken Konzentration auf die Antwort ungültig ist. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 2, cit., S. 7. 2 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, cit., S. 366. 1
158 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung
Der Zweifel ist kein Setzungsakt. Auch wenn dies eine Trivialität darstellt: Der Zweifel öffnet sich durch die und in der Möglichkeit. Die Noese des Zweifels folgt mit der und in der Modalität, die sich aus der Abwesenheit einen entscheidenden Akt der Gewissheit gibt. Im Zweifel als doxische Modalität wird das aktive Beziehen einer Position in Richtung der Entscheidung, in der das Denken sich den Möglichkeiten zuwendet, daran gehindert, in eine stabile Situation zu gelangen. Derjenige, der zweifelt, tendiert zur Erfüllung der Möglichkeitsmodalität hin zur Tatsache. Aber im Zweifel als Nicht-Entscheidung des Denkens für die eine oder die andere Möglichkeit und als »Titel« einer unvollständigen Sicherheit findet die Frage ihre Herkunft. Die Frage kann aber einerseits aus dem Zweifel entkommen und kann es andererseits nicht. Der Zweifel als solcher kann in der Unbestimmtheit, also der Wahrnehmung einer Gegenständlichkeit in der Unsicherheit ihrer Evidenz, verharren. Wenn der Zweifel sich einfach als Abwesenheit einer setzenden Position im Sinne des Bewusstseins der Abwesenheit der Evidenz aussprechen kann, setzt das interrogative Beziehen einer Fragestellung explizit die modale Offenheit. Auf den ersten Blick erscheint die Frage also expliziter als der einfache Zweifel, das heißt doxisch stärker durch den Zweifel charakterisiert, der eher hinter dem Evidenzmangel versteckt zu sein scheint (wie bezüglich des Erwartens, der Unsicherheit etc.), also in den Falten des positionalen Bewusstseins. Wenn man die Frage innerhalb des eidetischen Schemas des Zweifels denkt, missachtet man aber die positionale Struktur der Frage als Setzung eines Schemas, innerhalb dessen sich das Unsichere konfigurieren muss. In der Sphäre der Frage 3 gibt es zwei oder mehr artikulierte Intentionen, die sich gegenüberstehen, und es gibt folglich auch eine explizite disjunktive Schwingung zwischen den Möglichkeiten. Man kann diese disjunktive Schwingung erkennen, wenn man eine einfache Frage wie die folgende eidetisch betrachtet (über die okkasionellen Charaktere ihrer Für eine allgemeinere Betrachtung der Frage vom logischen-philosophischen Standpunkt: M. Prior – A. Prior, Erotetic Logic, cit.; T. Kubinski, An outline of the Logical Theory of Questions, Berlin, 1980; J. Llewelyn, What is a Question, Australasian Journal of Philosophy, 42, 1964: 67–85; C. L. Hamblin, Question, in P. Edwards (Ed.), The Encyclopedia of Philosophy, New York, 1967, S. 39–53; M. J. Cresswell, The Logic of Interrogatives, in J. Crossley – M. Dummett (Eds.), Formal Systems and Recursive Functions, Amsterdam 1965, S. 8–11; L. Acquist, A new Approach to the Logical Theory of Interrogatives, Tübingen, 1975; D. Harrah, A logic of question and Answers, Philosophy of Science, 28, 1961: 40–46.
3
159 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
Intentionstermini hinaus): »Ist mein Hut in der Küche oder in meinem Zimmer?« In diesem Fall sind »das Sein meines Hutes im Zimmer« [A] und »das Sein meines Hutes in der Küche« [B] in ihrem einheitlichen Charakter und ihrer disjunktiven Einheit gemeint. Wenn man die Frage als aktiven und expliziten Zweifel entsprechend der Disjunktion der Möglichkeiten denkt, muss man über mindestens zwei Möglichkeiten verfügen. Der einfachste Typ dieser disjunktiven Modalität in zwei Möglichkeiten, also dieser elementaren Disjunktion, ist der des »ja oder nein«. 4 Diese Situation kann durch Fragen eidetisch betrachtet werden wie »Hast du das Fleisch gekauft (oder nicht)?«, »Wird es schneien (oder nicht)?« etc. In diesen Situationen entwickelt sich die Disjunktion durch die Affirmation und die Negation eines gleichen Urteilsinhalts. Hier entfaltet sich die Möglichkeit als Offenheit der Modalität zwischen der Affirmation und der Negation eines gleichen Urteilsinhalts, also der Affirmation und der Negation derselben polythetischen Vorstellung. Wenn man aber eidetisch die Frage »Ist mein Hut in der Küche oder in meinem Zimmer?« beobachtet, gibt es auf eine gewisse Art und Weise eine spätere Artikulation der elementaren intentionalen Disjunktion. Denn wenn man die Urteilsexpression »Ist mein Hut im Schrank?« als [A] und »Ist mein Hut anderswo?« als [~A] versteht, muss das Anderswo als ein seinerseits in verschiedenen Möglichkeiten artikuliertes (oder zu einer Artikulation geeignetes) B betrachtet werden, die allerdings in der eidetischen Situation der Frage »Ist mein Hut im Schrank oder anderswo?« undeutlich und nicht bestimmt sind. Das Anderswo, hier als B = (b1, b2, b3, …, bn) artikuliert, ist in der eidetischen Situation der Frage »Ist mein Hut im Schrank oder anderswo?« nur als [~A] gemeint, das als eine ihrerseits offene Möglichkeit in der ersten, durch die Disjunktion geöffneten Möglichkeit konstituiert ist. 5 Angenommen, dass jeder Akt des Ichs – als Bewusstsein von etwas – sein eigenes Thema hat, dann ist das Thema der Frage immer in der Modalität des Möglichen und damit auch in einer komplexen Stratifikation dieser Modalität gedacht. Wenn sich das Thema als 4 Vgl. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926), Hua. 11, S. 53 ff. Siehe hierzu D. Bollinger, YesNo-Questions Are not Alternative Questions. In H. Hiz (Ed.), Questions, Dordrecht – Boston – London, 1978, S. 87–105. 5 J. Walther, Logik der Fragen, Berlin – New York, 1985, S. 82 f. [2.3 Entscheidungsfragen und ihre logische Deutung].
160 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung
»thematische Singularität« konfiguriert, entwickelt sich die Möglichkeit – zumindest vom Standpunkt der eidetischen Analyse aus – zwischen der intentionalen Affirmation und der Negation des Themas der Frage. In der Frage »Ist dieser Tisch aus Holz oder nicht?« oder »Hast du das Essen vorbereitet oder nicht?« versteckt die thematische Singularität beispielsweise in sich, soweit sie thematische Singularität des Noemas einer Frage ist, die disjunktive Alternative zwischen der Affirmation und der Negation. Wenn das Thema hingegen artikuliert ist, öffnet sich die Möglichkeit direkt nach der logisch-intentionalen Struktur der Disjunktion. In diesem Sinne können wir bestätigen, dass die Frage eine Sach-Erfahrung ist, die zunächst die Möglichkeit selbst zum Thema hat. Dies ist aber, vom Standpunkt der noematischen Analyse aus, nicht befriedigend. Trotzdem muss die Analyse des Aktes »Fragen«, dessen logischintentionale Konfiguration nur ein Teil derselben (wenn auch ein wichtiger) ist, komplementiert werden, bevor die noematische Seite in ihrem Kern und ihrem Charakter der intuitiven Erfüllung charakterisiert werden kann. Die spezifische Eigenschaft des Fragens liegt in der praktischen Spannung, welche die modal-theoretische Offenheit der Möglichkeiten dem Denken nahelegt. Es gibt einen praktischen oder besser noch einen theoretisch-praktischen Hintergrund der Intentionalität. Aus diesem Grund wurde hier das Syntagma »Frage (als Nachfrage)« benutzt. 6 Die Frage als theoretische Einheit, die sich auf etwas Unsicheres oder Zweifelhaftes bezieht, offenbart sich immer als in einer Nachfrage eingebunden, das heißt in einem Akt, der auf performative Weise von sich als angestrebter Antwort oder Erfüllung spricht. 7 Ab dem Moment ihres Erlebens wird die Frage eine eigene und damit eine Nachfrage. Die gestellte Frage ist eine theoretische Deklination der Nachfrage und nur in dieser Form kann die Frage eine Sach-Erfahrung sein. Von nun an verstehen wir also unter der Frage immer die Frage im Akt des Stellens selbst in der intentionalen Realität oder Wirklichkeit des Aktes. Die modal-intentionale Offenheit 8 der dem Bewusstsein gegebenen Möglichkeiten bewirkt im Be-
6 Jedes Fragen ist also nicht nur immer ein Suchen (Sein und Zeit § 2), sondern zuallererst ein Nachfragen: omnis quaestio est petitio. 7 Vgl. J. Hintikka, Answers to Questions. In H. Hiz, cit., S. 279–299. 8 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 1999, S. 368.
161 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
wusstsein einen Trieb, in einen Zustand des stabilen Glaubens überzugehen. Die gestellte Frage hat also den praktischen Charakter eines Anspruchs auf »thetische« Affirmation im strengen Sinne. Aus diesem Zustand möchte man der modalen Offenheit entkommen, um zu einem stabilen Urteil, einer judikativen Setzung der Existenz zu kommen. In diesem Sinne zeigt die Frage (als Nachfrage) ihre wesentliche Verbindung – wenigstens für eine mächtige, weitgreifende Menge von Fragen – zum Urteil, und zwar als befragende Position eines Urteils oder einer Position der disjunktiven Artikulation verschiedener Urteile. Die Frage (als Nachfrage) hat also als Schema entweder die nominale Entität in ihrer fragenden Form oder die judikative Entität (zusammengesetzt aus verschiedenen judikativen Entitäten), ebenfalls in ihrer fragenden Form. Wir können also, indem wir uns der eidetischen Analyse nähern und weiter dem Schema des Zweifels folgen, bestätigen, dass das Noema selbst (als ausgebreitete problematische judikative Disjunktion) durch ein oder mehrere Urteile dargestellt wird. Die Frage (als Nachfrage) erscheint als eine »modale Einklammerung« der neutralisierten Urteile, die von jeder Existenzsetzung entleert und in ihren ursprünglichen doxischen Zustand zurückgeführt wurden. Wir müssen also die Urteile näher betrachten, um zu sehen, nach welchen Modalitäten das »S ist P« »Inhalt des Urteils«, »Inhalt der Vermutung« und folglich auch »Inhalt der Frage« werden kann. Hier muss man die Komplexion selbst, die eidetische Natur des Urteils als solchem, seine noetische Seite und vor allem seinen noematischen Kern bestimmen: Dasselbe »S ist P« kann als noematischer Kern als Inhalt einer Gewissheit, einer Vermutung und damit auch einer Frage dienen. Die Frage (als Nachfrage) stellt sich als Explikation der Variation der Modalität des Glaubens des noematischen Inhalts des Urteils, also als Positionsvariation seines neutralisierten Inhalts, heraus. Das Erlebnis »Urteil« in seiner Fülle und Komplexion als konkreter Urteilsakt hat eine Noese, die positional seinen Inhalt bestätigt. Es hat auch ein Noema, das als noematische Konkretion aufgefasst ist. »S ist P« ist nicht das gesamte Urteil, sondern einfach sein durch die Vorstellungen, die dazu geeignet sind, positional behaupteter Inhalt. Folglich repräsentieren S und P nur die Materie (auch die intuitive) des Aktes »Urteil«, die sich vom Akt selbst und dem Noema unterscheidet: das Geurteilte. Die Beurteilten (S und P) bilden ein vollständiges Ganzes, das die Teile (S und P) durch den Akt des Beurteilens übersteigt. Die 162 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung
Struktur des Sachverhalts »S ist P« als konkretes »noematisches Quid« (»der Baum ist grün«, »der Sitz ist schwer«) ist entweder in der doxischen Setzung des Beurteilens oder in der doxischen Setzung der Vermutung oder in der doxischen Setzung des Zweifels invariant. Indem man vom intuitiven Inhalt abstrahiert, den »S ist P« als noematischer Kern in den verschiedenen doxischen Setzungen einnimmt (einem sicherlich zentralen Element), kann »S ist P« Gegenstand eines ausgeführten Urteils, also einer Mutmaßung, einer Vermutung oder einer Frage, werden. Liegt also eine Frage des Typs »Ist mein Hut im Zimmer oder anderswo?« vor, wird ihr Noema in zwei eidetisch-noematischen Teilen artikuliert, von denen eines das neutralisierte Urteil »mein Hut ist im Zimmer« und das andere das neutralisierte Urteil »mein Hut ist anderswo als in meinem Zimmer« ist. Beide werden in der doxischen Modalität der Frage ihrerseits gemäß einer noetischen Modalität und einer disjunktiven Logik artikuliert. Im Moment interessiert uns weder der dargestellte Inhalt der beiden gemäß der Disjunktion neutralisierten und artikulierten Urteile noch die Möglichkeit oder ihre Fülle. Es geht hier nur darum, die elementare eidetische Natur (Struktur) der Frage festzustellen. Wenn man hingegen fragt: »Hast du deinen Hut und deine Jacke gewechselt?«, wird man ebenfalls auf die beiden neutralisierten Urteile »Du hast deinen Hut gewechselt« und »Du hast deine Jacke gewechselt« stoßen, aber diesmal in und durch die doxische Modalität der Frage und eher gemäß einer noetischen Artikulation der Konjunktion als der Disjunktion artikuliert. Über die noetische Komplexion der Disjunktion oder der Konjunktion kann sich eine zeitliche oder zeitlich-konditionale Artikulation usw. legen. In der Frage »Hast du das Papier weggelegt oder weggeschmissen?« gibt es keine solche zeitliche Artikulation, da die Artikulation der beiden neutralisierten Urteile der zeitlichen Modalität gemäß homogen ist. Im Gegensatz dazu herrscht in der Frage »Hast du den Müll rausgebracht oder wirst du ihn später hinausbringen?« eine noetisch-disjunktive Artikulation zwischen den beiden noetischen Einheiten vor, und zwar zwischen zwei zeitlichen Ebenen: der Vergangenheit und der Zukunft. Aber warum kann man Fragen wie »Wer bist du?«, »Was ist?« oder »Was ist das?« als anomale Fragen (als Nachfragen) ansehen, die nicht in das prädikative Schema passen? Um das eidetische Verständnis der Frage (als Nachfrage) zu vertiefen – und damit auch dasjenige der Fragen, die kein eidetisches Schema des propositionalen Urteils besitzen –, muss die Unter163 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
suchung der Wesenheit der Frage fortgesetzt werden, um erneut die Frage nach den anomalen Fragen zu stellen.
§ 9. Die Frage (als Nachfrage) und ihr Ereignis Tatsächlich führt die eidetische Analyse der Frage nach dem Schema der Aussage (also dem des neutralisierten Urteils) als ihrem noematischen Bestandteil nicht auf den Grund der Frage und schöpft damit ihre Wesenheit nicht aus. Diese Wesenheit liegt in der Spaltung des Ichs in der Frage selbst, das heißt im Akt. Von hier aus muss die eidetische Analyse der Frage wieder aufgenommen werden, und zwar in einem weiteren Sinne als in dem durch das Schema des neutralisierten Urteilsnoemas gegebenen. In welchem Sinne stellt die Frage selbst eine Spaltung dar? In der Frage gibt es einen eigenen Sinn der Spaltung, der die wesenhafte Polarität des Bewusstseins verstärkt und bestätigt. In welchem Sinne verstärkt die Frage also den Spaltungssinn, welcher der originären psychischen Distanz eigen ist? In der und durch die Frage wird die Spaltung des Bewusstseins verstärkt und in ihr sozusagen noch heftiger. In der und durch die Frage wird sich derjenige, der nachfragt, darüber klar, dass ihm in der Frage als ausgeführtem Zweifel ein Halt fehlt, ja, dass ihm das Erfassen von etwas, das zu behaupten oder zu negieren wäre, also eine eindeutige Vorstellung des Seins von etwas, fehlt. Wenn man das Urteil »Der Tisch ist schwarz« und die Frage »Ist der Tisch schwarz oder nicht?« oder »Ist der Tisch schwarz oder weiß?« betrachtet und diese untereinander in Beziehung setzt, sieht man, dass man in dem ausgeführten Urteil eine höhere bzw. größere Fülle der Intention als in der Frage vorfindet. Das Verhältnis zwischen Vorstellungen, also das Noema, ist in diesem Fall erfasst und als existent, als wahr seiend, gedacht. Das Gleiche kann man bestätigen, wenn man einen Eindruck und eine Frage, eine Erinnerung und eine Frage etc. zueinander ins Verhältnis setzt. Wenn man also von der Frage – als Erlebnis und folglich als Erscheinung – nicht aussagen kann, dass sie eine perzeptive Natur besitzt, muss man sich die Frage nach ihrer eigenen anschaulichen Natur stellen. Zeigt sich also in der (nach dem Schema der disjunktiven Alternative zwischen neutralisiertem Noema eines Urteils verstandenen) Frage der Mangel an Halt in der Unentscheidbarkeit der Themen, liegt die Wesenheit der Frage eben in diesem fehlenden Halt, der für die Intentionalität typisch ist. 164 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 9. Die Frage (als Nachfrage) und ihr Ereignis
Das Ereignis der Frage zeigt uns einen völlig eigenen Modus der Intentionalität, der sein Noema, seinen Gegenstand, besitzt, der ihn jedoch nicht gemäß seinem Sein, seinem leibhaftigen Seins, erfasst, sondern in der Offenheit des Möglichkeitsfeldes. In der Frage ist also der ihr eigene Gegenstand nicht als Sein gegeben: Die Frage ist als Erlebnis selbst eine Gegebenheit, in der das Erfragte in der Offenheit des Möglichkeitsfeldes gegeben ist. Außerdem stellt die Frage, deren Verständnis vom Schema des propositionalen Noemas und des Noemas des neutralisierten Urteils nicht erfasst wird, eine offene Gegebenheit von Möglichkeiten dar: Die Fragen des Typs »Wer bist du?« oder einfach »Wo ist mein Hut?«, die weit davon entfernt sind, dem Glauben einen klaren Halt zu geben, sind selbst eine Gegebenheit, ein Ereignis, durch das sich das Möglichkeitsfeld öffnet und durch das sich die Auffassungsmodalität der Intentionalität in der Möglichkeit einer Erfüllung »modalisiert«. Die Frage ist die Erscheinung des Gegenstandes in der Form des Nachgefragten. Das Sein der Frage ist also eine Gegebenheit, da sie anders keine Sach-Erfahrung sein könnte. Die Frage als solche trägt keine Gegebenheit als »Sein an sich«, sondern ihr Sein selbst als solches liegt einzig in der Gegebenheit. Die Situation der Frage ist zunächst die »Sache«, die wir erfahren. Folglich zeigt sich die Frage mit gleichem Recht wie jede SachErfahrung als Ereignis. Das Fragen ist »ursprünglich motiviert in Vorkommnissen der passiven Sphäre«. 9 Im Verhältnis zur Transzendenz des Sinns und zur aktiven Konstitution der Erfahrung gibt das Sein der Frage, das ursprünglich durch Ereignisse in der passiven Sphäre motiviert ist, ihr ihren Ereignischarakter. Die Frage widerfährt einfach demjenigen, der fragt. Er kann sie »ausdrücklich formulieren«, ohne dass der Ausdruck dabei phonetisch vermittelt werden müsste: »eine Frage stellt sich mir«, »ein Zweifel kommt in mir auf«, »eine (Nach-) Frage stellt sich«. Kraft der Spekularität zwischen der eidetischen Konstitution der Frage und der Sinngebung an die Frage durch ihren Kontext (bzw. Horizont) befindet sich die »Frage an sich« zwischen dem »Ich«, das sie auf sich nimmt (und sie dementsprechend auch ablehnen kann), und dem Horizont, durch den sie ihren Sinn erhält. Aber bei dem »an sich« der Frage handelt es sich um kein ontologisches »an sich«. Die Frage »an sich« ist der unmerkliche Moment der Begegnung (der Synthese) zwischen der Aktivität und der Sinngebung der Frage durch den Horizont der Potentialität (der 9
Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, cit., S. 371.
165 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
Sphäre der Passivität). Dies ist der Moment, in dem die Frage als solche und in ihrer aktuellen Annahme (oder Ablehnung) ist. Der nicht definierte (und vielleicht nicht zu definierende) Moment, in dem die Neutralität der Frage, verstanden als ein Gegebenes, in die Aktivität übergeht (der Annahme oder der Ablehnung), ist der Moment, in dem die Elemente der passiven Sphäre ihre Gerinnung finden und sich als etwas finden, das (gesetzt und strukturiert) erfragbar ist, aber noch nicht »gefragt« ist. In diesem Übergang findet man die wahre und eigene Gebung der Frage, ihr Ereignis, ihre Erscheinung von sich aus und an sich. Aber was bedarf es, damit die Frage – als Ereignis – angenommen oder abgelehnt wird, also von der positionalen Neutralität in ihre noetische Aktualität der Frage übertragen wird? An diesem Punkt kommen zwei Begriffe zum Tragen: Der Sinn der Frage und die intuitive Fülle, die sie verlangt/erfragt.
§ 10. Passivität und Kontextualität der Frage Wenn das Fragen »ursprünglich motiviert in Vorkommnissen der passiven Sphäre« 10 ist, muss man sich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ereignis der Frage und dieser »Sphäre« oder diesem Horizont stellen. Die Sphäre der Passivität (oder »der Möglichkeit«) ist das Gebiet des Erlebnisses, das nicht durch intentionale Aktivität gekennzeichnet ist, sondern im Hintergrund der Aktivität verbleibt, und welches vor jeder Bewegung der Erkenntnis ist, wie die dynamis, die zur energeia werden soll. Die Sphäre der Passivität ist nicht nur vor-prädikativ, sondern antizipiert auch jeden Zweifel, jede Vermutung, jede Bewertung. In der Sphäre der Passivität – wie im Gebiet der alltäglichen Erfahrung – ist die Evidenz eines Gegebenen eine Evidenz, die von den Umständen abhängt und die ganz zu unterscheiden ist von der Evidenz, nach der die Erkenntnistheorie fragt. In diesem Sinne ist die vorprädikative Evidenz ursprünglich, da sie kein Auswahlkriterium anerkennen kann und unbestimmt und unmittelbar bleibt. Wenn ich frage »Ist der Hut in meinem Zimmer?«, versteht man die vorprädikative Evidenz. Die Sach-Erfahrung – als Frage, als Vermutung, als Wahrnehmung – definiert sich in ihrer primären und
10
Ebd. S. 371.
166 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 10. Passivität und Kontextualität der Frage
ursprünglichen Bedeutung durch und in einer direkten Beziehung zu einem Gegenstand, welcher einem Horizont der Bedeutsamkeit eingeschrieben ist. Die Erfahrung der Individualität und besonders ihrer Bedeutsamkeit ist die ursprünglichste Erfahrung, und folglich noch ursprünglicher als jede prädikative Handlung, die man im ursprünglichsten Urteil über sie ausüben kann, und ursprünglicher als jeder skeptische Akt. In diesem Sinn betrifft die Frage nie die Protothesis(p), sondern einzig die Vorstellungsmomente, an die der Gegenstand der Protothesis gebunden ist. Ebenso wenig kann die Protothesis-(G) berührt werden. Als intentionale Aktivität, die sich in einer bedeutungsvollen Welt abspielt, zweifelt das theoretische Fragen nie dieses »Bewusstsein der Welt« an. Die Frage, die nicht wie die Reduktion ein singulärer Akt ist, sondern ein Akt, der immer vonstatten geht, indem er den Sinn der Erfahrung voraussetzt, kann niemals diese Welt aufheben, die sich ihm eröffnet, sondern kann nur die partikulare Wahrheit hinauszögern, das Wahr-Sein oder das So-Sein seines Gefragten. Wenn ich frage »Ist mein Hut noch in der Küche?«, ist nicht das Küche-Sein oder das Sosein dieser Küche in Frage gestellt, die Position und die Eigenschaften der Möbel, ihr erkanntes und als solches wiedererkennbares Sein etc. Die Frage ist umgrenzt als Inhaltsneutralisierung eines Horizonts der Vorgegebenheit und Vorbedeutsamkeit. In diesem Sinne sind die holistischen Fragen, also die Fragen nach der Erfahrungswelt als Ganzer oder nach äußerlichen Gegenständen sinnlos. Die Umgebung, auf welche die Intentionalität sich anwenden lässt, ist also durch eine Überschreitung von Aktivität und intentionaler Struktur gekennzeichnet. Was man im Herzen des Noemas findet, schickt die Bedeutsamkeit des Bewusstseinsobjekts als solches zu einem Sinn zurück, dessen Transzendenz »die Welt« konstituiert. Es versteht sich von selbst, dass diese Weltkonstitution durch den Sinn niemals mit der Konstitution einer Erfahrung identifizierbar ist, welche die Intentionalität einsetzt. Diese beiden sind im Gegenteil einander vollständig entgegengesetzt und komplementär: Die Konstitution der Welt durch den Sinn ist das Merkmal der Sphäre der Passivität, die Konstitution der Erfahrung durch das Denken – folglich die Verwirklichung dieser Bedeutungserlebnisse in einer leibhaften Erfahrung – ist das Merkmal der Sphäre der Aktivität, der Aktivität der Intentionalität. Das Spiegelungsverhältnis und die Korrespondenz zwischen der Konstitution der Erfahrung durch Aktivität und die Vorgegebenheit 167 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
einer Welt 11, eines Horizonts der Bedeutsamkeit im Sinne einer Möglichkeit, ist fundamental. Gleiches gilt für die Analyse der Frage. Auf der Grundlage dieses Spiegelungsverhältnisses kann man die Natur der Fragen verstehen, deren Form nicht durch das Schema des Urteils oder durch das der Fragen verständlich ist, die – obgleich sie nach diesem Schema strukturiert sind – durch ihre deiktischen Ausdrücke in sich einen nichtsekundären Charakter des Zufalls beherbergen. Eine Frage des Typs »Ist dieser Tisch grün?« kann nur dem prädikativen Schema folgen; analog dazu die Frage »Hast du den Wein gekauft?«. Beide können, trotz einer Dosis Zufall, als Antwort, als Negation des Fragemodus die Affirmation oder Negation des Seins des nach der Form eines Urteils strukturierten Noemas haben. Im ersten Fall kann das propositionale Noema »S ist P« (»der Tisch ist grün«) angenommen oder negiert werden. Im zweiten Fall (»Hast du das Ticket gekauft oder nicht?«), dem propositionalen Noema {tx S [f(A) _ ~f(A)]}, kann eine der beiden Alternativen der Unterscheidung f(A) und ~f(A) angenommen und die andere negiert werden (und umgekehrt). Aber in diesem Fall ist die Rolle der Verfasstheit der Welt durch den Sinn im Horizont der Möglichkeit, obgleich präsent, nicht entscheidend. Wenn man beispielsweise fragt »Hast du den Tisch genommen?«, erweisen sich die Uneindeutigkeit des Begriffs des Tischs und also die Umstände des Fragehorizonts als wesentlich. 12 Ebenso hat für uns die Frage Sinn, einem sehr bekannten Beispiel folgend, »Gegen wen hat Obama diesmal gewonnen?«, aber für den römischen Prätorianer und für den Berater von Louis XIV. hat sie keinen Sinn. 13 In analoger Weise ist es für uns sinnlos, wenn wir fragen »ubi est trigesima legio?«, aber diese Frage würde für einen römischen Bürger des Bürgerkriegs Sinn haben oder hätte Sinn für diesen haben können. Sich von der Diachronie entfernend, ist ebenso die existentielle Frage »Wer bin ich?« nicht dieselbe, die ich meinem Sohn stelle, wenn ich darauf warte, dass er sein erstes Mal »Papa« Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), Hua. 39, S. 47–52. 12 Das Beispiel ist nicht so naiv, wie man denken könnte, und man wird das einsehen müssen, weil die Frage als ursprünglicher Moment festgehalten werden muss, bei dem der atypische deiktische Ausdruck »Ich« in die Frage genommen ist (als Gefragtes). 13 Vgl. J. Searle, Intentionality. An essay on Philosophy of Mind, Cambridge, 1983, S. 17. 11
168 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 10. Passivität und Kontextualität der Frage
ausspricht, wiewohl beide Fragen formal identisch sind. Sie haben andere Bedeutungen. Die Frage hängt, ihren repräsentativen Inhalt und ihren Sinn betreffend, von dem Sinnhorizont ab, hängt von der Dimension der potentiellen (passiven) Sphäre ab, deren Transzendenz ihr Bedeutung gibt: Wenn die Frage nur kraft der Intentionalität und folglich der eidetischen Komplexität, die sie zum Ausdruck bringt, gestellt ist, überschreitet ihr bedeutungsvolles Sein die Dimension der Aktivität und weist zu einem Sinn hin, der die Komplexität dieser Erscheinung überschreitet. Eine Frage wie »Und du nicht?«, offensichtlich unsinnig, erweist sich als eine implizite Form der Frage (als Enthymem), deren Erklärung eine Kontextualisierung im Diskurs notwendig macht. 14 Wenn ich bereits den Kontext des Diskurses verstehe, kann ich erfassen, ob sie sinnvoll ist oder nicht. Abseits psychologischer Voraussetzungen ergibt die Frage jedoch aus einer offenen Perspektive betrachtet keinen Sinn, weil die besondere Konfiguration des Horizonts »der Möglichkeit« die Frage sich nicht ereignen lässt, was gleichbedeutend damit ist, dass sie sich nicht auf der Ebene einer bedeutungsvollen Absicht dekodieren lässt. Aber was die prädikative Form (weniger die Form der Frage selbst) angeht, kann unser Beispiel als eine Art der Frage betrachtet werden, dessen Noema einem prädikativen Schema folgend strukturiert ist. Die Tatsache, dass das Schema »Hast du das Buch gekauft oder nicht?« in einer kryptischen Form ausgedrückt wird, schließt die prädikative Form der noematischen Seite nicht aus. Im Gegensatz zu jenen Fragen, deren Noema gemäß einer logisch-propositionalen Form strukturiert ist, kann man auch Fragen finden, die wirklich anders und unabhängig vom logisch-propositionalen Schema des Noemas modelliert sind. Fragen des Typs »Wer bist du?« oder »Was ist los?« oder »Was ist?« sind – nicht zufällig – irreduzibel auf ein propositionales noematisches Schema. Wir interessieren uns im Moment nicht dafür, dass sie als Sättigung oder als Antwort eine nach dieser Form strukturierte Gegebenheit haben könnten oder sollten. Im Moment steht die Frage im Zentrum des eidetischen Schauens. Obwohl eine Frage des Wesens oder wesenhafte Frage notwendigerweise als Sättigung, als Fülle, als Antwort, eine Gegebenheit hat, die notwendigerweise eine propositionale noematische Form hat, Siehe hierzu die Aufsätze von F. Kiefer, H. Parret, A.-Br. Strensom in M. Meyer (Ed.), Question and questioning, cit., Section V, The Context of Questioning, S. 253– 325.
14
169 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
hat sie nicht selbst, als Komplexion ihrer noematischen Seite, eine propositionale Form, sie repräsentiert nicht in und durch ihre Frage eine Bedeutung (oder mehrere Bedeutungen), die nach der logischen Form einer Proposition, die man bestätigen oder negieren kann, artikuliert wird. Außerdem haben Fragen wie »Wer bist du?« oder »Wer/ was bin ich?« keine prädikative Form, aufgrund derer sie strukturiert sind, und auch nicht die Möglichkeit, eine Sättigung zu erlangen, eine Fülle, eine nach dieser Form strukturierte Antwort.
§ 11.Topographie des Gebiets der Frage Zu diesem Zeitpunkt kann versucht werden, eine (ganz lückenhafte und ungenügende) Topographie der eidetischen Region »Frage« nachzuvollziehen. Es gibt im Allgemeinen zwei Arten von Fragen. In der ersten hat das Gefragte eine wesenhaft deiktische Form: das »wo«, das »wann«, das »was« einer Aktion oder eines Sachverhalts. In der zweiten hat die Frage keine deiktische Natur, kann sie aber teilweise haben. Die erste (und vornehmliche) Deklination dieser zweiten Art ist – in der noetischen Identität – nach dem propositionalen logischen Schema strukturiert. Eine analoge Form dieser Deklination ist die implizite Variante (»Hast du Eis gekauft oder nicht?«) der ersten, deren Form des Gefragten, nach dem propositionalen noematischen Schema gebildet, eine Form ist, die – jenseits semantischer Fragen – eidetisch wie die erste behandelt werden kann. Eine weitere Spezifizierung ist im Gegensatz dazu ganz verschieden und durch eine nicht propositionale, noematische Komplexion ihres Gefragten konstituiert. Diese Artikulation beinhaltet gleichzeitig eine Artikulation von Antwortmöglichkeiten, von Erfüllungen, deren Analyse uns den Übergang hin zu anderen Problemen zeigt: die Unterscheidung zwischen Bedeutungsintention und intuitiver Erfüllung, die Möglichkeit, die Frage als Sach-Erfahrung unabhängig von ihrer Erfüllung (ihrer Sättigung, ihrer Antwort), die intuitive Natur (obgleich partielle, unvollständige) der Frage unabhängig von ihrer Erfüllung und die Grade der Phänomenalität nach ihrem intuitiven Gehalt (also die Möglichkeit, eine Kette von Phänomenen nach der Art der Erfüllung zu beschreiben) zu behandeln. Man kann die folgende Exemplifizierung der Frageformen in Bezug zu ihrer Art oder zu den Erfüllungsmöglichkeiten vornehmen, der Voraussetzung folgend, dass sie eine Bedeutung haben. 170 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 11. Topographie des Gebiets der Frage
Eine Frage der ersten Art, deren Gefragtes nur ein deiktischer Begriff ist, kann nur eine deiktische Antwort haben. Eine Frage der zweiten Form, deren noematische Seite durch Koordination bzw. Distinktion von mehreren prädikativen Elementen strukturiert ist, kann die affirmative oder negative Auswahl eines oder mehrerer Elemente (Propositionen) sein, auch mittels perzeptiver ostensio (im Sinne der »acquaintance« 15), mittels Beweisführung etc. Die Frage des Typs »Ist mein Hut in meinem Zimmer?« kann von der Affirmation oder Negation des propositionalen Gehalts ihres Gefragten gesättigt sein; die Frage »Ist mein Hut in meinem Zimmer oder in der Küche?« kann durch die Affirmation einer der beiden Möglichkeiten gesättigt sein. Folglich erhält die Frage in diesen beiden ersten Fällen durch die Urteilswiederholung (und Annahme) einer der zahlreichen noematischen Teilvorstellungen, durch die noetische Aktivität der Affirmation oder Negation des Urteils eine Sättigung, eine Erfüllung. Die Erfüllung vollzieht sich durch die Evidenz des Urteils. Ist es möglich, dass eine noematisch nach dem prädikativen Schema strukturierte Frage eine nicht-prädikative Erfüllung erhalten kann? Ein Beispiel kann die Frage »Ist mein Hut in der Küche oder in dem Zimmer« sein, die eine Antwort des Typs »Hier ist er!« erhält. Doch was passiert mit der nicht ganz okkasionellen, nicht nach der logisch-propositionalen Form strukturierten Frage? Es muss gesagt werden, dass vor allem die Form der wesentlichen Frage (»Was ist x?«) eine strukturierte Erfüllung – auf dem Niveau eines Urteilsakts – nach der prädikativen Form erhalten kann (obgleich, wie man sehen wird, die Frage nicht so einfach ist, wie man denkt). Für alle anderen Spezifizierungen dieser Frageform muss gesagt werden, dass die Möglichkeiten der Sättigung vielfältig sind. Im Fall der Frage »Wer bist du?« oder »Wer ist er?« kann die Antwort bezeichnend, signitiv etc. sein. Im Fall der Frage »Was/wer bin ich?« ist die Möglichkeit selbst einer Erfüllung unklar. Im Fall einer denominativ-deiktischen Frage des Typs »Was ist das?« kann die Antwort, die Sättigung nicht nach einer perzeptiven Erfüllung strukturiert sein. Doch die Frage, die sich vor allen anderen stellt, ist die folgende: Was ist das intuitive Wesen der Frage unabhängig von ihrer Erfüllung? Und folglich: Ist es möglich, dass die Frage – als Sach-Erfahrung – kein intuitives Wesen,
Vgl. B. Russell, Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society (New Series), XI, 1910–1911: 108–128.
15
171 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
keine intuitiv-originäre Schicht unabhängig von ihrer Sättigung, ihrer notwendigerweise intuitiven Sättigung haben kann?
§ 12. Über die Abstufung der Phänomene in der Polarität »leere/gesättigte Gegebenheit« Um Sach-Erfahrung zu sein, muss dennoch die Frage vor jeder Antwort einen intuitiven Gehalt haben. Das gilt zumindest für bestimmte Fragen, welche die Gegenständlichkeiten betreffen, die in den individuellen Lebenshorizont und dessen Geschichte eintreten. Wie können sie ihn haben? Diese Fragen verorten uns mitten in die Thematik des Verhältnisses zwischen Bedeutungsintention und erfüllender Anschauung. 16 Es ist sicherlich richtig, dass das (wesenhaft wissenschaftstheoretische und gnoseologische) Schema sich noch sehr gut auf verschiedene klassische wissenschaftstheoretische Situationen anwenden lässt und auch auf eine große Anzahl von nicht-wissenschaftstheoretischen Fällen. Wenn man folglich die Annahme der Frage als das Wiedererkennen ihres Sinns bestimmt, die Möglichkeit, dass ihre Bedeutung eine andere Form anschauender Erfüllung erhalten kann, muss also dieses Verhältnis entwickelt werden. Schon wenn man eine Frage, ein Urteil oder eine Wahrnehmung in deskriptive Erwägungen einbezieht, sieht man, dass die Gruppe der Akte, die durch die Unterscheidung von Bedeutungsintention und Erfüllung (oder Elision) der Intention gekennzeichnet sind, den größten Bereich des eidetischen Bereichs des Akts abdeckt. Aber man sieht auch, dass der Begriff der erfüllenden Anschauung verschiedene Artikulationen hat. Die erfüllende Anschauung ist ein Genus, das sich gemäß verschiedener Modalitäten, gemäß verschiedener Spezies der Anschauung (beispielsweise vor allem zwischen einem streng genommen intuitiven Inhalt und einem repräsentativen substitutiven Inhalt 17) Man muss auch voraussetzen, dass das klassische Schema der Artikulation zwischen leerer Bedeutungsintention und erfüllender Anschauung (klassisch für die Phänomenologie) hier lediglich gebraucht wird, um eine bestimmte Anzahl von strukturierenden Aspekten der Frage zu kennzeichnen und nicht als allgemeines Beschreibungsschema der Erfahrung angenommen wird. Es gäbe hier zahlreiche Unwägbarkeiten dieser Idee einer Sprache, von Ausdrucksformen ohne Anschauung, die zudem eine Erfüllung erfordern. 17 Vgl. in der VI L.U. den Unterschied zwischen dem »Begriff des intuitiven Inhalts« und dem »Begriff der repräsentierenden (aufgefassten) Inhalts« [Hua. XIX/2, S. 4]. 16
172 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 12 Über die Abstufung der Phänomene
artikulieren kann. Mit dieser Unterscheidung verbindet sich die Idee einer Erfüllungsreihe der Bedeutungsintention durch die intuitive Gegebenheit. 18 Die Annahme der Allgemeinheit der Anschauung als Erfüllung – als Überschreitung eines naiven Intuitionismus – und der Möglichkeit, eine Topographie der Sach-Erfahrungen aufgrund ihrer Intuitivity Ladenness zu skizzieren, gibt uns die Möglichkeit, den intuitiven Gehalt der Frage zu beschreiben, bevor sie eine Antwort erhält, das heißt ihre wahre und eigene Erfüllung. In diesem Moment, in der Eröffnung einer möglichen Antwort, habe ich eine Vorbildung, die nicht eine Erfüllung repräsentiert, die aber als symbolisch-intuitiver Gehalt in die Bedeutungsintention einbezogen ist. Also haben in jedem Fall und besonders in den dynamischen Fällen der Erfüllung (in denen die Erfüllung nach einem Akt der Bedeutungsintention geschieht) die Bedeutungsintentionen, die von Mal zu Mal einen intuitiven Gehalt finden können, keinen intuitiven Inhalt, also keine wahre und eigene Erfüllung. 19 Wenn man – vollständig – diesen intuitiven (oder symbolisch-intuitiven) Gehalt als Repräsentation benennen kann, als Bild, das mit dem Akt der Bedeutung verbunden ist, kann man dieses »Bild« durch das saliente Zeichen identifizieren, »wo immer ihr Erfüllung zuteil wird, ihr als Bild erscheinender Gegenstand sich mit dem in erfüllendem Akte gegebenen Gegenstand durch Ähnlichkeit identifiziert«. 20 Diese fundamentale Behauptung lässt uns, ausgehend von der anschaulichen Lage der Frage, eine ideale Richtung des Erfüllungsprozesses skizzieren: von der anschaulichen Armut des Gefragten bis zu den Anschauungen, die den Gegenstand in seiner echten Erfüllung geben. An diesem Punkt scheinen die vollständige Leere intuitiven Gehalts und die genauso vollständige Fülle in irgendeiner Sach-Erfahrung (und nicht in einer reinen symbolischen Bedeutung) ideale Punkte, Asymptoten, die man niemals in einer gemeinsamen Erfahrung bemessen kann, zu sein. 21 Um diese intuitive Abstufung zu verstehen, muss man zurückkehren zur Unterscheidung von »darstellenden oder intuitiv repräsentierenden Inhalten«, zwischen »ana-
Ebd. »Stufenreihe der Intention und Erfüllung – Unterschiede größerer oder geringerer Mittelbarkeit in der Intention selbst«. 19 Ebd. S. 587–592. 20 Ebd. S. 587. 21 Ebd. S. 607. 18
173 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
logisierenden oder abbildenden« und »präsentierenden oder selbstdarstellenden«. 22 In der alltäglichen Erfahrung erfüllt sich die Bedeutungsintention des Gegenstands »Vase« schrittweise mit Wahrnehmungsinhalten, wenn ich um die Vase herumgehe und ihre Abschattungen zusammensetze. Auch in der einfachen, statischen Wahrnehmung einer einzelnen Seite der Vase, also der Vase, die ich in dieser Position sehe, ist die Bedeutungsintention »Vase« durch den ostensiven Inhalt dieses Gegenüberseins und einer imaginativen Integration anderer Seiten bestimmt. Man kann also drei allgemeine Fälle der Komplexität intuitiver Inhalte in der Dynamik der Erfüllung von Bedeutungsintention definieren: 1) Gegebenheit des perzeptivostensiven Inhalts und Abwesenheit jeglicher analogisierender oder rememorativer Komponenten; 2) Gegenwart von analogisierendem oder rememorativem Inhalt und Abwesenheit von perzeptiv-ostensivem Inhalt; 3) Aufbau von perzeptiv-ostensiven und rememorativanalogisierenden Inhalten. Wenn man also den perzeptiv-ostensiven Inhalt (reiner Wahrnehmungsinhalt) als wi symbolisiert und den analogisierend-rememorativen Inhalt (als intuitiv-integrativer bildlicher Inhalt) als bi, erhält man die Gleichung, dass für jede Erfüllung von Bedeutungsintention gilt: (wi + bi = i), die alle Variationen der zwei Typen von Komponenten von intuitiver Erfüllung abdeckt. Also wäre der Grenzfall der vollständigen Wahrnehmungsgegebenheit durch die Zugabe des Werts 1 an wi und des Werts 0 an bi beispielhaft dargestellt. Aber all das bringt uns zu einer allgemeinen Situation zurück, die den intuitiven Inhalt anerkennt, der in die Bedeutungsintention integriert ist, deren Erfüllung er konstituiert. Diese allgemeine Situation führt uns zu den Graden der Fülle und folglich zu einer Abstufung von Phänomenen, die von dieser Polarität beschrieben werden, »leere/gesättigte Gegebenheit«. Wenn es tatsächlich über den Aufbau zwischen perzeptiv-ostensivem und rememorativ-integrativem Inhalt hinaus eine Beziehung zwischen dem rein intuitiven Status und dem Bedeutungsstatus gibt, muss eine andere Beziehung angenommen werden, in der (wi + bi = i) enthalten ist. Wenn man das System der gegenständlichen Bestimmungen als ein Ganzes annimmt, kann man in jeder Sach-Erfahrung unabhängig von ihrem Grad eine andere Gleichung einführen. Wenn man e als vollen intuitiven Status (gebildet von wi und bi) und s als Bedeu22
Ebd. S. 609/10.
174 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 12 Über die Abstufung der Phänomene
tungsstatus definiert, kann man die folgende Gleichung einführen: (s + i = 1). Folglich, wenn man i immer als konstant betrachtet und folgert (i = wi + bi), kann man ein System von ausreichend elementaren Gleichungen definieren. Es ist also deutlich, dass die Asymptoten einer möglichen Sach-Erfahrung – gegeben die Gleichung (i + s = 1) – vielmehr die fast vollständige Entleerung von Anschauung oder sogar fast vollständige Entleerung der Komponenten der Bedeutung wären. Wenn man also die Anerkennung dieser Grenzfälle auf die vorigen Gleichungen anwendet, läge vor, dass die Grenzfälle der reinen Bedeutung entweder: 1. 2. 3.
mit wi → 0 und bi = 0; oder umgekehrt mit wi = 0 und bi → 0; oder sogar mit wi → 0 und bi → 0 wären,
aber in keinem Fall mit wr = 0 und br = 0, das sich mit dem reinen Bedeutungsakt verwirklicht, wo es dem Gelebten vollständig an realen Bedeutungen mangelt. Gleiches gilt im Grenzfall der reinen Anschauung. Aber in diesen formal korrekten Gleichungen gibt es eine Anomalie: Es gibt eine Gleichheit der logisch-quantitativen Behandlung zwischen den Typen mit Wahrnehmungsinhalt und mit imaginativintegrativem Inhalt. Man muss also mindestens zwei Fälle ausschließen: Den der Annäherung an die reine Bedeutung, in der wi → 0 und bi = 0, und den der Annäherung an die reine Anschauung, in der wi → 1 und bi → 0. Es bleiben folglich nur zwei Hypothesen, um die Grenzfälle der Erfüllung zu denken. Die erste ist der Fall der Annäherung an die volle Bedeutung: Es gibt einfach ein schwaches, fast unwahrnehmbares Bild als intuitiven Gehalt ohne jegliche wahrnehmbare Gegebenheit. Hier tendiert die Vorstellung dazu, einen einfachen Zeichen-Inhalt zu haben, und folglich tendiert die Vorstellung selbst dazu, keine Bestimmung seines Objekts, das seinen Inhalt zur ostensio bringen kann, zuzulassen. Die der reinen Bedeutung asymptotisch nahe Sach-Erfahrung hat einen ostensiven oder indirekten analogisierenden oder reproduktiven oder auch von einer formalen Anschauung gegebenen Charakter. Die zweite Hypothese ist der Fall einer Fülle von Anschauung: Es gäbe nur eine schwache, fast unwahrnehmbare Bedeutungsintention und eine fast absolute Fülle an ostensiver Anschauung. In der Erfahrung des rein intuitiv Gegebenen (oder asymptotisch der reinen 175 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
und exklusiven intuitiven Gegebenheit nahen) hat die Vorstellung keinen Zeichen-Inhalt oder tendiert dazu, keine Bedeutung, die auf eine Idealität zurückgeführt werden kann, zu haben. In ihr ist alles Fülle, in ihr gibt es keinen Bereich, keine Seite, keine Bestimmtheit ihres Objekts, die nicht intuitiv gegenwärtig wäre, die nicht nur direkterweise mit-gemeinte wäre. Wenn diese Korrespondenz der internen Zusammenhänge zwischen Anschauung und Bedeutung im Bereich »Evidenz« gegeben ist, stellt sich die Frage, wie man eine Abstufung der Phänomene nach der Polarität »leere/gesättigte Gegebenheit« festsetzen kann. 23 Es gibt bereits einen allgemeinen Begriff davon, was sich unterhalb und oberhalb dieser Abstufung befindet, obgleich es zu diesem Zeitpunkt keine nachträglichen Unterscheidungen in dieser Ordnung von Phänomenen gibt. Auf die niedrigste Ebene der Abstufungspolarität »leere/gesättigte Gegebenheit« muss notwendigerweise die Art der Phänomene oder der Erlebnisse gestellt werden, die sich als »Frage« kennzeichnen lassen. Es muss behauptet werden, dass die Frage als Sach-Erfahrung angenommen werden muss, also, in sich, als Erscheinung.
§ 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit als »Moment des radikalem Empirismus« Zwischen den beiden Extrema der Abstufung der Phänomene verbleiben aufgrund ihres Gehalts an Anschaulichkeit zahlreiche Korrespondenzen und sozusagen ein fast perfektes Spiegelungsverhältnis. Kommen wir zur dynamischen Sättigung zurück. In der dynamischen Sättigung folgen die Bedeutungsintention auf der einen Seite und ihre Erfüllung in einer Reihe, nach den variablen Modalitäten, aufeinander. Gemäß einer ersten Modalität liegt Bedeutungsintention vor und gibt sich keine erfüllende Intention, sondern einen mehr oder weniger schwachen integrativ-intuitiven Gehalt; gemäß einer zweiten Modalität liegt Bedeutungsintention vor und gibt sich erfüllende Anschauung (nach verschiedenen Graden der Sättigung oder der Angemessenheit). Gemäß einer dritten Modalität liegt als reine Gegebenheit Anschauung vor, wonach eine Bedeutungsintention beigemessen wird; gemäß einer vierten Modalität, spiegelbildlich zur reinen Bedeutung, die jeglichen intuitiven Gehalts entbehrt, gibt es 23
Vgl. J.-L. Marion, Etant donné, cit., S. 309–317.
176 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit
Anschauung, die Gegebenheit, ohne dass jegliche Bedeutungsintention beigemessen werden kann. Wir haben dann fünf Fälle: 1) reine Bedeutung ohne intuitiven Gehalt und ohne dynamische Erfüllung; 2) Bedeutung ausgestattet mit intuitivem Gehalt, der mehr oder weniger schwach ist (Bild, Erinnerung usw.); 3) Bedeutung und Erfüllung (sowohl statische als auch dynamische); 4) intuitive Gegebenheit und Zuschreibung einer Bedeutung; 5) intuitive Gegebenheit ohne Möglichkeit irgendwelcher Zuschreibung einer Bedeutung. Die erste führt uns zur ersten Gruppe der Phänomene, solche, die arm an Anschauung sind, die zweite und die dritte zur Gruppe der Phänomene des gemeinen Rechts 24 und die letzte zur Gruppe der gesättigten Phänomene. Die Sonderstellung der Grenzfälle beschreibt die Mitte der Abstufung der Phänomene und bestätigt, dass es ein System »normaler« Erscheinung gibt, das sich aufgrund einer intuitiven Erfüllung der Bedeutungsintention ausbreitet oder für eine intuitive, ursprüngliche Gegebenheit, mit der die relative Bedeutungsintention nach verschiedenen Spezifizierungsgraden verbunden werden kann. Es sind diese Extrema, die uns interessieren, um eine Definition dieser Topographie zu geben. In der Modalität des Ausdrucks von armen Phänomenen also, »il suffit quasiment à ce qui se montre en et à partir de soi de son seul concept ou, moins, de sa seule intelligibilité pour déjà se donner (certes dans l’abstraction vide de l’universel, sans contenu ni individuation)« 25. Obwohl es eine formale Anschauung für ein Problem oder eine einfache mathematische Gleichung oder einen sehr schwachen intuitiven Gehalt für eine Frage oder eine kategorische Anschauung in einer Beweisführung gibt, gibt es in jedem Fall keine leibhafte Gegebenheit der Anschauung im Sinne einer Wahrnehmung. Hier liegt eigentlich der seltsame – und sehr problematische – Charakter der formalen und mathematischen Anschauung so nah an der Bedeutung, so konstitutiverweise entfernt von der eigentlichen Effektivität der intuitiven Gegebenheit, die typisch für die Erscheinung ist. In jedem Fall entfernen sich beide, was auch immer es mit der formalen Anschauung auf sich hat oder mit der Art des Ausdrucks der Frage, von der typischen Individuation der »normalen« intuitiven Erfüllung als leibhafte Gegebenheit. Die »armen« Phäno-
24 25
Ebd. S. 309–314. Ebd. S. 310.
177 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
mene sind also der Möglichkeit, eine Erfüllung zu haben oder nicht, ausgesetzt, aber jedenfalls kann dieselbe Erfüllung nicht gemäß einer Tatsächlichkeit, einer Wirklichkeit folgend, gegeben sein. Es wird weder eine räumliche noch zeitliche noch perzeptive Individuation geben, es kann demnach niemals eine eigentliche sinnliche Konkretion (im Sinn einer hyletischen Schicht) geben. Die formale Anschauung des numerischen Werts einer Funktion bleibt, ebenso wie der intuitive Gehalt einer Frage, immer, wenn auch mit unterschiedlichem Maß an Evidenz, außerhalb der Tatsächlichkeit, aber doch konstitutiv für eine Sach-Erfahrung. Im Gegensatz dazu zeigt die Phänomenologie, die durch die Reduktion eine neue Form des »thaumazein« eröffnet, wie trügerisch die sogenannte »Fortschreibung der Erfahrung« hin zu gewöhnlichen Gegenständen ist. Dies bestätigt außerdem, dass die Notwendigkeit, dieses reduktive Schema zu überschreiten, die Präsenz – gezeigt nur dank und kraft der Reduktion – einer anderen Gattung von Phänomenen ist, der gesättigten Phänomene. Unsere Aufgabe wäre es, die Metaphysik zu überschreiten, indem die Phänomenalität in ihrer elastischen Ausdehnung gedacht wird, sich ausbreitend in einer und durch eine intime, essentielle, spekulative Beziehung zwischen dem absolut armen Phänomen und dem absolut gesättigten Phänomen. Um dies zu tun, müssen wir zunächst die gesättigten Phänomene tout court denken und zur zweiten Typologie der Phänomene des gemeinen Rechts zurückkehren: die Erscheinungen, in welchen eine schon gegebene Anschauung zu ihrer Bedeutung und zu ihrer eigenen Kategorisierung zurückgeführt wird. Wir können dies in den Urteilen der Identifikation bemerken: Dieses ist ein Tisch, dieses ein Stuhl etc. Es passiert uns oft, dass wir etwas als eine seltsame oder einfach unbekannte Form betrachten, um ihm danach eine Bedeutung zuzuschreiben, oftmals, indem wir ausgehend von Erfahrungen oder schon gelebten oder gesehenen Bedeutungen analogisieren. Im Ereignis des »gesättigten« Phänomens passiert das Gegenteil. Im Ereignis des gesättigten Phänomens kann keine Bedeutung und kein komplexes Bedeutungssystem der Gegebenheit, Inhalt der Sach-Erfahrung selbst, zugeschrieben werden – und es also erfassen. Doch wenn kein gesättigtes Phänomen von einer Bedeutung oder Bedeutungsintention eingeschlossen sein kann, wenn also überhaupt keine Gegebenheit, die in sich selbst ein gesättigtes Phänomen darstellt, als Erfüllung von etwas angesehen werden kann, hat sie überhaupt keine spezifische begriffliche Identität, sie hat keine Regel in ihrem Eintref178 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit
fen, es wird »das Paradigma des Phänomens als solches bis zu seiner Grenze variieren«. 26 Die gesättigten Phänomene – das heißt die Sach-Erfahrungen, in denen die Anschauung die Fähigkeit überschreitet, eine Gegebenheit durch ein Netzwerk von Bedeutungen (also von Idealitäten) zu fixieren – repräsentieren eine besondere Sach-Erfahrung. Durch die gesättigten Phänomene wird das eigene Erfahrungsfeld des Individuums angerufen, um sich kraft der Dynamik der Unmöglichkeit zu erweitern: Was unmöglich ist, ist eine Bedeutsamkeit zu dem, was man erfährt, hinzuzufügen. Man kann dieses Phänomen gut in der Öffnung selbst des Schauens/Sehens (und des Geschaut/Gesehenen) als »Horizont« ansiedeln. Was ist dieser Horizont, wenn nicht die reine Öffnung des Sehens und nichts Anderes? Gibt es eine Bedeutungsintention in diesem Horizont, wenn auch neutralisiert, die sich nur ausdrücken kann? Was gibt es an Bedeutungsintention, ebenso neutralisiert, in der Öffnung des Sehens auf sich selbst hin, das sich als Horizont manifestiert? Es gibt keinen Begriff des Gegenstands noch der Qualität noch der Beziehung noch des Modus noch, können wir anfügen, der Quantität, außer dem reinen und vollends partikularen Ausdruck »All dieses«, die reine Deixis, das (ästhetische) Moment des radikalen Empirismus. 27 Ausdrücke des Typs »all das ist maßlos«, »all das ist unendlich«, »all das ist wunderbar« sind nur Versuche, das absolut Un-Kategorisierbare zu kategorisieren, es zu Ebd. Diese Variation findet nicht in einer hermeneutischen Phänomenologie der Gabe (de la donation) statt, die alle Phänomenalität über den intuitiven (behaupteten) Überschuss einer Offenbarung regeln will, sondern in der kantischen Analytik des Erhabenen, sofern sie auch rein theoretisch (bzw. phänomenologisch) verstanden ist. Vgl. dazu M. Richir, L’expérience du Sublime, Le Magazine littéraire, 309: 35–37 und Variations sur le sublime et le soi, Grenoble, 2010. 27 Vgl. W. James, A World of pure experience. In Essays in Radical Empiricism, Cambridge (MA), 1976, S. 21–44, S. 36: »The instant field of the present is always experienced in its pure state, plain unqualified actuality, a simple that, as yet undifferentiated into thing and thought, and only virtually classifiable as objective fact or as some one’s opinion about fact«. Das Bewusstsein dieses reinen »Dies« als emotiver Zustand gibt die radikale Erfahrung des Mystischen ohne weitere theologische Annahmen. Siehe hierzu z. B. L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus. In Schriften, Frankfurt a. M., 1969, 6.45: »Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenzte – Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische«. Was ist die Welt, als begrenztes Ganzes angeschaut, wenn nicht der Horizont als Sach-Erfahrung in dem Erhabenen? Um die Verbindungen und die Natur dieser reinen Deixis zu verstehen, verweisen wir auf § 16 dieses Abschnitts und auf den gesamten folgenden Abschnitt. 26
179 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
einem Status gemeiner Erfahrung zurückzuführen, zu einem »gnôrimoteron pros êmas«, zu seinem gemeinen Recht, ein Ausdruck außerhalb des Allgemeinen, ein Ausdruck, der nichts Dingliches betrachten lässt, und auch nichts, das Qualität, Quantität, Verhältnis oder Modalität ausdrückt. Woher kommt also der Ausdruck »all dies«? Was kann er bedeuten? Wenn es überhaupt kein eigentliches Objekt zum Anzeigen gibt, was kann der reine deiktische Ausdruck »all dies« bedeuten? Es gibt eine Extension eines nicht kodierbaren Schauens, das nicht objektivierbar ist. Man kann den Beweis dafür erbringen, indem man den Horizont zu definieren sucht. Was ist der Horizont? 28 Eine geometrische Figur? Warum könnte er sich als gesättigt an Anschauung darbieten? Ist er ein physisches Phänomen? Warum also verstehen wir ihn nicht in seiner Wiederholbarkeit und nach den bereits kodierten Gesetzen? Ist er eine Sache? Ja und Nein. Nein, wenn wir darunter die Sachlichkeit als empirische Gegenständlichkeit verstehen, also als erkannt durch die Ausfüllung mit Bedeutungsintentionen wie »räumliche Sache«, »materiale Sache«, »Sache mit ihren Eigenschaften« etc. Er ist eine Sache in dem Sinne, dass er gesehen, intendiert werden kann wie ein »ti«, wie ein »etwas als Objekt Haben«, also im quasi-ontologischen Sinne dessen, Noema einer intentionalen Aktivität sein zu können. Aber all das verstärkt nur seine ganz bestimmte Natur und beweist vielleicht seine absolut paradoxale Natur. Zurzeit verfügen wir nicht über genügend Elemente, um den Grund dieser Natur zu verstehen, da wir immer noch bei den kognitiven Strukturen, die uns einfach die Natur der Erscheinung verstehen lassen, verbleiben – und uns noch daran halten wollen. Wenn der Horizont, als Öffnung des Sehens, etwas ist, jedoch kein Gegenstand in der strengen Begriffsbedeutung, wenn es keine Bedeutungsintention des Gegenstands gibt, die neutralisiert in und für ihren Ausdruck bleibt, klärt uns der Ausdruck »all dies« über diese paradoxale Natur auf – ohne sie uns zu erklären, auch vor und unabhängig von seinem Charakter reiner Deixis [infra § 16]. Der Geist vollzieht die Ostension von etwas, das aber keine Individuation hat, also eine reine Ostension von etwas, das sich zeigt, das aber nicht und niemals gegenständlich kategorisierbar ist. Was sich Für eine Darstellung der Idee des Horizonts in der Literatur, vgl. A. Koschorke, Geschichte des Horizonts: Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a. M., 1990.
28
180 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit
ausdrückt, ist frei von Identifikation, ist »all dies«, geschieht in der Sprache in und durch einen radikal zweideutigen Ausdruck. Was erscheint in und durch die Horizonterscheinung als Sach-Erfahrung? Es scheint, dass sich in und durch diese Erscheinung etwas so gefüllt an Anschauung gibt, dessen Blendung nur den Ausdruck »all dies« zulässt. Der Geist, im Ereignis der Öffnung des Horizonts, also der Öffnung des Sehens hin zu sich selbst, sucht irgendeine Zuschreibung von Bedeutungen, sucht in all seinen Erlebnissen eine mögliche Analogisierung, sucht in all seinem – semantischen – Ausdrucksvermögen eine Bedeutung, bleibt aber erfolglos darin, das, was ihm erscheint, zu verstehen. Der Geist verbleibt im Scheitern. Dass und wie der Horizont ein ganzes Phänomen ist, bezeugt das Faktum, dass er erscheint, dass ich den Horizont sehe und betrachte. Aber diese banale und naive Einführung des Horizonts als Erscheinung, als gesättigtes Phänomen und der Hinweis, dass er unter diese Charakterisierung fällt, verstecken nicht die Schwierigkeit, ein solches Phänomen zu verstehen, sein außerordentliches Wesen als gesättigtes Phänomen, sein Wesen, das dem Prinzip, das die Untersuchung als »Ich-Horizont« bestimmt, so nah ist. Je mehr man in der Analyse fortschreitet, desto mehr bemerkt man den außergewöhnlichen und möglicherweise paradoxalen Charakter dieses gesättigten Phänomens par excellence. 29 Zu diesem Zeitpunkt muss jedoch ganz einfach die Natur dieses gesättigten Phänomens par excellence gedacht werden und die Analyse seiner paradoxalen und zweischneidigen Natur beiseite gelassen und für den nächsten Abschnitt aufgespart werden. In der Horizonterfahrung, die Sach-Erfahrung ist, gibt es eine Bedeutung, die auf eine minimale Deixis »all dies« reduziert ist, eine an Idealität asymptotisch leere Bedeutung und eine asymptotisch volle Anschaulichkeit. Darüber hinaus gibt es in der Erfahrung des Horizonts kein »Ding«, das man nach der Form der noetisch-noematischen Erfahrung erfährt (diese Gegebenheit ist also in erster Linie »erfüllbar durch die in vorgezeichneten Reihen möglichen Wahrnehmungen« oder andere Erscheinungsmodi »neu auftretender Apparenzen«). 30 Es gibt keinen anschaulich erfüllten Ge-
Vgl. J.-L. Marion, Étant donné, cit., S. 325–335. Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913), Hua. XX/1, 2002, S. 363.
29 30
181 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
genstand der Erfahrung, doch alles ist anschaulich mit-gemeint ohne irgendeine leere, vorgezeichnete Möglichkeit.
§ 14. In Richtung des Extrems der »armen« Gegebenheit als Frage Wenn jedoch die Frage in sich, als Erscheinung, ein schwaches Phänomen ist, muss notwendigerweise eine Art von regionaler Ontologie der Frage aufgebaut werden, um in der Region »Frage« ein mögliches schwaches Phänomen par excellence zu individuieren. 31 Dies eröffnet uns die Möglichkeit, in den Konfigurationen der Frage eine Sach-Erfahrung zu suchen, die asymptotisch nah an der ganzen Anschauungsleere ist, eine ganz schwache Erscheinung, so schwach, dass sie die Textur selbst der Erscheinung in ihrer Gegebenheit zu verlieren scheint. Aber in und durch die Voraussetzung des Anschauungsmangels der Frage ist der einzige Weg, um einen Ausdruck in der Region »Frage« zu finden, das Gefragte zu fragen, sowie die Möglichkeit, dass der intuitive Gehalt, analog zum Gefragten selbst, asymptotisch schwach ist. In diesem Sinne führt die Struktur der Frage dazu, dass die Öffnung von Möglichkeiten so groß ist, dass die Frage niemals eine zufriedenstellende Antwort haben kann. Die Fragen, die keine Sättigung erhalten können, die Fragen, die ex definitione »offen« sind, sind die, unter denen die »armen« Phänomene par excellence gesucht werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt genügt uns die Unterscheidung zwischen den Fragen, die eine Antwort erhalten können, und den Fragen, die (ex principio) keine erhalten können. Es muss auch bemerkt werden, dass die Mehrzahl der Fragen sich in der Möglichkeit befinden, ihre Erfüllung dynamisch zu erhalten, also in der realen (und nicht vorgetäuschten) Möglichkeit, eine Antwort zu erhalten. Außer den außergewöhnlich armen Fragen – die wir »spekulative Fragen« nennen – können alle Fragen, im einen oder anderen Sinne, eine Antwort haben: Sie werden zu diesem Zweck gestellt. Gewöhnlich stellt man keine Frage ins Leere. Eine weitere sehr nützliche Unterscheidung ist auch die Unterscheidung der Frage nach der Strukturierung des GeVgl. E. Sperantia, Remarques sur les propositions interrogatives. Projet d’une »logique du problème«, Actes du Congrès International de Philosophie, Paris, 1936, S. 18–28; F. S. Cohen, What is a question, The Monist, 39, 1929: 350–364.
31
182 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 14 In Richtung des Extrems der »armen« Gegebenheit als Frage
fragten, eine Unterscheidung, welche die Mehrzahl der Fragen abdeckt und deshalb einen weiteren wichtigen Schlüssel bieten kann, um die regionale Ontologie der Frage zu skizzieren: Es wird also unterschieden zwischen einer interrogativen Frage und einer dubitativen Frage, je nach Einfachheit oder Strukturierung des Gefragten. Wenn ich frage »Wo ist mein Hut?« oder »Ist mein Hut in meinem Zimmer?« oder aber »Ist mein Hut in meinem Zimmer oder in der Küche?«, habe ich repräsentative Inhalte – gestützt auf gelegentliche Bedeutungen – und folglich habe ich eine andere Strukturierung meines Gefragten. In Anbetracht dessen, dass das Gefragte dasselbe ist, also das »Wo«, die räumliche Zuweisung meines Huts, verändert sich seine repräsentative Strukturierung. In der ersten Beschaffenheit ist die Frage rein interrogativ, weil es keine logisch-repräsentative Strukturierung in sich gibt: Hier ist der intuitive Gehalt des strikt Gefragten fast Null, außer für die Wiedererinnerung eines Huts, meines, dessen Zuweisung man abfragt. Im zweiten und dritten Beispiel ist die Frage dubitativ, weil es eine oder mehrere Repräsentationen des »Wo« des Huts gibt. Wenn es eine Antizipation der möglichen Sättigung gibt, liegt ein komplexerer (und reichhaltigerer) intuitiv-integrativer Gehalt vor, obgleich die Erfüllung, die in und durch die Antwort geschieht, seine vorbildende Gültigkeit gegenüberstellen und somit aufheben kann. Es kann eine fast identische Analyse für die zeitliche Frage entwickelt werden. Hier gilt, identischerweise, die Unterscheidung zwischen interrogativer und dubitativer Frage, außer dass das Gefragte eine temporale Variable statt einer räumlichen annimmt. Es handelt sich um Fragen, die typisch für eine Bestätigung einfacher Erfahrung sein können. Darauf folgend gibt es mathematische oder logische Probleme, deren intuitiver Gehalt (oder grundlegende Anschauung) analog der formalen Anschauungen für die einen und kategorial-logisch für die anderen wäre. Danach kann man sogar eine analoge, lediglich komplexere Möglichkeit der Artikulation finden, indem man sich noch in Richtung der faktischen Fragen wendet, das heißt die, welche die Interrogation oder den Zweifel an einer Sachlage betreffen. Wenn man zum Beispiel eine Frage der Art »Wie lang ist dieser Tisch?« stellt, hat man einen geringeren repräsentativen Gehalt als den derselben Frage, gestellt als dubitative Frage mit einer syntaktischen Strukturierung der Erfüllungsmöglichkeiten. 32 Man 32 Siehe hierzu Z. Harris, The Interrogative in a Syntactic Framework. In H. Hiz (Ed.), Questions, cit., S. 1–35.
183 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
ist, interrogativ oder dubitativ, fast in derselben Situation des Ausdrucks der örtlichen oder zeitlichen Frage. Die Sache wird erschwert durch die Fragestellung oder die Problematisierung eines Elements der gegenständlichen Vorstellung oder des Sachverhalts. Wenn ich beispielsweise die Frage »Wer hat Kennedy getötet?« formuliere, hätte ich [(x1) P (x2)] als bi-argumentales Prädikat, wobei x1, der Mörder, leer ist und x2, der Getötete, einen ebenso geringfügigen intuitiven Gehalt besitzt und folglich [(x1) P (a)] hat. Wenn ich im Gegensatz dazu mehrere Verdächtige hätte oder als Bewertung die physischen Faktoren, die einen Effekt bestimmen, einschätze, beispielsweise das Zusammenstürzen einer Brücke, hätte ich vereinfacht eine Frage der Form [(x1 _ x2 _ x3 … _ xn) P (a)] und auch umgekehrt [(a) P (x1 _ x2 _ x3 …_ xn)]. Man kann hier auch eine zeitliche oder örtliche Lokalisierung einschließen, jedoch nicht als Gefragtes. Für all diese Fragen – außer für die logischen oder mathematischen Probleme – gilt analog die Logik der Phänomene gemeinen Rechts. 33 Es handelt sich um arme Phänomene gemeinen Rechts, d. h. um Fragen, deren imaginativideative Konfiguration des Gefragten (der Körper des Gefragten) strikt durch die Vergegenwärtigung der Phänomene oder durch eine imaginative Variation der Vergegenwärtigung ergriffen ist. Diese Fragen können eine intuitive Erfüllung erhalten und das in der Form zweier Möglichkeiten: ein (mehr oder weniger vollständiger) Ersatz des intuitiven Gehalts mit der anschaulichen leibhaftigen Gegebenheit oder eine Antwort, die immer in der Bedeutungsdimension verbleibt und nicht das Gefragte oder einen Teil seiner noematischen Vorstellung ersetzt, sondern die einfache Setzungsmodalität derselben Vorstellung. Es gibt jedoch Fragen, die immer über die Möglichkeit der Sättigung verfügen, nicht im Sinne einer intuitiven Ausfüllung, sondern eher im Sinne einer Erfüllung, die mit eigenem intuitivem Gehalt in der reinen Bedeutung bleibt. Diese Fragen sind, durch ihre gleiche Möglichkeit, ärmer als die vorhergehenden und erlauben uns, eine Verbindung zwischen den Phänomenen, die beispielsweise arm an »gemeinem Recht« sind, und den armen Phänomenen par excellence einzuführen. Definitionsfragen oder Benennungsfragen sind beispielsweise weder jemals assimilierbar durch Fragen gemeinen Rechts noch durch logische oder mathematische Fragen (oder Probleme). Die Benennungsfragen und die Definitions33
J.-L. Marion, loc. cit.
184 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 14 In Richtung des Extrems der »armen« Gegebenheit als Frage
fragen verlaufen also auf der Ebene der reinen Bedeutung und ihre Ausfüllung kann folglich nur durch einen Ersatz (substitutio) des integrativen Gehalts gegeben sein. In und mit der Frage der Bezeichnung, obgleich in Gegenwart einer leibhaftigen Gegebenheit der Sache, gibt die deiktische Dynamik vor, dass einer Anschauung eine Bedeutung, eine Bedeutungsintention, hinzugefügt wird. Man kann die Definitionsfragen je von den Definitionen her, die sie erfragen, begreifen und die Art der Frage auf der Basis von nachgefragten Definitionen erhalten: Für eine Nachfrage mit lexikalischer Bestimmung hätte man eine lexikalische Frage, für eine Nachfrage der synthetischen oder explikativen Definition der Gegenstände hätte man eine explikative Frage etc. Man kann anfangen, die Fragen in lexikalische, semantische und axiomatische Fragen aufzuteilen. Die lexikalische Definition (A ist dasselbe wie B) führt dazu, Beziehungen der Synonymie zu etablieren, und in ihr sind ebenso das definiens wie das definiendum in suppositio materialis zu nehmen. 34 In der lexikalischen Definition gehören definiens und definiendum zu derselben semantischen Kategorie, sie sind beide Begriffe oder Propositionen. Für den Begriff genügt der Ausdruck der Definition »A ist dasselbe wie B«. Für die Sätze muss die Situation verdoppelt werden und somit muss »xP bedeutet dasselbe wie xB« oder aber »xP bedeutet dasselbe wie aP« vorliegen. Die semantische Defintion ist, entgegengesetzt zum Typ »A bedeutet p«, wesentlich eine Definition durch Bezug zur Bedeutung, in der a) das definiendum nach der suppositio materialis begriffen und ein Begriff ist, jedoch b) das definiens nach der suppositio ordinaria begriffen und ein Satz ist. Es gibt schließlich axiomatische Definitionen, die darin bestehen, die Verwendung von Worten in bestimmten semantischen Codes zu bestimmen, in bestimmten Theorien, deren expressiven oder deduktiven Sinn sie bereichern. In diesen Definitionen werden entweder das definiens oder das definiendum je nach der suppositio Die suppositio materialis besteht darin, dass jeder Ausdruck, gleichgültig ob er – in seiner normalen Bedeutung – ein kategorematischer oder synkategorematischer ist, danach als Name betrachtet wird, d. h., er benennt sich selbst als grammatische Erscheinung. Gegenteilig dazu besteht die suppositio ordinaria darin, dass der Ausdruck, für den sie konnotiert oder denotiert, je nach dem Fall der für die allgemeinen Begriffe oder Gegenstände angewandt wird. Es gibt auch ein analogon der suppositio materialis, dem es sich anzunähern gilt, wenn man sich grundlegender mit der neutralisierten Frage beschäftigt (vgl. E. Husserl, IV Logische Untersuchung, Hua. 19/1, S. 329–333).
34
185 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
ordinaria begriffen. Aber es gilt, weitere Unterscheidungen zu machen, zunächst die zwischen nominaler Definition und realer Definition. Nominal ist eine Definition, die keine Anspielung auf die Elemente ihrer Extension enthält. Es ist dennoch klar, dass sich sogar eine reale Definition, um ein Seiendes oder sogar konkrete Seiende zu bestimmen, nicht auf den Bezug zu ihnen selbst stützen kann, dass man solche Seiende also nicht vollständig in Bezug auf die Prädikate, die sie charakterisieren, definieren kann, sondern eine nicht-prädikative Komponente, eine Deixis, eine räumliche, zeitliche etc. Variable hinzugeben muss. Neben dieser Unterscheidung gibt es eine andere, ganz wesentliche, zwischen den analytischen (oder explikativen) Definitionen und den synthetischen (oder stipulativen) Definitionen. Die ersten antworten auf die Frage »Was bedeutet A?« in einem verstandenen Code, die zweiten antworten auf dieselbe Frage in einem gewissen System von Ausdrücken. In und mit Definitionsfragen, in reiner Abwesenheit der Anschauung – oder in ihrer Neutralisierung –, gibt man vor, dass einer reinen Bedeutungsintention eine Vorstellung zugeschrieben wird, deren intuitive Natur ein intuitiver Gehalt sein kann. Das kann an der Abfolge der zwei Fragen im Gespräch zwischen einem Vater und einem Sohn gesehen werden: »Was ist das?« »Das ist a.« »Und was ist a?«. Dennoch ist das, was uns in diesem Moment interessiert, das ganz besondere Wesen der Definitionsfrage, eine Frage, die – ex principio – ausschließlich interrogativ ist, weil man durch sie vorgibt, dass eine ausfüllende Vorstellung als integrativer Gehalt einer (leeren oder weniger klaren) Bedeutung gegeben ist. Was sie offenbar macht, ist nichts anderes als die notwendige Interaktion zwischen Intentionalität und einem Netzwerk an Bedeutungen, die – als Bedeutungshorizont – als Hintergrund fungieren. Mit dieser Frage tritt man in den Bereich theoretischer Fragen ein, da die Frage der Definition die Grenze zwischen den Fragen, welche die Möglichkeit der Erfüllung haben, und den Fragen, die dieser Möglichkeit entbehren, darstellt. Wenn in der ersten Klasse, neben Fragen des gemeinen Rechts, logische, physikalische, taxonomische und wissenschaftliche Probleme als Gattung (die inneren Fragen von Carnap 35) vorgefunden werden können, können in der zweiten Klasse die Fragen nach dem Absoluten außerhalb des Kontexts, metaphysische oder spekulative Fragen (aber nicht nur) vorgefunden werden. Es finden sich hier auch 35
Vgl. R. Carnap, Empiricism, Semantics and Ontology, cit.
186 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 15. Metatheoretische, metaphysische Fragen und die Frage nach dem »Ich«
die ganz einfachen theoretischen Fragen, die als Artikulation eine unendliche Hermeneutik ihrer Bedeutungsintention im Bereich der reinen Bedeutung vorgeben. Es finden sich hier, zwischen den letzteren, die metatheoretischen Fragen, Fragen, die man als »hybrid« definiert – und denen es sich thematisch im zweiten Bereich anzunähern gilt.
§ 15. Metatheoretische, metaphysische Fragen und die Frage nach dem »Ich« Im Horizont der epoché ist jede epistemische These aufgehoben. Was uns interessiert, ist also die eidetische Struktur dieser Fragen. Wenn sie nicht das Recht haben, das ihnen von den vielfältigsten philosophischen Theorien zugeschrieben wird, haben sie das Recht, zur Frage hinzugenommen zu werden, was ihren Status als Erscheinung betrifft. Denn es ist nicht möglich, die Metaphysik zu bestätigen oder zu negieren, 36 sondern nur auf eidetischer Ebene ihre Fragen, die sich sowohl für die regionale Ontologie der Frage als auch für die eidetische Beschreibung der Abstufung »armes/gesättigtes Phänomen« als zentral herausstellen, als Gegenstände anzusehen. Wenn die Fragen der Bezeichnung und der Definition sich schon im Bereich der Bedeutung und dessen intuitiven/integrativen Gehalts vollziehen, obgleich in der Möglichkeit, Erfüllung zu erhalten, und sie als arme Phänomene zu betrachten sind, wären die theoretischen Fragen noch ärmere Phänomene. Zum Beispiel haben hybride Fragen wie »Was ist die Mathematik?«, »Was ist die Physik?« oder »Was ist die Geschichte?« etc. ein Netz kultureller, epistemologischer und philosophischer Bedeutungen, einen (ganz speziellen) Horizont im Inneren dessen, worin ihr Ausdruck stattfinden kann. Aber je mehr man sich von einem kulturell oder philosophisch gut definierten Netz entfernt, also von einem semantischen Code oder einem gemeinsamen Horizont (die Mathematik und die Physik sind wie die Anthropologie noch im Schoß einer Praktik verwurzelt), desto mehr verliert die Frage ihre Textur (Rückstand der Anschauung). Während sie die Komplexität und die theoretische Allgemeinheit ihres Gegenstands erhöht, verliert die Frage, die ihn als ihr Gefragtes setzt, ihren residualen Charakter der Erscheinung. Von gleicher Art sind die metaphysischen Fragen, die als »Sach36
Vgl. Kap. XI, Protothesen und Immanenz.
187 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
Erfahrung« zu neutralisieren sind und die zu diesem Zeitpunkt als reiner flatus vocis angesehen werden müssen. Wenn die klassische Phänomenologie bereits die Ideen der »Seele«, »Welt«, »Gott« reduziert hatte, um sich den Horizont der »Sach-Erfahrung« zu verschaffen, 37 macht man im Inneren dieses Horizonts die Erfahrung gewisser Gegenständlichkeiten durch Fragen, die fast gar keine intuitive Grundlage vor ihrer möglichen Erfüllung haben können. Diese Fragen sind »metaphysische« Fragen, über welche sich die Metaphysik als System der Bestimmung des Ganzen präsentiert. Wenn man wirklich die Metaphysik überschreiten will (und auch jeden Anspruch, sie in neue Begriffe zu übersetzen), muss man die Fragen, welche die Begriffe der Metaphysik selbst in Frage stellen, einer eidetischen Sicht unterziehen. Es geht um Fragen (qua Nach-Fragen), deren Erfüllung als eine Zufriedenstellung betrachtet werden könnte: »Die hinweisende Kennzeichnung des Begriffes einer metaphysischen Grundstellung wird am besten vom Wort und Begriff ›metaphysisch‹ ausgehen. Damit ist solches genannt, was zur ›Metaphysik‹ gehört. Dieser Name bezeichnet seit Jahrhunderten den Umkreis derjenigen Fragen der Philosophie, in denen sie ihre eigentliche Aufgabe sieht«. 38 Die »metaphysischen« Fragen fallen unter das, was wir »spekulative Reduktion« nennen. 39 Das, was außerhalb dieser Reduktion verbleibt und was die Analysen der folgenden Kapitel beschäftigt, ist eine Art der Frage, eine sehr zweideutige Art der Frage, die nicht frei von allem intuitiven Gehalt ihres Gefragten ist – wie bei den metaphysischen Gegenständen –, aber bei der intuitive Gehalt so schwach ist, dass er »fast« inexistent erscheint. Jeder erfragt den (fragt nach dem) Sinn seines Inder-Welt-Seins, nicht in der Art der Frage »Was ist der Mensch?«, sondern »Was bin ich?«. Aber in dieser Frage steckt nicht nur die Frage einer einfachen logischen Definition. In der Frage »Was bin Ich?« findet auch eine (Nach-)Frage der Identität statt, in der Art der Frage »Wer bin Ich?«. Allem voran fragt das Individuum »Was/wer bin Ich?«. Bevor das Wesen und die spekulativen Folgen dieser Frage entwickelt werden, müssen wir sie aus eidetischer Perspektive analysieren, um zu sehen, wie sie – als arme Phänomene par excellence Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, §§ 56–58, S. 122–125. M. Heidegger, Nietzsche, I, cit., S. 403 [Das Wesen einer metaphysischen Grundstellung. Ihre Möglichkeit in der Geschichte der abendländischen Philosophie]. 39 Vgl. Kap. XIII, Mathesis und Struktur der Dekonstruktion. 37 38
188 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 15. Metatheoretische, metaphysische Fragen und die Frage nach dem »Ich«
– eine Art Paradoxon darstellen. Das Paradoxon besteht in der Tatsache, dass die Frage, die eine Sach-Erfahrung ist, gar keinen intuitiven Inhalt zeigt (noch zu zeigen scheint), weder als leibliche Gegebenheit noch als integrative Anschauung. In Anbetracht dessen, dass ein »anschauungsloses Reden überhaupt keine Rede mehr ist« 40 und folglich ein ganz anschauungsloser Ausdruck kein Ausdruck mehr ist, muss die Frage »Was/wer bin Ich?«, wenn auch in einer nicht wahrnehmbaren Art und Weise, anschaulichen Inhalt haben. Welches ist aber dieser Inhalt? Worauf ziele ich ab, wenn ich mein Ich befrage? In der und durch die eidetische Analyse der Frage »Was/wer bin Ich?« isoliere ich die Kette von noetischen, intentionalen Tatsachen, die sich in Richtung einer Sache wendet, deren Bedeutungs- oder Anschauungsinhalt ich nicht ersehen kann, also das Noema. Aber gleichzeitig kann ich so keine ergänzende Vorstellung, wie in der Frage »Was ist der Mensch?«, nutzen, die mich unmittelbar auf mein wahres und eigentliches Gefragtes verweisen kann. In dieser eidetischen Analyse entwickelt sich eigentlich der Widerspruch und manifestiert sich das eidetische Paradox einer Frage, eines Akts, dessen Sinn wir verstehen, aber in dem wir uns nicht eidetisch auf das Gefragte beziehen können: Das Gefragte ist noematisch da, aber ohne jegliche Konsistenz, und bleibt dennoch wie ein Gefragtes ohne jeglichen intuitiven Stoff. Wonach fragen wir in der wesentlichen/existentiellen Frage? Nach unserer Identität, unserem Namen, unserem Wesen oder eher nach nichts von all dem? Fragen wir nach nichts? Oder eher nach allem? Die Zirkularität bleibt hier von einer sehr deutlichen Art und Weise: Wir verstehen »etwas-wie-ein-Ich«, wonach wir, auf metatheoretischer Ebene, fragen: »Was ist … ?«. Allerdings entfaltet sich die Frage nicht auf metatheoretischer Ebene; sie könnte nie eine »philosophische« Frage (wie »Was ist das Ich?« oder »Was ist das Subjekt?«) sein. Die Frage ist jedem Fragenden sehr intim, so intim, dass sich die Frage selbst nicht auf den geschlossenen Bereich der theoretischen oder philosophischen Fragen des Typs »Was ist das Subjekt?«, »Was ist die Mathematik?« begrenzen lässt. Sie ist aber so nah der Quelle des intentional-noetischen Strahls, aufgrund dessen sie eine solche ist, dass das Individuum scheinbar keinen Begriff des Bezugs, keine Gegenständlichkeit erkennen kann, die den polarisierten Charakter der Intentionalität selbst (was man die originäre psychologische Distanz 40
Vgl. E. Husserl, Logik Vorlesung 1902–3, Hua. Materialen 2, 2001, S. 66.
189 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel II Logik und Phänomenologie des Fragens
nennt) der Frage aufzeigen kann. Gibt es in der Frage »Was/wer bin Ich?« nicht die psychologische Urdistanz, die jeden intentionalen Akt charakterisiert? Aber warum bleiben wir also in der Frage »Was/wer bin Ich?« im Bewusstsein und in der Sicherheit, etwas zu fragen und ein Gefragtes zu haben (wenn auch ein so Seltsames)? Der gesamte folgende Teil dieses Abschnitts wird der Entwicklung und der spekulativen Fixierung dieses Phänomens sowie seines Verhältnisses des extremen Gegensatzes zum gesättigten Phänomen par excellence gewidmet sein.
190 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Was als Ziel einer rückläufigen Suche erscheint, ist die Frage: »Was/ wer bin ich?« Diese Suche führt vom Erfahrungshorizont als völlig asymptotischer Erfahrung bis zu einer fast leeren Bedeutungsintention und so bis hin zum ärmsten anschaulichen Phänomen. Hier ist der intuitive Gehalt des Erfragten so gering, dass er verschwindet. Diese beiden Sach-Erfahrungen im Horizont, der die Reduktion eröffnet, befinden sich in einer fast perfekten Spekularität und in einer engen strukturellen Verbindung. Die Frage »Was/wer bin ich?« ist der Gegenstand struktureller Analysen, die eine wesentliche Verbindung zwischen dem Ich-Horizont und seinem Evidenzgehalt als Prinzip suchen.
§ 16. Die Frage als »transzendental-ursprüngliches Phänomen« Nach unseren Analysen stellt sich die Frage »Was/wer bin ich?« in der Mitte der Strukturprobleme eines Denkens der Erscheinung im weiteren Sinne. Indem wir die Topographie der Evidenz strukturieren (und indem wir sie a parte ante definieren), findet sich die Frage vollständig im Herzen des Problems, das das Denken als solches konstituiert, ausgelegt als psychologische Urdistanz. Wir definieren die Frage »Was/wer bin ich?« gewöhnlich als »psychologisches Urphänomen«: Eine solche Definition kann erstens als sinnlos und zweitens als quasi widersprüchlich erscheinen. Die Frage erscheint zuallererst als etwas Ursprüngliches, auf der Basis einer tatsächlichen Betrachtung, die aber ohne eine tiefere Analyse keinen Sinn hat. Man könnte im Prinzip sagen, dass die Frage in unserem »emotiven Leben« und unserer »Erfahrung« etwas Unfertiges, etwas Dunkles bleibt, wie ein blinder Fleck, den wir nicht jederzeit bewusst erfassen
191 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
können. 1 An zweiter Stelle manifestiert sie sich in einem Großteil der Fälle – das heißt der Fälle, die sie fordert – oder besser gesagt in dem Moment, in dem wir die überwältigende Erfahrung des Erhabenen machen, als verwirrende Öffnung des Ganzen, des »all dieses«, des »instant field of the present« 2 als Ganzes betrachtet. Der Moment des radikalen Empirismus ist der Moment des egologischen Skeptizismus und er tritt häufig, sogar fast immer, mit diesem verbunden und denselben widerspiegelnd auf. Die Frage könnte auf der Basis der Fakten also durchaus als etwas »Ursprüngliches« erscheinen. Auf jeden Fall muss man sich im Voraus über die Möglichkeit einer »ursprünglichen« Frage selbst unter all den anderen Fragen, die noch tiefer mit der »vollen Leere der Anschauung« verbunden sind, sicher sein. Was ist auf dieser Ebene eine ursprüngliche Frage? Zeigt die Unterordnung der Sach-Erfahrung unter eine Logik des Vorrangs (der Archi-Revelation bzw. des absolut gesättigten Phänomens oder jeder anderen ursprünglichen Form in der Weise eines Archi-x) nicht einen mit der Metaphysik identischen Gestus [infra § 79] – der darin besteht, eine Erstrangigkeit in einer Allgemeinheit einzufügen und die Horizontfähigkeit der Erfahrung als solcher aufzubrechen, um eine solch willkürliche Vertikalität zu suchen? Einen Vorrang in der Ursprünglichkeit zu suchen, wäre vergeblich, weil es keine Stufenfolge der Ursprünglichkeit in der Phänomenalität oder in der Klasse der Sach-Erfahrung als Frage geben kann. Die Behauptung der Möglichkeit einer ursprünglichen Frage erscheint also absolut unsinnig: Die Frage ist so ursprünglich wie jede andere Sach-Erfahrung. Die Frage ist ursprünglich als Phänomen, d. h. aufgrund ihrer »Faktizität« und gemäß der Modalität einer solchen »Faktizität« als Sach-Erfahrung. Das gilt ebenfalls für »das Transzendentale«. Es gibt kein »transzendentales Phänomen«, wenn wir das Transzendentale – so wie es sein sollte – als die strukturelle und nicht-ontologische Bedingungsmöglichkeit eines Phänomens als solches bezeichnen. Es gibt kein transzendentales Phänomen, nur weil es, gemäß den Formen der transzendentalen Egologie 3 immer Phänomene (oder gewisse Phänomene) gibt, die transcendentaliter Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, 1986, [55], S. 54. 2 Vgl. W. James, A World of pure experience, cit. 3 Vgl. E. Husserl, Erste Philosophie II, cit., Hua. 8, S. 173 fg. 1
192 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 16 Die Frage als »transzendental-ursprüngliches Phänomen«
konstituiert und den Bedingungen a priori untergeordnet sind. In diesem Sinne ist das »ursprünglich transzendentale Phänomen« wie ein doppeltes metaphysisches Paradoxon. Auf jeden Fall lässt die Definition keinen ontologischen Vorrang zu, sie lässt auch keine Ursprünglichkeit oder wichtige Transzendentalität zu, sondern einfach eine »metonymische« Vorrangstellung im Verhältnis zur Phänomenalität. 4 Das »psychologische Urphänomen« – weit davon entfernt, transzendentaler oder ursprünglicher zu sein – hat nur die Funktion, die Phänomenalität in ihrer transzendentalen Öffnung und in ihrer Ursprünglichkeit als solche zu zeigen. In der Situation einer metaphysischen Neutralität ist ein Phänomen als ursprünglich transzendentales zu betrachten, nur weil es uns ohne Fehlermöglichkeit die ursprünglich transzendentale Natur aller Phänomenalität jenseits irgendeiner Letztbegründung anzeigen kann. Das hinterfragte Phänomen ist ursprünglich und transzendental nicht kraft eines absoluten metaphysischen (oder meta-phänomenalen) Seins, sondern nur metonymisch bzw. meta-bedeutend: Hier ist die Stiftung der Phänomenalität konkretisiert, als transzendentale unüberwindliche Urdimension, als radikale Immanenz [infra § 104]. Die Immanenz der Erfahrung und der Ausschluss einer axiologischen Vertikalität oder einer Transversalität wird in und durch die Frage weder überschritten noch widerlegt, sondern bekräftigt. Das ursprünglich transzendentale Phänomen offenbart in seiner Spekularität mit dem Moment des radikalen Empirismus die Sache selbst der Erfahrung als horizontale
Die Benennung »Urphänomen« ist im Sinne Goethes zu verstehen. Vgl. J. W. Goethe, Farbenlehre. In Werke, Bd. 13. X [Dioptrische Farben], § 175, S. 376: »Das, was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. … Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen vollig geeignet sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald durch einem Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.« 4
193 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Struktur und stellt kaum die Sach-Erfahrung und die Erfahrung einer einzelnen Gegenständlichkeit heraus. Die Frage erscheint als nicht-metaphysisches Cogito, das uns hilft, die Reihe der Phänomenalität a parte ante in einer doppelten konstitutiven Spekularität zu definieren. Auf der einen Seite hilft uns das, das nicht-metaphysische Cogito in der Polarität des leeren und gesättigten Phänomens anzusetzen (wenn man so will, auch zwischen dem egologischen Skeptizismus und dem radikalen Empirismus). Auf der anderen Seite setzt dieses Cogito die fundamentale Spekularität zwischen derselben Polarität und dem Ich-Horizont als Struktur aller Sach-Erfahrung an. Jedoch hilft die Tatsache, dass wir die Frage »Was/wer bin ich?« auf niedrigster Ebene der phänomenalen Sättigung auf asymptotische Weise nahe der »vollen Leere« der Gegebenheit angesetzt haben, nicht, um die Natur der Konstitution jenes transzendentalen Urphänomens selbst zu bestimmen, außer dass sie vielleicht jene doppelte Spekularität formuliert, gemäß einem bisher unklaren Hinweis. Wir müssen nun diese paradoxale Gegebenheit der Frage fundamental betrachten und ihre notwendige Verbindung mit der Immanenz auf dem Gebiet der Phänomenalität selbst denken.
§ 17. Das Ich und die Deixis Bevor wir an die eidetische Analyse der Frage herangehen, müssen wir immer noch die Natur, die Bedeutung und die Darstellung des »Ich«, von dem wir das »was/wer« erfragen, klären. Wenn wir die Frage als asymptotisch nah an der reinen Bedeutung charakterisiert haben, als eine Bedeutung, die überdies ohne jegliche integrativ-erfüllende Anschauung erscheint, muss man in gleichem Maße den Vorstellungsgehalt dieser Bedeutung prüfen und im Vorfeld untersuchen, ob sie tatsächlich eine Bedeutung ist oder nicht. Zunächst ist das »Ich« ein extrem untypisches Deiktisches 5, es scheint so, als würde es die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Anzeige, die wesentlich für eine (phänomenologische) Theorie der Bedeutung ist, aufheben. Diese eröffnet sich durch den Unterschied zwischen Zeichen und Bedeutung: Das Zeichen ist notwendigerweise Zeichen von Vgl. K. Mulligan – B. Smith, A Husserlian Theory of indexicality, Grazer Philosophische Studien, 28, 1986: 133–163 (insbesondere §§ 8–10).
5
194 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 17. Das Ich und die Deixis
etwas. Das Bezeichnen selbst darf »nicht immer als jenes ›Bedeuten‹ gelten […], welches die Ausdrücke charakterisiert«, dass also »jedes Zeichen eine Bedeutung hat« oder »einen Sinn, der mit dem ›Zeichen‹ ausgedrückt ist«. 6 Es gibt Zeichen als Anzeigen, die nicht wirklich etwas im Sinne der Verbindung zwischen Ausdruck und logischer Idealität bedeuten, und somit ist »das Bedeuten nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige«. 7 Jedes Auftreten des »Ich« (deiktisch gebraucht) bringt ein Problem für jene Bedeutungslehre, die das Verhältnis zwischen jedem Ausdruck und seiner logischen Idealität behauptet. Das Wesen der Zeichen besteht darin, dass in ihnen »irgendwelche Gegenstände oder Sachverhalte, von deren Bestand jemand aktuelle Kenntnis hat, ihm den Bestand gewisser anderer Gegenstände oder Sachverhalte in dem Sinne (scil. der Bedeutung) anzeigen«. Folglich wird »die Überzeugung von dem Sein der einen von ihm als Motiv (und zwar als ein nichteinsichtiges Motiv) erlebt, für die Überzeugung oder Vermutung vom Sein der anderen«. 8 Wenn diese Teilung erst einmal etabliert ist, erscheinen wesentlich okkasionelle Ausdrücke, 9 welche die Unterscheidung in eine Krise stürzen, die »auf den augenblicklichen Inhalt der Kundgebung eine nennende Beziehung haben« und folglich auch mit den Ausdrücken, »deren Bedeutung von Fall zu Fall wechselt«, aber nicht im Sinne einer Doppelnutzung der Idealität (wie zum Beispiel beim Wort »Hund«, das einmal das Tier bedeutet und einmal den Minenwagen). Diese deiktischen Ausdrücke – denen das »Ich« eine atypische Instanziierung ist – scheinen unsere Überzeugung von Idealität und der Gegenständlichkeit der Bedeutung zu erschüttern, weil sich nur »im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände der Äußerung, […] hier […] eine bestimmte unter den zusammengehörigen Bedeutungen überhaupt konstituieren« 10 kann. Das Vorkommen eines wesentlich okkasionellen Ausdrucks scheint die Unmöglichkeit zu beweisen, eine vom Bedeutungsakt selbst und seinem Sinnzusammenhang unabhängige Bedeutung zu haben. Was ist der richtige wesentlich okkasionelle Ausdruck, wenn nicht eine Bedeutung, die zwangsläufig den Bedeutungsakt und sei-
E. Husserl, I Logische Untersuchung, cit., Hua. 19/1, S. 30 ff. Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. S. 87. 10 Ebd. S. 81. 6 7
195 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
nen Sinnzusammenhang erwidert? Bedeutet der Beweis der Möglichkeit solcher Ausdrücke nicht, die Abhängigkeit von der Bedeutung ihres tragenden Aktes wiederherzustellen, also die faktische Subjektivität des Ausdrucks? Wenn das Zeichen als Anzeige durch den Verweis auf eine pragmatische Situation charakterisiert wird, sieht man, dass die Unterscheidung zwischen Anzeige und Bedeutung, kraft der Existenz der Deixis, geschwächt werden soll. Und gleichzeitig scheint auch die fundamentale Unterscheidung zwischen Kundgabe der Bedeutung und innerer Sprache aufgelöst zu werden. Die deiktischen Elemente scheinen die Unterscheidung zwischen Aussage und Ausgesagtem niederzuschmettern. Das ist so oder scheint so, im Fall des Wortes »ich«: »Das Wort ›Ich‹ nennt von Fall zu Fall eine andere Person, und es tut dies mittels immer neuer Bedeutung.« 11 »Welches jeweilig seine Bedeutung ist, kann nur aus der lebendigen Rede und den zu ihr gehörenden, anschaulichen Umständen entnommen werden.« 12 Das, was jedes Mal seine Bedeutung konstituiert, kann nur aus dem lebendigen Diskurs und den intuitiven Gegebenheiten stammen, die daran teilhaben. Muss man dann also beweisen, dass in Abwesenheit der Anschauung der Ausdruck »Ich« sinnlos ist, wie in der Frage »Was/wer bin ich?«? Nein. Wenn ich das Wort »ich« richtig verstehe, darf ich nicht zwangsläufig eine Selbst-Anschauung haben, sondern es genügt, dass ich dadurch eine Art Selbst-Bezeichnung verstehe. Wenn ich jedoch »Ich« sage, brauche ich keinen ersetzbaren oder austauschbaren Begriff mehr: »Wir wissen, dass es ein Wort ist, und zwar ein Wort, mit dem der jeweilig Redende sich selbst bezeichnet. Aber die so angeregte begriffliche Vorstellung ist nicht die Bedeutung des Wortes ›Ich‹«. 13 Das Wort »Ich« bedeutet also: »Der jeweilig Redende, der sich selbst bezeichnet«. Aber »offenbar würde die Substitution nicht bloß zu ungewohnten, sondern zu bedeutungsverschiedenen Ausdrücken führen«. 14 Wenn also die begriffliche Darstellung nicht die wahre Bedeutung des Wortes »Ich« ist – denn ein Ersatz des »Ich« durch ein Syntagma führt zu Aussagen, die vielleicht den gleichen Wahrheitsgehalt, aber einen Bedeutungsunterschied haben –, stellt sich die Frage, was dies im Ausdruck des »Ich« ausmacht. Das, was wir hier 11 12 13 14
Ebd. Ebd. Ebd. S. 87/88. Ebd. S. 88.
196 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 17. Das Ich und die Deixis
suchen, ist keine »Erklärung« des Wortes »Ich«, sondern seine »Bedeutung« oder besser »seine allgemeine Bedeutungsfunktion«: »Es ist die allgemeine Bedeutungsfunktion des Wortes »Ich«, den jeweilig Redenden zu bezeichnen, aber der Begriff, durch den wir diese Funktion ausdrücken, ist nicht der Begriff, der unmittelbar und selbst seine Bedeutung ausmacht«. 15 Wenn es einen Unterschied zwischen der Bedeutung und der Bedeutungsfunktion des Wortes »Ich« gibt, ist es diese Funktion, die die Bedeutung in der unmittelbaren Wahrnehmung, die wir von der Persönlichkeit »Ich« auf »universell effiziente« Weise haben, vervollständigen muss. 16 Doch welche Funktion des Anzeigens kann eine Anzeige haben, die sich nicht auf die Anschauung bezieht, die also nicht die Anschauung eines Sachverhalts voraussetzt, um ihren Charakter zu haben? Was bedeutet überdies »der Teil des universell-effizienten Anzeigens«? Es scheint, dass die Bedeutung des Wortes »Ich« sich als Figur der eigenen Erfahrung hervorhebt, aber gleichzeitig scheint durch die Reduktion und die Figur der eigenen Erfahrung die Bedeutung nicht mehr als eine mythische Figur zu sein. Das Wort »Ich« liegt nicht in einer Handlung, durch die ich mich selbst darstelle, direkt als mich selbst: Wir haben keine direkte Darstellung von uns als uns selbst. Der Teil des universell-effizienten Anzeigens tut hier nichts, als auf seine eigene Weise das Wort »Ich« einzuführen, und es konstituiert sich Mal für Mal einzeln in jeder Erfahrung. Doch scheint das nicht den ganzen Bedeutungscharakter des Wortes »Ich« weniger zu entschlüsseln als ihn vielmehr zu verstärken? Welche Garantie kann der Ausdruck der Selbsterfahrung in der ersten Person für die Bedeutung des Wortes »Ich« darstellen? Fallen wir nicht »schleichend« in eine Auflösung der Unterscheidung zwischen Anzeige, Bedeutung und Kundgabe zurück? Wir können diese Bedrohung nur überwinden, wenn wir uns über die Bedeutungsfunktion im Fall des Wortes »Ich« und über die Konfiguration der Logik der Deixis befragen. Wenn es stimmt, dass die Bedeutungsfunktion sich schleichend der Bezeichnungsfunktion nähert, kann sie ihre Eigenheit und ihre Bedeutungsidentität behalten, wenn sie keinen Sachverhalt anzeigt. Was zeigt die Bedeutungsfunktion sonst an? Was ist das Bezeichnete des Wortes »Ich«? Das Bezeichnete ist hier sicherlich ein 15 16
Ebd. Ebd. S. 88.
197 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Bedeutungskomplement des Wortes »Ich«, welches sich für sich selbst als ungenügend und mit einer unvollständigen Bedeutung ausgestattet herausstellt. Das »Sich-selbst-Meinen« genügt nicht, um eine ganze und vollständige Bedeutung des Wortes »Ich« abzugeben. Das Komplement muss zwangsläufig einen Bezug zur individuell-direkten Darstellung des sprechenden Individuums geben. Gehört diese Darstellung »auf eine gewisse Art zur Bedeutung des Wortes«? 17 Wir müssen sehr wohl zugeben, dass hier in einer gewissen Form zwei verschiedene Bedeutungen übereinanderliegen. Eine davon betrifft die universelle Funktion und ist mit diesem Wort auf eine solche Weise verbunden, dass sich eine Vorfunktion in der tatsächlichen Vorstellung verwirklichen kann. Diese Vorfunktion profitiert ihrerseits von der einen oder anderen Vorstellung, nämlich der einzelnen Vorstellung, und charakterisiert gemeinsam ihren Gegenstand über die Weise der Subsumption als das, was hic et nunc sichtbar ist. Wir können folglich die erste dieser Bedeutungen als ihre Vorbedeutung und die zweite als indizierte Bedeutung bestimmen. Im Rahmen der deiktischen Ausdrücke und vor allem im Rahmen der Deixis funktioniert die universelle, aber unvollständige Bedeutung »Ich« als Anzeige für eine andere Bedeutung. Die Bedeutungsfunktion des Wortes »Ich« ist also verweisend, weil sie die Konstruktion selbst der vollständigen Bedeutung erlaubt und ihre Komplementierung angibt. Die Funktion, die wir dem »Ich« zuschreiben, ist also eine Anzeigefunktion, jedoch eine Funktion der Anzeige von anderen Bedeutungen, welche die Weise anzeigt, die konkrete Bedeutung zu konstruieren und zu ergänzen, die das Wort bei Gelegenheit annehmen wird. Die Bedeutung kann sich durch eine oder mehrere andere Bedeutungen »konstruieren«. Das »Ich« als Ausdruck ist folglich ein voll bedeutsames Phänomen, dessen intuitive Erfüllung nur kraft vollständiger oder teilweiser Erfüllung der angezeigten Bedeutungen gegeben sein kann. Die Bedeutung des Wortes »Ich« kann also in keiner Weise durch eine allgemeine Bestimmungsregelung des »Was« des Ichs als logische Bestimmung gegeben sein noch durch die aufeinanderfolgende Darstellung aller möglichen Ich, die in den Anschauungen gegeben sein müssen. Der Anzeigecharakter ist hier radikal unterschiedlich: Die Anzeige – als zu erwidernde reine Dimension – charakterisiert sich durch die Hinweisung; eine Hinweisung also, die ich selbst verwirkliche und nicht 17
Ebd.
198 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 18. Das »Ich« und die gegenstandslose Vorstellung
einfach nur darstelle und die sich mir nicht als das Dargestellte gibt. In der Deixis des Wortes »Ich« ist die Bedeutungsintention geteilt und verdoppelt oder besser gesagt als doppelt-intentionale Richtung artikuliert. Einerseits gibt es das Wort als Vorbedeutung und auf der anderen Seite gibt es die Bedeutung oder den Bedeutungskomplex der indizierten Bedeutungen mit ihren möglichen, erfüllenden Anschauungen. 18 Es gibt also eine Art Rückbestimmung als absolut zentrales Phänomen. Gemäß dieser Bestimmung – sei sie möglich oder nicht – bestimmt die eventuelle Bezeichnung des Selbst rückwirkend den Sinn der Meinung: Die Bedeutung antizipiert sich selbst, sie antizipiert in einem unüberschaubaren Verweisphänomen der (bestimmten) Bedeutung und der Bedeutung (diejenige, die es zu bestimmen gilt) in der Konstitution des eigenen Sinns der Deixis. Wenn also der Bedeutungsbestand des Wortes »Ich« die Hinweisung auf die festgelegte Bedeutung durch die indizierende Bedeutung ist, ist es keine Frage der Anschauung von etwas, das das »Ich« direkt auffassen kann. In diesem Sinne gibt sich nie eine »Anschauung«, die direkt die Bedeutung erfüllt. Es kann lediglich eine Anschauung als Bedeutungserfüllung geben, die rückwirkend die festgelegte Bedeutung bestimmt. Das alles liefert uns, jenseits des Beweises unserer Analyse über die (anschauliche) Armut des Phänomens der Frage »Was/wer bin ich?«, Ergebnisse, die wir im Folgenden radikal entwickeln müssen. Wenn jedoch die Bedeutung des Wortes »Ich« nur rückwirkend bestimmbar, und, ex definitione, ohne eine erfüllende Anschauung ist, ist sie dann nicht eine »leere Vorstellung«?
§ 18. Das »Ich« und die gegenstandslose Vorstellung Wenn die logisch-semantische Struktur des »Ich« sich so verhält, als wäre sie ein kontextueller Funktor, der den Horizont der möglichen Erfüllungen der angegebenen Bedeutungen offen lässt, wenn das »Ich« weder etwas Ontologisches noch etwas Transzendentales im Sinne aller Egologie ist, muss man begreifen, was seine Funktion in der Frage ist. Die Frage erscheint logisch paradoxal. Ihr erster paradoxaler Aspekt ist die Tatsache, dass sie sich in der völligen Immanenz der Phänomenalität platziert. Wie kann man in der Tat ein anschau18 Vgl. J. Benoist, Entre acte et sens. La théorie phénoménologique de la signification, Paris, 2002, S. 217.
199 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
lich leeres – oder ein auf asymptotische Weise der Anschauungsleere nahes – Phänomen der Phänomenalität in der völligen Immanenz der Phänomenalität selbst denken? Diese paradoxale Natur zeigt sich schon von der Tatsache her, dass die Frage selbst, aus keinerlei anthropologischem Schema abgeleitet, ein derart ursprüngliches Phänomen ist, welches – a parte ante – den Maßstab der Phänomenalität definiert. Von hier beziehen wir uns auf ihre zweite paradoxale Natur: Dieses ursprüngliche Phänomen – in der Immanenz der Phänomenalität gedacht – ist auch und notwendigerweise transzendental. Diese paradoxale Natur hat sich auch durch die interrogative Beziehung zum »Ich« in die Form »Was/wer bin ich?« gesteigert, wo sich eine radikale Trennung zwischen der Bedeutung und dem sinngebenden Deixis-Horizont entwickelt. Diese erwähnte Trennung realisiert sich gleichzeitig nach den zwei Bedeutungen der »leeren Vorstellung«: 1) ein »Ich« als eine Art Widersinn; 2) ein leeres »Ich« als ein Kern, der von einem Hof voller intuitiver Vorstellungen umgeben ist (Umkehrung des zweiten Sinns der »gegenstandslosen Vorstellung«). 19 Das »Ich«, als spezielle Deklination der privaten Deixis einer aktuellen Hinweisung, ist eine leere Vorstellung.
§ 19. Die Zweideutigkeit der Frage Jenseits der Unmöglichkeit, die Frage aus der metaphysischen Frage über den Menschen abzuleiten, jenseits also der Möglichkeit, sie von einer schon kategorisierten Form der Frage abzuleiten, verfügen wir noch über einfache Vermutungen über die Tatsache, dass das Syntagma »transzendentales Ur-Phänomen« eine positive Bedeutung hat, einen eigenen spekulativen und nicht widersprüchlichen Sinn. Immer in rein immanenter Anschauung verbleibend, wissen wir einfach nur, dass das Verhältnis zwischen der Frage und der Frage »Was ist der Mensch?« 20 nicht als ein Abhängigkeitsverhältnis gedacht werden kann. Im Grunde genommen weiß man, dass die Frage aus sich selbst heraus besteht und das vor und unabhängig von der Frage über den Menschen. Wenn es dennoch ein Verhältnis zwischen diesen beiden 19 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, cit., §§ 33–34, S. 141–147. 20 Vgl. I. Kant, Logik. In Kants Gesammelte Schriften, Bd. IX, S. 25.
200 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 19. Die Zweideutigkeit der Frage
gibt, so gibt es einen Unterschied, der auf den nicht vollkommen identischen Charakteristika der beiden Phänomene gründet. Wir müssen diesen Unterschied also denken, um zu sehen, ob es zumindest eine umgekehrte Abhängigkeit zwischen den beiden Phänomenen gibt. Der Mensch als Begriff ist schon etwas Reicheres, etwas, das – selbst verhältnismäßig – voller an Bedeutung ist als das durch die Frage von seinem Horizont, seinem deiktischen Netz losgelöste »Ich«. Der erste Unterschied zeigt sich bereits als entscheidend, weil man einerseits das Interesse an der absoluten Singularität und andererseits an dem Begriff der Person selbst (als Wesen des Menschen) hat. 21 Derjenige, der »Was/wer bin ich?« fragt, fragt nicht nach dem Wesen des Selbst als Person, als Mensch, sondern nach etwas Intimerem, Versteckterem, dem metaphysischen Intellektualismus der wesentlichen Frage Entwendetem. Die Frage liegt außerhalb der Dynamik der bloßen (selbst philosophischen) Klärung eines Begriffs oder einer Bedeutung, von der man ein Vorverständnis hat bzw. haben kann. Die Frage ist radikaler, drängt sich durch einen Selbstausschluss des Horizonts der anthropologischen Fragestellung auf, drängt sich durch einen radikalen Ausschluss jeder »kosmischen« Nuance, jeder wahlverwandtschaftlichen Faszination des Begriffs »Mensch« auf. Aufgrund dieses Selbstausschlusses entspricht die Äußerung der Frage nicht der Frage, welche der Gefragte (und der Fragende) in seiner schon konzeptualisierten Deklination übernimmt. Die Frage über den Menschen ist durch die Divergenz zwischen der ursprünglichen Äußerung der Frage als solcher, und dem notwendigerweise aus dem Erfragten abgeleiteten Charakter ins Abseits gedrängt worden, welcher – gut sichtbar – nicht der Fragende ist, sondern eine Konzeptualisierung dessen, von dem man behauptet, es wäre der Fragende. Der Fragende als solcher überschreitet das Erfragte der wesentlichen Frage, er lässt sich nicht in einer anthropologischen Begriffsbildung erfassen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen findet sich also auf halbem Weg zwischen dem alltäglichen Charakter der Frage – und auch der zwei anderen metaphysischen Fragen [infra §§ 125–126] –, nach welchem eine (wenn auch unmerkliche) Alterität zwischen dem Fragenden und dem Befragten besteht, und dem Charakter der Frage Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. In Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern, 1980, S. 382–383.
21
201 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
als ursprünglich transzendentalem Phänomen, wo diese Alterität verschwindet oder zu verschwinden scheint. Wenn man durch die »wesentliche« Frage den Sinn »Mensch« des Fragenden erfragt, so kann durch die Frage »Was/wer bin ich?« lediglich der Sinn einer Existenz in Frage gestellt werden, also der Sinn von allem, das Sinn haben kann, als ins Verhältnis mit demjenigen gesetzt, der fragt, und dem, was gefragt wird. Die tiefen Ratlosigkeiten werden hervorgehoben, weil sich die Frage schon an sich in einer »zweideutigen« Form gibt: Das »Was« und das »Wer« des »Ich« werden gleichzeitig erfragt. Zu fragen »Was bin ich?« oder »Wer bin ich?« ist natürlicherweise nicht das Gleiche. Die Zweideutigkeit der Form der Frage »Was/wer bin ich?« bezeugt, dass es schon in ihrem Ereignis, ihrer intimeren und leereren Form, eine wesentliche Spekularität zwischen dem Sinn einer Gegenständlichkeit, einem Was-Sein, einem Wesen und dem Sinn einer lebendigen Identität, einem Wer-Sein, einer Wer-heit, gibt. 22 Die Frage scheint in Wahrheit »zwei Fragen gleichzeitig« zu sein, oder, besser, eine doppelte Frage, in und durch welche sich die Frage an sich durch eine Sinnentzweiung selbst aufteilt 23. Das wahre Erfragte ist nicht das »Ich«. Man kann das »Ich« an sich nicht, als ob das »Ich« gegeben wäre, sondern muss gemäß einer Spekularität erfragen, einer unüberwindbaren Zweideutigkeit der Modalität, nach Vgl. M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, Frankfurt a. M., 1975, S. 169/170. 23 Schon Augustinus hat diese doppelte Befragungsmöglichkeit (nicht als konstitutive Zweideutligkeit) anerkannt. Diese partielle Anerkennung könnte auf diese Weise zu der bekannten theologischen Darstellung führen. Vgl. Augustinus Hipponiensis, Confessiones, X, 6.9: »Interrogatio mea, intentio mea; et responsio eorum, species eorum. Et direxi me ad me et dixi mihi: ›Tu quis es?‹. Et respondi: ›Homo‹. Et ecce corpus et anima in me mihi praesto sunt, unum exterius et alterum interius. Quid horum est, unde quaerere debui Deum meum, quem iam quaesiveram per corpus a terra usque ad caelum, quousque potui mittere nuntios radios oculorum meorum? Sed melius quod interius«. Warum »melius quod interius?« Was passiert wenn es keinen Gott gibt als denjenigen, dem die zweite Frage gestellt wird? Siehe hierzu H. Arendt, The human condition, Chicago, 1998 (II Ed.), S. 11 Fn.: »The question about the nature of man is no less a theological question than the question about the nature of God; both can be settled only within the framework of a divinely revealed answer.« Daraus folgt, dass: »The problem of human nature, the Augustinian ›quaestio mihi factus sum‹ (›a question have I become for myself‹), seems unanswerable in both its individual psychological sense and in its general philosophical sense«, eben genau weil es sich um eine zweideutige Frage handelt. Das, was die zwei Sinne der Frage trennt, ist genau und nicht zufällig das, was die zwei Formen des Spekulativs jeder Schau trennt, die theologische Voraussetzung einer Offenbarung der Wahrheit. 22
202 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 19. Die Zweideutigkeit der Frage
welcher das Erfragte sich in der Frage gibt, ein Was-Sein und – gleichzeitig – ein Wer-Sein des »Ich« fragen. 24 Die strukturelle Situation der Frage findet eine andere Komplikation. Das Subjekt der Frage, der Fragende, kann nichts anderes tun, als sein Erfragtes, den Gegenstand der Frage, gemäß zweier unterschiedlicher Sinne zu erfragen. Auf die gleiche Weise gibt sich das Gefragte in der Frage dem Fragenden in der Form zweier unterschiedlicher objektiver noematischer Intentionen: die Intention der Bedeutung einer lebendigen Identität und die Intention der Bedeutung einer (wenn auch essentiellen) Vergegenständlichung. Deshalb kann man von einem nicht-metaphysischen cogito im Sinne eines plötzlichen Auftauchens der Aporie des Syntagmas »res cogitans« sprechen. Aber das fundamentum inconcussum 25 ist einfach nur deswegen nicht inconcussum, weil es nicht fundamentum ist. 26 Die Ursprünglichkeit der Frage ist nicht der Charakter des fundamentum, sondern der – diesem absolut entgegengesetzte – Charakter der Aporie: ein asymptotisch armes Phänomen, der Phänomenalität immanent, in dem sich eine irreduzible Zweideutigkeit des Verhältnisses zwischen dem Gefragten und dem Fragenden zeigt. Die Unmöglichkeit des Fragenden, eine dieser zwei Bedeutungen der Frage auf die andere zu reduzieren, zeigt sich in der klaren Unmöglichkeit der Univozität der Frage, sei es durch eine vorhergehende Entscheidung des Fragenden oder durch die Zuschreibung eines Vorrangs einer der beiden Bedeutungen der Frage durch das Gefragte selbst. Es gibt also einen doppelten Sinn der Frage, zwei Sinne, die nicht – wie es bei den anderen Formen der zweideutigen Fragen möglich ist – auf die jeweils andere reduziert werden können: zwei irreduzible Sinne, also eine irreduzible Zweideutigkeit. Wenn es sich derart verhält, so zeigt sich dieses Paradoxon unverzüglich, genau durch die Notwendigkeit, Strukturen, welche uns dieses »Paradoxon« charakterisieren lassen, zu denken und zu definieren. Vgl. M. Heidegger, Beiträge zu Philosophie. Vom Ereignis, GA 65, Frankfurt a. M., 1989, S. 48. 25 Die Ausdrücke »fundamentum inconcussum« und »fundamentum absolutum« erschienen niemals bei Descartes, aber bei Heidegger in Beziehung zur Figur des cogito: SZ, § 6, S. 24; GA 5, S. 129, S. 151; GA 6.2, S. 393; GA 10, S. 18; GA 15, S. 292, 382; GA 41, S. 104, 105, 106, 109. Siehe hierzu J.-L. Marion, La théologie blanche de Descartes. Analogie, création des vérités éternelles et fondement, Paris, 2009 (II ed.), S. 20–23. 26 Vgl. R. Descartes, Secundae Responsiones, AT 144, S. 20–25. 24
203 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
§ 20. Die Frage als Ereignis Die Paradoxie der Frage, so wie sie vom Subjekt übernommen wird, ist zunächst, dass sie sich ihm ereignet, ohne dass es über ihre Struktur entscheiden kann oder sie als etwas Unsinniges zurückdrängen könnte (obwohl das so scheinen mag). Das Ereignis der Frage beseitigt das, was man die intentio practica der Frage nennen könnte: die pragmatische Orientierung des Fragens (um zu wissen), orientiert an der Handlung oder sogar an einer theoretischen Prozedur. 27 Indem sie keine »reine theoretische« Frage ist, gehört die intentio practica der Frage eo ipso zu ihrer absichtlichen Natur: Warum spricht man – wenn es keine andere praktische Natur in der Frage gibt – von einer Lust am Wissen, einer Wissensbegierde, einer Absicht des Wissens? Da er sich im einfachen, gewöhnlichen Sinn hält, müsste der naive Gedanke darauf antworten, bevor er »Fragen« über die nicht praktische Natur der Frage stellt. Anstatt die praktische Betrachtung der Frage zu unterdrücken, bekräftigt und verstärkt der sensus communis – indem er sich selbst durch die Ausdrücke »Wissensbegierde«, »Wille zum Wissen«, »Wissenstrieb« usw. erklärt – diese Betrachtung. Dennoch betrifft die Frage diese praktische neutrale Natur: Warum zeigt eine ursprünglich transzendentale Phänomenalität, wie die Frage »Was/wer bin ich?«, keinerlei Absicht aus pragmatischer Sichtweise? Die Frage kann man so umformulieren: In welcher Bedeutung der Frage liegt keinerlei Absicht? Es scheint uns also, dass sich die Frage, deren »ursprüngliche« Natur man als Phänomenalität suchen muss, einer ganzen linguistischen Dimension, jeglicher Einbettung in einem Kontext, jeglicher Reduktion auf eine pragmatische Funktion, entzieht. Um zu sehen, ob diese Unterschlagung effektiv – man könnte auch sagen »notwendig« – ist und nicht illusorisch, um also zu sehen, ob die Frage an sich eine ursprüngliche Phänomenalität darstellt, müssen wir zwei Reihenfolgen von Fragen entwickeln. Die erste betrifft ihr Ereignis, ihr Geschehen sic et non aliter in der grundlegenden Zweideutigkeit des »Was/Wer«. Die zweite betrifft die Existenz (deren zentrales Problem) oder zumindest ein »wozu« der Frage. Denn wenn man die rhetorischen Beispiele betrachtet (z. B.: »Wer bin ich, um das zu tun?«), bemerkt man die Tatsache, dass diese Formen nie mit der Frage identisch sind, die wir als ärmeres und ur27
Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, cit., S. 49.
204 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 20. Die Frage als Ereignis
sprünglich transzendentales, asymptotisch leeres Phänomen erkannt haben: »Was/wer bin ich?« Aufgrund der Definition der ursprünglichen Phänomenalität im Regime der Reduktion – wie sie sich ohne jegliche Abhängigkeit ab alio gibt, nämlich ohne jegliche Abhängigkeit vom Subjekt oder einem anderen Phänomen – könnte sie, wenn sie ursprünglich wäre, nicht im Sinne einer Fortführung eines Prinzips, eines von dem des Beweises in der Immanenz »unterschiedenen« Status, reduziert werden. Aber »reduziert« bedeutet so auch »zur Eindeutigkeit reduziert«. Ihre Unbeugsamkeit zu denken, entspricht der Unmöglichkeit einer Frage des Typs »Wer bin ich?«, die nicht zur gleichen Zeit auch als »Was bin ich?« konfiguriert werden kann – trotz jeder philosophischen Absicht, sie auf eine wohlbekannte Form des Fragens zurückzuführen. Zum Unglück für den Philosophen gehören die radikalen Erfahrungen nicht zur Philosophie. Die Frage interessiert so, wie sie sich zeigt, nicht nur »meine Vernunft«, wie die Frage nach dem Wesen des Menschen, sondern mein ganzes Sein. 28 Was nicht nur »meine Vernunft«, als philosophische Vernunft, interessiert, kann außerhalb und vor jeder Philosophie formuliert werden: »Was/wer bin ich?« Die Frage zeigt sich nicht vollständig als wesentliche Frage. Zu fragen, »Was/wer bin ich?« bedeutet nicht, nach dem Wesen des Menschen zu fragen und das nicht weil man die eine naiv als »existentielle« und die andere als »essentielle« fassen könnte. Die eine ist eine zweideutige Frage, die andere eine klare, essentielle und eindeutige Frage. Die Frage lässt sich nicht vor dem Hintergrund der metaphysisch-modalen Unterscheidung zwischen existentia und essentia denken. Sie kommt von etwas Radikalerem. Wenn Ich frage »Was/wer bin ich?«, habe ich keine klare Beschaffenheit des Gefragten, von dem, was durch die Fragestellung erforderlich ist. Ich frage nicht nach einem Wesen, oder besser, ich kann nur nach dem Gemisch zwischen einer kryptischen Bedeutung des Wesens und einer kryptischen Bedeutung meiner »lebendigen« Identität fragen. In Anbetracht der merkwürdigen und vollkommen außergewöhnlichen Dynamik des Ausdrucks und der Bedeutung »Ich« verdunkelt die Frage jeden Verweis auf eine individualisierte Idealität; das Gefragte selbst, das nicht das »Ich« ist, sondern das »Ich« betrifft, schließt jedes verständliche Begreifen der Frage durch das Subjekt und so jedes Begreifen der Klärung, der Erläuterung, der Berichtigung, aus. Es bleibt uns jedoch der schwierigste Einwand: Ist es nicht wahr, 28
Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, cit, [142] S. 142.
205 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
dass die wahre, effektive intentio practica des Subjekts im Verhältnis zur Frage ihre Möglichkeit ist, die Frage selbst zumindest zu stellen? Hier greift die zweite Charakteristik der Frage ein: Sie kann nicht durch den Fragenden gestellt werden, sie drängt sich ihm auf. Um diese Paradoxie zu bemerken, die bis hierhin wie eine einfache und grobe Umlenkung der wesentlichen Analyse erscheinen konnte, muss man die Kette der funktionalen Handlungen zur Realisierung eines Ziels berücksichtigen. Das Ziel jeder Frage (als Nachfrage) ist nicht nur das nahe Ziel, das Wissen, sondern auch das letzte Ziel, das heißt dasjenige, was ich, die Antwort auf die Frage/Nachfrage wissend, tun kann oder wie ich leben kann. Dies ist schlussendlich das letzte Ziel der Fragestellung. Wozu also fragen (wissen-wollen): »Was/wer bin ich?«? Man kann uns nicht antworten: »weil es wichtig ist, die Frage zu stellen, und danach, indem man die Antwort gefunden hat, wird man wissen, wozu man sie gestellt hat«. Das reicht nicht und es ist völlig lächerlich, da wir uns im Bereich der Reduktion und nicht innerhalb eines beispielhaft gehaltenen Diskurses in einem existentialistischen Kreis befinden. Man muss schlicht ein letztes Ziel finden, weil es dazu dient, den eidetischen Zustand der Frage auf dem Niveau der intentio practica zu konfigurieren. Wenn man keine mögliche (nicht rhetorische) Beziehung zwischen dem, was den Fragenden anstelle der Frage und der Funktionalität ihrer Vorwegnahme belebt, konfigurieren kann, ist die Frage sine ratione, ohne Grund im Sinne des ohne wozu«, welches die Frage als umsonst andeutet. Wozu also fragen: »Was/wer bin Ich?«? Wenn man betrachtet, dass der Einwand im Rahmen der Voraussetzung einer Kette von funktionalen pragmatischen Akten formuliert wurde, kann man die Frage auf die folgende Weise umformulieren: »Wozu also wissen, was/wer ich bin?« Für nichts. Was kann ich durch das Wissen, das ich durch das Stellen der Frage erhalten habe, als nützlich erachten? Kehren wir zur pragmatischen Dimension zurück: Wenn man die Frage stellt, wird man für einen Idioten gehalten und man ruft nur (vielleicht gerechtfertigte) Ironie hervor. All dies hält uns jedoch nicht davon ab, dass wir die eidetische Analyse der Frage entwickeln – nicht um den weisen Vätern Recht zu geben, sondern um »logon didonai« Recht zu geben. Und diese Dimension des »logon didonai« ist eine verkehrte Welt 29, aber nur im Sinne einer Welt im Spiegel [infra § 120]. 29
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, cit., S. 123/4.
206 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 20. Die Frage als Ereignis
Wozu also – weit entfernt von jedem existentialen Vorrang, der das In-der-Welt-Sein in eine eigentliche und eine uneigentliche Dimension einteilt – wissen, »was/wer ich bin«, und es erfragen [infra § 90]? Das kann aus pragmatischer Sichtweise nicht dienlich sein: die Tür öffnen, den Computer hochfahren, den Tisch verschieben, kochen, schreiben etc. Hilft es mir also in meinem tatsächlichen Leben? Hilft es mir zu lieben, in der Freundschaft zu diskutieren, zu arbeiten? Überhaupt nicht. Hilft es mir, auf einem höheren Niveau der Abstraktion oder der theoretischen Idealisierung eine Gleichung zu beweisen, einen Lebenslauf zu verfassen, eine ontologische Abhandlung zu studieren? Nein. Zu fragen, »Was/wer bin Ich?«, scheint grundlos zu sein, es scheint keinerlei Nützlichkeit zu haben, weder pragmatisch noch auf andere Art und Weise. 30 Und trotzdem stellt und zwingt sich die Frage zumindest einmal im Leben allen (oft in diesem notwendigerweise dunklen/hellen Alter, welches die Jugend ist) auf. Folglich hat die Frage, da sie nie ein letztes Ziel hat, auf das bezogen ihre Position geordnet und orientiert werden könnte, immer und einfach eine freiwillig leere Absicht, sie ist schlicht und einfach »umsonst«, »blind« und »zweckwidrig«. Wenn die Frage keinerlei intentio voluntatis hat, wenn ihre Position, ihr Sein sic und non aliter in ihrer Zweideutigkeit von keinerlei Willen abhängt, gibt sie sich als solche, zeigt sie sich in ihrer reinen Zweideutigkeit. Sie zeigt ihre Unbegründetheit, sie stellt sich, sie ist die volle, ursprüngliche Demonstration, der man keinen Grund im Sinne eines »Wozu«, kein festzustellendes Fundament, geben kann. Und dennoch zeigt sie sich – entgegen jeder Metaphysik – in der reinen Immanenz der Phänomenalität selbst. Die Frage zwingt sich dem Fragenden auf und er kann sie als solche nicht verneinen. Entweder spricht er sie aus (quaestio verbis prolata) oder er spricht sie nicht aus, die Frage ereignet sich dem Ich, die Frage »befragt« das Ich. Dieser letzte Aspekt, die Befragung des Ichs durch die Frage, dort wo »des Ichs« ein genitivus objectivus ist, zeigt eine der zwei Richtungen der Öffnung des Horizonts der Frage, das heißt eine zentripetale Orientierung. Die andere, zentrifugale Orientierung zeigt sich in der Befragung des Ichs durch die Frage, dort wo »des Ichs« als genitivus subjectivus verstanden wird. An diesem Punkt muss man eine andere Frage eröffnen und offen lassen, nämlich die der Konstitution oder der Setzung des Ichs durch die Frage. Dies verstanden in dem Sinne, 30
Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, cit., S. 51.
207 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
in dem das Ich durch die Frage und die Frage durch das Ich gegeben wird. Was gibt es sich? Es gibt sich den Sinn eines/den Sinn als wesentlichen Mangel, als Abwesenheit, als völlig dem konträr gegenüberstehend, was die Metaphysik (vor und nach der Egologie) unter praesentia bzw. Parusie verstand. Um jedoch zu verstehen, wie sich diese letzten Vorwegnahmen in der eidetischen Analyse der ursprünglich transzendentalen Phänomenalität miteinander verbinden können, muss man sich der intentio in ihrer zweiten Bedeutung, die man hier als intentio intellectus bezeichnet, zuwenden.
§ 21. Die intentio intellectus Die Analyse der intentio practica hat gezeigt, dass die Frage ein ursprüngliches Phänomen ist (das sich in der Phänomenalität, in der reinen Immanenz zeigt). Jedoch zeigt sie sich, ohne uns weder die intentionale und spekulative Bedeutung dieser Ursprünglichkeit noch sonst etwas von ihrem transzendentalen, metonymischen Charakter zu zeigen. Ein solcher Charakter besteht darin, das Wesen der Phänomenalität zu zeigen bzw. enthüllen zu können, aber nicht ein solches Wesen zu bestimmen. Diese Enthüllung ist die Aufgabe der Analysen der intentio intellectus der Frage. Was strebt man in der Frage »Was/ wer bin ich?« an? Die intentio ist hier das, was eine der zwei Polaritäten des Gedankens darstellt, die Polarität, welche nicht die Modalität des Meinens, sondern das, was nach dieser Setzungsmodalität gemeint wird, das Noema, betrifft. Wenn die Frage eine fragende Meinung »von etwas« ist, als Form der »psychologischen Urdistanz«, kann das, was diese abgewiesene Polarität der Frage nach vervollständigt, nur ihr Gegenstandspol sein. In der Frage ist das »Ich«, welches nach seinem »was/wer« befragt wird, genau so zu nehmen, wie es als »immanent« liegt, so wie es im Erlebten der Frage liegt, das heißt sich zeigend nur, wenn wir »rein dieses Erlebnis selbst befragen« 31. Man muss jedoch anmerken, dass die zweideutige Bedeutung des »was/ wer«, das Noema, weder als »identischer Kern«, »zentraler Kern« noch als etwas, das »wesentlich verschiedene Schichten« in sich aufhebt (die wir »sondern müssen« 32), erscheint. Nach dem, was man im Phänomen der Deixis des Ausdrucks »Ich« und dank der Analysen 31 32
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 203. Ebd. S. 210.
208 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 22. Das intentum: »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin ich?‹«
der möglichen unterschiedlichen Beschaffenheiten des »Ich« als »gegenstandslose Vorstellung« gesehen hat, muss man sich fragen, ob die Frage ein intentum hat. Wenn man diese intentio objectiva jedoch notdürftig als einfachen Gegenstand der Frage begreift, öffnet uns der komplexe Mechanismus der Neutralisierung mehrere Phasen der Befragung dieser intentio objectiva. In erster Linie muss man sehen, nach welchen Fachausdrücken sich die Frage einen Gegenstand gibt; dann muss man, indem man die Frage selbst neutralisiert, nach den Polen der Polarität fragen.
§ 22. Das intentum: »mein-Ich-in-der-Frage›Was/wer bin ich?‹« Der erste radikale Aspekt, den die Frage darstellt, ist ein ganz bestimmtes und bemerkenswertes Ereignis: Das Ereignis des »Ich«, aber genau als »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin ich?‹«, der Moment der »Befragung des Ichs durch die Frage« in ihrer doppelten Bedeutung des genitivus objectivus und subjectivus. Was man in diesem Phänomen sofort vorfindet, ist die Bedeutung des genitivus objectivus des Ausdrucks. Das Ich ist vor allem befragt, ereignet sich in seiner (obgleich sehr schwachen) phänomenalen Eindeutigkeit in der Frage: Es ist »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin Ich?‹« 33, das heißt als zentraler noematischer Kern eines Aktes, nämlich der Frage, die es in ihrer eigenen Gegebenheitsmodalität anstrebt. Wenn man also das metaphysische Abdriften vermeiden will, ist die einzige Lösung, sich an die Gegebenheit der fast absoluten Armut dieses intentum zu halten. Jenseits der gewöhnlichen Sprache und der Metaphysik (als Hypostase dieser Sprache) gibt es kein »Ich« außer in und durch die Frage. Man muss sich also dem intentum zuwenden und sich über die Möglichkeit befragen, dass seine Leere – bestimmt durch die paradoxale Synthese zwischen der »Deixis« und der »gegenstandslosen Vorstellung« – eine typische oder völlig gewöhnliche Struktur aufdeckt. Was findet man im [Ich](was/wer?) als Gemeintes? Die erste mögliche Antwort ist: nichts. Ich habe zumindest aus objektiver Sichtweise »nichts«, das heißt, dass ich keinerlei Vorstellung davon habe, was Wir nennen das »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin Ich?‹«, als Element der neutralisierten Frage, »[Ich](was/wer?)«.
33
209 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
eine Realitas im Sinne einer intentionalen Idealität ist. Das müsste nichts anderes sein als eine banale Explikation des Phänomens der Rückbestimmung des Ichs als Anzeige oder der leeren Vorstellung seines Seins im Verhältnis zum Hof der ausgewiesenen Vorstellungen (mit ihren Erfüllungen). Dennoch ist dem nicht so, denn das Phänomen, die Gegebenheit dieses intentum, ist nicht die gleiche Gegebenheit mit derselben Vorstellung, die man am »Ich« als einfachen Ausdruck oder als Gegenstand einer bestimmten Aktvorstellung, aufgrund eines Komplexes von bestimmten Bedeutungen, wiedererkennen könnte. Wenn durch die Frage jede Auffassung aufgehoben wird, weil die Auffassung dasjenige ist, was dem Ausdruck seine Beschaffenheit gibt, scheint das intentum weder eine Realitas noch eine effektiv deiktische Beschaffenheit zu haben. Ist die intentio als Noema eine leere Intention oder genauer eine Forderung der Intention? Das scheint der Fall zu sein, weil man, wenn man fragt, meint, auch ein quaesitum als repraesentatum zu haben, auch in dem Fall der potentiell unendlichen Vorstellungsbeschaffenheiten, die seine deiktische Struktur ihm gibt. Wenn es jedoch hier die Deixis ist, die aufgehoben wird, das heißt das Zurückgreifen auf die bedeutsame typische Hinweisung des wesentlich okkasionellen Ausdrucks, so zeigt die Frage ihre absolute Schwierigkeit aus der Sichtweise der eidetischen Analyse. Wenn das »Ich« im deiktischen Ausdruck keinerlei Idealität hat und folglich auch keine Realitas – denn seine Realitas ist durch die hingewiesenen Bedeutungen bestimmt –, ist das [Ich](was/wer?) in der Frage als nicht mehr als deiktisches Element zu denken oder als deiktischer Ausdruck, dessen Hinweisung aufgehoben geworden ist. Das [Ich](was/wer?) ist als Gegebenheit oder Effektivität eines deiktischen Ausdrucks zu denken, dessen Deixis aufgehoben ist. Es interessiert uns hier nicht, wieder zu behaupten, dass die Frage absurd ist, und es muss es auch nicht, da es zwei andere eidetische Aspekte zu betrachten gibt. Und selbst wenn sie absurd wäre, könnte sie als Gegebenheit nicht in ihrem Charakter der Selbstsetzung verneint werden. Frage ich also etwas, frage ich das »Wer/ Was«-»meines Ichs«, ohne dazu »mein Ich« selbst meinen zu können? Frage ich, ohne mich dadurch selbst als noematischen Kern meiner Frage zu intendieren? Ist es möglich, etwas zu meinen, etwas zu intendieren, was man nicht intendieren kann? Ist es möglich, zu suchen/fragen, ohne dass es ein quaesitum/petitum gibt? Wie kann man nach dem »Wer/Was« von etwas fragen, von dem man selbst nichts in der Frage denken kann? Es ist wahr, dass uns diese Fragen 210 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 22. Das intentum: »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin ich?‹«
beunruhigen, aber man muss nicht auf mystische Lösungen zurückgreifen. Denn die Analyse des Noemas hat sich auf einer Ebene der beängstigenden Oberflächlichkeit ausgebreitet. Man muss die Strukturierung der Frage selbst entlanggehen: Die Frage erfragt das »Was/ Wer«-»meines Ichs«. Es gibt drei Termini in der Frage, von denen zwei für unsere Analyse des Noemas interessant sind, in Anbetracht der Tatsache, dass der erste das Fragen selbst als Noese ist. Das Erfragte ist das Verlangte der Frage, aufgrund dessen die Frage gestellt wird, das x, das der praktisch neutralen Absicht des »Wissens, dass x« einen Wert zuspricht. Das Gefragte ist im Gegenteil nicht das, was behauptet wird, sondern das, worauf sich die Frage stützt. Es ist das, was das Erfragte unverkennbar betrifft, das einzige noematische Element, das sich zeigt, das sich in der Frage gibt, aber das – als Auffassungselement der Frage in der Frage –, was in der Noese der Frage nicht als Angestrebtes der Frage gemeint werden kann. Es ist ein Element, das nicht total anschaulich »abwesend« sein kann, um noch darüber etwas erfragen zu können. Folglich kann eine Frage – im theoretischen Sinn des Wortes, das heißt in der theoretischen Spezifizierung der Frage – nicht erfragen, wonach die Frage fragt. Die Frage kann also weder das Gefragte der Frage, also sein Thema, erfragen noch die Frage in sich als Negation des Setzungscharakters ihres Noema verdoppeln. Selbst die Frage »Gibt es einen Tisch aus Diamanten?« kann ihr Noema nicht in der Frage widerrufen, denn das Noema muss in dem Gemeinten der Frage als intentum bestehen. Wenn jedoch keine Frage das Bestehen ihres Gefragten verneinen kann, greift in die theoretische Deklination dieser Fragen eine andere Komplikation ein. Es gibt nicht nur das Gefragte (im Sinne des Behaupteten), das Erforderliche, sondern das Gefragte artikuliert sich über das Erfragte: Es gibt eine andere wesentliche Verbindung in der Frage zwischen dem Gefragten und dem Erfragten. Paradoxerweise ist das Gefragte nicht der zentrale Kern des Noemas, sondern es ist das Erfragte. In der Frage »Was/ wer bin Ich?« gibt es: – das Gefragte: »Ich«; – das Erfragte: sein »was/wer«; – das ganze Noema, das heißt der ganze noematische »Körper« der Frage ([Ich](was/wer?)). Wenn man jedoch anerkennt, dass das »Ich« in der Frage, als spezielle Deklination der Deixis, in seinen aktuellen Hinweisungen aufgehoben wurde, dass es eine leere Vorstellung ist, so muss man sehen, was 211 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
das intentum als [Ich](was/wer?) ist. Wenn es in der Frage keine zentrale noematische Vorstellung gibt, auf die sich die Frage stützt, auf der man also das »in Frage Gestellte« entwickelt, kann man sagen, dass man zunächst nur das Bewusstsein der Frage hat und dass man nichts hat als das. Folglich hat man in der Frage einzig und allein einen Akt, der sich auf das »Ich« als Erfragtes bezieht, also ein gemeintes [Ich](was/wer?), also noch das Bewusstsein der Aktualität der Frage selbst. Wenn ich – ich in der ersten Person – frage, »Was/wer bin Ich?«, finde ich mich nicht nur in dem Bereich der Frage. Ich weiß nichts über die Noese der Frage, außer dass sie offen ist. Ich verstehe nur, dass sie sowohl an dem, was ich als »Ich« denke, als auch an meinem »was/wer« orientiert ist. Man kann nichts anderes mehr hinzufügen, nichts mehr. Man hat nicht mehr als ein auf einer leeren Vorstellung artikuliertes Gefragtes, das vollkommen leere »in Frage Gestellte«. Es bleibt uns nichts anderes als das Ereignis des Ichs, wie es in der Frage erscheint, das [Ich](was/wer?), also das einfachste Bewusstsein der Frage. Ich bleibe nur in der Öffnung der Frage zur Antwort auf »Was/Wer«, wenn ich mich in der Form der ersten Person ausdrücke. Aber die Frage lautet »Was/wer bin Ich?« und nicht »Was verstehe ich, wenn ich mich selbst meine?«. Aber ebenso wie jede Paraphrase deiktischer Ausdrücke ihre Natur in deskriptiven Termini versteckt, versteckt die Paraphrase der Frage ihre Natur in einer asymptotisch leeren Erscheinung. Selbstverständlich drückt die Paraphrase die Frage klar aus, aber gleichzeitig denaturiert die Paraphrase auch die Frage selbst, verbirgt die Frage als ursprüngliches Phänomen. Was ich habe, wenn ich »Was/wer bin Ich?« frage, ist nicht das Bewusstsein der Frage über das, was ich intendiere, wenn ich mich selbst meine. Frage ich »Was/ wer bin Ich?«, habe ich einfach nur die Frage »Was/wer bin Ich?«. Ich erkenne keinerlei andere Möglichkeit, das [Ich](was/wer?) entweder zu behaupten oder zu verneinen. Ich kann es einfach nur »aussprechen«. Wenn die Frage ein Ereignis ist, wenn sie sich, ohne dass ich sie akzeptieren noch ablehnen könnte, zeigt, so ist der Verstand angesichts ihrer Verfassung machtlos, er kann theoretisch nicht auf sie zugreifen. Sie stellt sich, sie gibt sich unabhängig von dem theoretisch-logischen Willen, sie zu behaupten oder zu verneinen, schon in ihrem Sein sic et non aliter. Was könnte man außerdem bezüglich der Frage, ohne die Frage selbst zu stellen, behaupten oder verneinen? Mein Verständnis ist vollkommen machtlos angesichts der Frage: Ich kann sie einfach nur 212 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 23. Die Frage, die sich neutralisiert
aussprechen. Aber die quaestio verbis prolata ändert in nichts die Lage des [Ich](was/wer?). Die quaestio verbis prolata bereichert weder noch beraubt noch klärt sie die Lage des »Fragenden«. Gleich wie ich denke, gleich wie ich die Frage ausdrücke, besteht die Frage als solche weiter. Bezüglich der reinen und einfachen Wiederholung der Frage ist es nicht dasselbe: Ein Hesychasmus der Frage ist völlig unnütz, denn die Frage findet in der Wiederholung, durch die man den Charakter bestimmen kann, keinerlei Inkrement. 34 Man muss behaupten, dass es in der Frage nur das einfache, vollkommen unbestimmte Intendieren des [Ich](was/wer?), der Situation, in der dieses Intendieren ganz schwach bleibt, gibt. Die Frage scheint uns also ein vollkommen unerfassbares Ereignis zu sein, wo es als alleinige Gegebenheit das [Ich](was/wer?) gibt. In vollkommener Übereinstimmung mit dem Status des »Ich« als deiktischer Ausdruck bleibt das »Ich« als hinweisende Bedeutung völlig unbestimmt: Die Bedeutung »Ich« erfordert eine Rückbestimmung durch die bezeichnende/bestimmende Bedeutung. Darin besteht die Besonderheit des deiktischen »Ich«, verwurzelt in der Position des Gefragten: Das »Ich« ist von der Hinweisung 35 abgezogen und folglich in seiner Rückbestimmung unterbrochen. Das, was wir im [Ich](was/wer?) finden, wenn wir das »Ich« bezüglich seines »was/wer?« befragen, ist die reine Unbestimmtheit dieser Vorstellung, man kann sogar riskieren, es einen flatus vocis zu nennen. Wenn ich frage »Was/wer bin Ich?«, finde ich das [Ich](was/wer?) und sonst nichts, keinerlei rückwirkende und keinerlei vorstellende Bestimmung.
§ 23. Die Frage, die sich neutralisiert Wie ist es möglich, dass sich uns eine reine Gegebenheit, ohne Qualifizierung oder rückbestimmende Bedeutung, als [Ich](was/wer?) zeigen kann? Inwiefern kann uns diese Gegebenheit des [Ich](was/wer?) über die Transzendentalität der Phänomenalität selbst aufklären? Die Frage ist uns sehr klar und sehr undurchsichtig zugleich. Dadurch, dass sie sich selbst dem Denken aufdrängt, wirft sie den ZweiFür die Wichtigkeit dieser Frage im östlichen Denken des 20. Jahrhunderts, vgl. B. Sri Ramana Marashi, Who I’m?. In The Teachings of Bhagavan Sri Ramana Maharshi, India, 1997, S. 37–44. 35 Vgl. E. Husserl, I Logische Untersuchung, cit., Hua. 19/1, § 26. 34
213 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
fel über ihren Sinn auf. Es ist die Frage selbst, die ihre Unterbrechung, das, was wir nennen und was wir als ihre Neutralisierung 36 wiedererkennen können, festsetzt. Die Neutralisierung der Frage ist also keine willkürliche, freiwillige, durch den Blick auferlegte Handlung: Dies ist ihr außergewöhnlicher Charakter. Wir neutralisieren nicht, wir können nur beachten, was sich in der Frage für sich – und berechtigterweise – als Neutralisierung ereignet. Wenn wir uns in der Frage befinden, haben wir nichts zu tun, als uns reflexiv zu fragen, wonach wir fragen. Die Frage hat sich durch sich selbst aufgehoben, sie bleibt an sich als fixiert in dem reflexiven Bewusstsein von dem, was man begreift: In und durch diesen kaum wahrnehmbaren Abstand fragt man nicht mehr, wenn man die Frage als »offen« beibehält. In diesem Moment denkt man an die Frage als geschlossenes Phänomen, man denkt also genauso an »mein Fragen« wie auch an »mein-Ich-in-der-Frage« und an sein »was/ wer«. Der reflexive Abstand bereichert die Lage, indem er ein »fragendes Ich«, ein »befragtes Ich« und sein »Gefragtes« als sein Bindestrich zeigt. Einfach nur aufgrund dieses neutralisierenden Abstands – der der Frage »Was/wer bin Ich?« und ihrer Beschaffenheit vollkommen intern (ko-essentiell) ist – enthüllt sich uns der doppelte Sinn des Syntagmas »Befragung des Ichs durch die Frage«. Das Bewusstsein der Leere des Gemeinten in der Frage enthüllt den Abstand, in dem ich mein eigenes Fragen anstrebe. Die Bedeutung des Syntagmas »Befragung des Ichs durch die Frage«, als Zweideutigkeit zwischen der Bedeutung des genitivus objectivus und subjectivus, enthüllt gleichzeitig die dementsprechende Zweideutigkeit des Ausdrucks »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin Ich?‹«. Die Bedeutung des Ausdrucks »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/ wer bin Ich?‹« zeigt sich – vor der Neutralisierung der Frage selbst durch ihre Vorstellungsleere – als Hinweis auf die zentrale Kernkomponente des Noemas der Frage. Im Grunde genommen kann die Komponente »mein-Ich-in-der-Frage-›Was/wer bin Ich?‹« vor dem Abstand in ihrer Beschaffenheit und ursprünglichen Gegebenheit nur im Sinne des befragten »Ich«, des noematischen Kerns, sein. Im und aufgrund des Abstands jedoch enthüllt das [Ich](was/wer?) seine ganze Zweideutigkeit: Angesichts der repräsentativen Leere des Angestrebten als noematischer Kern kann ich es nicht unterlassen, mich gleichzeitig zu fragen, wenn ich im Begriff bin, mich zu befragen. 36
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 247.
214 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 24. Die neutralisierte Frage, die Schau, die Selbstaffektion
Man kann die trivialen Einwände vermeiden und behaupten, dass man hier toto caelo weit entfernt von einer Begründung des Bewusstseins oder des Ego über die Reflexivität ist. Vor allem aus dem einfachen Grund, dass eine Begründung keine Zweideutigkeit erlaubt. Je mehr man sich in der Zweideutigkeit der Frage »Was/wer bin Ich?« bewegt, umso mehr entfernt man sich von der Idee einer »Begründung durch das Ego oder des Ego. Das Voranschreiten in der intentionalen Analyse der Frage »Was/wer bin Ich?« ist ein Voranschreiten entgegen der radikalsten Behauptung der Unmöglichkeit jeder Begründung des Ego und durch das Ego. In jedem Fall – und vor allem in dem der reflexiven Konzeption – gründet sich das Ego weder selbst (im Sinne einer geschlossenen Begründung) noch gründet es ein System, eine Struktur oder ein Wissen. Die Orientierung der Intentionalität an der Frage in ihrer Zweideutigkeit selbst und in ihrer neutralisierten Form, das Sein der Frage als gegenstandsloses intentum, stellt jedoch etwas absolut Positives dar, das heißt die Emergenz einer selbstaffektiven, nicht-metaphysischen Form, durch die Reflexivität eines Ichs, das das intentum als Kern einer Erfahrung meint. Wir werden im nächsten Paragraphen die Zweideutigkeit dieses Meinens der Frage befragen. Durch dieses doppelten Meinen intendiert das »Ich« der Frage das befragte »Ich« und artikuliert also seine selbstaffektive Situation (wenn man es so nennen will). Aufgrund dieser zwei Elemente, der Spekularität der zwei »Ich« – nach der Zweideutigkeit der Struktur [Ich](was/wer?) – und der Zweideutigkeit der Noese, werden wir die wesentliche Trennung, die zwischen dem deiktischen Phänomen und seiner rückwirkenden Bestimmung eingreift, thematisieren.
§ 24. Die neutralisierte Frage, die Schau, die Selbstaffektion Ist es also möglich, dass es die einzig mögliche Selbstaffektion eher in der Frage »Was/wer bin Ich?« als in ihren klassischen Figuren gibt: in dem cogito, der transzendentalen Apperzeption, in dem Eidos-Ego? Riskiert man nicht, in den Horizont der metaphysischen Egologie zurückzufallen, aus dem man eigentlich heraustreten wollte? In der Tat scheint es, dass die Selbstaffektion nur zu einer metaphysischen Egologie gehören kann. Um eine Selbstaffektion (als Gegenstand der metaphysischen Überlegung) zu haben, muss man ein Ego haben, das sich – in seiner Substantialität oder Transzendentalität – durch sich 215 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
selbst bestimmen kann. 37 Das Ego wird das Bestimmende der Selbstaffektion und gleichzeitig das Bestimmte der Selbstaffektion. Aber wie könnte man im Gegenteil diese Selbstaffektion begreifen, wenn nicht, indem man die Bestimmung der Sinnlichkeit analogisiert, indem man sie ins Innere des Ego selbst bringt? Man sieht gut, dass sich in der Idee der Selbstaffektion ein naiver Realismus verbirgt, der sich – obwohl er vermeidbar ist – so notwendigerweise in eine KryptoMetaphysik des Ego überträgt, nach der die Bestimmung, die das Ego ausübt, analog zu der Bestimmung ist, welche die Sache über unsere Wahrnehmung ausübt, aber gleichzeitig in qualitativer Hinsicht andersartig. Kann man diesen Unterschied in den Blick nehmen und folglich mittels einer strengen psychologischen Kategorisierung die Natur der Selbstaffektion des Ego intendieren? Selbstverständlich nicht. Wie kann man also, indem man die Naturalisierung der Bestimmung überwunden hat, davon reden, wenn nicht auf metaphysische oder krypto-metaphysische Art und Weise? Tatsächlich kann ein nichtmetaphysisches »Ich« eine metaphysische Handlung, wie eine Selbstaffektion, nicht in die Tat umsetzen. Woher käme diese Selbstaffektion, wenn die Beziehung zwischen dem bestimmenden und dem bestimmten Ich vollkommen natürlich wäre? Entwendet man die Selbstaffektion der Naturalisierung, führt dies direkt zu einer metaphysischen Egologie. Die Schwäche enthüllt sich in der einfachsten und elementarsten Absicht, die Selbstaffektion der Möglichkeit nach zu begreifen. Wenn es ein bestimmendes Ego gibt, das auf metaphysische Weise ein bestimmtes Ego bestimmt, kann dieses Ego nur 1) entweder als metaphysisch 2) oder sowohl als metaphysisch als auch als psychologisch 3) oder als vollkommen psychologisch betrachtet werden. Wenn das bestimmte Ego dem »Ich« gegenüber vollkommen koessentiell ist, so sieht man nicht, woraus in dieser Gleichgültigkeit das Bewusstsein der Selbstaffektion geboren werden könnte. Wenn das bestimmte Ego vollkommen psychologisch ist, versteht man nicht, wie es eine nicht-psychologische Bestimmung erhalten und sie als solche erkennen kann. In jedem Fall stößt also die Selbstaffektion auf die aporetische Qualifizierung der zwei Begriffe der selbstaffektiven Polarität selbst: Es gibt keine Bestimmung des Ego durch die
37
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernuft, cit., B. 161.
216 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 24. Die neutralisierte Frage, die Schau, die Selbstaffektion
Selbstaffektion. Sie schafft es nicht, die Aufgabe der Bestimmung des Ego zu realisieren. Das Ego bildet sich nicht aufgrund einer Selbstaffektion, es verliert sich als Ego, als Einheit. Die Frage, welche man dennoch stellen muss, ist die, ob es eine solche Selbstaffektion außerhalb des Horizontes der metaphysischen Egologie im rein theoretischen Sinne geben kann, die nicht in die Mystik eines ursprünglichen Lebens 38 zurückfällt und die in einer strengen eidetischen Analyse angestrebt werden kann. Die einfache Tatsache, dass man in der Zweideutigkeit des [Ich](was/wer?) eine Art Analogon der Selbstaffektion erkennen kann, gibt diesbezüglich keinerlei Garantie. Die Reduktion zwingt uns zur reinen Schau. Um die Situation zu entwickeln, die aus dem Abstand der Neutralisierung der Frage durch sich selbst hervorgeht, muss man eine philosophisch neutrale Analyse der Selbstaffektion in Angriff nehmen. Die einzige Art und Weise, durch die man auf dem Niveau der eidetischen Analyse etwas als ein Analogon der Selbstaffektion – in der vollkommensten ontologischen und metaphysischen Neutralität – denken kann, ist das Verhältnis zwischen den zwei Polen als »Schau«. Das befragende »Ich«, gemeint in aller Einfachheit und im ontologisch neutralen Status, der die Frage charakterisiert, richtet seine Frage an ein Befragtes als »Ich«. Die neutrale und nicht egologische Bedeutung der Selbstaffektion kann in der Zweideutigkeit des [Ich](was/wer?) gefunden werden, die nur vor dem Hintergrund einer Betrachtung der Noese verstanden werden kann, welche die zwei Bedeutungen des »Ich« miteinander verbindet und die Polarität als Deklination der psychologischen Urdistanz zeigt. Dass die Schau immer der Schlüssel der Bildung des Analogon der Selbstaffektion ist, wird erstens durch die Leere des befragten »Ich« (zum Beweis der ontologischen Neutralität dieser phönomenologischen Situation) und zweitens durch den nicht-kausalen Charakter der Schau bezeugt. Man muss die Situation selbst also von der neutralisierten Frage her denken. In dem Abstand, dank dem das »Ich« sein Fragen anvisiert, visiert es selbst die Zweideutigkeit der eidetischen Komponente [Ich](was/wer?) an.
Vgl. M. Henry, Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris, 2000, § 23, S. 172– 179.
38
217 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
§ 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese Aufgrund des Abstands, der sich durch die Meinung einer leeren Vorstellung ereignet – derselbe Abstand, der in der Schau irgendeines Widersinns oder einer Vorstellung, der man keine Idealität entnehmen kann, fortbestehen kann –, ist die Situation zu einer essentiellen Komplexität gebracht. Es gibt nicht einfach die noetische Schau des [Ich](was/wer?) als noematischer Kern, sondern eine doppelte Schau. Es gibt diese Schau und gleichzeitig diejenige, welche aufgrund dieses Abstandes geschieht, die Schau der Frage als Noema. Dies entspricht der Aussage, dass es, indem man eine Schau der Frage, die sich neutralisiert hat, besitzt, ebenso die Schau von der ursprünglichen Schau, wie von dem, was ursprünglich in der Frage gemeint wurde, gibt. Durch den Abstand und ihre Neutralisierung wird die Frage zum Noema. Dennoch gibt es dadurch keine Negation der Frage als solche, sondern eine Schau meiner selbst als »fragendes Ich«. Wenn die Frage einen Sinn an sich hätte, wenn sie eine nichtleere Vorstellung meinen würde, könnte dies niemals geschehen, denn man bräuchte eine »freiwillige« Neutralisierung der Frage selbst. Die Schau der neutralisierten Frage könnte niemals zugleich Schau des Gefragten als solches unter der Form der Frage sein. Selbst wenn man die Schau als Schlüssel begreifen will, um das Analogon der Selbstaffektion zu lesen, bereitet die durch dieses sonderbare Phänomen des Abstands eingetretene Komplikation große Schwierigkeiten. Die Komplikation bringt andere mit sich: vor allem die Aufteilung der Schau, ihre Stückelung. Das Sein der Schau offenbart sich nicht nur als »fragen«, sondern ebenso als »Meinung der Frage«. Außerdem gibt es keine Verdopplung des »Ich«, sondern eine Verdreifachung: ein ursprünglich gefragtes »Ich«, ein fragendes »Ich« und ein »Ich«, das sein Fragen intendiert. Danach gibt es die in der Frage selbst verborgene Zweideutigkeit, die jetzt nicht das [Ich](was/wer?) betrifft, sondern die Bedeutung der Frage, das erfragte »Was/Wer« meines Ichs. Es gibt nicht nur diese Beschaffenheit der Zweideutigkeit des [Ich](was/wer?), sondern auch die Zweideutigkeit der ursprünglichen Schau der Frage. Man muss sich auf die Zweideutigkeit der Frage konzentrieren, in der sich die Zweideutigkeit [Ich](was/wer?) ansiedelt. Die Analyse der Zweideutigkeit der ursprünglichen Noese als Frage wird uns die Elemente liefern, um die Situation der Schau [Ich](was/ wer?) und dann die essentielle Unterbrechung zwischen der Deixis und 218 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese
dem Horizont der angegebenen Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) als Selbstaffektion zu denken. Die Zweideutigkeit der Frage und das, was dort gefragt wird, zu erhellen, bedeutet jedoch, sich zu der gefragten Definition hin umzuwenden. Um auf die Frage des Wesens »Was ist A?« zurückzukommen, kann man sagen, dass, wenn die Frage einen deiktischen Ausdruck enthält, die Antwort einfach nominal sein kann und sich die Frage »Was ist A?« im Bereich der Frage der Benennung einordnet. Wenn die Frage im Gegenteil kein deiktisches Element hat, so zeigt sich die gefragte Definition in ihrer Formulierung als eine Charakterisierung des Gefragten – der noematische Kern – nach einem oder mehreren seiner Aspekte, nämlich durch die Konnotation des definiendum in seinen intentionalen Komponenten auf dem Niveau der Bedeutung. Die Definition des Wesens ordnet sich also in der analytischen Definition ein. Im Gegensatz zum Definitionsprozess, der das Wesen durch eine Zerlegung des intentionalen Inhalts in einen Komplex von Begriffen fixiert, gibt es die Definition, welche den extensionalen Inhalt des Ausdrucks anvisiert. Wenn die Definition von »Tier« »lebender Organismus mit Bewusstsein« lautet, so ist die Definition von »Tier« beispielsweise durch den Bezug zu ihrem »extensionalen« Inhalt die Aufzählung von dem, was unter sie fällt. Aber es gibt auch andere Fälle: Wenn die analytische Definition von »Dreieck« »die durch drei Seiten beschriebene zweidimensionale Figur« ist, so ist eine ihrer synthetischen Definitionen »die zweidimensionale Figur, deren Summe der drei inneren Winkel 180° ist« etc. Letztere setzt eine Überbestimmung des Vorstellungsinhalts in die Tat um und hat gleichzeitig eine Andeutung auf die Elemente ihrer Ausdehnung, welche ex definitione dieselbe Eigenschaft haben werden. Wenn man jedoch von dem Wesen eines Gegenstands spricht, muss man, wie es auch Kotarbinski zeigt, 39 darauf aufpassen, dass man nicht die zwei unterschiedlichen Funktionen verwechselt, in denen der Begriff verwendet werden kann. In dem absoluten Gebrauch des Begriffes enthüllt sich die Teilung zwischen erster und zweiter Substanz. Wenn sich der Begriff der Frage in das Verhältnis zu einem Kontext oder einem semantisch bestimmten Code stellt, stellt sich das Problem nicht; wenn man sich im Gegenteil auf das »tode ti« bezieht, wo das Individuum ontologisch determiniert und T. Kotarbinski, Gnosiology. The scientific approach to the Theory of Knowledge, London-Warsawa, 1966, S. 29–33.
39
219 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
individualisiert wird, entsteht das Problem der Dichotomie des Wesens. Eine nominale Definition sagt nicht mehr als ihre eigene mehr oder weniger nahe Art, ohne jedoch nichts über die intrinsischen (intensionalen) Eigentümlichkeiten des Individuums zu sagen. Eine analytische Definition befestigt die Zugehörigkeit des – auf intensionaler Ebene – merkwürdigerweise als Einheit genommenen Individuums und definiert sein Wesen im Verhältnis zur begrifflichen Struktur, in der diese Art eingeordnet wird. Dadurch hat man jedoch nicht das Wesen des Begriffs »verstanden«, im absoluten Sinne festgelegt, das heißt, dass man seine intrinsischen Bestimmungen noch nicht ausgeschöpft hat. 40 Was ist also mit der Frage: »Was/wer bin Ich?«? Versteht sie ihr [Ich](was/wer?) als absoluten Begriff nach ihrer suppositio materialis oder nach ihrer suppositio ordinaria? Wie fragt die Frage: »Was/wer bin Ich?«? Man sieht deutlich, dass sie weder als nominale noch als lexikalische Frage artikuliert wird. Da sie eine Frage nach dem Wesen ist, muss man die Beschaffenheit ihrer Intention entweder in der semantischen oder in der axiomatischen Definition suchen. Aber man sieht ebenso deutlich, dass die Frage nicht nach der »semantischen« Form der Frage intentional konfiguriert wird, indem sie das »Ich« nicht im Sinne der suppositio materialis versteht. Das »Ich«, dessen »Was/Wer« man erfragt, kann nur nach der suppositio ordinaria verstanden werden. Man will nicht wissen, was das Wort »Ich« für sich selbst im Sinne der materialen Supposition bedeutet, sondern man will seine Realität und seine Wirklichkeit ausschöpfen. Man könnte die Frage folglich zunächst in die Klasse der axiomatischen Fragen zurückbringen, in denen sowohl das definiens als auch das definiendum in ihrer suppositio ordinaria verstanden werden. Das wäre möglich, wenn die axiomatische Definition »den Gebrauch des Wortes« in einem bestimmten durch die Axiome definierten System betrifft. Leibniz versucht, diese Dichotomie zu lösen, indem er jede Substanz – selbst: was ihr tode ti angeht, ihre ontologisch absolute Originalität – als nach der Intension strukturiert denkt, indem er die Monade nach ihren Zuständen von ihrer Erschaffung ex nihilo an bis zu ihrer Zerstörung als analytisch strukturiert denkt. Mit seiner logischen Genialität war er der Erste, der in die Dichotomie – selbst, indem er sie für die Endlichkeit des menschlichen Denkens aufrechterhielt – eingriff. Aus der Sichtweise der formalen Logik – und nicht des göttlichen Verstandes (also der Metaphysik) – schöpft die Definition des Wesens niemals das Individuum als absoluten Begriff, verstanden in seinem reinen und einfachen Fortbestehen, indem es bei der Definition des zweiten Wesens, seinem to ti hn einai in seiner intensionalen, reineren Art, aufhört.
40
220 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese
Hier aber gibt es keinerlei Axiome, auf die man den Gebrauch des Wortes »Ich« gleichsam kalibrieren kann. In diesem Sinne sind das Wort »Ich« und seine Bedeutung im Verhältnis zu den Axiomen (sofern sie den Regeln der Deixis unterworfen sind) vollkommen dereguliert. Wenn die »axiomatische« Frage außerdem gleichzeitig einen syntaktischen und semantischen Code betrifft, hat die Frage keinerlei Bezugscode, das Gefragte – als relativer Begriff – erfragt also keine Ergänzung (bzw. kein Komplement), die in Verbindung mit dem Code, im Verhältnis zu dem der Begriff verstanden wird, gegeben wird. Wenn also die Frage weder im »lexikalischen« noch im »semantischen« Sinne »nominal« ist, kann sie nur eine Definition erfragen, die an sich eine notwendige Andeutung auf die Elemente ihrer Extension hat. Die Schwierigkeit zeigt sich deutlicher, wenn man die Frage in der Klasse der »analytischen« oder in der Klasse der »synthetischen« Fragen unterbringen will. Um diese Schwierigkeit zu verstehen, muss man die Natur der Frage »Was/wer bin Ich?« von Näherem betrachten und im Verhältnis zum essentiellen Bruch zwischen der ersten und der zweiten Substanz, in einer Definition, die das definiendum im Verhältnis zu einem Code als absoluten – und nicht relativen – Begriff versteht, setzen. In der Tat kann man es nur durch eine punktuelle Schau von dem, was gefragt ist, schaffen, ihre grundlegende und radikale Zweideutigkeit zu verstehen. Wenn ich nach einer Definition von dem frage, was ich bin, verstehe ich darunter keine einfache Definition der »Art«, in die ich eingeordnet werden kann: »Ich bin ein Mensch«. Ebenso genügt mir die einfache »nominale« analytische Definition nicht: »Ich bin ein Tier, zweibeinig, vernünftig«, aber es ist trotz der Erhabenheit und der Größe des cartesianischen Versuches, die Anthropologie zu verlassen, genauso ungenügend, zu sagen: »Ich bin ein Ding, das denkt.« Die typische Schau der analytischen Definition genügt mir folglich nicht, denn diese Schau versteht nicht und erlaubt ebenso keinen Bezug zu meiner Existenz. Wenn ich »Was/wer bin Ich?« frage, erfrage ich eine Antwort bezüglich »meines Ichs« als absoluter und einheitlicher Begriff, ontologisch einheitlich; in meiner Frage »nach dem Wesen« interessiert mich eine Verbindung zwischen dem Wesen und dem, was unter es fällt, »meinem Ich« als absolut individualisiert. Meine Frage nach dem Wesen kann nur gleichzeitig auf die Person zurückverweisen, die Frage nach dem ti – verweist gemäß einer einzigartigen Form auf das tis. 221 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Die analytische Frage des Wesens verweist zurück auf die Frage nach »meiner« Persönlichkeit, nach »meiner« persönlichen »Identität« als absolutem Begriff, denn ich habe aus mir nichts anderes als eine einfache nominale Definition gemacht, die sich nicht für die Extension meiner Existenz interessiert, sondern für den intensionalen Inhalt eines Begriffs. Die Frage des Wesens kann nur auf die Frage der Identität zurückverweisen, die unzweideutige Identität »meines Ichs«, also auf die Frage nach der Person (oder der Persönlichkeit): »Wer bin Ich?«. 41 Lediglich das »Ich« kann die beiden Gesichter seiner Realität in ihrer dynamischen Interaktion denken: Mein Wesen kann sich nur in meiner persönlichen Individualisierung realisieren, meine Persönlichkeit kann sich nur in der universalen Idee des Menschen (oder der »Menschheit«) wiedererkennen. Es interessiert uns an dieser Stelle nicht, ob diese Spekularität bzw. Spiegelung zwischen dem Wesen und der persönlichen Identität, ob diese dynamische Implikation zwischen essentia und existentia personalis möglich oder unmöglich ist, ob sie einen Sinn hat oder etwas rein sinnhaftes Theologisches bzw. Metaphysisches ist. 42 Es interessiert uns, ob der gewöhnlichste Fragende in seinem Fragen »Was/wer bin Ich?« nach dem Schema dieser dynamischen Spekularität handelt. Der Fragende befragt sich im eigentlichen Sinn über »sein« menschliches Sein, über die Beziehung, die er zwischen seiner Menschlichkeit und seiner Individualität voraussetzt, ohne nach axiomatischer oder lexikalischer Definition etwas über die logische Intension bzw. Extension zu wissen. Er will weder, dass man ihm mit seinem »Namen und Vornamen« noch mit einer Definition per genus et differentiam noch mit Attributen wie »Papa«, »Sohn«, »Chef«, »Herr Direktor«, »Wissenschaftler«, »Politiker« etc. noch mit einer Leibniz hat die Verbindung zwischen der intentionalen Dimension, dem menschlichen Wesen, und der extensionalen Dimension, die dazu führt, die persönliche Eigenheit in allen ihren Zuständen zu denken, sehr gut verstanden: Die Monade ist nichts als eine Antwort, vielleicht die erste wahre Antwort auf dieses Paradoxon. Aber das Paradoxon erlaubt als solches keine Antwort, sondern eine schärfere Artikulierung der Frage. Was Leibniz davon abhielt, diese Artikulierung zu erreichen, war die metaphysische Beschaffenheit seines universellen Gedankens, nach dem die Monade, die nach dem menschlichen – allzu menschlichen – Paradoxon geformt wurde, auf dieses Paradoxon antworten und ein Universum der intermonadischen Beziehungen konfigurieren musste. Die Metaphysik hinderte ihn daran, tiefer zum Grund dieser Paradoxie, der Frage selbst nach dem »Ich« vorzudringen. 42 Vgl. F. Albertini S.J., Corollaria seu Quaestiones theologicae de Trinitate, Incarnatione Verbi et de Eucharistia, Lyon, 1616, S. 433. 41
222 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese
Art biographischer Zusammenfassung bzw. Erzählung antwortet. Es ist lediglich die eidetische Schau, welche in dieser »einfachen« Frage, der gewöhnlichsten und banalsten, die eidetische Struktur einer »wesenhaft« zweideutigen Intention erkennen lässt, durch die man weder einfach nur nach der Menschlichkeit »meines Ichs« noch einfach nach seiner Identität fragt, sondern nach ihrer gegenseitigen Bestimmung und nach ihrer gespiegelten Verweisung. Es ist also überhaupt nicht von Bedeutung, ob die (so formulierte) Frage eine Antwort außerhalb der Metaphysik oder eines Dogmas haben kann, noch ob diese Frage an sich die Antwort selbst verhindert, denn die Identität der Person, wie man behauptet, kommt nur durch eine Hetero-Gebung (hétérodonation) des Anderen von woanders her. 43 Was interessiert, ist der Kernpunkt der Beschaffenheit, den dieser intentionale Hintergrund der Frage gibt, das Wesen der Frage selbst als eine auf eine unüberwindbare Zweideutigkeit hin orientierte Noesis. Es gibt also keine ursprüngliche Schau der Frage, aber eine Grundschau, die sie als solche zweideutig macht: Der Fragende fragt nach der Beziehung, die er als zwischen seinem Wesen und seiner persönlichen Identität bestehend annimmt. Einfacher gesagt erfragt der Fragende die – seiner Meinung nach charakteristische – Beziehung zwischen seinem »universalen« Sein und seiner besonderen Identität. Weit davon entfernt, sich an diesem Punkt dieser Frage zu entledigen, indem man sie schwach und stumpfsinnig macht, muss man eher über die Tatsache nachdenken, dass man hier den letzten Grund jeder Metaphysik als artikulierte Antwort in und nach der Form der Frage selbst fixieren kann. Für den Moment muss man bei der Frage bleiben, um daran zu sehen, wie sogar die Selbstaffektion nichts anderes als eine versteckte metaphysische Antwort ist, wo die Metaphysik ihre Deklination in und durch die Egologie findet. Im Grunde genommen muss man, wenn man die Frage selbst als nicht-egologische Form der Selbstaffektion anerkennen will, auf neutrale eidetische Weise die Form der Selbstaffektion selbst hinsichtlich der noetischen Form der Frage überdenken. Wenn man sie also als eine neutrale und nicht egologische Form der Selbstaffektion verstehen möchte, muss man sie wie bereits gesagt in der Schau, außerhalb jeder Analogie zu einer kausalen Handlung, die sie zu einer metaphysischen Handlung macht, verSiehe hierzu E. Levinas, Totalité et infini. Essay sur l’exteriorité, Den Haag, 1971, S. 341.
43
223 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
stehen. Wenn man aber vorher nicht wusste, wie sich diese Schau ausbreitet, so kann man jetzt sehen, dass sie nichts anderes tut, als die wesentliche Trennung zwischen der (hypothetisch) universalen, Bedeutung des »Ich« und seiner persönlichen Identifizierung festzulegen und zu befragen. Die ontologisch neutrale Selbstaffektion ist also – selbst wenn sie analogisch gedacht wird – keinesfalls eine Handlung, sondern ein Zustand der Unterbrechung: Die Unterbrechung der Beziehung, der Spiegelung zwischen der universalen (idealen) Bedeutung des »Ich« und seiner besonderen, persönlichen Individualisierung. Die Aufmerksamkeit als intentionale Handlung in der positionalen Modalität des Zweifels vollzieht sich auf dem nicht in Frage gestellten Band des Zusammenhangs des Ichs mit seinen (rückbestimmenden) Bedeutungen. Man kann hier die Komplexität der nicht-egologischen Bedeutung der Selbstaffektion sehen, in der die Zweideutigkeit der eidetischen Komponente [Ich](was/wer?) an sich die neutralisierte Schau eines Verhältnisses, einer Spiegelung zwischen einer idealen Bedeutung und einer besonderen »persönlichen« Individualisierung des Ichs, verbirgt. In und durch die Zweideutigkeit der eidetischen Komponente [Ich](was/wer?) wird das »Ich« über seine Bedeutung befragt, indem es sich zwischen einer idealen Seite und der Seite der besonderen, persönlichen Individualisierung zeigt.
§ 26. Die wesentliche Trennung Die Neutralisierung der Frage als selbstaffektives Moment verwirklicht also eine wesentliche Trennung zwischen der völlig charakteristischen Deixis-Eigenschaft des Ichs und der Möglichkeit der rückwirkenden Bestimmung der Bedeutung des Ichs durch ein Zusammenspiel von Erlebnissen (von Bedeutungen mit ihren Ausfüllungen). Das, was in und durch die Frage geschieht, ist also nichts anderes als der neutralisierte – und ontologisch neutrale – Gedanke einer Beziehung zwischen der »idealen« Bedeutung des »Ich« und seiner besonderen, persönlichen Individualisierung: die Unterbrechung der Rückbestimmung der Bedeutung durch die festgelegten Bedeutungen. Das, was die ontologisch neutrale Selbstaffektion dem Bewusstsein nach erhebt, ist nicht die Frage, sondern der Abstand. Wir müssen folglich die Frage in ihrer Aktualität und die Schau der »neutralisierten« Frage wie isoliert denken. Damit die ontologisch 224 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 26. Die wesentliche Trennung
neutrale Bedeutung der Selbstaffektion klar wird, muss man also die zwei intentionalen syntaktischen Ebenen teilen, von denen die erste der Horizont der Frage ist, so wie sie ist, und die zweite das, wo sich die Schau, die aus dem Abstand der Frage selbst hervorgeht, ausbreitet. Es gibt folglich zwei Noesen. Nur für die zweite Form der Noese kann man die Korrespondenz zwischen der Intention, die das [Ich](was/wer?) als noematische Komponente enthält, und der Reflexion behaupten. Durch den Abstand gibt sich ein Ich und eine Schau des Ichs als »sich befragendes Ich« über das [Ich](was/wer?). Die Frage lautet also: Was fixiert die Schau der Frage? Und folglich: Was fixiert die Schau des [Ich](was/wer?)? Die Frage fixiert eine leere Vorstellung. Die Schau des [Ich](was/ fixiert die wesentliche Trennung zwischen dem »Ich« und seinen wer?) möglichen Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen); sie visiert das an, was als ursprüngliches Phänomen der Öffnung des »Ich« individualisiert werden wird. In der Aktualität der Frage ist die wesentliche Unterbrechung einer jeden bedeutsamen Beziehung des »Ich«, einer jeden Beziehung zwischen der Bedeutung »Ich« und dem, was dieser Bedeutung Sinn geben kann, der Hinweisung der Bedeutungen, die seine deiktisch bedeutungshafte Leere ausfüllen können, in die Tat umgesetzt. Bei genauerem Hinsehen – vor allem auf die fundamentale Zweideutigkeit der Noesis »was/wer« – erscheint diese Unterbrechung als total. Der Ausdruck »Ich« wird auch in der Frage nach seinem Deixischarakter gedacht, also nach seinem intimen Band zu dem, was durch sie ausgedrückt wird. Jedes intentionale Zurückgreifen auf die Idealität des Ausdrucks ist außer Kraft gesetzt. Es gibt keine Bedeutung, die den Ausdruck vollständig bestimmen kann, der vor allem die Leere des »Ich« in der Frage erfüllen kann. In der Frage gibt es keine Idealität, die als zu gebende bedeutungsvolle Basis gedacht wird, als Sättigung der Unbestimmtheit des »Ich« in der Frage »Was/wer bin Ich?«. Die (syntaktisch übergeordnete) Schau, die das [Ich](was/wer?) als noematische Komponente höherer Ordnung enthält, ist also nichts anderes als die Schau dieser Unterbrechung und stellt keinen Gewinn eines reflexiven Bewusstseins des Selbst dar. All dies zeigt, inwiefern ein Zurückgreifen auf das reflexive Bewusstsein des Selbst als Fundament der Objektivität an sich nichts anderes ist als die Behauptung einer Aporie. Wenn es in dem egologischen und metaphysischen Paradigma der Selbstaffektion ein reines »Ich« gab, welches sich der 225 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Beziehung der aporetischen Kausalität nach auf ein empirisches »Ich« auswirkte, wenn man mit Hilfe dieser Beziehung behauptete, dass sich die Verfassung des Ego als Bewusstsein des Selbst ereignete, so gibt es in der Situation der Frage weder eine kausale Beziehung noch den Gewinn eines egologischen Bewusstseins des Selbst. Es gibt also kein reines und transzendentales (also leeres) »Ich« und ein empirisches »Ich« voller Gefühlsregung und Erlebnisse. Es gibt im Gegenteil ein »Ich« als gegenstandslose Vorstellung in einem Horizont der Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) als einzige noematische Komponente einer Schau, der Schau des [Ich](was/wer?). Mit anderen Worten: Es gibt ein »Ich«, das ein »Ich« als gegenstandslose Vorstellung in seiner Unbestimmtheit meint, welches von den Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) umgeben ist, die es rückwirkend bestimmen könnten. Man kann an diesem Punkt eine doppelte Umkehrung feststellen: die Umkehrung der egologischen Situation der Selbstaffektion und die Umkehrung der intentionalen Situation der leeren Vorstellung. In der egologischen Situation gab es ein leeres, reines und transzendentales »Ich«, das sich im Sinne der empirischen Affektionen auf ein von eigenartigen Erlebnissen volles »Ich« auswirkte. Jetzt gibt es eine Schau des »Ich«, welche die einheitliche noematische Komponente [Ich](was/wer?) anvisiert: In und durch diese Schau wird das »Ich« als gegenstandslose Vorstellung fixiert, umgeben von einem Horizont der Bedeutungen (mit ihren möglichen oder aktuellen Erfüllungen), die dazu geeignet sind, ihm eine rückwirkende Bestimmung zu geben. Dadurch hat die Definition der Umkehrung der egologischen Situation der Selbstaffektion schon begonnen, die Umkehrung der intentionalen Situation der leeren Vorstellung aufzuklären. Wenn man durch »leere Vorstellung« entweder den Widersinn – die Meinung eines Gegenstandes, dem man unmöglich eine nicht widersprüchliche Konnotation geben kann, also eine Denotation – oder den Hof von Quasi-Intentionen der Gegenstände in der Synthese versteht, so ist das in seiner noematisch einheitlichen Komponente [Ich](was/wer?) gesehene »Ich« beides gleichzeitig. Es ist im eigentlichen Sinne eine leere Vorstellung im Sinne eines Widersinns, als Gemeintes, dem man unmöglich eine Konnotation und folglich keine Erfüllung beimessen kann. 44 Die wesentliche Trennung ist unvermeidlich, wenn »die Bewegung des Lebens die Bewegung einer Schau geworden ist« [M. Henry, Phénoménologie matérielle, cit.,
44
226 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 27. An-Egoität und Sinnesmangel
§ 27. An-Egoität und Sinnesmangel Das Transzendental, welches der Abstand der Frage als metonymisches Phänomen hervorhebt, ist also nicht das »Ich«, das intendiert, oder das Eidos-Ego 45, sondern dasjenige, aufgrund dessen es intendieren kann, nämlich die Uröffnung, welche die Schau als psychologische Urdistanz begleitet und ihr vorausgreift. Das heißt, dass man versuchen soll, die Herkunft der Öffnung als ein Phänomen zu denken, das die Macht des »Ich« überschreitet, das aber ebenso jeden eschatologischen oder krypto-metaphysischen Versuch (im Stile der Öffnung des Horizonts durch die Gabe, die Selbstaffektion des Lebens, durch eine mysteriöse Verkörperung 46, ein Archi-x etc.) ausschließt. Die Öffnung überschreitet das Ich sowohl in der Bedeutung eines transzendental »leeren« Ichs als auch in der phänomenologischen Bedeutung des Ichs als Ego »voller« Erlebnisse. Das Transzendental, das Invariant der »thematischen« Öffnung in jeder Sach-Erfahrung voll aufzufassen, bedeutet nicht, die Egologie unter anderen Überresten neu zu bekräftigen, sondern das transzendentale Wesen der Öffnung selbst zu behaupten, das die Möglichkeit einer Verfassung der Selbstbeziehung in allen ihren Formen gibt [infra §§ 36–40]. Man muss diese »An-Egoität« im Verhältnis zu der transzendentalen Struktur der thematischen Öffnung von Näherem betrachten. Warum ist das Ich als [Ich](was/wer?) eine leere Vorstellung, also ein transzendentales Ich? Warum ist ebendieses Ich nicht leer, sondern im phänomenologischen Sinne des Begriffs voll? Das »Ich«, das sich im transzendentalen Urphänomen als [Ich](was/wer?) gibt, ist kein reines Ich 47, geleert von seinen Erlebnissen, ein metaphysischer Punkt 48 ohne Ausbreitung, ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart oder Zukunft, ohne Hoffnung oder Fleisch etc. Es ist kein verabsolutiertes Ich: Es behält seine ganze Realität bei, die ganze Erlebnisfülle des Fragenden. In dem Ereignis der Frage an das Ich ist und bleibt das
S. 55]. Aber die Hypostase eines Ursprünglichen jenseits dieser Trennung ist nur eine metaphysische Hypostase. 45 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, cit., Hua. 1, § 34, S. 104. 46 M. Henry, Incarnation, cit., § 23: »La génération de la chair dans la Vie absolue«. 47 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., B 140. 48 Vgl. G. W. Leibniz, Système nouveau de la nature et de la communication des substances, In Philosophische Schriften, Bd. IV, Hildesheim, 1965, S. 471–504, S. 482; Monadologie, Bd. VI, 598–606, § 3, S. 607.
227 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
Ich in seiner reinen affektiven, emotiven und kognitiven Situation ein phänomenologisch volles Ich, das heißt, dass sich sein Erlebnis-, Erzählungs- und Erwartungshorizont immer und mit dem gleichen Gehalt in seinem Reichtum und in seiner vielfältigen Artikulation gibt. Die wahre und eigentliche Frage, die zu stellen ist, ist also eine andere: Von was leert die Frage, die sich dem Ich ereignet, ebendieses, wenn es phänomenologisch voll bleibt, wenn es den Horizont seiner Erlebnisse beibehält? Die Frage – das ist die einzig mögliche Antwort – leert das Ich vom »Sinn«, oder besser, von falschen Sinnkonkretionen, lückenhaften Antworten, die es sich angefertigt oder die die Welt ihm zugeschrieben hat. Als Unterbrechung der Hinweisung führt die Frage keine Vernichtung der Erlebnisse des Ichs oder ihrer »erzählenden« Verbindungen mit sich, sie verhindert einfach die Möglichkeit einer rückwirkenden Bestimmung der Erlebnisse (die Bedeutungen mit ihren Erfüllungen) über das Ich. Das Ich als [Ich](was/wer?) ist ein Ich, das seiner Bedeutung beraubt ist, an Bedeutung geleert wurde. Aber wie ist es möglich, dass eine solche Entleerung, wie sie dem »Ich« in der Frage widerfährt, etwas derart Volles als Horizont, ein durch Vorzüglichkeit gesättigtes Phänomen aufweisen kann? Wie muss man die Sinnentleerung des Ichs verstehen? Das Ich, das man in der durch den Abstand der Frage selbst an sich (und nicht mittels einer freiwilligen Entscheidung) in die Tat umgesetzten Reduktion findet, das festgelegte Ich, das in der Schau des [Ich](was/wer?) aufgehoben bleibt, ist weder ein leeres Ich noch ein geleertes Ich noch ein volles Ich, sondern ein »nacktes«, ein freies Ich. Dieses Ich ist im Nicht-Sinn seines Seins mit allen seinen bestimmten Gegebenheiten, allen seinen zeitlichen Öffnungen, seinen Wahrnehmungen, seinen affektiven Grundstimmungen, seinem Unausgesprochenen etc. ausgestellt. Das als [Ich](was/wer?) gesehene Ich wird weder zum transzendental egologischen Ich noch bleibt es einfach ein an seinen Gegebenheiten volles Ich, das auf bestimmte Weise mit seinen Taten und Absichten Bezug auf den Bereich der Passivität nimmt: »Ich behaupte, ich verneine, ich will, ich wünsche, ich hoffe, ich erinnere mich, ich denke, ich liebe etc.«; ich bin »une chose qui doute, qui conçoit, qui affirme, qui nie, qui veut, qui ne veut pas, qui imagine aussi, et qui sent« 49.
49
Vgl. R. Descartes, Meditations métaphysiques, AT IX, S. 22.
228 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 27. An-Egoität und Sinnesmangel
Die Leere ist die Leere des Sinns oder, wenn man so will, ein Mangel. Für den Moment zeigt sich diese Situation als alternativer und radikaler. Eine solche Situation ist radikaler im Vergleich zur traditionellen Idee der Reduktion, deren Ursprung sie im Leben selbst darstellt: Woher kommt die Reduktion, wenn nicht von einem Sinnmangel? Jedoch ist sie auch radikaler im Vergleich zur Antizipation des Todes: Ist nicht ein Überleben ohne Sinn die wirklich letzte und tragischste Möglichkeit? Sie ist im Verhältnis zu diesen Figuren auch ursprünglicher: Denn alle beiden gehen nach spekulativer Art und Weise vor und erweisen sich eher als philosophisch ausgedachte Operationen (oder als Figuren). Die philosophische – aber ursprünglich radikale – Situation der Schau eines nackten Ichs als [Ich](was/ wer?) ist nicht ausgedacht, sondern in ihrem Ereignis im Verhältnis zu jeder Entscheidung erfasst, sei es eine Entscheidung eines nicht philosophierenden und in der Erfahrung lebenden Individuums, oder sei es die Entscheidung eines (sogenannten) philosophischen Subjekts. Die Sinnleere ist die Sinnentleerung von allen Bedeutungen in der Perspektive einer absoluten und definitiven Antwort, die für die ganze letzte Sinngebung ein graues und unbedeutendes Etwas bleiben: Es geht um eine Leere, deren Sein weder bestimmt noch vorzeitig ist, sondern eine Leere, die aus sich und durch sich selbst, durch den Abstand, den die Frage selbst erfährt, entsteht. Man muss sich also auf diese Leere des Ego konzentrieren und auf dieses eschatologisch verfehlte Versprechen, das sich in der Schau des [Ich](was/wer?) ereignet. Das Ich ist dort um »nichts« gebracht: Kein Gedanke, keine Erinnerung, kein Gefühl, keine Übertragung, kein Wunsch entkommt ihm mit dem Ereignis der Frage. Im Gegenteil: Jede Gegebenheit bleibt in dem [Ich](was/wer?) durch ein neutralisiertes Bewusstsein als »begriffen«, als aufgefasst und als zusammengehalten. Das einfachste und grundlegendste Phänomen der Schau des [Ich](was/wer?) offenbart den illusorischen Charakter der Voraussetzung eines transzendenten Sinnes im Vergleich mit den immanenten sinngebenden Akten. Dieses Phänomen verneint einfach den metaphysischen Götzen des »Eins-Seins« mit aller Realität. Sie offenbart dem Ich eine leere und von aller quidditas geleerte haecceitas und gleichzeitig eine quidditas, die der haecceitas selbst niemals gänzlich Sinn zu geben vermag.
229 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
§ 28. Das Ich als Distanz Weit davon entfernt, eine transzendentale Begründung des Selbstbewusstseins oder eine auf eine metaphysische (oder krypto-metaphysische) Voraussetzung gestützte Analyse zu sein, sieht die einfache eidetische Analyse der Frage vor, jedes Paradigma des Subjekts als Substanz, als funktionalen Pol oder (in einer raffinierteren Version) als Synthese einer haecceitas und einer quidditas zu verlassen. Jede Theorie des Bewusstseins, welche die Möglichkeit einer ontologischen Identität – einer Selbigkeit – oder eines »persönlichen« Bewusstseins oder einer Identität der Person bedenkt, spricht die Sprache der Ontologie (bzw. der Onto-Theologie) 50, selbst wenn sie sich an der Spitze und in Sicherheit vor ihren Aporien betrachtet, indem sie sich auf eine Schule oder antimetaphysische Formeln beruft. Jede zeitgenössische Theorie des Bewusstseins, die unter ihrem Gegenstand etwas wie »das persönliche Bewusstsein« versteht – indem sie es als eine Synthese einer quidditas und einer haecceitas 51 betrachtet –, wüsste nicht, wie sie aus der aporetischen Alternative, eine einfache »Präsenz des Selbst« (self-awareness) oder ein reflexives »Selbstbewusstsein« (self-consciousness) 52 zu denken, herauskommen könnte. Im ersten Fall wäre der Mensch qualitativ nicht von der mimosa sensitiva oder vom Wurm zu unterscheiden, ein Unterschied, den man immer beibehalten will; im zweiten wäre der Mensch aufgrund der versteckten metaphysischen Voraussetzungen, die man, um unsere vanitas nicht zu demaskieren, nicht zugeben will, qualitativ anders. In dem Abstand der Frage gibt es keine Möglichkeit, das Bewusstsein auf naive Weise als eindeutigen Gegenstand, als besondere Instanziierung (einer idealen Struktur) oder als »Bewusstsein eines Individuums« zu betrachten. Das bedeutet nicht, dass ein metatheoretischer Ansatz des Bewusstseins unmöglich wäre, sondern das heißt, dass wir ein System von Theorien brauchen, die fixieren, wie das Bewusstsein erscheint und sich sehen lässt [infra § 129]. Dies entspricht im Gegenteil der Behauptung, dass die ursprüngliche Lage des
Siehe hierzu M. Heidegger, Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik. In Identität und Differenz, GA 11, 2006, S. 76. 51 Vgl. J. Scotus, Ordinatio, II, d. 3, p. 1, q. 4, n. 76, Opera Omnia, Bd. 7, 426/7. 52 Vgl. G. Ryle, The Concept of Mind, New York, 1949, S. 39; S. Shoemaker, SelfReference and Self-Awareness, Journal of Philosophy, 65, 1968: 555–567. 50
230 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 28. Das Ich als Distanz
Bewusstseins nicht auf eine individualisierte quidditas reduziert ist, sei sie sowohl eine Präsenz an sich als auch ein Bewusstsein an sich. Das Bewusstsein bleibt für den Moment ein einfaches Phänomen der »Polarität«. Man muss folglich den eidetischen Horizont der neutralisierten Erlebnisse – als »Sach-Erfahrungen« – befragen, als Mainframe des psychischen und geistigen Lebens von allem, vom Subjekt (falls der Ausdruck immer noch eine konkrete philosophische Bedeutung hat). Die eidetischen Tatsachen, die wir momentan befragen, sind nicht die so oder so konfigurierten »faktischen Vorbedingungen« des intentionalen Lebens, sondern der mainframe als Möglichkeit selbst, eine vorbedingte Konfiguration des psychischen und geistigen Lebens (mental life) als solches zu haben. 53 Was in der Basis der Möglichkeit von jedem liegt, das Netz von Bedeutungen (und Sach-Erfahrungen) extensiv zu vergrößern oder intensiv zu integrieren, ist nichts anderes als die dynamische und elastische Beschaffenheit dieses mainframe. Der eigenartige Akt der intentionalen Schau kann sich nur vor dem Hintergrund dieses mainframes gründen, der aus diesem Grund immer unthematisch und nicht gemeint ist. Der mainframe ist jedoch als Horizont jeder Sach-Erfahrung kein Pol. Das psychische Leben ist in der unendlichen Möglichkeit der dynamischen Aktivierung, in ihrer Möglichkeit der topographischen-topologischen Neukonfigurierung, »nur« die Öffnung der möglichen Hinweisungen, die eine rückwirkende Bestimmung eines Ichs instanziieren könnten [infra §§ 115–116]. Es gibt also keine Antwort als solche in der Situation der Schau des [Ich](was/wer?), sondern man kann lediglich die Invariante des psychischen und intentionalen Lebens fixieren. Ebendiese Schau offenbart sich also dadurch als terminus ad quem der Analyse, die zum Status der fundamentalen Ungewissheit des Subjekts führt und als terminus a quo, um die Invariante der »Beziehung« als wesentlichen Ausdruck des psychischen und geistigen Lebens des Ichs, als paradoxales Wesen (Oxymoron) seiner »Identität« zu befragen. Die Identität des Individuums ist die Distanz, die Öffnung der Distanz (jedes Thematischen).
53
Vgl. J. Searle, Intentionality, cit., S. 14.
231 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
§ 29. Die spekulative Situation und das Multiversum Durch den Abstand der Frage und in der Schau des Ichs als [Ich](was/ wer?) bildet sich, was wir die »spekulative Situation« nennen. Sie ist die Anerkennung des Ichs in der Öffnung und als Distanz (nicht als einer der Momente des Abstandes) durch das prospicere de specula und das videre de speculum, 54 die nichts anderes als zwei Abstraktionen des Denkens sind. Das Ich – das sich als [Ich](was/wer?) gibt – hat keinen Sinn, weil sich das, was es in der Öffnung (und was man die »Welt« nennt) findet, nie als Terminus konstituiert, auf den sich das Subjekt stützen könnte, um eine wesentliche und gleichzeitig existentielle Identität zu erhalten. In der spekulativen Situation der Schau des [Ich](was/wer?) kann sich die Hinweisung auf den Gegenstand – irgendeinen Gegenstand –, das heißt auf die Bedeutung (mit ihren möglichen Erfüllungen) multiplizieren, ausbreiten, modifizieren und sich bis hin zur Unendlichkeit in die variablen Komplexe strukturieren. Eine Bedeutung kann auf unbegrenzte Weise auf andere Bedeutungen verweisen und so ein Hinweisungsfeld formen, das für sich, ganz oder aufgrund einer seiner Komponenten, ins Verhältnis zu anderen Regionen oder anderen Regionen angehörigen Bedeutungen gesetzt werden kann. Nach dieser inflationären Dynamik der Entstehung von Zusammenhängen kann man gleichermaßen eine Rückbestimmung der Bedeutung »Ich« suchen, die direkt zwischen den Regionen »Natur-Ethik«, »Natur-Geschichte« oder »Gesellschaft-Religion-Umwelt« etc. angesetzt ist. Man bemerkt jedoch mehr und mehr, dass die einfache Hinweisung einer Bedeutung dem »Ich« nur ein einfaches Etikett geben kann, dessen Erklärung eine potentiell unendliche Ausweitung (des Netzwerks der Bedeutungen mit ihren Erfüllungen) mit sich bringt. Andererseits präsentiert die Hinweisung einer Region oder einer Makro-Region nur eine identische Situation, allerdings umgekehrt. Jede Bezugnahme des Denkens zu einer möglichen rückwirkenden Bestimmung des »Ich« als [Ich](was/ wer?) findet niemals eine Welt, die das »Ich« nach seinen Möglichkeiten reflektieren und erschaffen kann. Die reflexive Situation ist im zweiten Fall einfach deshalb widersprüchlich, weil das Ich – als [Ich](was/wer?) – niemals eine Charakterisierung haben kann, um eine Welt zu gründen oder um dieser Vielfalt einfach den Sinn einer 54
Vgl. Augustinus, De Trinitate, loc. cit.
232 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 29. Die spekulative Situation und das Multiversum
»Welt« zu geben. Im ersten Fall ist die reflexive Situation widersprüchlich, weil die Welt keine solche ist, dass das »Ich« sie als derartige anerkennen kann. Alles, was das Denken in seinen Hinweisungsakten anvisieren kann, ist weder ein Gegenstand (gegenständliche Bedeutung mit ihren Erfüllungen) noch eine Welt: Jeder intentionale Akt zeigt sich gleichzeitig in einem und damit potentiell wie ein Multiversum, sei es auf intensive oder extensive Art und Weise. Der Gegenstand als solcher, die gegenständliche Bedeutung, löst sich in ihren eigenen logisch-kontextuellen Verweisungen auf, indem sie die Auflösung jeder Subjektivität, die sich in dieser Spiegelungssituation bilden kann, mit sich bringt. Das, was sich offenbart, ist ein Multiversum [infra § 120]. Das bedeutet nicht einfach die Entdeckung einer makroskopischen oder mikroskopischen Dimension des Gegenstandes, als ob sich der Gegenstand in unendlich kleine Teile aufteilen oder auf ein unendlich weites Feld verweisen würde. Die spekulative Situation des Multiversums, durch die Schau des [Ich](was/wer?) geöffnet, zeigt sich als viel radikaler und schwieriger zu verstehen [infra §§ 118–121]. Wenn es einen »Gegenstand« als Muster unserer gewöhnlichen Erfahrung gäbe, so könnte man behaupten, dass er sich in der mikro- und makroskopischen Dimension der Wissenschaften verliert, obwohl es diese Behauptung niemals schaffen würde, den Reichtum der spekulativen Situation festzustellen. In den Wissensakten der natürlichen Stellung oder in der natürlichen Stellung überhaupt, dort, wo es einen Gegenstand gibt, kann ein solcher Wahrnehmungsgegenstand in Richtung des Makroskopischen (als Teil) oder des Mikroskopischen (als Ganzes) aufgelöst werden, aber niemals beides zugleich. Was hier eine Auflösung erfährt, ist nicht der Gegenstand, sondern jede Idee des Gegenstands als definierter und definitiver Gegenstand, als ontologisches Muster einer festen Wirklichkeit. Jede intentio hat ihr intentum, jedes Wissen hat einen Gegenstand. Ohne dieses »Haben« gäbe es niemals ein Wissen und einen Gegenstand, ohne dieses »Haben« würde sich das psychische und geistige Leben auf eine halluzinierte Aufeinanderfolge von Aufgaben und psychischen Eindrücken beschränken. Dass der Gegenstand eine der zwei Pole jeder Schau als Deklination der psychologischen Urdistanz ist, bedeutet jedoch nicht, dass der Gegenstand eine ontologisch definierte, definitive und hypostasierte Formulierung annehmen wird. Sowohl der Wissenschaftler, der an einem Partikelbeschleuniger arbeitet, als auch der Historiker oder 233 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
der Organisator einer Ausstellung haben mit »Gegenständen« zu tun. Sie haben einen Gegenstand und auch Formen der Sach-Erfahrung, wie Wahrnehmung, Erinnerung, Schmerz, Urteil, Frage, die mit diesem Gegenstand verbunden sind. Wenn man sich folglich auf der gewöhnlichen Erfahrungsform gründen würde, so würde man nur die Wahrnehmungsgegenstände, im Gegensatz zu den Abstraktionen der Wissenschaften und den »Pseudo-Gegenständen« des psychischen Lebens, als Gegenstände betrachten. Wer würde jedoch bestreiten wollen, dass ein »log-log«-Diagramm, ein informatisches Bild, ein durch einen Partikelbeschleuniger gegebenes Schema, ein Urteil oder diese oder jene Statue nach den anderen »regionalen Beschaffenheiten« des Gedankens, keine Gegenstände sind? Wer würde außerdem behaupten wollen, dass einer dieser Gegenstände, etwa die Statue, in ihrer thematischen Einrahmung in einer Region oder einer anderen der Gegenständlichkeit zu »mehreren Gegenständen« wird? Wer könnte behaupten, dass »die Debatten über die Euthanasie« kein Gegenstand wären oder dass das »Gefragte« einfach der »Gegenstand« einer Frage wäre, aber ein Gegenstand unterschieden von dem, der im Urteil den gleichen noematischen Kern hat? Wer könnte noch behaupten, dass dieser Gegenstand auf seine Weise, durch die syntaktischen und begrifflichen Schwierigkeiten, die man dort anerkennt, schwierig werden oder dass er der Katalysator einer progressiven Komplexität werden kann? Das aktuelle, intentionale Leben – als bestimmte Deklination der psychologischen Urdistanz – kann diese Potentialität, diese exponentielle Kreuzung der gegenständlichen Komplexität nicht zeigen, da sie sich glücklicherweise in einer festgelegten Bestimmtheit (obwohl minimal elastisch) der Regionen oder der Mikro-Regionen der Gegenständlichkeit ausbreitet. Es ist die spekulative Situation – als absolut neutrale Festlegung der Schau (aus ontologischer Sichtweise) –, welche die Unmöglichkeit der Reduktion der ursprünglich psychologischen Distanz zur ontologischen und metaphysischen »SubjektObjekt«-Beziehung anerkennt. Nur dort, wo die Schau von jeder ontologischen Verpflichtung befreit ist – also dort, wo sie eine Stellung der absoluten ontologischen Neutralität gewinnt – ist es möglich, das Multiversum anzuschauen. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist die spekulative Situation der Schau des [Ich](was/wer?) die einzige, die eine logisch, eidetisch und diesem Begriff (noch) philosophisch adäquate Überlegung des Multiversums eröffnen kann. Wir müssen an diesem Punkt weder logische, eidetische und spe234 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 29. Die spekulative Situation und das Multiversum
kulative Konsequenzen dieses Multiversums entwickeln noch unpassende anthropologische Folgerungen des Kollapses der reflexiven Situation mittels seiner Aporien bemühen. Man muss viel eher zum Widerspruch zwischen der spekulativen und der reflexiven Situation zurückkehren. Die reflexive Situation implodiert nicht aufgrund des Verschwindens einer ihrer Komponenten, sei es entweder der Gegenstand (oder genereller die Welt) oder das Subjekt, sei es der Subjekt»Spiegel« als Spiegelbild der Welt, oder durch die Welt das Spiegelbild als Subjekt. Dass die reflexive Situation implodiert, will bedeuten, dass es einen Kollaps der Struktur der reflexiven Situation und folglich der zwei Termini gibt. Man könnte sich fragen: Warum also implodiert nicht auch die spekulative Situation, die auf dem »Ich« als mittlerem Terminus zwischen der Schau und dem Horizont der Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) gründete? Das eidetische Faktum, das die spekulative Situation der Schau des [Ich](was/wer?) sozusagen rettet, ist, dass der »leere« Charakter des »Ich« und der Unsinn des psychischen und geistigen Lebens hier als wesentlich und nicht als etwas zu Vermeidendes anerkannt werden. Es gibt in der spekulativen Situation kein Zurückgreifen auf die Ontologisierung der Elemente (noch muss man sie haben, damit dort eine »spekulative Situation« als solche ist). Im Gegenteil: Es gibt die spekulative Situation ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass das »Ich« als [Ich](was/wer?) eine leere Intention ist, die auf einen Horizont der Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) verweist, die ihr eine Rückbestimmung liefern können. Man bemerkt also ohne weiteres, warum dieses »Ich« und nicht das ontologische »Ich« selbst »Spiegel«, Funktion der Hinweisung der Schau zu der Totalität des psychischen und geistigen Lebens werden kann. Gleichzeitig entspricht die Nicht-Notwendigkeit der Ontologisierung des »Ich« als [Ich](was/wer?) der Nicht-Notwendigkeit der Ontologisierung des psychischen und geistigen Lebens als »Welt«. Damit es jedoch eine spekulative Situation gibt, enthüllt die NichtNotwendigkeit der Ontologisierung gleichzeitig umso mehr die Notwendigkeit der Nicht-Ontologisierung, die allein die doppelte Verschiebung zwischen dem »Ich« als [Ich](was/wer?) und dem »Selbst« einerseits sowie zwischen dem psychischen und geistigen Leben und der Welt andererseits enthüllt. Die Sinnleere des »Ich« setzt die Notwendigkeit der Nicht-Ontologisierung des psychischen und geistigen Lebens unter dem Titel der »Welt« voraus. Auf spekulative Art und Weise enthüllt sich der Unsinn des psychischen und geistigen Lebens 235 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel III Theoretische Strukturen
wesentlich dank der Unmöglichkeit, die Schau des [Ich](was/wer?) zu ontologisieren. Diese Unmöglichkeit enthüllt gleichzeitig das Multiversum. Die »Welt« hat keinen Sinn, weder vom Standpunkt einer strengen Analyse des Begriffs noch vom Standpunkt der spekulativen Situation, die zu jeder möglichen Analyse des Begriffs »Welt« propädeutisch ist. Der Begriff »Welt« hat selbst keinen Sinn, da er die einfache Wirkung einer nicht legitimen Ontologisierung darstellt [infra § 129]. Aus intrinsischer und wesentlicher Sichtweise hat das, was als »Welt« gedacht wurde – die sich nicht als mehr als ein unendliches Zusammenspiel von potentiellen Verweisungen und Verbindungen zwischen Bedeutungen (mit ihren Erfüllungen) enthüllt hat –, genau aufgrund seiner dynamischen Beschaffenheit, keinen Sinn. Unter »dynamischer Beschaffenheit« darf man jedoch niemals einen physikalischen Prozess verstehen. Der Sinn der Behauptung »die Welt hat keinen Sinn« ist weder der Sinn der kantischen Behauptung der Unmöglichkeit des Erfassens eines letzten Terminus in den kosmologischen Reihen noch der Sinn der quantenphysikalischen Behauptung der letzten Unbestimmtheit der mikroskopischen Beschaffenheit der Materie. Die Behauptung »die Welt hat keinen Sinn« überschreitet und radikalisiert jede ontologische (bzw. auf ontologischer Hypostase gegründete) Behauptung aufgrund der Tatsache, dass jede ontologische Behauptung – vom Standpunkt der Rückbestimmung des »Ich« als [Ich](was/wer?) betrachtet – ein Feld von potentiell unendlichen Bestimmungen als solchen öffnet, in welchem jede ontologische Behauptung nur partiell sein kann. Das, was ausschließlich in der spekulativen Situation möglich ist, ist, dass die Schau eines definitiven Terminus der Rückbestimmung unmöglich ist. Die Schau eröffnet dadurch einen Horizont der Verbindungen und der unendlichen Bestimmungen zwischen dem Ausdruck und den anderen Komponenten, Regionen oder metaregionalen Komplexen des psychischen und geistigen Lebens [infra §§ 120–121]. Es bleibt also nichts anderes, als nach der wesentlichen Verbindung zwischen diesem Multiversum und der Öffnung zu fragen, durch die sich das Multiversum ausschließlich derartig zeigen kann.
236 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
§ 30. Ich-Horizont Die spekulative Situation als intentionale Auffassung des [Ich](was/ wer?) ist dasjenige, was nicht nur verhindert, ein transzendentales Subjekt anzunehmen, sondern auch, sich auf sich selbst in der Form eines Eidos-Egos zu beziehen. Der wesentliche Unterschied zu dem transzendentalen egologischen Subjekt, der sich zuallererst zeigt, besteht darin, dass die spekulative Situation nicht etwas Nützliches für eine metaphysische Begründung eines Wissens oder einer Wissenschaft ist. Als Fixierung eines Urphänomens ist sie vor allem etwas, das sich (wie zum Beispiel in ihrer Ästhetisierung durch das Erhabene) als Bewusstseins der Spannung jedes Individuums zeigt, das einen Sinn seines In-der-Welt-Seins fordert: »Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει.« 1
Während die intentionale Auffassung des [Ich](was/wer?) keine Auffassung von etwas Bezeichnetem, sondern nur die Auffassung einer auf besondere rückbestimmende Bedeutungen gerichteten Hinweisung ist, enthüllt sie dem Fragenden den Sinn, sich selbst nur Öffnung zu sein und nichts Weiteres. Das Gerichtet-Sein kann sich niemals selbst einholen und mündet folglich in einem Annullierungsstatus jeglicher Distanz. Die Distanz als notwendige Voraussetzung des GerichtetSeins ist das, was die spekulative Situation zeigt. Die Idee eines Gerichtet-Seins des Egos auf sich selbst als etwas Ideales – folglich als metaphysisches oder transzendentales Ego – oder des Gerichtet-Seins des Egos auf ein anschauliches Selbst wäre nichts anderes als eine Chimäre. Die haecceitas des Egos kann konsequenterweise weder bloß logisch noch anschaulich erfasst werden. Die Auffassung des [Ich](was/ 1
Aristoteles, Metaph., 1, 980 a 21.
237 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen wer?) kann also nur die Auffassung von der Öffnung der unendlichen möglichen Deklinationen der psychologischen Urdistanz sein, die Auffassung von etwas, aber weder von einer gegenständlichen quidditas noch von einer Instanziierung der persönlichen Identität. Die im Gerichtet-Sein erfasste haecceitas ist daher nicht diejenige des Egos, sondern diejenige einer formalen Öffnung/Offenheit. Das Eidos-Ego zeigt sich folglich als eine Mehrdeutigkeit, wenn man dieses Eidos als gegenständliche quidditas oder als anschauliche Instanziierung des Subjekts zu verstehen sucht. Das Eidos, das sich in der spekulativen Situation zeigt – vollkommen verschieden vom Eidos, welches vermeintlich zum egologischen Subjekt gehört –, ist die radikalste DeInstanziierung des egologischen Subjekts. Die Auffassung von diesem Eidos ist seine haecceitas, ist nichts anderes als die Auffassung einer modalen Uröffnung der Intentionalität als solche: Ich erfasse mich als Öffnung/Offenheit, in welcher ich auf etwas (auch Erlebnisse) gerichtet sein kann. Das »Ich« ist nichts anderes als die Öffnung/Offenheit der Möglichkeit, das Gerichtet-Sein zu artikulieren. Besser gesagt: »Mein Ich« ist nicht zu unterscheiden von der »Öffnung/Offenheit-wohin« ich mein Gerichtet-Sein artikulieren kann. Es ist nicht verwunderlich, wenn diese Definition – angesichts klassischer Entwürfe der Egologie – paradoxal und kontraintuitiv erscheint. Die Frage, die alles egologisch-metaphysische Denken an diesem Punkt aufwirft, ist die folgende: Und was passiert mit dem Subjekt? Die spekulative Situation bedroht das Bestehen jeglicher Egologie, gleich welche es auch sei. Eine Egologie kann in der Tat nicht bestehen angesichts eines »Ich« ohne eine realisierte oder instanziierte gegenständliche quidditas: Die spekulative Situation stellt eine für die Schemata, die Forderungen und die Erfordernisse einer Egologie paradoxale Realität dar. Egologisch erscheint nun an diesem Punkt gleichfalls die Behauptung, derzufolge »das Ich seinen Horizont hat«. Hier hört die Phänomenologie auf, eine zwitterhafte, spekulative Stellung zwischen der Metaphysik des Subjekts und dessen Einholung zu sein. Um die Grenze jeglicher Metaphysik zu überwinden und sie gänzlich einzuholen, muss man behaupten, dass »das Ich Horizont ist«. Ich bin ein Horizont, nicht weniger, nicht mehr. Wir sind Horizonte, mit ihren Vereinigungen, Verschmelzungen und Überschneidungen. Das bedeutet lediglich, das Explizit-Werden des Begriffs vom Ich als »Öffnung/Offenheit-wohin« zu seiner Vollendung zu führen. Der wesentlichen spekulativen Verbindung zwischen dem Begriff des
238 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 30. Ich-Horizont
psychologischen Urphänomens und dem »Ich-Horizont« kann man leicht gewahr werden. Die Idee eines solchen Phänomens, das wir nur in der »reinen Immanenz« der Phänomenalität auffassen können, hebt jede metaphysische Begründung der Phänomenalität auf. Das Phänomen aber zeigt die Möglichkeit, die Grundstruktur der Phänomenalität selbst aufzufassen: ihre thematische Offenheit/Öffnung, ihre irreduzible Kontextualität. Die Auffassung einer solchen Struktur deutet daher nur die Hypothese einer Begründung auf der Phänomenalität an und nicht einer Begründung des Wesens der Phänomenalität als solche. Wovon deutet sie eigentlich die Begründung auf der Phänomenalität an? Falls die Begründung nicht die Phänomenalität betrifft und auch nie betreffen kann, kann sie nur etwas betreffen, das in der Phänomenalität begründet sein kann: eine neue Form deskriptiver und konstruktiver Mathesis. 2 Sie kann also nichts anderes betreffen als die Öffnung/Offenheit einer spekulativen Dimension, in der die Auffassung, die Beschreibung und die Anordnung von Erfahrungs- bzw. Wissensformen der Phänomenalität eine Form der Metacognition konstituieren können. Die Analyse, die wir bis hierher entwickelt haben, stellt lediglich das erste Moment der Öffnung einer solchen spekulativen Dimension dar. Wenn die Frage nur darin besteht, die Struktur der Phänomenalität als solche zu bezeichnen und das nicht-metaphysische Wesen der Phänomenalität zu behaupten, dann können die Frage und ihre spekulative Entwicklung nur eine wesentliche Verbindung zwischen dem Wesen bzw. der Struktur der Phänomenalität und der Öffnung/Offenheit aufweisen. Das Ich ist (sein) Horizont und »sein Horizont-Sein« – nichts »Sachliches«, nichts Substantiales, nichts Transzendental-Funktionales, nichts Persönliches (rien de personnel), sondern nach der modalen Struktur der spekulativen Situation fixiert. Derjenige, der im Abstand der neutralisierten Frage erfährt, kann sich nur als Wirklichkeit der Öffnung/Offenheit der unendlich möglichen Deklinationen der psychologischen Urdistanz auffassen. Die Wirklichkeit der Öffnung, als Invariant jedes möglichen Erfahrens in solcher Wirklichkeit, zeigt sich als Notwendigkeit. Dasjenige, was die spekulative Situation in Sicherheit bringt, ist schlussendlich ihre ganz bestimmte modale Natur. Das, was man erfassen kann, ist weder ein Sachverhalt noch ein Gegenstand im naiven Sinne einer ontologischen Konkretion, sondern ein eidetisches Faktum im Sinne einer reinen Formalität, einer 2
Vgl. infra Kap. XI-XIII.
239 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
Situation, die nichts Mythisches an sich hat. Das Horizont-Sein des »Ich« kann sich als Grundlage, als Prinzip enthüllen, allerdings nicht eines Weltsystems bzw. Weltbildes. Das »Ich« ist »Horizont« als Prinzip, dessen Funktion es ist, den ganz besonderen Bereich der spekulativen Situation zu erfassen. Das »Horizont«-Sein des »Ich« enthüllt unmittelbar die Anforderung und gewinnt konsequenterweise seinen prinzipiellen Sinn aufgrund der Spiegelhaftigkeit zwischen der Fülle des psychischen und geistigen Lebens auf der einen Seite und der Sinnleere auf der anderen Seite. Das »Ich« ist »Horizont« im Sinne der Öffnung/Offenheit einer nicht-metaphysischen Befragung über den Sinn des Schauens, über die Theôría als Sinnstrukturierung des psychischen und geistigen Lebens des Menschen. Man kommt dadurch zurück zum Zustand der Offenheit, in dem das spekulative Denken der Griechen die zentralen Probleme ließ. Das bedeutet nicht, dass das spekulative Denken in der Oberflächlichkeit eines Denkens gehalten werden soll, ganz im Gegenteil: Die Offenheit ist hier die Befreiung von metaphysischen, vorbestimmten Möglichkeiten. Die spekulative Situation, welche einen neuen Sinn des »IchHorizonts« erfasst, erneuert den Sinn der Theôría als Öffnung/Offenheit des Geistes und des Denkens, sei es in der Fülle des psychischen und geistigen Lebens, sei in dem Mangel eines absoluten Sinnes, der das Menschliche als solches charakterisiert. Die Beschreibung und die Strukturierung von demjenigen, das sich zur Theôría öffnet, ist eigentlich das, was das Prinzip des »Ich-Horizonts« begründen kann: ein neuer Befragungssinn vom Sinn der Schau. Ein solcher Sinn kommt nicht mehr und nicht weniger der Entstehung einer neuen Form – doch zugleich Ahnenform – des Menschen gleich, sich demjenigen zu öffnen, was sich manifestiert. Der Sinn einer prôtê Epistême als solcher ist nicht zufällig in der Behauptung »Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει« festgelegt. Folglich öffnet der »Ich-Horizont« von neuem den Sinn dieses Eidenai und dieses Theôrein mittels der eidetischen Feststellung der spekulativen Situation. Damit sich der neue, spekulative Sinn des Prinzips »Ich-Horizont« des Ausgangspunkts einer solchen Befragung des Wissens der Phänomenalität enthüllen kann, muss man die Physis der Theôría selbst durch die Äquivalenz zwischen Ich und Horizont auffassen.
240 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 31. Die verlorene Subjektivität und die Öffnung der ontologischen Analysen
§ 31. Die verlorene Subjektivität und die Öffnung der ontologischen Analysen Der »Ich-Horizont« erscheint als etwas absolut Fremdes oder ganz einfach als ein philosophischer Widersinn. Gerade von dieser Erscheinung des philosophischen Widersinns muss man ausgehen, um alle Folgerungen der spekulativen Situation zu explizieren. Dass diese Äquivalenz als ein Widersinn betrachtet wird, weist wesentlich auf den Konkretionsgrad des Glaubens an eine solche Kernidee hin. Es handelt sich um die Idee eines unantastbaren Orts des ganzen Menschen, das Allerheiligste der Person, als ob dieser Kern, dieser geheime Ort, ontologisch beschützt vor und geteilt von dem Außen wäre, durch eine vorausgesetzte Transparenz, das heißt durch eine Introspektion zugänglich. All dies, scheinbar unerheblich, erscheint derart evident, dass es nie dem Zweifel unterzogen wurde. Jedenfalls ist es nur das Ergebnis und die Folge einer metaphysischen Entscheidung, diejenige, welche die am meisten trügerische ist, welche (seit einer gewissen Epoche) eine solche Trennung einleitet. Aber eine solche Trennung zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem »Ort des Selbst« und dem »Ort der Welt«, setzt eine gänzlich illusorische metaphysische Topologie voraus. Die spekulative (doch vorher phänomenologische) Bedeutung des »Ich-Horizonts« kann nur durch den Ersatz einer Dichotomie durch eine Äquivalenz aufgefasst werden: »Das intentionale Innen (als Idee des erkenntnismäßig Bewährbaren) ist zugleich Außen.« 3 Die topologische Trennung der christlichen Metaphysik zwischen Innen und Außen (Person und Dinge, Geist und Welt) trägt dazu bei, die Aufgabe jeglicher Ontologie als Disziplin zu definieren, die schon zur Welt der Dinglichkeit gerichtet ist. In diesem Sinne trägt diese topologische Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen der Dimension der Seele und der Dimension der Welt, dazu bei, zwei falsche Bilder des Spekulativs zu definieren, die der Fälschung einer dualistischen Erfahrung entsprechen. Auf der einen Seite gibt es die spekulative Schau als de specula prospicere, die fragende Stimmung, welche zur Welt der Gegenstände gerichtet ist, auf der anderen gibt es die Reflexion als per speculum videre, um das Selbstbild durch eine Reflexionserfahrung zu begreifen, die der weltlichen ErfahE. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, Hua. 15, S. 556.
3
241 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
rungsperspektive fremd ist. 4 Dasjenige, was das Subjekt in der neuzeitlichen Philosophie sein wird, wird folglich nichts anderes tun, als diese falsche Dichotomie zu reproduzieren, indem das Feld der Untersuchung des Weltlichen als Ontologie umgestaltet wird. Doch die dadurch gewonnene Onto(theo)logie ist um den Preis einer Voraussetzung über die Natur der Erfahrung als subjektive Erfahrung, als Erfahrung eines Subjekts in der Eigenschaft als res gewonnen. Die sogenannte »Entdeckung der Subjektivität« ist durch eine wesentlich falsche dingliche Dichotomie begründet. Einerseits sind der Begriff der »Ontologie« und der Begriff des »Subjekts« in ihren »traditionellen« metaphysischen Deklinationen dem »Ich-Horizont« radikal entgegengesetzt. Andererseits treffen sich diese zwei Begriffe kraft der Deklination, welche durch die Bestimmung des »Subjekts« der Ontologie vorgeschrieben wird und die als Metaphysik zu verstehen ist. Je stärker der Begriff des »Subjekts« – ein Subjekt, als res cogitans, als »Monade« oder auch als »transzendentales Subjekt (Ego)« verstanden – ist, desto mehr bleibt das Wesen des »Ich-Horizonts« – das eine nicht-metaphysische (und folglich nicht-aporetische) Idee der Ontologie selbst zulassen könnte – verdeckt. Der »Ich-Horizont« ist kein »Subjekt«, genauso wie die ontologische Analyse, die er eröffnet, keine »Ontologie« im metaphysischen Sinn ist. In diesem Sinn gibt es eine Beziehung, welche es auch sei, zwischen dem »Ich-Horizont« und der Öffnung einer ontologischen nicht-metaphysischen Analyse. Es gibt jedenfalls eine Beziehung zwischen der Analyse des »Ich-Horizonts« und dem Projekt der Öffnung einer ontologischen (bzw. meta-ontologischen) Analyse. Deshalb müssen wir anfangen, einen der beiden Terme zu definieren, den »Ich-Horizont«, bevor auf der Grundlage seiner eidetischen Kategorisierung die ontologische Analyse (als Meta-Ontologie) eingeleitet wird. 5 Wir setzen, für den Moment, die Ontologie in Klammern, wie konsequenterweise auch jegliche ontologische und metaphysische Vgl. oben Nachwort, Fn. 12. Vgl. Kap. IX-X. Das folgt aus dem einfachen Grunde, dass einzig eine ontologisch neutrale, eidetische Erfassung des »Ich-Horizonts« ein Feld der ontologischen Analyse eröffnen kann, das nicht gleichzeitig die Einleitung einer Ontologie mittels einer ontologischen und (daher) metaphysischen Verpflichtung darstellt. Tatsächlich wird dies die Analyse des »Ich-Horizonts« als solcher erweisen, der uns diese metatheoretische Dimension eröffnen wird, in welcher wir die Analysen der Ontologie als solche werden unternehmen können.
4 5
242 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 32. Die spekulative Situation
Verpflichtung zum »Ich-Horizont«, deren Unmöglichkeit im Laufe dieses Kapitels gezeigt werden wird. Für die eidetische Fixierung des »Ich-Horizonts« dürfen wir eine nicht-ontologische Konstitution seiner Termini denken: Jegliche ontologische Verpflichtung bezüglich des »Ich-Horizonts« wäre lediglich eine Erneuerung der Metaphysik. Die Subjektivität ist jetzt verloren. Die metaphysische Setzung eines »Subjekts« gewinnt zwar »eine« Ontologie, löst jedoch auch die Möglichkeit auf, sich für eine ontologische (bzw. meta-ontologische) Analyse zu öffnen. Sie gewinnt eine Welt, deren Gewinn sich als illusorisch herausstellt, wenn man berücksichtigt, dass diese Welt nur eine dogmatische Kategorisierung ist, welche übrigens von der metaphysischen Setzung selbst abweicht. Die Metaphysik der »Subjektivität« kann sich nur auf eine »Welt« beziehen, die nach ihrem Bild und Gleichnis geschaffen wurde. Ein dogmatisches und beschränktes »Weltbild« – und wie könnte es anders sein, sobald es sich um »ein« Weltbild handelt? – sucht seinen metaphysischen Stützpunkt, seine Begründung auf »ein« Subjekt, als »ein Modell der Subjektivität« aufgefasst. Der »Ich-Horizont« kann folglich ausschließlich als unabhängig von seinem Seinscharakter als Subjekt gedacht werden, das heißt jenseits vom Sein des Subjekts oder jeglicher ontologischer Kategorie, die darauf ausgerichtet ist, es auf eine wohldefinierte, ontologische Figur zu reduzieren. Das heißt nicht, dass wir nicht existieren, sondern dass die spekulative Situation unserer Erfahrung kaum etwas ontologisch Konkretes noch etwas ontologisch Kategorisierbares ist.
§ 32. Die spekulative Situation Die spekulative Situation ist diejenige Situation, in welcher ich mich in der Unmöglichkeit jeglicher Auffassung der Interiorität ohne Öffnung befinde. Spekulativ ist die Situation, in welcher ich stets und notwendigerweise eine Auffassung in der Öffnung habe und, auf exakt spekulative Weise, ein Spiegelbild zurückbekomme. 6 Mit andeWir haben sozusagen mit einer doppelten optischen Dynamik zu tun, durch welche die dioptrische Öffnung über »das Thematische« als solches mit einer katoptrischen Dynamik, als Selbstbeziehung, verschmolzen ist. Eine solche Situation ist schon von zwei Ansätzen zur phänomenologischen Dimension der Erfahrung anerkannt: Der eine Ansatz stammt von Heidegger, der andere von Merleau-Ponty, wenn es für beide darum geht, die Grundlagen oder die Grenzen der allgemeinen phänomenologischen
6
243 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
ren Worten: Die spekulative Situation ist die Erfahrung, gerade klar herausgestellt durch die Auffassung des [Ich](was/wer?), derzufolge einzig eine Sach-Erfahrung als intentionale Öffnung mir selbst als Individuum ein Spiegelbild meiner selbst gibt. In und durch die spekulative Situation gibt es auf konstitutive Weise nie eine Dichotomie zwischen dem prospicere de specula und dem videre per speculum, weder eine Erfahrung einer reinen Exteriorität ohne Selbstbeziehung noch eine Selbsterfahrung ohne thematische, intentional-polarisierte Öffnung. Jede Sach-Erfahrung ist das speculum, notwendigerweise opak, eines videre als Selbstbeziehung. In diesem Sinne bestimmt die spekulative Situation die Unmöglichkeit einer absoluten Transparenz des Subjekts für/zu sich selbst, zuallererst, weil das Subjekt selbst nur das Residuum eines metaphysischen Missverständnisses ist. Aber jede Sach-Erfahrung ist daher eine Deklination der spekulaStruktur der Erfahrung aufzufassen. Am Punkt b) des fünfzehnten Paragraphen der Grundprobleme der Phänomenologie, dort, wo es darum geht das »Mitenthülltsein in seinsverstehende[m] Sichrichten auf Seiende[s]« zu fixieren und zu beschreiben, betont Heidegger: »Es [das Dasein] bedarf nicht einer eigenen Beobachtung und einer Spionage gegenüber dem Ich, um das Selbst zu haben, sondern in unmittelbarem leidenschaftlichen Ausgegebensein an die Welt selbst scheint das eigene Selbst des Daseins aus den Dingen wider«. Heidegger bemerkt schließlich: »Das ist keine Mystik und setzt keine Beseelung der Dinge voraus, sondern ist nur der Hinweis auf einen elementaren phänomenologischen Tatbestand des Dasein, den man vor allem noch so scharfsinnigen Gerede von Subjekt-Objekt-Beziehung sehen muss« [M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 227]. Merleau-Ponty hilft uns seinerseits eine solche dioptrische und zugleich katoptrische Dimension der horizonthaftig situierten Erfahrung durch eine ähnliche Analyse zu verstehen: »Sehen und Berühren beginnen dort, wo ein bestimmtes Sichtbares, ein bestimmtes Berührbares sich zurückbezieht auf alles Sichtbare und Berührbare, an dem es teilhat, oder wenn es sich von diesen plötzlich umgeben findet, oder wenn sich durch wechselseitigen Austausch zwischen ihm und dem Ganzen eine Sichtbarkeit an sich, ein Berührbares an sich herausbildet, die im eigentlichen Sinne weder dem Korper als Faktum noch der Welt als Faktum angehören, – ebenso wie auf zwei voreinanderstehenden Spiegeln zwei unendliche Reihen ineinander verschachtelter Bilder entstehen, die in Wahrheit keiner der beiden Oberflächen angehören, da eine jede nur die Replik der anderen ist und infolgedessen beide zusammen ein Paar bilden, ein Paar, das wirklicher ist als jede einzelne von ihnen. Deshalb sieht der Seiende, der vom Gesehenen eingenommen ist, immer noch sich selbst: es gibt einen grundlegenden Narzißmus für jedes Sehen; und aus demselben Grunde erleidet er das Sehen, das er praktiziert, auch vonseiten der Dinge […].« [M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, 1986, S. 183]. Für den Standpunkt der Neurowissenschaften, die nicht die Plularisierung von Sach-Erfahrung und Identifizierungsformen in Frage stellen, vgl. V. S. Ramachandran, The neurology of self-awareness, The Edge, 2007: http://edge.org/conversation/the-neurology-of-self-awareness.
244 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 32. Die spekulative Situation
tiven Situation, da sie, als Sach-Erfahrung, das Spekulative jeder Situationalität (implizit) enthält. Nun könnte jemand behaupten, dass die spekulative Situation als konstitutive Identität der »Extro-Flexion« der Erfahrung und der Selbstbeziehung noch gänzlich nachzuweisen ist, wohingegen die Identität des Subjekts etwas ist, das man beweisen kann. Das Problem ist, dass sich jeglicher Evidenzhinweis eines Subjekts im Medium eines mentalen Zustands ergibt, sogar wenn er auf die Körperlichkeit gerichtet ist; demzufolge muss nicht die Korrelationsinvarianz zwischen Sach-Erfahrung und Selbstbeziehung bewiesen werden. Was vielmehr bewiesen werden muss, ist, dass ohne Korrelation eine völlig autonome und konsistente Selbstbeziehung stattfinden könnte. Wenn man in diesem Sinne den »Ich-Horizont« als Äquivalenz betrachtet, kann die spekulative Situation nur eine Auffassung der Selbstbeziehung als Öffnung sein. Entlegen von jeglicher Möglichkeit, durch eine ontologische Verpflichtung betraut zu sein, frei von jeglicher Subjektivierung als metaphysischer Konstitution des (bzw. »in der Form des«) »Subjekts«, erscheint der »Ich-Horizont«, anstatt sich schon als Schlüssel zur Öffnung einer metatheoretischen Dimension herauszustellen, vielmehr als ein so inkonsistenter Begriff, dass er quasi nicht behandelt werden kann. Der absolut neutrale Zustand des »Ich-Horizonts« als Struktur der spekulativen Situation, seine eigene ontologische Inkonsistenz, stellt die Frage nach der Methode, durch die der »IchHorizont« als prinzipielle und ursprüngliche, eidetische Entität behandelt werden kann. Im »Ich-Horizont« gibt es sicherlich kein existentialistisches Motiv, um den Menschen als »Verwahrer eines Sinns« zu bestimmen, es gibt keine metaphysische Deklinationsmöglichkeit, die eine Lösung zum Problem des Heils/Wohls bereitstellt, es gibt – prima facie – keine ethisch, sozial oder anthropologisch erfassbare Realität als Antwort auf die Sinn-(An-) Frage. Um den »Ich-Horizont« als Struktur der spekulativen Situation eidetisch zu denken, muss man zuerst persönlich das psychologische und spekulative Gewicht der eidetischen Behandlung einer solchen Wirklichkeit über sich selbst annehmen. Jedoch ist die Unzulänglichkeit, einen philosophischen Ausgangspunkt in der spekulativen Situation aufzufassen, nichts anderes als das Zeugnis vom Charakter einer noch operativen Metaphysik im Denken. Glücklicherweise können wir die spekulative Situation in ihrer Neutralität denken, das heißt in ihrem Zustand der Entfernung von jeglicher unterstellten 245 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
und nicht expliziten Anthropologie. Die alleinige, leibhafte Gegebenheit des »Ich« stellt sich, vom eidetischen Standpunkt, als eine spekulative Situation heraus. Das »Ich« weist nicht diejenige Eigenschaft auf, einen Horizont zu haben; das »Ich« ist die Öffnung jedes Gerichtet-Seins, es stellt sich als der Horizont des Gerichtet-Seins heraus. Als solcher entzieht es sich jeglicher physischen, also materiellen, sowie metaphysischen oder ontologischen Charakterisierung. Dies ist ganz einfach der Fall aufgrund der Tatsache, dass etwas als »Öffnung« und zudem als eine »modale Öffnung« keinen ontologischen Status hat: Es ist außersein. 7
§ 33. Der »Ich-Horizont« jenseits des Seins Wie könnte man eine Öffnung ontologisieren? Unter Rückgriff auf das Loch? Jedoch wird man sich bewusst, dass der Begriff der »Öffnung« viel fließender, mehrdeutiger und »ausweichender« ist als derjenige des Lochs. Wenn man die Öffnung auf das Loch im Bereich der naiven Physik reduzieren wollte – deren ontologische Kategorisierung gar nicht naiv ist, sondern sehr raffinierte Begriffe der MereoTopologie erfordert [infra § 110–111] –, reicht die Ontologie des Lochs gänzlich hin, um sie zu kategorisieren und sie ontologisch zu bestimmen. 8 Aber durch die Reduktion verlöre man eo ipso den Sinn der »Öffnung«. Was man hier also fragt, ist, ob und nach welchen Modalitäten man eine Art topologische Bestimmung der Öffnung denken kann, die dann zu einer ontologischen Kategorisierung der Öffnung und ihrer Deklination führen kann. Diese Topologie entfernt sich von der Topologie der ontologischen Bestimmung des Lochs, weil diese immer zwingt, die Öffnung als »Öffnung in etwas« zu kennzeichnen, zumindest nach einer ersten Analyse. Dasjenige, was konsequenterweise die Öffnung vom Loch trennt, ist ihr Überschusscharakter, ihr Residuum bezüglich des Lochs. Jedes Loch ist eine Öffnung, aber nicht jede Öffnung ist ein Loch. Die Öffnung, die als Loch erscheint und sich als Loch charakterisieren lässt, ist nur insofern ein Loch, als dass sie durch die scheinbare Synonymie der zwei Begriffe (in der metaphorisch-konzeptuellen Semantik der naiven Physik) als ein solches ausgedrückt wird. 7 8
Vgl. A. Meinong, Über Gegenstandstheorie, cit., § 4. Vgl. R. Casati – A. Varzi, Holes and other Superficialities, Cambridge (MA), 1994.
246 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 33. Der »Ich-Horizont« jenseits des Seins
Was die Öffnung kennzeichnet, besteht darin, dass sie nie ein »in dem« als ontologischen Bestand zu begreifen zulässt: Durch sie kann man einfach begreifen, was sich in ihr zeigt. Es gibt keine Topologie der Öffnung im Sinne des genitivus objectivus, sondern nur im Sinne des genitivus subjectivus: Die Öffnung ist niemals in etwas wie ein topologischer oder syntaktischer Raum, sogar wenn er metaphorischkonzeptuell ist. Sie ist stets die Stiftung eines topologischen oder syntaktischen Raumes, in dem man sich mit der Bestimmung eines quid befasst, eines ontologisch-regional thematischen Elements. Es ist aufgrund dieser überschüssigen Natur der Öffnung bezüglich der Ontologie (bzw. der ontologisch-formal vollständigen Charakterisierung) des Lochs, dass man die Öffnung hinsichtlich ihrer Modalität denken kann: Diese Beziehung bestimmt den Überschuss der Öffnung bezüglich der Ontologie selbst, d. h. die Unmöglichkeit, die Öffnung ontologisch zu thematisieren, ohne eine Öffnung der Thematisierung aufzuweisen. Eine Frage (als thematische Annahme) ist offen, denn ohne ihren thematischen Raum ergeben sich auf disjunktive Weise mehrere Erfüllungsmöglichkeiten und daher Konfigurationsmöglichkeiten der Evidenz. Falls jedoch die Öffnung die Möglichkeit dadurch enthält, dass sie das Gegebenheitsfeld der Möglichkeit darstellt, entwischt ihre Natur der Ontologie, sogar der Seinsbestimmung als Sein einer gebundenen Variable. 9 Als Konsequenz denkt man entweder eine Ausdehnung der Ontologie derartig, dass sie eine Ontologie der Öffnung zulässt (was unmöglich scheint, wenn man beachtet, dass die ontologisch-formale Charakterisierung der Öffnung stets unvollständig wäre), oder man betrachtet die Öffnung einfach als außersein, überschüssig jeglicher Ontologie als solche, auch in allen ihren möglichen Regionalisierungen betrachtet. Die Öffnung stellt sich also für die Ontologie als überschüssig heraus, denn jede Thematisierung – und daher auch jede ontologische Thematisierung – stellt sich aufgrund der Öffnung des Gerichtet-Seins als Stiftung eines thematischen Feldes als »möglich« heraus: Dank und kraft dieses Feldes ist das »Thematische« »dieses Thematische«. Jede ontologische Thematisierung der Öffnung erweist ipso facto ihre konstitutive Verspätung bezüglich ihres Ursprungs: die Bedingung, kraft welcher sich ein thematisches Feld öffnete oder worin die Öffnung selbst, als Thema, als Objekt einer Befragung, angenom9
Vgl. W. v. O. Quine, From a logical point of view, cit., S. 13.
247 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
men werden konnte. Jedoch stellt sich der »Ich-Horizont« gegenüber jeder Ontologisierung als überschüssig heraus. Wie kann man ihn dann als thematisches Objekt einer Betrachtung annehmen? In welchem Sinn fiele er in eine Ontologie bzw. Tinologie? 10 Ist er ein Gegenstand? Ist er ein Sachverhalt? Ist er ein Faktum oder ein Ereignis? Die Ontologie als solche findet durch dieses Fragen ihren Grund in dem »Ich-Horizont« und weist ipso facto ihren Verspätungscharakter bezüglich des Letzteren auf. Der »Ich-Horizont« bleibt ex principio ein »Etwas«, das gemäß den ontologisch-formalen Prädikaten unmöglich vollständig zu begreifen ist. Der »Ich-Horizont« ist kein Gegenstand. Als Öffnung-wohin jede Erfahrung der thematischen Gegenständlichkeit in allen ihren noetischen und noematischen Deklinationen stattfindet, kann er niemals als Gegenständlichkeit aufgefasst werden. Um als Gegenständlichkeit aufgefasst zu werden, würde er eine »Öffnung-wohin« benötigen und als Konsequenz sich selbst als überschüssig – als Bedingung – gegenüber der Erfahrung von sich selbst als Gegenständlichkeit wiederherstellen. Der »Ich-Horizont« ist auch kein Sachverhalt, weil auf dem psychologischen Niveau der intentionalen Erlebnisse der Sachverhalt ein mentaler Zustand ist. Dahingegen kann der »Ich-Horizont« sich nur als die kontextuelle Invariante von jeglichem intentionalen Bewusstsein herausstellen. 11 Falls der »Ich-Horizont« tatsächlich nicht dieser oder jener anderen Konfiguration der mentalen Zustände entspricht, repräsentiert er sogar die Möglichkeit, dass es eine solche Konfiguration gibt und dass es einen Wechsel gibt, eine Folge zwischen einem Erlebnis und einem anderen (auch zwischen dem mentalen Zustand und seiner intentionalen Betrachtung), zwischen einem thematischem Gegenstand und einem anderen, eine Beziehung zwischen ihnen etc. Der »Ich-Horizont« ist auf identische Vgl. P. Aubenque, Une occasion manquée: la genèse avortée de la distinction entre l’»étant« et le »quelque chose«. In P. Aubenque – M. Narcy (Eds.), Études sur le Sophiste de Platon, Napoli, 1991, S. 367–385. 11 Die These der Kontextabhängigkeit – derzufolge man nur vom Innen eines Kontext reden kann, ohne es gleichzeitig objektivieren zu können – und die Aporien, die aus ihrer Aufhebung entstehen, zeigen, dass es umöglich ist, ohne Öffnung bzw. öffnungslos irgendetwas zu erfahren. Der »Ich-Horizont« ist ebendieser unberührbare Punkt, der nicht zu objektivieren ist und welcher der Konvergenzpunkt zwischen den Aporien eines als ein in sich gedachtes, kontextunabhängiges Subjekt und eines in sich gedachten, kontextunabhängigen Objekt ist. Jede Erfahrung zeigt eo ipso eine kontextuelle Salienz. Für eine Erläuterung der Verbindung zwischen »Salienz« und Deixis bezüglich der Kontextualität [infra § 49]. 10
248 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 33. Der »Ich-Horizont« jenseits des Seins
Weise ebenfalls kein Ereignis: Ein Ereignis – das heißt das intentionale Bewusstsein eines Ereignisses und folglich der ontologisch-formale Gedanke des Ereignisses (oder des Sachverhalts/Gegenstands) als solcher – bedarf einer thematischen Öffnung, in welcher sich das »Ereignis« als solches gibt. Der Ich-Horizont ereignet sich nicht, er ist jederzeit und einfach diese thematische Öffnung, worin jedes Ereignis sich zeigt. Wie kann man also vom »Ich-Horizont« sprechen, ohne gleichzeitig in die Aporie zu verfallen, ihn auf einen Gegenstand, Sachverhalt oder ein Ereignis zu reduzieren? Diese funktionale Struktur des »Ich-Horizonts« enthüllt die Selbstbezüglichkeit als haecceitas weder eines Gegenstands noch eines Sachverhalts noch eines Ereignisses, sondern einer Öffnung. Wie man im nächsten Paragraphen sehen wird, ist das Paradoxon des »Ich-Horizonts« als haecceitas einer intentionalen Öffnung das Paradoxon der Selbstbeziehung. Die Unmöglichkeit der Ontologisierung des »Ich-Horizonts« ist gleichzeitig die Unmöglichkeit, der Mehrdeutigkeit zwischen der ersten Person der Erfahrung und der dritten Person der Ontologie zu entkommen. Die Erfahrung der Selbstbeziehung ist niemals noch wird sie jemals eine Erfahrung von der Persönlichkeit in der Perspektive der dritten Person sein können, einer Persönlichkeit, die sich ipso facto durch metaphysische Annahmen auf die Ontologie reduziert. Die Selbstbeziehung als solche fixiert in der ontologischen Unbestimmbarkeit den »Ich-Horizont« als haecceitas einer intentionalen Öffnung, von welcher man ausschließlich die Erfahrung des »wohin« macht: Die Analyse der Selbstbeziehung kann nie zu einer integralen Vergegenständlichung desjenigen führen, was sie als thematischer Gegenstand einer Befragung angenommen hat. Wenn man den »Ich-Horizont« als »Person« betrachtet, könnte man sich ausdrücken, indem man sagt, dass es nie eine Erfahrung des »Ich-Horizonts« in der dritten Person geben wird. Die Selbstbeziehung ist also etwas, wovon man spricht, ohne dass sie eine vollständige Vergegenständlichung erreicht, ohne dass das Denken und das Gerichtet-Sein als ein Sein konfiguriert werden können. Der »Ich-Horizont« ist in seiner paradoxalen und überschüssigen Natur gegenüber der Ontologie jenseits des Seins, er ist, ohne Gegenstand zu sein, nochmals, zuerst außersein. Jedoch in einem richtigen Sinne eben überschüssig im Vergleich zum Außersein, welches durch die Gegenstandstheorie Meinongs gedacht wird, denn er scheint kein Gegenstand einer Annahme sein zu können. 249 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
§ 34. Der »Ich-Horizont« und das »Selbst« Die negative Ontologie des »Subjekts« stellt eine Reihe entscheidender Fragen über die spekulative Situation: Wie kann unsere Analyse des »Ich-Horizonts« so etwas wie die Evidenz des »Ich-Horizonts« selbst hervorbringen? Wenn der »Ich-Horizont« nicht der Gegenstand einer direkten Erfahrung ist, wenn er ausschließlich kraft der spekulativen Situation aufgefasst wird, wie könnte man eine Ontologie der Person oder eine Theorie der Subjektivität auf eine so ungewisse und so schwache Erfahrung des »Ich« begründen? Doch die eidetische Analyse des »Ich-Horizonts« zeigt, dass die spekulative Situation nicht ihren Abschluss in der Begründung findet und niemals fand. Die spekulative Fixierung des »Ich-Horizonts« hat die Entwicklung einer Ontologie der Person, einer Theorie des Subjekts oder allgemeiner, einer Philosophie des Geistes nicht zum Ziel. Wenn dies eine Verbindung mit der spekulativen Situation und ihren Entwicklungen haben wird, wird dies aufgrund der Tatsache sein, dass sie einen metatheoretischen Raum einführt, in welchem die Philosophie des Geistes individuiert sein kann, als »Gegenstand« bzw. als »Zusammenhang von Gegenständen« aufgefasst und beschrieben [infra § 129]. Die Aufhebung des Seins des »Ich-Horizonts« stellt zugleich die Möglichkeit, den »Ich-Horizont« entsprechend der Ontologie der Person zu denken, außer Frage. Die Fixierung der spekulativen Strukturen des »Ich-Horizonts« entfernt sich – da sie sie voraussieht – von jeglicher Reduktion, die im Sinne einer reduktionistischen Philosophie des Geistes verstanden werden könnte. Der wesentliche Unterschied, der das Säumnis der Philosophie des Geistes bezüglich des »Ich-Horizonts« kennzeichnet, besteht darin, dass dieser letzte sich keinesfalls als Antwort auf das Problem der personalen Identität oder der Verbindung »Geist-Welt« präsentiert. Im Gegenteil hebt er sein spekulatives Bestehen unmittelbar durch die Annahme in der ersten Person des »Problems« der personalen Identität wieder auf. Es ist kein Zufall, dass das Ich, welches sich als Kern der spekulativen Situation herausstellt, durch eine unilaterale Antwort auf die Frage vernichtet wurde. Die Abwesenheit eines akzeptablen Kriteriums, um von einer (metaphysisch verstandenen) Person zu sprechen, die durch den Wechsel der Zustände besteht, ist nicht der Beweis der Leere oder der Inkonsistenz der spekulativen Situation, sondern ihr Ursprung. Sowohl ein substantialistisches Modell als auch das reduktionistische 250 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 34. Der »Ich-Horizont« und das »Selbst«
Modell – das die Selbstbeziehung mit einfachen synaptischen Mechanismen identifiziert (die Kognitionswissenschaften haben nichts weiter als eine materialistische Metaphysik als Grundlage) – sollen eingeklammert werden. Aus der »spekulativen« Perspektive des »Ich-Horizonts« (der jede ontologische Verpflichtung ausschließt) ist es äquivalent, von der »Person« als diesem oder jenem Typ eines physischen Zustands oder als äußerstem und nicht bestimmbarem Begriff zu sprechen. Genauso gibt der Realismus dem Reduktionismus des Geistes die geringste Aufklärung über die Abwesenheit des Sinns, der seine ursprüngliche Konkretion in derselben Sinnfrage findet: »Was/wer bin ich?« Wenn der Geist mit einer solchen Selbsttransparenz ausgestattet wäre, wie es der Realismus behauptet, woher würde die Sinnfrage kommen? Wenn, im anderen Fall, sich die Person mit einer gewissen Gesamtheit mentaler Zustände identifiziert, welche die Wirkung einer einfachen Mechanik sind, woraus geht (dann) die Sinnfrage als Frage hervor? Es gibt gleichwohl andere Thesen, die das »Ich« und das Bewusstsein des Selbst betreffen, welche, trotz ihrer spekulativen Verspätung bezüglich des »Ich-Horizonts«, interessante Motive über die Entwicklungen der Strukturen suggerieren, ausgehend von der spekulativen Situation. Tatsächlich übersteigt der Reduktionismus niemals den Physikalismus und die Erneuerung der These einer cartesianischen Selbsttransparenz ist trügerisch: Alle beide könnten schwerlich die Abwesenheit eines Sinns zugeben, in diesem Sinne, dass eine schöpferische Handlung von »Sinn« wie die Morphogenese 12 und die kreative Aktivität der Sprache 13 auftritt. Jedoch gerät der Einwand, der eine schöpferische Dimension der Sprache behauptet, angesichts einer antireduktionistischen, nicht realistischen Position in eine Krise. Der Funktionalismus behauptet, dass die Person sich mit einer gewissen Menge mentaler Zustände identifiziert, aber idealerweise unabhängig von dem materiellen Substrat, das sie instanziiert, verwirklicht, implementiert. Die Aufmerksamkeit des funktionalistischen Ansatzes richtet sich – nach Putnam 14 – allein auf das »Wie«
Vgl. J. Petitot, Morphogénèse du sens, Paris, 1985, Kap. II. Siehe hierzu N. Chomsky, Cartesian Linguistics: a Chapter in the History of rational Thought, New York, 1966, S. 47 f. 14 Vgl. H. Putnam, Mind, Matter and Reality. Philosophical Papers, Cambridge, 1975, S. 362 fg. 12 13
251 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
und nicht auf das »Was« (das ist das materielle Substrat) der Organisation der mens. Dadurch gibt er sehr interessante Vorschläge zur intentionalen Analyse, denn er schlägt den Begriff der Modularität (ein Begriff, der übrigens schon von Husserl implizit bearbeitet wurde) im Rahmen einer »Computational Theory of Mind« [CTM] vor. 15 Eine solche Theorie des Geistes versteht die mens als Verarbeitungssystem für Informationen: Indem die Autonomie des »Mentalen« im Verhältnis zum »Physischen« bewahrt wird, stellt sie Methoden bereit, um die Verarbeitung von Informationen bezüglich der Grundstrukturen zu interpretieren, die die Wahl einer rationalen Strategie erlauben. Das frame problem liefert ein sehr interessantes Bild von der Funktionsweise der mens, die man auf die intentionale Analyse zurückführen müsste, indem man sie als einen organisierten Komplex von intentionalen Strukturen interpretiert, in dem sich die Strukturierung einer Sach-Erfahrung (gerade) niedergelassen hat. Unabhängig von der Schwierigkeit dieser Perspektive, einen kognitiv komplexen Prozess zu erklären, sagt uns der neuronale Darwinismus, dass es eine Art Genese der modularen Verarbeitungs-Strukturen von perzeptiven Informationen gibt, eine Genese in einem strikten und wesentlichen Verhältnis mit der Umgebung, durch welche man die Erschaffung von »perzeptiven Mappings« herbeiführt, die kontinuierlich der Rekonfiguration (bzw. der Umgestaltung) unterworfen sind. Falls jedoch der neuronale Darwinismus nur bei dem Umstand innehalten kann, eine biologische Modularität vorzuschlagen, welche die Gegebenheiten auf einem tiefliegend verorteten, kognitiven Informationsniveau betrifft, dann erlaubt uns die Neutralisierung jeglichen Psychologismus sowie jeglichen Biologismus, eine Erweiterung der Modularität zu denken. Die CTM stellt uns die kognitive Struktur als zusammengesetzt und artikuliert durch »relativ autonome kognitive Agenten« 16 dar. Solche spezialisierten »Module« der mens sind als autonome Agenten zu verstehen, welche die Informationsmengen »bilden« und auf drei bestimmte Eigenschaften hinweisen. Die erste ist genau jene Modularität. Die zweite ist der Automatismus, demzufolge die Bildung und die Strukturierung der Gegebenheiten von unserem Willen unabhängig sind. Die dritte ist die komputationelle (computational) Isolierung, die behauptet, dass jede Struktur ihre spezifischen Inputs 15 16
Vgl. J. Fodor, The modularity of Mind, Cambridge (MA), 1987. Ebd. S. 42.
252 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 34. Der »Ich-Horizont« und das »Selbst«
verarbeitet, indem sie den ganzen Rest ins Abseits bringt, der sich nach oder durch die anderen, modularen Strukturen ereignet. 17 Obwohl die CTM keine befriedigende Erklärung der komplexen Aktivitäten der menschlichen Intelligenz abgeben kann, weil sie nur noch als ein offenes Projekt bleibt, obgleich sie ein sehr vereinfachtes Bild – fast naiv – der psychisch-kognitiven Welt bereitstellt, treibt uns die Modularität zu radikalen Folgerungen gegenüber jeglichem metaphysischen Denken des »Ich« und für das spekulative Denken des »Ich-Horizonts«, das diesem metaphysischen Denken entgegensteht. Ohne Bezugnahme auf einen spekulativen Ansatz sind die Folgerungen einer derartigen Modularitätsthese schon mittels einer Variante des Funktionalismus gezogen worden, die »homunkularer Funktionalismus« 18 genannt wird. Nach dieser These stellt die Einheit des Bewusstseins nichts anderes dar, als eine »durch Myriaden von Zuschreibungen definierte Abstraktion […] die man zusammensetzt aus der Biographie des lebenden Körpers, wovon sie das Zentrum der narrativen Tiefe ist« 19. Wenn das »Zentrum des Selbst« nur eine Illusion ist – oder besser das Produkt, die Konkretion einer Abstraktion, das Residuum von tausenden zufälligen und illusorischen Zuschreibungen –, was davon wäre vom »Ich selbst«? Gibt es einen Unterschied, und wenn ja, von welchem Typ, zwischen dem »Ich« und dem »Selbst«, dessen Abwesenheit jeden Personalismus ins Abseits stellt? Gibt es eine synthetische Position zwischen der antireduktionistischen Theorie, welche die Einfachheit der Person behauptet und dem Funktionalismus, der die Person dezentralisiert? Es ist hier zweckmäßig, Klarheit zu schaffen über dasjenige, von dem sich der modulare Funktionalismus als Eliminativismus entledigen wird. Eliminiert er den Begriff der Person oder die Selbstbeziehung in der Form der ersten Person? Die beiden Sachen sind – wie man in der Analyse der theoretischen Strukturen gesehen hat – nicht identisch. Die Selbstbeziehung als Erfahrung in der ersten Person ist (gar) nicht konzeptuell, sondern vorprädikativ. Dies ist gleichbedeutend damit, zu sagen, dass, sobald ich mich auf mich selbst beziehe, ich nie den Begriff der Person brauche. Von diesem Standpunkt – aufgrund der theoretisch-phänomenologischen Analyse der Frage der Auffassung des wesentlich leeren 17 18 19
Ebd. Vgl. M. Minsky, The Society of Mind, New York, 1986, S. 154. Vgl. D. Dennett, Consciousness explained, Boston, 1991, S. 427.
253 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
Charakters des Begriffs der »Person« – kann man richtig von der Person als einer rein »logischen Konstruktion« sprechen. Dasjenige, was uns die spekulative Situation als Gerichtetheit des Ichs schließlich enthüllt, ist nicht nur die Notwendigkeit, eine agnostische Stellungnahme gegenüber der res cogitans zu übernehmen, sondern auch, eine logische, kulturelle, »verortete« (das heißt im anthropologischen Sinne des Begriffs »Person«) Konstruktion in der »Person« anzuerkennen. Wie man mittels der spekulativen Situation gesehen hat, ist dasjenige, was die Erfahrung in der ersten Person als Selbstbeziehung begründet, die psychologisch ursprüngliche Modalität der intentionalen Öffnung. Es geht um die fundamentale Möglichkeit, sich auf Zustände zu beziehen, Strukturen oder thematische Gruppen von psychischen Erlebnissen hervorheben bzw. aktivieren zu können, eine Möglichkeit, die ausschließlich durch die Intentionalität des Ichs eröffnet wird. Dasjenige, was – in den Begriffen Lockes – die Kontinuität des Bewusstseins (und des Gedächtnisses) war, stellt sich durch die Fixierung der spekulativen Situation als die Öffnung eines thematischen Feldes der Gerichtetheit des Erlebten als mentale Zustände und logisch-intentionale Strukturen heraus. Diese Fixierung übersteigt zugleich die metaphysische Annahme einer vollen Selbsttransparenz des Mentalen (als absolute Objektivität der Introspektion) und den funktionalistischen Einwand der Abwesenheit eines Zentrums des Ichs. Die folgenden Analysen werden erweisen, dass der Ich-Horizont nichts anderes ist als eine spekulative Wiederaufnahme des Begriffs der »Dezentralisierung« des Ichs. Eine solche Dezentralisierung bedeutet hier die Abwesenheit einer metaphysischen Struktur, die definitiv dem Ich als »Selbst« zugeschrieben wird (bzw. definitiv zugeschrieben werden kann). 20
§ 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung Wenn der Begriff der »Person« leer ist, wenn das »Ich« als Ort von modularen Strukturen kontinuierlich de-zentriert und neu-zentriert wird, ist der Funktionalismus einem anderen Einwand ausgesetzt. Es gibt tatsächlich eine Zirkularität zwischen der Kontinuität des Be20
Vgl. Th. Metzinger, Being no one, cit., Kap. 6, S. 299–351.
254 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung
wusstseins – funktionalistisch übersetzt als (Zuschreibungs-)Einheit der modularen Bewusstseinsstrukturen – und der Identität, die sich durch die Selbstbeziehung manifestiert. Ist es die Identität des Ichs, welche die Zuschreibungsmöglichkeiten der modularen Strukturen (bzw. der Erlebnisse des Subjekts) begründet oder ist es umgekehrt vielmehr die wiederholte Zuschreibung der Identität, die das Ich als reflexiven Bezugsterminus fundiert? Gibt es einen spezifischen Ort der modularen Zustände oder Bewusstseinsstrukturen, der die Annahme eines Ichs rechtfertigt, das sich auf sich selbst bezieht? Oder ist es vielmehr bezüglich eines einzigen Begriffs, des »Ichs« als Selbstbeziehung, dass man von Erlebnissen spricht, von Zuständen, von modularen Strukturen, von etwas wie dem Bewusstsein, dem Subjekt oder eher neutral, dem »Ich«? Die Dunkelheit der Beziehung zwischen der mens und dem »Ich« bringt den Funktionalismus dazu, entweder radikal reduktionistische oder transzendentale Konsequenzen zu ziehen. Wenn das »Ich« tatsächlich gelegentlich aus den mentalen Zuständen hervorgeht, warum also nicht das »Ich« als eine Art Bündel der Erlebnisse anerkennen? Die Introspektion enthüllt nichts anderes als bestimmte Gedanken oder Empfindungen; die Erscheinung des »Ich« für sich selbst wäre also nichts anderes als die Erscheinung der Beziehung der psychisch-intentionalen Zustände. Eine solche Hypothese ist legitim, aber partiell deshalb, weil sie zwei entscheidende Faktoren nicht beachtet: 1) den Zugang selbst zu demjenigen, das man »Introspektion/Selbstbeobachtung« nennt und 2) die Möglichkeit, eine Beziehung oder gar den Bestand einer Beziehung zwischen Erlebnissen als notwendig (also transzendental) anerkennen zu können. Verwandelt jedoch nicht sofort die Zulassung oder auch nur der Zugang zum »Ich« als Introspektion und zu den (transzendentalen) Beziehungsstrukturen zwischen den Erlebnissen den Funktionalismus in einen Transzendentalismus? Führt diese Wandlung nicht dazu, ein logisches »Ich« außerhalb der Welt zu behaupten, das durch ein ontologisch individuiertes »Ich« bzw. »Selbst« im Körper implementiert werden müsste? Eine erweiterte, »aktualisierte« Version des Transzendentalismus kann sich darauf beschränken, zu behaupten, dass das transzendentale Bewusstsein des Selbst auf notwendige Bedingungen für eine Selbstzuschreibung der Erfahrung hinweist, damit sich ein »Ich« eine Selbsterfahrung zuschreiben kann. Doch die Tatsache, solche Bedingungen einzugestehen, schließt keine Implementierung der subjekti255 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
ven Erfahrung durch gewisse auf eine reine Subjektivität irreduzible Faktoren aus. Die subjektive selbstbezügliche Erfahrung kann sich nur mittels eines objektiven Komplements der Bedingungen der Selbstzuschreibung vollziehen. All dies stellt jedoch eine Art Dichotomie in der Konstitution der Selbstzuschreibung dar, der zufolge es ein doppeltes »Ich« gibt: ein »Ich«, das außerhalb der Welt liegt, und ein objektiv eingefügtes »Selbst«. Bezüglich dieses »Selbst«, weiß man weder, wie es in der Welt sei noch wie man (hypothetisch) über dieses Selbst in der Form der dritten Person sprechen könnte. Es gibt eine Art Reflexionsmechanismus, eine Spiegelsituation zwischen dem »Ich« als Bedingung der Selbstzuschreibung einer persönlichen Erfahrung und dem »Selbst« als Gesamtheit der Implementierungsbedingungen. Damit ich das »Ich« im Kontext einer Selbstzuschreibung benutzen kann, muss ich schon die Regeln für den empirischen Gebrauch und habituell die Ausdruckweise des Wortes »Ich« – das sich auf eine Entität der objektiven Welt, ein Subjekt ausgestattet mit einem Körper in Raum und Zeit, bezieht – gelernt haben. Gewissermaßen ist die Selbstzuschreibung einer Erfahrung etwas Genetisches, das eine Apprehension der Regeln voraussetzt, die nur in der Welterfahrung fundiert sein kann. Das ist letztendlich die von Strawson 21 verfochtene und von Evans ausgearbeitete These. Die Selbstzuschreibung ist nicht etwas ein für alle Mal Konfiguriertes: Sie wird genährt durch die Welterfahrung, durch die Strukturierung der objektiven und gegenständlichen Wirklichkeit der »Welt«. Der rein formale Charakter des »Ich« oder besser eine rein formale Selbstzuschreibung ist gleichermaßen sinnlos, genau wie die eindeutig reduktionistische Behauptung eines einfachen, empirischen »Ich« als gelegentliches Bündel interner und externer Wahrnehmungen. Die transzendentale Theorie der mens scheint an diesem Punkt in die Aporie eines empirischen, physischen Ichs bzw. Selbst zurückzufallen, das sich zugleich als Spiegel einer absolut logischen, nicht gegenständlichen Entität und einer Welt von Gegenständlichkeiten herausstellt. Das empirische »Ich«, das »objektive« Komplement der Selbstzuschreibung bewahrheitet sich schließlich als ein Spiegel der Welt und als Spiegel des formalen »Ich«, das für sich allein nie ausreichen würde, sich eine eigene Erfahrung zuzuschreiben. Diese Theorie behauptet, dass eine Einbeziehung der ersten Person herbeigeführt werden muss, da der Ausdruck »Ich« auf einen viel umfang21
Vgl. P. Strawson, The Bounds of Senses, London, 1959.
256 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung
reicheren Kontext verweist. Nun ist es aber entscheidend, was man unter »verweisen« versteht. Die Behauptungen, dass »die erste Person auf einen viel weiteren Kontext verweist« und dass »die Beziehung zu sich selbst gleichzeitig eine Beziehung zur dritten Person ist, deren Genese in der objektiven Welt zu denken ist« 22, können nur widersprüchlich sein. Wie kann man ein Wechselspiel zwischen der Perspektive der ersten und der dritten Person behaupten, ohne zu versuchen, eine intermediäre Struktur zu definieren? Wäre das Subjekt, das sich auf sich selbst in der ersten und dritten Person bezieht, nicht durch eine Verhaltenspsychopathologie affiziert? Oder ist das rein formale »Ich« nichts anders als eine rein logische Abstraktion? Der Transzendentalismus müsste an diesem Punkt notgedrungen zum Funktionalismus zurückkehren und dadurch, aufgrund seiner Mehrdeutigkeit, eine reduktionistische Position übernehmen. Evans zufolge müsste man dann die Möglichkeitsbedingungen der Selbstbeziehung in der ersten Person bestimmen. Dieser Analyse nach sind die I-thoughts irreduzibel. 23 Dadurch gibt sich die Identität des Subjekts jedoch nicht als etwas logisch Konstruiertes, das daher gewisse Prädikate erfüllen kann. Ein derartiger Weg zeigt die Möglichkeit auf, das Hervortreten des bewusst-begrifflichen und persönlichen Niveaus ausgehend von einem Hintergrund von Fähigkeiten und subpersonalen Informationszuständen zu begreifen. Das Bewusstsein als Selbstzuschreibung hängt von deiktischen Ausdrücken ab, die ihrerseits nicht von einem deskriptiven Status, sondern von den Umständen und der Natur des Ausdruckkontexts abhängen. Die überschüssige Natur der I-thoughts zeigt zugleich die Irreduzibilität der Perspektive in der ersten Person, die vor dem Identifikationsfehler sicher ist. Derjenige, der ihn sich aufgrund eines nicht-deskriptiven Ausdrucks zuschreibt, kann sich nicht über diese Zuschreibung irren. Ego, hic und nunc – als Ichorigo 24 – haben Bezugsmechanismen, die sich nach einem Hintergrund von Bildungsvermögen und Informationen richten. Die Horizontstruktur fundiert also den kognitiven Gebrauch der Gedanken
Vgl. J. McDowell, Mind and World, Cambridge (MA), 1996 (2 ed.), S. 102. Vgl. G. Evans, The Varieties of Reference, Oxford, 1982, Kap. VII. 24 Siehe hierzu K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart, 1934, S. 79, 102, 107. Vgl. auch J. Ziegler, Die Origo und das Grundlagenproblem der Deixis, Deutsche Sprache, 17, 1989: 193–205. 22 23
257 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
des Egos: Dieser Gebrauch »hat vor allem als Hintergrund die Möglichkeit, von Seiten des bewussten Subjekts, die gelieferten Informationen durch eine ›kognitive Karte‹ seiner Umgebung aufzufassen« 25. Jede kognitive Karte setzt einen Raum voraus, jede deiktische Topographie eine Topologie [infra §§ 114–116]. Wie in jeder anschaulich verwurzelten Sach-Erfahrung stellen sich die deiktischen Ausdrücke als Anzeigen – allen voran das hic und das nunc als primitive – heraus, die mit einer privilegierten, direkten, konstitutiven Verbindung bezüglich der (rückwirkenden) Erfüllungsanschauung des »Ich« (die dem »mich selbst« Anlass gibt) ausgestattet sind. Als Bedeutungen sind die deiktischen Ausdrücke (und insbesondere die primitiven deiktischen Ausdrücke) ex principio einer Hybridisierung unterworfen, das ist ihre semantische Natur, dass sie sich konstitutiv zwingend in einer Anschauung implementieren. Aufgrund dieser notwendigen Implementierung würden wir automatisch sagen, dass die personale, deiktische Selbstbeziehung (das Ich) eine intuitive Erfüllung findet, die eben hybrid ist. Diese konstitutive Notwendigkeit der Implementierung, das heißt dieser Hybridisierungsmechanismus, findet sich gerade in der Unmöglichkeit einer elementaren Formalisierung der Anzeige (und vor allem der primitiven deiktischen Elemente) wieder oder zumindest in einer Resistenz gegenüber der Formalisierung. Mit einer fast zu Null neigenden Idealität, einer Idealität, die aus einem reinen Verweis besteht, bleiben sie fundamental, um die volle und komplexe Bedeutung einer Aussage zu bestimmen, die sie enthält. Hier offenbart sich der »subjektive Sinn« des Ausdrucks und, genauer, seine Verwurzelung in der kontextuellen Ebene. Jede Bedeutung – in dem intentionalen Komplex eines expressiven Akts aufgefasst – ist mit einer intentionalen Implikation ausgestattet. Eine solche Implikation zeigt sich in einer Verbindung mit einem Kontext, da sie sich auf der Basis, ebendem Prinzip des »Ich-Horizonts«, manifestiert. 26 Jeder intentionale Akt – als Akt des Gerichtet-Seins, der einen repräsentativen Inhalt besitzt und der in einem Horizont verwurzelt ist – offenbart eine Kontextualität bzw. eine Kontextabhängigkeit. Und in derselben Perspektive stellen sich die deiktischen Ausdrücke G. Evans, The Varieties of Reference, cit., S. 151. Diese intentionale und zugleich stets kontextuelle Implikation ist also verschieden von den konversationellen Implikationen von Grice, weil aus der intentionalen Perspektive auch die Modalität der semantischen Bedeutung in der Modalität der pragmatischen Bedeutung mit einer Kontextualität ausgestattet ist, wohingegen sie, in der Perspektive von Grice, allein der letzteren zukommt.
25 26
258 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung
als fundamental heraus, nicht, um die semantische Bedeutung von der pragmatischen Bedeutung zu trennen, sondern um zu zeigen, auf welche Art und Weise sich die wesentliche Mit-Beziehung zu einem Kontext in jedem Akt vollziehen muss. Mit den deiktischen Ausdrücken macht sich diese Hinweisung auf den Kontext explizit. Die Situationalität weist auf den Horizont, der dem Akt konstitutiv intrinsisch ist, hin. Dann kann der Akt der Vorstellung einen Inhalt oder mindestens einen Teil ihres Inhalts verleihen. Dies spielt eine wesentliche Rolle für die Struktur des Aktes selbst: Der Akt wird, ipso facto, ein explizit polythetischer Akt, in welchem der Kontext – oder eine Portion des Kontexts (der Umstand) – nicht nur als Menge möglicher Intentionen (oder Ko-Intentionen) mitgemeint ist, sondern auch in der Zusammenfassung der intuitiven Elemente mitgesetzt ist, die als Ortungspunkte fungieren. Ein deiktischer Ausdruck bezeichnet einen intentionalen Gegenstand sowie den mitgesetzten Umstand (oder die Gesamtheit von Umständen), der sich in dem Kontext des Meinens als »salient« erweist. Die »Salienz« (salience) ist inmitten einer intentionalen Theorie der kontextuellen Erfahrung eingeführt, das heißt inmitten jeglicher Erfahrung als solcher. Die Selbstzuschreibung setzt diesen Horizont voraus, in dem sich eine Karte als solche einschreibt. 27 Sie erweist sich als irreduzibel auf deskriptive Gedanken bzw. Sätze, genau wie der Raum des Egos sich als irreduzibel auf einen metrischen Raum erweist. Die Möglichkeit, eine kognitive Karte zu projizieren und zu definieren, erfordert, von einem metaphysischen, philosophischen und anthropologischen Zentrum abzusehen. Der Raum ist der Raum des Egos, aber er ist dynamisch, elastisch, stellt jede Hypothese eines festen Zentrums, ein für alle Mal erkennbar und begreiflich ins Abseits. Die Einführung einer »kognitiven«, vordeskriptiven Räumlichkeit führt also zur Erweiterung des Begriffs des Raumes bezüglich der Erfahrung in der ersten Person. Könnte nicht das »Ich« – das einen Spiegelbegriff in der »gegenständlichen« Welt sucht – zufällig sein »Selbst« konstituieren, ausgehend von Bedeutungen und beliebigen Gegebenheiten, oder jedenfalls ausgestattet mit einem Status der nicht perzeptiven Anschaulichkeit? Die wesentliche Schwäche der kognitiven Standpunkte ist folglich eine unilaterale Konvergenz zum Psychologismus und Physikalismus. Dieser Makel verstärkt die Dichotomie zwischen erster und dritter Person noch mehr, die zudem eine beschränkte, 27
Vgl. G. Evans, The Varieties of Reference, cit., S. 163–4.
259 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
naive Art aufdeckt, sich auf die Erfahrung in der ersten Person zu richten. Jedoch wären die durch die spekulative Analyse an die kognitivistischen Thesen gerichteten Kritiken leer und vollends vergebens ohne eine weitere Entwicklung, die in der spekulativen Situation des »Ich-Horizonts« die Möglichkeit einer Beziehung eines jeden zu sich selbst wiederfinden und wiedererkennen kann.
§ 36. Spekulative Situation und Modularität Der »Ich-Horizont« ist durchaus mit einer funktionalistischen Auslegung der mens kompatibel, da die psychologisch ursprüngliche Modalität eine modulare Interpretation der intentionalen Strukturen erlaubt. Die spekulative Situation selbst, in der Aufhebung der Gerichtetheit des Ichs, stellt sich als eine Möglichkeit heraus, in der thematischen Öffnung des intentionalen Lebens Strukturen zu begreifen, Regionen oder Makro-Regionen von Gegebenheiten zu artikulieren, die sich im »Ich« manifestieren. Ist all das als eine Modularität des Geistes kategorisierbar? Nicht, wenn man die Modularität des Geistes als eine Eigenschaft der mens als Gegenstand in der dritten Person betrachtet. Wohingegen es stimmt, wenn man sich auf die Ebene des privilegierten Zugangs zum lebendigen Denken begibt, der durch die Reduktion gegeben wird. Dank der Fixierung der spekulativen Strukturen wird einem die Tatsache bewusst, dass das Denken in einem sehr radikalen Sinne modular ist. Die Modularität interessiert einen viel weiteren Bereich als denjenigen, den der Kognitivismus den synaptischen Interaktionen zuschreibt. Es geht nicht nur darum, die Erfahrung der Gegenständlichkeit zu verstehen (was dem Kognitivismus auf einem hohen Komplexitätsniveau sogar entgeht), es geht auch und vor allem darum, die Möglichkeit einer regionalen Deklination der Erfahrung in der ersten Person zu verstehen. Die kognitivistische Perspektive erweist sich im spekulativen Bewusstsein als Ausmaß der aufgeworfenen Probleme durch die Dichotomie zwischen Erfahrung in der ersten und dritten Person. Für die Fixierung der spekulativen Strukturen des »Ich-Horizonts« repräsentiert die Modularität der mens die Abwesenheit eines metaphysischen Zentrums als »Ich« bzw. »Selbst«, die Institution eines Raumes des Egos, nicht verstreute Probleme, sondern Elemente einer profunderen Auslegung der Natur dessen, was »das Subjekt« war. 260 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 36. Spekulative Situation und Modularität
Die spekulative Situation zeigt, dass es möglich ist, Regionen oder Bedeutungsstrukturen in der Öffnung des intentionalen Lebens zu erkennen, gegenüber welchen das Gerichtet-Sein eine Antwort auf die Frage »Wer/was bin ich?« sucht. Das in der spekulativen Situation zugängliche »Ich« stellt sich vor allem – und jenseits jedes Substantialismus – als eine modulare Artikulation von logisch-semantischen Strukturen heraus, die regional die Formen der Sach-Erfahrung strukturieren. Dies stellt die Substantialität beiseite, indem es das »Ich« als solches dezentralisiert, indem der »Beobachter« bzw. der »Zuschauer« der kartesischen Metaphysik eingeklammert wird. Wenn das Ich »Horizont« ist, wenn es radikal dezentralisiert ist, treibt uns all das nicht in eine Sackgasse? Ist der Horizont nicht Horizont aufgrund eines Zentrums? Wenn das »Ich als Horizont« nicht ein Zentrum, einen metaphysischen Punkt eines Kreises (als Horizont) darstellen kann, was ist dann der exzentrische Standpunkt, den das »Ich« als Horizont kennzeichnet? Die spekulative Situation eröffnet, durch die Annahme der Frage als Gegenstand, eine Analyse der Erscheinung des Weltlichen: Dasjenige, was das Meinen unter jeglicher Form von Sach-Erfahrung begreifen kann, fällt in den »Ich-Horizont« und erweist sich als solcher aufgrund der logisch-semantischen Strukturen, die ihn sein lassen, wie er ist. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« 28Dort, wo die Fähigkeit entsteht, syntaktische und intentionale Strukturen zu artikulieren, entsteht auch die Möglichkeit, eine Erfahrung der Gegenständlichkeit zu haben. Deswegen kann der »Ich-Horizont« niemals der Erfahrungsgegenstand oder sogar die Bedingung der Erfahrung einer beliebigen Gegenständlichkeit darstellen. Selbst die Feststellung des »Ich-Horizonts« wird nicht mittels eines direkten Begreifens einer Gegenständlichkeit erreicht, sondern mittels des Grenzübergangs der Intentionalität, durch welche sich die psychologisch ursprüngliche Modalität enthüllt. Der »Ich-Horizont« als Bedingung der Zuschreibung der Welt zu meiner Erfahrung des Weltlichen als meine Welt, ist also außerhalb der Welt als Grenze der Welt, sie erweist sich als überschüssig gegenüber jeglicher Erfahrung des Weltlichen selbst. Wenn es wahr ist, dass der »Ich-Horizont« das visuell-intentionale Feld selbst ist, in dem das Meinen bzw. das Gerichtet-Sein seine Gegenständlichkeit begreift,
28
L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, cit., 5.6.
261 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
dann lässt »nichts am Gesichtsfeld […] darauf schließen«, 29 dass er als Gegenständlichkeit aufgefasst wird. Der »Ich-Horizont« als Grenze und Bedingung der Welterfahrung als »meine Welt« ist folglich – wenn man entsprechend den falschen Dichotomien der Metaphysik argumentiert – in dem Sinne außerhalb der Welt, dass er nicht vollständig unter dem Titel »Erfahrungsgegenständlichkeit« einschreibbar ist. Das führt uns unmittelbar in das Problem einer anderen Dichotomie, diejenige der Perspektiven (der ersten und dritten Person), aufgefasst aus dem Abstand der spekulativen Situation. In der besten der Hypothesen, derjenigen des Transzendentalismus, ist die Perspektive der ersten Person niemals begriffen und als Ausgangspunkt der persönlichen Erfahrung klar festgestellt. Die spekulative Situation fixiert nicht nur die Perspektive in der ersten Person, sondern sie stellt auch die Erfahrung in der ersten Person als irreduzibel fest. Eine Perspektive, die ihr einen einfachen Vorrang der ersten Person zuschreiben wollte, indem sie die Perspektive der dritten Person reduziert, überwindet die Dichotomie nie. Wenn die Erfahrung in der ersten Person sich stets einer objektivierenden Betrachtung von selbst entzieht, dann könnte umgekehrt die aktuelle Erfahrung in der dritten Person niemals zu einer objektivierenden Perspektive der Selbstbeziehung gelangen. Die spekulative Situation als neutralisierte synoptische Schau der lebendigen Erfahrung in der ersten Person bahnt sich einen Weg durch die Dichotomie, indem sie zeigt, auf welche Weise die nichtneutralisierte Selbstbeziehung stets eine Implementierung durch die Ontologisierung des »Selbst« sucht. Die Auffassung des [Ich](was/wer?) stellt sich als Boden jeder Erfahrung in der ersten Person dar, die in der Dichotomie immer besteht. Das vermeidet die Probleme nicht. Wie kann man in der spekulativen Situation die Möglichkeit einer Implementierung der Selbstbedeutung mittels der Ontologisierung des »Selbst« begreifen? Wie kann in der lebendigen Erfahrung der »Ich-Horizont« etwas als eine Selbsterfahrung konfigurieren? Eine Sache ist tatsächlich die Erfahrung in der spekulativen Situation als Erfahrung einer solchen Dichotomie, eine andere Sache ist die aktuelle Erfahrung in der ersten Person des Selbst, die sich in der Welterfahrung jenseits der eigenen Neutralisierung der spekulativen Situation zeigt. Unter Berücksichtigung der Ausdauer der Frage im Hintergrund jeglicher aktueller Welterfahrung muss man bestim29
Ebd. 5.633.
262 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 37. »Ich-Horizont« und egologische Relativität
men, in welchem Sinne ein absolut dezentralisierter, gleichwohl individuierter »Ich-Horizont« als Öffnung der psychologischen Urdistanz eine Erfahrung des Selbst ermöglichen kann. Zuallererst stellt sich eine Frage: Gibt es nur »eine« Selbsterfahrung, einseitig und metaphysisch festgestellt, oder gibt es die Möglichkeit, dass sich »die Selbste« als gleichermaßen legitime Deklinationen der Erfahrung in der ersten Person konstituieren können? Gibt es eine Vielzahl von »Selbsten« eines Individuums, deren Entstehung sich auf dem »Ich-Horizont« begründet, auf seiner konstitutiven Leere, seiner Dezentralisierung? Die Feststellung der spekulativen Situation hat uns eine Situation der reinen Virtualität des Denkens gezeigt, in welchem sich das Meinen auf die Regionen, die logisch-intentionalen Strukturen und die zum psychischen Leben gehörigen Gegebenheiten richten kann. In dieser Situation reiner Virtualität muss man ein Verhältnis zwischen dem »Ich-Horizont« und den Deklinationen der Selbstbeziehung denken. Die Selbstbeziehung ist, weil sie sich dekliniert und Konkretionsformen annimmt, niemals rein, sondern stets auf konstitutive Weise hybrid.
§ 37. »Ich-Horizont« und egologische Relativität Die Fixierung der hybriden Selbstbeziehung (HSB) ausgehend von der spekulativen Situation zeigt uns indirekt, dass das »Subjekt«, weit weg von einem ursprünglichen Sein, vor allem wesentlich abgeleitet und, in der Folge, wesentlich mehrdeutig ist. Die Setzung eines »Selbst« als Terminus einer Selbstbeziehung stammt aus einer ontologischen Verpflichtung, welche die Neutralität des »Ich-Horizonts« verlässt. Jede Selbstbeziehung ist die Zuschreibung des Titels (des Namens) »Subjekt« zu einem »Selbst«. Garantiert uns dies jedoch die Gewissheit der Zuschreibung des Begriffs des »Subjekts« zu der HSB? Das »Selbst«, das wir als HSB denken, als Konstitution einer Spiegelungsdynamik zwischen der Öffnung des intentionalen Lebens und der leibhaften Erfahrung, ist nicht das (heraus-)kristallisierte Subjekt, Zentrum der transzendentalen Erfahrung oder die kartesische res cogitans. Das Ego ist seiner Kernnatur enteignet, die Selbstbehauptung ist nichts anderes als die Behauptung eines Selbst, deswegen betrifft die ontologische Verpflichtung »ein« Selbst unter den zahlreichen möglichen. Der spekulative und relativierte Begriff des »Subjekts« ver263 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
hindert einerseits das substantialistische und transzendentalistische Ausschweifen des Egos, impliziert andererseits die Vertiefung des Begriffs von der Relativierung bezüglich des Subjekts. Was bedeutet es, dass das Subjekt »relativ«, »relativiert« ist? Was bedeutet schließlich die egologische Relativität? Erstens ist das »Subjekt« relativ deshalb, weil es durch die spekulative Situation relativiert wird, weil es nicht etwas Ursprüngliches, etwas Primäres, etwas Unherleitbares ist. Es gibt vor allem ganz am Anfang kein Subjekt: höchstens als primum quoad nos in der lebendigen Erfahrung. Vom Standpunkt der Abwesenheit des festgestellten Sinns durch die spekulative Situation ist das »Subjekt« nicht nur relativ, es ist überhaupt nicht. Als GerichtetSein des Ichs zeigt sich die spekulative Situation als Unmöglichkeit der Reduktion der Perspektive der ersten Person in diejenige der dritten Person und umgekehrt zeigt sie den Unsinn eines »Subjekts« als vollendete Gegenständlichkeit. Die Entwicklung der spekulativen Situation ist jedoch gezwungen, Selbstbeziehungsformen anzunehmen, die im psychisch-aktuellen Leben wirken, Formen, zu denen uns nur die Reduktion, die die spekulative Situation kennzeichnet, Zugang gibt. Man kann also jede Selbstbeziehung »hybrid« und diese HSB »Subjekt« nennen, ohne in gewisse Schwierigkeiten zu fallen. Diese Äquivalenz ist unter mehreren Gesichtspunkten interessant. An erster Stelle bestärkt sie den Sinn eines relativen, relativierten »Subjekts«, spekulativ begriffen als »nicht-primär« bezüglich der spekulativen Situation. Wenn die HSB als »Subjekt« nur eine bestimmte Deklination ist, setzt sie zwingend eine »modale« Öffnung voraus, ein »Möglichkeitsfeld«, in dem die Selbstbeziehung ihre Hybridisierung dieser oder jener Art finden kann. Jedoch führt diese Äquivalenz anscheinend eine andere Bedeutung der relativen Natur des »Subjekts« ein. Das »Subjekt« ist nicht nur relativ im Sinne einer Begründung, sondern es ist auch relativ, weil seine »eigene« Konstitution von einem intentionalen und kognitiven Kontext abhängt. Sein relatives Sein hängt, in erster Linie, von seinem HSB-Charakter ab und jede HSB setzt eine »modal« ursprüngliche Öffnung als solche voraus, deren Hybridisierung diese Hybridisierungsform als besondere Hybridisierung realisiert (ich als Lehrkraft, ich als Familienvater, ich als erotische Leiblichkeit usw.). 30 Eine solche Hybridisierung kann Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua. 6, S. 139.
30
264 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 37. »Ich-Horizont« und egologische Relativität
nur Bezugspunkte voraussetzten, die das Sosein des subjektiven Lebens in der Art dieser HSB bestimmen. Das »Subjekt« ist mehrdeutig: Es besteht als Spiegelungsdynamik zwischen der ursprünglich modalen Öffnung des »Ich-Horizonts« und einem »Selbst« als egologischer Verpflichtung. Es stellt danach nur einen der möglichen Sinne des »Subjekts« dar, zurücknehmbar in die Öffnung des psychischen Lebens als bestimmte Individuation (bzw. Instanziierung) der Selbstbeziehung. Kann man dennoch behaupten, dass das Subjekt mehrdeutig ist oder muss man nicht vielmehr behaupten, dass es nicht eindeutig ist? Ganz offensichtlich sind die beiden Behauptungen nicht gleich. Man kann behaupten, dass der Status des Begriffs »Subjekt« (als HSB) weder mehrdeutig noch eindeutig, weder synonym noch homonym, sondern paronym ist. Jedoch konstituiert die analoge Situation der bestimmten Deklinationen der HSB eine Seite des Problems, dessen andere die Konstitution einer HSB als solche ist. Wenn sich tatsächlich alle HSB um einen Begriff analogisch zusammenschließen (aph’henos, pros hen), der durch die hybride Konstitution der Selbstbeziehung als solche dargestellt wird, muss man diese Selbstbeziehung denken, feststellen, kategorisieren, um diese analogische Beziehung zu denken. Warum kann man von einer HSB sprechen? Noch einmal – aber nicht im metaphysischen Sinn – bleibt das »Subjekt« etwas Dunkles, Rätselhaftes, selbst so entleert von seinem ontologischen Vorrang [infra § 90]. Um das Rätsel des »Subjekts« als HSB eidetisch zu erhellen, um seine Relativierung festzustellen, könnte man zuallererst durch Beispiele vorgehen. Diese Beispiele hätten den Nutzen, uns die äußerste Mannigfaltigkeit der Selbstbeziehungssituationen bewusst zu machen, eine Mannigfaltigkeit, die man systematisch – à la Riemann – denken muss und nicht durch die Reduktion des Subjekts auf eine einfache, lineare Abfolge von cogitationes bzw. Denkakten. Solche Beispiele können jedoch nie die Frage in ihren wesentlichen Termini herausstellen. Wenn man das »Subjekt« gerne als eine Linearität von Akten oder cogitationes denken möchte, muss man trotzdem gestehen, dass sich diese Linearität multipliziert und dass die Komplexität des intentionalen Lebens von einer Multiplikation, von einer inflationären Verbindung dieser linearen Dimensionen und überall von ihrer Faserung herrührt. Hierin besteht seine modulare Mehrdimensionalität, sein Multiversum.
265 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
§ 38. Erfahrung und materiales Apriori Wenn die Möglichkeit der »topologischen Konfiguration« als Mannigfaltigkeit des »Ich-Horizonts« noch einmal seine fließend dynamische Natur als plastische, mehrdimensionale Öffnung [infra § 118] des Bewusstseins bestätigt, stellt diese fluide Natur zugleich mehrere Fragen. Denn wenn der »Ich-Horizont« so plastisch ist, um (sozusagen) eine topologische Rekonfiguration in jeder Instanziierung der HSB zu erhalten, dann ist es, als ob er keine Natur hätte. Dieser egologische Einwand zwingt gleichwohl dazu, eine positive, konkrete Antwort zu geben, indem man die Struktur der Instanziierung der HSB beschreibt. Die intentionalen Strahlen – in der Strukturierung dieser oder jener (anderen) Erfahrung – können sich nicht in einer totalen Abwesenheit von empirischer Bedeutung und ihrer Kontextualität vollziehen. Die Welterfahrung vollzieht sich nicht im Sinne der vulgata des kantischen Apriori. Die semantische Dimension mit ihren Konkretionen bestimmt von Anfang an die Auffassung der phänomenalen Gegenständlichkeit. Allein eine solche Dimension mit ihrer Konkretion ist es, welche die Orientierung der konkreten Auffassung dieser oder jener (anderen) Gegenständlichkeit, dieses oder jenes (anderen) Sachverhalts, dieses oder jenes (anderen) Ereignisses bestimmt. Jedoch leistet sie viel mehr: Sie zeigt die Öffnung der möglichen Akte der thematischen Auffassung. Sie gibt gewissermaßen die Reihe der Auffassungen vor, indem sie deren Aktionsfeld beschreibt. Man darf all dies nicht auf eine statische Weise denken, denn ein Aktionsfeld kann sich sogar zu den Schichten der möglichen Auffassungen ausdehnen. Wenn ich eine derartige Öffnung von Möglichkeiten in einer Erfahrung offenlegen kann, ist es wesentlich aufgrund dessen, dass ich diese Bedeutungsdimension ausgedehnt und definiert habe, das heißt meine Weltweisheit, meine esperitudo. Die Existenz von verschiedenen »Beschreibungs«-Niveaus und Ansätzen gegenüber einer gewissen Gegenständlichkeit (Gegenstand, Sachverhalt, Ereignis) im Inneren eines gewissen Diskursbereichs erweist sich als umso mehr wesentlicher, um das materiale Apriori als auch seine Rolle in der Instanziierung der HSB zu verstehen. Es ergibt sich eine klare eidetische Verbindung zwischen der Existenz dieser Ebenen und dem Bestehen eines materialen Apriori als Titel vom Problem des Kontextes. Es existiert nicht eine einzige mögliche Vorstellung von dem Wissen, das ein Subjekt über einen 266 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 38. Erfahrung und materiales Apriori
Teil der Welt haben kann, über einen Bereich – oder eine »Region« – von Gegenständlichkeiten. Eine solche Erkenntnis kann auf mehreren Ebenen vorgestellt und aktualisiert werden, wobei jede von ihnen eine verschiedene Menge von Annahmen eines größeren oder kleineren Koeffizienten der Bestimmung des Zugangs zur Gegenständlichkeit impliziert. Nehmen wir eine formale Ontologie an, formalisiert und anwendbar auf jede Gegenständlichkeit im allgemeinsten Sinne des Begriffs, auf jegliches Etwas, das in der Meinung angenommen sein kann [infra § 113 ff.]; nehmen wir außerdem einen Kontext an, dessen Bestimmbarkeit sich auf eine Anzahl von Faktoren gründet. Dadurch kann man das Verständnis dessen, was ein materiales Apriori ist und welche Rolle ihm in der Konstitution der HSB zukommt, umreißen. 31 Man kann zuallererst den Bereich des cogitabile 32 darstellen – als all dasjenige beinhaltend, das gemeint sein kann –, indem man einen beliebigen Gegenstand (O) durch ein Ensemble von Eigenschaftsklassen (P) definiert: O = {P1},{P2},{P3}… {Pn}. Die Eigenschaftsklassen, die sich gemäß der verschiedenen formalen Eigenschaften strukturieren, lassen eine Anzahl von – im Moment undefiniertern – Indizes zu: P1 = {p11, p12, p13, …, p1n}, P2 = {p21, p22, p23, …, p2n}, P(n-x) = {p(n-x)1, p(n-x)2, p(n-x)n} etc. Es gibt überdies Regeln, welche die syntaktische Interaktion dieser Indizes innerhalb der Eigenschaftsklassen bestimmen, dieser Indizes mit den Indizes anderer Klassen, der Klassen unter sich etc., gemäß den Axiomen und formalen Verbindungsregeln. Man bestimmt auch einen definierten Kontext (C) durch eine Anzahl von Indizes (beispielsweise C = {c1, c2, c3, …, cn}), die bezüglich der Verifizierbarkeitsbedingungen (truthmaking-conditions) einer gewissen Aussage oder kategorialen Anschauung variieren können. Was ist es also, das auf die Anzahl der Indizes der Verifizierbarkeit hinweist und das uns eine präzise ontologisch-formale Struktur dieser oder jener Gegenständlichkeit bestimmen lässt? Offensichtlich der Gegenständlichkeitstypus, der unter die Formalisierung eines beliebigen Gegenstands fällt, diese aber übersteigt, die Aussagen, wel-
Offensichtlich geben wir einen spekulativen, scharfsinnigeren Zugang zur materialen oder regionalen Ontologie im vierten Teil unserer Arbeit, Kap. XI. Hier handelt es sich wesentlich darum, eine Charakterisierung ad hominem, das heißt ad determinationem subjectivitatis der materialen Ontologie zu liefern. 32 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., B 348. 31
267 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
che entsprechend den Parametern in einem Kontext verifiziert (oder falsifiziert) sind. Selbst wenn auf einem unbewussten oder auf einem (bis jetzt) nicht deutlich formalisierbaren Niveau die logisch-semantische Beschaffenheit der roten Ampel, der mein Sohn begegnet, eine sehr vereinfachte ontologische Formalisierung wiederherstellt und eine sehr beschränkte Anzahl von kontextuellen Verifizierungsindizes verlangt. Die Grenzen der intentionalen Sprache meines Sohnes schreiben auf irgendeine Weise die formale Vereinfachung der Weltobjekte vor, zu welchen er sich öffnet, und die Begrenzung der Verifikationselemente seiner Erfahrungen. Die Grenzen seiner intentionalen Sprache schreiben die Einfachheit seiner gegenständlichen Welt vor. Und die »Wunder«, die dem entspringen, sind von dem Überschuss der phänomenalen Komplexität hinsichtlich der Grenzen seiner intentionalen Sprache abhängig. Die Konkretion des materialen Apriori weist auf eine Konkretion der formalen Gegenständlichkeit hin. Aufgrund dieses Apriori findet die bestimmte Mereologie der phänomenalen Gegenständlichkeit eine Deklination [infra §§ 110–111]. An diesem Punkt ist es kaum von Bedeutung, ob derjenige, der eine Sach-Erfahrung hat, sich des material operationalen Apriori in seiner Erfahrung und in seiner Fähigkeit, sie als Erfahrung von dieser Sache zu fixieren, bewusst ist oder nicht. Die Tatsache, dass man sich fast nie der morphogenetischen, kognitiven und intentionalen Struktur einer Erfahrung bewusst ist, verhindert nicht, von der Präsenz eines materialen Apriori im Allgemeinen als konstitutives Element der Erscheinung zu sprechen. Sobald man über die Zuschreibung eines Vorstellungsinhalts diskutiert – und daher vom notwendigen »Wissen« eines jeden, um einer Aussage oder einer Anschauung einen bestimmten Inhalt zuweisen zu können –, diskutiert man über das materiale Apriori. Zwischen der Region – oder besser gesagt: zwischen einer regionalen Gegenständlichkeitsform – und dem kontextuellen Raum der Verifikation einer Aussage oder jeglicher kategorialen Anschauung befindet sich ein kognitiver, morphogenetischer, und intentionaler Raum, in welchem die Aussage, kurz die Gegenständlichkeit als solche, ihren Sinn bekommt. Dieser Raum ist durch die Struktur der Informationsverarbeitung bestimmt, die eine ontologische Charakterisierung (im Kontext verifizierbare oder nicht verifizierbare) der aufgefassten Sach-Erfahrung bietet. Dieser kognitive Raum (bzw. diese kognitive Karte), den man »Region« nennt, bestimmt sich durch eine Anzahl 268 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 38. Erfahrung und materiales Apriori
von Annahmen, die sehr verschieden von den Indizes sind, welche die Menge an Sachverhalten als Kontext beschreiben. Die Erweiterung der (mehr oder weniger expliziten) Klasse der Annahmen, die die Region als kognitiven Raum einer oder mehrerer Gegenständlichkeiten beschreibt, zeigt, auf welche Weise dieselbe Vorstellung einen unterschiedlichen Inhalt von Kontext zu Kontext oder auf unterschiedlichen Spezifizierungsebenen der regionalen Ontologie in demselben Kontext erhalten kann. Der kognitive Inhalt einer Vorstellung – derselbe Sinn jeglicher aufgefassten Gegenständlichkeit – hängt von der kognitiven, morphogenetischen und intentionalen Informationsverarbeitung ab, welche dieses oder jenes andere Individuum in einem konkreten Fall aktiviert. Die Region als kognitiver, morphogenetischer und intentionaler Raum ist eine thematische Öffnung, in welche eine Gegenständlichkeit oder ein bestimmter Aspekt der phänomenalen Welt gemäß einer Reihe von Annahmen repräsentiert ist, gemäß der ontologischen Verpflichtung gegenüber den Gegenständen, den Eigenschaften, der Natur der Verhältnisse, dem Sinn der Existenz selbst. Die Rolle dieser »ontologisch-regionalen« Verpflichtungen ist nicht diejenige, eine »Information« abzugeben, sondern diejenige, der Information selbst eine Form zu geben, »die Information zu bilden«, einen Teil der Welt zu beschreiben, in einer »ontologischen Region« die Vorstellung verorten, welche dadurch mit Sinn ausgestattet sein kann und soll. Die Operation der Teilung bzw. Artikulation der Gegenständlichkeiten in Regionen spiegelt sich in der für die Konnotationen der Gegenständlichkeiten selbst verwendeten Sprache wider. Jede sektoriale (apriorisch materiale) Sprache beschreibt einen gewissen Teil desjenigen, was wir »Wirklichkeit« nennen (was jedoch nur auf Grund des Horizonts der Erscheinung möglich ist). Ist eine ontologische Region, ein Teil des psychischen Lebens als »Ich-Horizont« tatsächlich einmal strukturiert, so hätte jede Vorstellung ihren Inhalt und ihren Sinn bezüglich des kognitiven Raumes, in dem sie vermeint ist. Die Beschreibung eines kognitiven Raumes, der den Inhaltstypus einer Vorstellung bestimmt, ist schließlich wesentlich für jede Sach-Erfahrung. Diese weder perzeptive noch kontextuelle Räumlichkeit im weiten Sinne des Begriffs interessiert folglich nicht nur die gewöhnliche, perzeptive Erscheinung, sondern umfasst jegliche Erfahrung einer Gegenständlichkeit als solche, da sie – streng genommen – indem sie die Gegenständlichkeitsbedeutung fixiert, nichts anderes als ein 269 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
framework für jegliche Vorstellung ist. Der durch das materiale Apriori als »dasjenige, was die Bedeutung der Gegenständlichkeit bestimmt«, beschriebene Raum zeigt in erster Linie, dass die Vorstellung des Wissens eines Individuums nicht als eine große, einzige Grundlage und ungetrennt von Kenntnissen ableitbar ist, sondern als ein »Horizont«, der sich artikuliert und eine topologische Konfiguration entsprechend den »apriorischen Regionen der Gegenständlichkeit« erhält.
§ 39. Aktuelles materiales Apriori und Kontextualität Dass eine materiale Apriorität in der Konstitution des Sinns und des Inhalts einer Sach-Erfahrung als solche am Werke ist, ist kaum ausreichend, um dieselbe Erfahrung der Erscheinung noch die HSB, die sie aktiviert, in ihrer Fülle zu begreifen. Wenn unsere Aufgabe nun darin besteht, die HSB als solche zu definieren, ist es offensichtlich, dass ihre Konstitution von – wenn auch nicht vollständig – der materialen Apriorität abhängt, die der Sach-Erfahrung eine Form gibt oder, besser gesagt, die uns die Bedeutsamkeit einer Sach-Erfahrung zugänglich macht, indem sie ihr ihre »empirische Form« überträgt. Was die Verwendung, den aktuellen Gebrauch einer gewissen materialen Apriorität fixiert, ist die Auffassung – gänzlich gar nicht wahrnehmbar und nicht thematisch – eines kontextuellen Netzes, in welchem gewisse psychische, kognitive und allgemeiner intentionale Akte erforderlich sind. Tatsächlich ist der Kontext gewissermaßen das komplementäre Element zum materialen Apriori, das den Weg aufzeigt, um die HSB als solche auf eine nicht naive Weise zu denken. Denn die Konstitution einer HSB findet wesentlich mittels der Wechselwirkung zwischen dem materialen Apriori im Akt – aktuell operatorisch – in der Sach-Erfahrung und der Individuation eines Kontexts statt, in welchem sich die Auffassungen des Inhalts dieser oder jener (anderen) Erscheinung verorten, in welchem sie die Verifizierbarkeit dieses oder jenes (anderen) Urteils suchen. Zu fragen, ob die Individuation eines Kontexts vollständig von der materialen Apriorität im Akt abhängt, entspricht streng genommen nicht der Frage, ob es einen einzigen Kontext gibt, weil es eine materiale Apriorität im Akt gibt. Die Frage ist nicht so naiv, wie man glauben könnte, auch wenn sie zugleich einseitig ist. Man könnte sich tatsächlich fragen, ob es im Umkehrschluss der Kontext ist, der die 270 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 39. Aktuelles materiales Apriori und Kontextualität
Operativität dieser oder jener materialen Apriorität bestimmt. Die Tatsache selbst, eine reine Alternative zwischen den zwei Hypothesen zu meinen, bedeutet, eine metaphysische (ontologische) Ableitungsposition zu erneuern und dadurch die intentionale Komplexität der HSB zu verlieren. Ich habe in jedem Moment die Möglichkeit, eine Änderung eines materialen Apriori, eines kognitiven Raums durchzuführen (oder passiv zu beobachten). Das heißt im Wesentlichen, dass der Kontext nicht zwingend, auf notwendige und unumgängliche Weise, die HSB bestimmt, nämlich, dass es keine Abhängigkeitsverbindung zwischen dem Sein des Kontexts, der Identifikation des Kontexts als solcher und der HSB gibt. Es bedarf, die Beziehung zwischen materialer Apriorität, Kontext und HSB grundlegender – und nicht im Sinne einer metaphysischen Struktur – zu denken. Das, was uns jetzt interessiert, ist die Rolle, welche das materiale Apriori spielt, das sich auf jeden Fall als Einheitscharakter erweist, als Schnittstelle (Interface) zwischen der HSB, d. h. dem »Ich«, und der Kontextualität als solche. Durch diese Apriorität kann sich das Subjekt auf die Bezugs- bzw. Ortungspunkte beziehen, die seine aktuellen kontextabhängige Situation deshalb beschreiben, weil sie den Kontext – das Aktionsfeld – seiner intentionalen Tätigkeit beschreiben. Wir haben den kognitiven Raum als materiale Apriorität definiert, nämlich als eine Dimension der Gegenständlichkeit, in der diese letzte sich konfiguriert und bezüglich gewisser ontologischer Verpflichtungen gestaltet. Man hat Zugang zu dieser Gegenständlichkeit, die durch diese regionale Ontologie (und nicht durch eine andere) beschrieben ist, weil die Sedimentierung der Erfahrung uns dazu geführt hat, die gegenständlichen Eigenschaften eines beliebigen Gegenstands zu fixieren. Das durch eine regionale Ontologie beschriebene Wesen der Gegenständlichkeit impliziert gewisse ontologische Verpflichtungen, die das Sein sic et non aliter im bestimmten Horizont jeglicher materialen Apriorität bestimmen. Diese sind die charakterisierenden Verpflichtungen, die das Sein des Gegenstands (oder des Ereignisses, des Sachverhalts und im Allgemeinen der Situation) in der Region kennzeichnen. Diese Region gibt die Bezugspunkte an, um einen Kontext zu beschreiben, demzufolge die Erscheinung und ihr hervorstechender (salient) Inhalt und das Wahre und das Falsche des Urteils zu begreifen ist. Wenn diese oder jene (anderen) ontologischen Verpflichtungen, die von dem Sein der Gegenständlichkeit (vom Etwas) handeln, nach dieser materialen Apriorität in der phänomenalen Er271 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
fahrung verifiziert sind, dann gibt es einen Kontext, eine Kontextualisierung der Erfahrung als solche, und folglich die Gegebenheit eines Sinns der Vorstellung, des Etwas als solchem, laut diesen oder jenen (anderen) Inhalten. Die kontextuelle Räumlichkeit wird nicht diejenige des Wahrnehmungsfeldes sein können, weil die Individuation des Bereichs der Wahrnehmung sich in dieser Räumlichkeit und mittels dieser Räumlichkeit vollzieht. Dieser Raum, in welchem es möglich ist, die Gegebenheit dieser oder jener ontologischen Verpflichtung zu vergegenwärtigen – und dadurch eine materiale Apriorität in diese oder jene (andere) phänomenale Situation zu implementieren –, kann nur die Öffnung des psychischen Lebens sein, als »Ich-Horizont« zu verstehen. In diesem Sinne richtet die Aufnahme einer Kontextualität oder die Anpassung an einen Kontext meine intentionale Tätigkeit zu denken eher nach gewissen ontologisch-regionalen Strukturen als nach anderen. Der »Ich-Horizont« als Öffnung des psychischen Lebens als solches kann nichts anderes sein als dieser »Raum«, in dessen Innerem sich dieser oder jener Kontext individuiert, beschrieben ist, sich klar hervorhebt. Doch ist hier die self-awareness noch nicht die selfconsciousness, noch kann sie dies eidetisch (betrachtet) jemals sein. Die Präsenz zu sich selbst rechtfertigt es nicht, von der Konstitution eines Subjekts als solches zu sprechen, das mit einem Selbstbewusstsein ausgestattet ist. 33
Im Grunde war der Begriff einer Präsenz zu sich schon weitgehend bestimmt worden, als wir die Unmöglichkeit einer Antwort auf die Frage »Was/wer bin ich?« aufgezeigt haben. Die Unmöglichkeit einer Antwort betraf genau dasjenige, was man hier behandeln wird, das heißt die Unmöglichkeit, auf deskriptive oder logische Weise in der dritten Person ein »Was« und vor allem ein »Wer« von demjenigen festzustellen, der »Was/wer bin ich?« fragt. Wenn es ein »Wer« und ein »Was« gäbe, das heißt, wenn es ein transzendentales Ego gäbe, könnte die Frage sogar auf eine metaphysische Weise außer Frage gestellt werden. Jedoch könnte das Ego in erster Linie niemals auf die Frage des »Wer« ein unpersönliches, absolut statisches »Was« erwidern. In zweiter Linie zeigt das Ego – als Antwort – jegliche Schwäche einer vereinfachten Erwiderung (implizit oder explizit metaphysisch). Die hybride Selbstbeziehung stellt sich auf einmal als komplexer heraus, in voller Übereinstimmung mit der Komplexität des Selbstbewusstseins und dessen potentiell unendlichen Deklinationen bezüglich desselben Menschen.
33
272 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 40. Charaktere der HSB
§ 40. Charaktere der HSB Die HSB stellt die Institution einer doppelten kognitiven Dynamik innerhalb der Öffnung des psychischen Lebens dar, durch welche die intentionale Gerichtetheit 1) durch die Dicke eines materialen Apriori dringt, um ausgerichtet, gebrochen auf das alleinige Allgemeine der Erfahrung (prospicere de specula) zu sein und 2) so ein Spiegelbild gibt, das sich als »Identität«, Ego, »Selbst« gibt. Die psychologische Uröffnung offenbart sich einzig in einer Gerichtetheit, die nicht auf eine bestimmte Gegenständlichkeit (sei sie die Gegenständlichkeit in dem Zugangsmodus des Erinnerns, des logischen Schließens, der »sakralen« Erfahrung etc.) konfiguriert, dekliniert, gerichtet ist. Die psychologische Uröffnung offenbart sich durch das spekulative Bewusstsein des Vermeinens des Ichs, gerade aufgrund der Abwesenheit – der Erschöpfung – jeglicher bestimmten gegenständlichen Gerichtetheit, jeglicher noematischer Deklination des Zugangs zur Gegenständlichkeit als solcher. In der spekulativen Situation strahlt jeder Aufmerksamkeitsstrahl der Intentionalität frei, ohne notwendig eine bestimmte Gegenständlichkeit aufzufassen; eine jede kann ihm einen bestimmten noematischen Zugang zur Gegenständlichkeit in einem kognitiven Kontext oder die Beschreibungsmöglichkeit desselben Kontexts verleihen. Die spekulative Situation, welche die psychologische Uröffnung zeigt, ist nichts anderes als die reine Erscheinung bzw. Erschließung, nicht-dekliniert (gemäß eines gegenständlichen Sinns) vom psychischen Leben, eine Situation »reiner Aufhebung«, in der sich die psychologische Modalität als notwendiger Charakter der Effektivität einer Auffassung von »möglichen Gerichtetheiten« konfiguriert. In diesen Begriffen gibt es kein Ego in dem Sinne, dass das in der Gerichtetheit des Ichs gegebene Ego eine von Sinn und Inhalten geleerte Repräsentation ist. Es gibt überhaupt keine »Wiedererkennung« des Fragenden als Ego: Der Fragende fragt und er kann sich niemals als Ego (als »ein Ego«, als eine HSB) wiedererkennen, weil hier genau ein solches Ego »in Frage« steht. Durch die spekulative Situation ist das Ego von jedem metaphysischen Gehalt geleert. Diese spekulative Situation steht der Sach-Erfahrung als solcher gegenüber, worin der Unsinn dieser Erfahrung als Ganzes im Verzug ist und worin es mit einem kognitiven Kontext eine Wiedererkennung als HSB, eine Zuschreibung der realitas zum Ego selbst als Selbstzuschreibung, gibt. Hierbei funktioniert die materiale Apriorität, die bezüglich des »Ich273 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
Horizonts« einen autonomen Status genießt, wie ein Prisma, das, indem es den intentional neutralen Strahl dekliniert, Zugang zu einem noematischen Gegenständlichkeitsfeld gibt. Die Auffassung dieser nicht-ontologischen Autonomie enthüllt den Dynamismus, der zur Wiedererkennung von sich selbst als Ego führt. Die eidetische Konsistenz der Struktur der HSB wird durch den Bestand selbst als Struktur des materialen Apriori, durch ihre identifizierbare Dicke, aufgewiesen. Dadurch, dass ihre Gegenständlichkeiten in der katoptrischen und dioptrischen Dicke des materialen Apriori (die eine kognitive Situationalität beschreibt 34) geschaut werden, findet das Bewusstsein der einfachen Gegenwärtigkeit in der aktuellen Öffnung des psychischen Lebens, einer Instanziierung – niemals definitiv, niemals ontologisierbar – als Ego zu sich selbst. Die Konfiguration der thematisch aktuellen Öffnung, die es ermöglicht, einen Kontext zu beschreiben, also eine Situationalität zu individuieren, funktioniert wie ein Spiegel und ermöglicht auch – einem »katoptrischen« Dynamismus folgend –, sich hier als Ego wiederzuerkennen. Das Ego, in dem man sich wiedererkennt – diese HSB, die selbst aus der Situationalität jeder Erfahrung kommt –, kann in keinem Fall Die Wortverwendung »materiales Apriori« muss geklärt werden. Es wäre nicht passend, den Ausdruck »materiales Apriori« als einfache lineare Menge von ontologisch-regionalen Prädikaten zu verstehen. Ist die Situationalität als ein einfaches materiales Apriori, das gegebenenfalls aktiviert wird, verstehbar? Es ist nicht so einfach. Können wir atomare Horizonte wie atomare materiale Apriori denken, die als vorgezeichnete Strukturen für die Anerkennung der Situationalität bzw. für die Erfüllung der zwei primitiven-deiktischen Ausdrücke dienen können? Gibt es eine Einszu-eins-Korrespondenz zwischen dem Sinn der Situationalität und der Selbstbeziehung einerseits und dem Horizont andererseits? Was sind z. B. das hic und das nunc dieser aktuellen Erfahrung,. Sind sie etwas, das sich durch einen einfachen Horizont charakterisieren lässt? Erinnern wir uns daran, was Husserl selbst behauptet bezüglich der Situation: »Die Situation als dieser Horizont steht aber selbst in weiteren Horizonten. Auch durchdringen sich die Horizonte« [Hua. 39, 543]. Die Bedeutung des »Ich« erfüllt sich durch einen Hinweis auf primitive deiktische Ausdrücke, die sich ihrerseits auf Komplexe von Horizonten, die nicht eine einfache Struktur aus linear zählbaren Prädikate sind, beziehen. Die Komplexe von Bedeutungen und vorgezeichnete Potentialitäten von Erfüllung, welche die kontextuelle Salienz bestimmen, sind nicht lineare Mengen von Merkmalen, sondern Mengen von Dimensionalitäten, die miteinander verschmolzen sind. Die kontextuelle Salienz, wodurch die primitiven deiktischen Ausdrücke sich erfüllen lassen und sie dann das Ich als Moment der Selbstbeziehung rückbestimmen, ist das Zeichen der Komplexität des Lebens und zugleich der Hybridisierung jeder Selbstbeziehung. Das materiale Apriori kann folglich sowohl ein einfacher als auch ein topologischer Komplex von Dimensionen der materialen Apriorität bedeuten.
34
274 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 40. Charaktere der HSB
durch das materiale Apriori, welches das Ego dem Bewusstsein als spekulativ anthropologisches Bild darstellt, ontologisch bestimmt sein. Das Ego wird nicht direkt durch das materiale Apriori bestimmt – welches bestimmt die Gegenständlichkeit, den kognitiven Kontext und konsequenterweise das Bewusstsein einer Situationalität –, sondern ist dadurch en retour skizziert. Es ist dadurch folglich nicht als Gegenständlichkeit bestimmt, sondern als spiegelndes Korrelat. Es stellt sich jedoch eine Reihe von Problemen, die das Wesen der HSB betreffen: Auf welche Weise können sich die Egos in ein und demselben psychischen Leben ändern, das heißt koexistieren? Was ist die Natur ihrer Koexistenz innerhalb der Potentialität des Erfahrens? Inwiefern kann sich eine HSB als solche charakterisieren? Was ist schließlich der genetische Prozess, der es ermöglicht, sich als »dieses Ego« wiederzuerkennen? Warum – sogar wenn man sich nach mehreren Modalitäten der HSB wiedererkennt – kann jeder stets eine Art von Bewusstsein der Hintergrundidentität bewahren? Diese Fragen heben die Notwendigkeit hervor, drei Merkmale des Begriffs zu behaupten, durch welche sich die HSB artikuliert: die reziproke Irreduzibilität, der Charakter der funktionalen Variation und der genetische Charakter. Zwischen diesen drei Begriffen stellt sich eine Art von psychologisch oder kognitiv ursprünglicher Korrelation heraus. Wenn der intentionale Strahl in seiner ontologisch neutralen Tätigkeit und der »Ich-Horizont« in seiner ontologischen Neutralität nicht auseinander herleitbar sind, könnte man an die Möglichkeit denken, das materiale Apriori bzw. den intentionalen Strahl oder den »Ich-Horizont« herzuleiten. Das ist aber unmöglich, weil es niemals konstitutiv im Vermögen des Individuums liegt, zu entscheiden, was vom materialen Apriori es ist, wodurch es die Erfahrung von etwas macht (als etwas Bestimmtes aus ontologisch-regionaler Sicht). Jedenfalls wird das Bestehen des »Ich-Horizonts« niemals – wegen konstitutiver Grenzen – hinreichen, um die Genese eines bestimmten materialen Apriori zu explizieren, wenn man nicht erneut bestätigt, dass die Genese im »Ich-Horizont« selbst stattfinden muss. Auf analoge Weise wird das Bestehen des »Ich-Horizonts« auch nicht hinreichen, die Annahme eines bestimmten materialen Apriori zu explizieren, wenn man nicht bestätigt, dass diese Aktualität vom Status der Potentialität abhängt, in welchem diese apriorische Struktur im »Ich-Horizont« war. Jedenfalls zeigt sich die Diskrepanz, die zwi275 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
schen der psychologisch ursprünglichen Modalität (für welche die Ausführung einzig die Effektivität einer Auffassung möglicher Akte ist) und der Aktualisierung eines materialen Apriori in der Sach-Erfahrung besteht, als reziproke Irreduzibilität zwischen materialem Apriori und dem »Ich-Horizont«. Die Irreduzibilität der drei Elemente kann uns jedoch nur die Grundlage für eine Analyse der Selbstbeziehung geben, die sich nicht auf eine visuelle Modellierung reduziert. Der intentionale Strahl, die dioptrische/katoptrische Oberfläche des materialen Apriori und des »Ich-Horizonts« besitzen eine eidetische Autonomie (wenn auch partiell) im Komplex der HSB. Diese eidetische Autonomie bedeutet, dass in ihrem selbssttändigen Bestand in der Erfahrung ebendiese selbstständigen Bestandteile eine funktionale Öffnung besitzen, eine Autonomie, die in der Lage ist, eine Anzahl von kognitiven, selbst hybriden, potentiell stets wachsenden Typologien zu verursachen. In der Auffassung einer Situationalität und in der Bestimmung einer kontextuellen Salienz, ist jedes materiale Apriori für einen extensiven und intensiven Schritt empfänglich sowie für eine Verschmelzung mit anderen materialen Apriori – das heißt, dass es extensiv und intensiv seine Fähigkeit, ein gewisses Element zu bestimmen, erweitern kann. Auf ähnliche Weise kann sich auch der »Ich-Horizont« dank der Folge und der Konkretion immer neuer Erfahrungen ausdehnen, indem er in sich selbst nicht nur eine Anzahl bedeutender Erlebnisse, sondern auch und vor allem die Möglichkeit der Entstehung neuer, anderer Strukturen, die materialen Apriori, umfasst. Es gibt also keine singuläre, monolithische HSB oder Struktur von HSB als neue Figur eines metaphysischen Egos. Der »IchHorizont« als effektive Auffassung einer Öffnung möglicher Akte zeigt zugleich – ohne davon eine effektive Bestimmung zu geben – die Möglichkeit, Figuren des Egos als funktionale Deklinationen der HSB zu denken. Die funktionale und morphogenetische Öffnung des Modells der HSB kann also nur auf die genetische Strukturierung des materialen Apriori verweisen, das sich, selbst wenn es nicht auf seine Abhängigkeit vom »Ich-Horizont« hinweist, als fundamental für die Artikulation der oben formulierten Fragen erweist. Tatsächlich hängt die HSB einerseits von dem Bestand der psychologisch ursprünglichen Modalität ab – wenn sie sich auch nicht als völlig abhängig dartut – und andererseits vom materialen Apriori als trait d’union zwischen Akt und »Ich-Horizont«. Die Sedimentierung der Erfahrungen führt zu 276 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 40. Charaktere der HSB
stets neuen Formen des materialen Apriori, das heißt zu immer weitreichenderen und/oder leistungsfähigeren Konfigurationen des materialen Apriori. Die Sedimentierung der Erfahrungsformen – die Ausdehnung »meiner Welt« durch meine intentionale Sprache – führt also auf gewisse Weise zu einer progressiven Sedimentierung der Formen der HSB. Wir brauchen in diesem Buch nicht jede Konfiguration der HSB aus genetischer Sicht zu beschreiben. Es genügt, die eidetischen Strukturen – aufgrund derer man eine genetische Verkettung der HSB in der gleichen Öffnung des psychischen Lebens finden kann – auf eine ausreichende Weise zu beschreiben. Von der Sedimentierung der HSB, einer Sedimentierung grosso modo entsprechend der Sedimentierung des materialen Apriori, das ihm seine Konfiguration verleiht, zu sprechen, kommt dem gleich, eine Verkettung zwischen materialen Sedimentierungen, also ein dynamisches Sedimentierungssystem der materialen Apriori und der entsprechenden und spiegelnden HSB zu denken. In der Tat finden sich die Selbstbeziehungsformen und die Beziehungstypen zu einer Erfahrungsgegenständlichkeit – als zwei spiegelbildlich entsprechende Momente – in einer genetisch andauernden Verkettung. Im Auffassen erhalten sie ihre gleiche Konfiguration in einer flüssigen Genese, die die Sinnverarbeitung der Erfahrung verursacht. Die Sinnverarbeitung der Erfahrung erteilt in ihrer Doppelung die Sinnverarbeitung der gegenständlichen Erfahrung (als experitum) und der Selbsterfahrung (als experiens) und fordert durch sie selbst die Definition (wenn auch minimal) eines solchen Systems, um verstanden zu sein. Eine derartige Definition kann nur aus der Individuation eines ursprünglichen Begriffs hervorgehen, der sowohl auf der Grundlage der Zuwendung des Sinns zur gegenständlichen Erfahrung als auch auf der Grundlage der Zuwendung des Sinns der Selbsterfahrung beruht: Dieser Begriff ist die Sprache. Wittgensteins Prinzip, das wir am Anfang der Analyse der spekulativen Situation angenommen haben – »[d]ie Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« 35 –, stellt sich hier abermals als wesentlich für die Auffassung des genetischen Systems der Sinnsedimentierung heraus: die Sinnsedimentierung bzw. Sinngestaltung der Erfahrung als Sinnsedimentierung der Sach-Erfahrungen und der Selbsterfahrungsformen. Innerhalb der Sprache – folglich schreiben die »Gren35
L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, cit., 5.6.
277 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
zen« sozusagen die »idealen Grenzen« des »Ich-Horizonts« vor, der Öffnung des psychischen Lebens qua talis – verortet sich dieses genetische System der Sedimentierung.
§ 41. Gewinn und Verlust der Identität Die Formen der HSB als Ergebnis, als Kristallisierung einer gewissen Modalität, sich in gewissen Lebensformen und Erfahrungsformen auf sich selbst zu beziehen, sind voll und ganz auf dem gleichen Niveau. Ihr bescheidener Ursprung – denn die Genese wurde nie durch die Metaphysik der Götzen (und vom Götzen des »Subjekts«) betrachtet – verhält sich so wie die »Selbste«, die Prototypen des sedimentierten Subjekts, die auf einer fast absoluten und unumgänglichen, egologischen Relativität beruhen. Jedenfalls ist dasjenige, was uns gegenwärtig interessiert, nicht eine andere, mögliche Form der Hierarchiezuschreibung, sondern das Funktionieren und die kritischen Schwellen im Inneren dieser Dimension der egologischen Relativität. In der regulären Verkettung einer »konstanten« und »beschränkten« Anzahl von Formen der HSB (denn man hat nicht unendlich »Selbste«, wie man keine Unendlichkeit an Lebensformen hat) kommt das Individuum dazu, die Bedeutung von »Selbsterfahrung« als eine Sache zu begreifen, als Indiz einer egologisch aufgefassten Identität. Der Begriff der egologischen Identität ist also etwas, das von einer Form der HSB abhängt, die dem Ego Sinn verleiht, doch vielmehr von einer operatorischen Sedimentierung abhängt, nach welcher derjenige, der sich wiedererkennt, entsprechend einer »fixen« und »beschränkten« Reihe der Formen der HSB eine Art Bewusstsein der sedimentierten Identität entwickelt. Wenn sich die Erfahrung der Gegenständlichkeit immer auch in den gleichen sedimentierten Formen des materialen Apriori abspielt, ohne dass diese eine Bereicherung fordern oder dass sie andere Formen der HSB verursachen, wird die »geschlossene« Struktur der Verkettung der Formen der HSB immer als »Selbsterfahrung« verstanden werden. Es ist das Auftreten von Erscheinungen, die diese operativ sedimentierte Struktur übersteigen, das eine Erweiterung impliziert und das dadurch ein Wachstum der Komplexität der Formen der HSB hervorbringt. Die Bereicherung der Sach-Erfahrung, die Anlieferung von immer komplexeren Erscheinungsformen, zerbricht immer wieder die Idee (oder die Meinung) einer strukturell geschlossenen Einheit 278 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 41. Gewinn und Verlust der Identität
der Selbsterfahrung, als etwas Substantielles gedacht: das »Subjekt«. Das Individuum muss sozusagen die Zugangsstrukturen zur Phänomenalität erneuern und die Form, sich auf sich selbst zu beziehen, auf spiegelnde Art erneuern, indem es andere, fremde Selbstbilder (selfimages) in dem geschlossenen System der Selbsterfahrung anordnet. Je mehr das Individuum sich in die Komplikation der Erfahrung begibt, desto mehr erfährt es die Diskrepanz zwischen der Selbsterfahrung – als leere Intention – und der Vielzahl der Formen der HSB, in und durch welche sie ihre Instanziierung findet. Das Ansteigen der Komplexität der Erfahrung bringt zu dem Verlust der illusorisch sedimentierten Identität. Wenn also die primitiven Formen der HSB – einzeln durchdacht – nie dem Ego einen Sinn verleihen können, nicht ein für alle Mal die egologisch geforderte Identität verleihen, dann wird es dadurch von selbst wegen der Formen komplexer. Das Ansteigen der phänomenalen Komplexität führt im Gegenteil zum Verlust der Identität, indem es die geschlossene und illusorische Einheit der Erfahrung von sich zerschlägt und zur Konfiguration von neuen und komplexeren Formen der HSB führt. Die Komplexität bringt das Spekulativ in seiner Latenz zur Erscheinung, das heißt zum Moment der Auffassung der konstitutiven Leere – oder der konstitutiven NichtSättigung (noch Sättigungsmöglichkeit) – der Selbsterfahrung. Die negativen Bedingungen des Spekulativs – nämlich die Möglichkeit des Auffassens der intuitiven Leere der Erfahrung des Selbst als intentum – entwickeln sich ausschließlich dort, wo es eine Blütezeit der Komplexität der Erfahrung gibt, eine Bereicherung, eine Relativierung ihrer Formen. Der Verlust der Identität, der davon abhängt, ist der Verlust einer fiktionalen, illusorischen Identität. Es genügt, die Erweiterung des anthropologischen Horizonts oder das Umschwenken der passiv sedimentierten und nie auf die Probe gestellten, nie in Frage gestellten Strukturen darzustellen, um den illusorischen Charakter jeglicher Behauptung einer Selbsterfahrung zu zeigen. Angesichts des Sinnverlusts der Selbsterfahrung sind die Systeme der religiösen Überzeugungen und, in letzter Instanz, auch die abendländisch-christliche Metaphysik nur illusorische Versuche, einen Sinn durch eine Form der HSB zu finden.
279 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
§ 42. Das »philosophische Subjekt« Wer stellt sich die Aufgabe einer solchen Zuschreibung? Natürlich nicht das erfahrende Subjekt – auch nicht das Individuum, das schon das Spekulativ in seiner Latenz unter der Frageform »Was/wer bin ich?« aufgefasst hat. Es kann dies nur das »philosophische Subjekt« sein, das auf die Notwendigkeit einer solchen Aufgabe abzielt, eine Aufgabe, die aus einer bestimmten Tradition entstammt. Warum? Weil es, ganz einfach, ein einziges, »philosophisches« Subjekt ist, das auf explizite Weise die Sinnfrage und die Notwendigkeit, eine Antwort zu geben, anstrebt. Ob es die »Philosophie« als Antwort auf die Sinnfrage erfassen muss, steht hier nicht in Frage. Die Frage bezieht sich hingegen wesentlich darauf, »welche« Deklination der Philosophie eine solche Notwendigkeit bezweckt. In zweiter Linie müssen wir uns über den Status der »philosophischen Subjektivität« als einfache Form der HSB befragen. Welche ist die Deklination der Philosophie, die versucht, eine Antwort auf die Sinnfrage zu bieten? Seit ihrer Geburt nimmt die Metaphysik die Aufgabe wahr, eine Antwort auf die Sinnfrage zu bieten, die Sinnfrage als privative und ursprüngliche Situation jeglicher Anthropologie zu befriedigen, angesichts ihrer Unmöglichkeit, »den Sinn« zu erstellen. Auf diese Weise stellt sich der Wille, »Sinn zu geben«, als theôretikos Bios geboren, schließlich als Wille heraus, als primitiver und reiner Wille, »den Sinn« in Erschöpfung jeglicher Befragung und Antwort »zu geben«. Der Wille zur Macht bei Nietzsche – selbst in seiner unvollendeten und fragmentarischen Form – ist nur der Versuch, eine Sinngebung durch den Willen zu theoretisieren. Durch die Figur des Übermenschen, demjenigen, der wird, was er sein will, zielt Nietzsche im Grunde auf das Paradoxon der Metaphysik als solche hin. 36 Die Antwort, die einzig mögliche Antwort auf die Sinnfrage, d. h. der Wille zur Macht, muss – um sich als Antwort zu bewahren, als Sättigung der privativen Situation der Anthropologie – den offenen Raum der Frage voraussetzen. Der Wille zur Macht muss sich, um sich als Erwiderung, Sättigung darzustellen, als Theorie des Willens zum Willen darstellen und bewahren, während er dadurch seinen Widersinn prägt. Die Implosion des Willens zum Willen als Sättigung der Öffnung hängt von der Notwendigkeit ab, eine Theorie zu bewahren, also, per definitionem, von der Öffnung selbst des Sinn36
Vgl. M. Heidegger, Nietzsche. II, GA 6/2, Frankfurt a. M., 1997, S. 239/240.
280 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 42. Das »philosophische Subjekt«
mangels. Die konstitutive Trennung zwischen der Theôria – Öffnung des »Ich-Horizonts« – und ihrer Sättigung fixiert die Unmöglichkeit der Philosophie als Antwort, denn die Antwort auf die Sinnfrage muss sich immer in dieser anthropologisch-privativen Situation abspielen. Diese herausgestellte Trennung ist – in ihrem ursprünglichen Wesen – die Artikulation der Frage in der anthropologisch-privativen Situation. Allerdings koinzidiert das Wesen der Philosophie weder mit dem philosophischen Subjekt noch zeigt es sich – in der Mehrzahl der Fälle – in ihm. Als Konsequenz ist das philosophische Subjekt für unseren eidetischen Blick – zumindest für den Moment – als eine einfache, bloße Form der HSB, eine Form unter anderen zu betrachten. Das bedeutet, dass das »philosophische Subjekt« für uns eigentlich nicht die privilegierte Rolle spielt, die ihm gewöhnlich zugeschrieben wird: Es wird »eine« Form, es relativiert sich. Sogar wenn es auf eine einfache Form der HSB relativiert ist, präsentiert es sich offensichtlich nicht als eine »einfache Form der HSB«, nicht als »primitive« Form der Wiedererkennung von sich selbst, sondern, wenn man so will, als eine der komplexesten Formen der HSB, die sich als absolut ungeeignet darstellt, um der leeren Intention »Selbsterfahrung« einen Sinn zu geben. Die Komplexität des »philosophischen Subjekts« als HSB hängt immer und notwendigerweise von der materialen Apriorität ab, welche der Erfahrung der »philosophischen Sachen«, der »Gegenstände«, der »Situationen«, der »philosophischen Sachverhalte« eine »Form« und zugleich eine Instanziierung der Selbsterfahrung gibt, indem sie ein self-image überträgt, ein »Spiegelbild«, das ihm gleichkommt. Was sind nun diese »philosophischen Sachen«, die durch die materiale Apriorität, die sie kennzeichnet, dem philosophischen Subjekt seinen Komplexitätsstatus verleihen? Warum verwendet man darüber hinaus den Plural, warum spricht man von »philosophischen Sachen« und nicht vielmehr beispielsweise von »der philosophischen Sache«, verstanden im Sinne der »Sache selbst der Philosophie«? Man kann auf diese letzte Frage nicht antworten, außer durch eine ungerechtfertigte und »metaphysische« Annahme. Dasjenige, was sich in der eidetischen Analyse (für den Moment) darstellt, sind die »Gegenständlichkeiten«, die sich aufgrund der materialen Apriorität geben, welche dem Subjekt den Status, die Deklination des »philosophischen Subjekts« zuschreiben. Man muss also in der Sedimentierung von diesem materialen Apriori auch die Natur der »philosophi281 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
schen Sachen« und auf spiegelnde Weise das Komplexitätsniveau des »philosophischen Subjekts« als Form der HSB suchen. Sprichwörtlich beginnt niemand seinen Weg in der Philosophie, wissend, um was genau es sich dabei handelt. Niemand weiß es, da es, genau genommen, niemand wissen kann. Das ist die nicht-metaphysische Antizipation, die schon die spekulative Dimension öffnet. Denn die Sache selbst der Philosophie ist nichts anderes als die Unmöglichkeit ihrer substantiellen Definition: Die Philosophie ist auf positive Weise nicht mehr als die Sublimation, die Feststellung der anthropologisch-privativen Situation, welche durch die Frage »Was/ wer bin ich?« geöffnet wurde. Niemand, gefragt an seinem Anfang in und mit der Philosophie (und vielleicht auch weiter), kann auf nicht zufällige und nicht oberflächliche Weise darauf antworten, was letztendlich die Philosophie ist. Die ursprüngliche Entscheidung zur Philosophie geschieht nicht dann, wenn jeder zu philosophieren beginnt. Die Urstiftung zur Philosophie stellt nicht den »Anfang« des Individuums in der Philosophie dar. Derjenige, der sich ausgewählt hat, Philosophie zu studieren oder sogar zu praktizieren, trifft niemals eine rationale, durchdachte Entscheidung, mit einer ausreichend klaren Definition desjenigen, das man wählt oder ablehnt. Alle anderen lehrreichen Diskurse stellen schließlich lediglich Rhetorik dar. Der primäre Zugang zur Philosophie ist ein wesentlich und radikal zufälliger Zugang, vorgeschrieben durch verschiedene Bedingungen, historische, kulturelle, politische, soziale, psychologische, persönliche usw. Aus diesem Grund weigert sich Platon, derjenige, der die Philosophie als Metaphysik »entscheidet«, zu sagen, was den Sklavenkopf in der Höhle dazu veranlasst, sich zu drehen. 37 Jedenfalls kann er nicht einfach durch die Tatsache, dass das Objekt der Wahl nicht klar definierbar ist, behaupten, dass die Wahl nicht in sich selbst motiviert ist. Wodurch ist die Wahl also motiviert? Durch die latente Metaphysik enthüllt sich die Philosophie in ihren historischen Konkretionen und durch die latente Metaphysik, die in der Sinnfrage als Nachfrage genau entfaltet wird, befindet sich die implizite Anmaßung einer Antwort, die sich auf Vorurteile gründet, nach denen es letztendlich eine Antwort gibt. Derjenige, der die Latenz des Spekulativs als Sinnfrage »Was/wer bin ich?« begriffen hat, erkennt in den historisch und metaphysisch sedimentierten Phi37
Platon, Resp., 515 b.
282 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 42. Das »philosophische Subjekt«
losophieformen einen Vorschlag, um auf diese Frage zu antworten, einen Vorschlag, um das Leere der anthropologisch-privativen Situation zu füllen. Es ist kein Zufall, dass sich die Metaphysik – sie allein – die Aufgabe stellt, den Menschen positiv zu bestimmen und daher eine positive Anthropologie zu bestimmen. Die banale und wesentlich falsche Behauptung des Gemeinsinns, der verschwommenen und oberflächlichen Kultur von intellektuellen Zirkeln, nach denen z. B. »die Philosophie auf die großen Fragen der Menschheit antwortet« 38, ist wesentlich der Äquivokation der Metaphysik und der Philosophie geschuldet. Die Behauptung erweist sich als wesentlich wahr, wenn man »Philosophie« als »Metaphysik« versteht, selbst wenn dies nicht gleichwertig damit ist, das Mindeste über den Wahrheitsbestand der Antwort zu sagen. Es ist die latente Metaphysik der Philosophie und in der Philosophie, die Naturanlage der Sinnfrage zur Metaphysik, welche die (vollständig illusorischen) Gründe der Wahl, sich den philosophischen Weg vorzunehmen, anerkennen lässt. Ein solches »Vornehmen« erscheint eher wie ein Umherspazieren als wie ein methodisches Verfahren. Die Wahl erfolgt nur in dieser trügerischen Korrespondenz zwischen der metaphysischen Anlage der Frage und der metaphysischen Äquivokation der Philosophie, die Entscheidung über und für etwas, wovon man nichts mehr kennt als verstreute Spuren im Gemeinsinn. Das »Subjekt«, das einzig »philosophisch« bezüglich seiner Wahl ist, die Begriffe und Ideen aufweist, die ihm durch die Populärkultur, durch die Lehre, durch einen mehr oder weniger tiefgreifenden Ansatz zu anderen Formen des Wissens zukommen, beginnt, seine materiale Apriorität zu sedimentieren, beginnt, einen Zugang zu ganz bestimmten Gegenständlichkeiten zu entwickeln. Das Subjekt entwickelt eine Vertrautheit mit den historischen Figuren, die Träger von verschiedenen Theorien in verschiedenen Konfigurationen sind. Im besten Fall erlangt es Vertrautheit mit Problemen, die von Themen (an dieser Stelle spielt es keine Rolle, ob sie illusorisch sind) wie dem Menschen, der Natur, der Welt, Gott, dem Handeln, der Geschichte, dem Schönen usw. handeln. All diese Themen, von denen die historisch bestimmten Probleme oder Theorien handeln, sind Gegenstände, die sich in einer bestimmten Grammatik zeigen, die sich in weiteren Spezifikationen zugänglich machen. Die »Sachen«, von deVgl. R.-D. Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?: Eine philosophische Reise, München, 2007.
38
283 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IV Spekulative Strukturen
nen die gelehrte Philosophie durch das »philosophische Subjekt« handelt, bestimmen sich und mit ihnen die Philosophie, wie es sie in seiner Naivität versteht: Sie wird in seinem Erlernen von philosophischen Sachen »Philosophie der Logik«, »Philosophie der Mathematik«, »Religionsphilosophie«, »Sprachphilosophie«, »Philosophie des Geistes«, »Wissenschaftstheorie«, »Philosophie des Handelns«, »politische Philosophie« usw. Jede dieser Formen, dieser Deklinationen einer hypothetischen Form der Philosophie, die man niemals begreift und schon gar nicht das Wesen, wendet sich – wie es sein muss – mehr und mehr von den bestimmten, definierteren und begrenzteren Regionen ab, um das zu behandeln, was ihm genehm ist. Das Subjekt, das seine Entscheidung für die Philosophie getroffen hat, befindet sich gegenüber einer Parzellierung und einer inflationären Fragmentierung, von der es glaubte, etwas Einzigartiges, Exklusives zu sein, das, woran es das exklusive und lehrreiche Privileg wiedererkennt, eine Sättigung zu liefern, eine Antwort auf die Sinnfrage. Zusätzlich gibt sich das Bild selbst, das mit den philosophischen Sachen Umgang hat, als self-image verkompliziert, fragmentiert. Das Individuum, das sich entschieden hat, den Weg der Philosophie zu gehen, bekommt nicht die Antwort auf die Sinnfrage, die es suchte, sondern findet dagegen sein Bild des zerstreuten, verstreuten, unglaublich verkomplizierten »philosophischen Subjekts«. Umgang mit den »philosophischen Sachen« zu haben, enthüllt nicht nur die Unmöglichkeit, die durch die Frage bestimmte anthropologisch-privative Situation zu widerrufen, sondern enthüllt außerdem einen Identitätsverlust desselben »philosophischen Subjekts« als HSB. Es manifestiert sich nicht nur das Spekulativ in seiner Latenz, als Auffassung der Leere jeder »Selbsterfahrung«, sondern es manifestiert sich auch und zusätzlich eine Fragmentierung des Selbstbilds, das ihm vorübergehend und zufälligerweise eben seine Instanziierung erteilt. Das »philosophische Subjekt« – die illusorische, einzige Möglichkeit für das Individuum, sich für ein »philosophisches Ego« zu halten – zerstreut sich durch die exponentielle Verkomplikation der »Sachen«, mit denen die Philosophie Umgang pflegt: Es verstreut sich in die Unendlichkeit von Verweisen zu bestimmten Wissensformen, die ihrerseits zu noch bestimmteren Wissensformen oder auch auf andere Wissensdimensionen (oder schlechter, nur in vielfache Dimensionen der Sekundärliteratur) verweisen. In dieser labyrinthischen und kaleidoskopischen Sicht verliert sich das »philosophische 284 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 42. Das »philosophische Subjekt«
Subjekt« als »einheitliches Bild« des Selbst, als self-image, weil es fast keinen Griff mehr an den »Sachen«, an den mehr oder weniger abstrakten »Gegenständlichkeiten«, hat. Die Sachen sind zu den Verweisungsbündeln in einer inflationären Expansion des kognitiven Kontexts der Komplexität aufgelöst. Die »Sachen«, die – bis zu einem gewissen Grad – einen derartigen Einfluss garantieren, dass das Subjekt ein »Spiegelbild«, genannt »philosophisches Ich« bzw. »Selbst«, »philosophisches Subjekt«, haben konnte, entziehen sich jeglicher Substantivierung, sogar einer so »idealen«, um folglich die anthropologisch-privative Situation zu verdoppeln, die das »philosophische Subjekt« sich bemühte zu verneinen: »twice the pride, double the fall«. Das Individuum, das vorgab, das »philosophische Subjekt« zu sein, findet sich auf der Hälfte seines Lernwegs als ein Spezialist der Spezialisten wieder, verstreut in einer Myriade sozialer Beziehungen, faktischen Abhängigkeiten, bestimmten Diskussionen, die sich in sich selbst gemäß der Sprache der positiven Wissenschaften, der Komplexität, der Fragmentierung, der Spezialisierung, erneuern. Es gibt absolut nichts, über das es sich in all dem beschweren kann, wenn nicht der Verlust einer Möglichkeit, sich auf sich selbst zu beziehen, als ein »philosophisches Subjekt«, das heißt der Verlust der Illusion, derzufolge das »philosophische Subjekt« jederzeit die Sinnleere der anthropologisch-privativen Situation füllen kann.
285 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
II. TEIL META-THEORIE
»δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ᾽ εἶδος λεγόμενον« Platon, Phaidros, 249 b 6
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
§ 43. Das philosophische Subjekt und die Nicht-Sache der Philosophie Der Verlust jeder Möglichkeit, sich auf sich selbst als »philosophisches Subjekt« zu beziehen, vollendet das Paradoxon des Anspruchs, das »Selbst« in jeder gearteten Erfahrung zu erfassen. Die Selbsterfahrung wird nicht nur im Rahmen der zunehmenden Komplexität der Erfahrungsformen, also der immer rascheren Abfolge der HSB als Instanziierungsformen, in ihrer konstitutiven Leere erfasst. Vielmehr wird nun, dank der eidetischen Beschreibung der Sedimentierung der »philosophischen Subjektivität«, klar, dass in (mindestens) einer ihrer Instanziierungen die privative anthropologische Situation nicht ausgeglichen wird, sondern sich im Gegenteil verdoppelt und verschärft. In dem Identitätsverlust, welcher der zunehmenden Komplexität der »Sache selbst« der Philosophie, der exponentiellen Fragmentierung dessen geschuldet ist, was man als »ihre Sachen«, die »philosophischen Sachen« anzusehen pflegte, erneuert, verdoppelt, verstärkt das »philosophische Subjekt« die privative anthropologische Situation der Sinnfrage »Wer/was bin ich?«. Und eben an diesem Punkt der äußersten Relativierung des Gegenstands, durch den das »philosophische Subjekt« sich als self-image konstituieren sollte, zeigt sich die »Sache selbst« der Philosophie. Diese »Sache selbst« ist nicht das »Ding« oder der Gegenstand, mit denen das »philosophische Subjekt« zu tun zu haben behauptete. Denn nun ergibt sich die »Sache selbst« gerade aus der Unmöglichkeit jeglicher »Substantivierung« eines philosophischen Gegenstands qua talis. Von daher berührt die Unmöglichkeit einer wie auch immer gearteten Erfassung des »Spiegelbildes« (self-image) des Egos als ein »philosophisches Ego«, als »philosophierendes Ich«. Philosophierend »worüber«? Warum philosophierend? Wenn es eine solche »Auflösung« der »philosophi289 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
schen Sachen« gibt (eine Auflösung in die Arten des Wissens, die Verbindungen zwischen ihnen, zwischen ihren Spezifikationen etc.), eine Auflösung, die auch die Möglichkeit abschneidet, sich auf sich selbst als ein »philosophisches Ego« zu beziehen – was wäre dann diese »Sache selbst« der Philosophie? Die »Sache selbst« der Philosophie zeigt sich gerade eben in dieser Auflösung – aufgrund der exponentiellen Zunahme der Komplexität der »philosophischen Sachen« bis hin zu einer immer »maßloseren« Öffnung hin zu den Wissensformen als solchen –, und zwar in einer völlig neuen Weise. Es gibt keine »philosophischen« Sachen mehr, es sei denn in Gestalt komplexer Systeme möglicher struktureller Verweise zwischen den verschiedenen Arten positiven Wissens. Es gibt keinen »philosophischen« Kontext im eigentlichen Sinne mehr, da die Gegenstände, die Sachen, die man als »philosophische« zu bestimmen pflegte, sich plötzlich »desubstantiviert« haben, weil sie ihren bestimmenden gegenständlichen Bestand eingebüßt haben. Die »Sache selbst« der Philosophie, die sich in der und durch die Auflösung der angeblichen »philosophischen Sachen«, des philosophischen Ego selbst und des Handlungs- und Kognitionskontextes des philosophischen Ego im Hinblick auf seine Gegenstände eidetisch zeigt, ist die absolute privative Situation der Philosophie als solche: die Tatsache, dass sie nicht nur ein Unding, sondern auch eine NichtSache ist. Die Tätigkeit des Philosophierens kann sich selbst nur in ihrer privativen Dimension erkennen, als »Nicht«. Sie diktiert das »nicht« der Negativität des »philosophischen Egos« im Verhältnis zu den anderen Formen hybrider Selbstbeziehungen, die konkret bestimmte und sedimentierte self-images sind. Und sie diktiert auch das »Nicht« der Negativität jeder philosophischen Gegenständlichkeit im Verhältnis zu den Gegenständlichkeiten anderer materialer Ontologien und sogar im Verhältnis zu den feststehenden Wissensformen und zu den historischen Sedimentierungen der Metaphysik als solche. Sie diktiert das »Nicht« der Negativität ihrer »thematischen Öffnung« im Verhältnis zu den kognitiven Kontexten, die durch die materialen Aprioritäten diktiert sind. Obwohl sie sich als privative Dimension unter den positiven Formen der HSB erweist, zeigt die »Sache selbst« der Philosophie eben dadurch ihren positiven Charakter, und zwar aufgrund ihres Entbehrungscharakters (ihrer Privativität). 1 Diese Privativität ist nämlich 1
Vgl. R. Barbaras, Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris, 2008, S. 235.
290 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 44. Das »im Leeren« philosophierende Subjekt
lediglich eine Verdoppelung der privativen anthropologischen Situation innerhalb derjenigen privativen anthropologischen Situation selbst, welche die egologische Relativität der Formen der hybriden Selbstbeziehung bestimmt. Im (bestenfalls relativen) Identitätsverlust des »philosophischen Subjekts« liegt lediglich eine Sublimierung der ursprünglichen Abwesenheit, die das Spekulative charakterisiert, und zwar das Spekulative in seiner latenten ebenso wie in seiner explizierten Gestalt. Und so ist der Vorrang – wenn man denn von einem »Vorrang« sprechen kann – des »philosophischen Subjekts« lediglich ein Vorrang des »Mangels«, ein Vorrang »aufgrund eines Mangels«, eine Fixierung der privativen anthropologischen Dimension (durch welche die egologische Relativität von HSB bestimmt wird) in einer ihrer Formen. Dieser »paradoxe« oder »burleske« Vorrang der Sache selbst der Philosophie führt dazu, dass die Sinnleere der Selbsterfahrung – jene Sinnleere, die uns zu der Frage »Was/wer bin ich?« treibt – sich in der ganz besonderen Leere einer Selbsterfahrung fixiert.
§ 44. Das »im Leeren« philosophierende Subjekt Die Sinnentleerung (bzw. Sinnleere) der »Selbsterfahrung« – eine Entleerung, die wesentlich auf der Unmöglichkeit beruht, dieser Intention eine ihr entsprechende Erfüllung, eine definierte Instanziierung zu verschaffen – findet eine Individuation, eine Instanziierung. Es ist nämlich die Erfassung des Sinnmangels der Selbsterfahrung – und nicht eine reichhaltige Bedeutung dieser –, die in der privativen Situation des philosophierenden Subjekts ihre bestimmte Gestalt, ihre »Abbildung«, ihre lebendige Instanziierung findet. Aber dieses »Gestaltwerden« der Erfassung – dieses imprädikative Phänomen, gemäß dem es sich um eine Instanziierung der Selbsterfahrung handelt, die ihr Leeres enthüllt, manifestiert – ist keine schlichte Instanziierung im Sinne einer Exemplifizierung. Die Verdoppelung der privativen anthropologischen Situation ist zugleich eine Sublimierung. Daher darf man nicht bei der Feststellung des eidetischen Faktums an sich stehen bleiben, sondern man muss vielmehr nach der Form fragen, die – indem sie diese Verdoppelung bestimmt – diese Situation ipso facto sublimiert. Was also ist diese »bestimmte Gestalt«, welche die privative anthropologische Dimension in der privativen anthropologischen Situation des »philoso291 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
phischen Subjekts« bestätigt, verdoppelt und eben dadurch sublimiert? Und vor allem: Ist es möglich, dass eine wie auch immer geartete bestimmte Gestalt ein privatives Phänomen bestätigt, verdoppelt und eben dadurch sublimiert? Wie kann sich eine Positivität zeigen als eine Verdoppelung von etwas, das in dem für jede Privation typischen »Nicht« verharrt? Es werden die Antworten auf diese drei Fragen sein, die uns die metatheoretische Dimension werden erkennen lassen – und zwar in dieser Verdoppelung, dieser Sublimierung der privativen anthropologischen Situation. Um die »bestimmte Gestalt«, welche die privative anthropologische Situation verdoppelt und sublimiert, eidetisch zu fixieren, muss man auf den Begriff des materialen Apriori zurückgehen und ihn in seiner »philosophischen« Gestaltung denken. Wenn der Schleier der Maja, der die Philosophie in ihrer mystischen, lyrischen, unterschwelligen Aura präsentiert, einmal gefallen ist, bewahrt dieses Subjekt, das seine Identität verloren hat, die Erinnerung an diese Auflösung als Auflösung seiner »Sache selbst«. Und das »philosophierende« Subjekt bewahrt ebenfalls die Erinnerung an die Sedimentierung des materialen Apriori, kraft dessen es die »Sachen der Philosophie« in den Blick nahm und sich für einen »Philosophen« hielt. Daher hat die privative anthropologische Situation des »philosophierenden Subjekts« durchaus eine bestimmte Gestalt: Wer den fortschreitenden Verlust seiner Identität als »Philosoph« erfahren hat und wer Zeuge der Auflösung der »Sachen der Philosophie«, wie er sie in ihren historischen und metaphysischen Konkretionen erlernt hatte, geworden ist, bewahrt eine durchaus bestimmte Erinnerung an die »Sache«. Das »philosophierende Subjekt« bewahrt – durch seine Öffnung auf ein unermessliches thematisches Feld von möglichen Relationen, Spezifizierungen und Komplexifizierungen zwischen den bestimmten Wissensformen hin – eine »bestimmte Gestalt« der Erfahrung, auch wenn diese Erfahrung sich mehr und mehr als eine privative erweist. Diese Erfahrung der Öffnung auf die Komplexifizierung hin ist positiv – das heißt bestimmt – in demselben Maße, wie sie privativ ist, da sie Profil gewinnt im Abstandnehmen von dem, was wir im trivialen Sinne »Metaphysik« nennen können. Das privative Phänomen ist dasjenige, kraft dessen die philosophischen »Gegenständlichkeiten«, die über eine historische und metaphysische Konkretion verfügen, sich durch die (das heißt ihre) Komplexifizierung auflösen. Dasselbe privative Phänomen ist wesentlich und spiegelbildlich das292 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 45. »Das im Leeren philosophierende Subjekt«
jenige, kraft dessen das lyrische, prophetische, mystische Bild eines »Philosophen« (des substantivierten »philosophischen Subjekts«) sich auflöst, eines Philosophen, der auf das Verlangen nach Sinn antwortet und es erfüllt, der auf illusionäre Weise die privative anthropologische Situation widerruft. Das »philosophierende Subjekt« eröffnet allein dadurch, dass es sich etabliert, dass es zum Sein kommt, die metatheoretische Dimension.
§ 45. »Das im Leeren philosophierende Subjekt«, die Metaphysik und die metatheoretische Dimension Das »philosophierende Subjekt« erweist sich sich selbst gegenüber als ein »im Leeren philosophierendes Subjekt«, und zwar in seiner Individuation, die außerhalb jeder positiven Individuation liegt. Es enthüllt sich selbst als der Kern einer noch stärkeren und radikaleren privativen Situation. Das damals »philosophierende Subjekt« enthüllt sich selbst als solches, es erkennt sich als solches, wenn die metaphysisch als »Antwort« verstandene »Philosophie« den Formen des Wissens nicht mehr die Form einer Antwort bietet – weil sie diese ja niemals bieten kann und könnte. Die Philosophie erweist sich also diesem Subjekt als eine thematische Öffnung auf eine exponentielle Komplexifizierung von Wissensformen hin. Weit davon entfernt, eine Antwort auf das Verlangen nach Sinn zu bieten, weit davon entfernt, die privative anthropologische Situation, die durch die Frage »Was/wer bin ich?« eröffnet wird, auszugleichen, verschärft eine Philosophie, die dem Individuum eine solche Antwort »verspricht«, die privative anthropologische Situation sogar noch. Diese ist, wenn sie durch das »philosophierende Subjekt« als verdoppelte erfasst wird, bereits die metatheoretische Dimension, wenn auch noch in eidetischer Latenz: Sie zeigt sich noch als eine Tatsache, als ein psychologischer Sachverhalt, ohne deswegen schon in ihrer eigenen und charakteristischen eidetischen Struktur erkannt werden zu können. Die metatheoretische Dimension in ihrer Latenz besteht also in nichts anderem als darin, dass das »philosophierende Subjekt« den Verlust seiner Identität als philosophisches Ego (eine besondere Form der HSB) erfasst – als ein philosophisches Ego, das sich imstande glaubte, durch die Philosophie eine Antwort auf das Verlangen nach Sinn zu bieten. Wenn die »Metaphysik« als Antwort, als Erfüllungsakt implo293 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
diert, fasst das »philosophierende Subjekt« etwas Neues auf: In der sich eröffenden metatheoretischen Dimension fasst es die Wissensformen – und auch die historischen Gestaltungen der Philosophie selbst – nicht mehr als mit einem bereits gegebenen, bereits zugeteilten Sinn ausgestattet auf, sondern es fasst sie als »Gegenstände« einer Gesamtsicht, in ihrer epistemischen und normativen Neutralität. Durch die Aufhebung der metaphysischen Hypothese, durch den Zusammenbruch und die Auflösung ihrer Ansprüche erkennt sich das philosophierende Subjekt als ein leeres. Das heißt mit anderen Worten: Die metatheoretische Dimension – noch in ihrer eidetischen Latenz oder in ihrer bloßen Tatsächlichkeit erfasst – ist der Ort, wo das »philosophierende Subjekt« seine privative anthropologische Situation versteht, und zwar als Situation, die für ihn nicht bloß qua Individuum, sondern qua »philosophierendes Subjekt« wesentlich ist. Dadurch erweist sich die metatheoretische Dimension als der Ort, an dem sich die Philosophie – durch ein »philosophierendes Subjekt« – als überhaupt des Sinns beraubt offenbart. Die Sinnentleerung der Philosophie selbst, die aufgrund der Unmöglichkeit eintritt, sie als »Metaphysik« 2 zu verstehen, verstärkt die privative anthropologische Situation und stiftet ein mehr als enges, wesentliches, entscheidendes Verhältnis zwischen dem Spekulativen – sowohl in seiner Latenz wie auch in seiner expliziten Gestalt verstanden – und der spekulativen Situation als noch nicht explizite Gestaltung der metatheoretischen Dimension. Auf der einen Seite führt die Komplexifizierung der Erfahrung von Gegenständlichkeiten zum Identitätsverlust durch die Komplexifizierung der HSB, indem sie die leere Nichtigkeit der Idealität einer »Selbsterfahrung« verdeutlicht. Auf der anderen Seite, wenn auch in einer spiegelbildlichen Weise, führt die Komplexifizierung der Wissensformen (deren »metaphysische« Artikulation die privative anthropologische Situation auffüllen würde) zur Erfassung der Leere dieser hybriden Selbstbeziehung, kraft deren sich das Individuum »metaphysisch« als »Philosophen«, als »philosophisches Subjekt« erkennt. Wenn also die privative anthropologische Situation ihre Konkretion im Ereignis der Frage »Was/wer bin ich?« findet, findet diese metatheoretische Dimension – die den Sinnmangel, dem die MetaZur Auslegung der Metaphilosophie als Metaphysik vgl. L. Geldsetzer, Metaphilosophie als Metaphysik. Zur Hermeneutik der Bestimmung der Philosophie, Journal for General Philosophy of Science, 5/2, 1974: 247–255.
2
294 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 45. »Das im Leeren philosophierende Subjekt«
physik abhelfen sollte, lediglich verdoppelt und verstärkt – ihre Konkretion auch im Ereignis einer anderen Frage: »Was ist die Philosophie?«. 3 Die Übernahme dieser Frage wird uns dazu führen, die metatheoretische Dimension explizit zu machen, und zwar in derselben Weise wie das, was sich im Hinblick auf das Spekulativ mit der Übernahme der Frage »Was/wer bin ich?« als Gegenstand ereignete. Doch in dieser Situation ist es angemessen, bei der Frage selbst und ihrem Wesen als »Nach-Frage« – und nicht als bloßes »Problem« – zu bleiben. Warum gehört der Akt, der zu der Frage »Was ist die Philosophie?« führt, der Dimension der Frage (qua Nachfrage) an und nicht vielmehr der Dimension eines bloßen theoretischen Problems? Welcher Anspruch bringt es mit sich, dass sie als etwas zu charakterisieren ist, das die Dimension des bloß Problematischen überschreitet? Der Fragecharakter des Aktes »Was ist die Philosophie?« hängt in einem Spiegelungsverhältnis mit der existentialen Frage nach dem Sinn (Was/wer bin ich?) zusammen, insofern sie nicht mehr als ihre Sublimierung auf der metatheoretischen Ebene ist. Die Frage »Was ist die Philosophie?« ist eine Grundfrage, weil man, indem man sie stellt, nicht bloß die Antwort auf ein neugieriges Wissenwollen sucht, sondern auch nach dem Sinn einer Lebensform fragt, in der sich das Individuum als »philosophierendes Subjekt« erkennt oder erkennen könnte. Die Frage »Was ist die Philosophie?« ist eine Nachfrage, weil es dabei um eine Antwort geht, die eine »Sinngebung« sein sollte, der Akt einer Erfüllung der privativen anthropologischen Situation. Jenseits aller Lyrik, aller Mystik und allen Pathos, die das »philosophische Subjekt« umgeben und blenden, jenseits jedes illusorischen Ansatzes, wodurch eine solche Sinngebung, eine solche Erfüllung noch als möglich (oder als denkbar) behauptet werden könnte, ist das, was uns eben interessiert, der Überschuss der Frage selbst qua Nachfrage und nicht qua bloßes Problem. Doch dort, wo sich das volle Entsprechungsverhältnis – und die volle Spiegelbildlichkeit – zwischen der spekulativen und der metatheoretischen Situation etabliert, kommt es darauf an, die Frage selbst als Gegenstand einer eidetischen Schau zu übernommen. Die Frage »Was ist die Philosophie?« wird selbst als thematischer Gegenstand, als »das Thematische« betrachtet.
3
Vgl. M. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, cit., S. 8.
295 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
§ 46. Die Frage, der Akt und die spekulative Charakterisierung ihres Noemas Das Subjekt, das in der metatheoretischen Frage lebt, macht bereits die Erfahrung eines Abstands, eines Sich-Entfernens, eines Scheiterns der Philosophie als des Gefragten – als das, worauf sich die Frage bezieht. Und auch wenn die »Philosophie« diese Neutralisierung erleidet, vermag man nach wie vor das »überschreitende« Wesen der Frage im metatheoretischen Sinne des Wortes nicht zu charakterisieren, jedenfalls nicht explizit. Dieser Abstand ist noch typisch für den Akt des Fragens als solche, dessen Struktur eine Art Sich-Entfernen impliziert, eine Art zusätzlicher psychologischer Distanz vom Gefragten, um darüber etwas zu fragen. Daher schließt das Ereignis die Herstellung dieses Abstands nicht aus, sondern impliziert es im Gegenteil, dass sich ein anderer Abstand ereignet, der nunmehr dem Erlebnis der Frage »Was ist die Philosophie?« innerlich und deshalb konstitutiv für das Metatheoretische ist. Das bedeutet nicht, dass man die Frage überstrapazieren würde, sondern dass man darauf achtet, ob sie nicht in ihrer eidetischen Struktur einen anderen Abstand mit sich bringt, über denjenigen hinaus, den man in jedem Akt des Fragens beobachten kann. Die Frage »Was ist die Philosophie?« zeigt sich jetzt als etwas zu Betrachtendes, zu Beobachtendes, vom Standpunkt ihrer innersten noematischen Konstitution. »Was ist die Philosophie?« – die Frage bleibt natürlich nicht dabei stehen, dass sie einfach das Subjekt und das Objekt der Frage durch ihre Vorstellung in Beziehung zueinander setzt. Sie stabilisiert sich nicht zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Frage als bloß anonymer Fall der intentionalen Polarität, die jedes Erlebnis charakterisiert. Und dementsprechend bleibt sie auch nicht bei der bloßen intentionalen Charakterisierung als Akt stehen. Der scheinbar leichtere Weg – derjenige, gemäß dem man vom Subjekt aus und auf dem Umweg über die Frage zu einem auf bestimmte Weise charakterisierten Objekt käme – ist durch die eidetisch-noematische Analyse der Frage gesperrt. Die Frage ist – wie jedes intentionale Erlebnis – durch einen Akt charakterisiert, das Fragen, und durch einen Gegenstand, das Gefragte, das sich innerhalb der Frage mit einem bestimmten Vorstellungsgehalt zeigt. Bei der theoretischen Frage will man etwas erkennen, und zwar, deutlicher gesagt, etwas (das Erfragte) durch etwas anderes (den Gefragten). An diesem letzten Etwas gibt es etwas, dem es an 296 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 46. Die Frage, der Akt und die spekulative Charakterisierung ihres Noemas
Evidenz fehlt, und es ist gerade dieser Evidenzmangel, der das Gefragte, den Gegenstand der Frage, charakterisiert und dabei einen zweiten Abstand determiniert. Und in der metatheoretischen Frage ist nun das, was sich mit einem Evidenzmangel zeigt, eben die Philosophie als eine Vorstellung, im Ausgang von der gefragt werden kann. Die Polarität zwischen dem Akt des Fragens und dem Erfragten stützt sich also auf eine gewisse Vorstellung von der Philosophie, die auf eine ungewisse Weise erfasst wird, und zwar eben dadurch, dass man ihr Wesen erkennen will. Doch all das erlaubt noch keine hinreichende Unterscheidung der metatheoretischen Frage von anderen Fragen, da ja jede Wesensfrage durch diese Struktur charakterisiert ist. Der metatheoretische Überschuss der Frage zeigt sich genau dann, wenn man das Gefragte als solches in den Blick nimmt und es im Kontext des Aktes betrachtet, den es qualitativ als »metatheoretische Frage« charakterisiert. Das, was man »wissen« will, ist das Wesen von etwas, was man »Philosophie« nennt, was man als »Philosophie« auffasst. Nun ist die Philosophie auf einer elementaren etymologischen Ebene, wie man schon bei Wikipedia findet, die »Liebe zum Wissen (bzw. Weisheit)«, das »Verlangen nach dem Wissen (bzw. Weisheit)«, das »Streben nach dem Wissen (bzw. Weisheit)«, das heißt ein rhetorisch besonderer Tropus. Man könnte hier einwenden, dass ein solcher Versuch, die Philosophie zu charakterisieren, nicht nur bloß roh, sondern auch naiv, wenn nicht sogar falsch sei. Doch es ist besser, sich an die Sache selbst zu halten als an die Gewohnheiten und die Regeln der philosophischen Salons, die so raffiniert wie leer sind. Eine etymologische Charakterisierung der »Philosophie« erweist sich jedoch als umso notwendiger in dem Maße, als man keine lyrische und erbauliche Betrachtung über die Philosophie entwickelt. Sie kann nur die Basis darstellen für eine intentionale Analyse des Aktes, in dem die Philosophie zum Sich-Zeigen kommt. 4 Die etymologische Charakterisierung des Gefragten ist nicht eine Siehe hierzu z. B. M. J. Adler, The Four Dimensions of Philosophy, London, 1993; N. Rescher, The Strife of Systems: An Essay on the Grounds and Implications of Philosophical Diversity, Pittsburgh, 1985; Id., Philosophical Reasoning: A Study in the Methodology of Philosophizing. London, 2001; Id., Philosophical Dialectics: An Essay on Metaphilosophy, New York, 2006; Id., Philosophical Inquiries: An Introduction to Problems of Philosophy, Pittsburgh, 2010. Vgl. auch S. Overgaard – P. Gilbert – S. Burwood, An introduction to metaphilosophy, Cambridge, 2013, S. 6. Es gibt keine Spur einer solcher Analyse der Frage in dem sogenannten metaphilosophischen An4
297 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
(und dazu die naivste) unter mehreren möglichen Darstellungen, sondern sie ist die einzig mögliche und notwendig, um sich dem Akt aus intentionaler Sicht zu nähern. Denn wenn die Frage eine Frage nach dem Wesen ist, dann kann das Gefragte nur anvisiert werden im Hinblick auf das Band, das zwischen der Bedeutung und der Idealität, mit der sie (möglicherweise) verbunden ist, besteht. Und darüber hinaus kann das Subjekt, das »Was ist die Philosophie?« fragt, von nun an nur die bloße Bedeutung anvisieren, eine »etymologische Basis«, ein unüberwindliches semantisches primum. Qua »im Leeren philosophierendes Subjekt« hat das Subjekt der Frage jede überschüssige Bedeutung, jede mystische, lyrische, kosmische Nuance des Ausdrucks »Philosophie« eliminiert bzw. erschöpft. Das bloße Wort »Philosophie« (mit all seinen sprachlichen Ableitungen) ist dasjenige, was nach dem Sinnverlust der Philosophie selbst übrig bleibt, als Anzeige, als Symptom einer Notsituation, in der sich (stets und stets von Neuem) der Sinn der Philosophie und des Philosophierens als ein solches befindet. Auch wenn es das Zeichen für eine Not ist, erweist sich das Residuum der Bedeutung – als für das Anvisieren wesentlicher Terminus – als Zeichen einer der Frage innewohnenden Dynamik, jener Dynamik, die den Überschuss des Metatheoretischen in die schlicht intentionale Dimension des Aktes hineinbringt. Es bedarf schließlich keiner guten Beherrschung einer Sprache, sondern nur eines einfachen Wörterbuchs, um sich den zusammengesetzten dynamischen Charakter des Wortes »Philosophie« zu erklären und damit seine Bedeutung im Ganzen. »Philosophie« ist »Liebe zum Wissen«, »Verlangen nach Wissen«, »Streben nach Wissen« jenseits jeder möglichen Substantivierung und damit auch jenseits jeder Mystifizierung. Wenn die metatheoretische Frage sich also in der Gestalt »Was ist die Philosophie?« präsentiert, dann birgt sie eine Dynamik in sich: ihr Gefragtes ist nicht etwas Fixiertes, sondern hängt von zwei Teilvorstellungen ab, aus denen eine problematische Gesamtvorstellung entsteht. Was ist denn nun dieses »Wissen«, mit dem sich die Philosophie als »Liebe«, »Streben nach«, »Verlangen nach« verbindet? Die Philosophie selbst, dasjenige, nach dessen Wesen gefragt wird, erweist sich ihrerseits als eine Frage, als ein Verlangen nach Wissen: An diesatz von T. Williamson (The Philosophy of Philosophy, Oxford, 2007). Die Frage wird jedoch behandelt in An Introduction to Metaphilosophy, Cambridge, 2013, S. 5 f.
298 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 46. Die Frage, der Akt und die spekulative Charakterisierung ihres Noemas
ser Stelle verdoppelt sich die metatheoretische Frage, sie ekstasiert sich sowohl als Frage »über« die Philosophie als auch als Frage »der« Philosophie. Diese doppelte Gestalt nimmt die Eröffnung des im Leeren philosophierenden Subjekts wieder auf und verleiht ihm eine aktive, explizit fragende Wendung. Diese Wiederaufnahme, diese Wendung und diese Ekstasierung der »Frage nach der Philosophie« und der »Frage der Philosophie« bringen eine Reihe von Problemen mit sich, die uns bis zum Ende des Kapitels beschäftigen werden. An dieser Stelle geht es uns jedoch darum, zu sehen, in welchem Sinne diese weitere Ekstasierung, die über die Ekstasen des Aktes hinausgeht, uns einen Weg zu dem metatheoretischen Verständnis eröffnen kann. Auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, durch die bloße Nennung der »Frage nach der Philosophie« und der »Frage der Philosophie« das Wesen des Metatheoretischen erfasst zu haben, auch wenn wir weit davon entfernt sind, es fixiert oder auch nur abgeleitet zu haben, lässt uns all das doch schon ansatzweise den Abstand sehen, von dem vorher die Rede war. Es ist nicht nur die Philosophie, die durch die metatheoretische Frage in eine Distanz gebracht wird, sondern auch das Wissen selbst als solches, das Wissen, auf das die Philosophie stets Bezug nimmt als auf ein notwendiges Moment ihres Bestehens. Das kann jedoch auf verschiedene Weisen interpretiert werden. Wir werden uns nämlich fragen müssen, was der innerste Sinn dieses Abstands, dieses In-eineDistanz-Bringens (qua In-Frage-Stellen) des Wissens im »Fragen/ Verlangen nach Wissen« ist. Es ist jedoch klar, dass es diese beiden letzten Ekstasen der Frage sind, die »Frage nach der Philosophie« und die »Frage der Philosophie«, die das Metatheoretische im Inneren des Akts des Fragens selbst erscheinen lassen. Und außerdem sind es diese beiden Momente der Frage, die einen Horizont greifbar werden lassen, eine eigene Dimensionalität des Metatheoretischen, die zu erblicken unmöglich war, solange man sich bloß an die intentionale Analyse des Akts hielt. Der Weg, der das Subjekt auf dem Umweg über die Frage zum Objekt führen sollte, ist damit vollständig verwandelt. Es gibt keine Gerichtetheit mehr, die der psychologischen Urdistanz folgen würde: Dieser Raum erweitert sich. Das imaginäre Segment des intentionalen Bezirks, der das Subjekt und das Objekt der Frage miteinander verbinden sollte, erweist sich als ein Raum, ein thematischer Raum, das heißt als ein Horizont mit seiner eigenen Dimensionalität. Eine Vorgehensweise, die den Anspruch erheben würde, auf direktem Weg 299 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
zum Objekt der Frage zu gelangen, und zwar durch eine Fixierung – und sei sie auch bloß etymologisch 5 – der Bedeutung der »Philosophie« als »Objekt«, als »Substantivierung«, käme nicht umhin, ihr metatheoretisches Wesen preiszugeben, das ihr intentionales Wesen als Akt übersteigt. Gleichwohl konstituiert der Abbruch der für den Akt typischen gerichteten Verfahrensweise gleichzeitig die Fortsetzung der apophantischen und intentionalen Dynamik der Ekstasen der Frage. Die Frage erweist sich als in sich doppelte, sie bringt in sich selbst eine Entzweiung hervor und birgt eine konstitutive Zweideutigkeit in sich. Aus dieser Art innerer Inkongruenz der Frage mit sich selbst ergeben sich die intentionalen Momente, die eben als die »objektiven Ekstasen« der Frage zu bezeichnen sind: die »Frage nach der Philosophie« und die »Frage der Philosophie«. Allein mit diesen beiden Ekstasen verfügt man über eine (mindestens) erschöpfende Darstellung der Dimensionen des metatheoretischen Horizonts. Allerdings haben die »Frage nach der Philosophie« und die »Frage der Philosophie« als Ekstasen der Frage noch keine konkreten Hinweise geliefert, die es erlauben würden, ihre innere Dynamik, das heißt die wesenhafte Verflechtung zwischen der Analyse des Akts und dem durch seine noematische Dimension eingeführten Metatheoretischen, phänomenologisch zu verfolgen. Und dennoch scheint bereits ihre schlichte Aufzählung eine gewisse lineare Orientierung anzuzeigen. Diese führt von der Frage schlechthin (als noch neutraler Ekstase, die einfach in der Dynamik des Akts steht, und noch vor ihrer doppelten objektiven Ekstatisierung) zur »Frage nach der Philosophie« (als metatheoretischer Explikation der Frage) und von dort zur »Frage der Philosophie« (als Explikation des Metatheoretischen als solchem). Gleichwohl erweist sich diese lineare Abfolge, wenn man sie aus größerer Nähe betrachtet, als nichts anderes denn eine zeitliche Umgestaltung dessen, was sonst die Linearität im Verhältnis zur intentionalen Polarität des Akts war. Das Schema, das hier zur Geltung kommt, konstituiert sich sub specie temporalitatis, stellt jedoch das Verhältnis des Nebeneinanders und der Äußerlichkeit, in dem die Ekstasen gedacht werden, nicht in Frage. Wenn also in einem ersten Schritt das, was aufeinanderfolgt, die Frage als neutrale Ekstase innerhalb des Akts und die Manifestation der objektiven Ekstasen sind, Vgl. Art. Philosophie in J. Ritter – K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, 1989, Bd. 7, S. 574.
5
300 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 47. Das Metatheoretische als Erscheinendes
wird in einem zweiten Moment dieselbe Erscheinung im Hinblick auf die lineare Abfolge gedacht: Es sind dann damit die Ekstasen selbst – die »Frage nach der Philosophie« und die »Frage der Philosophie« –, die in eine lineare Abfolge gestellt werden (die sich selbst als illusorisch erweisen wird). Das Schema der linearen Abfolge kann lediglich in einem Bewusstsein festgehalten werden, das den metatheoretischen Überschuss dieser Manifestation noch nicht begriffen hat. Dieses Schema verliert im Gegenteil seinen Zusammenhang mit der »Sache selbst« des Metatheoretischen, weil es schlicht und einfach einem Horizont angehört, der sich toto caelo unterscheidet von demjenigen, der sich als ein metatheoretischer Horizont mit seiner eigenen Dimensionalität zeigt.
§ 47. Das Metatheoretische als Erscheinendes Lediglich für einen Augenblick kann also das Schema der linearen zeitlichen Abfolge geeignet erscheinen, die Wirklichkeit des Metatheoretischen in seiner Komplexität wiederherzustellen. In diesem Moment hält sich die Aufgliederung der Frage in ihre objektiven Ekstasen in ihrer reinen Potentialität: Dort, wo die Frage aufgegliedert wird, verliert das Schema des zeitlichen Nebeneinanderstehens seine Gültigkeit, denn hier zeigt sich stets das ständige – und notwendige – Aufeinanderverweisen zwischen der »Frage nach der Philosophie« und der »Frage der Philosophie«. Ist es jedoch möglich, dass die Frage in solcher neutralen Potentialität bleibt? Hier zeigt sich zum ersten Mal eine Verflechtung zwischen dem Phänomenologischen und dem Metatheoretischen – eine Verflechtung, auf die wir wiederholt werden zurückkommen müssen. An dieser Stelle ist die intentionale Situation noch keine (explizit) metatheoretische. Ihre Aufgliederung kann dazu führen, dass sie metatheoretisch explizit gemacht wird, wobei zuallererst betont werden muss, wie ihre Dimensionalität sich zunächst vom Horizont der empirischen Gegenständlichkeiten (und den Schemata, die deren Beziehungen untereinander strukturieren) unterscheidet. Solange sie in der Potentialität ihrer inneren Aufgliederung bleibt, und zwar in der reinsten Potentialität (wo die objektiven Ekstasen sich noch nicht in ihrer eidetischen Notwendigkeit zeigen), scheint die Frage, auf ihr einfaches Sich-Ereignen bzw. Sich-Zeigen zurückgeworfen zu sein: Es scheint in der Tat so, als müsse – dort, wo 301 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
das Schema der Abfolge scheitert – die ganze Dynamik der Ekstasen ohne Sinn bleiben. Diese Aufgliederung erfordert also zunächst die Berücksichtigung der inneren Äquivozität der Frage, einer inneren Äquivozität, die sich in der doppelten Ekstatisierung der »Frage nach der Philosophie« und der »Frage der Philosophie« charakterisiert. Diese beiden Ekstasen verweisen stets aufeinander und überschreiten dabei die behauptete Linearität der zeitlichen Abfolge, indem sie eine Art exponentielle Brechung des intentionalen Bezirks mit sich bringen, von dem angenommen wurde, dass er die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Frage zustande bringe. Das enthüllt vor allem die Frage und ihre Ekstasen als einem eigenen eidetischen Horizont zugehörige: dem metatheoretischen Horizont, der durch dieses Spiel exponentieller und inflationärer Brechung bereits sein spekulatives Wesen zu manifestieren beginnt. In diesem Horizont (der durch seine Räumlichkeit, nämlich durch seine eigene ekstatische Dimensionalität und auch durch seine Zeitlichkeit charakterisiert ist) werden die Interpretationsschemata des sensus communis aufgegeben, und zwar eben deswegen, weil solche Schemata sich als gänzlich unfähig erweisen, die »Sache selbst des Metatheoretischen« und demzufolge dessen innerste spekulative Dynamik wiederzugeben. Die Sache der Erscheinung der Frage, die Möglichkeit, sie in ihrer inneren, vollkommenen und organischen Gliederung zu erfassen, erweist sich als eine Geschichte von Verlusten, von Niederlagen, als ein itinerarium mentis, das zugleich ein itinerarium quaestionis ist. Das kernhafte Bestehen der Frage als deren »neutrale« Ekstase muss aufgelöst werden in die ständige Beziehung ihrer Ekstasen, die sich ineinander spiegeln. Die Ekstasen als organisch miteinander verbundene Momente des Sich-Richtens müssen als isolierte, atomare und nebeneinanderstehende Momente verloren werden, um metatheoretisch wiedergewonnen zu werden. Eine solche metatheoretische Überwindung findet genau dann statt, wenn die Schemata aufgegeben werden, die sie in ihrem »atomaren« Bestehen zu fixieren beanspruchten. Die reine Möglichkeit der Frage, ihr Getrenntsein von ihren Ekstasen und ihr Erscheinen als ein bloßes »Ereignis«, ist nichts anderes als das sklerotische Restbild, das der sensus communis übrig behält. Diese »naive« Ontologie versucht die Ekstasen mithilfe der Formen von Hier und Dort (dingliche Räumlichkeit) sowie von Vorher, Jetzt und Nachher (dingliche Zeitlichkeit) zu isolieren. Nach dieser Onto302 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 47. Das Metatheoretische als Erscheinendes
logie wäre die Frage etwas vom Akt Getrenntes und somit vom Subjekt, das sie stellt, sie formuliert, Abgekoppeltes. Sie wäre gleichzeitig ontologisch getrennt von ihrem Objekt, d. h. von dem, was sie in Bezug auf ihr Gefragtes fragt. Gemäß dieser Ontologie wäre die Frage zuerst »Frage nach der Philosophie« und danach »Frage der Philosophie«. Es ist aber im Gegenteil die »Sache selbst« der metatheoretischen Frage, die eine solche Verarmung verhindert, es ist das der Frage eigene Eidetische, das dazu nötigt, die bloße sklerotische Form zu übersteigen, um zu einer angemesseneren Betrachtung dessen zu gelangen, was sich durch das ständige Aufeinander-Verweisen manifestiert. Die ersten beiden Ekstasen der Frage, nämlich das »Subjekt der Frage« und das »Objekt der Frage«, sind ohne den Verweis auf die gegenstandsbezogenen Ekstasen – die »Frage nach der Philosophie« und die »Frage der Philosophie« – nicht vollständig erfassbar. Die Dimensionen des Akts, der Noese der Frage sind so eng mit den spiegelbildlichen Dimensionen seines Noemas verschmolzen, dass das Wesen dieses Akts sich genau und vollständig durch das Metatheoretische manifestiert, wenn es in der Aktualität der Frage seine Erscheinung findet. Ebenso kann das spekulative, metatheoretische Noema der Frage sich nur innerhalb der Unterbrechung der Linearität – die (als allgemeine Form jeder intentionalen Polarität) vom Subjekt zum Objekt geht – erfassen lassen. Die Philosophie – als Gefragtes und wesentlicher noematischer Bestandteil der »Frage nach der Philosophie« – stellt durch sich selbst und ekstatisiert schon durch ihr Bestehen innerhalb der intentionalen Situation der Frage die »Frage der Philosophie«. Es ist die »Philosophie« als in die intentionale Situation der Frage eingefasste, welche die Frage nach dem Wissen, nach den Wissensformen explizit macht, die fragende Öffnung auf die Formen der »theôria« hin, und zwar in ihren Komplexifizierungen, deren Erfahrung das im Leeren philosophierende Subjekt gemacht hatte. Doch die Komplexifizierung gelangt hier noch an kein Ende: Sie bestimmt weiterhin das Phänomen, das als Spiel einer exponentiellen und inflationären Brechung des intentionalen Bezirks des Aktes bezeichnet wurde. Denn die spiegelbildliche Korrespondenz zwischen dem der theoretischen Frage als solche eigenen Streben nach Wissen und dem Streben nach Wissen, das – in einer ersten Annäherung – die Philosophie als wesentlicher noematischer Bestandteil charakterisiert, reduziert sich nur auf ein Streben, zu wissen, was das Wissen als solches ist. Ist diese Verein303 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
fachung nicht vielleicht ein Symptom einer Situation tiefen Unbehagens des metatheoretischen Denkens angesichts der unvermeidlichen Imprädikativität, die jede holistische epistemische Erfassung des Wissens als eines solchen charakterisiert? Wie könnte man das Wesen des Wissens erfassen – und damit den »theôriai« den Status des Wissens zusprechen –, wenn es gleichzeitig immer die Form dieses darüber hinausgehenden Wissens gäbe? Entweder ist die Metaerkenntnis, das Wissen vom Wesen des Wissens, etwas, was die Sphäre des Wissens übersteigt, da sie sich davon als »Subjekt des Schauens« absetzt – und dann wäre sie in keiner Weise mehr ein »Wissen«; oder diese Erfassung wäre selbst ein Wissen und könnte sich also niemals davon absetzen und sich als etwas präsentieren, was darüber hinausgeht, um es zu erfassen. Entweder ist das Wissen davon, was das Wissen ist, ein Wissen und ist also kein Wissen oder es ist kein Wissen, es fällt nicht unter das Wesen des Wissens und kann sich also als das Wissen von dem erweisen, was das Wissen letztendlich ist. Der Schatten des Epimenides scheint aus dem Jenseits wiederaufzusteigen. Die intentionale Situation der metatheoretischen Frage erweist sich also – im Ausgang von der ersten eidetischen Explikation ihres noematischen Bestandteils – als das vollkommene spiegelbildliche Gegenstück dessen, was die Metaphysik »intellektuelle Anschauung« oder auch »absolutes Wissen« nannte – aber als ein spiegelbildlicher Terminus, der sich als diesem radikal entgegengesetzt erweist. Die Öffnung der Frage ist – im Gegensatz zur Fülle eines behaupteten absoluten Wissens – durch einen Mangel charakterisiert: Es ist ebenso die logische Unmöglichkeit einer endgültigen Auffassung des Wissens wie – und das ist jetzt hier der Fall – eine exponentielle und kaleidoskopische Brechung, die sich unter der Bezeichnung »metatheoretischer Horizont« zusammenfassen lässt. Hier wird das Wissen in individuo nie erreicht, es sei denn als etwas, was in Frage gestellt und erfragt wird, als etwas, wovon man sich immer schon in einem Abstand befindet. Das »Metatheoretische« ist durch den Mangel charakterisiert. Es geht um einen ursprünglichen Mangel, der die Unmöglichkeit zeigt, die Theôriai, die sich in diesem Horizont sehen lassen, in ihrer exponentiellen Genese, in ihren sich überkreuzenden und miteinander verschränkten Geschichten und in ihren komplexen Dynamiken erfassen zu können. Die Einheit des Wissens ist an diesem Punkt eine bloß optische Einheit, die Einheit dessen, was sich als
304 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 48. Das Metatheoretische als solches
solches manifestiert, als Theôriai innerhalb eines Horizonts, den es zu erforschen gilt. In diesem Sinne gilt: »δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ᾽ εἶδος λεγόμενον«,
doch noch davor muss er sich vertraut machen mit diesen völlig neuen Strukturen des Eidênai« als Theôrein.
§ 48. Das Metatheoretische als solches Innerhalb dieses Horizonts, d. h. des spekulativen Horizonts des Eidos, nimmt das Metatheoretische eine Gestalt an. Der Horizont der metatheoretischen Idealität zeigt sich hier in seiner ersten Dimensionalität, die typisch für jedes intentionale Erlebnis ist, nämlich in der Form der wesenhaften Korrelation mit einem Subjekt. Der Horizont ist hier der Horizont des Eidos. Denn hier öffnet sich das Subjekt nicht auf ein kinästhetisches Wahrnehmungsfeld hin noch auf ein Erinnerungsfeld noch auf das Feld einer beliebigen Frage, sondern auf einen Horizont hin, der wesenhaft mit dem Eidos verbunden ist. Die Komplexifizierung der Wissensformen, die im Ereignis der Frage zum Metatheoretischen führt, ist etwas, was mehr als eine wesenhafte Korrelation zwischen der metatheoretischen Dimension und dem Eidos zeigt. Hier, im Metatheoretischen, gilt mehr als anderswo: »δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ᾽εἶδος λεγόμενον«, der Mensch muss sich vertraut machen mit dem, was im Sinne des Eidos gesagt wird. Hier ist das Eidos nicht dasjenige, was uns bloß die Verständlichkeit beliebiger Gegenständlichkeiten gibt, sondern in diesem Horizont werden Komplexe von Idealitäten (das heißt Theorien) als Gegenständlichkeiten aufgefasst. Wie man im Folgenden sehen wird, öffnet sich die Öffnung des Subjekts der Frage zum metatheoretischen Horizont auf Gegenständlichkeiten hin, die nichts anderes sind als Idealitäten gemäß einem bestimmten Grad an Komplexifizierung und Sedimentierung. Das wirft mit noch größerem Ernst das Problem auf, das metatheoretische Subjekt als – wesenhaft und prinzipiell – »Subjekt der Frage« theoretisch zu fassen und zu fixieren. Das Subjekt der Frage ist nicht einfach als eine Ekstase der Frage zu charakterisieren. Als erste – und fundamentale – Dimensionalität des metatheoretischen Horizonts erweist sich das »Subjekt der Frage« als der erste Treuhänder der metatheoretischen Öffnung, als dasjenige, in Bezug 305 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
worauf der metatheoretische Horizont als solcher gedacht werden kann. »Was ist die Philosophie?«, als Frage, die das Wesen des Philosophein betrifft, das zu einer eintönigen Übung geworden ist, ist gleichzeitig ein Fragen nach dem Sinn. Die Suche nach dem Wesen des Philosophein ist gleichzeitig eine Suche nach dem Sinn für das im Leeren philosophierende Subjekt, das sich jeweils auf die Antworten stützt, welche die Tradition, die Schulen, die Orthodoxien liefern. Das Häretische dieser Suche zeigt sich dort, wo man sich, statt sich auf die Suche nach einer Antwort zu begeben, auf das Wesen der Frage konzentriert. Über das Wesen der Philosophie im Modus der Antwort zu sprechen, das heißt, indem man versucht, die angemessensten möglichen Antworten zu vergleichen und zu bewerten, hat keinerlei Sinn. Das Wesen der Philosophie zeigt sich einzig und allein als (durch die Manifestation der Frage selbst) Erfragtes, als in der Frage »Anvisiertes«. Wenn man diese elementare und ganz ärmliche Evidenz betrachtet, stellt man ein weiteres Mal fest, dass diese Erscheinung schwerlich den Zugang zu einer irgendwie gearteten Washeit (quidditas) eröffnet. Das Angezielte erweist sich in der Tat als etwas absolut Dynamisches, als ein Tropus im wahrsten Sinne. Es handelt sich letztendlich um eine Frage in der Frage, denn auch eine schlichte etymologische Analyse dessen, was sich als das Gefragte präsentiert – das Gefragte der Philosophie – verweist in einer spiegelbildlichen Weise auf die Frage nach dem Sinn des Wissens als solchem. Das Wesen der Philosophie – als Erfragtes innerhalb des Komplexes der Erscheinung der Frage aufgefasst – verweist seinerseits auf eine fragende Öffnung zum Wissen und auf dessen Manifestationen als Theôriai. Hier liegt der spekulative Kern des Metatheoretischen, der den meisten völlig fremd ist und den es hier zu explizieren gilt. Dass die Philosophie in sich selbst eine fragende Öffnung zum Wissen hin enthält, ist etwas absolut Triviales. Man muss sich jedoch fragen, woher diejenigen, die sich über diese Trivialität lustig machen, die Argumente gewonnen haben, um diese Trivialität mit Evidenz behaupten zu können: aus einer deskriptiven Untersuchung der verbreiteten »Philosophien« und philosophischen Meinungen oder auf eine rein theoretische Weise? Die intentionale Analyse, die auf diejenige Art von Phänomenen angewandt wird, welche die Fragen (als Nachfragen) sind, leitet all das mit Evidenz ab im Ausgang von der Analyse dessen, was sich in der Frage selbst an sich und von sich selbst her gibt. 306 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 48. Das Metatheoretische als solches
Dass das Wesen der Philosophie sich in der Frage gibt und einzig und nur dort, ist eine Tatsache. Dass die Frage sich auf ein Gefragtes bezieht, das in sich selbst eine Art von Dynamik zwischen seinen beiden Teilvorstellungen birgt, aus denen es zusammengesetzt ist, ist eine Tatsache, die ebenso unbestreitbar ist wie die erste. Die Tatsache, dass eine der beiden Teilbedeutungen ein (erotisches 6) Streben anzeigt und die andere das »Wissen«, ist ebenso unbestreitbar – es sei denn, man wollte die zusammengesetzte Bedeutung als etwas von ihren Teilbedeutungen toto caelo Unabhängiges nehmen (und dasselbe für die Seite der Vorstellungen). Wenn man die Bedeutung »Philosophie« als eine zusammengesetzte Bedeutung festhalten will – und man muss es –, dann bleibt nur noch zu verstehen, welche intentionale Vorstellungsdynamik sich zwischen den Elementen einstellt. Es gibt nun zuallererst die Kopräsenz, also die unhintergehbare Spiegelbildlichkeit, zwischen zwei Mengen von Elementen: die Elemente, die in der Erscheinung der Frage als intentionale Komponenten (das Erfragte und vor allem das Gefragte) auftreten und die Elemente, die – durch die Betrachtung des Gefragten als Neutralisiertes – als Bedeutungs- und Vorstellungskomponenten zu verstehen sind. Kurzum: Derjenige, der die Frage »Was ist die Philosophie?« – die Frage nach der Philosophie – aus phänomenologischer Sicht betrachtet, findet sich unmittelbar in ein spiegelbildliches Verhältnis gesetzt zu der Frage der Philosophie, zur intrinsischen Natur derselben, die sich durch die Erklärung des neutralisierten Gefragten als bedeutungs- und vorstellungshafte Zusammensetzung manifestiert. Doch es erweist sich unter dem Gesichtspunkt der Entstehung des Metatheoretischen als entscheidend, dass das, was zunächst als einer anschaulichen Konsistenz, einer Erfüllung unfähig erscheint, diese doch letztendlich bekommt. Es handelt sich dabei nicht bloß um ein strukturelles Deckungsverhältnis zwischen den bedeutungshaften Vorstellungen und atomaren Wahrnehmungskomponenten. Das könnte durch eine Analyse der mehrdeutigen Erotik des Philosophein Vgl. Dante Alighieri, Convivio, Milano, 1983, III, 2: »Amor […] ne la mente mi ragiona«. Es gibt keine externe und äußerliche Spannung am Horizont der Spannung selbst, da es ja keinen Liebling im naiven ontologischen Sinne des Begriffes gibt. In der Tat: »Amore veramente pigliando e sottilmente considerando, non è altro che unimento spirituale de l’anima e de la cosa amata«. Der Liebling bleibt für die Anderen nur ein einfaches Objekt, die Welt bleibt nur für die Anderen dieselbe. Das, was sich geändert hat, was sich verwandelt hat, ist einfach nur der Blick, ein Anstreben, nicht die durch den sensus communis vorausgesetzte Wirklichkeit. 6
307 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
bewiesen werden. Wer über die Zusammenfügung der beiden Teilvorstellungen nachdenkt, tut das niemals außerhalb irgendeiner Form von Anschaulichkeit und er tut das immer durch die syntaktische Dynamik der Teilvorstellungen. Die Fixierung der Dynamik der beiden Teilvorstellungen impliziert nämlich ipso facto ein Nachdenken über den Vorstellungsgehalt, den jede von beiden in der Zusammenfügung mit der anderen annehmen muss. Und das bringt eine Form von Anschaulichkeit ins Spiel. Nun besteht unser Interesse an dieser Stelle nicht darin, die Anschauung zu erfassen, welche die Vorstellungen und Bedeutungen zu erfüllen vermag. Denn bei näherem Hinsehen eröffnet die Dynamik der Zusammenfügung der Teilvorstellungen den Zugang zu verschiedenen Formen – oder verschiedenen Status – von Anschaulichkeit. Uns interessiert es im Moment, erschöpfend zu erfassen, was das Subjekt (das schon ipso facto metatheoretisches Subjekt ist) bei der Zusammenfügung dieser beiden Vorstellungen zu sehen bekommt. Wer die Zusammenfügung des Strebens und des Wissens betrachtet, erfährt – sehr viel eher, als dass er sich im süßen Gefühl der Liebe verlieren würde, und auch eher, als dass er ein Objekt, das Wissen, als jenseits seiner Erscheinungen geliebtes Objekt verstehen würde – eine thematische Öffnung. Klarer gesagt: Er erfährt etwas in einem neuen Horizont und erfährt gleichzeitig denselben Horizont als »Öffnung-wohin« seiner Sach-Erfahrung. Diese erste Erfahrung der neuen thematischen Öffnung auf dem Umweg der Reflexion auf die beiden Teilvorstellungen und ihrem jeweils miteinander vereinbaren Gehalt bezeichnen wir als »Projektion des metatheoretischen Horizonts«. Diese Projektion leitet sich vor allem und vorgängig von den anschauungsmäßigen Mängeln der beiden zusammengefügten Vorstellungen ab. Das Metatheoretische gelangt zu seiner Klarheit und seiner Fixierung im Bewusstsein, sobald das Subjekt, das über die dynamische Zusammenfügung der beiden Vorstellungen reflektiert, sich darüber klar wird, dass es nichts anderes, nichts darüber hinaus tut, um die Manifestationen des Wissens als solche zu denken. An dieser Stelle findet die fundamentale Anschauung des Metatheoretischen als solches statt, die Projektion des metatheoretischen Horizonts, in dem Wissensformen – oder die Erscheinungen des Wissens – als Objekt von ganz besonderer Natur und ohne Rest gegeben werden. Sie werden an sich selbst und von sich selbst her gegeben, ohne irgendeine Integration von seiten »anderer«, »äußerlicher« regionaler Ontologien zu verlangen. 308 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 48. Das Metatheoretische als solches
Das Metatheoretische als Horizont enthüllt die Selbstständigkeit dessen, was sich darin zeigt, sein besonderes und charakteristisches Gegenständlichkeitsprofil – die dann folglich auch ihre eigene eidetische Konstitution haben wird. Diese metatheoretische Öffnung, die sich letztlich aus dem Verlust eines Gegenständlichkeitsmaßes für die Philosophie ergibt, zeigt die selbstgenügsame Äquivalenz zwischen Theorie und Gegenstand, eine Gegenständlichkeit, die sich für den Moment in ihrer logischen und eidetischen Unbestimmtheit sehen lässt. Die Wissensformen in ihrer ganz eigentümlichen und charakteristischen Dynamik und in ihren Interaktionen sind die Gegenstände des Metatheoretischen. Das könnte als vollkommen trivial erscheinen, wenn man seine intentionale Hintergrundkonsistenz außer Acht ließe. Und diese Konsistenz beginnt sich gerade dann zu zeigen, wenn man über die Unmöglichkeit der Äquivalenz zwischen einer illusorischen souveränen Metatheorie und dem Metatheoretischen zu reflektieren anfängt. Deshalb werden wir von jetzt an den Ausdruck »□metatheoretischer Gegenstand« als ein Syntagma verwenden, das den »Gegenstand, der sich im metatheoretischen Horizont zeigt« anzeigt. 7 »□Metatheoretisch« (in seiner adjektivischen Form) ist nämlich kaum äquivalent zu einer substantivischen »Metatheorie«. In der intentionalen Situation, die wir »Projektion des metatheoretischen Horizonts« nennen, gibt es keinerlei Konstitution einer Metatheorie im substantivischen Sinne des Wortes. Nach Gödel würde die »Metatheorie«, wenn sie als ein sich aus der metatheoretischen Öffnung ergebendes Substantiv gedacht würde, 8 ipso facto deren evidenteste Widerlegung darstellen. Denn auch wenn man sich innerhalb eines theoretischen Faches (beispielsweise der Mathematik) eine Metatheorie vorstellen kann, die eine beliebige Menge von Theorien zum Gegenstand hat – zum Beispiel erwiese sich die Feldtheorie als Metatheorie der Modelltheorie –, so ist das doch nicht der Fall für das Metatheoretische als solches. Es ist klar genug zu machen, dass eine Metatheorie als souveräne Theorie innerDer kontextuale Operator »□« wird hier, wie oben, auf alles angewandt, was zum Sich-Zeigen innerhalb des metatheoretischen Horizonts gehört, ohne dass es mit irgendeiner Art von Substantivierung zu verwechseln wäre. 8 Vgl. E. Husserl, Das Imaginäre in der Mathematik I. Zu einem Vortrag in der mathematischen Gesellschaft in Göttingen 1901. In Philosophie der Arithmetik mit ergänzenden Texten, Hua. 12, S. 431: »Mathematik ist also ihrer höchsten Idee nach Theorienlehre, die allgemeinste Wissenschaft von den möglichen deduktiven Systemen überhaupt«. 7
309 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
halb des Metatheoretischen als solchem unmöglich ist und ebenso auch »oberhalb« des Metatheoretischen – so als ob das Metatheoretische die Theorie wäre, die zum Gegenstand der Betrachtung gemacht würde. Das ist schon hinreichend bewiesen durch die Tatsache, dass es kein Wissen außerhalb des metatheoretischen Horizonts gibt, einfach weil der Horizont das ist, was übrig bleibt, das letzte Residuum einer Neutralisierung (durch das Nachfragen des »philosophein«) jeder normativen souveränen Wissensform. Es gibt letztendlich nur eine Schau. Und aufgrund der durch die fragende Öffnung des Philosophein bewirkten Neutralisierung gibt es kein Wissen, das diese Schau objektivieren könnte. Eine letzte Theorie außerhalb der Gesamtheit der reduzierten Formen des Wissens wird man vergeblich suchen. Der formale Fehler der Argumentation, die versucht, das Metatheoretische zu überschreiten und es auf ein »Objekt« zu reduzieren (sei es als Theorie höherer Ordnung oder als Metatheorie), besteht darin, dass dabei die subjektive – das heißt intentionale – Situation des Metatheoretischen als eines solchen außer Acht bleibt. Wie gesagt, gibt es außerhalb der Gesamtheit aller eben auf ihren Status als Wissen hin befragten Formen des Wissens lediglich eine Schau, eine Perspektive und nicht ein anderes Wissen, eine Theorie, die – eben als Theorie – neutralisiert und auf ein »Objekt« reduziert werden könnte. Um es in geläufigen Worten zu sagen, ist das »Metatheoretische« als adjektivische Form – als Situation – nicht die Klasse aller Klassen (bzw. Systeme) wissenschaftlicher Aussagen. Es ist der Raum, in dem Klassen bzw. Strukturen von Aussagen sich aufgrund der Öffnung-worin hervorheben lassen können. Es gibt also lediglich eine Schau, die sich auf diese Gesamtheit von Gegenständen hin öffnet, ohne eine präzise oder vorher festgelegte quantitative Definition im Hinblick auf ihre Reichweite oder ihre Natur geben zu können. Diese Schau ist sozusagen die letzte mögliche – sie ist lediglich ein Residuum, das heißt etwas, was übrig bleibt nach (oder von) der Neutralisierung der Wissensformen in ihrem Gehalt als Wissen und ihrer Einschreibung in eine thematische Dimension, eine thematische Öffnung. Und es ist gerade dieses strukturelle Band zwischen der Perspektive – und damit auch der durch das Metatheoretische eingeführten Perspektive – und der Subjektivität, das die Unmöglichkeit bestätigt, über das »Metatheoretische« im adjektivischen (das heißt situationalen) Sinne hinaus weiter zurückzugehen. Es ist die Perspektive, das heißt die thematische Öffnung, die dem, was sich zeigt, den Gehalt einer besonderen Gegenständlichkeit verleiht. 310 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke
Der als »□metatheoretisch« bezeichnete Gegenstand ist ein solcher, weil nichts anderes als der Entwurf des metatheoretischen Horizonts ihn aus der neutralen, formal-ontologischen Dimension des »Etwas überhaupt« herausholt und ihm eine charakteristische Konstitution, das heißt einen Gehalt als besondere ontologische Gegenständlichkeit, verleiht. Die Unmöglichkeit, weiter zurückzusteigen als bis zur metatheoretischen Perspektive, sie auf ein »Objekt« (also auf eine bloße »Theorie« höherer Ordnung 9) zurückzuführen, beruht auf der unmittelbaren Verbindung, die sich zwischen dem Subjekt und der formalen Öffnung des Metatheoretischen als ein solches konstituiert, und zwar auf dem Umweg über ein intentionales Phänomen, das wir als »metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke« bezeichnen.
§ 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke Das Metatheoretische erweist sich wesenhaft und primär als Anzeige einer Perspektive, es lässt sich niemals auf ein Objekt reduzieren und bestätigt so die Unmöglichkeit jeder Objektivierung. Das bedeutet zugleich, dass es – und zwar konstitutiv – kein metatheoretisches Subjekt vor der Konstitution, der Projektion des metatheoretischen Horizonts gibt und dass es, genauer gesagt, auch nicht allein das Subjekt ist, das kraft seiner Vermögen auf idealistische, willkürliche und solipsistische Weise diese Dimensionalität erschaffen würde. Wenn die Selbstbeziehung sich stets und konstitutiv durch ein spiegelbildliches Verhältnis zu einer Form von Horizontalität (das heißt, semantisch ausgedrückt, von Kontextualität) bestimmt, dann ist es also der Wechsel der »Ortungspunkte«, der die Etablierung einer anderen Form von Dimensionalität der Erfahrung diktiert. Das »Ich« ist nie – und das konstitutiv – ein solches »Ich«, dass es von den primären Zeichen, dem hic und dem nunc, unabhängig wäre, denn sie »bestimmen« es »rück«, indem sie ihm eine spiegelbildliche Anschauung zur Erfüllung bieten. Die Erfüllung des deiktisch bestimmten »Ich« durch eine »Rückbestimmung« steht stets in einem konstitutiven Verhältnis der Spiegelbildlichkeit zu der Dimensionalität, aus der diese Rückbestimmung herstammt. Das Ereignis der metatheoretischen Dimen9
Vgl. E. Husserl, Prolegomena zur reinen Logik, Hua. 18, § 69, S. 248.
311 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
sion ist also kein »Reset« der gesamten psychischen Wirklichkeit des Individuums, sondern eine neue Erfahrungsform, die aus einer konstitutiven Unfähigkeit entsteht. Es geht um die Unfähigkeit, durch die anderen HSB-Formen, »Ortungsumstände« finden zu können, die das in Frage stehende Objekt (als ein Objekt) und die Situation selbst bestimmen oder auch bloß anerkennen lassen. Die Tatsache, dass das Ich primär und wesenhaft Horizont ist, bedeutet keineswegs eine Art prinzipieller Reduktion der Arten von Gegenständen, die man in der Erfahrung antreffen kann, sondern im Gegenteil eine Art Aufhebung der Grenzen, die dem Denken durch die Ontologie des sensus communis, nach der »das Reale das Wahrgenommene ist«, (willkürlich) auferlegt werden. Die Aporien des Subjekts als ein Selbstständiges weisen ipso facto auf die Kontextualität bzw. Kontextabhängigkeit jeder Erfahrung hin. Andererseits ist ein Kontext, der nicht erlebt wird, der nicht in der Form der Aktualität besteht, kein Kontext, sondern ein vertrocknetes und totes Objekt, an dem nichts Wirksames im kontextuellen Sinne ist. Aber die zentrale Figur des »Ich-Horizonts« sagt in keiner Weise etwas darüber, ob es eine privilegierte Kontextform gibt oder welche sie sein sollte. Es gibt keinen kontextuellen Vorrang: Der »Ich-Horizont« bezeugt lediglich die Unmöglichkeit, über eine beliebige Erfahrung, also über ein Sich-Zeigen, zu sprechen, ohne dass dieses auf eine kontextuelle Weise erfasst wird, als in einem Horizont der Bedeutsamkeit verwurzelt. Das gilt nun aber auch für die metatheoretische Erfahrung. Nehmen wir ein Beispiel: Ich spreche über die aristotelische Theorie der Substanz oder über das Verhältnis zwischen der kognitiven Dimension der Mathematik und ihrer notationalen Komponente oder über die Alternative zwischen SUSY-Theory und Quantum Gravity usw. Ich erfahre also gewisse »Gegenständlichkeiten« in einem genau bestimmten Horizont, in einer thematischen Öffnung, die es mir erlaubt, diese Gegenständlichkeiten in einem Netzwerk ganz eigentümlicher Beziehungen einzufügen. Nun muss man aber nach den Analysen des vierten Kapitels dahin gelangen, dass man die nicht bloß perzeptive Natur der intentionalen Salienz der deiktischen Ausdrücke versteht, um die metatheoretische Deixis als Entstehung ihrer anschaulichen Dimensionalität zu denken. Die intentionale Salienz als Bestimmungsform (der Ortung oder auch der Auswahl) von Umständen, die den Sinn eines Satzes – und auch die Weise, wie man einen Satz versteht, auch wenn er keine deiktischen Ausdrücke enthält – bestimmen, ist von aller312 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke
größter Wichtigkeit. Wenn man die Deixis als allein auf den Kontext der Wahrnehmung beschränkte auffasst, ist es evident, dass eine »nicht deiktische«, von deiktischen Ausdrücken gereinigte Sprache niemals den kognitiven Gehalt wird ausdrücken können, der durch eine deiktische Sprache ausgedrückt wird. Aber diese Feststellung vergisst das Wesentliche: dass nämlich auch ein nicht-deiktischer Satz, für den der einzige relevante Kontext der linguistische ist, ein kontextueller Satz ist, für den die Bestimmung seines Sinnes sich auf nicht explizit gemachte deiktische Ausdrücke gründet. Das stützt die These, dass der Zugang zu den Kontextinformationen, die für die Bedeutungsbestimmung eines beliebigen Satzes relevant sind, nicht nur ein wahrnehmungsmäßiger ist. Dieser Zugang realisiert sich niemals ausschließlich dort, wo es einen Kontext gibt, der im Ausgang von Sinnesempfindungen konstituiert und komponiert ist. Sogar in einem Satz, der die perzeptive Kontextualität gar nicht berührt und auch keine deiktischen Ausdrücke enthält, gibt es eine gewisse Indexikalität, das heißt, sein Sinn bestimmt sich nach dem Kontext, in dem (oder besser »in Bezug auf den«) er ausgesprochen oder auch bloß gedacht wird. Darin liegt auch eine Interpretation der (beinahe elementaren) Tatsache, dass jede Bedeutung sich manifestiert – das heißt ihre Instanziierung findet – in einem Akt, zu dem eine Bedeutungsintention gehört, und dieser Akt, als notwendig subjektiver, der Vorstellung einen Gehalt verleiht, der vom egologischen Raum des Subjekts abhängt. Wenn dieser Akt die subjektive Dimension ins Spiel bringt, dann nehmen in diesem Akt die Vorstellungen einen eigentümlichen Gehalt an, der sich nicht in den Bereich der Bedeutung als reiner Idealität einschließen lässt. Die deiktischen Ausdrücke sind im Akt »nicht reduzierbar«. Die deiktischen Ausdrücke sind irreduzibel sowohl a) in dem Fall, dass sie Teil des Satzes sind (und seinen Bezug auf den Kontext explizit machen), als auch b) wenn sie kein Teil des Satzes sind, aber ihn in einem Kontext und einem semantischen Netz situieren, da der Zugang zu den Kontextinformationen, die für die Bestimmung seiner Bedeutung relevant sind, intuitiver (und nicht bloß perzeptiver) Art sind. 10 Jeder intentionale Akt, so könnte man sagen, hat ein »Zeigefeld«, sogar wenn es darum geht, Symbole zu handhaben. Es ist in der Tat wahr, dass es im »symbolischen Feld«, im Denken anhand 10 Vgl. D. Kaplan, Demonstratives, in J. Almog – J. Perry – H. Wettstein (Eds.), Themes from Kaplan, Oxford, 1989, S. 481–563.
313 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
reiner Symbole, keinen Raum für deiktische Symbole gibt. Dennoch ist es nichtsdestoweniger wahr, dass das Subjekt im Gebrauch dieser Symbole sozusagen eine »Idee der Situation« hat, die sicherlich nicht in die Sätze selbst mit eingeht, die aber dennoch dafür bestimmend bleibt, wie diesen Elementen ein Sinn (beispielsweise der Sinn der »reinen algebraischen Formalität«) verliehen wird. Aber welche der Formen der Deixis soll man mit den metatheoretischen deiktischen Ausdrücken verbinden (oder vielmehr »ihnen zuerkennen«)? Nach der Einteilung von Bühler 11 lassen sich die deiktischen Ausdrücke – die keine Symbole, sondern Zeichen sind – nach drei Funktionstypen einteilen: 1. die demonstratio ad oculos (die die deiktische Aufgabe in einem Wahrnehmungszusammenhang erfüllt); 2. das anaphorische Zeigen; 3. die phantasmatische Deixis. Es sind die letzten beiden Typen von deiktischen Ausdrücken, die uns näher interessieren, wobei auf der Hand liegt, dass es sich im Falle des metatheoretischen Horizonts schwerlich um einen perzeptiven Kontext handelt. Nehmen wir also eben den metatheoretischen Kontext wieder auf, und zwar auf dem Wege über elementare Beispiele, um zu sehen, um welche Kontextualität es sich handelt, und vor allem um die Frage zu stellen, was sein Anschaulichkeitsstatus ist. Entwickeln wir ein erstes Beispiel, welches das »Jetzt« der metatheoretischen Situation betrifft: Wir sind beispielsweise dabei, die Psychologie des Aristoteles zu beurteilen. Es kann sein, dass man dann sagt: »Die Psychologie des Aristoteles wird heute überhaupt nicht mehr beachtet – trotz …« oder auch »Die Psychologie des Aristoteles, die lange Zeit wenig beachtet wurde, kehrt heute auf die Tagesordnung zurück« usw. Hier ist die Zeit schwerlich eine narrative – oder gar »imaginäre« – Zeit, denn auch jenseits des veritativen Charakters des Satzes weiß das Subjekt, das sich darauf bezieht, durchaus, dass es sich um Ereignisse oder Vorgänge handelt, die tatsächlich »stattgefunden haben« oder die »gegenwärtig tatsächlich stattfinden«. Das »Jetzt« und das »Heute« erstrecken sich »hier« über mehrere Jahre oder mehrere Jahrzehnte. Und dennoch sieht das Subjekt diese Zeitlichkeit als eine tatsächliche Zeitlichkeit an, als die Zeitlichkeit von Ereignissen, die stattgefunden haben oder stattfinden. Aber »wo« genau haben sie »stattgefunden«? Diese Frage führt uns bereits ipso facto zu der ganz speziellen und charakteristischen Eigenschaft der □metatheoretischen Deixis. Wenn nämlich das »Jetzt« oder das »Heute« sich über 11
Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie, cit., S. 373 ff.
314 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke
mehrere Augenblicke, Tage, Jahre, Jahrzehnte erstreckt, dann gilt dasselbe für dieses Stattfinden, für seine Ausdehnung. Wo findet sich dieses »Stattfinden«? Wo ist diese »Statt«, also dieser »Ort«? Wo geschieht, wo zeigt sich die Neuentdeckung beispielsweise der Psychologie des Aristoteles oder der Metaphysik möglicher Welten? Natürlich ist das kein »geographischer Ort«, es sei denn, man wollte all die Orte aufsuchen, an denen die Bücher geschrieben werden, die heute die Psychologie des Aristoteles oder die Metaphysik möglicher Welten neu entdecken. 12 Die Absurdität einer solchen These ist für jedermann mühelos zu erkennen. Es wäre ebenso absurd, zu sagen, es sei ein »textueller«, bloß narrativer Ort, als ob man in allen Büchern einen Punkt, den einzigen (als singulären Terminus) präzise feststellen könnte, an dem etwas Metatheoretisches stattfindet. Und warum nicht auch auf den Tagungen, den Kongressen – trotz ihrer Nutzlosigkeit? So bleibt nur übrig zu sagen, dass dieser »Ort« ein »NichtOrt« sei, denn es ist, genauer gesagt, ein Kontext, der, auch wenn er seine Anhaltspunkte weder in der Wahrnehmung noch in der abstrakten Linearität des »rein Anaphorischen« findet, doch einen Anschaulichkeitsstatus behält, und gerade dieser Status ist es, der den deiktischen Ausdrücken ihre Evidenz liefert. Das zeigt sich noch klarer, wenn man eine Reihe von (gerade bildlichen) Ausdrücken in Betracht zieht, die mehr oder weniger explizit deiktische Ausdrücke enthalten. Wir müssen uns also im Moment auf das Wesen der □metatheoretischen Deixis konzentrieren in ihrem Unterschied zu der anaphorischen und der phantasmatischen Deixis. Die □metatheoretischen deiktischen Ausdrücke lassen sich schwerlich auf die anaphorische Form der Deixis reduzieren: Man hat es hier (vom Standpunkt des Anschauungsgehalts) mit einer Deixis zu tun, die weniger mager, das heißt nicht reduziert ist auf eine lineare Eindimensionalität, in der es lediglich die Anzeige der Position eines Diskurselements oder eines Symbols in einer endlichen Reihe von Ausdrücken oder Symbolen gibt. Die Orientierung innerhalb des Metatheoretischen geschieht auf dem Umweg über Objekte – selbstDas Buch, als Ort der Instanziierung, ist der Ort einer komplexen Dynamik, die von einer naiven Ontologie der Linearität bzw. der Okkurrenz niemals fixiert werden kann und so verstehen lässt, dass »die Einheit des Buches, selbst wenn sie als Bündel von Beziehungen verstanden wird, nicht als identisch betrachten werden muss«. Anders gesagt: »Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit, noch als eine bestimmte Einheit, noch als eine homogene Einheit betrachtet werden« (M. Foucault, Archäologie des Wissens, cit., S. 36, 38).
12
315 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
verständlich ganz besondere Objekte, deren Natur der gegenwärtige Abschnitt festzuschreiben sucht. Das »Hier«, das »Dort«, das »Jetzt«, das »Dieses« haben »hier« eine vorstellungsmäßige Konsistenz, eine Festigkeit, eine Dicke, auch wenn diese Festigkeit und diese Dicke sich schwerlich auf die Form des Sinneseindrucks zurückführen lassen. Und eben diese vorstellungsmäßige Festigkeit und Dichte der □metatheoretischen Gegenstände gehört auch nicht in den Bereich einer bloß fiktionalen imaginativen Dynamik, so wie die Figuren eines Romans, eines Theaterstücks oder eines Gemäldes. Wenn nicht aufgrund der »gegenständlichen« Konstitution seiner Gegenständlichkeiten, die der strengen Logik der formalen und der materialen Ontologie und deren Gesetzen unterworfen ist [infra § 115], dann könnte man den gesuchten Unterschied lediglich im Hinblick auf den Glaubensmodus des Subjekts behaupten – was widersinnig wäre. Der metatheoretische Horizont und die unterscheidende Situationalität gründen sich auf eine legitime Objektivitätsbehauptung. Das metatheoretische Subjekt weiß, dass es sich in einer kognitiven Situation befindet, in der es mit absolut »nicht-fiktiven« Gegenständlichkeiten zu tun hat, die das Prinzip ihrer Bestimmung schwerlich in der freien Tätigkeit der Einbildungskraft finden, sondern bei Gegenständlichkeiten, die eine logische (syntaktische) Konsistenz haben und deren Teile ihren jeweiligen Evidenzcharakter für einen intersubjektiv geteilten Gebrauch haben, der sich auf eine Geschichte und eine Grammatik bezieht (wenn man darunter die »spekulative Grammatik« versteht). Der metatheoretische Horizont hat nämlich zuallererst die unterscheidende Eigenschaft, dass er irreduzibel ist: Er verfügt über eine eigene Anschauungsform. Diese nötigt uns, die Begriffe der Salienz, des Umstands, kurz des Kontexts bzw. der Kontextabhängigkeit zu erweitern, die vor allem limitativ, reduktiv, allein an die Wahrnehmung gebunden gedacht worden sind. Die dem Metatheoretischen eigene Anschauung tritt vor allem dann hervor, wenn man den Übergang vom philosophischen Subjekt zum im Leeren philosophierenden Subjekt und schließlich zum metatheoretischen Subjekt noch einmal nachvollzieht. Es gibt hier keinen Übergang von einer Form philosophischer Reflexion zu einer Form freier imaginativer Fiktion noch eine Enthüllung einer nur diskursiven Kontextualität; nicht aufgrund der Anzeige von Teilen seines Diskurses noch aufgrund einer freien imaginativen Tätigkeit wird sich das im Leeren philosophierende Subjekt seiner metatheoretischen Situation bewusst. Es wird sich des Metatheoretischen viel316 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 50. Der □metatheoretische Gegenstand
mehr bewusst aufgrund der Anschauung der Existenz (oder besser des Bestehens) einer eigenen und charakteristischen Form von Kontextualität, in der die (noch dunklen) intentionalen Gegenstände, die es anzielte, sich gemäß einer Dimensionalität ordnen und vor allem sich als Gegenständlichkeiten im eigentlichen Sinne strukturieren lassen. Man muss trotzdem darauf hinweisen, dass diese Art von Anschauung, die eine Kontextualität berührt, die weder wahrnehmungsmäßig noch rein imaginativ ist, der formalen Anschauung sehr nahekommt. Das Hier ist das »Hier« der formalen Situation der □metatheoretischen Gegenstände, die in der metatheoretischen Öffnung angetroffen werden – und dasselbe gilt für das »Jetzt«. Das Bewusstwerden ihrer formalen Natur wird auch nicht berührt durch den Einwand, dass die semantische Dicke der Ausdrücke, die in die logisch-semantische Struktur der □metatheoretischen Gegenstände eingehen, keine formalisierte Semantik sei, sondern zur sozusagen »historischen«, »phylogenetischen« Konkretion der Theorien gehöre. Gegen die Bewusstwerdung dieser formalen Natur (in einem allgemeinen Sinne) gilt kein reduktionistischer Einwand, wodurch man behaupten könnte, dass, da die Intelligenz in einem zerebralen Substrat beheimatet ist, diese Anschauung in irgendeiner Weise (ohne genau zu wissen woher) sich aus einer neuronalen Interaktion ergeben muss. Ein solcher Einwand lässt sowohl das Bewusstsein einer formalen Anschauung in der Mathematik als auch das Bewusstsein der Formalität und der Kontextualität des Metatheoretischen als solches weitgehend außer Acht. Aber gerade im Eingehen auf diese Art von Einwänden werden wir eine detailliertere Analyse des Metatheoretischen, insbesondere der ihm eigenen Dimensionalität, entfalten können.
§ 50. Der □metatheoretische Gegenstand (oder der Gegenstand der □metatheoretischen Anschauung) Wenn die Konstitution eines Erfahrungshorizonts statthat, dann ist diese Konstitution wesenhaft an die Tatsache gebunden, dass es im Inneren dieser Erfahrungsform als Lebensform Gegenstände gibt, die dort anschaulich gegeben werden. Diese Gegenstände sind z. B. □metatheoretische Gegenstände (□MG). Die Tatsache, dass die □MG in ihrer Sichtbarkeit mittels eines Abstands zwischen dem ko317 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
gnitiven Typus bzw. dem visuellen Modell, das ihnen eine Gestalt gibt, 13 und der Materie der Anschauung bestehen, bedeutet, dass die Anschauung hier nur die Anschauung einer thematischen Singularität ist – auf die man sich intentional bezieht als eine nicht negierbare, sondern lediglich durch transitive Neutralisierungsakte modifizierbare Materie 14 –, während die graphische bzw. visuelle Modellierung jede beliebige Gestalt annehmen kann. Aber das charakterisiert jede Anschauungsform, sei sie nun wahrnehmungsmäßig oder nicht. Der Abstand zwischen dem visuellen Modell, 15 das dem Gegenstand der Anschauung eine Form gibt, und dem, von dem angenommen wird, dass es den Gegenstand selbst repräsentiert, scheint das Paradox des Sich-Zeigens von etwas »ohne Form«, von etwas nicht über eine Form Verfügendem sichtbar zu machen – so wie es eben der □MG als ein subjektiv nicht zu erfassendes »An-Sich« wäre. Von dieser Perplexität her gewinnt also die Analyse der □metatheoretischen Anschauung eine fundamentale Wichtigkeit, vorgängig zu und unabhängig von der Analyse des Verhältnisses, in dem die Erscheinung des Metatheoretischen mit dem kognitiven Typus steht. Und das unterstreicht noch einmal nachdrücklich die Wichtigkeit des kognitiven Abstands zwischen der Anschauung selbst und dem visuellen Modell, mithilfe dessen die □metatheoretische Subjektivität es unternimmt, diesem Unbekannten, Unerforschten die Form des Erkennbaren, Erforschbaren, Manipulierbaren zu verleihen. Man darf jedoch nicht wieder in das traditionelle Schema der Ontologie verfallen, demzufolge das Unbekannte, das Fremde, das »Nicht-Formale« (das, was noch nicht über eine Gestalt verfügt) letztendlich dasjenige ist, was nicht zum Sich-Zeigen gelangt – während der kognitive Typus eine Art »reine Form der Anschauung« des Metatheoretischen als ein solches darstellt. Man muss an dieser Stelle ein für alle Mal die irrigen Konzeptionen auflösen, die ihren Grund darin finden, dass sie – in einer fast unmerklichen, nicht reflektierten Weise – eine Ontologie vor das Sich-Zeigen setzen, als ob das SichVgl. dazu U. Eco, Kant und das Schnabeltier, München, 2000, Kap. 3. Der kognitive Typus erfüllt zugleich die Funktion (3.3.1) der semantischen sowie der perzeptiven Anerkennung. 14 Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 249. 15 Vgl. R. Bardohl – H. Ehrig – J. de Lara – G. Taentzer, Integrating Meta-modelling Aspects with Graph Transformation for Efficient Visual Language Definition and Model Manipulation. In M. Wermelinger – T. Margaria-Steffen (Eds.): FASE 2004, LNCS 2984, 2004, S. 214–228. 13
318 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 50. Der □metatheoretische Gegenstand
Zeigen eine Ontologie erforderte, anstatt vielmehr das Feld für die Möglichkeit von Ontologien als solche zu eröffnen. Hier dient die Ontologie, die sich im visuellen Modell des Gegenstands konkretisiert, lediglich als Interpretationsmodell für die Anschauung und ist keine Struktur des Gegenstands in sich. Das bedeutet, dass es nicht darum geht, das Sich-Zeigen zu widerrufen oder zu leugnen, dass es eine unmittelbare Gegebenheit einer metatheoretischen Singularität gebe, noch darum, sich vom horror vacui ontologiae ergreifen zu lassen, sondern darum, zu verstehen, auf welche Weise diese privative ontologische Situation des Abstands ipso facto die Öffnung auf ein Verstehen des Metatheoretischen hin ist, und zwar jenseits aller ontologischen Reduktionismen. Außerdem bedeutet eine solche Entgegensetzung von (durch den Abstand selbst legitimiertem) Verstehen einerseits und der ontologischen Reduktion andererseits nicht, dass man dem Vorrang einer ängstlichen, relativistischen Hermeneutik gegenüber der Kraft der theoretischen Arbeit das Wort reden würde. Tatsächlich sind solche Unterscheidungen überflüssig, wir könnten sagen »leer«, ohne irgendeine spekulative oder grundlegend phänomenologische oder philosophische Bedeutung. Uns interessiert es dagegen, die intentionale Sedimentierung einer neuen Erfahrung zu betrachten, ihre Genese im Ausgang von ihrer (im chronologischen Sinne) ursprünglichen Form, ihre allmähliche Strukturierung im Ausgang von der elementaren Form der irreduziblen Spiegelbildlichkeit zwischen der Anschauung der thematischen Singularität und dem visuellen Modell. Dieses Modell kann sich nur gemäß einer Gestalt und einer diachronen Dimension der Variationen dieser Gestalt strukturieren, gemäß dem, was wir das Eidos und den Logos des □MG nennen – Begriffe, die aber noch als wesenhaft unbestimmte erscheinen. Die wesentlich neue Charakteristik der Erfahrung des Metatheoretischen besteht darin, dass der Akt des Schauens gegenständliche Strukturen formt und sedimentiert, für die es vorher noch keine Sedimentierung gab. Aus diesem Grunde kann die Erfassung des □MG – die sich für den Moment an den subjektiven und psychologischen Charakteristika der Klarheit (Evidenz) und der Definition ihrer Strukturen versucht – sich im ersten Anlauf nur als unsicher erweisen. Der □MG (qua Gegenstand einer □metatheoretischen Anschauung) ist also dasjenige, worauf sich eine Erfahrung in fieri konzentriert und gründet, deren Strukturierung sich noch in itinere befindet und für die es noch keine Genese – eine Genese, an die man appellieren könnte – 319 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
gibt. Und dennoch hat der □MG schon an dieser Stelle eine Gestalt, auch wenn diese Gestalt – in ihrer kognitiven Struktur – hinsichtlich ihrer Komplexität über die Gestalt hinausgeht, die wir normalerweise einem Gegenstand zuzuerkennen pflegen. Die Erweiterung der Gegenständlichkeitsperspektive, die durch den □MG als dasjenige eingeführt worden ist, was sich ausschließlich kontextuell, das heißt innerhalb einer metatheoretischen Perspektive, zeigt, geht über die Form des wahrnehmungsmäßigen Sich-Zeigens (und auch über andere Formen des Sich-Zeigens) hinaus, und zwar hinsichtlich der Komplexität der kognitiven und eidetischen Struktur, auf der sie beruht. Dieses kontextuelle Sich-Zeigen bricht die Einheit zwischen der »Individuationsmodalität«, der »Form der Anschauung« und der »Morphologie der Gegenständlichkeit des Sich-Zeigens« auf [infra § 109]. Auch wenn der □MG existiert, auch wenn er eine Existenzaussage formulieren bzw. eine ontologische Verpflichtung annehmen kann (denn sonst wäre es unmöglich, von einem Sich-Zeigen zu sprechen), sind doch die Individuationsmodalitäten – das, was daraus ein Existierendes macht, was uns erlaubt, uns darauf als auf ein Existierendes zu beziehen – des □MG nicht der Raum und die Zeit der Wahrnehmung. Der Horizont des hic et nunc des Sich-Zeigens des Metatheoretischen, das, was sie als primitive deiktische Ausdrücke (die auch die Form der jeweils entsprechenden hybriden Selbstbeziehung bestimmen) charakterisiert, zeigt eine nicht-wahrnehmungsmäßige, nicht-sinnliche Konstitution. Das dem Sich-Zeigen des □MG zugehörige Sehen ist kein Wahrnehmen – auch wenn es ebenfalls keine »Wesensschau« und auch keine intellektuelle Anschauung in dem von der Metaphysik gedachten Sinne ist. Die nicht-wahrnehmungsmäßige Bestimmung der Individuation wirkt unmittelbar zurück auf die Morphologie des Gegenstands selbst, das heißt auf die kognitiven Strukturen, die entwickelt werden, um »diesen Gegenstand im Blick zu haben«. Dies ist die Stelle, an der die Trennung zwischen Morphologie und Anschauung stattfindet – etwas vollkommen Undenkbares und Unvorstellbares für eine Theorie der Anschauung, die sich wesentlich auf eine Ontologie der Wahrnehmung gründet. Hier wird die morphologische Struktur der Gegenständlichkeit – diejenige, die koessentiell nach den raumzeitlichen Identifikationskoordinaten strukturiert wird – radikal getrennt von der Anschauung selbst, sie beschreibt, um es so auszudrücken, einen Raum möglicher Modellierung. Dadurch wird ipso 320 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 50. Der □metatheoretische Gegenstand
facto zugestanden, dass die Standardmorphologie, die unserer gewöhnlichsten Erfahrung zugrunde liegt, nicht negiert wird; und sie wird auch nicht beiseitegeschoben, als ob sie nicht auch im Falle von nicht-wahrnehmungsmäßigen Erfahrungen oder Erfahrungsformen eine bestimmende Rolle in unserer Erfahrung spielen würde. Was sich hier jedoch radikal ändert, ist die Tatsache, dass diese bestimmende Rolle nicht mehr – und niemals – als »Gegenstandskonstitution« verstanden werden darf. Bei der Erfahrung des □MG kann die Morphologie des Gegenstands nicht einer transzendentalen Dynamik der Konstitution der Anschauung zugeschrieben werden: Die Morphologie hält sich auf Abstand, ohne deswegen Raum für die triviale Behauptung zu geben, die metatheoretische Anschauung sei eine bloße Materie ohne Form. Der Abstand zwischen dem □MG und der Morphologie beruht auf der Tatsache, dass eine Morphologie sich eben entweder aus einer ununterschiedenen ontologischen Zuschreibung oder aus einer Genese, einer Sedimentierung ergibt. Hier trifft aber weder die eine noch die andere Hypothese zu. Es gibt keine Möglichkeit, dem □MG auf ununterschiedene Weise eine Ontologie zuzuschreiben. Denn da die Ontologien selbst □metatheoretische Gegenstände (bzw. Teile von □MG [infra § 113]) sind, wäre das ein klares Beispiel für eine imprädikative Zirkularität. Folglich ist der □MG das, was sich jenseits und unabhängig von jeglicher Ontologie zeigt, das heißt, was sich zeigt, ohne dass ihm auf ununterschiedene Weise eine Form von Gegenständlichkeit zugeschrieben werden könnte als Raster, das sein anschauliches Mannigfaltiges konstituiert. Ferner ist der □MG etwas, was man vorher nicht erfahren hat, von dem man noch keine Erfahrung gehabt hat und das sich dementsprechend gegenwärtig »diesseits jeglicher Genese« zeigt. Das heißt mit anderen Worten, dass der □MG gegenwärtig etwas ist, was sich einem Subjekt zeigt, das nicht über sedimentierte kognitive Strukturen verfügt, die ihm eine klare und evidente morphologische Interpretation verschaffen könnten. Trotzdem können, wie wir schon wiederholt gesagt haben, die Morphologie und die Operativität der Morphologie nicht völlig verschwinden, da die menschliche Erfahrung des Unbekannten sich immer (wenigstens im ersten Anlauf) auf analogische Weise vollzieht. Um zu lernen, das zu erfahren, was sich ihm innerhalb des metatheoretischen Horizonts zeigt, muss das metatheoretische Subjekt es in Beziehung zur Morphologie des Gewöhnlichen und insbesondere zur elementaren Morphologie des Gegenstands der Onto321 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
logie des sensus communis setzen. Folglich ist der □MG dasjenige, was sich zeigt und was zuallererst in der Spiegelbildlichkeit mit einem elementaren visuellen Gegenständlichkeitsmodell besteht, das sozusagen als Ersatzmorphologie für die Erfahrung des Gegenstands dient. Der □MG hat also keine ontologisch fixe morphologische Gestalt, die als die Natur – oder das Wesen – des Gegenstandes zu denken wäre, sondern etwas, was sich ausschließlich in der Spiegelbildlichkeit zu einem schon sedimentierten kognitiven Typus einer gegenständlichen Morphologie denken lässt. Diese Spiegelbildlichkeit präfiguriert auch die modellbildende Erforschung des □MG, und sie führt uns zu den beiden folgenden Definitionen: 1.
Der □MG ist dasjenige, was durch sein Sich-Zeigen über die klassischen Gegenständlichkeitssstrukturen hinausgeht und ein spiegelbildliches Verhältnis zu der Minimalgestalt des Gegenstands etabliert, die den Raum für eine mögliche Modellierung umschreibt.
2.
Der □MG ist das, was sich zeigt und dessen Sich-Zeigen von der subjektiven Seite her unmittelbar in die Spekularität mit dem kognitiven Typus der elementaren Gegenständlichkeit eingeschrieben ist.
Gemäß dieser Spiegelbildlichkeit ist der □MG dasjenige, dessen SichZeigen im Hinblick auf die beiden Dimensionalitäten seines □Eidos und seines □Logos interpretiert wird: –
–
Unter »□Eidos« ist dabei die strukturelle Zusammenfügung von Semantik und Syntax (der Gegenstände und der Grammatik, die sie strukturiert) zu verstehen. Unter »□Logos« ist dabei die genetische Zusammenfügung von Semantik und Sinngstaltung bzw. Sinnsedimentierung zu verstehen. 16
§ 51. »□Eidos« und »□Logos« als Namen für eine komplexere Wirklichkeit Jede Erfahrung von etwas verfügt über einen intrinsisch teleologischen Charakter, das heißt über eine Eröffnung möglicher weiterer Vgl. U. Moulines, Structuralism: The Basic Ideas. In W. Balzer – U. Moulines (Eds.), Structuralist Theory of Science, Berlin – New York, 1996, 1–15, S. 3 : »A scientific theory as a diachronic entity is not just a theory-net associated with a time interval. It’s a related, but different, structure. For this reason, structuralism takes the synchronic/diachronic distinction very seriously and it has introduced a specific label for a theory in the diachronic sense, a ›theory-evolution‹«.
16
322 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 51. »□Eidos« und »□Logos« als Namen für eine komplexere Wirklichkeit
Bestimmungen der Sache in ihrem eigenen Sich-Zeigen. Bei der Wahrnehmung beispielsweise ist das Wahrgenommene in seinem Erscheinungsmodus das, was es in jedem Moment der Wahrnehmung ist, insofern es ein System von Verweisen bildet mit einem Erscheinungskern, in dem diese ihren Bezugspunkt finden. Nun gilt das aber für jede regionale Form des Sich-Zeigens. Denn in jeder Form der Erfahrung trägt, vermittelt der Gegenstand, der sich zeigt, eine doppelte Öffnung. Diese doppelte Öffnung lässt sich in dem Begriffspaar »Innen-/Außen-Horizont« zusammenfassen. 17 In der metatheoretischen Erfahrung trägt der Gegenstand dieselbe doppelte Öffnung, selbstverständlich im Sinne des Metatheoretischen als ein solches aufgefasst. Der □MG hätte so, seiner noematischen Konstitution entsprechend: 1.
einen Innenhorizont – als die Gesamtheit der möglichen Bestimmungen seiner Selbstgegebenheit, als die Gesamtheit aller möglichen Weisen des »Sich-Zeigens«;
2.
einen Außenhorizont – als die Gesamtheit der es umgebenden miterfahrbaren Gegenständlichkeiten in der metatheoretischen Öffnung.
Nun bliebe uns an diesem Punkt nur noch, mit der Bestimmung des □MG nach den beiden Perspektiven der deskriptiven Arbeit zu beginnen. Es bleibt jedoch noch ein Problem und keineswegs eines der geringsten. Die doppelte deskriptive Vorgehensweise der Analyse (die noetische und die noematische) bringt Erfahrungsstrukturen zur Klarheit, die schon sedimentiert, die in der Erfahrung des Gegenstands schon am Werk sind. Der Innenhorizont in der wahrnehmenden Erfahrung – wir könnten aber auch sagen: beim Sich-Erinnern, beim Sich-etwas-Vorstellen, beim logischen Denken – ist bereits strukturiert, das heißt, die thematische Singularität zeigt einen Fächer an bestimmbaren Bestimmtheiten, die geeignet sind, ihr einen Zuwachs an anschaulicher Fülle zu verschaffen. Hier ist man beinahe in einer vollkommen umgekehrten Situation, das heißt näher an der Erfindung einer komplexen mathematischen Struktur, wo der Gegenstand unbekannt ist oder lediglich durch eine Analogie zu anderen mathematischen Strukturen bekannt, für die man die Theorien, die Ausdehnungen (kurz das Verhalten solcher Theorien) genau kennt. Nun erweist sich für uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Erblicken des metatheoretischen Gegenstands als etwas, was gleichzei17
E. Husserl, Erfahrung und Urteil, cit., S. 28.
323 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
tig eine Erforschung der beiden Horizonte ist, die selbst leer und bestimmbar sind. Wie ist es möglich, einen Horizont zu bestimmen, wenn der Horizont selbst der Rahmen jeder möglichen weiteren Bestimmung des Gegenstands ist? □Eidos und □Logos erweisen sich gegenwärtig und für uns als Vektoren, die uns hinführen – und uns während dieses ganzen Teils dieser Arbeit hinführen werden – zu einer fortschreitenden Bestimmung, und zwar nicht des □MG, sondern der Strukturen, die der Erfahrung des □MG als einer solchen zugrunde liegen. □Eidos und □Logos können nämlich nicht auf den inneren und den äußeren Horizont reduziert werden, auch wenn sie letztendlich zur Struktur des Gegenstands gehören und eine allmähliche Enthüllung seiner Konstitution ermöglichen. Sie sind nicht auf den inneren Horizont reduzierbar, weil es sich beim inneren Horizont um eine ko-intentionale und damit um eine korrelative Schau handelt (die in diesem Fall durch die beiden gegenständlichen Modellierungen des □Eidos und □Logos gebildet wird). □Eidos und □Logos, die nicht der □MG sind, sondern die beiden interaktiven Dimensionalitäten der Modellierung des □MG, welche gleichzeitig 1. 2.
die Perspektive einer fortschreitenden Bestimmung des □MG in sich selbst, also die Erforschung seines Innenhorizonts, und die Erforschung seines Außenhorizonts
öffnen. Doch noch davor müssen diese beiden Namen, diese beiden Schnittstellen der Modellierung uns Zugang zu der morphologischen bzw. noematischen Struktur des □MG verschaffen, was gleichzeitig einen Zugang zur Struktur der beiden Horizonte voraussetzt, die dessen Erfahrung strukturieren. Wenn man glauben wollte, dass mit einer schlichten Definition der beiden Termini das Problem gelöst und so etwas wie der □MG zur Klarheit gebracht wäre, dann wäre das eine grobe Oberflächlichkeit. Das □Eidos und der □Logos s sind für den Moment nur zwei »Namen«, die zwei »Frames« der Modellierung, die unseren Blick auf die »Sache« des durch den elementaren kognitiven Typus gelieferten Bilds zu einem schärferen Zugriff auf seine Realität hinführen – nicht mehr, nicht weniger. Wenn man das □Eidos und den □Logos ontologisieren wollte, dann würde man auf eine deutlich und grob metaphysische Weise vorgehen.
324 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 52. Die Abschattungen und die Beziehungen zwischen den □MG
§ 52. Die Abschattungen und die Beziehungen zwischen den □MG Die Unmöglichkeit, das □Eidos und □Logos zu ontologisieren, öffnet die Erfahrung des □metatheoretischen Gegenstands auf eine Teleologie hin, die ihm wesentlich ist. Eine solche Öffnung erweist sich als eine doppelte Perspektive, jedoch nicht im Sinne der Kopplung von □Eidos und □Logos als komplementäre Dimensionalitäten der Modellierung. Es geht um die doppelte Perspektive des Innen- und des Außenhorizonts. Die Erfahrung des □MG lässt sich also sowohl hinsichtlich seiner inneren Struktur bestimmen als auch hinsichtlich seiner relationalen Bestimmungen mit anderen Gegenstände innerhalb des metatheoretischen Horizonts. Wenn wir also von Abschattungen des □MG sprechen, verstehen wir diese Ausdrücke nicht so, als ob es ein Absolutes gäbe, das als metatheoretisches Absolutes aufgefasst würde. Diese Abschattungen bezeichnen vielmehr die »Struktur des Sich-Zeigens« durch Abschattungen: Ein Gegenstand ohne wahrnehmungsmäßige Individuation schreibt sich in die Form einer fortschreitenden Gegebenheit ein, die partielle Zugänge impliziert und teleologisch auf seine fortschreitende Erfassung hin orientiert ist. Wie kann man trotzdem von »Abschattungen« innerhalb dieses Abstands zwischen dem Modell des □MG und der Anschauung desselben Gegenstands sprechen? Tatsächlich schiebt sich die Scheidewand des Modells zwischen uns und eine Erfassung des Gegenstands nach derselben Maßgabe wie beim Wahrnehmungsgegenstand. Doch gerade darum geht es hier. Wenn die Erfahrung des □MG von gleicher Art wie die wahrnehmungsmäßige Anschauung wäre und wenn jede Anschauung ausschließlich als »wahrnehmungsmäßige« gedacht werden müsste, dann hätte die Phänomenologie nicht mehr sehr viel zu tun oder sie hätte die grundlegende Aufgabe ihres Fragens bereits erschöpfend gelöst. Genau genommen bezieht sich die Abschattung nämlich nur auf das »hyletische Datum«. Oder um es klarer auszudrücken: In der allgemeinen Struktur des Erlebnisses bilden die hyletischen Abschattungen einen unbestimmten Hof von Profilen, deren Einheit das Noema selbst ist oder genauer gesagt der »zentrale Kern« des durch die Reduktion erfassten Gegenstands als deren Einheitssinn. Nun ist hier von der »allgemeinen Struktur des Erlebnisses« die Rede, und man müsste hier genauer von der »Sacherfahrung« in 325 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
ihrer Ausweitung auf alle Formen sprechen, die man innerhalb des durch die Reduktion eröffneten Feldes antreffen kann. Welchen Sinn hat es also, von einer nicht-wahrnehmungsmäßigen Abschattung zu sprechen? Welchen Sinn hat es, detaillierter gesagt, von Abschattungen des □MG als nicht-wahrnehmungsmäßiger anschaulicher Gegebenheit zu sprechen? Die Abschattung ist letztendlich nicht etwas, was sich lediglich bei der Wahrnehmung zeigt – dort setzt sie tatsächlich ein wahrnehmungsmäßiges hyletisches Substrat voraus. Dass wir uns bei der Erfahrung des □MG die Abschattungen in Analogie zu den wahrnehmungsmäßigen Abschattungen vorstellen, ist dabei eine völlig andere Frage. Als Abschattung definieren wir eine partielle Gegebenheit des Gegenstands einer Anschauung, die stets und konstitutiverweise auf andere Anschauungen verweist, deren Abfolge die Evidenz des Gegenstands inkrementiert. Was bedeutet es also, dass der □MG sich in Abschattungen gibt und dass die teleologisch ausgerichtete Erfahrung des □MG gerade auf eine Evidenz ausgerichtet ist, die nur im Durchgang durch die Gesamtheit seiner Abschattungen gewonnen werden kann? Bei dieser Frage geht es letztendlich um die Möglichkeit, einen □MG fortschreitend zu bestimmen, der niemals in toto gegenwärtig da ist und den zu erblicken unmöglich ist, der sich aber in unterschiedlichen Perspektiven zu sehen gibt, in einer fortschreitenden Erforschung seiner inneren und konstitutiven Bestimmungen. Wenn man beispielsweise die komplementär definierte Struktur des □Eidos und des □Logos betrachtet, wird klar, was gemeint ist, wenn man vom fortschreitenden Erblicken und einer abschattungshaften Erfahrung dieses Gegenstands spricht. Der □MG gibt sich der Schau zunächst auf eine allgemeine Weise (was nicht heißt, dass er sich nicht instanziieren würde), ohne dass seine besonderen Strukturen detaillierter thematisiert würden. Man kann lediglich einen globalen Zugang (ohne weitere Bestimmung) zum □Eidos oder zum □Eidos und zum □Logos in ihrer komplementären Interaktion haben, ohne dass man deswegen eine thematische Ansicht hätte, 1.
von den strukturellen Termini (Punkte, Knoten), aus denen sich diese Dimension zusammensetzt, 18 und
Ein □MG hat als Diskursform nicht »einen Knoten«, sondern ist eo ipso durch mehrere Knoten konstituiert. Man wird hier, M. Foucault folgend, den Plural benutzen – im Gegensatz zu dem »einen Knoten« des Diskurses, der als etwas Homogenes aufgefasst wird. Vgl. M. Foucault, Entretien sur l’Archéologie du savoir, 2. Mai 1969.
18
326 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 52. Die Abschattungen und die Beziehungen zwischen den □MG
2.
von der semantischen Dicke (das heißt der Sedimentierung/Konkretion von Sinn) eines Terminus (Punktes, strukturellen Knotens) oder einer Gruppe von Termini.
Die thematische Schau, das thematische Schauen kann sich also auf eine Teilvorstellung der Gesamtanschauung des Gegenstands konzentrieren und, während es die Letztere neutralisiert, diese Vorstellung in Betracht ziehen, indem es sie »zum Thematischen« macht. Diese anschauliche Teilvorstellung enthüllt nun eine ganze Mannigfaltigkeit von Bestimmungen, von möglichen thematischen Verweisen innerhalb der Gesamtanschauung, die sich als allgemeine Anschauung des Gegenstands allmählich abschattet. Strukturelle Termini (Punkte, Knoten), die an der Oberfläche des □Eidos oder in einer gewissen Tiefe – das heißt zu einem gewissen Moment ihrer Sinnsedimentierung – erfasst werden, stellen mögliche Abschattungen des Gegenstands dar. Diese thematischen Momente mit ihren eigenen Verweisen auf andere Komponenten der Gegenstandsstruktur motivieren ipso facto eine zusammenhängende und fortschreitend bestimmtere Erfahrung des Gegenstands. Dass der Gegenstand sich abschattet und sich fortschreitend bestimmt, ist in letzter Instanz der Fähigkeit der Schau zu verdanken, die sie anzuvisieren vermag, und zwar aus ein und demselben Blickwinkel, jedoch mit einer immer bestimmteren und detaillierteren Schau eines strukturellen Terminus (Punktes, Knotens), die sich im Verfolgen der Verweise ergibt, die dieser letztere als mögliche Gegenstände thematischer Hinblicke »zu sehen gibt«. Dasselbe, was gerade gesagt wurde, um die Abschattungen des □MG einzuführen, gilt gleichermaßen für die Beziehungen zwischen den Gegenständen. Dem Fehler, die Strukturskizze des Gegenstands als den Gegenstand selbst zu nehmen, als isoliert in einer fiktiven, metaphysischen Welt, deren einziger Bewohner und einziger Protagonist er wäre, ist damit vorgebeugt. Dieser Fehlschluss wird außerdem aufgedeckt durch die Strukturskizze der metatheoretischen Erfahrung des □MG in seinen Abschattungen sowie gleichzeitig durch die Notwendigkeit, den äußeren Horizont einer solchen Erfahrung zu thematisieren. Wenn die Erfahrung des □MG nicht die Erfahrung von etwas ist, was sich in toto anschaulich zeigt, ist sie auch keine singuläre Erfahrung im Sinne der Erfahrung von etwas, das keinen Außenhorizont hätte. Unsere Entscheidung, den □MG symbolisch mit dem Operator »□« zu bezeichnen, widerspricht ipso facto dieser 327 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel V Der metatheoretische Horizont
Möglichkeit, denn der Gegenstand selbst als »sich innerhalb des metatheoretischen Horizonts Zeigendes« lässt keine singuläre Erfahrung zu, die kontextunabhängig und isoliert wäre. Auch was den Außenhorizont betrifft, dient der elementare kognitive Typus des dreidimensionalen räumlichen Gegenstands als Leitfaden, um eine Form der Erfahrung präziser zu bestimmen, die nicht nach derselben Morphologie strukturiert ist wie diejenige Erfahrung, in deren Ausgang der elementare kognitive Typus entstanden ist. Das gilt für die Abschattungsstruktur, und es gilt umso mehr für die Beziehungen, die der Gegenstand mit anderen Gegenständen desselben Typs unterhält. Eine thematische Schau des Gegenstands unter einer bestimmten Perspektive kann Aspekte des Gegenstands enthüllen, doch gleichzeitig und notwendig enthüllt sie ein Feld von Gegenständen, in dem oder zu denen das metatheoretische Subjekt Beziehungen etablieren kann. Dennoch lässt sich der Außenhorizont des □MG schwerlich auf die Kopräsenz der jeweils für die thematische Schau kopräsenten Gegenstände reduzieren, das heißt auf die Gegebenheit der metatheoretischen Situation, wie sie vom □MG her im Vordergrund erfasst, das heißt in einer bestimmten Abschattung oder unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen wird. Die Struktur der Erfahrung lässt einen Wechsel der Horizonte zu, und das führt dazu, dass sie nie auf die Faktizität der gleichzeitigen Gegebenheit von Gegenständen zu reduzieren, sondern offen für die Möglichkeiten ist, die solche Situationen gleichzeitiger Gegebenheit in die dynamische Aufeinanderfolge einschreiben können.
328 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
§ 53. Für eine Analyse des Metatheoretischen Im fünften Kapitel wurden die Möglichkeit sowie die Notwendigkeit eines »phänomenologischen« Ansatzes zur Aufklärung des Metatheoretischen als solches gezeigt. Bevor wir allerdings dazu übergehen, dieses »Metatheoretische« konkret zu entwickeln, müssen wir uns mit der Bedeutung dieser Möglichkeit und dieser Notwendigkeit befassen. Wie wir gezeigt haben, entstammt die Möglichkeit, über das »Metatheoretische« zu sprechen, der Unmöglichkeit selbst, über die »Philosophie« zu sprechen, ohne dabei dem Widersinn, über »etwas« zu sprechen, das vollständig unklar und unbestimmt ist, zu verfallen. Es ist genau an jenem Punkt, an dem die »Philosophie« ihre ganze Unhaltbarkeit offenbart, dort, wo sich das philosophische Subjekt als unwiderruflich entdeckt, als ein »im Leeren philosophierendes Subjekt«, weil es doch davon Kenntnis nimmt, dass es keinen Zugriff auf seinen »Gegenstand« oder seine »Gegenstände« hat. Das ist der Punkt, an dem sich die Möglichkeit erkennen lässt, über das »Metatheoretische« zu sprechen. Der Skandal der Vestalinnen der Philosophie, die ihren alten Götzen und ihrem alten Kult verbunden bleiben, muss uns folglich auch nicht interessieren. Was uns allerdings interessieren muss und was uns zu diesem Punkt führt, ist die Öffnung dessen, das sich uns durch die Implosion der Philosophie als Gegenstand, als Doktrin, als Corpus, als Form des Wissens sowie als Theôria präsentiert. Was sich aus dieser Implosion und dieser Palingenese ergibt, ist weder eine andere Wissensform, eine andere Doktrin noch ein neuer Gegenstand, der den ersten zu ersetzen versucht, sondern eine Form des Schauens/Sehens, des Theôrein im Horizont von etwas Erscheinendem, doch nicht im Sinne von Gegenständen, deren Form durch regionale Ontologie bereits gegeben und gesetzt ist. Es geht um die Erfahrung der Theôriai selbst, im Sinne von Gegenständen. Die Tat329 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
sache selbst, über das »Metatheoretische« zu sprechen, schließt ipso facto die Möglichkeit aus, dass wir dieses »Metatheoretische« als etwas Substantielles oder Gegenständliches betrachten können. Das Metatheoretische ist nicht etwas Gegenständliches – im Sinne einer Super-Theorie, also als »theoretischer Gegenstand« höherer Ordnung – und kann folglich nicht durch eine Schau oder ein Theôrein bestimmt werden. Das Metatheoretische ist das Theôrein selbst, als Artikulation der Öffnung eines thematischen Horizonts, in dem die Gegenständlichkeiten, die dort ihre Erscheinung finden, selbst Theôriai sind. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, das Zeichen »□« zu verwenden, um die Art und Weise hervorzuheben, auf die wir über das Subjekt und die □MG sprechen können, ohne uns in metaphysische Widersprüche der Behauptung eines Subjekts oder eines Gegenstands, die ebenfalls absolut sind, zu verwickeln. Der Gebrauch der Begriffe »□metatheoretisches Subjekt« und »□metatheoretischer Gegenstand« zeigt einfach nur die zwei Pole der intentionalen Verbindung bzw. Korrelation gemäß der metatheoretischen Deklination an, die in einer metatheoretischen »Perspektive« entstehen. Diese Perspektive – die ihrerseits nicht ontologisch vergegenständlicht werden kann – verstärkt noch einmal mehr die Möglichkeit, von einer metatheoretischen Erfahrung jenseits der Metaphysik sowie jenseits jedes kognitivistischen Reduktionismus zu sprechen. Die Möglichkeit, über eine metatheoretische Erfahrung in ihrer Autonomie, unabhängig sowohl von einer Metaphysik der Schau als auch von einer reduktionistischen (bzw. materialistischen) Metaphysik zu sprechen, ist bereits durch die Einführung des Begriffs der □metatheoretischen Anschauung gezeigt worden. Durch die Analyse des Grundbegriffs der □metatheoretischen Anschauung haben wir begonnen, die Strukturen, welche die metatheoretische Erfahrung lenken, als eine neue Form des Theôrein zu skizzieren – aber lediglich auf der Basis einer bloßen Einführung. Allerdings ist der Unterschied zwischen dieser einleitenden Skizze und einer echten Analyse der Strukturen der metatheoretischen Erfahrung riesig und zeigt sich als entscheidend. Und genau an diesem Punkt kommt die Methode der intentionalen Analyse, als eine Methode der Entzifferung jeder Erfahrungsform als solche, hinzu. Folglich geht es hier nicht darum, die Phänomenologie als erste Philosophie zu definieren: Die Versuche, sie einerseits als metatheoretisches Theôrein zu definieren und andererseits, sie an der Stelle der Metaphysik durch die Zuschrei330 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 53. Für eine Analyse des Metatheoretischen
bung eines substantivistischen Charakters zu verorten, sind illusorische. Die Phänomenologie ist von der Metaphysik grundlegend verschieden. 1 Es ist des Weiteren ebenso klar, dass sich die Versuche, sie auf die Metaphysik zurückzuführen, nicht mehr und nicht weniger als Versuche der Metaphysik erweisen, sich eine Maske der Rationalität aufzusetzen, indem sie sich hinter der Phänomenologie versteckt. Darüber hinaus bedeutet die Tatsache, dass die Phänomenologie grundlegend von der Metaphysik verschieden und nicht auf diese reduzierbar ist, genau jene Unmöglichkeit der Hybridisierung der Phänomenologie selbst als Doktrin und dadurch auch die Unmöglichkeit ihres Austauschs mit der Metaphysik (als ob man nur ein defektes oder verschlissenes mechanisches Getriebe im Ensemble eines blockierten oder nicht mehr funktionsfähigen Denksystems ersetzen müsse). Aus diesem Grund erweist sich die Phänomenologie gleichzeitig als nicht auf das Metatheoretische als solches reduzierbar. Wenn sich die Phänomenologie als eine Beobachtungs- bzw. Beschreibungsmethode von Erfahrungen in all ihren Deklinationen und ipso facto von allen Erfahrungsformen erweist, überschreitet sie das Metatheoretische deutlich, weil sie sich nicht als diese »singuläre« Form der Erfahrung bestimmen lässt. Und das aus verschiedenen Gründen. Zunächst aus einem rein logischen Grund. Wenn nämlich die Phänomenologie gegenüber dem Metatheoretischen nicht überschüssig wäre, würde sie keine Methode darstellen, um seine Strukturen zu bestimmen, so wäre sie nichts anderes als das Metatheoretische selbst. Außerdem würde das Verleugnen der Spanne und des Abstands, das heißt des Unterschieds, zu einem Auslöschen eines jeden spekulativen Nutzens der phänomenologischen Beschreibung des Metatheoretischen führen. Es geht hier nicht um die Aufgabe der Gestaltung einer Theorie, nur darum, den absoluten Vorrang gewisser Gegenstände über andeVgl. M. Richir, Métaphysique et phénoménologie. In E. Escoubas – B. Waldenfels (Hg.), Deutsche und französische Phänomenologie, Paris, 2000, S. 127 : »dans ses profondeurs les plus révolutionnaires, la phénoménologie n’a rien d’une ontologie et rien d’une métaphysique. Peut-être, énigmatiquement, a-t-elle encore quelque chose à voir avec la philosophie puisqu’elle est, dans notre tradition, le prolongement de la praxis du penser. Et peut-être, non moins énigmatiquement, peut-on préciser, en ce sens, qu’elle n’est pas une mathesis universalis, mais une mathesis, qui s’apprend et se change à mesure qu’elle avance, de l’instabilité et des mouvements inextricablement complexes de cette praxis.«
1
331 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
re zu behaupten. Das Theôrein als metatheoretische Erfahrung ist kein »absolutes Schauen«, kein »Blick von Nirgendwo«. Die Phänomenologie darf und kann nichts anderes, als am Rande des Metatheoretischen zu bleiben, um es zu isolieren und seine Strukturen aufzudecken. An dieser Stelle tritt die Notwendigkeit einer intentionalen Analyse hervor, da, wenn wir erst einmal die Möglichkeit einer Analyse des Metatheoretischen als Form des »Schauens« und als Theôrein erkennen, wenn wir erst einmal die notwendige und unüberwindbare Grenze zwischen der phänomenologischen Methode und dieser neuen »Anschauung« hervorgehoben haben, wir uns mit der spekulativen Notwendigkeit selbst auseinandersetzen müssen. 2 Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der wesentlichen Tatsache selbst, dass die Phänomenologie allein mit ihren methodischen Werkzeugen nicht einen Gegenstand, sondern eine Schau und ein Theôrein anstreben, bestimmen und entschlüsseln kann. Anschließend kann die Phänomenologie durch einen Umweg über die Reduktion und die Variation eine Analyse der Erfahrung selbst vornehmen, in ihrem Vgl. M. Foucault, Entretien avec André Berten, 7. Mai 1981, Louvain: »La phénoménologie était un style d’analyse qui revendiquait l’analyse du concret. Et il est certain que de ce point de vue là on pouvait rester un peu insatisfait dans la mesure où le concret, auquel se referait la phénoménologie, ce concret était un petit peu académique et universitaire, vous aviez des objets privilégiés de la description phénoménologique qui étaient une expérience vécue tel que l’expérience d’un arbre à travers la fenêtre de mon bureau (enfin, je suis un peu sévère) mais le champ d’objets que la phénoménologie parcourait était dirais-je un peu prédétermine par une tradition philosophique et universitaire qui valait peut-être la peine un petit peu d’ouvrir. Je me suis placé au croisement de la phénoménologie, du marxisme et de l’épistémologie française. Je me suis posé la question, par rapport à la phénoménologie: Est-ce plutôt que faire la description, un peu intériorisée, de l’expérience vécue, on ne peut pas, il ne faut pas faire l’analyse d’un certain nombre d’expériences collectives et sociales. […] Et troisièmement, à travers l’analyse d’expériences collectives, sociales, liées à des contextes historiques précis, comment est-ce qu’on peut faire l’histoire d’un savoir, l’histoire de l’émergence d’une connaissance, et comment des objets nouveaux peuvent arriver dans le domaine de la connaissance, peuvent se présenter comme objets à connaitre«. Das Bild, das Foucault von der Phänomenologie hat, zumindest wenn man sich an seine Betrachtungen hält, ist ganz klar begrenzt. Einerseits geht es um eine begrenzte Idee der Phänomenologie, die in Frankreich Aufschwung gefunden hat (im Besonderen ist die Idee hier klar diejenige einer Phänomenologie der Wahrnehmung à la Merleau-Ponty); andererseits geht es um eine sehr partielle Kenntnis der Husserl’schen Phänomenologie selbst, die sich nur durch die Manuskripte, die noch zu veröffentlichen waren, sich vertiefen könnte. Das, was wir hier machen, ist die Idee, eine Phänomenologie genau solcher theoretischer Objekte zu entwickeln, wie Foucault sie mit konzeptuellen Mitteln viel näher an der Phänomenologie selbst skizziert.
2
332 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 53. Für eine Analyse des Metatheoretischen
lebendigen Charakter, in actu experiendi, ohne dabei nach einem metaphysischen Grundstein oder nach einer (geradezu »neuronalen«) Reduktion zu suchen. Nun aber erweist sich an dieser Stelle die Aufhebung der metatheoretischen Erfahrung im Bereich der Schau als noch notwendiger, um die strukturelle Komplexität zu fixieren. Diese Komplexität betrifft im Detail die Form ihrer eigenen Anschaulichkeit und ihrer möglichen Modellierungsformen. Dieser letzte Aspekt weist auf eine andere Frage hin, genauer gesagt auf jene ihrer intentionalen Spekularität mit einem elementar-kognitiven Typus. Die Entzifferung des metatheoretischen Theôrein muss folglich zuerst die Form der Anschaulichkeit untersuchen, die sich für den □MG tatsächlich in der Spekularität mit dieser elementaren Form des Gegenstands ergibt. Dieses Modell ist gegenüber einer fortschreitenden Bestimmung geöffnet und legt die Formen einer intentionalen Korrelation fest, die eine eigenartige Bestimmung der Erfahrung liefern. Wir betrachten zunächst die strukturellen Begriffe des Eidos und Logos des □MG, um zu versuchen, die intentionale Dynamik zu enthüllen, die uns Zugang zu diesen unterschiedlichen Eigenschaften und auch zu ihrer dynamischen Interaktion gewährt. Anschließend möchten wir diese beiden gegenständlichen Eigenschaften gemäß ihrer Öffnungsbereitschaft gegenüber den möglichen Synthesen oder Handlungen, auf die sie selbst eidetisch in ihrem Aufbau hinweisen, interpretieren. Jedoch ist eine Analyse der geradezu »statischen« Auffassung des □MG kaum ausreichend und wird nicht die Komplexität der metatheoretischen Erfahrung als solche bestimmen können. Man muss diese Erfahrung in ihrer intrinsischen Dynamik und ihrer »lebendigen Gegenwart« denken und folglich auch in ihrer ganzen Komplexität beobachten. In diesem Kapitel versuchen wir also, den isolierten □MG wieder in das Werden der lebendigen Erfahrung des Metatheoretischen einzugliedern. Allerdings müssen wir zunächst mindestens so weit kommen, dass wir eine Synopsis dessen liefern, was aus dem einleitenden (wenn nicht gar erforschenden) Entwurf folgt, und dies in einer neuen, einzigartigen Erfahrungsform auffassen, bevor wir die grundlegenden Aspekte der metatheoretischen Erfahrung wieder aufnehmen können, um ihre Strukturen zu entfalten. Was ist letztendlich das erste Abbild des Gegenstands, das aus unserer Erforschung des metatheoretischen Horizonts folgt und das für uns bis zum jetzigen Zeitpunkt unbekannt und unerforscht bleibt?
333 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
§ 54. Das erste Abbild des Metatheoretischen Um den Ausgang unserer ersten Erläuterungen des Metatheoretischen (und unserer Darlegungen des »Metatheoretischen«) zu synthetisieren, müssen wir zu genau jenem Punkt zurück, an dem wir annehmen (und immer angenommen haben), Theorien über die Einheit des Wissens, der sapientia universalis, liefern zu können, die aufgrund ihres metaphysischen (oder auch krypto-metaphysischen) Charakters unhaltbar werden. 3 Als grundlegend und ausschlaggebend hat sich die Situation des philosophischen Subjekts bewährt, das glaubt, über die Wissensformen lehren zu können, als wären es minderwertige Formen, als wären sie nichts als einfache, gestaltlose Materie, der die demiurgische Kraft der Philosophie architektonische Gestalt geben könne; kurzum: als herrschten noch die guten alten Zeiten der Metaphysik 4. Jedenfalls genügt es dem philosophischen Subjekt, zu schauen, einen Blick auf den Horizont des Wissens zu werfen, um zu sehen, dass diese Idee der Philosophie eine Illusion ist. Denn allein schon wenn man sich in die Schwärmereien der Sekundärliteraturen zurückzieht, könnte man anfangen, zu glauben, dass die Philosophie das Wissen in seinem starken Vermehren und seiner exponentiellen Modifikation (so wie auch in seinen Krisen, Katastrophen, Umkehrungen, Zusammenbrüchen etc.) fassen kann, ohne sich dabei selbst als Philosophie ab imis fundamentis zu hinterfragen. Man könnte hinzufügen, dass jede Philosophie, die sich als eine Doktrin und als eine Theôria begreift, sowie auch jedes Individuum, das irgendeine Vgl. E. Husserl, Prolegomena zur reinen Logik, cit., Hua. 18, § 69, S. 248. Die Genialität des Aufbaus der Enzyklopädie Hegels liegt genau genommen in der Tatsache, dass sie zu einer klaren und deutlichen Formulierung führt; zum ersten Mal ist der ureigene und versteckteste Instinkt der Metaphysik – nämlich jener, zurückzuführen und alle Strukturen der Manifestation des Wissens in ihrer starren Struktur zu erzwingen – in Form eines angeblich »absoluten Wissens« auf logische Weise bestimmt. In diesem Sinne ist der ursprüngliche Geist der Enkyklios-paideia (Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, 2, 79; 7, 32 und Stobaeus, Opera, 2, 206, 26–28; 3, 246, 1–5; Quintilianus, Institutio Oratoria, 1.10.1) dem Geist der Metaphysik unterworfen (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, cit., § 577, S. 489; Wissenschaft der Logik I, Hamburg, 1963, S. 5). Das offenbart gleichzeitig den versteckten Instinkt der Philosophie selbst oder ihrer narzisstischen Deklination, die annimmt, dass die Gegenstände des Philosophein ein für alle Mal gegeben sind, rein ex conceptu bestimmt und entweder für eine einfache, lokale Neudefinition oder ein einfaches, quantitatives Inkrement empfänglich. 3 4
334 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 54. Das erste Abbild des Metatheoretischen
philosophische Theorie als ein verschlüsseltes »Passepartout« betrachtet, um alle Türen zu öffnen, jetzt im Leeren wandeln sollen. Die Philosophie hat von jetzt an keinen Griff mehr über dieses Innenleben des Wissens, über die Intelligenz und kurz gesagt: das Denken. Die Ausdehnung des Horizonts des Denkens, insofern alle Versuche eines sklerotischen Enzyklopädismus übertroffen werden, ist immer ein Fortschritt jenseits (bzw. diesseits, a parte ante) der Philosophie als Doktrin. Dieses Fehlen eines Griffs, eines Begreifens der Philosophie in Bezug auf die inflationäre Wissensentwicklung ist zunächst der Grund für die Auffassung ihrer Sinnlehre und folglich auch ihres Problematisch-Werdens. Das In-Frage-Stellen und die Tatsache, Gegenstand einer Befragung über ihren eigenen Wesensgehalt selbst zu werden, stellt sich als ausschlaggebend heraus; nicht nur für die Antwort, die wir hier geben, sondern vielmehr für die Anschauung, die, in ihrem intentionalen Wesen dekodiert, die Unmöglichkeit einer zufriedenstellenden Antwort (im Sinne einer eindeutigen Antwort) als solche offenbart. Es gibt keine eindeutige Antwort, weil die Frage selbst schon zweideutig ist und sie als Forderung etwas nicht Forderbares verlangt. Jedoch löst diese Zweideutigkeit – die der Artikulation der Teilvorstellungen selbst entspringt, aus denen sich das Gefragte zusammensetzt und auf denen es basiert, genauer gesagt, die Frage nach dem Wesen – dieses Weiterbestehende und die spekulative Relevanz nicht auf. Ganz im Gegenteil: Es ist in der Tat die Erfahrung der Zweideutigkeit dieser Frage, worauf die Schau, das Theôrein, sich fixieren muss. Eine solche Schau kann zunächst in der Dynamik der Frage etwas feststellen; etwas, das dem philosophischen Subjekt, welches sich für den Verwahrer einer Theôria hält, einfach entgeht. Ohne an dieser Stelle die Analysen, welche die Dynamik der Frage beschreiben, wiederholen zu wollen, genügt es hier, zu bemerken, dass das Subjekt, das noch immer die Formen des Wissens nicht begreift, von denen es annimmt, dass sie der Philosophie als Doktrin – dem im Leeren philosophierenden Subjekt – unterstellt seien, durch diesen Verlust die Öffnung eines völlig neuen Horizontes erfährt. Dieser Horizont ist nicht der erstickende Raum der Metaphysik oder jeder Philosophie als Doktrin. Es geht um den offenen Horizont einer reinen Schau, der kaum der Konzeption einer sklerotischen apriorischen Anordnung von Wissensformen entspricht. Dieser offene Horizont einer reinen Schau ist der Horizont des Wissens in seinen inflationären Formen, in seinem freien und manchmal unvorhersehbaren Wer335 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
den, in den man keine Normativität und keine vorbedingte Klassifizierung drängen kann. In ihn dringt lediglich als neutralisierte Komponente, in Klammern gesetzt, das Vorverständnis des Wissens als solches ein. Es liegt genau an der Form dieser thematischen Öffnung – ohne jegliche Normativität –, dass sich die (falschen und wesensmäßig unproduktiven) philosophischen Unterscheidungen zwischen dem, was Philosophie ist, und dem, was sie nicht ist, zwischen dem, was einer Berücksichtigung als Wissen würdig ist, und dem, was in Gleichgültigkeit verfallen kann und muss, als völlig ohne Sinn erweisen. Folglich ist, was in dieser absolut neutralen Form der thematischen Öffnung aufgehoben wird, die Idee selbst einer metaphysischen Philosophie, das heißt der Anspruch der Metaphysik, aus der Philosophie die summa des Wissens zu machen. Eine solche Neutralisierung der normativen Strukturen der Philosophie, im (mehr als natürlich) metaphysischen Sinne des Begriffs verstanden, öffnet die □metatheoretische Anschauung und öffnet sich der □metatheoretischen Anschauung. Es geht hier um den möglichen Zugang zu einer Anschauung, einer Art der Anschauung, die toto caelo von der Anschauung des Wahrnehmungsdings verschieden ist. Die □metatheoretische Anschauung ist im Prinzip die unmittelbare Anschauung, in und durch ein Etwas getragen, dessen Individuation eine Singularität ist, die dem beschränkten Lauf der Wahrnehmungsindividuation entweicht [infra §§ 100–102]. Jedenfalls unterhält diese Anschauung von □MG selbst im qualitativ absoluten Gegensatz der Individuation und Wahrnehmungssingularität eine kognitive Beziehung mit dieser grundlegenden Anschauung, diese geradezu ontogenetisch ursprüngliche Anschauung, welche die Wahrnehmung ist. Das bedeutet weder, dass die Anschauung der □MG von der Wahrnehmung abhängt, noch, dass sie Ergebnis durch Abstraktion aus der Wahrnehmung ist. Denn es handelt sich hier nicht um eine direkte Abhängigkeit, durch welche die □metatheoretische Anschauung streng genommen niemals betrachtet werden kann. Es geht hier vielmehr um eine kognitive Korrelation zwischen □metatheoretischer Anschauung und Wahrnehmung. Doch zwischen diesen, Anschauung und Wahrnehmung, liegt noch ein dritter Begriff, der einzig die Morphologie der Anschauung mit der sinnlichen Struktur der Wahrnehmung verbinden kann. Die Anschauung des □MG ist nicht unmittelbar mit einer anderen Anschauung in Beziehung gesetzt: Im Fall einer unmittelbaren Beziehung 336 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 54. Das erste Abbild des Metatheoretischen
bräuchte man entweder einen Vergleich unter völlig heterogenen Anschauungsmodi, auf der Basis eines bestimmten Gegenstandsbegriffs (was jetzt nicht möglich ist), oder die Anschauung des Gegenstands müsste als Analogie mit einer Wahrnehmung gedacht werden, was auch nicht möglich ist. Das Verhältnis, das entsteht, ein interpretierendes und grundlegend kognitives, aber kaum konstitutives Verhältnis, ist das Verhältnis, das zwischen einer Anschauung des □MG und einer morphologischen Struktur fortbesteht, die ihrerseits aus seiner Hybridisierung der kategorialen Synthesen über Wahrnehmungsgegenstände entsteht. Die Erfahrung, die eine genetisch-morphologische Strukturierung hat, und die kategorialen Akte – die auf einfachen wahrnehmenden, das heißt nicht kategorialen Anschauungen gründen – erreichen einen autonomen Bestand als Struktur des Gegenstands (und Struktur des Urteils), welche die fortschreitende und fortschreitend veränderliche Erfahrung ausrichtet. Anders gesagt: Die Wahrnehmungserfahrung empfängt durch die Überlagerung, durch die Wiederholung und die Sedimentierung kategorialer Akte eine Typisierung, die allererst ihre eigene regionale Ontologie strukturiert. Diese Typisierung aus der Wahrnehmungsform der Erfahrung, obgleich immer mit der Wahrnehmung als Struktur, bestehend aus kategorialen Anschauungen (und folglich auch mit kategorialen Akten und propositionalen Setzungen), verbunden, besteht dennoch durch sich selbst fort und als Schema weiter, um die geradezu gestaltlichen, visuellen und anderen Formen des Wissens zu interpretieren. Dieser kognitive Typus wird als solcher nicht nur in seiner ursprünglich konstitutiven Funktion genommen, sondern als Bild, als allgemeines Schema der (besonderen) Gegenständlichkeit, um die eigene strukturelle Morphologie einer anderen Anschauung anzustreben. In diesem Fall geht es um die □metatheoretische Anschauung. Das bedeutet nicht, dass der elementar-kognitive Typus eine absolute, unantastbare Form morphologischer Gestaltung einer anderen Anschauung repräsentieren muss. Aus genau diesem Grund sprachen wir von Spekularität und nicht von Überlagerung oder von Implementierung. Um einmal in bildlicher Sprache zu sprechen und die Metapher vom Bild im Spiegel zu erklären: Der elementar-kognitive Typus stellt für das □metatheoretische Subjekt eine krumme Oberfläche dar, auf die man zwangsweise schauen muss, um den Gegenstand der □metatheoretischen Anschauung begreifen zu können. Diese Oberfläche gibt ihrerseits offensichtlich ein verzerrtes Bild 337 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
im Spiegel. Diese Verformung, auf metatheoretischer Ebene in die Mitte der zwei Anschauungen übertragen, gibt wesensmäßig eine Deformierung an, von der wir geneigt sind, sie »ontologisch« zu nennen – nach der das ontologisch-regionale Modell der Wahrnehmung nichts als ein Interpretationsmodell eines anderen anschaulichen Moments ist, dessen bildliche Morphologie wir nicht verstehen. Die ontologische Deformierung zwischen den zwei Arten der Anschauung impliziert notwendig einen elementar-kognitiven Typus von Arbeit an einem Spiegelbild. Wie in der Optik können wir das Bild im Spiegel auf den Gegenstand zurückführen, indem wir den Koeffizienten der Verformung der katoptrischen Oberfläche betrachten. In der Erfahrung des Metatheoretischen können wir an dieser ersten Verbildlichung der □metatheoretischen Anschauung arbeiten, die ihr ihre erste morphologische Strukturierung liefert, um letztendlich eine eigene, scharfsinnige Definition ihrer wirklichen und grundlegenden »Morphologie« zu geben.
§ 55. Die Analyse des □MG vom Standpunkt der Erkenntnisund der Wissenschaftstheorie Die Analyse des □MG und seiner phänomenologischen Natur wirft viele Probleme auf, vor allem in dem Moment, in dem sie nicht mehr als bloße Einführung, sondern vielmehr als strenge Fixierung verstanden wird. Von welcher Natur ist eine solche Legitimität? Es ist eine Legitimität, die auf einer Schau gründet. 5 Was uns in diesem Fall in erster Linie interessiert, ist, dass jede Erfahrungsform eine thematische Sphäre miteinschließt. 6 Nun muss auch das, was im Kontext einer bloßen erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Diskussion als eine »Ordnung der Betrachtung« erscheint, notwendig und unvermeidbar von seinem normativen Wert geleert sein. Gemäß dieser Ordnung, die eine Beziehung zu der lokalen Betrachtung der aufgefassten, individuierten Gegenständlichkeiten hat, die von einer Wissenschaft konstruiert worden sind, können wir einzig im Nach-
5 Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, cit., Hua. 17, S. 179: »Jedes ›Sehen‹ bzw. jedes in ›Evidenz‹ Identifizierte hat sein eigenes Recht, desgleichen jedes in sich geschlossene Reich möglicher ›Erfahrung‹ als Gebiet einer Wissenschaft, als ihr Thema im ersten und eigentlichen Sinne.« 6 Ebd.
338 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 55. Die Analyse des □MG vom Standpunkt der Erkenntnistheorie
hinein in der Sphäre ihrer Kritik, das heißt als einheitliche Annahme, als Thema, ankommen. In der Tat ist die wissenschaftstheoretische Betrachtung als »zweite« thematische Sphäre nichts anderes als eine versteckte, implizite und ipso facto unvollständige metatheoretische Betrachtung. Man denkt tatsächlich, dass man die intrinsische Dynamik einer Wissenschaft als thematische Sphäre auf absolut neutrale Weise erfassen kann, als gäbe es einfach etwas zu beobachten, das sich als einfache vorhandene Sache präsentiert. Man bemerkt nicht, dass das, was hier am Werk ist, nicht mehr und nicht weniger als eine metatheoretische Betrachtung ist, die bereits darin fortgeschritten ist, die theoretischen Gegenstände als Themen zu individuieren, deren einzelne Komponenten im Anschluss analysiert werden. Das Problem ist hier, dass die Analysemethode der wissenschaftlichen Vorgänge annimmt, dass der wissenschaftstheoretische Ausgangspunkt etwas ganz Natürliches sei, was aber bei genauerer Betrachtung als falsch erscheint, weil eine solche Annahme implizit metaphysisch ist. Dieser Irrtum besteht genauer gesagt darin, dass die Vorrangstellung zwischen einer Wissenschaft (oder Wissensform) actu operandi auf der einen Seite und der Anschauung, die sich in einer wissenschaftlichen Praxis verortet, auf der anderen Seite umgekehrt wird, ohne dass wir dabei die Basis der Kriterien diskutiert haben. Wir erkennen etwas als Thema einer wissenschaftstheoretischen und folglich auch metatheoretischen Betrachtung an. Anders gesagt: Der Irrtum besteht einfach im hysteron-proteron, gemäß dem man annimmt, zuerst die einzelnen Ausgangspunkte der Wissenschaften erfassen zu können und anschließend einen noch komplexeren Gegenstands, nämlich diese Form der Wissenschaft qua talis, als ob der Charakter dieser Wissenschaft nicht diskutiert werden sollte und von einem absolut neutralen Zuschauer, ohne Geschichte, ohne Situationalität, erfasst werden könnte. So kann, behauptet man, die dritte Sphäre der Betrachtung, jene der Aktivität des Subjekts, eine transzendentalidealistische Anordnung des Wissens – des Wissens, das man als Wissen gewählt hat – erreichen: »Endlich hat aber jede Wissenschaft eine dritte thematische Sphäre, ebenfalls eine solche der Kritik, aber eine anders gewendete. Diese betrifft die zu jedem Gebiet und jeder mit ihm beschäftigten wissenschaftlichen Leistung zugehörige konstituierende Subjektivität.« 7 Husserl erkennt hier sicherlich die Funktion 7
Ebd. S. 179.
339 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
und das Wesen jeder Erkenntniskritik an, ohne dadurch die intrinsische Metaphysik wahrzunehmen, die selbst seine Idee einer Erkenntnistheorie beinhaltet. 8 Die metaphysischen Voraussetzungen kommen hier mit einer erschreckenden Klarheit heraus, wie auch das hysteron-proteron das die Basis der metaphysischen Vorannahmen selbst ist. Was sagt man über das Subjekt der transzendentalen Erkenntniskritik? Warum darf es nicht als Thema einer Analyse angenommen, anstatt auf so weltfremde Weise, als etwas ohne Geschichte und ohne Ort, betrachtet zu werden? Die nächste Frage ist folgende: Warum sollte seine Schau nicht eingeklammert werden? Noch stärker formuliert: Warum kann die Erkenntnistheorie oder auch -kritik nicht relativiert werden? Schon wird der metaphysische Engpass der traditionellen Kritik oder Theorie der Erkenntnis zu einem Gedanken, der trotz allem naiv ist. Entweder relativieren wir die Theorie oder Kritik der Erkenntnis, indem wir sie zum Thema einer anderen Theorie machen und in den regressus in infinitum fallen, der jegliche Letztbegründung verhindert, oder wir fügen mit einem Paukenschlag eine Erkenntnistheorie ein, die sich durch sich selbst legitimiert (auch unter dem Namen der transzendentalen bzw. konstruktiven Phänomenologie). Es geht tatsächlich um den Paukenschlag einer absoluten Schau, die unfähig ist, sich kraft ihrer eigenen metaphysischen Vorannahmen zu begründen. Wir können diesen Engpass überwinden, wenn wir weiterhin Einwände gegen eine metaphysische Grammatik hervorbringen. Das Paradoxon liegt in der Tatsache, dass das Subjekt einer solchen Erkenntnistheorie niemals ein neutrales Subjekt ist. Es wird zu einer Ebd.: »Gegenüber der Kritik der offensichtlich im Bewußtseinsfelde auftretenden Vorgegebenheiten, Handlungen und Ergebnisse haben wir es hier mit einer ganz anders gearteten Erkenntniskritik, der der konstitutiven Ursprungsquellen ihres positionalen Sinnes und Rechtes zu tun, also der Kritik der im geradehin dem Gebiet zugewandten Forschen und Theoretisieren verborgenen Leistungen. Es ist die Kritik der (sei es psychologisch oder transzendental gefaßten) ›Vernunft‹, oder wie wir im Gegensatz zur analytischen Erkenntniskritik sagen können, die transzendentale Kritik der Erkenntnis«. Eine solche implizite Metaphysik wird durch den Bezug auf Urtatsachen klar und deutlich expliziert. Vgl. dazu L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg – München, 2014, S. 171– 227 und A. Schnell, Hinaus. Entwürfe zu einer phänomenologischen Metaphysik und Anthropologie, Würzburg, 2011. Die Analytische Philosophie, in der heutigen (sogenannten) Renaissance in Metaphysics, zeigt einen identischen Gestus der Fortsetzung der Wissenschaftstheorie in der Metaphysik.
8
340 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 55. Die Analyse des □MG vom Standpunkt der Erkenntnistheorie
Art neutralisierter Subjektivität durch die Analyse der Erfahrung jener versteckten Zweideutigkeit in der Frage »Was ist die Philosophie?«. Überdies ist das Subjekt der Erkenntnistheorie niemals absolut oder nicht relativierbar. Es wird relativ, es wird relativiert angesichts der Erfahrung derselben Zweideutigkeit, die seinen metaphysischen Anspruch eines »philosophischen Subjekts« antreibt. Das metaphysische hysteron-proteron der Philosophie realisiert sich genau dort, wo man es als ein neutrales Subjekt der Erkenntnistheorie verabsolutiert und annimmt; als wäre es Akteur einer ungebundenen Erfahrung. Doch die Aporien dieses hysteron-proteron werden niemals überschritten werden, wenn nicht durch die Ausarbeitung einer völlig neuen spekulativen Grammatik, die sich offensichtlich der Werkzeuge der intentionalen Beschreibung bedient, doch einzig und endgültig angesichts der Tatsache, dass diese Beschreibung an etwas orientiert ist, das selbst eine Erfahrung, eine Form der Erfahrung ist. Das ist gleichwertig damit, zu sagen, dass diese Kritik »anders gewendet« ist. Doch diese betrifft nicht mehr »die zu jedem Gebiet und jeder mit ihm beschäftigten wissenschaftlichen Leistung zugehörige konstituierende Subjektivität«, 9 das heißt keine dritte, auf idealistische Weise untergeordnete Sphäre, genauso wie die wissenschaftliche Erfahrung der Sphäre ihrer Kritik eingeschrieben sein könnte. Sie stellt sich einfach als Analyse einer anderen Erfahrungsform heraus, die wir nun als Sphäre der Erkenntnistheorie definieren können, die einzig außerhalb und in der Unwissenheit dieser neuen Perspektive ist – nämlich die des »Metatheoretischen«. Durch das Metatheoretische überschreiten wir diesen Atomismus der Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorien schnell, denselben Atomismus, der tatsächlich jeder Theorie ihre einzige Sphäre zuschreibt. Es geht tatsächlich um eine idealistisch monistische These, die darin besteht zu behaupten, dass einzig ein transzendentaler Idealismus alle Theorien bzw. alle Wissensformen zusammenbringen kann, um im Nachhinein eine Anschauung des Ganzen zu bieten. Dennoch stellt sich heraus, dass diese Anschauung des Ganzen weder fassbar noch zugänglich ist, wenn sie sich nicht zuerst als Anschauung des ganzen Feldes zeigt, das heißt als Voröffnung eines thematischen Horizonts. Ein solcher thematische Horizont überschreitet qualitativ die Singularität und die Partikularität dessen, was wir grob 9
E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, cit., Hua, 17, S. 179.
341 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
als die zweite singuläre Sphäre jeder atomistischen, wissenschaftlichen Tätigkeit verstehen können. Diese Anschauung des Ganzen besteht und entwickelt seine Strukturen, seine Grammatik der Schau jenseits und vor der Möglichkeit selbst, etwas als eine zweite Sphäre der Erkenntnis- bzw. Wissenstätigkeit erfassen zu können, die ihrerseits zu jeder bestimmten Erkenntnistätigkeit relativ ist. Denn es ist im Inneren dieses Ganzen als Horizont, dass eine Erkenntnistätigkeit, die von den anderen verschieden ist, eine dynamische und manchmal in die anderen übergreifende Verbindung schafft. Doch im Inneren dieses Horizonts, der sich vor jeder Idee der Erkenntnistheorie öffnet, sind die metaphysischen, normativen Unterscheidungen sowie die Vorurteile darüber, was wir rechtmäßig Wissenschaft nennen oder auch nicht nennen können, de facto neutralisiert. Die Neutralisierung der normativen Unterscheidungen – oder einfacher der metaphysischen Vorurteile – führt auf diese Weise dazu, dass in der thematischen Öffnung des Metatheoretischen sich theoretische Strukturen einfach als Gegenstände manifestieren können. Diese absolut nicht normative Erfahrung wird auf phänomenologische Weise beschrieben. Die Analyse verdoppelt sich folglich nicht und ist auch nicht gezwungen, sich zu einem Idealismus bzw. zu einer Metaphysik der Urtatsachen oder der Struktur der Welt zu erheben. Durch die Entdeckung des Metatheoretischen oder besser gesagt durch die Erklärung des intentionalen und selbstständigen Wesens des Metatheoretischen (versteckt durch die metaphysischen Vorurteile jeder Erkenntnistheorie) findet das Denken eine Erweiterung seines Feldes von Fragestellungen vor, indem es ein neues Beschreibungs- und Arbeitsfeld entdeckt. Da es sicherlich um eine Beschreibung geht, stellen sich das Eidos und der Logos des □MG als Erfahrungsmodi dessen heraus, was sich in sich und einzig durch sich im Inneren ihrer eigenen thematischen Öffnung zeigt. Was einer solchen Erscheinung oder einer solch anderen, □metatheoretischen Gegebenheit vorausgeht, ist nicht eine Mannigfaltigkeit von auf schädliche Weise versammelten, logischen Strukturen in der Form einer Wissenschaft, sondern die Öffnung, die ipso facto die Gültigkeit jedes Vorbegriffs der Wissenschaft aufhebt und etwas Einheitliches gegenüber seinen Teilen manifestieren lässt. Die Erfahrung des □MG – oder die Erfahrung von etwas, das sich im metatheoretischen Horizont zeigt (was dasselbe ist) – ist das, worauf sich die Schau richtet.
342 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 56. Analyse des □MG gemäß dem Eidos
§ 56. Analyse des □MG gemäß dem Eidos Jede Wissenschaft bzw. Wissensform, die reduktiv als thematischer Gegenstand der Erkenntnistheorie dargestellt wird, ist – in ihrer Fragmentierung und, wenn man will, auch in ihrer inflationär-atomaren Multiplikation – etwas Fixes, Sklerotisches. Aber von Näherem betrachtet, sind nicht die Theorien selbst – also die Wissenschaften bzw. Wissensformen, die als thematischer Untersuchungsgegenstand verstanden werden – das, was sklerotisch ist: Es ist im Gegenteil das Thêorein, die Schau der Erkenntnistheorie selbst. Die traditionelle Erkenntnistheorie nimmt entweder eine besondere Wissenschaft zum Muster der Erkenntnis, durch das sie dann auf normativ-unterscheidende Weise die anderen Erscheinungen des Wissens beurteilt, oder sie begreift selbst auf völlig idealistische (wenn nicht solipsistische) Weise das, was man »Wissen« nennen muss, und das, was man nicht so nennen darf, bzw. das, was man als Wissen betrachten muss, und das, was man nicht als Wissen betrachten darf. Jedenfalls wird die Theorie, auf welche die klassische Erkenntnistheorie ihre Schau richtet, als etwas a priori ontologisch Festgesetztes und Statisches erscheinen: Es gibt bereits Theorien, wir finden sie vor, sie bestehen »irgendwie«, wir können sie mehr oder weniger gemäß lokalen Modifikationen erweitern bzw. integrieren. Umgekehrt ist das, was sich im metatheoretischen Horizont manifestiert, nicht zwingend eine Theorie im Sinne einer axiomatischen Idee der Theorie, die eine Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie behaupten könnte, d. h. eine Wissensform, die notwendig die Schwelle der Epistemologisierung überschreiten muss 10. Es ist eine Wissensform, eine Form die nicht notwendigerweise nach dogmatischen erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Annahmen bestimmt werden muss. Das verhindert kaum, dass im Inneren des metatheoretischen Horizonts Theorien als solche erscheinen können, im Gegenteil. Das, was sich im metatheoretischen Horizont zeigt, ist nicht einfach eine Theorie im obsoleten und sklerotischen Sinne des Wortes. Dennoch ist die Definition des □MG als »theoretische Struktur« neutral – allerdings verfeinert durch eine gerechtfertigtere und scharfsinnigere Beschreibung des problematischen Feldes und der problematischen Verbindung zwischen Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und der dritten Sphäre der Betrachtung, in An10
Vgl. M. Foucault, Archäologie des Wissens, cit., S. 266.
343 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
betracht der problematischen und spekulativen Erweiterung, die mit der metatheoretischen Perspektive als solcher eingeführt wurde. Unter »theoretischer Struktur« verstehen wir das Ergebnis eines Sedimentierungsprozesses und der morphologischen Strukturierung der Elemente, die einen bestimmten theoretischen Zugang zur Phänomenalität (zum Erfahrungsboden) bieten, strukturieren und entwickeln [infra §§ 114–116]. Das führt uns direkt in die spekulative Problematik einer besseren und scharfsinnigeren Definition des Eidos des □MG. Folglich können wir in der Klasse der □MG selbstverständlich auch Theorien als solche anerkennen, welche die Gegenstände der traditionellen Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftstheorie sind. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist umgekehrt die morphologische und strukturelle »Plastizität«, die man im metatheoretischen Horizont finden kann; es geht um eine morphologische »Plastizität« oder »Variabilität«, die sicherlich den Übergang des traditionellen Begriffs der Theorie zu dem des □MG impliziert. 11 Die Gleichwertigkeit zwischen dem Symbol »□« und der Situation, die es bezeichnet, das »Sich-im–metatheoretischen-Horizont-Zeigen«, stellt keine barocke Entscheidung dar, sondern zeigt die Notwendigkeit, die Ausdehnung der Möglichkeiten einer morphologischen Strukturierung dessen zu erweitern, was sich sicherlich zu sehen gibt und erscheint. Während es sich manifestiert, ist es Gegenstand einer Erfahrung und in dieser Erfahrung, in ihrer Beschreibung, liegt exakt die Aufgabe, die darin besteht, die Subjekt-ObjektBeziehung gemäß dieser Form der Intentionalität zu beschreiben. Das Eidos des □MG ist folglich keine ontologische Eigenschaft des Gegenstands, sondern die morphologische Struktur einer ErscheiDie Bedeutung, die wir den Strukturen zuerkennen, tritt für eine bestimmte philosophische Theorie nicht aus einer subjektiven Orientierung hervor. Denn wie wir gesehen haben, kann jede philosophische Wahl nur arbiträr sein (zufolge des »metaphilosophischen elenchos«, das wir zuvor formuliert haben, Buch I, Kap. III, Fn. 1). Das tritt ganz einfach aus einer noch elementareren Situation hervor: Das, was das Wissen konstituiert, ist ganz einfach die Fähigkeit, die das Wissen hat, Strukturen, sowie ihre Entstehung bzw. ihre Variation hervorzuheben. Ein metatheoretischer Ansatz muss folglich »nur« die Invariante solcher Strukturen, ihrer Entstehung bzw. ihrer Variationen hervorheben. Und dasjenige, dass das Spekulativ bestimmt, ist ganz einfach, wie wir sehen werden [infra Kap. XI-XIII], die Fähigkeit, die es hat, eine Reflexionsbeziehung zwischen diesen Invarianten von Strukturen und demjenigen, das nicht strukturiert ist, dem Unstrukturierten, einzuleiten. Das spekulative Denken kann also nur in dem (modularen) In-Reflexionsbeziehung-Setzen zwischen der Dimension selbst des Unstrukturierten und der Dimension der Strukturen bestehen.
11
344 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 56. Analyse des □MG gemäß dem Eidos
nung, die durch eine intentionale Aktivität erfasst und organisiert wird. Gerade beim Betrachten und Beschreiben der Grammatik dieser metatheoretischen Schau treffen wir auf das □Eidos, als erstes intentionales Korrelat, als Aspekt der Gegenständlichkeit, die sich zu erkennen gibt. Das Eidos des □MG ist offensichtlich nicht die erfasste Notwendigkeit der Erscheinung oder die Erscheinung selbst als ontologische Eigenschaft, weil der □MG weder ein Eidos noch eine vorherbestimmte Idee dessen, was eine Theorie sein soll, hat. Das □Eidos ist das, was man den charakterisierenden Aspekt des Gegenstandes nennt, das heißt das, was sich dank der Wiedererkennung dessen, was sich zeigt, als etwas zeigen kann, das semantisch determiniert und strukturiert ist. Die Aufhebung der normativen Bestimmungen, die durch die Öffnung der metatheoretischen Perspektive als solche wirken, impliziert offensichtlich ein minimales und notwendiges Vorverständnis der Gegenstände, die sich im Inneren dieser Perspektive zeigen. Das bedeutet, dass die Anschauung des □MG, genau wie jede andere Anschauung, um als eine solche anerkannt zu werden, von einer Bedeutung und einem Netzwerk von Idealitäten – und von einer Idealität im Besonderen – durchquert werden muss. Diese Idealität bzw. diese Bedeutung stellt sich als Träger einer impliziten Bedeutung und in jedem Fall als Vorverständnis eines □MG als solcher heraus. Es ist also das Eidos des □MG, das durch den Schlüssel des metatheoretischen Schauens selbst, als Ergebnis dieser ersten Annäherung, dieses Flechtwerks zwischen Anschaulichkeit und Idealität, wie es im Schaffen beim Zusammentreffen mit dem Gegenstand ist, identifiziert werden kann. Wenn wir behaupten, dass die Auffassung oder die Anerkennung von etwas einen Sinn hat, kann das nichts anderes bedeuten, als dass es eine Identifikation gibt, das heißt eine implizite oder nicht wahrnehmbare Zuschreibung einer Bedeutung und die Zuschreibung zu diesem Etwas eines bestimmten Platzes in einem Bedeutungsnetz bzw. einer semantischen Topologie. Nehmen wir also den □MG als »theoretische Struktur« auf, das heißt als »Ergebnis einer Sedimentierung und der morphologischen Strukturierung der Elemente, die einen speziellen Zugang zur Erscheinung gewähren«. Diese Skizze ist, wenn man so will, weder präziser noch unpräziser als eine ganz allgemeine Definition des »Wahrnehmungsgegenstands« bzw. des »Erinnerungsgegenstands«. Ein solcher Mangel an Präzision – d. h. die konstitutive Zirkularität, die zwischen der Erfahrung jeder Gegenständlichkeitsform und ihrem Begriff besteht – cha345 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
rakterisiert den □MG nicht mehr als andere Gegenstandstypen (Wahrnehmungsgegenstand, logischer Gegenstand, ästhetischer Gegenstand usw.). Diese Zirkularität trägt noch einmal dazu bei, die normativen Vorschriften der Erkenntnistheorie in Klammern zu setzen, wie auch zum Beispiel eine idealistischen Theorie der Wahrnehmung; doch sie trägt kaum dazu bei, aufzuklären, was man vom Standpunkt unserer Analyse aus unter dem Eidos des □MG verstehen muss. Dasselbe gilt, auch wenn das seltsam klingen mag, für den elementar-kognitiven Typus, der eine spekulative Beziehung mit der Anschauung der □MG eingeht. Denn wenn sich dieser elementarkognitive Typus als entscheidend für die Verbildlichung des □MG herausstellt, kann er in keiner Weise zur Klärung des »Sich-anerkennen-Lassens« des □MG qua □MG beitragen, d. h. seine Eigenschaft als □MG bestimmen.
§ 57. Das □Eidos und die Modellierung Das Eidos muss folglich sowohl vom □MG als auch von seiner Verbildlichung (oder von jeder anderen möglichen Form einer visuell scharfsinnigeren Modellierung) unterschieden werden. Die Anerkennung der Anschauung als Erscheinung eines □MG antizipiert sein »In-die-spekulare-Beziehung-Treten« mit dem elementar-kognitiven Typus (und mit jeder anderen Form der bildlichen Modellierung). Wenn dieser fundamental kognitive Typus wesentlich für die Arbeit über das Metatheoretische als solches ist, kann er kaum dazu beitragen, den □MG als Gegenstand einer Anschauung zu identifizieren. Das Eidos des □MG ist folglich nicht seine visuelle Form, seine Abbildung durch den elementar-kognitiven Typus, sondern ein Teil, ein Bestandteil dessen, was durch die Beziehung der Spekularität mit dem elementar-kognitiven Typus (oder jedem anderen Typus der Modellierung) abgebildet wird. Es stellt sich heraus, dass dieser Bestandteil die polarisierte Bedeutung einer Idealität ist, mit all ihren Spezifikationen und ihren möglichen Artikulationen, welche die □metatheoretische Anschauung als Anschauung des Gegenstands, der Sachlage oder eines □metatheoretischen Ereignisses festigt. Anders gesagt: Das □Eidos ist das Ergebnis der Anwendung der Intentionalität auf die Anschauung, auf ein visuelles Modell im metatheoretischen Horizont. Das bedeutet kaum, dass dieses Zusammentreffen einzig durch 346 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 57. Das □Eidos und die Modellierung
eine Deckungssynthese zwischen der allgemeinen Idealität des □MG und seiner betreffenden Anschauung charakterisiert werden muss. Sowohl in der ontologischen Regionalisierung der Anschauung als Wahrnehmung als auch in der ontologischen Regionalisierung als metatheoretische Anschauung erreichen wir niemals oder fast niemals etwas allein durch die Deckungssynthese der Anschauung und des allgemein-regionalen Begriffs des Gegenstands. Wenn wir eine Sache wahrnehmen, etwa einen möblierten Raum, zwei Apfelbäume im Garten, einen Obsthändler, nehmen wir fast niemals einen anonymen Wahrnehmungsgegenstand wahr, weil die Intelligenz immer das Unbekannte auf das Bekannte zurückführt (sogar durch die Verzerrung von Einschätzungen und unter dem Risiko von Fehlern). Analog hierzu erfassen wir einfach auf intuitive Weise fast niemals den □MG, doch □MG gemäß einer spezifischen Identifikation: »die …-Theorie«, »die Probleme hinsichtlich …«, »die problematische Beziehung zwischen … und …«, »die Aporien des …«, »das theoretische Fundament von …«, »die Axiomatisierung von …«, »die Anwendungsprobleme der …-Theorie« etc. Das bedeutet, dass das Eidos des □MG bzw. die Identifikation irgendeiner □metatheoretischen Anschauung die Struktur von genera und species voraussetzt. Eine solche Struktur gehört zum Reservoir an Bedeutungen, das sich als Zugrundeliegendes (als Vorverständnis der Struktur, die frei von Normativität ist) herausstellt oder auch aus der fortdauernden Erfahrung der Gegenständlichkeiten, die sich im Inneren des metatheoretischen Horizonts ergeben, entspringen kann und muss. Dass das Eidos des □MG als Synthese des Zusammentreffens wesentlich von der Bedeutsamkeit abhängt, die sich topologisch orientiert und situiert, impliziert zwei wesentliche Eigenschaften der metatheoretischen Erfahrung: 1)
ihr nicht-ontologischer Bestand in dem Sinne, dass das, was durch die Bedeutung fixiert ist, nicht zu einer getrennten »Realität« gehört, die im Voraus angenommen werden könnte;
2)
ihre wesentlich »modulare« Natur, im Sinne einer Pluralität dessen, was wir – auf der Basis einer traditionellen Erkenntnistheorie – als »Theorien« betrachten dürfen.
Die Theorien bzw. die Wissensformen sind schließlich nichts anderes als □MG mit □Eidê, die ihnen eine gewisse Identifizierungsmöglichkeit verleihen. In demselben Sinne ist ein Obsthändler nicht die ontologische Gesamtheit eines Keramiktellers mit zwei Äpfeln, drei 347 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
Bananen und vier Kiwis, sondern dieser Obsthändler in seiner inneren, intentionalen Identität und morphologischen Plastizität, welche sich in der alltäglichen Erfahrung zeigen. Auf jeden Fall muss man, jenseits dieser elementaren Präzisierungen, einen wesentlichen Unterschied unterstreichen, dessen Fehlverständnis Gelegenheit zu vielen Missverständnissen bieten könnte. Es ist wichtig, zwischen den Idealitäten zu unterscheiden, die eine Identifikation der Gegenstände der □metatheoretischen Anschauung erlauben, und den Idealitäten, die als Knoten und Punkte oder Bestandteile des □Eidos anerkannt werden können. Es ist in der Tat die Deckungssynthese zwischen der Anschauung des □MG und der Idealität, die ihr eine Identität und eine Identifikation – die seine Topologie und die Bedeutung polarisiert [infra § 111] – zuspricht, sodass wir das Eidos als eine nicht nur einfache und atomare Realität erfassen können, sondern als zusammengesetzt aus den zwei Dimensionen der Semantik und der Syntax [infra § 113]. Es ist folglich nötig, eine Vorrangstellung der Deckungssynthese und der Identifikation anzuerkennen, deren Ereignis nichts anderes als das □Eidos ist, über eine strukturelle und morphologische Analyse der ersten Erscheinung des □MG, die das □Eidos als eine Artikulation der beiden Koordinaten des Gegenstands selbst herausstellt. An diesem Punkt, können wir auf noch präzisere und scharfsinnigere Weise an dieser Spekularität – welche zwischen der Anschauung des □MG und dem elementar-kognitiven Typus (der ihm seine Abbildung gibt) besteht – arbeiten. Wie es bei einem Großteil der Erfahrungsformen und auch in der metatheoretischen Erfahrung vorkommt, ist es einzig die Identifikation des Gegenstands, das heißt seine Einschreibung in eine Topologie [infra § 116], welche die Perspektive einer morphologischen Betrachtung ausbreitet. Jedoch erkennt die morphologische Betrachtung – wie die Erfahrung in der Wahrnehmung – an diesem Punkt keinen Gegenstand, dessen Koordinaten in einen isomorphen Raum eingeschrieben sind (wenn das der Fall ist – und das ist nicht sicher). Im Metatheoretischen artikulieren sich die Koordinaten in einer Strukturform, die nicht isomorph ist. Es ist genauer gesagt eine solche dimensionale Unförmigkeit, die uns zwingt, den □MG nur in der Spekularität mit dem elementar-kognitiven Typus »darzustellen«. Jedenfalls ist das, was uns hier interessiert, nicht die Strukturform, verstanden als ontologisches »An sich« bzw. als unabhängig von dem Modell, das sie visualisiert, sondern diese Strukturform als Gegenstand einer Erfahrung. 348 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 57. Das □Eidos und die Modellierung
Das □metatheoretische Subjekt sieht die Strukturform des Gegenstands, kann ihn untersuchen, analysieren und ihn gemäß seiner dynamischen Erfahrung beschreiben, die sich aus der einfachen »Konzeption« entwickelt und sich von ihr abnabelt. Der Gegenstand offenbart sich als etwas, dessen Morphologie fortschreitend erfasst und aufgedeckt werden kann. Dieses Aufdecken, die Untersuchung des Gegenstands gemäß des inneren Horizonts, ergibt sich aus der Dynamik der Aufmerksamkeit, die die Morphologie – das heißt die Strukturform – präzisieren und auf scharfsinnigere Weise definieren kann, indem sie gleichzeitig die Abschnitte gemäß der Abstraktion und der Neutralitätsmodifikation isoliert. In diesem Sinne ist die noematische Erfahrungsform nicht ausreichend, da es keine Erfahrung gibt, die nicht noematisch und frei von jeder »noetischen« Struktur wäre. Das Eidos des □MG hat an der Schnittstelle zwischen der noetischen und der noematischen Dimension keine ontologisch gesetzte Realität: Das Eidos, wie wir detaillierter in § 60 betrachten werden, ist aus diesem Grund nur eine Perspektive der fortschreitenden Erfahrung, die sich offensichtlich in den Raum der Anschauung einschreibt. Diese fortschreitenden Formen der metatheoretischen Erfahrung erscheinen folglich als nachträgliche Definitionen der Teile – oder auch des Ganzen – des einfachen Eidos des □MG. Das □metatheoretische Subjekt konstruiert das □Eidos nicht und auch nicht den Gegenstand, von welchem das □Eidos nur einen jeden Aspekt repräsentiert, der sich ihm zeigt: Das Subjekt tut nichts anderes, als den Gegenstand zu untersuchen und ihn schrittweise zu entdecken, indem jene Strukturform definiert wird, die auf den ersten Blick fast niemals festgesetzt scheinen kann. Indem das Subjekt den Innenhorizont des Gegenstands untersucht, kann es zunächst alle Termini (Punkte und Knoten) in einer möglichen, kodierten Modellierung betrachten, das heißt deskriptiv ihre semantischen Dimensionen durchlaufen und die Syntax (bzw. die Grammatik) abstrahieren, die sie in Verbindung zueinander setzt, die sie »bündelt«, ohne insofern mehr als eine anonyme Liste oder vielmehr Formlosigkeit zu erhalten. Das Subjekt kann sogar diese Struktur nur vom logischen bzw. erkenntnistheoretischen Standpunkt betrachten, aber es wird nicht mehr als eine Menge an Begriffen bzw. an logischen Prozeduren erhalten: eine ohne jegliche Tiefe herauskristallisierte formale Struktur. Die Realität des □MG ist, selbst wenn sie im Moment nur gemäß ihres □Eidos begriffen wird, nicht reduzierbar, weil sie sich ja in einer
349 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
Erfahrung, als Ergebnis einer Zusammenfassung von zerstückelten Komponenten, anschaulich zeigt. Die Totalität des □MG als Phänomen überschreitet die Teile, die wir isolieren, in einem Großteil der Fälle hinsichtlich der Kurzsichtigkeit und der Unwissenheit des Metatheoretischen qua talis. Wenn ich eine kodierte Syntax auf eine Semantik anwende, habe ich keine Theorie bzw. Wissensform, und keinesfalls erfahre ich einen □MG, weil eine Wissensform nicht das Ergebnis einer gut geplanten Konstruktion sein kann [infra § 113]. Wenn wir den □MG betrachten, wenn wir ihn von den ihn umgebenden Gegenständen isolieren, können wir unsere Schau auf seine Strukturform, seine Morphologie oder einen einfachen Teil richten; wenn wir einen Teil der Struktur isolieren und beschreiben, können wir sehen, auf welche Weise die Termini (oder Knoten oder Punkte) mit der Syntax in Verbindung treten. Auf diese Weise kann ich diese Strukturform, die zunächst vage und unpräzise erschien, fortschreitend beschreiben und spezifizieren. Wie in allen Anschauungen, stellt die Beobachtungsarbeit zwei Probleme für eine intellektualistische Theorie dar: 1.
die Unmöglichkeit, die Form des Gegenstands ex nihilo zu konstruieren und zu beschreiben;
2.
die Notwendigkeit, eine Form der Modellierung anzunehmen, an deren Schnittstelle wir ein Bild der Gesamtheit der Ergebnisse der Teilanalysen oder, besser gesagt, der Lokalanalysen entwickeln und neu bilden können.
All das stellt eine Modellierung in Frage, das heißt, wenn man so will, die Spekularität mit der Anschauung; doch nur, weil wir schon ein Bewusstsein für den radikalen Unterschied zwischen □Eidos und Anschauungsgegenstand entwickelt haben. Das □Eidos ist, selbst wenn wir es »seinen Aspekt« nennen, nicht seine wahrnehmbare Visualisierung gemäß solcher oder anderer Modellierungsmethoden. Gemäß dieser Beobachtung und der fortschreitenden Spezifikation des Eidos des □MG nimmt der Gegenstand strukturelle Charaktere an, da die Strukturform nicht mehr auf allgemeine Weise skizziert, sondern auf eine Klarheit zurückgeführt ist, welche die bestimmenden Besonderheiten erkennen lässt. Dennoch stellt die fortschreitende Analyse des Eidos des □MG nur einen internen Aspekt dar, nur eine Orientierung der Erkundung des Horizonts des Gegenstands – das heißt der Erkundung seiner Morphologie und seiner Strukturform. Wenn es einen □MG gibt, der sozusagen der willkürlichen Konstruktion »wider350 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 58. Analyse des □MG gemäß seinem Logos
spricht«, ist das einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass der Gegenstand durch eine Dicke zu verstehen ist.
§ 58. Analyse des □MG gemäß seinem Logos Dasjenige, was dem □MG seine Dicke verleiht, das heißt eine Konsistenz, welche die einfachen Möglichkeiten einer bloß logischen Konstruktion übersteigt, ist offensichtlich die sprachliche Komponente der Termini (oder Punkte oder Knoten), die bereits in der Konstitution des □Eidos einschreiten, doch ohne ihren repräsentativen Reichtum bewusst auffassen zu lassen. Die Termini (oder Punkte oder Knoten), die sich durch die Syntax artikulieren und das Eidos formen, gehören keiner durch einen imaginären Schöpfer willkürlich koordinierten Semantik an. Wenn der □MG erscheint und sich präsentiert – und dadurch keinem Akt einer geplanten logischen Konstruktion entspringt –, impliziert das notwendigerweise eine unabhängige Phylogenese, die genauer gesagt die Selbstentstehung der Anschauung ausmacht. Aus diesem Grund ist die Artikulation zwischen □Eidos und □Logos nicht etwas Erdachtes, etwas, das wir heimlich durch die Grammatik der metatheoretischen Schau einführen, um ihr eine komplexe Sicht zu geben. Wenn also das, was sich sehen lässt, allein auf eine solche Weise erscheint, ist das gleichwertig damit, dass es auf diese Weise aufgrund einer Genese, einer Sedimentierung und einer Entwicklung erscheint. Der □Logos, in seiner Artikulation, bezeugt also die Unmöglichkeit, den □MG als ein ewig Bestehendes in einem platonischen Universum zu denken. Der □Logos, in seiner Artikulation und morphologisch notwendigen Implementierung mit dem □Eidos, bezeugt die Genese des □MG und jedes □MG als solcher. Jedoch ist es gerade diese Implementierung, die den □Logos zu etwas nicht nur einfach Vorstellbarem oder Vorgestellten macht, sondern wesentlich zu etwas, dessen Erfahrung wir notwendigerweise machen, kurz gesagt: was wir vom metatheoretischen Standpunkt aus sehen. Eine solche Schau ist nur möglich, wenn wir uns – immer im Horizont des Metatheoretischen verbleibend und gemäß ihrer grundlegenden Perspektive erfahrend – in eine andere Stellung versetzen und die genetische Rückseite des □MG betrachten. Aus diesem Grund ist der Logos des □MG fast nie in seiner erforderlichen Präzision sofort fassbar, doch er ist progressiv zu erkunden. Zunächst, ictu oculi, erfasst das Subjekt den □Logos 351 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
lediglich als jene genetisch-historische Dicke dessen, was sich gemäß seiner Abschattung und gemäß seinem □Eidos ergibt. Noch besser gesagt, fängt der Logos an, sich mit der Erscheinung sehen zu lassen, mit der Auffassung des □MG gemäß seinem Eidos, und noch präziser, in der ko-intentionalen Meinung einer Öffnung über eine Leervorstellung: Ich sehe diesen □MG, er steht mir gegenüber in einer solchen oder einer anderen Perspektive; er zeigt seinen Aspekt, der letztendlich aus seiner Strukturform besteht, doch ich weiß – oder ich nehme an –, dass er so oder so aufgrund einer Sedimentierung, einer Genese konstituiert ist. 12 Folglich kann ich ihn herumdrehen, ich kann ihn gemäß seiner genetischen Schichten und Sedimentierungen inspizieren. Nun öffnet und manifestiert sich dieser □Logos als eine wesentliche Komponente des Innenhorizonts des Gegenstands, ohne dadurch vorzutäuschen, selbst der ganze Innenhorizont des □MG zu sein. Denn wenn wir den □Logos mit dem internen Horizont identifizieren, ist es nötig, entweder den Außenhorizont als □Eidos zu identifizieren oder den Innenhorizont zu verdoppeln und sich zwei Innenhorizonte vorzustellen, die den zwei Dimensionen des GegenDie Skizze einer nicht metaphysischen, aber rein deskriptiven Metatheorie ist durch Foucault in der Archäologie des Wissens geliefert worden. Aber dieses wahrhaftige Genie geht über die Skizze weit hinaus, indem er ein Projekt beschreibt, das Projekt einer reinen Beschreibung der diskursiven Formationen, als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten. Vgl. M. Foucault, Archäologie des Wissens, cit., S. 41: »Aber das ›Werk‹, aber das ›Buch‹ oder auch jene Einheiten wie die ›Wissenschaft‹ oder die ›Literatur‹, muß man auf diese immer verzichten? Muß man sie für Illusionen, für unausgewiesene Konstruktionen, für schlecht erlangte Ergebnisse halten? Muß man darauf verzichten, sich auch nur im geringsten auf sie zu stützen und ihnen jemals eine Definition zu geben? Es handelt sich tatsächlich darum, sie ihrer Quasievidenz zu entreißen, die von ihnen gestellten Probleme freizusetzen; zu erkennen, daß sie nicht der ruhige Ort sind, von dem aus man andere Fragen (über ihre Struktur, ihre Kohärenz, ihre Systematizität, ihre Transformationen) stellen kann, sondern daß sie von selbst ein Bündel von Fragen stellen (Was sind sie? Wie sie definieren und abgrenzen? Zu welchen distinkten Gesetzestypen können sie gehören? Für welche Gliederung sind sie empfänglich? Welchen Teilmengen können sie Raum geben? Welche spezifischen Phänomene lassen sie im Feld des Diskurses erscheinen?).« Eine ähnliche Idee ist von Neurath (und dann von Quine) dargestellt. Siehe hierzu D. Koppelberg, Die Aufhebung der analytischen Philosophie, Frankfurt a. M., 1987, S. 27: »Neuraths Holismus ist also nicht allein von seiner systematischen Sicht der Beziehung von Theorie und Erfahrung geprägt, die in ›Soziologie im Physikalismus‹ im Vordergrund stand; er ist darüber hinaus von seiner historischen Sicht der Theoriendynamik bestimmt. Die später von Feyerabend und Kuhn vertretene Inkommensurabilitätsthese ist hier bei Neurath schon in nuce anzutreffen.
12
352 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 58. Analyse des □MG gemäß seinem Logos
stands entsprechen. Jedenfalls führt das zu einem Widerspruch. Im ersten Fall, wenn der □Logos als exklusive Dimension des Innenhorizonts gedacht wird, gibt es keine andere Möglichkeit einer nachträglichen Bestimmung des □Eidos. Im zweiten Fall, wenn der □Logos nichts als einer der beiden Innenhorizonte des □MG wäre, ständen wir der Notwendigkeit gegenüber, zunächst die Koexistenz und dann die Artikulation der beiden aus formaler Sicht identischen Horizonte zu denken, die sich als gegensätzliche Begriffe herausstellen. Der Innenhorizont des Gegenstands ist also folglich ein einzelner und erlaubt, kraft der wesentlich eidetischen Implementierung mit dem Außenhorizont, die Erforschung des Gegenstands gemäß seiner zwei gleichzeitigen Dimensionen. Denn letztendlich entdecken wir niemals den Innenhorizont nur unter dem Gesichtspunkt des □Eidos oder nur unter dem Gesichtspunkt des □Logos. Tatsächlich hinterfragt die semantische Dicke der Termini die Strukturform. Wenn ich beispielsweise einen Terminus (oder eine Gruppe von Termini, die eine bestimmte, diachrone Kohäsion aufweisen) isoliere, werde ich der morphologischen Gestaltung, die dieser Terminus (oder diese Gruppe von Termini) während bestimmter Momente der genetischen Sedimentierung des Gegenstands annimmt, folgen. In diesem Fall, selbst wenn die bestimmte Struktur des Gegenstands (sein □Eidos) im Hintergrund verbleibt, das heißt, wenn sie für den Moment nicht Gegenstand meiner Betrachtung ist, lenkt dieser Terminus oder diese Gruppe von Termini meine Aufmerksamkeit auf die strukturelle Gestaltung, die er mit den umgebenden Termini (oder Gruppen von Termini) unterhält. Tatsächlich stellt sich die Implementierung der Semantik 13 und der Syntax, indem sie das □Eidos bildet, als wesentliche Textur heraus, als Grundlage des □MG. Diese Textur finden wir a fortiori auch, wenn wir uns darauf konzentrieren, wenn wir unsere Schau auf einen gut bestimmten Moment der semantischen Entwicklung eines Terminus oder einer Gruppe von Termini richten. Jedoch die »semantische Entwicklung« eines Terminus oder einer Gruppe von Termini muss gleichzeitig implementiert sein mit einer morphologischen Variation der Beziehungen, die dieser Terminus oder eine Gruppe von Termini mit der struk-
13 Vgl. A. Tarski, in Grundlegung der wissenschaftlichen Semantik, Actes du Congrès International de philosophie scientifique, 3 Bde, Paris, 1903, S. 1–8, S. 1.
353 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
turellen Gesamtheit des Gegenstands unterhält. Wir können behaupten, dass es sicherlich die Variation der Stellung oder der morphologischen Implementierung eines Terminus (oder einer Gruppe von Termini) ist, die oft eine semantische Entwicklung verursacht. Letztendlich liegt in dieser Art von Variationen (lokal oder global) die Erfahrung des Logos des □MG. Da jedoch der □Logos ein Erfahrungsgegenstand ist, der in einem dynamischen Prozess der Schau eingeschlossen ist, muss man immer betrachten, auf welche Weise er in Korrelation mit der Noese, mit der intentionalen Aktivität in ihrer topologischen Situation tritt. Tatsächlich habe ich niemals eine isolierte, geradezu atomare Erfahrung des Logos des □MG, sondern ich habe diese einzig als Folge der Abstraktion des komplexen, anschaulichen Gegenstands. Aktiv vollzogen wird diese Erfahrung durch die Richtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt oder einen bestimmten Teil des Gegenstands. Diese Erfahrung, als Entdeckung des Innenhorizonts des Gegenstands, als wesentlich motivierte Erfahrung, vollzieht sich mittels Setzungsakten und Neutralisierungsakten durch die generelle oder anfängliche Gegenstandsanschauung. Ich habe eine Anschauung dieses □MG, er ist »da«, und ich untersuche ihn mit meiner Schau. Durch die (allgemeine und nicht notwendigerweise detaillierte) Individuation seiner Strukturform, durch die Fixierung bzw. Auffassung der Erscheinung eines □MG, kann ich den anschaulichen Komplex, der sich plötzlich ergibt, in den Hintergrund stellen und mich auf einen Teil der Anschauung konzentrieren, eine Teil-Anschauung (oder anschauliche Teilvorstellung), um so die Morphologie zu beschreiben. Dieser Setzungsakt kann sich auch auf die Komponenten des □Eidos beziehen, das heißt auf die Termini (Punkte und Knoten), aus denen die aktuelle Morphologie des □MG besteht, doch auch auf die Mikrostrukturen des □Eidos und ihren Entwicklungsstand und ihre Sedimentierung. In diesem Sinne abstrahiere ich von dem □Eidos in seiner Totalität und richte meine Aufmerksamkeit selektiv auf einen Terminus (Punkt oder Knoten) oder eine Gruppe von Termini, um dort die morphologischen, strukturellen oder auch semantischen Gestaltungen herauszufinden, die zur aktuellen Konfiguration geführt haben. Zuerst wird das □Eidos auf selektive Weise in den Hintergrund gestellt, und dieser Teil des □Eidos wird mein thematischer Gegenstand. Zweitens, indem wir der Entdeckung des Innenhorizonts des □MG folgen, ist es dieser Teil des □Eidos, der in den Hintergrund gestellt wird (um den morpho354 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 58. Analyse des □MG gemäß seinem Logos
logischen und/oder semantischen Konfigurationen, die bereits sedimentiert sind, Platz zu machen). Diese Konfigurationen können thematische Gegenstände meines intentionalen Sehens werden. Meine durch den Gegenstand motivierte Erfahrung 14 vervollständigt sich so in einer Reihe positionaler, interrogativer oder auch monothetischer/polythetischer Akte etc., die auf der Grundlage der Anschauung beruhen. Die Implementierung zwischen □Eidos und □Logos verursacht auf die Weise, dass sich die Akte nicht auf zwei verschiedene Realitäten oder zwei verschiedene Anschauungen anwenden lassen (die eine relativ zum □Eidos, die andere relativ zum □Logos). Wenn wir näher und mit mehr Aufmerksamkeit den □Logos beobachten, stellt sich heraus, dass es allein die Sedimentierung der Strukturformen ist, die den Gegenstand als überschritten annehmen lässt. Das bedeutet offensichtlich nicht, dass der □Logos auf eine einfache morphologische Sedimentierung reduziert werden muss, weil sich herausstellt, dass die Strukturformen wesentlich mit den Termini (Punkten oder Knoten) verbunden sind. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob es die semantische Variation ist, die die morphologische Modifikation bestimmt, oder ob es Letztere ist, die Erstere bestimmt, als müßig heraus. Die semantische Entwicklung eines Terminus (Punkts oder Knotens) oder einer Gruppe von Termini findet ihre Korrelation in einer Änderung der Morphologie. Doch zu behaupten, dass diese Korrelation vorbestimmt und notwendig ist, impliziert metaphysische Annahmen, die das Feld der metatheoretischen Analyse weit überschreiten. Die Beschreibung der sedimentierten Strukturen in einer Theorie und also die Beschreibung des Logos des □MG selbst können – indem positionale Akte selbst durchlaufen werden, die doch nichtsdestoweniger Akte bleiben, die sich mit der metatheoretischen Grundlagenintuition überlappen – nichts als die Korrelation erfassen, ohne dabei more metaphysico über den Gehalt dieser Korrelation entscheiden zu können. Oder, besser gesagt, kraft dieser Korrelation können wir nur eine Minimaldefinition dessen, was wir aus phänomenologischer Sicht vom Logos des □MG erwarten, erlangen: Damit muss man die Gesamtheit der sedimentieren Strukturen verstehen, Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Hua. 4, S. 222–226.
14
355 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
die Variationen der Struktur und der semantischen Variationen der Termini, die sich in der Erforschung des Innenhorizonts des Gegenstands aus der Sicht seiner Genese manifestieren. Aus diesem Grund stellt sich heraus, wie wir in den §§ 63–67 sehen werden, dass das □Eidos und der □Logos kaum ontologische Realitäten dessen, was sich im Inneren des metatheoretischen Horizonts als solchem manifestiert, sondern Orientierungen der Beobachtungen, der Perspektiven der Schau sind. Sie sind zwei komplementäre Schnittstellen unseres deskriptiven Ansatzes zur Aufschlüsselung des Gegenstands, selbst wenn sie im Hinblick auf den Gegenstand selbst intrinsisch bleiben.
§ 59. Der Gegenstand und seine Modelle Die Implementierung des Eidos und des Logos des □MG zeigt, auf welche Weise sich die Anschauung auf der Grundlage einer Anschauung artikulieren kann und durch motivierte und orientierte Akte die Beschreibung des Gegenstands gemäß seiner doppelten Perspektive (und doppelten Dimensionalität) entwickelt: die Form der aktuellen Struktur, ihre semantische und morphologische Sedimentierung. Jedoch sind das □Eidos und der □Logos – indem sie selbst die Grundlage dessen repräsentieren, das sich in ihnen und durch sie im metatheoretischen Horizont ergibt – nicht etwas, das das metatheoretische Subjekt ex post der Anschauung zuschreibt, oder etwas Extrinsisches, das nichts mit der Anschauung des Gegenstands zu tun hat. Wenn etwas in der Eigenschaft eines □MG erscheint, wird es notwendigerweise beobachtet und gemäß der zwei Dimensionalitäten (oder zwei Perspektiven) des □Eidos und des □Logos kategorisiert werden. Zuallererst zeigt es sich gemäß einer gut definierten Morphologie, die wir durchlaufen und beschreiben können, indem sie sich auf der Grundlage einer Anschauung fundiert. Gemäß dieser Morphologie, dieser Strukturform oder gemäß ihrer Portionen, können die semantischen Termini (oder Punkte oder Knoten) isoliert werden, doch sind sie immer als in einer Syntax, in einer spekulativen oder einer begrifflichen Grammatik, die sie organisiert, eingebunden, wiedererkannt. Jedenfalls ist diese Morphologie und diese Strukturform nichts, was in einem platonischen Universum fortbesteht – ohne Zeit, ohne Geschichte und ohne Genese –, und genau aufgrund dieser semanti356 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 59. Der Gegenstand und seine Modelle
schen Sedimentierung, hatten die Termini (oder Punkte, oder Knoten) im Laufe der Zeit Erfolg. Wenn sich die Erkundung des Innenhorizonts des □MG gemäß der Dimensionsperspektive des □Eidos durch beschreibende und kategorisierende Akte vervollständigt, die im Detail die Teile der Strukturform, die morphologische Basis des Gegenstands verfestigen, orientiert sich also die Erkundung gemäß der Dimensionsperspektive des □Logos in Richtung dessen, was die Grundlage dieser Strukturform ist, das heißt der Genese. Eine solche doppelte Erkundung – welche auf zwei unterschiedliche Weisen orientiert ist – kommt nicht notwendigerweise durch die Bestimmung einer eindeutigen, visuellen Form zustande. Das ist genauer gesagt der Sinn der Spekularität zwischen Gegenstand – oder □metatheoretischer Anschauung – und kognitivem Typus. Indem wir nicht auf konstitutive Weise eine wahrnehmbare, eigene, visuelle Form haben, ist der ursprüngliche □MG durch ein elementares Modell des dreidimensionalen Gegenstands mit seinen Eigenschaften erfasst, doch kann er auch durch andere Formen der visuellen Modellierung dargestellt werden. Das geht aus der Verschiedenheit von □metatheoretischer Anschauung und Wahrnehmung hervor. In der Tat ist die Distanz, durch die sich die Spekularität artikuliert, eine modulare Distanz. Die Modularität dieser Distanz ist eine solche, die an eine Pluralität der möglichen Modellierungen denken lässt. Also sind □MG, sowie andere (mehr oder weniger artikulierte) Konfigurationen der Anschauung im metatheoretischen Horizont geeignet, nicht nur eine, sondern mehrere Modellierungen zu haben. Der □MG hat folglich kein im Voraus definiertes ontologisches Modell, sondern mehrere Modelle, das heißt mehrere mögliche und scharfsinnige Modellierungen. Das □metatheoretische Subjekt – das ipso facto bewusst oder unbewusst ein Modellierungssubjekt des Metatheoretischen wird – kann wählen, Formen einer komplexeren und scharfsinnigeren Modellierung anzunehmen, um ein visuelles Bild zu erhalten, um etwas zu verbildlichen, das sich ex principio als ohne Gestalt, ohne visuelle Form herausstellt. Diese Öffnung zu den möglichen Modellierungen impliziert die Möglichkeit, einfache mentale Träger (sowie andere, raffiniertere und scharfsinnigere Formen der konzeptuellen Metapher), graphische Träger oder auch informatische Träger anzunehmen, die algorithmisch und dynamisch die entwicklungsfähige Nachfolge der morphologischen Konfigurationen des □MG sowie die semantische Sedimentierung der implementierten Termini durch 357 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
eine andere Struktur sehen lassen zu können. Jedenfalls haben wir es hier nicht mit einer einfachen, konzeptuellen Form zu tun, die durchweg nicht anschaulich ist, sondern mit einer Anschauung, der ein wahrnehmbarer Träger fehlt – der das Sehen im weitesten Sinne des Begriffs der Wahrnehmung eines wahrnehmbaren Bildes (oder sei es ein Graph) übersetzen kann. Aus diesem Grund kann die Abbildung nur plural sein, da sie sich weder der Instanziierung noch der intrinsischen Basis des Gegenstands, das heißt der Anschauung, versichern muss, sondern einzig der Möglichkeit, auf scharfsinnigste und wortgewandteste Weise die Struktur zu erfassen, das heißt die Form, die im Gegenstand schon vorhanden ist und, allgemeiner gesprochen, in den anschaulichen Situationen im metatheoretischen Horizont.
§ 60. Das Eidos und das Werden des □MG Wie wir in § 51 bereits angenommen haben, eröffnen die zwei Perspektiven der Erkundung, die wir □Eidos und □Logos genannt haben, notwendigerweise zwei verschiedene Öffnungen möglicher Synthesen über die Grundlage der □metatheoretischen Anschauung. Diese Synthesen, das heißt die an der Grundlage der Anschauung orientierten Akte, können als thematische Gegenstände oder sowohl als Komponenten des □Eidos als auch des □Logos angenommen werden, indem sie dem Gegenstand eine Definition bieten, nämlich die der aktuellen Struktur, das heißt dem Gegenstand, der sich momentan zeigt, oder des »Gegenstands-im-wie« 15 seines strukturellen Werdens. In diesem Sinne artikuliert sich der Innenhorizont gemäß der drei zeitlichen Dimensionen, durch die er notwendigerweise den Gegenstand konstituiert. Die Theorien, die theoretischen Probleme, die Gesamtheit der Doktrinen etc. haben ein Eigenleben und besitzen ab und an eine Dynamik des Geistes und der komplexen Systeme, die in einer Phylogenese verwurzelt ist; und es ist sicherlich gerade in dieser Phylogenese – in der Eigenschaft einer thematischen Singularität, die sich sofort ergibt –, dass sich ihre »Individuation« findet. Aus diesem Grund, weil es um etwas Werdendes und nicht um eine nicht-zeitliche Entität eines platonischen Universums geht, hat der □MG ein Eigenleben; folglich hat er eine Gegenwart, eine Vergangenheit und 15
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., § 113, S. 301–304.
358 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 60. Das Eidos und das Werden des □MG
eine Zukunft. Die Entdeckung des Innenhorizonts des □MG impliziert also notwendigerweise eine Öffnung der drei zeitlichen Dimensionen des Gegenstands. Wir können jedoch etwas dagegen halten: Warum und auf welche Weise verhalten sich diese drei zeitlichen Dimensionen des Gegenstands zu den zwei konstitutiven Dimensionen des □Eidos und des □Logos? Wenn der □Logos einfach ausgedrückt die Vergangenheit der Geschichte des □MG repräsentiert, wie kann dann das □Eidos auf einmal seine Gegenwart und seine Zukunft repräsentieren? Außerdem: Wenn das □Eidos nichts als seine Gegenwart repräsentiert, wie können wir dann im □MG etwas finden, das jenseits der Grundlage der Anschauung auf seine Zukunft verweisen kann? Selbstverständlich ist keine Anschauung der Zukunft des □MG, das heißt seiner morphologischen Variationen, sowie der semantischen Entwicklungen, die er im Moment seiner leibhaftigen Erscheinung hinnehmen muss, möglich. Um zu verstehen, wie es für das □metatheoretische Subjekt möglich ist, eine Öffnung zur Zukunft des □MG zu haben – das heißt, was der □MG werden wird, welche morphologische Konfigurationen er annehmen kann –, müssen wir uns zunächst auf die doppelte Öffnung der intrinsischen Möglichkeiten des □Eidos als solches konzentrieren. Das Subjekt, das den □MG vom Standpunkt seines □Eidos betrachtet, ist zuallererst einer Gesamtheit der möglichen Akte ausgesetzt, das heißt der Gesamtheit der Setzungsakte (in all ihren Formen), die nichtsdestotrotz auf der Grundlage der Anschauung aufgebaut sind. Solche Akte nehmen die Grundlage der Anschauung als Thema einer fortschreitenden morphologischen Bestimmung an (immer in der Spekularität mit einer Form der Modellierung). In diesem Sinne betrifft die Öffnung der Möglichkeit, als Öffnung einer Klasse von Setzungsakten und möglichen Synthesen, sozusagen nichts anderes als das □metatheoretische Subjekt, in dem Sinne, dass seine Synthesen oder seine möglichen Akte nichts als die Erkenntnis, die es vom Gegenstand hat, betreffen. Jedoch ist diese Erkenntnis – fundiert auf den Akten, die sich zur Anschauung als solcher anwenden – relativ zur lebendigen Gegenwart des □MG, da sie bereits ex principio zum intuitiven Charakter der Gegebenheit gehört, zu dem, was sich in sich und durch sich selbst zeigt. Wir können behaupten, dass sich der Gegenstand einer progressiven Bestimmung öffnet; und auf progressive und detailliertere Weise verweist diese nachträgliche Erkenntnis jedoch ausschließlich auf die meta359 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
theoretische Anschauung, auf der alle ihre Akte notwendigerweise fundiert sind. Indem diese Öffnung allerdings auf notwendig progressive (das heißt zeitliche) Weise bestimmt, was der □MG im Moment seiner Erscheinung ist, bestimmt sie seine Gegenwart, erkundet sie auf methodische Weise seine Gestaltung, beschreibt sie ihn, indem sie notwendigerweise die Ungenauigkeit seiner ersten Erkenntnis und ersten Identifikation überschreitet. In diesem Sinne können wir sehr wohl behaupten, dass der □MG durch die Setzungsakte und die Deckungssynthesen seine Form und seine detaillierte Morphologie annimmt. Doch das Subjekt, das den □MG erkundet und erfährt, hat schon etwas aufgefasst. Jedenfalls öffnet die Bestimmung der Morphologie und der aktuellen Struktur des □MG ein anderes Feld von Möglichkeiten, die nicht mit der Möglichkeit und dem Willen der Erforschung des Innenhorizonts in Bezug auf sein □Eidos verbunden sind. Diese Möglichkeiten sind wesentlich relativ gegenüber dem Gegenstand selbst als dynamischer Struktur, der sich durch eine Entwicklung und eine fortdauernde Sedimentierung herausbildet. Das bezieht sich auf das Wesen selbst des □MG und das Bewusstsein dieser Öffnung, die nur aus der Vertrautheit, die wir mit dieser Art von Gegenständen haben, hervorgehen kann. Was ist also tatsächlich ein □MG? Betrachten wir das nun im Folgenden. Es gibt diesen □MG, der sich zeigt, er ist da, im Vordergrund, umgeben von anderen □MG, die sich in einem thematisch gut definierten Raum anordnen. Ich schaue diesen Gegenstand an, ich identifiziere ihn aufgrund seiner Bedeutung, die sich in einer metatheoretischen Idealität polarisiert, die mir Zugang zu seinem primären Charakter gewährt. Ich erkenne ihn wieder: Ich weiß, worum es geht, das ist die Theorie X, der ich bereits mehrere Male in meinen Untersuchungen begegnet bin, ohne ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Jetzt beginne ich, sie aufmerksam zu beobachten, das, was ich zuallererst sehen werde, das, wovon sie handelt, was die Termini (oder Punkte oder Knoten) sind, die ganz allgemein ihre Abschattung beschreiben, die Weise, auf die sie sich in seiner allgemeinen Morphologie verteilen etc. Ich konzentriere mich darauf, zu erfassen, wem oder was sie ähnelt. Dann kann ich meine Aufmerksamkeit darauf lenken, was ihre Struktur selbst ist, um zu sehen, auf welche Weise sie ihre Hauptbegriffe organisiert und ob diese auf strukturelle Weise ihre isomorphen Ausdehnungen implizieren oder auch nicht. Wie es so 360 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 60. Das Eidos und das Werden des □MG
oft ist, ist auch der □MG kein regelmäßiger Gegenstand – um immer bei den Termini derselben konzeptuellen Metapher zu bleiben (die anderswo die Spekularität mit dem elementar-kognitiven Typus erhebt). Er ist nicht perfekt isomorph: Er weist Unregelmäßigkeiten auf, zum Beispiel ist er vollständig unregelmäßig. Dasselbe kann bei der Betrachtung seiner inneren Komposition passieren: Ich kann dort Löcher und Hohlräume entdecken, ich kann dort solidere und undurchdringbarere Teile einerseits und andere, viel brüchigere Stellen andererseits erfassen. Aber was bedeutet das außerhalb dieser konzeptuellen Metapher, das heißt außerhalb der Spekularität mit einem Modell (sei es wenigstens der elementar-kognitive Typus) der morphologischen Unregelmäßigkeit, der Abwesenheit von isomorphen Teile etc.? Das bedeutet, dass in einem Großteil der Fälle eine Theorie, ein theoretisches System oder auch ein Wissensapparat nichts ist, das sich hinsichtlich seiner Realität und folglich auch seiner Totalität seinem Wesen nach im beschränkten Raum seiner Axiomatisierung erfassen lässt. Wir haben überhaupt kein Problem, zu behaupten, dass die axiomatischen Theorien, die in einem rekursiven Prozess streng logischer Deduktion erscheinen (wobei das □Eidos folglich oft als vollständig isomorphes Gewebe dargestellt ist), letztendlich nur Epiphänomene einer sehr komplexen Realität sind. In dieser Theorie konzentrieren wir uns momentan auf das, was hinsichtlich seines Eidos noch keine Formalisierung hat: Es ist letztendlich das Unbedachte des □MG oder, anders gesagt, des □Eidos, das selbst seine strengste und kristallisierteste Form angenommen hat und was noch durch keine axiomatische, strenge Morphologie angenommen wird. Aus diesem Grund stellt sich die Identifizierung des □MG, wenn es sich nicht auch um eine einfach nominale Frage handeln würde, hinsichtlich der Theorie als reduktive und täuschende Identifikation heraus. Die Verwendung des Begriffs »Theorie« hebt in der Tat die Idee von etwas Isomorphem hervor, einem kartesischen Gegenstand, streng hergeleitet, was sich nicht mit der intimen Realität der Wissensformen verträgt. Und das passiert, selbst wenn wir von der genetischen, entwicklungsfähigen und dynamischen Seite jeder Form des Wissens als solcher, als Logos, abstrahieren. Die morphologische Unregelmäßigkeit, die Abwesenheit eines perfekten Isomorphismus, betrifft notwendigerweise auch das Eidos eines jeden □MG als solcher einfach weil er nur eine sedimentierte und organisierte Form der lebendigen Intelligenz ist. Wenn folglich jeder □MG oder, wenn man 361 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
so will, jede Wissensform qua Wissensformung nur das Ergebnis eines Sedimentierungsprozesses und der Strukturierung der morphologischen Elemente ist, die einen besonderen Zugang zu der Phänomenalität gewähren, ist es geradezu unmöglich, das Ergebnis selbst, in seinem aktuellen Bestand, als etwas Vervollständigtes und Definiertes zu denken. Ohne insofern die Möglichkeit einer Vervollständigungsfähigkeit einer Wissensform ausschließen zu wollen und ohne den Ausnahmecharakter einer vollständig isomorphen Wissensform (deren □Eidos vollständig isomorph ist) bestreiten zu wollen, stellt sich eine allgemeine Regelmäßigkeit jeder Theorie, im Sinne des Eigenlebens des Wissens, als widersinnig heraus. Auf diese Weise riskieren wir, das Problem auf eine prinzipielle Frage zu reduzieren, aber eine wesentlich leere Prinzipienfrage, jene einer präjudiziellen und fundamental metaphysischen Zulassung eines perfekten Wissens und einer definitiven Theorie. Doch offensichtlich ist diese Frage viel komplexer. Die Tendenz, den □MG nur als eine gut definierte Form des Wissens zu identifizieren, ist täuschend. Es ist einfach aufgrund dieser Tendenz, dass wir bereits vorher annehmen, dass die □MG nichts als die Form oder die Größe der Wissensformen sind – das heißt der Makrogegenstände. In diesem Sinne, mit einer nicht großen Variation der Benutzung des Begriffs »Theorie«, lässt man das Problem ungelöst. Das gilt auch für die Optik (bzw. die Perspektive) jener Erkenntnistheorie, die auf »atomare« und »monolithische« Weise die □MG erfasst. Wenn wir diesem falschen Verständnis verfallen, ist es selbstverständlich, dass die Behauptung des Nicht-Isomorphismus oder der nicht-axiomatischen Natur des Eidos des □MG den metaphysischen Einwand finden kann. Jedoch macht man auf diese Weise nichts anderes, als dem □MG alle übernommenen Vorurteile durch die Erkenntnistheorie zuzuschreiben und so Zugang zu seiner eigenen Realität zu verlieren. Als Ergebnis eines Sedimentierungsprozess und einer morphologischen Strukturierung muss der □MG nicht zwangsläufig eine Theorie oder eine Wissensform im Sinne einer als solche dogmatisch individuierten Lehre sein. In diesem Sinne müssen wir uns mit der morphologischen Unregelmäßigkeit, das heißt einem Nicht-Isomorphismus seines □Eidos befassen. Die neutrale Betrachtung seines □Eidos zeigt also, dass es in seinem morphologischen und begrifflichen Gewebe fast notwendigerweise Unterschiede gibt:
362 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 60. Das Eidos und das Werden des □MG
–
– –
in dem Sinne, dass Beweise, die bereits erbracht wurden, mit den Interpretationsproblemen bestimmter Termini (oder Punkte oder Knoten) verbunden sind; in dem Sinne, dass theoretische Probleme aus diesen erbrachten Beweisen sowie vielleicht ihren zweifelhaften Interpretationen kommen; in dem Sinne, dass gewisse morphologische Strukturen im Allgemeinen neue Strukturanwendungen öffnen, sogar für neue Felder der Phänomenalität etc.
Allgemeiner gesprochen können wir behaupten, dass ein □MG hinsichtlich seines □Eidos, unter Berücksichtigung seiner Morphologie und seiner aktuellen Konfiguration, eine Situationsperspektive, neue mögliche Verbindungen, mögliche □metatheoretische Modifikationen öffnet. Das kann speziell hinsichtlich der Betrachtung seiner intrinsischen Struktur und auch seiner dynamischen Verbindungen, die er mit den anderen □MG unterhält, bekräftigt werden. Kurz gesagt, ist der □MG, hinsichtlich der Betrachtung seiner intrinsischen Struktur, niemals etwas Perfektes, Isoliertes, Ungeöffnetes. Der □MG ist ein offenes System in sich selbst und gegenüber seiner Umwelt. Seine Stellung öffnet die Intelligenz zur Erfahrung und zur Erkundung seiner möglichen Fortbewegungen, seiner Lokalisierungen und Modifikationen der dynamischen Kraftbeziehungen mit anderen Gegenständen. Seine Form öffnet andere mögliche Sedimentierungen, die aus gewissen Erweiterungen (bzw. Vergrößerungen) oder aus gewissen semantischen und strukturellen Modifikationen seiner Bestandteile entstehen können. Alle diese Möglichkeiten bestimmen die Öffnungsperspektive des Wissens vom metatheoretischen Standpunkt. Wir können an diesem Punkt annehmen, dass das alles absolut nichts Neues hinsichtlich der Teleologie des bestätigten (und angeforderten) Wissens durch die Erkenntnistheorie bringt. Wir können anders ausgedrückt dagegenhalten, dass es nur um eine Idee der Teleologie der Erkenntnis geht, die neu überarbeitet wurde und von der Metaphysik der Neuzeit vorgeschlagen wird; folglich durch die Formen der Erkenntnistheorien, die sich daraus ergeben. Wenn wir ab und an die »Sache« näher anschauen und eine nicht präjudizielle Betrachtung des Metatheoretischen entwickeln, können wir unschwer bemerken, dass die Situation hier gegenüber einer »einfachen« Teleologie der Erkenntnis völlig anders ist. Denn diese impliziert eine Idee der Erkenntnis, die so sehr belastet und vorbelastet von der Metaphysik ist, dass sie kaum im Inneren der metatheoretischen Dimension als solche betrachtet werden kann. 363 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
Die Teleologie der Erkenntnis hat die Voraussetzung und kann nichts anderes, als diese wesentlich metaphysische Idee einer progressiven, perfekten Erkenntnis vorauszusetzen, indem sie so bereits vorher annimmt, dass die Ideen der »perfekten Erkenntnis« und der progressiven Verwirklichung selbst kein Problem darstellen. Außerdem geben wir so einen zweifachen Glauben weiter, der sich als sehr gefährlich herausstellt: dass hier die einzige Spur des Rationalismus und die einzige Alternative zu diesem krypto-metaphysischen Rationalismus ein hermeneutischer Relativismus sei. Indem wir uns dem hermeneutischen Relativismus – gemäß dem, letztendlich, jede Wissensform den gleichen Beweisgehalt hat, weil sie in letzter Instanz aus der Geschichte der Menschheit hervorgeht – radikal entgegensetzen [infra §§ 130–131], stellt sich auch die metatheoretische Perspektive radikal den metaphysischen Voraussetzungen einer einfachen Teleologie der Erkenntnis entgegen. Tatsächlich sind im Metatheoretischen alle normativen Stellungnahmen dessen, was die Erkenntnis sein muss, aufgehoben; ebenso, wie die paradigmatischen Formen, welche die Metaphysik manchmal präsentiert oder vorschlägt. In diesem Sinne wird die Mathesis wieder zu etwas, das man effektiv suchen muss, ohne dabei zu denken, dass es sie gibt, sie bereits da ist und zur Verfügung steht. Diese Negation eines fundamentalen Postulats der Teleologie der Erkenntnis – weit davon entfernt, jegliche rationalistische Perspektive zu leugnen – öffnet die Perspektive der wirklichen Komplexität der lebendigen Erkenntnis; eine Komplexität, die sich insbesondere in der offenen Perspektive des Eidos des □MG konkretisiert. Das □Eidos, als konstitutive Komponente des Gegenstands selbst, breitet eine doppelte Reihe an Verweisen aus, die sich dem □metatheoretischen Subjekt auf progressive Weise offenbart. Wenn das Subjekt erst einmal das Eidos des □MG gemäß der Dimensionalität, die ihm eigen ist, entdeckt, das heißt, wenn der Gegenstand erst einmal in seiner aktuellen morphologischen Bestimmung erfasst ist – die das hic et nunc seiner Erscheinung charakterisiert –, hat es Zugang zu einer anderen Klasse von Verweisen. Diese Verweise sind nicht mehr rein strukturell zwischen den morphologischen und semantischen Komponenten, sondern dynamische Verweise darauf, was der □MG selbst werden kann. Diese Verweise, die also die strukturell-morphologischen und semantischen Beziehungen betreffen, haben keine Beziehung zu dem, was Gegenstand sein muss oder sein
364 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG
sollte, indem er auf mysteriöse Weise den versteckten Plan einer gnoseologischen voretablierten Harmonie vervollständigt. Jedenfalls zeigt diese Öffnung zu morphologisch möglichen Auffassungen des □MG etwas, das jede Normativität überschreitet: Es gibt kein »Etwas«, das der Gegenstand werden muss. Die Tatsache, zu denken, dass der □MG etwas werden muss, um seine Teleologie bzw. seine Teleonomie zu vervollständigen, dass er eine (durch nichts anderes als einen offensichtlich metaphysischen Begriff) bereits vorgezeichnete Morphologie annehmen muss, vernebelt die Realität und die »Sache selbst« der Öffnung des □Eidos zum Möglichen. Genauer gesagt zeigt dieser Glaube eine tiefgreifende Unwissenheit der grundlegenden Realität des □MG: nämlich zu wissen, dass er sich als Ergebnis der gemeinsamen und lebendigen Intelligenz in sich selbst realisiert – oder, besser gesagt, dass er in seinem Eidos ein kritisches Gleichgewicht, das nicht statisch, sondern dynamisch ist, realisiert. Von diesem Blickwinkel aus ist das □Eidos nur die Schwelle eines kritischen Gleichgewichts, das immer notwendigerweise dem Horizont der möglichen morphologischen Konfigurationen geöffnet ist. Vielmehr als durch eine »mechanische« und »rekursive« Erklärung vorzugehen, indem er sich in sich und durch sich selbst gibt, realisiert sich in seinem □Eidos ein offenes, kritisches Gleichgewicht, welches das Subjekt nur andeuten kann, ohne es fassen zu können. In diesem Sinn überschreitet eine Analyse des Metatheoretischen die Teleologie der Erkenntnis.
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG Die Erscheinung des □MG, die genau genommen seine nicht entscheidbare Natur festigt, öffnet gleichzeitig eine zeitliche Dimension, die sich mit den zwei konstitutiven Dimensionalitäten, □Eidos und □Logos, auf unvermeidbare Weise artikuliert. Was das □Eidos betrifft, bestand unsere Frage genau genommen darin, zu verstehen, auf welche Weise sich die beiden zeitlichen Dimensionen der Gegenwart und der »Zukunft« des □MG artikulieren und artikuliert werden können, manchmal auch zu der einzigen, konstitutiven Dimension des □Eidos. Tatsächlich stellt sich heraus, dass das kraft der doppelten Modalität des Zugangs zu den zwei Dimensionalitäten möglich ist: Das Subjekt kann sich leibhaftig mit dem □MG in Bezie365 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
hung setzen, das heißt in seinem Charakter der anschaulichen Gegebenheit, einfach, weil es sein □Eidos erfasst, es beschreibt und gemäß seinem Innenhorizonts vom Standpunkt seiner aktuellen morphologischen Struktur erforscht. Aus dieser Beschreibung heraus öffnet die detaillierte Auffassung der morphologischen Struktur des □Eidos den zeitlichen Horizont oder die zeitliche Dimension seiner Zukunft, das heißt seiner möglichen Entwicklungen aus morphologischer und semantischer Sicht. Doch dies ist einzig als Vorwegnahme durch Vorstellungen möglich, die insofern ohne eine anschauliche Gegebenheit verbleiben und nur auf einfache imaginäre Weise eine Erfüllung finden können (sehr oft in Verbindung mit und dank ihrer visuellen Modellierungen). Im Gegenteil benötigen wir keinen Aufruf einer imaginativen Erfüllung oder einer einfachen Leervorstellung des intuitiven Gehalts hinsichtlich des □Logos, denn das, was der □MG war, ist notwendigerweise bereits sedimentiert und zeigt sich in seiner Aktualität. Im Gegenteil zu dem, was wir annehmen könnten, vereinfacht das die Sache jedoch nicht, da man erklären muss, auf welche Weise sich die zeitliche Dimension des Vergangenen als mit dem □Logos phänomenologisch verbunden herausstellt und, im Anschluss daran, auf welche Weise sie eine intuitive Mitgegebenheit besitzt. Tatsächlich kann die Erklärung dieser Artikulation seltsamerweise nur zur Basis der näheren Betrachtung der Beziehung zwischen Noema und Noese zurückführen, die ipso facto durch die Erscheinung des Gegenstands geöffnet wird. Denn indem wir uns an die Unbestimmtheit der intentionalen Beziehung halten – ohne in eine regionale Ontologie einzutreten, die sich auf gewisse Weise an der Wiedererkennung der Qualifikation des Gegenstands orientiert –, öffnet die Behauptung der intuitiven, unmittelbaren Gegebenheit des □MG ipso facto eine paradoxal erscheinende Vergangenheit. Wenn wir tatsächlich nur die Zeitlichkeit des Bewusstseins betrachten – das Zeitbewusstsein –, verbindet sie sich notwendigerweise mit den noetisch-intentionalen Modalitäten der Wiedererinnerung sowie der Antizipation bzw. Erwartung. Folglich können wir niemals von einem Logos des □MG sprechen, der auf intuitive (mitgegebene) Weise seine Vergangenheit präsentiert. Gemäß der Betrachtung des inneren Zeitbewusstseins kann das Vergangene nur eine zeitliche Dimension der Erfahrung aus noetischer Sicht sein, die die noematische Wesenheit des Erlebten überhaupt nicht beeinflusst. Aus dieser Sicht sind die noematische und ontologischregionale Charakterisierung des Gegenstands irrelevant, wohingegen 366 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG
in der gewöhnlichen Erfahrung oder in gewissen regional charakterisierten Erfahrungsformen die Gegenstandsanschauung selbst eine andere zeitliche Perspektive öffnet, die diesmal relativ zum noematischen Pol ist und nicht – oder nicht mehr – hinsichtlich der Bewusstseinsaktivität. Diese Perspektiven können sich offensichtlich nicht vollständig überlappen, sie verbleiben vielmehr in einer Korrelation des Verweises, ohne aufeinander reduziert werden zu können. Dass diese Beziehung unvermeidbar ist, wird durch die drei Eigenschaften bezeugt: 1)
2) 3)
dass die Öffnung der Perspektive der »Vergangenheit« sowie der »Zukunft« des Gegenstands wesentlich durch die lebendige Gegenwart des Gegenstands selbst bestimmt ist; dass sie sich in leibhafter Nähe dem Bewusstsein gibt sowie dass die Erfahrung, die wir machen, wesentlich durch die Akte der Noese strukturiert ist.
Entsprechend bleibt die noetische Aktivität insofern an der Gegenstandsdimension orientiert und derselben intentionalen Topologie verschrieben, dass sie sich kaum in den Akten durch den Inhalt der Akte selbst bestimmen lässt, indem sie unter Berücksichtigung der Inhalte, die durch diese Akte erweckt werden können, leer verbleibt. Und der Gegenstand gibt sich und muss sich geben, als wäre er bereits einem Bedeutungsnetz verschrieben, das hier so tut, als sei es wenigstens »dieser« Gegenstand hier, an den man sich erinnert, dessen Aktualität man erfasst, an den man eine Erwartung hat etc. Die regionalen Ontologien werden also hinterfragt, weil wir uns der Tatsache bewusst sind, dass die noetische Aktivität – im Gegensatz zum transzendentalen Idealismus – immer und auf konstitutive Weise in einem Feld oder einem Netz von Bedeutungen verwurzelt ist, das dem Gegenstand überschreitenden Charakter hinsichtlich seiner ontologisch-formalen Charakterisierung gibt. Folglich können sich die Gegenstände, indem sie sich in einigen Feldern der regional charakterisierten Erfahrung zeigen, zum Träger einer intuitiven, mitgegebenen Korrelation dessen machen, was sie waren, da dies in der intentionalen Topologie dieser Erscheinung verschlungen wird. Nehmen wir das Beispiel eines Gletschers: Ich gehe in den Alpen spazieren und komme plötzlich in ein leeres Gletschertal. Offensichtlich weiß ich, was ein Gletscher ist; ich weiß das und ich kann aufnehmen, was mir erscheint. Daraus kann ich mehr oder weniger präzise die Erfahrung eines Gletschers machen, da ich dazu kein Geologe 367 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
sein muss: Es genügt einfach, dass ich eine gewisse »Nähe« und »Vertrautheit« mit dieser »Art von Gegenstand« entwickelt habe. Doch nun ist meine Anschauung des Gletschers, mein direkter Kontakt mit diesem Gegenstand, nicht allein die Anschauung seiner Gegenwart, sondern gleichzeitig auf gewisse Weise die anschauliche Auffassung seiner Vergangenheit. Die Schau des Gletschers, die sich durch das Aufnehmen des »Gesehenen« in einem Bedeutungsnetz entwickelt, öffnet mir eine Perspektive seiner lebendigen Gegenwart, aus der wir ipso facto mehr oder weniger erfassen können, was er war oder woher er kommt. Dass sich hier die Vergangenheit des Gegenstands in ihrem aktuellen Aspekt zeigt, bedeutet, dass sein Werden in seiner Mitgegebenheit mit seiner lebendigen Gegenwart sedimentiert wird, und dies wird durch größere oder geringere Bestimmungsfähigkeit vergangener Zustände kaum bezweifelt. Wenn ich mit einem Geologen unterwegs wäre, würde er mir (mehr oder weniger präzise) aufzeigen, wo der Gletscher vor x-Millionen Jahren war. Warum? Weil er seine Anschauung hier einbringen kann, seine Sicht des Gegenstands in einer intentionalen, regional-ontologischen Topologie, die ihm erlaubt, aus der Anschauung eine »kognitive Arbeit« der progressiven Bestimmung zu machen, zu der ich niemals fähig wäre. Wir sehen dieselbe Sache, in einem Sinne, dass unser Erfassen des Gegenstands eine noematisch identische Charakterisierung hat, doch für ihn ist die Sache »reichhaltiger«, da wir nicht dieselbe Möglichkeit haben, die »Vergangenheit« des Gegenstands zu bestimmen: Er ist eingebettet in zwei verschiedene Bedeutungsnetze. Darüber hinaus bedeutet die Tatsache, dass der Geologe anzeigen kann, wo ungefähr der Gletscher vor x-Millionen Jahren war, kaum, dass er keinen ko-intuitiven Zugang zu seiner Vergangenheit hat. Was sich wiederum als ausschlaggebend herausstellt, ist die Möglichkeit, die intuitiven Teile der Grundlage der Gesamtanschauung herauszulesen, die selbst irgendwo anders als bewusster Inhalt in der Aktualität verbleibt. Solche intuitiven Teile können gemäß den Bedeutungsstrukturen (welche in diesem Fall das dynamische Verhalten des Gegenstands in seinem »Werden« betreffen) »interpretiert« werden. Wir finden zwangsläufig eine analoge Situation im metatheoretischen Horizont vor. Nicht jede Erfahrungsform der Gegenständlichkeit als solche zeigt, in der Gegebenheit, eine Öffnung der möglichen Bestimmung ihrer »Vergangenheit«. In diesem Fall sind die Anschauungszeichen einer solchen leibhaft mitgegeben. Nur gewisse Formen der Erfahrung, unter ihnen die Erfahrung des meta368 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG
theoretischen Horizonts, zeigen strukturell diese Art von Öffnung. Wenn ich nun den □MG, diese thematische Öffnung seiner Vergangenheit, das heißt seine morphologische und semantische Sedimentierung erfahre, stellt sich das als strukturell intrinsisch heraus und korreliert mit der Anschauung der Aktualität. Die Schau des □MG impliziert als etwas intrinsisch Korreliertes also nicht die Erfahrung seiner Vergangenheit, wie sie aktuell erscheint – was ein Widerspruch wäre –, sondern die Auffassung einer anschaulichen Mitgegebenheit bezüglich seiner Vergangenheit. Das ist gleichwertig damit, zu sagen, dass das □metatheoretische Subjekt, das seine Erfahrung gemacht hat, auch eine Erfahrung der Vergangenheit macht, ohne den Bereich oder das Moment der anschaulichen Gegebenheit seiner semantischen und morphologischen Sedimentierung zu verlassen. Diese Potentialität ist in der Tat verbunden mit der Fähigkeit des Subjekts, die Teile der □metatheoretischen Grundanschauung nicht nur als strukturelle Momente, die abhängig von seiner aktuellen Gegebenheit sind, sondern auch als Anzeigen seiner Geschichte, seiner sowohl semantischen als auch morphologischen Genese, zu interpretieren. Wir nennen diese Perspektive die »hermeneutische Dimensionalität des □MG«. Diese ist eine Perspektive, die in der noetisch-noematischen Korrelation in dem Sinne eingebettet ist, dass sie dem Subjekt geöffnet ist, sich jedoch nicht für die Zeitlichkeit des Bewusstseins (und seines Erlebten) interessiert, das immer in der lebendigen Gegenwart verbleibt, sondern für die genetische Zeitlichkeit des Gegenstands. Diese Perspektive artikuliert sich auf dynamische Weise gegenüber der Aktualität der Gegebenheit und setzt sich aus einer Klasse möglicher Bestimmungen (das heißt möglicher Akte) zusammen, die sich alle auf Grundlage der Grundanschauung vollziehen. Jedenfalls lässt sich diese als perspektivische Dimension des durch das □Eidos geöffneten Gegenstands kaum auf den Begriff und auf die begrenzte (erstickende) Methodologie der Erkenntnistheorie reduzieren; so wie die hermeneutische Dimension des Gegenstands sich auf den □Logos bezogen kaum auf eine rein hermeneutische Methodologie der Geschichte der Wissenschaften reduzieren lässt (obgleich sie, wie die traditionelle Erkenntnistheorie, einen bedeutenden und sehr positiven Wert in der allerersten Annäherung an den Prozess des Wissens hat). Tatsächlich entwickelt sich die thematische Öffnung der Geschichte der Wissenschaftsgeschichte und Ideengeschichte – wie auch die thematische Öffnung der Erkenntnistheorie 369 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
– auf der Grundlage metaphysischer (oder krypto-metaphysischer) Voraussetzungen, die den Überschuss zur metatheoretischen Dimension verhindern. 16 Denn wenn wir eine offensichtlich allgemeine, aber breit akzeptierte Definition – wie die der Wissenschaftsgeschichte und der Ideengeschichte – heranziehen, können wir sehr gut anerkennen, dass ihr eigener Unterhalt, ihre Akzeptanz als Wissensformen eine gewisse Anzahl an Annahmen implizieren, die die Dynamik ihrer Untersuchungen verhindern. Wir können die Wissenschaftsgeschichte als Disziplin definieren, die an der Beschreibung der Entwicklung der Wissensformen durch die Untersuchung ihrer Schriften, ihrer Werkzeuge und durch den Umweg einer historiographischen Methodologie orientiert ist. Dementsprechend können wir die Ideengeschichte als Disziplin beschreiben, die daran interessiert ist, mit allen erforderlichen Methoden der Entwicklung eines Begriffs in seinem Gebrauch und allen Zusammenhängen, in denen er auftritt, zu folgen. Doch nun können wir uns fragen, ob diese Disziplinen in ihrer endgültigen Artikulation nicht Anlass zu einer Untersuchung der Perspektive geben, die wir »hermeneutische Dimensionalität des □MG« genannt haben. Es handelt sich in der Tat um das gleiche Hinterfragen oder das Spiegelbild des gleichen Hinterfragens, das wir angesichts der perspektivischen Dimension des □Eidos einleiten können. Genauso wie die andere stellt sich auch diese als ohne Konsistenz heraus. Nehmen wir beispielsweise die Ideengeschichte. Wenn wir versuchen, ihre Vorgehensweise in der Perspektive der Betrachtung des □MG zu übersetzen, entspricht sie implizit der Betrachtung des □Logos, hinsichtlich dessen, was den Terminus (oder Knoten oder Punkt) betrifft. Sie folgt sozusagen der semantischen und begrifflichen Entwicklung eines Terminus, ohne insofern über eine Schau der Gesamtheit des globalen »Phänomens« der Variation, in die dieser Begriff und seine Entwicklung eingebettet sind, zu verfügen. Eine ideengeschichtliche Methode kann höchstens die Reichweite ihrer Interessen auf Begriffen ausbreiten, die rhapsodisch erscheinen; trotz all der historiographischen Methodologie, aus der sie hervorgeht, fehlt das Bewusstsein des Ganzen. Das wäre, als würde man sich in der Biologie darauf beschränken, die chemische Zusammensetzung einer Zelle zu beschreiben. Was letztendlich fehlt, ist das Bewusstsein, es mit einer ganz neuen Identität zu tun zu haben, für deren 16
Vgl. dazu M. Foucault, Archäologie des Wissens, cit., IV., Kapp. 1–6.
370 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG
Verständnis die isolierte Betrachtung eines Elements oder mehrerer Elemente nacheinander kaum ausreicht. Das gilt auch für die Wissenschaftsgeschichte, für die sich die »partikulare« Betrachtung auf die Wissenschaften ausdehnt. Durch das Vorurteil, demzufolge jede Wissenschaft eine spezielle Geschichte hat, sozusagen eine private, entwickeln wir lokaler orientierte Betrachtungen dieser Figuren, gewisser Problematiken, gewisser Ideen. Doch wir sehen hier ganz klar, dass es im ersten Fall die Möglichkeit des Betrachtens von »etwas« ist, das fehlt, gemäß einer gut definierten Morphologie, die den präzisen Regeln der Variation, der Entwicklung, der Sedimentierung, der Ausdehnung folgt, und auf ein »Eigenleben« schließen lässt. Die beiden überschneiden sich in ihrer Methodik und ihren Anwendungen – da die Wissenschaftsgeschichte nur bis zum Zusammentreffen mit der Ideengeschichte gehen kann, um die lokalen Untersuchungen zu spezifizieren, wie auch die Ideengeschichte bis zum Zusammentreffen mit der Wissenschaftsgeschichte reicht, weil sie notwendigerweise ihren Analysebereich ausdehnen muss (der ursprünglich auf einen einzelnen Begriff fokussiert war). Doch sie überschneiden sich sozusagen ohne jegliches systematisches Bewusstsein der Topologie, dank der sie sich überschneiden können und dem Ort, an dem sie sich überschneiden. Die Unwissenheit des Metatheoretischen, seiner fundamental-strukturellen Topologie, kann nur auf rhapsodische Weise voranschreiten. Das »Etwas«, dessen Geschichten angedeutet werden, ist nicht »etwas« Unbestimmtes, das nicht ohne eine Form existiert, ohne zu einer Struktur zu gehören, ohne den Gesetzen der Sedimentierung zu folgen, der morphogenetischen Entwicklung, für die wir Evidenz haben, die wir klar sehen können. Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, ist dasjenige, was die metatheoretische Perspektive vom rhapsodischen Prozess der Wissenschaftsgeschichte oder der Ideengeschichte teilt (unabhängig von ihren Würde und höchsten Relevanz) 17, ihr intrinsischer (notwendiger) Dogmatismus, das heißt ihre krypto-metaphysischen Annahmen. Warum muss man hier einerseits die einzelne Wissenschaft und andererseits die Idee als makrooder mikroskopische Entität haben, die nicht anderswo nachträglich als Gegenstand, über den wir sprechen, qualifiziert sind? OffensichtDie Ergebnisse der Ideengeschichte sowie der Wissenschaftsgeschichte sind die Basis, um eine konkrete (informatische) Modellierung der Logoi der □MG entwickeln zu können.
17
371 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VI Die metatheoretische Erfahrung
lich gibt es Begriffe und Ideen, deren progressive Anhäufung Wissenschaften bzw. Wissensformen öffnet, die sich ihrerseits historisch entwickeln. Was gibt es jedoch zwischen den Wissenschaften, als Anhäufung der Ideen, und den Ideen selbst? An welchem Punkt treten wir aus der statischen und sklerotischen Betrachtung der Ideengeschichte der Ideen heraus, um die ebenso statische Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte herbeizuführen? Was gibt es jenseits der speziellen Wissenschaft, welche die Idee als einen Teil ihrer selbst verstehen soll? Offensichtlich können oder wollen weder die Ideengeschichte noch die Wissenschaftsgeschichte auf diese Fragen antworten, und täten sie es, geschähe das auf nicht adäquate Weise. Und wenn wir hinsichtlich der sklerotischen Annahmen nicht ein bisschen Abstand nehmen – besonders, was die Wahl der Vorbedingungen ihrer Gegenstände betrifft –, bleiben diese Fragen unlösbar. An diesem Punkt könnte man die metatheoretische Perspektive als holistische Theorie charakterisieren. Und das ist hier sicherlich der entscheidende Punkt. Denn diese Perspektive, die wir sicherlich als »holistisch« definieren können, erkennt die methodologischen Unterscheidungen zwischen »Idee« und »Wissenschaft« nicht als gültig an; offensichtlich nicht aus Unwissenheit, sondern vielmehr, um eine ganz andere Betrachtung zu entwickeln, die sofort versteht, die Begriffe und dynamischen Prozesse zu erkennen, die sie in Interaktion zueinander setzt (eine Interaktion, die manchmal wichtiger als ihr statischer Unterhalt ist). Diese Perspektive, als »hermeneutische Dimensionalität des Gegenstands«, besteht letztendlich nur aus einer doppelten Erweiterung: einerseits in Richtung des □metatheoretischen Subjekts, da sich die Perspektive immer in noetisch-noematischen Korrelationen artikuliert; andererseits in Richtung des Gegenstands, im Sinne einer Alternativform zu den fiktiven Begriffen, wie »Wissenschaft«, »Begriff«, »Idee«, »Doktrin« vom spekulativen Standpunkt. Was wir durch den □MG und andere angewandte Begriffe als species von □MG sehen, können wir nur durch die metatheoretische Erfahrung selbst erhalten: Das sind keine bereits vorher als ontologisch existierende angenommenen Gegenständlichkeiten, sondern insofern nur Gegenstände einer phänomenalen Gegebenheit. Diese Gegenständlichkeiten offenbaren im Gegenteil und sicherlich kraft ihrer phänomenalen Gegebenheit für das Subjekt eine Entdeckungsperspektive, das heißt eine progressive Bestimmung durch Akte, die sich auf der Grundanschauung fundieren. Aus »hermeneutischer« 372 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des □MG
Sicht artikuliert sich diese Perspektive auf dem, was wir als Logos des □MG definiert haben, und in der Auslegung der intuitiven Teile als Zeichen einer Sedimentierungsgeschichte, der Entwicklung und der Stratifikation. Das □metatheoretische Subjekt kann durch die Akte bestimmen, was ein Terminus (oder Punkt oder Knoten) innerhalb der Geschichte, der eigenen Ontogenese des Gegenstands, ist, und kann diese Entwicklung hinsichtlich der Spekularität mit seiner visuellen Modellierung verbildlichen. Zwar ist diese »hermeneutische« Arbeit dadurch nicht auf einen einzelnen Begriff beschränkt, aber auf die Analyse von (mehr oder weniger) weitreichenden und komplexen strukturellen Gruppen orientiert. Das Subjekt kann die Entwicklung einer morphologischen Infrastruktur beobachten. Von der Grundanschauung ausgehend kann es, die Modellierung folgend, einen Teil davon isolieren und beginnen, sich auf die verschiedenen, morphologischen Konfigurationen richten, welche in der Ontogenese der □MG angenommen hatte. Es beginnt mit der Beschreibung der Termini (oder Punkte oder Knoten), aus denen die morphologische Infrastruktur sich zusammensetzt. Anschließend bestimmt das Subjekt eine der strukturellen Beziehungen, um dann der variablen, morphologischen Disposition zu folgen, die ihre Punkte auf die Struktur übertragen haben, die ihrer semantischen Sedimentierung entspricht. Das Subjekt erfährt und sieht hier etwas, was sich in der Ontogenese des Gegenstands abspielt, es entdeckt seinen internen Horizont, der seiner »Vergangenheit« entspricht. Die metatheoretische Erfahrung ist kein Feld absoluter Diskursivität, sondern vielmehr die Gesamtheit der Akte, die aus der Fähigkeit des Subjekts, die anschaulichen Teile sowie die Zeichen einer morphogenetischen Entwicklung zu interpretieren, hervorgeht.
373 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
§ 62. Der □MG und seine Dynamik Wenn die Erforschung des Innenhorizonts des □MG seine Vergangenheit und seine Zukunft im Verhältnis zu seinem Eidos sozusagen als schon eingeschrieben in seinen Charakter der Präsenz (die eine als schon anschaulich mitgegeben und die andere in einer antizipativen Modalität) enthüllt, so enthüllt sich der Gegenstand selbst als etwas intrinsisch Dynamisches, das einem Zustand der Unbeweglichkeit kaum unterworfen ist. Die □MG sind keine platonischen Ideen, sondern etwas, das sich vom Realen her nähert (und von dem her sich das Reale ernährt). Der □MG hat, als aus der lebendigen menschlichen Intelligenz hervorgegangen und als Sedimentierung des »Schauens« der theoretischen Intelligenz selbst, sein eigenes Werden. Dies entspricht natürlicherweise nicht der Behauptung, dass sich der Gegenstand unabhängig von aller subjektiven Erfahrung entwickelt und dass die subjektive Erfahrung seiner Entwicklung folglich lediglich etwas Illusorisches ist. Das kommt hingegen der Aussage gleich, dass der Gegenstand, indem er in seiner intentionalen Beziehung verweilt, mit einer eigenen Dynamik versehen ist, die sich von den Bestimmungsmöglichkeiten einer Form der Subjektivität entfernt und sich als unabhängige Beschaffenheit erweist, die gerade die Unabhängigkeit seiner Erscheinung bestimmt. Das, was sich von dem Gegenstand zu erkennen gibt, kann lediglich in re durch das □metatheoretische Subjekt selbst angenommen werden, das jenes erfährt. Indem das wahr bleibt, was dem Gegenstand als »von dem Gegenstand« zukommt, kann dieser allein das sein, als das er sich seiend äußert. Eher noch, als erneut über die Paradoxien nachzudenken, die am Ende als einzige zu erkennen sind und die man dem noetisch-noematischen Zusammenhang als solchem zuschreiben kann, muss man über die durch diesen Abstand vollzogene Begegnung nachdenken, in und durch den sich gerade eine 374 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 62. Der □MG und seine Dynamik
Ontogenese (des Gegenstands) und eine Phylogenese (der lebendigen Intelligenz) begegnen. Führen wir uns also für einen Moment noch einmal das Beispiel des Gletschers vor Augen: Ich beobachte den Gletscher und wenn ich ein kompetenter Geologe oder Klimatologe bin, dann kann ich gewisse Stücke meiner aktuellen Anschauung interpretieren, die »da« ist, in ihrem Präsenzcharakter als Zeichen seiner Entwicklung im Laufe der Jahrtausende. Der Gegenstand ist dort und ich sehe ihn in seiner Gegenwart genauso gut wie in seiner Vergangenheit, und zwar ohne dass irgendeine aktuelle Erfahrung von dem, was er vor 2000 oder 3000 Jahren war, gegeben ist. Also habe ich trotzdem überhaupt keine Zweifel bezüglich der Tatsache, dass er seine Entwicklung hat, selbst wenn meine Interpretation kaum einen empirischen, »direkten« Beweis des Gletschers vor 3000 Jahren liefern kann. Meine Erfahrung entwickelt sich durch und dank dieser Protothesis. Die Protothesis bestimmt genau den Abstand zwischen: 1. 2.
meiner aktuellen Erfahrung und ihrer Auslegung, die durch diese aktuelle Erfahrung geöffnet ist, dem Gegenstand in seinem eigenen Werden.
Nicht nur der Gegenstand ist da, sondern auch seine vergangenen Zustände und ich kann sie lediglich erreichen, indem ich diese Beziehungen – oder einfach nur die anschaulichen Stücke, die ich wiedererkenne und welche ich aus ontogenetischer Perspektive interpretiere – bestimme. Das, was für mich die Möglichkeit bestimmt, mich auf diese vergangenen Zustände, wie phylogenetisch in der Aktualität des Gegenstands sedimentiert, zu beziehen, ist nur eine regionale Ontologie. Eine solche regionale Ontologie gewährt mir zunächst Zugang zu den Charakteren des Gegenstands, die ihn als diesen-Gegenstand-hier und nicht als irgendeinen Gegenstand bestimmen, und anschließend zu den regionalen Gesetzen, welche die hermeneutische Perspektive der Bestimmung seiner Ontogenese eröffnen. Es sind jedoch auch nicht die regionalen Gesetze, die die Besonderheit des Gegenstands bestimmen und die Möglichkeiten seiner ontogenetischen Bestimmung, die aus der fundamentalen Protothesis [infra §§ 108–109] hervorgehen, nach der ich der Sache eine Bestimmung und nicht meine subjektive Erfahrung der Sache zuspreche. Das Gleiche gilt für den □MG. Ich erfahre hier vor meinen Augen den □MG, umgeben von Gegenständen der gleichen Art, mit denen er im statischen oder dynamischen Verhältnis steht. Ich beginne damit, die anschaulichen Teile des □MG zu isolieren, und übernehme davon Termini (oder 375 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Punkte, oder Knoten) als thematische Gegenstände, indem ich die Gesamtheit seines □Eidos in den Hintergrund stelle. Dann interpretiere ich diese Punkte sowie die Morphologie, die sie zueinander in Beziehung setzt, nicht als die Knoten und die Morphologie seiner aktuellen Äußerung von dem, was jetzt ist, sondern als Zeichen seiner Ontogenese. Doch von dem Moment an, an dem ich beginne, über den selbstgebenden Gegenstand nachzudenken, an dem ich mir bewusst bin, den Gegenstand anzuschauen, spielen sich alle meine Akte, außer im Falle einer Neutralisierung (z. B. von der Gewissheit der anschaulichen Vorstellung in ihrer Gesamtheit in Zweifel gezogen), auf der Basis, das heißt auf dem Grund dieser Protothesis ab. Es ist also in dieser Protothesis, wo sich die Ontogenese des Gegenstands und die Phylogenese einer Gemeinschaft, welche die Ergebnisse der lebendigen Intelligenz aufteilt und verinnerlicht, begegnen und kreuzen. Die Unabhängigkeit der Protothesis, ebendiese Unabhängigkeit, die sich streng genommen und direkt als abhängig nur von der Auswahl der Orientierungspunkte für die anschauliche Individuation des Gegenstands erweist, zielt auf die Phylogenese ab und entwickelt folglich die Kreuzung zwischen der Phylogenese der menschlichen Intelligenz und der Ontogenese des □MG. Weit davon entfernt, uns in einem Universum von fiktiven Gegenständen wiederzufinden, befinden wir uns »hier« in der sedimentierten Geschichte unserer eigenen Erkenntnis, unseres eigenen Wissens, oder sozusagen des eigenen genetischen Codes unserer epistemischen Weltvorstellung. Hier findet man sich erneut in der Schwierigkeit wieder, zu verstehen, auf welche Weise eine Form des »Sehens« eine Besonderheit auffassen kann, die sich außerhalb der Region Wahrnehmung »instanziiert«. Im Fall des □MG führen der Schlüssel der Individuation und sein Verständnis direkt zu der Begegnung – oder vielmehr zu der Beschlagnahmung der Begegnung zwischen einer Ontogenese (der des Gegenstands, welcher anschaulich in seiner Aktualität mitgegeben ist) und der Phylogenese, in der seine Individuation verbreitet oder auf welcher sie vielmehr verstreut ist. Diese Begegnung zwischen einer entstehenden Zeitlichkeit des Gegenstands und der Zeitlichkeit der lebendigen Intelligenz, innerhalb derer man die ontogenetischen Momente des Gegenstands findet, ist insofern schwer zu erfassen. Sie ist schwieriger zu erfassen, da es schwierig ist, den Abstand des »ontologischen« Registers zu erfassen, den es zwischen einem Gegenstand der gemeinsamen Wahrnehmung (dem Ball, der sich bewegt) und einem Gegenstand gibt, der immer in die Wahrneh376 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 63. Strukturelle Modifikationen und semantische Variationen
mung fällt, dessen Phasen jedoch, im Verhältnis zu den morphogenetischen Strukturen der gewöhnlichen Erfahrung, makroskopisch auf der Zeit ausgebreitet werden. »Steter Tropfen höhlt den Stein«; wenn wir also einen Stein sehen, der von einem Tropfen ausgehöhlt wurde, welcher langsam von einem hoch gelegenen Stein fällt, so sehen wir tatsächlich, dass der Stein von dem Tropfen ausgehöhlt wurde, wo wir doch eigentlich nur einen Tropfen wahrnehmen, der auf einen Stein fällt. Durch den Zugang (der mit der Anschauung in seinem Gegenwärtigkeitscharakter anschaulich gegeben ist) zur Vergangenheit des □MG sowie durch die perspektivische Öffnung auf seine zukünftig möglichen Beschaffenheiten gehen wir wesentlich auf der Basis dieser Protothesis vor. Eine solche Protothesis erlaubt uns, uns auf die Gewissheit zu stützen und nicht an der Oberfläche des Imaginären oder Fiktiven 1 zu treiben. Im Gegensatz jedoch zu dem, was man denken könnte – indem man die Zweideutigkeit zwischen dem Imaginären und dem »Verstreuten« in einer Phylogenese durchlässt –, zielt die Protothesis, welche durch die regionale Ontologie und eventuell durch ihre eigenen möglichen Individuationprotokolle diktiert ist, diejenigen Elemente an, welche die Entwicklung des □MG bewirken, und die durch den Umweg selbst dieser intentionalen Akte Individuierten, die »wissen« und die sowohl das Eidos als auch den Logos des □MG selbst anerkennen können.
§ 63. Strukturelle Modifikationen und semantische Variationen: Vom □MG und seiner Mereologie Wenn die Individuation des Gegenstands in der Grammatik der metatheoretischen Schau mit der Zerstreuung seiner bildenden Elemente einhergeht, so entspricht das nicht der Behauptung, dass das □metatheoretische Subjekt es mit den verstreuten »Sachen« zu tun hat, In der umfangreichen Literatur, die die fiktionalen Gegenstände betrachtet, gibt es keine Beziehung zwischen fiktiven Gegenständen und Theorien oder eine Betrachtung der Theorie als solche qua fiktionalem Gegenstand. Siehe hierzu H.-N. Castañeda, Fiction and Reality. Their Fundamental Connections, Poetics, 8: 31–62; K. Fine, The Problem of non-Existents I. Internalism, Topoi, 1, 1982: 97–140; D. Lewis, Truth in Fiction, American Philosophical Quarterly, 15, 1978: 37–46; E. Zalta, Referring to Fictional Characters, Dialectica 57, 2003: 243–254; D. Braun, Empty Names, Fictional Names, Mythical Names, Noûs, 39, 2005: 596–631; P. van Inwagen, Creatures of Fiction, American Philosophical Quarterly, 14, 1977: 299–308.
1
377 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
denen es unbemerkt eine fiktive Einheit verleiht. Folglich stellt die Protothesis des □MG, die sich auf seiner Individuation gründet und die ihrerseits die anschauliche Erfahrung seiner Entwicklung begründet, die Theorie von Ganzen und Teilen als unumgängliches Element der Beschreibung der metatheoretischen Erfahrung als solche in Frage. Bevor wir die wesentlichen Elemente der Mereologie in der metatheoretischen Regionalisierung betrachten, 2 müssen wir uns dennoch an diese thematische Grenzlinie halten, die in der Begegnung der strukturellen Modifikationen und semantischen Variationen besteht, welche genau über den »anschaulichen« Gehalt des □MG als solchen entscheiden. Die Artikulation der zwei Dimensionen des Gegenstands, sein □Eidos und sein □Logos, erweisen sich erneut als ausschlaggebend, um nicht (oder nicht nur) sein Wesen, sondern das Wesen der metatheoretischen Erfahrung als solche zu entschlüsseln, sofern genau eine solche Analyse niemals das Wesen von »etwas« als vollständig von der Erfahrung, die man davon macht, unterschieden erkennen kann. Durchlaufen wir also rückwärts die Phasen, die uns bis zum Bewusstsein des □MG geführt haben und uns ipso facto dazu gebracht haben, zum zweiten Mal die Frage und die Probleme der Individuation (und folglich der Protothesis 3) aufzuwerfen. Durch die Erforschung des inneren Horizonts des □MG im Verhältnis zu seinem Logos macht das Subjekt die Erfahrung der »Vergangenheit« des Gegenstands, das heißt, dass es in der Form der anschaulichen Mit-Gegebenheit nicht – oder nicht nur – erfasst, was der Gegenstand in seinem Präsenzcharakter ist, sondern, was er geworden ist, und folglich, was er war. Diese Erfahrung kann jedoch nicht ohne ein vorbereitendes Erfassen von dem, wie er aktuell ist und wo er sich nunmehr zeigt, erfolgen. Diese Gegebenheit, welche die anschauliche Mit-Gegebenheit gründet oder bestimmt, erfüllt die Funktion, 1) 2)
die Dimension des □Logos, also die Möglichkeit der Bestimmungsakte der Ontogenese des Gegenstands; die Dimension des □Eidos, nämlich die Möglichkeit einer punktuelleren und scharfsinnigeren Bestimmung seiner aktuellen, morphologischen Struktur,
offen zu halten. Für eine allgemeine Darstellung der Mereo-topo-logie vgl. § 111. Die Fragen nach der Protothesis und der Individuation werden im Kapitel XI behandelt.
2 3
378 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 63. Strukturelle Modifikationen und semantische Variationen
Die Auffassung seines □Eidos öffnet aber auch die ontogenetische Perspektive des Gegenstands, die seine »Zukunft« betrifft, das heißt die Gesamtheit der morphologischen Beschaffenheiten und möglichen semantischen Variationen, die er gerade dank seiner genetischen Erfüllung akzeptieren kann. Somit verweist die Auffassung des □Eidos seinerseits, in seiner Funktion der dreifachen thematischen Öffnung, auf das zurück, das bewirkt, dass der Gegenstand selbst als anschaulich gegeben erfasst werden kann, also auf die Möglichkeit, dass er als »dieser-Gegenstand-hier« innerhalb eines metatheoretischen Horizonts angetroffen werden kann. Dazu kann man allein auf das Subjekt verweisen, das die Fähigkeit hat, Ortungsunkte, das heißt kontextuelle Koordinaten, ausfindig zu machen – die allein im metatheoretischen Horizont, der mit seinen regionalen Gesetzen ausgestattet ist, wirken –, dank welcher die verstreuten Entitäten als »Gegenstände«, und zwar als Gegenstand, der sich auf anschauliche Weise zeigt, wiedererkannt werden. Somit gibt es hier bezüglich des □MG nicht mehr Besonderes als im Verhältnis zu anderen Formen der anschaulichen nicht-perzeptiven Auffassung. Indem ich zum Beispiel von einem institutionellen Konflikt spreche, sage ich: »Und hier ist die Gegenüberstellung zweier politischer Figuren bezüglich des Problems x, mit dem wir uns aktuell beschäftigen.« Aufgrund des Kontexts können die Zuhörer die Äußerung der Person x, die eine Minute zuvor im Fernsehen war, und den Titel einer vor drei Tagen bei einem Zeitschriftenhändler bemerkten Zeitung als Komponenten eines Streits auswählen, den ich ihnen trotzdem in der deiktischen Weise des »und hier« aufzeige. Der Zuhörer hat den Kontrast »vor Augen«, er sieht ihn und er kann eine thematische Besonderheit erfassen, die sich auf unmittelbare Weise zeigt, doch ohne die Elemente, die sie bilden, zu erkennen – da die Elemente einfach nicht dazu geeignet sind, sich in Form einer »Wahrnehmbarkeit« zu zeigen. Das ist ganz einfach der Tatsache zu verdanken, dass die Anschauung einer Singularität, mal in den perzeptiven Formen, mal in mehreren Fällen von anderen Anschauungsformen, keiner molekularen Einheit bedarf, um eine thematische Singularität auf unmittelbare Weise zu erfassen. Denn die Anschauung, das heißt die unmittelbare schlichte Auffassung einer Besonderheit hängt wesentlich von den kognitiven Strukturen und schließlich von der Morphogenese des Sinnes 4 ab, ohne insofern zu fragen, was das für eine angebliche 4
Siehe hierzu J. Petitot, Morphogénèse du sens, cit.
379 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Form der physischen Aggregation wäre. Dennoch wäre es ein Fehler: a) dasjenige, aufgrund dessen das Subjekt legitim behaupten kann, eine unmittelbare Gegebenheit einer thematischen Singularität aufzufassen (das heißt die Komponenten, die ex post als verstreute Elemente anerkannt werden, die offensichtlich keinen Zusammenhalt haben), und b) die Teile des Gegenstands – in diesem Fall des □MG – den man auf der Basis der Protothesis individuiert, zu identifizieren [infra § 108]. Um diesen Abstand zu erklären und um in die Beschreibung der Mereologie des □MG eingeführt zu werden, müssen wir das Verhältnis, das gerade zwischen der Protothesis einerseits und den semantischen Variationen sowie den strukturellen Modifikationen andererseits besteht, festsetzen. Denn weit entfernt davon, einen nebensächlichen Aspekt darzustellen, erweist sich die Protothesis als wesentlich für das Verständnis der Erfahrung des □MG und ipso facto für die Beschreibung seines eigenen Wesens, das durch die Mereologie skandiert wird. Man geht nicht über die Protothesis hinaus. Die Mereologie (der Erfahrung) des □MG gründet sich auf der Protothesis, so wie die stimmhaften und nicht stimmhaften Teile des Schreis, der Frage um Hilfe etc. sich notwendigerweise auf die Protothesis beziehen und gründen, die wiederum festlegt, was die stimmhaften Vibrationen in einem mit Sinn ausgestatteten – und nach einer Grammatik strukturierten – Ausdruck waren, dessen Teile sich von den physischen Vibrationen unterscheiden. Nach der Protothesis fixiere ich hier diesen Gegenstand, welcher sich auf unmittelbare Weise wie ein gewöhnliches Etwas und gleichzeitig wie in eine Struktur ontologisch-regionaler Idealitäten eingeschrieben zeigt. Von dem aus, was sich streng genommen als unser Bewusstsein der Anschauung des □MG erweist, werden die Teile des □MG sowie der Gegenstand selbst (als Ganzes genommen) nicht ex necessitate die Gesamtheit der geschriebenen Seiten, Kapitel, Bücher oder mündlichen Diskussionen zu diesem Thema, die in der Phylogenese der menschlichen Intelligenz, einer Periode oder auch einer geographisch besonderen Region aufeinander gefolgt sind. Hier, auf der Basis der Protothesis, auf der Basis der Einschreibung – welche die Protothesis von »diesem hier« innerhalb einer Struktur von regionalen Idealitäten verwirklicht – erweist sich der □MG als etwas. Dieses »Etwas« ist gewissen eidetischen Regeln und gewissen ontologisch formalen Strukturen (die nach ihrer bestimmten, besonderen und charakteristischen Regionalisierung dekliniert 380 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen
werden) unterworfen und untergeordnet [infra § 109]. In diesem Sinne zeigen sich die strukturellen Modifikationen und die semantischen Variationen – so wie die morphologischen Strukturen (oder Komponenten) und die Termini (oder Punkte oder strukturelle Knoten), die davon strukturiert werden – schlussendlich als Momente des Gegenstands dieser Sacherfahrung. Die Modifikationen und die Variationen zeigen sich als seine Teile, in eine kodierte Erfahrungsform eingeschrieben. Nach dieser Kodierung und dank dieser Kodierung ist das □metatheoretische Subjekt nicht jedes Mal, wenn es über den Gegenstand, den es inspiziert und dessen inneren Horizont es erforscht, nachdenkt, darauf angewiesen, zu den Quellen zu gehen, denen es glaubt, um den Grund, das ontologische Fundament und die Zusammenstellung der Anschauung des Gegenstands zuordnen zu können. Die Teile sowie auch die Momente in allen möglichen Bedeutungen der metatheoretische Regionalisierung der Mereologie sind »da«. Ihre Präsenz hindert die Schau daran, hinunter ins Reich einer (neuronalen) Dimension zu steigen. Ihre Präsenz zwingt die Schau, im Feld der Beschreibung der Grammatik (die solche Momente charakterisiert) zu bleiben.
§ 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen Das Metatheoretische als solches (als Regionalisierung der Sacherfahrung) impliziert eine Mereologie, das heißt die Auffassung jedes Erfahrungsgegenstands, innerhalb des metatheoretischen Horizonts, nach Verhältnissen von Ganzen und Teilen. Das, was uns dagegen jetzt interessiert, ist nicht so sehr die mereologische Formalität als solche, sondern vielmehr die Regionalisierung der Strukturen [infra § 110]. Und natürlicherweise interessiert diese Regionalisierung sowohl die abhängigen Teile (Momente) als auch die unabhängigen Teile (Fragmente). Die Regionalisierung stellt jedoch notwendigerweise die Topologie in Frage, die ihm (außerhalb eines jeden primitiven Physikalismus) intrinsisch ist [infra § 114]. Doch die Räumlichkeit der Mereologie, die damit Mereotopologie ist, 5 ist nicht die Räumlichkeit der 5 Vgl. B. Smith, Mereotopology: A theory of parts and boundaries, Data & Knowledge Engineering, 20, 1996, S. 287–303, S. 288: »Mereotopology […] is built up out of Mereology together with a topological component, thereby allowing the formulation
381 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Modellierung. Diese letzte lässt uns nicht zum Gegenstand gelangen, es sei denn aufgrund oder durch den Umweg seiner eigenen bildlichen Räumlichkeit. Versuchen wir uns also eine Modellierung des □MG wie folgt vorzustellen. Es handelt sich selbstverständlich um eine Modellierung, die den kognitiv elementaren Typus eines dreidimensionalen Gegenstands in seiner Räumlichkeit, was Komplexität, Scharfblick und Reichtum angeht, bei weitem übertrifft. Denken wir den □MG als ein Netz 6:
Abb. 1
Überdenken wir anschließend die Hypothese, nach welcher die (informatische) Modellierung des □MG, dessen Regeln und algorithmische of ontological laws pertaining to the boundaries and interiors of wholes, to relations of contact and connectedness, to the concepts of surface, point, neighbourhood, and so on.« 6 Vgl. dazu U. Moulines, Structuralism: the Basic Ideas, cit., S. 2 : »The concept of a theory-net is what comes closest to the most frequent intuitive usage of the term ›theory‹.«
382 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen
Verfahren von einer Interaktion zwischen Forschern und Informatikern festgesetzt worden sind, dynamisch und interaktiv sei. Das ist kaum schwer zu begreifen, da es eben unsere Gegenwart, wenn nicht schon eine Vergangenheit, ist. Das Network Modeling stellt sich heute als eine der überraschenden und philosophisch viel versprechenden Ressourcen im Feld der Modellierung von komplexen Phänomenen dar. Das bedeutet, dass wir mit diesem Bild über die Entwicklung des □MG im Moment x, dort, wo sich unsere Auffassung festsetzt, verfügen. Jedoch kommt das auch der Tatsache gleich, dass wir über Algorithmen verfügen, die, den im Gedächtnis eingelagerten Daten folgend, das strukturelle Bild des Gegenstands zum Zeitpunkt tx-a, tx-b rekonstruieren können, indem sie den Zeit-Koeffizienten folgen. Man kann sich analoge Funktionen vorstellen, um daraus die zukünftigen Zustände, die aufeinanderfolgenden Momente der strukturellen und morphologischen Entwicklung des Gegenstands zu folgern. Ebenso verfügen wir über Funktionen, die es uns ermöglichen (nach sehr bekannten Systemen ausgehend von der informatisierten Molekularbiologie bis hin zur Architektur), die Anschauung des Bilds des Gegenstands in tx zu variieren. An diesem Punkt berührt der mögliche Einwand, eine solche Simulation bzw. visuelle Modellierung existiere noch nicht (in gleicher Weise wie bei der Turingmaschine für die Informatik), nicht das philosophische und spekulative Wesen der Sache. Sie erscheint dagegen zumindest für diejenigen, die nicht engstirnig sind, in der Erforschung der Territorien des Wissens von dem, was man schon weiß (die also im Wissen und nicht oder noch nicht außerhalb des Wissens selbst liegen), als überflüssig. Doch kommen wir zurück zum Gegenstand, zurück zu der »Sache selbst«, das heißt zur Gegenstandserfahrung durch das Modell. An diesem Punkt wäre die Behauptung, dass der Gegenstand nicht existiert, genauso unsinnig wie die Behauptung, dass die Galleria degli Uffizi nicht existiert, wenn ich sie in einer 3D-Simulation durchschreite (denn man weiß, dass es nur um eine virtuelle Simulation der Galleria degli Uffizi geht), 7 und ebenso, dass die Kollisionen von Protonenpaketen im CMS nicht existieren, weil ich lediglich ihre visuelle Man ist sich durchaus der Häresie bewusst, welche die Tatsache, innerhalb einer »spekulativen Philosophie« von einer Simulation zu sprechen, hervorrufen kann, einer Häresie, die Ärgernis hervorruft, weil die spekulative Philosophie weder Zeit noch Ort noch Schrittweite haben darf, wenn sie die Sachen ohne Zeit, ohne Ort etc. berührt. Hier also die Tilgung des Spekulativen über die Metaphysik. Doch das Spekulative ist nicht die Metaphysik.
7
383 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Modellierung nur im zentralen Raum von Point Five sehe. Die anschauliche und visuelle Erfahrung, die sich thetisch am Existierenden orientiert, muss nicht zwangsweise visuell, perzeptiv sein. Es gibt eine Protothesis, die festlegt, was in seinem Erscheinungscharakter angeschaut wird. Wir haben hierfür an anderer Stelle argumentiert. 8 Halten wir uns für den Moment an die Sacherfahrung, das heißt an die Erfahrung des □MG 9 durch das Vorbild, und kommen wir zurück zu den drei fundamentalen intentionalen Momenten der Erfahrung von etwas im Allgemeinen: 1. 2. 3.
Die schlichte Erfassung des Gegenstands, der sich als streng an die Protothesis und an ihre kognitiven Strukturen gebunden erweist. Die reine und klare Erkundung des Gegenstands, das heißt die Erforschung seines Innenhorizonts. Die Erforschung seines Außenhorizonts. 10
Halten wir uns jetzt an das zweite Moment: Das erste wurde im vorhergehenden Kapitel erklärt und analysiert, als die Erfahrung des □MG eingeführt wurde; das dritte Moment wird in den nächsten Paragraphen betrachtet werden. Im zweiten Moment, wenn das einfache Setzungs- und Anerkennungsmoment seinen Platz an die Erforschung des Gegenstands abgibt, kommt die Mereo-topo-logie des □MG als solchem, zum Einsatz. In seiner Annäherung an den Gegenstand kann das □metatheoretische Subjekt, das ihn erfährt, ihn zunächst lediglich nach den mereologischen Verhältnissen fixieren, was 8 Vgl. F. Fraisopi, La complexité et les phénomènes. Nouvelles ouvertures entre science et philosophie, Paris, 2013, S. 489–522. 9 Der Ausdruck »Erfahrung des □MG« bleibt gerade aufgrund der durch den Operator gelieferten Charakterisierung in all seiner Gültigkeit und mit allen seinen charakteristischen Strukturen auch in der Deklination, die ihm auf dem Niveau der Modellierung geboten wird, bestehen. Die Tatsache, die Erfahrung von etwas im metatheoretischen Horizont, durch den Umweg eines Vorbilds, zu machen, ändert kaum den Status der Gültigkeit und Offenkundigkeit der Erfahrung selbst, wie man zum Beispiel die Erfahrung vom Kölner Dom durch ein Foto macht. In diesem Fall würde der positionale Charakter der Erfahrung durch einen anderen positionalen Charakter, den des Bewusstseins des Bilds, eingeklammert. Im Fall der Erfahrung des □MG durch das Vorbild ändert sich der positionale Charakter kaum mit dem Eingreifen der Modellierung, als ob die Erfahrung eines Gegenstands in der Theorie der Kategorien zum Beispiel eines Morphismus sich bspw. aufgrund des Eingreifens des Graphen ändern würde. Hier, wie auch im Fall der Erfahrung des □MG durch das Vorbild, gibt es keine Veränderung des positionalen Charakters durch das Eingreifen einer Modellierung als solche. 10 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, cit., S. 114 f.
384 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen
auf der Basis der (impliziten oder expliziten) Gesetze der Mereologie geschieht, die sich mit den topologischen Verhältnissen vermischen und in ihnen ihre Implementierung finden. Man kann zunächst die Unterscheidung zwischen den abhängigen und den unabhängigen Inhalten »anerkennen«, welche sich – man muss dies wiederholen – auf der Basis einer Strukturierung der Arten (die besonders die mereologischen Verhältnisse zwischen den abhängigen Inhalten bestimmt) und auf der Basis der ontologisch materialen Gesetze anordnet, welche die formal mereologischen Gesetze zwischen den abhängigen Inhalten (auch aus topologischer Sichtweise) charakterisieren und spezifizieren. Nehmen wir noch einmal das Bild und ordnen wir es in drei Teilaspekte, die wiederum drei strukturellen Makro-Portionen entsprechen könnten. Für diese Teilaspekte gelten, jenseits der Axiome der Basis- bzw. Grund-Mereologie, gewisse Korollare (K1-K3) genauso wie auch gewisse Axiome (A8-A10) [infra § 110–111]. Man könnte durch das Axiom der Transitivität der Grund-Mereologie auch die mereologischen Verhältnisse überdenken, die den Teilaspekt des □MG1 usw. bis hin zu den letzten Elementen, den Knoten, strukturieren (was die Frage nach dem Atomismus aufkommen lässt, den wir im Folgenden diskutieren werden). Die mereologischen Verhältnisse konfigurieren sich jedoch hier nach der Modellierung in den mereotopologischen Verhältnissen. Dies öffnet die aktuellen sowie die potentiellen mereotopologischen Konfigurationen, die man erfassen und systematisieren kann. Man verfügt über eine thematische Eröffnung der Momente, das heißt, dass man die abhängigen Gegenstände erfasst: Ich erforsche den Gegenstand, ich isoliere seine Teilaspekte und Unter-Teilaspekte und ich denke sie in ihren mereotopologischen Konfigurationen, die eine Gründung durch all dies verlangen. An diese Konfigurationen wenden sich die mereologischen Gesetze. Versuchen wir jedoch, anstatt die lokalen Ausführungen dieser Gesetzte zu wiederholen, vielmehr die mereotopologische Erfahrung selbst in ihrer lebendigen Aktualität zu erfassen. Wie wir bereits gesagt haben, schreibt sich die Erfahrung – auch die mereotopologische Erfahrung des □MG – in eine Regionalität ein, die ihrerseits eine Strukturierung zwischen genera und species zulässt, die gewisse Momente, das heißt gewisse abhängige Teile, festlegt. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Teilaspekt □MG2[5]:
385 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
5
Abb. 2
Diesen Teilaspekt kann ich dank meiner abgelagerten Erfahrung der □MG in ihrer Modellierung als ein morphologisch bekanntes Moment erkennen (oder der Computer kann sie selbst, auf der Basis der gespeicherten Informationen, erkennen), die Struktur n eines strukturellen Unter-Teilaspekts. Dieses in ein Vorverständnis der morphologischen Entwicklungen eingefügtes Moment kann in seinem mereologischen Besitz sowohl in der Aktualität tn als auch in anderen Phasen der dynamischen Modellierung untersucht werden. Dieser Teilaspekt hat auch eigene mereotopologische Entwicklungen, die ich ebenso in einem Netz des Vorverständnisses erkennen und dort einfügen kann. Nehmen wir das Beispiel einer Struktur, welche sich nach ihrer Selbstähnlichkeit entwickelt, den Teilaspekt □MG2[5]:
Abb. 3
Stellen wir uns eine mereotopologische Entwicklung nach der Selbstähnlichkeit vor:
386 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen
Abb. 4
Diese Momente und ihre Erkenntnis hängen wesentlich von der Zugehörigkeit des □MG zu einer qualifizierten, regionalen Struktur ab, aufgrund derer sowohl die einfachen mereologischen Verhältnisse (nämlich ontologisch formal) als auch die topologischen Verhältnisse eine ganz bestimmte Deklination erhalten. In dieser Deklination gelten nicht nur die ontologisch formalen oder die topologischen Gesetze, sondern auch ihre regionalen Charakterisierungen. Man kann zum Beispiel in dieser Deklination behaupten, dass der unabhängige Inhalt des □MG selbst ein □MG ist, wohingegen das unabhängige Moment einer Fußballmannschaft, ein Spieler, keine Fußballmannschaft ist und das unabhängige Moment eines unabhängigen Moments einer Fußballmannschaft, der Kopf eines Spielers, keine Fußballmannschaft ist. Das entspricht der Aussage, dass die Semantik in jeder mereotopologischen Regionalisierung eine wesentliche Rolle spielt: Eine bestimmte Charakterisierung der ontologisch-formalen mereologischen Prädikate erfüllt mit Vorstellungsinhalten die »Ganzes-Teil«Verhältnisse und die Verhältnisse der topologischen Verbindung. Wenn man zum Beispiel bei einer Fußballmannschaft als einem abhängigen Moment den morphologischen Besitz 4–3–3 erkennen kann, den wir aufgrund unserer mereotopologischen Erfahrung in dieser Region kennen, hätte dies keine Bedeutung für einen □MG. Wenn die morphologische Variation einer Fußballmannschaft als aufeinanderfolgende Momente ein 4–3–3 und ein 4–2–1–3 haben kann, kann die morphologisch strukturelle Variation eines □MG durch Selbstähnlichkeitsentwicklung eine Multiplizierung der Teilaspekte erlauben. Doch wir sollten – anstatt uns nach der Möglichkeit der 387 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Multiplikation der unabhängigen Momente des □MG sowie nach der Typologie der abhängigen Momente und ihrer Strukturierung zu fragen –uns lieber nach der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit fragen, eine wesentliche Eigenschaft auf der mereotopologischen Ebene, nämlich den Atomismus, annehmen zu können.
§ 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension Um die Bedeutung der Sedimentierung der Strukturen und der regionalen Prädikate im Hinblick auf die Deklination der Mereologie zu beweisen, haben wir am Ende des vorausgehenden Paragraphen behauptet, dass der unabhängige Inhalt eines □MG selbst ein □MG ist und dass außerdem der unabhängige Inhalt eines unabhängigen Inhalts eines □MG ein □MG ist, was aus streng formaler Sichtweise nicht unbedingt für jedes mereologische Verhältnis gültig ist. Jenseits der Banalität des angeführten Beispiels der Mannschaft ruft der Fall der Statusidentität der unabhängigen Inhalte für den □MG, für die intentionale Beschreibung der Erfahrung der □MG entscheidende Probleme hervor. Die Behauptung ist in der Tat ungenau und man muss sie korrigieren. Diese Genauigkeit erlaubt es gleichzeitig, auf gründlichere Art und Weise die grundlegende Bedeutung der Regionalisierung und der regionalen Deklination der mereologischen Verhältnisse zu bekräftigen. Die Definition des atomaren Teils ist ganz elementar: ATx = df :9y : y ET x (AT: atomistischer Teil; ET: eigener Teil). Diese Definition führt zu einer ebenso elementaren Alternative zwischen der Abwesenheit und der Unteilbarkeit eines Ganzen: ((8x 9y : yETx) _ (9x, 9y : y:9ETx)). Somit bleibt uns »einfach nur« zu entscheiden, welches der zwei Axiome in die metatheoretische Regionalisierung der Mereologie integriert werden muss. Wenn wir zu unserer Behauptung zurückkehren, lässt in der Tat die Annahme, dass ein unabhängiger Inhalt eines □MG selbst ein □MG ist und dass es seinerseits ebenso sein unabhängiger Inhalt ist etc. (als eigener Teil), zur Nicht-Unteilbarkeit eines jeden □MG als solcher tendieren. Jedoch erklärt die Tatsache, 388 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension
dass es zum Beispiel einen eigenen Teil oder einen unabhängigen Inhalt eines □MG gibt, der seinerseits selbst kein □MG ist, kaum, dass es in der metatheoretischen Regionalisierung der Mereologie eine Nicht-Unteilbarkeit gibt. Es kann durchaus geschehen, dass es einen eigenen Teil des □MG gibt, der hingegen ein Inhalt ist, für den man weder einen eigenen Teil noch eine Zusammenstellung denken kann. Nehmen wir die zweite Variante des Beispiels der Fußballmannschaft. Der Kopf [MN 3] des Spielers [MN 2] der Mannschaft ist ein Teil der Mannschaft [MN 1]. Und folglich ist ein Molekül des Gehirns [MN 4] ein Teil des Kopfes; und das Neutrino [MN 7] des Kernes [MN 6] eines Atoms [MN 5] des Moleküls ist seinerseits ein Teil des Kopfes. 11 Und trotzdem kann es einen mereologischen Atomismus geben. Das Problem orientiert sich also in Richtung einer anderen Perspektive, die uns zu dem engen Verhältnis zwischen dem Atomismus und dem semantischen Aspekt gelangen lässt. Denn bis zu welchem Punkt muss man die mereologische Strukturierung eines Ganzen ausweiten? In der Tat ist das Neutrino ein Teil der Mannschaft, wenn man die Mannschaft aus physikalischer Perspektive betrachtet, doch an diesem Punkt müsste man alles Wasser, das während des Spiels als Schweiß abgesondert wird, als eigenen Teil betrachten. Das zeigt, dass diese mereologische Überlegung, das heißt jede mereologische Überlegung, die sich auf der quantitativen Überlegung der Elemente gründet, sinnlos ist. Das stellt die Gültigkeit der Axiome (oder an diesem Punkt das Prinzip) der mereologischen Transitivität in Frage, weil man behaupten kann, dass mehrere legitime und formal geeignete Bedeutungen der Transitivität nicht gültig sind und man schließlich dazu gezwungen ist, ein Moment der Nicht-Transitivität zu akzeptieren. Die Beispiele, die Varzi gibt, 12 indem er mehreren Autoren folgt, 13 sind ebenso einleuchtend wie banal und es ist genau diese Banalität, die wir analysieren werden. i) ii)
Eine biologische Unter-Einheit einer Zelle ist kein Teil des Organs, zu dem die Zelle selbst gehört. Eine Türklinke kann der Teil einer Tür sein und die Tür ein Teil des Hauses, aber die Türklinke ist kein Teil des Hauses.
Siehe unten Abb. 5. A. Varzi, Mereology, Stanford Encyclopedia of Philosophy, May, 14 2009. 13 Vgl. D. A. Cruse, On the Transitivity of the Part-Whole Relation, Journal of Linguistics, 15, 1979: 29–38; M. Johnston, Constitution Is Not Identity, Mind, 1992, S. 101; 89–105; I. Johansson, On the Transitivity of Parthood Relations. In H. Hochberg – K. Mulligan (Eds.), Relations and Predicates, Frankfurt, 2004, S. 161–181. 11 12
389 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
iii)
Meine Finger gehören zu mir und ich bin ein Teil der Mannschaft, aber meine Finger sind kein Teil der Mannschaft.
Man kann die Frage mit der Einführung eines »funktionalen« Prädikates (ϕ) lösen. Wir könnten die Transitivität zwischen funktionalen Teilen so definieren: Wenn x ein ϕ-Teil von y ist und y ein ϕ-Teil von z, dann gilt: 1] x ist ein ϕ-Teil von z (xϕy ^ yϕz ) xϕz). In diesem Sinne könnten wir den Begriff der »mereologischen Basis« einführen, um etwas als das anzuzeigen, von dem man keine eigenen Teile hat, sondern ϕ-Teile in einer gut definierten mereologischen Perspektive. Wir erhalten also: 2] (ϕx ^ ϕy)→(x:Ty →9z : (Ψz^zTx^z:Ty)). Das impliziert, dass 3] ϕx →9y (Ψy^yTz) und selbstverständlich, dass Ψ in diesem Fall mit der Nicht-Unteilbarkeit des eigenen Teils und des funktionalen Teils (ϕ) identifiziert wird. Was bedeutet jedoch der Ausdruck »in einer gut definierten mereologischen Perspektive«? Sind wir uns sicher, dass die Identifikation eines eigenen Teils – oder eines unabhängigen Inhalts mit der Charakterisierung des »Basisteils« Ψ – nicht gerade von der Regionalisierung der Mereologie streng abhängig ist, die ebenso die semantische Übersetzung ihrer formalen Grundbegriffe in einer regionalen Ontologie zeichnet? Entweder ist es die regionale Ontologie, die entscheidet, an welchem Punkt man den Operator der Nicht-Unteilbarkeit – in der kompositionalen (oder de-kompositionalen) Stufenleiter eines Ganzen – festlegen und erkennen kann, das heißt das Gleichwertige zwischen einem unabhängigen Teil und Ψ legen kann, oder dies offenbart sich als streng willkürlich seiend. Indem wir den Rekurs auf eine Willkürlichkeit das asylum ignorantiae vieler wissenschaftlichen Erklärungen betrachten, 14 können wir lediglich die erste Möglichkeit annehmen. Wir definieren die »mereologische Weite« [mereological range] als gestaffelte Ausdehnung der funktionalen Teile oder der unabhängigen funktionalen InEin solche Kriterium gilt nicht, selbstverständlich, für diejenigen komplexen Prozessen, derer Erklärungen den Zufall, d. h. aleatorische Komponente, betrachten mussen.
14
390 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension
halte, die einerseits durch den Begriff des Ganzen und andererseits durch das Ψ definiert werden. Man kann davon mehrere visuelle Darstellungen angeben, von denen wir zwei aussuchen:
MN1 MN2 MN3 MN4
MEREOLOGISCHE WEITE
MN5 MN6 MN7
Abb. 5
Außerhalb der regionalen Deklination der Mereologie – das heißt, indem wir in den ontologisch formalen Verhältnissen verbleiben – hätte man weder ein Kriterium, a) b)
um die untere Grenze der mereologischen Weite zu definieren, noch, um davon die obere Grenze zu definieren (wie wir in den nächsten Paragraphen sehen werden).
Welches ist also die Untergrenze der mereologischen Weite für die mereologische Regionalisierung der Verhältnisse in der metatheoretischen Erfahrung? In welchem Sinne und nach welcher Modalität können wir die Möglichkeit einer Zuordnung des Ψ zu funktionalen unabhängigen Inhalten des □MG erkennen, ohne auf den Deus ex Machina der Semantik zurückzugreifen? Die gleiche Frage stellt sich für das Ω, das heißt für die Obergrenze der mereologischen Weite. Für den Augenblick fragen wir uns lediglich: Welches ist, sofern es existiert, das Ψ der mereologischen Erfahrung des □MG? In dieser Hinsicht muss man zur ursprünglichen Vorgehensweise mit dem □MG zurückkehren, für die uns – wie gut zu sehen ist – der kontextuelle Operator »□« kaum hilft, da er lediglich anzeigt, dass der 391 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
□MG einzig und allein aufgrund des Operators selbst so ist, das heißt einzig und allein aufgrund des »Sich Zeigens in …«. Die Strukturierung dessen, was sich im metatheoretischen Horizont zeigt, ist selbst »□metatheoretisch« und hängt zunächst von der metatheoretischen Regionalisierung der mereologischen Verhältnisse nach einer Modellierungstopologie ab. Denn wenn man sie nicht nur von der nominalen Definition, sondern auch von der strukturellen Bestimmung des □MG der Kontextualität abhängig macht, wiederholt man lediglich eine Tautologie bis ins Unendliche: Der □MG ist das, was er ist, weil er sich im metatheoretischen Horizont zeigt. Die nominale Definition kann – obwohl sie auf der spekulativen Situation der metatheoretischen Eröffnung des ins Leere philosophierenden Subjekts gegründet wurde – nicht ausreichen, um das strukturelle Grundproblem des Atomismus zu lösen. Es ist also die metatheoretische Regionalisierung selbst, die diesbezüglich eine Erklärung bringen kann. Denn die letzten Inhalte – wenn es von letzten Inhalten handelt – können nur mit der Frage des systematisch entwickelten Atomismus im Verhältnis zur Regionalisierung mit Genauigkeit erfasst werden. Das bedeutet, dass solche letzten Inhalte nur erfasst werden können, wenn die mereologischen Prädikate einen besonderen semantischen Inhalt annehmen (und zwar unabhängig von der Tatsache, ob diese Frage positiv oder negativ gelöst wird). Kommen wir also zum Vorverständnis zurück, dass man einen □MG hat, wenn man sich in der Situation des ins Leere philosophierenden Subjekts befindet. Das, was sich im metatheoretischen Horizont zeigt und was □MG genannt werden kann, hat dank der metatheoretischen Kontextualität seiner Erscheinung dennoch eine letzte repräsentative Charakterisierung. Somit waren das, was sich in diesem Stadium länger zeigt (oder gezeigt hat) einfach nur Theorien, relationale (komplexe) Strukturen zwischen Theorien etc. Der in § 50 gelieferten Genauigkeit folgend haben wir »theoretische Strukturen« an die Stelle von »Theorien« gesetzt, was den Ausgang eines Sedimentierungsprozesses und einer morphologischen Strukturierung der Elemente anzeigt, die einen besonderen Zugang zur Phänomenalität geben, strukturieren und organisieren. Es ist klar, dass im Vorverständnis des □MG, das man bei der Eröffnung des metatheoretischen Horizonts selbst hat – und trotz der nominalen Genauigkeit, die man dorthin bringt –, die mereologischen Benennungen (wie z. B. »theoretische
392 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension
Struktur«, »Teile von theoretischen Strukturen«, oder »Komplexe zwischen theoretischen Strukturen«) viele Probleme darstellen. Denn 1)
2)
sowohl wenn man die komplexe Struktur von theoretischen Strukturen 15 als Ω und das Ψ als eine theoretische Teil-Struktur versteht als auch wenn man diese theoretische Struktur als Ω und das Ψ als eines seiner Teile versteht,
so bleibt das Problem wesentlich dasselbe. Genau genommen besteht es wesentlich darin, zu wissen, was bewirkt, dass etwas ein □MG außerhalb des »Sich Zeigens in …« ist. Und dieses Problem kann sich nur auflösen (oder beginnen sich aufzulösen), wenn man beginnt, die Möglichkeiten der Zuordnung von Ψ, das heißt erneut die Frage des Atomismus, zu definieren. Anders gesagt: Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall sollte man wissen, aus was oder auf welche Weise ein □MG, unabhängig von der relationalen, strukturellen und auch topologischen Anordnung seiner Teile, besteht. Bis zu welchem Punkt kann ein □MG einfach, nicht artikuliert sein? Ist es zum Beispiel möglich, einen Punkt, einen Terminus (der hierfür kein Knoten sein wird) wie einen □MG zu verstehen? Der Begriff des Hundes kann prima facie kein □MG sein, wohingegen es die Begriffe der Zeit, der Wärme und des Gewichts durchaus sind. Warum? Hier scheint das Quantitative ihrer Intension keine Determinante zu sein, da ein Begriff ein Begriff ist und, wenn wir uns nicht täuschen, so müssten sie die gleichen, unabhängig von der Anzahl ihrer Merkmale (mit Ausnahme ihrer Intension), sein. Wir können, zumindest auf nominale Weise, die Zeit, die Wärme, die Masse, den Hund, den Tisch etc. auf die gleiche Weise definieren, das heißt aus streng logischer Sicht. Es gibt dennoch einen Abstand zwischen dieser logischen Bestimmung und der Möglichkeit, dass dieselben Termini die Fähigkeit besitzen, als Basen, als Untergrenzen der mereologischen Weite in ihrer metatheoretischen Deklination betrachtet zu werden. Woher kommt also dieser Abstand? Es ist jetzt notwendig, sich auf den Charakter der eigenen Teile eines Terminus zu konzentrieren, der entweder bestimmbar oder nicht-bestimmbar als Ψ (d. h. die Basis der mereologischen Weite) sein kann. Was somit bewirkt, dass ein Terminus vom metatheoretischen Standpunkt mit dem Ψ der mereologischen Weite identifiziert 15
Das heißt als Theory-Holon [vgl. dazu U. Moulines, cit.].
393 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
wird, sind nicht die aus nominaler Sichtweise betrachteten Termini, sondern ist die Möglichkeit, dass diese Termini selbst anders betrachtet werden können als in ihrer logisch-nominalen Konstitution, dass sie nämlich als Termini (Punkte oder Knoten) anderer □MG betrachtet oder anerkannt werden können. Exemplifizieren wir die Sache vom Standpunkt der Modellierung. Stellen wir uns also vor, wir könnten in unserem System der dynamischen Modellierung den Punkt isolieren, der eigentlich das Ψ der mereologischen Weite darstellen soll, und dass wir dank einer Vergrößerung der optisch visuellen Definition davon die innere Struktur visualisieren könnten.
ΦMG(1) A
Abb. 6a
Das stellt sich als noch unabhängig von der Tatsache heraus, dass es als Ψ selbst qua □MG angesehen werden kann. Somit ist das, was aus diesem Ψ einen □MG macht, die Möglichkeit, dass seine eigenen Teile (oder seine eigenen unabhängigen Inhalte) als Knoten anderer struktureller □metatheoretischer Verhältnisse angezeigt und angesehen werden können. In diesem Sinne erhalten wir Folgendes: 1)
»A« wird mit Ψ identifiziert, da es der Knoten, der Punkt oder der atomare Terminus des □MG1 ist. Das aufgrund der Tatsache, dass sich die strukturellen Verhältnisse des □MG1 nicht auf die unabhängigen Inhalte oder die eigenen Teile von A ausbreiten, weil die Teile für die strukturellen Konfigurationen des □MG1 ganz einfach nominal sind, das heißt, dass sie in ihrem logisch formalen Status der in der Darstellung von A enthaltenen Darstellungen verbleiben.
394 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension
2)
Die eigenen Teile von »A«, die strukturell als Ψ angesehen und identifiziert werden, werden nicht als Punkte oder Knoten einer anderen theoretischen Struktur angesehen. In diesem Fall zeigt das Ψ ipso facto die einfache logisch formale Beschaffenheit der Teilvorstellungen von A an. Ψ zeigt auf, dass A, allein mit den Verhältnissen, die es mit anderen Termini des □MG1 knüpft, ein atomarer □MG ist.
Abb. 6b
3)
– –
Die eigenen Teile von A, die strukturell als Ψ angesehen und identifiziert werden, werden als Termini, Punkte oder Knoten einer anderen theoretischen Struktur angesehen. In diesem Fall zeigt das Ψ die doppelte logisch formale und metatheoretische Beschaffenheit der Teilvorstellungen des Terminus A an. Ψ zeigt auf, dass A aufgrund des doppelten (oder n-ten) □metatheoretischen Verhältnisses und somit einerseits als Ψ mit anderen Termini des □MG1, andererseits als Ω einer anderen mereologischen Weite mit Termini anderer □MG verknüpft, ein □MG ist.
B ∈ MG a1=AMG2
A
MG2
Abb. 7
395 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Seinerseits kann al mit einer ähnlichen Modalität als Ψ der mereologischen Schau des □MG2 angesehen werden oder nicht. Dies führt uns zu der folgenden Definition: Ein Terminus Ψ der mereologischen Weite eines □MG1 ist ein atomarer □MG, sofern er mit den strukturellen Verhältnissen, die er mit anderen Termini des □MG1 unterhält, betrachtet wird und wenn seine eigenen Teile nur in ihrem logisch-formalen Gehalt weiterbestehen.
Dagegen: Ein Terminus Ψ der mereologischen Weite eines □MG1 ist ein nicht-atomarer □MG, sofern seine eigenen Teile, unabhängig von den Verhältnissen, die er mit anderen Termini des □MG1 unterhält, als atomare □MG eines anderen oder anderer □MG angesehen werden.
Man kann sehr gut bemerken, auf welche Weise diese Definitionen, selbst wenn man ein Verhältnis des Atomismus mit der Semantik einräumt, diese Letzte nicht als Deus ex Machina übernehmen, um das Problem der strukturellen Festlegung des □MG zu lösen. Dass die Erfahrung des □MG von der Semantik abhängt, ist, auch nur aufgrund der elementaren Tatsache der Regionalisierung gewisser ontologisch-formaler Prädikate, offensichtlich. Was jedoch den Atomismus betrifft, so spielt die Semantik nicht eine undeutliche, sondern eine sehr wichtige Rolle in der Bestimmung der Sacherfahrung. Der semantische Überschuss eines Terminus als eigener Teil eines □MG, als Ψ einer mereologischen Weite identifiziert, bewirkt, dass die repräsentative Struktur nicht in ihrem einfachen logisch-formalen Status weiterbesteht, sondern gerade dadurch andere □metatheoretische Verhältnisse einführt.
§ 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien der □MG Die Definition der Frage nach dem Atomismus im Verhältnis zum semantischen Aspekt der metatheoretischen Erfahrung erklärt, in welcher Weise das allgemeine Verhältnis zwischen dieser letzten einerseits – als Form der wesentlich und notwendigerweise regionalisierten Erfahrung – und ihrem semantischen Aspekt andererseits der Festlegung seiner Strukturen zugrunde liegt. All dies erweist sich als wichtig, da sich der semantische Aspekt und die Regionalisierung der Erfahrung, die fast synonym sind, als Namen für eine Klasse (eine 396 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien der □MG
Gesamtheit) von zu definierenden Strukturen erweisen. Näher betrachtet schreibt der semantische Aspekt, in der Form der metatheoretischen Erfahrung, der regionalen Deklination nicht nur mereologische Begriffe, sondern auch alle anderen ontologisch formalen Begriffe vor. So zeigt sich die Notwendigkeit, einen Raum der semantischen Beschreibung der ontologisch formalen Termini des □MG zu definieren – auch für das, was man als die Charakteristik des Gegenstands überhaupt bezeichnet. Das Gegenstand-Sein als ontologisch formale Grundstruktur artikuliert sich nach anderen Seinsmodi, die im Augenblick zwangsweise auf eine besondere ontologische (bzw. metaontologische) Vorgehensweise zurückverweisen [infra § 99]. Dennoch stellt sich der Anspruch, von einer jeden regionalen Beschreibung als semantischer Deklination der ontologisch formalen Termini eine ontologisch formale Betrachtung zu erhalten, als eine Fehlinterpretation heraus, da die regionale Beschreibung nur bezüglich ihres Charakters der Vollständigkeit und nicht (oder nicht zwangsläufig), was die Ordnung ihres Erscheinens betrifft, von der systematischen, ontologisch formalen Beschreibung abhängig ist. In dem Fall der metatheoretischen Erfahrung impliziert die Abwesenheit einer systematischen Analyse aus ontologisch formaler Sichtweise, dass die Charakteristika, die Typen von Eigenschaften (welche man hier im Gegenstand anerkennen kann), kaum systematisch vorgestellt, sondern auf rhapsodische Weise gefunden werden. Dennoch muss man, bevor man die Beschreibung selbst erreicht, zumindest hervorheben, dass sich diese »rhapsodische« oder wenigstens nichtsystematische Beschreibung für den spezifischen Fall der □MG aufgrund einer sehr besonderen und fundamentalen (wenn nicht »entscheidenden«) Zirkularität, die wir in § 71 behandeln werden, auch was die Ontologie betrifft, als umso notwendiger herausstellt. Wir können – in der »deskriptiven« (wir wiederholen es also, »noch rhapsodischen«) Beschreibung der Eigenschaften des □MG – eine klassische, traditionelle Artikulation benutzen, die als Leitfaden dienen kann. Wir teilen das, was über den □MG gesagt werden kann, zunächst in zwei Kategorien ein: Sachverhalte und Ereignisse. Die Ereignisse der □MG (oder was sie betrifft) werden, indem man sie zu Gegenständen einer dynamischen Betrachtungsweise der metatheoretischen Erfahrung macht, später in Betracht gezogen. Wir betrachten hier genauer die Sachverhalte, die nicht zwei oder mehrere □MG betreffen, sondern einen einzigen. Ein □MG kann im Verhältnis zu seinen Teilen zunächst als »Kontinuum« oder »Diskretum« 397 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
betrachtet werden. Dann kann er nach seiner extensiven Quantität eingeschätzt werden. Schließlich kann er – und das interessiert uns mehr – anhand einer Form, oder besser gesagt, anhand seiner strukturellen Morphologie betrachtet werden. Die strukturelle Morphologie erweist sich als entscheidend, da sie sich, indem sie den Raum einer detaillierteren Beschreibung öffnet, gleichzeitig als Nahtstelle mit der dynamischen Betrachtung der metatheoretischen Erfahrung selbst erweist. Ich könnte die Ereignisse zum Beispiel allein, indem ich betrachte, welche Typologie der morphologischen Struktur einem □MG oder einem anderen zu eigen ist, als »strukturelle Veränderungen« einordnen. Ich könnte die Verhältnisse (oder das Ereignis, die Einführung der Verhältnisse) der Übereinanderschichtung, der Kreuzung, der Durchdringung ebenso auf der Basis der Betrachtung der Struktur eines □MG1 und seinem möglichen Variationen einordnen. Doch gehen wir der Reihenfolge nach vor, indem wir mit der Schau des □MG als andauernd und zurückhaltend beginnen. Selbstverständlich kann der □MG, wenn wir ihn als von Termini (bzw. Punkten, Knoten) und von strukturellen Verhältnissen geformt betrachten, nicht in dem Sinne Kontinuum sein, in dem er für eine unendliche Teilung geeignet wäre. Der □MG wird dagegen in der metatheoretischen Erfahrung gemäß zweier unterschiedlicher Modalitäten, nach der diachronen Dimensionalität seines □Logos und nach der strukturellen Schau seines □Eidos, als andauernd angesehen. Ein □MG wird dort als diachrones Kontinuum angesehen, wo die Herangehensweise an seine genetische Dimensionalität keine Lücken oder Löcher aufzeigt. Nehmen wir das Beispiel der ptolemäischen Kosmologie seit Aristoteles. Wir sind bereit, zu behaupten, dass sie von Aristoteles bis zur und über die Heliozentrische Revolution hinaus kontinuierlich andauert (mit der Ausnahme von Aristarkos von Samos) 16. Unsere Schau der diachronen Dimensionalität des □MG lässt uns zu einer Kontinuität gelangen, die weder aus realistischer noch aus metatheoretischer Sichtweise eine ontologische Kontinuität bedeutet, als ob man in jeder Abhandlung eine explizite und systematische Behauptung des ptolemäischen Modells versuchen sollte. Man könnte zum Beispiel das Gleiche von der Syllogistik oder von der euklidischen Geometrie bis
Vgl. T. L. Heath, Aristarchus of Samos. The ancient Copernicus, New York, 1981 (Repr.).
16
398 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien der □MG
Gauss 17 (oder bis Saccheri 18) behaupten. Dagegen wird ein □MG als nach mehreren Modalitäten strukturell andauernd betrachtet: Ein □MG ist zunächst andauernd, wenn man sich auf das Niveau der einfachen Erfassung, der einfachen Schau begibt, die nicht oder noch nicht zur Erforschung ihres inneren Horizonts fortschreitet. Der □MG ist dort homogen, Kontinuum oder besser in der scheinbaren Kontinuität seiner einfachen Beschaffenheit. Nach einer anderen Modalität des Ausdrucks ist ein □MG Kontinuum, sofern er als dicht erscheint, in dem Sinne, dass seine Termini oder Punkte oder Knoten als derart nah und vermischt erscheinen, dass sie den Eindruck eines homogenen Ganzen vermitteln. Es handelt sich selbstverständlich um einen unsauberen Gebrauch des Wortes »Kontinuum«. Denn die Kontinuität hat hier weder etwas mit der genetischen Dimensionalität noch etwas mit der strukturellen Morphologie zu tun. Man könnte dieses Mal eine andere, an die strukturelle Morphologie selbst gebundene Bedeutung von »Kontinuum« benutzen, indem man behauptet, dass ein □MG Kontinuum ist, wenn er nicht anhand von Punkten artikuliert wird, die ihrerseits selbst keine Beziehungsknoten sind. Diese Bedeutung ist jedoch genauso unsauber, da man die isolierten Punkte, die nicht, zumindest durch ein einziges strukturelles Verhältnis, an andere Knoten oder Punkte des Gegenstands gebunden sind, lediglich – ex principio – akzeptieren kann. Man kann folglich ohne weiteres die Tatsache bemerken, dass sich der Begriff der Kontinuität, auf die Erfahrung des □MG angewandt, als eher mehrdeutig oder zumindest mit einer gewissen Kautel als nützlich erweist. Man könnte zum Beispiel ebenso behaupten, dass uns ein □MG als Kontinuum dicht erscheint, wenn man in der Erforschung seines inneren Horizonts das Ψ seiner mereologischen Weite noch nicht erfasst hat. Wenn man jedoch am Gegenstand selbst seine aus Punkten oder Knoten bestehende Morphologie erkennt, weiß man nicht, wie die Unbestimmtheit seiner mereologischen Weite desselben Gegenstands, dessen Struktur sich aus Knoten und Verhältnissen zusammensetzt, seine Kontinuität bilden kann. Eine besonders interessante Bedeutung ist anschließend die der »extensiven Quantität«, die darauf abzielt, dem □MG ein »Maß« zu verleihen, 17 Vgl. C. F. Gauss, Werke, Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1863–1933, 12 Bde, Bd. VIII, S. 168, S. 175–176; vgl. auch N. I. Lobacevsky, Pangeometry, Strasbourg, 2010. 18 Vgl. G. G. Saccheri, Euclides ab omni naevo vindicatus, Mediolani, 1733.
399 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
obwohl auch dieser Begriff zunächst unklar erscheint. Wann kann man sagen, dass ein □MG groß oder klein ist? Selbstverständlich zählt die mereologische Weite in dem Sinne nicht, und zwar aufgrund der Tatsache, dass die Bedeutung des »Ganzen« (Ω) weder quantitativ ist noch quantitativ qualifiziert oder bestimmt werden kann. In Anbetracht der Tatsache, dass das Große und das Kleine hier lediglich relative Begriffe der Erfahrung sind, erscheint die Tatsache, dass man eine Anzahl von Knoten oder Termini festlegt, um einzuführen, von welcher bestimmten Quantität aus gesehen ein □MG groß oder klein ist, zumindest a priori als lächerlich.
1a
1b
1c
Abb. 8
Das Gleiche gilt für die zeitliche Ausdehnung. Man muss an diesem Punkt bemerken, dass diese Bestimmungen als solche, nämlich in ihnen selbst, nicht überflüssig sind, sondern sich lediglich dann erst als mit Sinn ausgestattet erweisen, wenn sie auf der Basis einer wiederholten Erfahrung eingesetzt werden. Es ist schließlich die Erfahrung, die auf der Basis der Abstraktionen oder Idealisierungen die Arten der abhängigen Momente und die Strukturen auf logische Weise gruppieren kann. Das Gleiche gilt für die Morphologie, welche trotzdem auf der Basis einer möglichen Modellierung vorhergesehen werden kann. Wir können uns zum Beispiel die unterschiedlichen Formen der morphologischen Struktur vorstellen, die der □MG annimmt. Nach diesen Formen verhält sich der □MG auf diese oder jene Weise, nach den Gesetzen der spezifischen Interaktion zwischen seinen Teilen (sowohl in der Zeit als auch im Raum) und ebenso mit anderen □MG. Wir könnten uns zum Beispiel eine morphologisch 400 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien der □MG
lineare Struktur [1a] vorstellen, eine verzweigte Struktur, die sich in der Zeit noch verzweigt [1b], oder in der Zeit lokale Verzweigungen entwickelt [1c]. Doch befindet man sich hier lediglich auf einem sehr niedrigen Niveau morphologischer Idealisierung. Man könnte sich ebenso eine Struktur wie die aus 1c vorstellen, die in ihrer genetischen Entwicklung Beziehungen zwischen immer komplexeren Knoten einrichtet, die nicht erfasst oder im vorausgehenden Stadium vorgestellt worden sind. Nehmen wir zum Beispiel einen □MG, dessen anfängliche morphologische Struktur relativ einfach ist, also einen des Typs aus [1c].
MG1c tn
Abb. 9
Seine Entwicklung kann ebenso in einer quantitativen Ausbreitung wie in einer Ausbreitung der strukturellen Beziehungen zwischen den Knoten oder Termini bestehen, was den □MG nicht »größer«, sondern lediglich »gefasert« erscheinen ließe. Diese Steigerung, diese Schrittweite der Faserung würde ebenso ein abhängiges Moment des Gegenstands darstellen, nämlich ein zukünftiges Stadium seiner genetischen Sedimentierung:
401 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
MG1c tn+1
Abb. 10
Diese Ausbreitung der strukturellen Faserung könnte lokal sein, nämlich relativ zu einem Teil (oder den Knoten) des □MG oder auch integral, sofern sie gleichmäßig auf alle Knoten des Gegenstands verteilt ist. Man könnte auch denken, dass die Einrichtung neuer struktureller Beziehungen zwischen den Knoten 1) 2)
zum Auftauchen anderer Knoten führt; auf die Weise zur semantischen und logischen Typisierung eines Knotens führt, dass er an sich selbst ein □MG wird.
Man könnte auch an morphologische Entwicklungen denken, welche in diesem Fall die mereologische Untergrenze des □MG auf unterschiedliche Art und Weise bestimmen. Dort, wo an einem tn beispielsweise der Knoten A als Ψ der mereologischen Weite des Gegenstands wiederzuerkennen ist, ist er im Moment tn+4 zum Beispiel selbst ein □MG geworden, indem er überdies die Funktion der Verbindungsstelle zwischen einem □MG, von dem er eigener funktionaler Teil ist, und einem anderen □MG, von dem eines seiner Teile einen eigenen funktionalen Teil darstellt, übernommen hat. Bevor wir zu einer anderen Phase der Skizze einer Morphologie der □MG fortschreiten, erscheint es als notwendig, einen Einwand und eine Anmerkung zu 402 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 67. Der visuelle Status der metatheoretischen Erfahrung
betrachten (die Anmerkung geht direkt aus der Widerlegung des Einwands hervor).
§ 67. Der visuelle Status der metatheoretischen Erfahrung und die Morphologie der Eigenschaften Der im Übrigen sehr voraussehbare Einwand wäre grosso modo folgender: Geht es um die Tatsache, dass man sich die Eigenschaften eines Gegenstands, von dem man keine direkte Vorstellung hat, vorstellt, nicht als eine bloße Vorstellung, sondern der schlimmsten Schwärmerei würdig? Welcher Unterschied vollzieht sich zwischen der Skizze der Strukturen einer metatheoretischen Erfahrung als solcher und dem imaginären, fantastischen Fresko von Orlando Furioso? Wenn man sich selbstverständlich ausschließlich auf das Bild stützt, das in der Erfahrung gegeben ist, wenn man den □MG erforscht, dann könnte nichts einen glauben lassen, es mit etwas anderem zu tun zu haben als einem fiktionalen und imaginären Universum, das voll von mysteriösen und faszinierenden Figuren ist. Dennoch erscheint die Mehrzahl der Simulationen des Makroskopischen und des Mikroskopischen, wenn man sich lediglich auf das Bild stützt, in einem solchen Lichte. Nehmen wir zum Beispiel die Modellierung einer Polymers, das wir erfassen und in 3D (eine unserer in den vorhergehenden Paragraphen als einfach skizzierten Modellierung der □MG im Übrigen sehr ähnliche Modellierung) erforschen können, oder die Modellierung einer informatischen Ontologie der Interaktion von Software untereinander (die unserem im vierten Teil beschriebenen □metaontologischen Modell sehr ähnlich sein wird). Das sind keine kuriosen und eigenartigen Zeichnungen. Sie sind kurios, wenn man sich sowohl in der Unwissenheit von dem, was dort dargestellt wird, als auch von den Darstellungsgesetzen – nämlich der Modellierung – an die Bilder hält. Und hier, si parva licet, dient die Relativität der Modellierung – das heißt die Wirksamkeit, wenn man zum Beispiel zwei visuelle Modellierungen in der Darstellung der »intrinsischen« Struktur des Gegenstands hat – nicht der Unterstützung des Einwands. Denn was uns interessiert, ist nicht die Relativität der visuellen Darstellung, sondern die semantisch-syntaktische morphogenetische Stabilität einer Modellierung als solche. Es ist diese Stabilität, die sich hinter das Bild stellt und bewirkt, dass das Bild eine visuelle Modellierung ist oder, was auf dasselbe hinausläuft, eine Vi403 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Abb. 11a
sualisierung des Modells. Und was überdies die syntaktische und semantische Stabilität des Modells ausmacht, ist nicht die Gesamtheit seiner visuellen Charaktere, sondern die Logik, welche die Darstellung bestimmt. Die Modellierung des □MG ist – in ihrer Relativität – nichts anderes als das letzte Niveau einer logischen und intentionalen Klärung der Strukturen selbst einer Erfahrung der □MG als solche.
Es geht hier lediglich um eine Übertragung, das heißt eine Anwendung in einer anderen Region (bzw. einem anderen Bereich) von Gegenständen. Für uns geht es darum, den Begriff des »□metatheoretischen Gegenstands« zu klären, zu »wissen«, was das genau bedeutet. Folglich gehen wir von Beispielen aus, die unzweifelhafte Anwendungen des Worts vorstellen, zum Beispiel der kantischen Ethik, der physischen Theorie des Elektromagnetismus, der Theorie des positiven Rechts, der Theorie des Phlogiston und anderen ähnlichen Sachen. Wir geben uns jedoch nicht einfach damit zufrieden, die Sachen sozusagen durch ihre Namen an uns zu reißen, also mittels einfacher Bedeutungen der Worte zu denken, sondern »wir gehen vielmehr zur Anschauung« dieser □MG über, zur anschaulichen Auffassung »solcher Einzelheiten oder zur lebendigen Phantasie, die 404 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 67. Der visuelle Status der metatheoretischen Erfahrung
Abb. 11 b
405 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
hier die Rolle spielt, eines sich in die … Gegebenheit solcher Sachen hineinphantasieren« 19. Es ist in der Tat das Auftreten des Worts (oder der Wörter) in der □metatheoretischen Anschauung der Gegenstände und von dort aus die imaginative Variation, die das Feld und das Projekt der morphologischen Beschreibung des □MG oder der Arten der □MG eröffnen. Dieses besteht darin, zwischen den unterschiedlichen Gegenständen zu vergleichen, den □MG, die auf beispielhafte Weise zur Gegebenheit kommen, das heißt die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zu finden. Die Aufgabe der Beschreibung entwickelt sich durch eine fortschreitende Entwicklung der Schau selbst. Sie geschieht durch die Idealisierung oder durch die imaginative Variation der anschaulich gegebenen Eigenschaften. Durch eine solche Variation schafft man es, an dem anschaulich Gegebenen zu erkennen, was hervorgehoben wird, und folglich kann man auch erfassen, welche Wesens-Momente der anschaulichen Gegebenheit sind. Nur diese Komponenten können das Eigene und die morphologischen und strukturellen Beschaffenheiten des □MG zeigen. Der visuelle Status der Modellierung ist also lediglich ein Epiphänomen einer logischen und methodischen Arbeit, die ausgehend von der Anschauung gewisser □MG oder der auf diesen Anschauungen entwickelten Variation, eine Beschreibung der wesentlichen Gesetze durchführt, die, selbst auf implizite Weise, unsere metatheoretische Erfahrung als solche strukturieren. Hat man einmal eine solche intentionale Struktur der Wesengesetze (welche die Eigenschaften, Zustände, möglichen Entwicklungen etc. klassifizieren) bestimmt, so greifen die Einrichtung und die Beschreibung eines Gebiets oder der Gebiete der Modellierung ein, die den visuellen Status der Erfahrung und der Erklärung des Gegenstands bestimmen. Diese Erfahrung, diese Erforschung sowie die visuelle Modellierung sind also gerade aufgrund der logischen Arbeit der Implementierung mit einer syntaktischen und semantischen Stabilität versehen. Dass man die Skizze dieser Morphologie also durch die Variationen des visuellen Modells anspricht, besteht lediglich in einem methodologischen Umgehen, welches sich im Übrigen genau auf dieser Spekularität zwischen der Anschauung und der Modellierung gründet, die sich schon mit dem elementar kognitiven Typus als E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, Hua. 5, cit., S. 100.
19
406 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 68. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität I
strukturell erwiesen hat. Hier zielt das methodologische, durch den noch einleitenden Charakter der Beschreibung gerechtfertigte Hysteron-proteron nicht auf eine rein zufällige Beziehung zwischen der Anschauung und ihrer visuellen Modellierung, sondern auf die logische (semantische und syntaktische) Stabilität der Wesensgesetze, welche die Anschauung und ihre Bilddarstellung (restitutio in imagine) strukturieren. Es handelt sich schließlich um ein heuristisches Verfahren, das die Vorstellung ad hominem der logischen und intentionalen Beschreibung der Wesensgesetze der metatheoretischen Erfahrung als viel großflächigeres Projekt eröffnet.
§ 68. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität I: Die Beziehungen zwischen den Gegenständen Wenn man das im vorhergehenden Paragraphen beschriebene heuristische Verfahren auf den □MG anwendet (um sich eine ursprüngliche Eröffnung der Wesensgesetze, welche die Erfahrung von ihm strukturieren, zu verschaffen), so kann man es ebenso auf die Sachlagen anwenden, in denen es sich nicht mehr um eine Beziehung zwischen (abhängigen oder unabhängigen) Momenten ein und desselben Gegenstands handelt, sondern um die Beziehung zwischen Gegenständen. Das entspricht der Aussage, dass sich die mereologische Weite dieses Mal auf Seiten der Obergrenze, das heißt auf Seiten des anerkannten □MG als Ω erweitert. Wenn das Ψ eines □MG der strukturellen Morphologie der Termini oder Knoten des Gegenstands folgend variieren kann, dann kann das Ω zwar nicht aufgrund der Ausbreitung des Gegenstands, doch aufgrund der Schau selbst variieren, die der Erscheinung entgegenkommt. Wenn ich zum Beispiel einen □MG betrachte, indem ich die Abstraktion seiner Umgebung, der umgebenden □MG mache, wird Ω mit der gegenständlichen Einheit selbst identifiziert. Wenn das, was sich zeigt, was sich auf thematische Weise zu erkennen gibt, kein einfacher Gegenstand, sondern ein in der (mehr oder weniger komplexen) Beziehung zwischen □MG bestehender Sachverhalt ist, dann wird Ω mit ebendiesem Sachverhalt identifiziert. Man kann die Sache in den Begriffen neu formulieren: Jeder □metatheoretische Sachverhalt, dessen eigene Teile □MG sind, ist selbst ein □MG und kann als die übergeordnete Grenze der fraglichen mereologischen Weite (Ω) einer metatheoretischen Erfahrung individuiert werden.
407 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Wenn man folglich – für eine metatheoretische Erfahrung und für eine bestimmte Auffassung – eine Untergrenze der mereologischen Weite (Ψ) in Betracht ziehen kann, während wir dabei bleiben, dass diese Grenze nicht intrinsisch sein kann, gibt es keinerlei Grenze Ω. Die Erweiterung der übergeordneten Grenze der mereologischen Schau zeigt uns die Möglichkeit, uns den Sachverhalt der enorm komplexen □MG vorzustellen (und diese zu erfahren), deren Teile Beziehungen der Beziehungen der Beziehungen zwischen □MG etc. sind. 20 Das ergibt ein erstes Bild, welches wir in der metatheoretischen Dimension präzisieren müssen. Unter metatheoretischer Dimension versteht man die Strukturierung nach Beziehungen des Horizonts der metatheoretischen Erfahrung. Die Eröffnung des metatheoretischen Horizonts ist nicht mehr (oder nicht nur) der thematische Raum, in dem sich die □MG anschaulich zeigen, sondern ein Raum, in dem die Gegenstände als nach gewissen Verhältnissen interagierend und strukturiert anerkannt werden. Genau an diesem Punkt kann uns die heuristische Methode, nach der visuellen Modellierung zu denken, helfen, eine Morphologie der Beziehungen oder allgemeiner eine Morphologie der Sachverhalte der □MG zu skizzieren. Wir können uns zum Beispiel mehrere Typologien der □metatheoretischen (statischen und dynamischen) Beziehungen vorstellen, doch muss man zunächst den Begriff der □metatheoretischen Sachverhalte klären, um die Klasse der Beziehungen, die uns interessieren, näher zu identifizieren. Man kann die Sachverhalte in mereologische Sachverhalte und in kompositionale Zustände der Sachen aufteilen. Diese zwei Klassen des □metatheoretischen Sachverhalts sind streng mit der Beziehung der Schau (als Akt) und der mereologischen Weite dieser Schau selbst verknüpft. Ich ziele anhand des Beispiels auf die Physik Aristoteles ab. Dieser Akt hat eine sehr bestimmte mereologische Weite aus Sichtweise ihrer Obergrenze. Der □MG wird als Ganzes aufgrund seines semantischen Inhalts, an der übergeordneten Grenze der mereologischen Weite Ω, durch die Handlung selbst identifiziert. Von hier aus kann ich, indem ich mich auf das ursprünglich intentionale Moment der schlichten Auffassung stütze, so vorgehen, dass ich durch die Erforschung des Innenhorizonts des Gegenstands, zwei Arten von Sachverhalten einführe und anerkenne. Der erste, den wir als »Klasse der mereologi20
Für die topologische Struktur dieser Modellierung vgl. Kap. X, §§ 110–111.
408 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 68. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität I
schen Sachverhalte« definieren, ändert sich durch die Identifizierung von einem Gegenstand der schlichten Erfassung hin zur übergeordneten Grenze der mereologischen Weite. Das entspricht der Aussage, dass die Sachverhalte genauso zwischen eigenen Teilen wie auch abhängigen und unabhängigen Inhalten bestehen bleiben: die Beziehung eines abhängigen bzw. unabhängigen Inhalts zum Ganzen, die Beziehung eines abhängigen zu einem unabhängigen, die Beziehung eines unabhängigen Inhalts zu einem anderen. Der einzige Begriff, der den Raum der Klasse der mereologischen Sachverhalte beschreibt (oder beschreiben kann), ist das Ψ. Die »Klasse der kompositionalen Sachverhalte« ist dagegen als Gesamtheit der Sachlagen definiert, die selbstverständlich Ω als ursprünglichen Terminus (und als Korrelat der Schau und einer schlichten Auffassung) haben, die sich allerdings in einem, durch Ωx, dessen Ω in diesem Fall atomares Element ist, beschriebenen Raum orientieren oder situieren. Wenn ich auf die Physik des Aristoteles als Gegenstand der schlichten Auffassung, als Ω, abziele, dann wird er sich zum Beispiel in der Beziehung mit einem anderen Gegenstand zeigen, etwa der Metaphysik des Aristoteles, in einem durch Ωx beschriebenen Raum. Das bedeutet jedoch nicht, dass die kompositionalen Sachverhalte nur zwischen dem ganzen Gegenstand und anderen □MG bestehen bleiben. Das zeigt nur an, dass man, von der Auffassung oder einfach der Anerkennung der kompositionalen Sachverhalte ausgehend, das dritte Moment der Erfahrung des □MG erreicht, das heißt die Erforschung seines Außenhorizonts. Wenn ich somit in einem Wahrnehmungsurteil behaupte, »das Heft ist auf dem Tisch« (das Heft als Ganzes ist Ω), dann erkenne ich einen kompositionalen Sachverhalt an, da der mereologische Teil, auf dem er sich gründet, das Ω nicht in Richtung seines Ψ überschreitet, sondern einen anderen mereologischen Raum (oder eine andere Weite) beschreibt, der von Ω zu Ω1 geht. Somit verhindert dies lediglich in einem aufeinanderfolgenden Moment, dass ich durch eine andere Richtung der Schau sagen kann, »die untergeordnete Seite des Heftes berührt die Oberfläche des Tisches«, indem ich eine andere Bestimmung des kompositionalen Sachverhalts einführe. Ein solcher anderer kompositionaler Sachverhalt erweist sich als fundiert aufgrund der Tatsache selbst, dass dieser nur »eine andere Bestimmung als …« sein kann. Somit schließt die Einrichtung (durch die Handlung) oder, wenn man so will, die Anerkennung eines kompositionalen Sachverhalts – 409 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
auch und vor allem für das, was uns aus der Sichtweise der metatheoretischen Erfahrung näher interessiert – die Einrichtung oder die Anerkennung eines zweiten Sachverhalts nicht aus, der nicht einfach beweglich auf den zwei Gegenständen beruht, sondern auf zwei Momenten dieser Gegenstände oder auf einem Moment und auf dem Ganzen. Diese Möglichkeit beweist dagegen die Unentwirrbarkeit der drei fundamentalen Momente und vor allem die unüberwindbare Spekularität, die zwischen der – auf der schlichten Auffassung gegründeten – Erkundung des Innenhorizonts des Gegenstands und der Erkundung, der Bestimmung und der Strukturierung seines Außenhorizonts weiter besteht. Dieses dritte Moment orientiert sich jedoch, wie die anderen, durch eine ideale Struktur, die den Vorstellungstypus der kompositionalen Sachverhalte hierarchisch bestimmt. Wir können zunächst die kompositionalen Sachverhalte in der metatheoretischen Erfahrung als Verhältnisse denken, worin der □MG – einfach oder auch hinsichtlich seiner inneren Bestimmungen aufgefasst (das heißt in den Beziehungen aufgefasst, die ihre Elemente im Inneren der mereologischen Weite finden) – mit anderen □MG, die nicht seine Teile sind, in Beziehung steht. 21 Wir teilen die Klasse der Beziehungen, die in die Klasse der kompositionalen Sachverhalte eintreten, in statische und dynamische Beziehung (was die metatheoretische Erfahrung angeht).
§ 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II: statische und dynamische Beziehungen Ohne indes eine punktuelle Beschreibung aller Beziehungstypologien vollständig zu entwickeln, beschränken wir uns darauf, sie dank unserer heuristischen Methode zu skizzieren, indem wir auf eine wahre und eigene Beschreibung der Wesen zurückverweisen, die dennoch immer von einer metatheoretischen Erfahrung abhängen und die nicht dogmatisch a priori definiert werden können. Wir können mehrere statische Beziehungen zwischen □MG denken und zwar zunächst zwei Typen von Beziehungen: eine nicht-tangentiale BezieVgl. dazu U. Moulines, cit., S. 3: »Scientific theories are not ›monads‹. They are essentially related to things outside themselves. At least part of this outside world consists of other scientific theories. This means that there are intertheoretical relations and that they belong to the ›essence‹ of scientific theories.«
21
410 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II
hung von einfacher räumlicher Koexistenz ohne Kontakt und eine Klasse tangentialer Beziehungen [infra § 111]. Indem es nur einen relativen Raum gibt, interessieren uns die nicht tangentialen Beziehungen, weil sie die Basis darstellen, um auch die dynamischen Beziehungen zu denken, das heißt die Phänomene der Entfernung und der Annäherung zwischen □MG, der Übereinstimmung usw. Der Begriff der Entfernung bleibt jedoch bis zu dem Augenblick, in dem man es schafft, die Räumlichkeit mit einer Metrik zu verbinden und den metatheoretischen Raum folglich nicht mehr zweideutig erscheinen zu lassen, stark zweideutig. All dies erweist sich jedoch als sehr schwierig, da die Skizze die Aufgabe der Beschreibung einer objektivierenden Metrik ist, die dazu dient, den Begriff der metatheoretischen und vorausgesetzten Entfernung, wie die conditio sine qua non, auf nicht zweideutige Weise zu einer beschreibenden, vollständigen Einheit der □MG zu machen, und zwar auf die Weise, durch die sie, selbst wenn es nicht im Inneren einer Modellierung wäre, ihre Stellung in der thematisch-anschaulichen Eröffnung finden. In der Tat kann man die Tatsache kaum verschweigen, dass wir eine anschauliche Auffassung dieser Räumlichkeit haben und dass wir es in aller Leichtigkeit schaffen, den Abstand zwischen dem astrologischen chaldäischen Wahrsagen und der Kosmologie des Timaios oder die Distanz zwischen der juristischen Hermeneutik und der Superstring Theory zu konzipieren. In beiden Fällen können wir das, aus unterschiedlichen Gründen, nach den Abständen und unterschiedlichen Orientierungen im metatheoretischen Horizont auffassen. Die statische nicht-tangentiale Beziehung erlaubt also keine intrinsischen Bestimmungen, das heißt Wesen, welche die Formen der Beziehungen genau festlegen, sondern metrische Bestimmungen, die von einer Implementierung der Beschreibung der Gegenstände, ihrer Eigenschaften etc. abhängen und der Sinnanalyse der Räumlichkeit, die aus der Erfahrung ihrer Verhaltensweisen hervorgeht. Dagegen können wir durch die Modellierung eine Bestimmung der Formen der tangentialen Beziehung zwischen □MG skizzieren. Diese Beziehung kann punktuell sein oder sich weiter ausbreiten. Nehmen wir zum Beispiel zwei □MG irgendeiner Art. Ihre tangentiale Beziehung kann man sich ebenso gut wie einen Punkt (oder Knoten oder Terminus), wie eine Serie aneinandergereihter Knoten oder eine (nicht notwendigerweise lineare) Oberfläche vorstellen. Diese Beziehung kann selbstverständlich zwischen mehreren 411 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Gegenständen bestehen. Man wohnt also einer Beziehung (oder einem relationalen Sachverhalt) der Aggregation mehrerer □MG bei. Nach den gleichen Termini können wir ebenso eine sehr interessante Beziehung wie die Beziehung der Durchdringung bzw. Verschmelzung denken. Zwei □MG durchdringen sich, wenn sie einen Raum teilen und sich vielleicht an manchen Punkten treffen.
Abb. 12 a
Abb. 12 b
412 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II
Abb. 12 c
Vom Standpunkt der dynamischen oder potentiell dynamischen Aspekte erweist sich die Beziehung der Durchdringung – sei sie ihrerseits als tangentiale Beziehung artikuliert oder nicht – als sehr interessant. Wir können das zum Beispiel bei der Entwicklung eines Gegenstands, der an einem gewissen Punkt durch und mit einem anderen □MG durchdrungen wird, erfahren: Beide □MG (ganz oder teilweise) teilen hier den gleichen theoretischen Raum und gewisse Knoten. Denken wir zum Beispiel an die kopernikanische Astronomie von Kepler und an ihre Durchdringung mit dem Platonismus oder dem Hermetismus [Abb. 13a], an die analytische Psychologie von Jung und ihre Durchdringung mit der Alchemie und der Esoterik. 22
22
Vgl. z. B. R. Noll, The Aryan Christ: The Secret Life of Carl Jung, New York, 1997.
413 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
Abb. 13 a
Abb. 13 b
Eine andere sehr wichtige Beziehung ist die der Überlappung, die durchaus als die Visualisierung oder die visuelle Modellierung des Fundierungsverhältnisses zwischen den Theorien angesehen werden kann und die folglich die Grenze, die hybride Übergangsbeziehung 414 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II
zwischen den statischen und den dynamischen Beziehungen darstellen würde. Wenn man zum Beispiel alle axiomatischen Strukturen betrachtet, so kann man sie wie auf eine logische oder logisch-mathematische Struktur gegründet visuell modellieren: Die beiden können einen kompositionalen □MG darstellen, ohne dass das eine ein unabhängiger Teil des anderen wäre. Diese Beziehung erscheint statisch, da die Fundierung invariant ist, gleichwohl handelt es sich dennoch um etwas, das die einfache strukturelle Nähe überschreitet, indem sie immer ein Dynamismus bleibt. Der Übergang der statischen Beziehungen hin zu den dynamischen Beziehungen ist nichtsdestoweniger nicht so einfach und banal. In der Bestimmung der dynamischen Beziehungen muss man zwei miteinander korrelierende Begriffe berücksichtigen: den des Ereignisses und den des Sachverhalts. Der Begriff des Ereignisses ist selbstverständlich ursprünglich und intrinsisch durch die Idee des Prozesses dargestellt. Das bedeutet, dass er in der Schau von etwas Dynamischem als solchem enthalten, vorausgesetzt ist. Der Begriff der Variation der Sachverhalte entstammt selbstverständlich dem Begriff des Ereignisses über den Umweg des Prozessbegriffs. Man muss sich zunächst auf den Begriff des Ereignisses konzentrieren, den wir nicht als solchen, sondern lediglich in seiner metatheoretischen Deklination bestimmen müssen. Wovon spricht man also, wenn man von einem Ereignis innerhalb der metatheoretischen Erfahrung spricht? Das Ereignis besteht einfach in einer Variation (oder in einer Veränderung) eines □metatheoretischen Sachverhalts in einen anderen. Diese Variation kann sich in einem mereologischen Sachverhalt, in einem kompositionalen Sachverhalt sowie in diesem letzten durch den ersten zeigen und eingreifen: Ein Ereignis, das einen mereologischen Sachverhalt modifiziert, modifiziert seinerseits einen kompositionalen Sachverhalt. Die Variation eines mereologischen Sachverhalts besteht in der Variation eines abhängigen Inhalts, in der Ergänzung oder in der Unterschlagung eines unabhängigen Inhaltes des □MG. Wenn wir jedoch von dynamischen Beziehungen der □MG sprechen, konzentrieren wir uns auf die kompositionalen Ereignisse. Somit ist ein kompositionales Ereignis dasjenige, das einen kompositionalen Sachverhalt ändert und modifiziert, indem es Anlass zu einem anderen kompositionalen Sachverhalt gibt, dessen Erfahrung man innerhalb des metatheoretischen Horizonts macht. Wenn man zum Beispiel vom Fundierungsverhältnis spricht, so können wir der Einrichtung 415 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
einer solchen Beziehung zwischen den □MG beiwohnen, die es zuvor nicht gab. Es handelt sich um ein Ereignis, das einen kompositionalen Sachverhalt in einen anderen variiert: Zwei □MG, die vorher lediglich in einem nicht tangentialen Verhältnis zueinander standen, gehen nun ein dynamisches Verhältnis ein, indem ein Gegenstand den anderen unterstützt, ihm etwas anderes verleiht, das im vorhergehenden Sachverhalt selbstverständlich nicht gegenwärtig war (zum Beispiel die Mathematisierung oder die Algebraisierung der Logik). Vom gleichen Typus sind die Beziehungen, die sich durch einen Dynamismus oder durch eine Dynamisierung der räumlichen Beziehungen zeigen: das Verhältnis der Konvergenz, der Trennung, der Durchdringung. Vom gleichen Typus sind außerdem die dynamischen Verhältnisse, wie die Verschmelzung zweier Gegenstände, die Entstehung eines neuen □MG ausgehend von einem anderen und also die Trennung etc. Alle diese Formen der ebenso statischen wie dynamischen Beziehung öffnen, vorausgesetzt, dass die metatheoretische Erfahrung keine anderen zulässt (was im Gegenteil kaum sicher ist), eine sehr weite Aufgabe der Beschreibung der Formen der Sachverhalte und der Reihe an Zuständen der □MG, die sich nach einem ganz bestimmten Wesen spezifizieren und welche die metatheoretische Erfahrung als solche strukturieren. Die deskriptive Aufgabe besteht in der Tat nicht in einer einfachen Taxonomie der □MG, sondern in der Beschreibung aller Strukturen, die beweisen und bestätigen, dass die metatheoretische Erfahrung die Erfahrung einer strukturierten Dimensionalität ist, wo das Aufeinandertreffen und die Interaktion zwischen den Gegenständen nicht einfach zufällig ist, sondern in welcher jede statische Beziehung, jede dynamische Beziehung, jeder Sachverhalt und jedes Ereignis, das den vorhergehenden Sachverhalt modifiziert, morphologisch auf dieselbe Weise wie die Gegenstände zu erkennen sind, das heißt als in die Strukturen des Wesens eingeschrieben.
§ 70. Das ontologische Problem des Metatheoretischen Die Skizze der metatheoretischen Dimensionalität, unter deren Leitung sich die Erfahrung der Gegenstände zeigt, kann – und muss – sich eine Bestimmung aneignen, anhand derer sie die Formen der Gegenstände, der Verhältnisse, der Sachverhalte und der Ereignisse bis zur Perfektion bestimmen kann. Diesem Projekt der Bestimmung 416 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 70. Das ontologische Problem des Metatheoretischen
stellt sich jedoch ein konzeptuell entscheidender Knoten entgegen, der eine Zirkularität, einen Kurzschluss, in den metatheoretischen Diskurs (oder in das Metatheoretische) einführt. Man könnte diesen konzeptuellen Knoten als ontologische Imprädikativität des Metatheoretischen bezeichnen: Die formale Ontologie, welche die begrifflichen Richtlinien für das Denken eines □MG (und seiner Dimension) als Gegenstandstheorie vorgibt, ist ihrerseits ein Gegenstand und genauer ein □MG. Die Gegenstandstheorie ist der Gegenstand einer Theorie oder genauer eines Theôrein. Das wirft mehrere Fragen bezüglich der Vollständigkeit der Perspektive auf, die uns zur Skizze der metatheoretischen Dimension geführt hat, und zwar nicht, weil es sich eher um eine einfache Skizze als um eine genaue systematische Bestimmung handelt. Eine systematische Herangehensweise, welche die Struktur der metatheoretischen Erfahrung bis ins kleinste morphologische Detail beschrieben hätte, welche die Struktur des Wesens, die dieser Erfahrung vorsitzt, bis in die kleinste Besonderheit beschrieben hätte, fände sich ebenso dieser Aporie, dieser imprädikativ radikalen und konstitutiv unüberwindbaren Situation gegenübergestellt. Diese Situation der Imprädikativität 23 oder der konstitutiven Zirkularität besteht darin, dass die Gegenstandstheorie lediglich vorgeben kann, was sie formal als Gegenstand eines Theôrein ist. Dieses Moment der Zirkularität, dieser Kurzschluss dessen, was man illusorisch als lineare Fundierung (die gerade nicht helfen könnte, zu beweisen, was vorausgesetzt ist und schon gar nicht das Spekulativ) betrachten könnte, ist uns vertraut. In der Tat ist es die gleiche Zirkularität, die wir dort gefunden haben, wo das philosophische Subjekt dieser intuitiv leeren und wesentlich zweideutigen Selbstbeziehung, von der es lediglich eine einfache Äußerung, eine einfache Deklination war und ist, eigentlich eine Charakterisierung abgeben sollte. Die metatheoretische Zirkularität ist klar, sehr deutlich und unüberwindbar. Und selbst wenn man von der Skizze des Metatheoretischen, die wir in diesem Kapitel entwickelt haben, abstrahiert, würde die metatheoretische Zirkularität der Gegenstandstheorie in all ihrer Klarheit verbleiben. Wenn wir von ihr sprechen, wenn wir die Gegenstandstheorie als Theorie sehen, als etwas Substantivierbares und Substantivisches, als ein Etwas, das man durch ontologische Prädikate charakterisieren und auf rein formale Weise charakterisieren kann, sagt sie etwas von 23
Vgl. St. C. Kleene, Introduction to Metamathematics, cit., S. 36–42.
417 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VII Die metatheoretische Dimension
sich selbst. Warum also all die Mühen, um die Strukturen der Erfahrung des □MG zu entwickeln und klar auszudrücken, wenn die Zirkularität unabhängig vom Ganzen in der Übung der Schau auftaucht, die es als Etwas betrachtet? Wovon ist die Analyse des Metatheoretischen, der metatheoretischen Erfahrung also schlussendlich Trägerin? Wie kann sie, im Verhältnis zur Auslegung dieser Zirkularität, der Auslegung der einfach nominalen Zirkularität etwas Überschüssiges geben? Nun, der konstruktive Abstand dieser Zirkularität im Verhältnis zu ihren einfachen Bestehen liegt genau in der Tatsache, dass sie in ihrer ganzen Evidenz – und in ihrem unausweichlichen Charakter – betrachtet und erkannt werden kann: Das Sein der Theorie der »Gegenstandstheorie« ist der Gegenstand einer Beschreibung geworden. Die Zirkularität, die aus der einfachen Übung der Schau hervorgeht, ist nicht weniger ursprünglich, sie ist lediglich auf einem unterschwelligen und nicht expliziten Bewusstsein des metatheoretischen Kontexts begründet, ausgehend von dem und nur »in dem« der imprädikative Abstand bedeutsam bleibt. Die Gegenstandstheorie bleibt immer imprädikativ, wenn sie sich als Theorie behauptet. Die Ontologie unterbricht stets ihre Gültigkeit, wenn sie sich wie eine vollständige Doktrin, wie eine Struktur, wie eine Theorie, kurz, wie ein Etwas darstellt, und zwar nicht für die intrinsischen Inhalte ihrer Behauptungen, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, dass sie sich selbst als etwas betrachtet, von dem sie als Etwas gleichzeitig etwas sagen (das heißt ihr gegenständliches Sein charakterisieren) kann und nicht alles, auf konstitutive Weise, als »Theorie von …« diesem Etwas sagt. Hier ist die Subjektivierung des Sagens der Gegenstandstheorie bedeutsam, erweist sich jedoch nicht als entscheidend, da die Zirkularität in jeder Hinsicht bleibt. Wie kann sich eine Theorie selbst bestimmen und nicht nur ihre Gegenstände? Das ist keine unüberwindbare Zirkularität: Sie wird nur dann unüberwindbar, wenn die Gegenstände der Theorie alle als Etwas charakterisierbare Gegenstände, also auch theoretische Strukturen jeder Art, sind. In gleicher Weise wie die Figur des philosophischen Subjekts in der spekulativen Situation stellt auch die Gegenstandstheorie das Element dar, das den Kurzschluss der Beschreibung und der linearen Fundierung entwickelt und in ihrer Transversalität auf eine andere Situation, die metaontologische Situation, zurückverweist.
418 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Dritter Teil META-ONTOLOGIE
»Καὶ δὴ καὶ τὸ πάλαι τε καὶ νῦν καὶ ἀεὶ ζητούμενον καὶ ἀεὶ ἀπορούμενον, τί τὸ ὄν« Aristoteles, Metaph., 1028 b
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
§ 71. Zirkularität, die sich auf die metatheoretische Dimension auswirkt Der zweite Teil unserer Untersuchungen hatte seinen Anfangspunkt in einer Zirkularität, die sich nicht direkt auf die Philosophie als solche, sondern auf die philosophische Subjektivität auswirkte. Diese war einerseits nur eine Form der hybriden Selbst-Beziehung. Andererseits war die philosophische Subjektivität eo ipso das, woraus eine Theorie der Subjektivität Gestalt annehmen konnte, und zuletzt, woraus man zu der »Sache selbst« gelangen konnte. Es war ohne Frage diese Zirkularität, welche die Frage nach dem Wesen der Philosophie manifestierte. Die Analyse der »Philosophie« – wie sie sich in der Frage zeigt und nicht wie sie, dogmatisch, vorausgesetzt wird – führte zur Öffnung eines Feldes, in dessen Innerem wir Theorien (oder Teile, Aggregate oder das Verhalten von Theorien) als Gegenstände erfahren. Die Entstehung dieser Strukturen der metatheoretischen Erfahrung führte dann zum spekulativen Bewusstsein der metatheoretischen Dimensionalität selbst, also zum Bewusst-Sein einer regionalen Ontologie, die ihre eigene Konstitution und ihre charakteristische Orientierungs- und Erfahrungsmöglichkeit besitzt. Durch die Erfahrung des □MG denken wir ihn als ein »Etwas als solches« (das heißt auf der Grundlage einer allgemeinen nomologischen Struktur der Gegenständlichkeit) und gleichzeitig als einen □metatheoretischen Gegenstand. Als □metatheoretischer Gegenstand wird der Gegenstand in seinen regionalen Eigenschaften (auf der Grundlage einer anderen nomologischen Struktur, die den regionalen Seinsbereich charakterisiert) aufgefasst. Das, was den □MG, aber auch z. B. die körperliche Aktivität, Software und Databases, die menschliche Gemeinschaft, die ökonomischen Phänomene etc. auszeichnet, das, was ipso facto etwas in seiner Erscheinung gemäß aller möglichen vor421 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
gezeichneten Potentialitäten sehen lässt, ist die Implementierung eines materialen Apriori (bzw. einer regionalen Ontologie) und einer formalen Ontologie. Aus diesem Grund ist die Erfahrung des Gegenstands im metatheoretischen Kontext – gemäß ihrer eigenen Dimensionalität – keine universelle kontextunabhängige Erfahrung, da eine »universelle Erfahrung« die Erfahrung eines »Nichts« wäre. Diese Erfahrung erweist sich wie jede Erfahrung in ihrem Bestehen als eine wesentlich relative, kontextabhängige, ontologisch regionalisierte Erfahrung – die notwendigerweise durch apriorische materiale Strukturen gebunden ist. Die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen »metatheoretische Dimension« (bzw. »metatheoretischer Horizont«) und »Metatheorie« (bzw. »Theorie der Theorien«) ist entscheidend. Die Identifizierung der metatheoretischen Kontextualität, der Horizontstruktur und somit des Gegenstands (durch die Anwendung des Kontextoperators), platziert die Analyse des Metatheoretischen als Beschreibung einer Erfahrungsform außerhalb der Metaphysik und unabhängig von ihrer Tendenz, die darin besteht, ein theoretisches Objekt, kontextlos und absolut, als »das Letzte« zu hypostasieren. Die Idee einer Metatheorie als höchste souveräne Theorie ist nichts als die Konkretion des ständigen Versuchs einer Philosophie, die an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung und ihrer thematischen Erweiterung glaubt, eine endgültige Axiomatisierung erreichen zu können. 1 Diesem Glauben stellt sich nicht ein leerer Sokratismus entgegen, sondern ein spekulatives Denken, das schon die Idee einer souveränen Theorie, die sich zu Unrecht eine unantastbare Position zuschreibt, überschritten hat. Der Anspruch, sich außerhalb der epistemischen Relativität anderer Wissensformen zu befinden, gehört nicht zu dieser oder einer anderen Philosophie, jedoch eo ipso zu einer Philosophie, die sich vor der Zirkularität jeder Begründung verstecken will, die ihr umgekehrt aber wesentlich ist. Die Metatheorie als Bestätigung, Anerkennung und Stellung der Überschreitung einer Schau gegenüber der Relativität von Wissensformen ist durch die klassische Aporie der Zirkularität affiziert, die einerseits die metaphysische Hypostase eines »Blicks von nirgendwo« und andererseits die absolute Relativität von Wissensformen behauptet. Entweder ist die Relativität eine absolute – in diesem Fall erscheint die metaphysische Hypostase als das, was sie ist, d. h. nur 1
Vgl. E. Husserl, Prolegomena zur reinen Logik, cit., Hua. 18, § 69, S. 248–249.
422 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 71. Zirkularität, die sich auf die metatheoretische Dimension auswirkt
eine bloße Voraussetzung, weil es kein »Nirgendwo« gibt – oder es kann, wenn die Relativität nicht absolut ist, ein »Meta-« der Metatheorie, das eine solche Meta-Theorie relativiert, gedacht werden. Aufgrund des aporetischen Wesens jeder metaphysischen Hypostase zeigt sich die Selbstaufhebung der These eines absoluten, kontextunabhängigen »Meta-X« im Verhältnis zur Relativität von Wissensformen. Aber auf der anderen Seite erscheint auch eine einfache hermeneutische Behauptung der Relativität (ohne metaphysische Anforderungen) als krypto-metaphysisch, zumindest als etwas, das einer überschüssigen Stellung bedarf. Das »Meta-« des Metatheoretischen bleibt zwischen der metaphysischen Behauptung des »Meta-« und der einfachen These der Relativität etwas Unbestimmtes. An diesem Punkt wird das Dilemma zwischen »Metaphysik« und »Relativismus« der Wissensformen durch die Analyse (bzw. Phänomenologie) metatheoretischer Erfahrung ersetzt werden müssen. Die Alternative ist notwendig und entscheidend. Die obligatorische Entscheidung für eine phänomenologische Analyse des Metatheoretischen lässt nicht auf eine absolute (eschatologische) Wissenschaft hoffen, aus der (eines Tages) die relativen Wissensformen die Form eines Korpus, eines Gegenstandes annehmen werden (apokatastatis pantôn). Stattdessen soll der Suche nach einer nicht-metaphysischen Form selbst Vorrang gewährt werden. Die Befreiung von Aporien einer dogmatischen Grundlegung (die sich in der unbegründeten Wiederholung des »Meta-« umkehren) immunisiert nicht gegen die Probleme der Zirkularität. An diesem Punkt stellt sich die Frage, was den Unterschied zwischen metatheoretischer Metaphysik und der Analyse der metatheoretischen Erfahrung ausmacht, was genau der Unterschied zwischen der problematischen Natur der beiden Situationen ist. Einerseits setzt sich die Theorie eines unübertrefflichen »Meta-« der Notwendigkeit ihrer eigenen Überschreitung aus, wenn darüber gesprochen wird, woraus sie besteht: Die Theorie der Metatheorie ist nichts anderes als eine Meta-Meta-Theorie. Anderseits sind wir in einer so komplizierten Situation, dass es genügt, an folgenden Umstand zu erinnern. Das »Metatheoretische«, das als »metatheoretische Erfahrung« erschien, ist kein Gegenstand, der die metaphysische Absolutheit bestätigt, sondern eine kontextuelle Situation, das heißt eine Perspektive, die nie absolut sein kann. Hier erscheint die ganze Problematik, welche die Idee der Vollständigkeit betrifft. In Anbetracht der meta423 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
theoretischen Erfahrung haben wir mit Gegenständen zu tun, die vom ontologisch-regionalen und ontologisch-formalen Standpunkt gekennzeichnet sind. Doch unter diesen Gegenständen einer metatheoretischen Erfahrung befindet sich auch derjenige, der es uns ermöglicht, jedes »Etwas« als »Etwas und/durch seine Regionalisierung« zu denken oder aufzufassen: die Ontologie oder Gegenstandstheorie. Genauer gesagt: Man kann unter den □MG jederzeit die Gegenstandstheorie erfahren. Eine solche Ontologie oder Gegenstandstheorie strukturiert nicht nur meine metatheoretische (anschauliche) Auffassung eines □MG (ob diese implizit oder explizit sei) gründlich, sondern muss auch die Möglichkeit jeder Auffassung eines Gegenstands als Etwas und zugleich als etwas »□Metatheoretisches« (das heißt als regionalisierte und kontextuelle Erfahrung) strukturieren. Das zeigt sich als scheinbar verhängnisvolle Zirkularität, wenn man immer noch an einem linearen Sinn der Letztbegründung festhält. Das Problem ist nicht, zu entscheiden, ob die Gegenstandstheorie (Ontologie) die metatheoretische Perspektive begründen kann oder umgekehrt, und wie durch diese Begründung auch eine Schau absoluten und unbedingten Wissens erschaffen werden könnte. Im ersten Fall ist es unmöglich, zu sagen, dass eine Theorie die Perspektive, in der und durch die sie sich zeigt, ableitet. Im zweiten Fall ist es ebenfalls unmöglich, besonders, wenn man die metatheoretische Perspektive aufgrund ihres intentionalen Status als etwas nicht Deduktives, sondern nur Deskriptives anerkennt. Wenn was sich sehen lässt (d. h in diesem Fall das Metatheoretische), eo ipso keiner Deduktion bzw. Letztbegründung bedarf, ist die Verbindung zwischen dem Metatheoretischen und dem Ontologischen als ein Perspektiven- bzw. ein Gestaltwechsel zu verstehen.
§ 72. Gegenstandstheorie als Theorie Was hier wichtig und auflösend ist, zumindest um die Sackgasse der sich gegenüberstehenden, gleichwohl ebenso vertretbaren Hypothesen zu verlassen, ist zunächst die Erscheinung der Gegenstandstheorie. Als Erscheinung hebt sie jede Begründungshypothese auf, um danach die Überlagerung der beiden Perspektiven (bzw. unterschiedlichen Situationen) anzuzeigen. Eine solche Erscheinung setzt ein Vorverständnis voraus. Denn man kann die Gegenstandstheorie nicht überall antreffen. Die Auffassung der Ontologie als »das Themati424 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 73. Gegenstandstheorie als □MG
sche« einer Schau setzt zunächst einen metatheoretischen Horizont voraus – als thematische Öffnung, als Kontext. Das metatheoretische Vorverständnis – kraft einer sedimentierten Erfahrung – lässt uns die Gegenstandstheorie als Gegenstand einer □metatheoretischen Anschauung auffassen. Jeder, der damit begonnen hat, etwas implizit metatheoretisch auf engstem Raum der Philosophie zu erfahren, oder mit dem metatheoretischen Horizont schon vertraut geworden ist, sieht die Gegenstandstheorie, wie sie wirklich ist, das heißt als einen Gegenstand. Es geht um einen Gegenstand im Sinne eines quid, woran man die Schau orientieren, dessen verschiedene Aspekte erfassen und eine Beschreibung entwerfen kann. 2 Die Gegenstandstheorie zeigt sich durch intrinsische, strukturelle, dynamische Beziehungen mit anderen □MG, wie in eine Dimensionalität gesetzt, und strukturiert sich selbst gemäß der beiden Koordinaten des □Eidos und □Logos. Die genetische Dicke (die Geschichte) des Gegenstands »Gegenstandstheorie«, artikuliert sich in dem, was der □MG heute ist, das heißt in seiner aktuellen Strukturform, wie sie sich in ihrem exponentiellen Wachstum bzw. in ihrer Definition per intussusceptionem zeigt. Wenn wir über die Gegenstandstheorie oder einfach über die Ontologie von Parmenides bis Quine sprechen, haben wir kaum mit einer bloßen narrativen Einheit zu tun. Wir begreifen diese Einheit als anschauliche Einheit von etwas, von diesem Gegenstand da! Wir erfassen zugleich seine Dicke, seinen Logos. Auf gleiche Weise begreifen wir, wenn wir uns im Horizont metatheoretischer Erfahrung befinden, sofort anschaulich, und dann auch in einer steigenden anschaulichen Klarheit die Morphologie der Gegenstandstheorie selbst. Das heißt, dass wir die Morphologie eines bestimmten □MG (genau durch seine gemeinsamen statischen und dynamischen Verhältnisse strukturiert) sowie das Zusammenspiel mit anderen □MG, identifizieren können.
§ 73. Gegenstandstheorie als □MG Die Gegenstandstheorie, wie sie sich hier im Kontext der metatheoretischen Erfahrung zeigt, ist ein stark artikulierter Gegenstand, in E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, cit., Hua. 11, S. 5: »Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich dabei mit dem Blick, tritt näher heran, öffne mich, zerteile mich.«
2
425 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
dem wir mehrere Makro-Teile erkennen können: eine Mereologie, die in Verbindung mit einer Topologie eine Mereo-topo-logie formt; eine Urteilstheorie, die sich mit der formalen Logik verbindet; eine Gruppe von Theorien über die begrifflichen Schemata und den Charakter der daraus entstehenden ontologischen Verpflichtung; eine Wahrheitstheorie 3 sowie die zeitgenössische Theorie der Universalien 4 und die Theorie der Tropen 5 etc. Dann kann der makro-theoretische Teil untersucht werden, der die Beziehung zwischen formaler Ontologie und regionalen Ontologien bestimmt und die Beschreibungen dieser regionalen Ontologien etc. Dieses Ganze als Eidos eines □MG – wie es sich für uns heute manifestiert, wie wir es anschaulich auffassen können – ist nichts als ein genetischer Sedimentierungsprozess, der seine systematische Darstellung (zumindest in der abendländischen Philosophie) bei Aristoteles findet. Das ist es, was wir heute, übernommen von dem Namen prôtê Epistêmê 6, »Ontologie« bzw. »Gegenstandstheorie« nennen. Zum ersten Mal wird der Status des »Etwas« und darüber hinaus »etwas« notwendigerweise anderen »Gegenständen« gleicher Art (Theorien, Epistêmai) bei Aristoteles angeordnet. Daher erscheinen prôtê Epistêmê, »Ontologie« und »Gegenstandstheorie« quasi wie Synonyme. Sie scheinen den gleichen Bezugspunkt zu haben, gleichwohl gemäß ihrer drei verschiedenen Urbedeutungen, die drei Bedeutungen, drei Phasen genetischer Sedimentierung des gleichen □MG in den Vordergrund stellen. Wie »Morgenstern« und »Abendstern« zielen prôtê Epistêmê, »Ontologie« und »Gegenstandstheorie« auf das Gleiche ab, gemäß drei verschiedener Momente des genetischen Sedimentie3 Vgl. D. M. Armstrong, Truth and Truthmaking, Cambridge, 2004; vgl. auch K. Mulligan (ed.), Language, Truth and Ontology, Dordrecht, 1992; E. J. Lowe – A. Rami (Eds.), Truth and Truth-Making, Stocksfield UK, 2009; K. Mulligan, Two Dogmas of Truth-making. In J. M. Monnoyer (Ed.), Metaphysics and Truth-makers, Frankfurt, 2007; R. Cameron, Truth-makers and Ontological Commitment, Philosophical Studies, 140, 2008: 1–18. 4 Vgl. D. M. Armstrong, A World of States of Affairs, Cambridge, 1997; H.-N. Castañeda, Thinking and the Structure of the World, Philosophia, 4, 1974: 3–40; J. Van Cleve, The Moon And Sixpence: A Defense of Mereological Universalism. In T. Sider – J. Hawthorne – D. W. Zimmerman (Eds.), Contemporary Debates in Metaphysics, Oxford, 2008, S. 321–340. 5 Vgl. D. C. Williams, On the Elements of Being, The Review of Metaphysics, 7, 1953: 3–18, 171–192; J. Dodd, Farewell to States of Affairs, Australasian Journal of Philosophy, 57, 1999: 146–160; A.-S. Maurin, If Tropes, Dordrecht, 2002. 6 Vgl. Aristoteles, Metaph., 4, 1003, a 22 f.
426 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 73. Gegenstandstheorie als □MG
rungsprozesses und seiner strukturellen Form. Diese drei Namen legen (unabhängig von der Sprache, die wir heute benutzen) die anschauliche Anerkennung eines Gegenstands fest, der sich zunächst als prôtê Epistêmê strukturiert. Nach mehreren Jahrhunderten, unter dem anti-scholastischen Einfluss des Cartesianismus, kann eine solche prôtê Epistêmê die Ontosophia vel Ontologia 7 werden, die danach allmählich ihre theologischen Kontaminationen, dank der Transzendentalphilosophie und des Brentanismus, beseitigt. Eine solche Sedimentierung (oder Entwicklung) führt schließlich zum Status der »Gegenstandstheorie«. Was wir heutzutage neutral als »Gegenstandstheorie« oder »Ontologie« bezeichnen, ist ein komplexes Ergebnis, dessen Interaktionen und Strukturen so untrennbar verwoben sind, dass eine Wiederholung der Geschichte der Ontologie nichts Anderem dient als dem, einen ersten Eindruck ihres Logos zu geben. Auch die »analytische« Bezeichnung des aktuellen Stands der Ontologie würde nur einen ersten Eindruck von ihrer Gestalt geben. Doch auch mit der immer detaillierteren Vertiefung dieser strukturellen und/oder genetischen Beschreibung dieses Gegenstands wären wir nicht in der Lage, das Wesen der Erfahrung dieses Gegenstands zu erfassen. Erstens, weil die meisten dieser Beschreibungen, die im zeitgenössischen philosophischen Horizont bereits weit verbreitet sind, kein ausdrückliches Bewusstsein erkennen lassen, dass es sich grundsätzlich um Analysen und Beschreibungen eines Gegenstands handelt, der eine eigene Form und Charakteristik, Individuation und eine dynamische Interaktion mit anderen ähnlichen Gegenständen besitzt. Zweitens, weil gerade jenseits dieser Beschreibung (die ein edles Projekt wäre) der spekulative Kern des Problems liegt. Dieser Kern besteht darin, dass der □MG, »Gegenstandstheorie« genannt, in gewisser Weise auch über sich selbst theoretisiert. Im Fall des Metatheoretischen ist der Übergang vom Impliziten zum Expliziten nicht etwas rein Formales wie die bloße Klärung einer dunklen Vorstellung. Der Übergang vom Impliziten zum Expliziten ist nicht nur der Gestaltwechsel, in dem die Figur eines Hasen auch die Gestalt einer Ente annimmt. Dies kann bei einer Vorstellung, doch nicht bei einer Art von Erfahrung geschehen, nicht bei einer Dimensionalität in ihrer strukturellen Komplexität und morphogenetischen Dynamik. Dass verstreute Spuren an einem gewissen Punkt 7
Vgl. J. Clauberg, Elementa Philosophiae sive Ontosophia, Gröningen, 1647, S. 3.
427 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
als eine genaue, zeitgerechte Erscheinung des Gegenstands anerkannt werden; dass die Variation dieser Spuren nicht als isolierte Veränderungen, sondern als ein einziges Phänomen erkannt wird, verlangt – wie in anderen Bereichen – eine Vertrautheit mit dieser Erfahrungsform und Sedimentierungsmustern, das heißt eine »Übung der Schau«. Aus der Annahme der Gegenstandstheorie als □MG, ihrer Anerkennung als etwas, was sich unmittelbar an den metatheoretischen Horizont hingibt, resultieren drei radikale Konsequenzen: Die Erschöpfung des Vorrangs der prôtê Epistêmê (das heißt die metatheoretische Relativierung der Gegenstandstheorie), die Notwendigkeit einer ontologisch-formalen und ontologisch-materialen Analyse und aus dieser Analyse folgend die Entstehung der Zirkularität.
§ 74. Erschöpfung des Vorrangs: Die metatheoretische Relativität der Gegenstandstheorie Der erste, aus spekulativer Sicht bemerkenswerte Übergang von einer vagen und rhapsodischen zu einer expliziten und bewussten Betrachtungsweise des □MG »Ontologie« liegt in ihrer Relativierung: nicht im Verhältnis zum Zugang, den sie zu den empirischen Gegenständlichkeiten ermöglicht, sondern im Verhältnis zu anderen □MG. Das heißt (bis jetzt), dass sie – außerhalb der Betrachtung des Zusammenhangs mit den Gegenständen, die sie beschreibt, oder mit dem epistemischen Zugang zum Boden universeller Erfahrung, die sie verschafft [infra § 115] – mit Blick auf diese Gegenstände selbst, kraft ihres Wesens als □MG, zwangsläufig relativ ist. Alle diese Gegenstände sind »relative« in Bezug worauf? Sie sind »relativ« zueinander. Das folgt unmittelbar und ohne besondere Probleme aus der Horizontalisierung der Gegenstandserfahrung selbst, das heißt aus der Betrachtung, dass die □MG nicht absolut sind: Sie erscheinen, da sie sich in einem Kontext zeigen und zwangsläufig ein Vorverständnis voraussetzen. Dies, so wiederholen wir, ist problemlos. Es kann im Gegenteil problematisch sein für diejenigen, die sich heute für die Hüter des ersten Wissens halten, höher im Vergleich zu anderen Wissensformen und daher zwangsläufig würdevoller und edler. Diese Annahme wird auch oft durch ein raffiniertes Argument übersetzt, das jedoch nichts an der Substanz des Problems ändert: In der Tat liege der Vorrang der Metaphysik – eine grobe Übersetzung der prôtê Epistêmê – in der Tatsache, dass sie entscheiden und zeigen könne, 428 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 74. Erschöpfung des Vorrangs
was existiert. In diesem Sinne gäbe es einen Vorrang der Metaphysik gegenüber anderen □MG; dieser Vorrang wäre illusorisch, zumal die metatheoretische Dimensionalität in all ihren Formen und all ihren Variationen keine Vorrangstellung eines □MG, das heißt keine Vorrangstellung irgendwelcher Wissensformen über andere, anerkennen lässt. Dies steht in vollem Einklang mit der Relativität von Erfahrungsformen, die im ersten Teil entwickelt wurde, nach der es keinen Grund für eine Erfahrung (und damit eine Form der HSB) gebe, die authentischer als andere sein wäre. Die Relativierung von Erfahrungsformen setzt auch die Relativität von Gegenständlichkeiten voraus, die wir gemäß jeder Form eines sedimentierten Apriori, bzw. einer komplexen Gestaltung sedimentierter Apriori erfahren können. Von einer willkürlichen philosophischen Entscheidung abgesehen, ist es unmöglich, zu behaupten, dass die Wahrnehmung der mathematischen Anschauung der religiösen Erfahrung übergeordnet ist oder umgekehrt. So ist die Theorie der Wahrnehmung kaum der Mathematik oder verschiedenen Ansätzen der Religion (einschließlich Theologie) übergeordnet oder umgekehrt. Das Gleiche gilt für die Ontologie vom Standpunkt der metatheoretischen Erfahrung. Nur wenn man behauptet, die nomologische Ordnung noch einmal durch ein metaphysisches Prinzip (bzw. Vorurteil) aufzuzeigen, kann man ernsthaft behaupten, dass es einen Vorrang eines □MG gegenüber anderen gibt. Warum dann nicht sagen, dass die Wahrnehmung von »rot« authentischer ist als die Wahrnehmung von »grün« oder die Note A edler ist als ein C? Verhält es sich mit der Gegenstandstheorie (oder Ontologie) anders, wenn sie der Qualifikation einer wesentlich axiologischen Metaphysik entzogen wird? Wie könnte die Ontologie als Epistêmê ihre Vorrangstellung vor anderen Formen der Epistêmê zeigen? Hier lässt die Sprache nicht viel Spielraum für die Mehrdeutigkeit: Die »Erscheinung der Vorrangstellung« kann nur entweder eine Metapher oder die Erfahrung etwas Metatheoretischen sein. Im ersten Fall, um die Vorrangstellung zu untermauern, sollte man rein logisch vorgehen (wenngleich mit einer pervertierten »Logik«) und den Zustand der »Offenheit« verlassen, in der Aristoteles selbst »die zentralen Probleme« der prôtê Epistêmê ließ. 8 Allerdings wäre die einzige Möglichkeit, auf gültige Weise für den Vorrang zu 8 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, Frankfurt a. M., 1991, S. 8.
429 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
argumentieren, die These, dass alle Epistêmai eine prôtê Epistêmê als Ontologie voraussetzten, da sie den »Gegenstand als solchen« zuerst voraussetzten, das heißt vor allem als »Gegenstand überhaupt«. Zwei Fragen stellen sich an diesem Punkt: 1) Leugnet die metatheoretische Perspektive diese These oder integriert und bereichert sie sie vielmehr? 2) Ist diese These wirklich konsequent außerhalb einer metatheoretischen Perspektive? Ad primum: Die metatheoretische Perspektive leugnet diese These nicht, sondern bietet die einzige Möglichkeit ihrer Untermauerung. Der Vorrang könnte aus nichts anderem bestehen als aus der Behauptung, dass jede Theorie, um über etwas zu sprechen, in Abhängigkeit zu der Theorie des »Etwas« in seiner Allgemeinheit steht. Die Bedeutung der Vorrangstellung, wie sie durch die »logische« These bekräftigt wird, erklärt sich nur durch Umsetzung innerhalb des metatheoretischen Diskurses: Der Vorrang wäre in der Tat nur die Feststellung der Notwendigkeit einer Abhängigkeit zwischen jeder Wissensform (als Epistêmê betrachtet) und der Gegenstandstheorie, da jene von dieser abhängen muss, um von einem »etwas« zu sprechen. Allerdings gibt es keine Notwendigkeit für den Fall eines metatheoretischen Sachverhalts, sofern wir eine »Verbindungsinvarianz« nicht einfach als Notwendigkeit hinnehmen. In all unseren Erfahrungen durch die Epistêmai erkennen wir eine potentielle oder bereits etablierte Verbindung mit der Gegenstandstheorie. Denn auch wenn es dem Metaphysiker kurios erscheinen mag, können viele Wissenschaften sehr gut auf eine formal-ontologische Charakterisierung ihrer Objekte verzichten, indem sie einfach an Phänomenen oder Gegebenheiten festhalten. Wenn wir für einen Augenblick den illegitimen logischen Übergang zwischen Invarianz und Notwendigkeit ignorieren, könnte nur die metatheoretische Perspektive die Bedeutung dieser Vorrangstellung (oder was eine solche sein soll) verdeutlichen. Denn, von der metatheoretischen Erfahrung abgesehen, können wir die strukturelle Bedeutung des Anspruchs nicht klar verstehen. Ad secundum: In der Tat ist die notwendige hypothetische Voraussetzung der Gegenstandstheorie der Epistêmai außerhalb der metatheoretischen Perspektive vollkommen unverständlich. Auf welche Weise sollten die Epistêmai die Gegenstandstheorie voraussetzen? Nur durch eine logische Analyse wird uns keine Fehlinterpretation unterlaufen. Eine solche Voraussetzung wäre nur außerhalb der me430 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs
tatheoretischen Perspektive möglich, wenn wir die Wissenschaft nur auf ihre axiomatischen Prinzipien prüfen. Jedoch gibt es in dieser Situation, in der die Prinzipien in tausende von eigenen Gesetzen und theoretischen Orten verstreut sind, absolut keine Spur eines Vorrangs der Ontologie. Wenn wir noch genauer sein wollen, taucht die Ontologie (außer in seltenen Fällen) nicht auf, wenn sie nicht implizit durch positives Wachstum und Inflation der Wissenschaften vorausgesetzt wird. Braucht es wirklich eine Ontologie, insbesondere, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen? Nehmen wir einmal zum Beispiel die Debatte über die Ontologie der Zahlen. Sind wir sicher, dass man die ontologische Betrachtung einer Zahl oder einer topologischen Struktur für Fortschritte in der Mathematik halten muss? Das Problem der Ontologie der Zahlen – oder, wenn man so will, der Ontologie von mathematischen Strukturen – entsteht, wenn sich der Kontext komplett ändert, wenn man Erfahrung im Horizont der Metamathematik macht, wo man diese Strukturen selbst als Gegenstände von ganz anderer Art betrachtet. Wenn man diese Behauptung »rein logisch« betrachtet, so gibt die Strenge der Logik keine Antwort auf die Forderung einer Vorrangstellung. Wenn wir diesen »Vorrang« wie gewünscht nutzen wollen, muss dies notwendigerweise im metatheoretischen Horizont geschehen, das heißt durch die Erfahrung von Gegenständen, die sich manifestieren. Vom Standpunkt der metatheoretischen Erfahrung jedoch erweist sich die Vorrangstellung als eine andere Art, da sich die metatheoretische Erfahrung als Form der Erfahrung, als (axiologisch neutraler) Phänomenalisierung, keine Vorrangstellung zugesteht. Aufgrund ihrer normativen und axiologischen Neutralität ist die Vorrangstellung eines □MG vor einem anderen nur ein Unsinn. Dies beinhaltet die Analyse der Beziehungen, die die Gegenstandstheorie oder Ontologie mit anderen Gegenständen innerhalb der metatheoretischen Erfahrung hat, um endgültig zu verstehen, in welchem Sinne die Vorrangstellung der prôtê Epistêmê völlig illusorisch ist.
§ 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs Innerhalb des metatheoretischen Horizonts bedeutet der Vorrang dann lediglich, dass die Feststellung der Invarianz einer aktuellen oder potenziellen Verbindungsabhängigkeit zwischen jeder Form von Epistêmê einerseits und der Gegenstandstheorie andererseits die431 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
se Invarianz als Notwendigkeit anerkennen lassen würde. Das Problem der Entscheidung für eine neue Metaphysik ist hier, dass in der metatheoretischen Erfahrung »die Invarianz der Verbindung als Notwendigkeit« leider nicht selbstverständlich ist, wodurch die Vorrangstellung allerdings begründet werden sollte. Vielmehr muss sie innerhalb dieser Erfahrungsform und durch ihre eigene Form analysiert werden. Wenn wir im Umgang mit der Erschöpfung der Vorrangstellung schon die Äquivalenz zwischen Invarianz und notwendiger Verbindung beiseitegelegt haben, müssen wir uns nun nur auf die Invarianz konzentrieren, die den letzten Stützpunkt darstellen könnte, um die Vorrangstellung der Gegenstandstheorie oder Ontologie zu beweisen. Jedoch ist auch die metaphysische Voraussetzung der Invarianz, die schon als Analyse metatheoretischer Erfahrung auf die Probe gestellt wurde, aufzugeben oder grundlegend zu überarbeiten. Die Notwendigkeit einer solchen Vernachlässigung oder dieser Überprüfung besteht in der Natur der Erfahrungsform selbst, die uns Identität oder Äquivalenz zwischen Invarianz und Notwendigkeit entfernen ließ. Was bedeutet es, dass das Abhängigkeitsverhältnis in der metatheoretischen Erfahrung zwischen einer Epistêmê und der Gegenstandstheorie eine invariante Beziehung ist? An diesem Punkt stellen sich mehrere Fragen. Erstens: In welchem Sinne können wir noch einfach von Epistêmai und nicht einfach von □MG sprechen? Dann: In welchem Sinne ist eine solche Abhängigkeit zu verstehen? Was ist die Bedeutung der Invarianz dieser Abhängigkeit? Wenn wir den Übergang von der »einfachen« logischen Analyse der Epistêmai als Gegenstände der metatheoretischen Erfahrung mehr und mehr in den Fokus unserer Betrachtung rücken, ist es leicht zu sehen, dass der Übergang von der nicht-neutralen Charakterisierung von Epistêmai zur absolut neutralen Charakterisierung von etwas als □MG wohl kaum unwesentlich ist. Der □MG ist genauer gesagt, als Form einer gegenständlichen Beziehung, das Ergebnis einer radikalen Negation aller vorgefassten Meinungen und normativen, axiologischen Annahmen, die die Art und Weise, sich auf etwas als Wissensform zu beziehen, bestimmen. Es genügt, daran zu erinnern, dass der □MG nicht unbedingt immer demjenigen zugeordnet werden muss, das, abgesehen von seiner eigenen Form der Erfahrung, als (offensichtlich dogmatisch) Epistêmê oder als »Form« von Epistêmê erkannt wird. Erstens, da die Epistêmê streng genommen keine Form hat, und zweitens, weil wir, wenn wir von einer Form von Epistêmê sprechen sollen, nur vom Standpunkt 432 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs
des »Metatheoretischen« sprechen können. In diesem Sinne erscheinen die begrifflichen Werkzeuge, wodurch man behauptet, jede Form von Epistêmê »von oben« zu bestimmen, erfolglos. Der □MG kann morphologisch einfacher oder auch komplexer als eine Form von Epistêmê erscheinen, das heißt, man setzt dogmatisch voraus, was angeblich die Epistêmê an sich sein muss. Es findet hier eine erste Schwächung des Abhängigkeitsgedankens statt, da es unter den Gegenständen, die in der metatheoretischen Erfahrung erscheinen, viele gibt, die aus verschiedenen Gründen keine Wissenschaften im klassischen Sinn des Begriffs sind. In welchem Sinne muss dann jeder □MG als solcher als abhängig von der Gegenstandstheorie erscheinen? Er sollte eine »Schwelle der Ontologisierung« überschritten haben! Was ist eine solche Schwelle sein? Und auch im Fall einer solchen Überschreitung, welcher Teil eines solchen Gegenstands – vorprädikativ anerkannt als Epistêmê, das heißt als abhängig von dieser letzteren Wissenschaft und dieser Wissensform – manifestiert sich und muss sich als ein Teil bzw. Terminus in einem Abhängigkeitsverhältnis von der Gegenstandstheorie manifestieren? Die Abhängigkeit ist natürlich nicht als Abhängigkeit von etwas zu verstehen, das als Teil eines Ganzen gekennzeichnet ist (wie etwas, das einigermaßen durch die Mereologie bestimmt ist): In diesem Fall nehmen wir wieder die bereits beschriebene Zirkularität auf und werden sie in den folgenden Absätzen erneut diskutieren. Die Abhängigkeit sollte jedoch als Abhängigkeit von der Bestimmung, die sie über eine Klasse von (epistemischen) Gegenständen verwirklicht, verstanden werden [infra § 115–116]. Muss daher ein □MG notwendig von der Gegenstandstheorie abhängig sein, um die Bestimmung von etwas als einer Klasse von Gegenständen erahnen zu lassen? Muss er selbst einen Teil dieses Gegenstands ausmachen? Doch vor allem: Wer hat bestimmt, dass die □MG in ihrer morphologischen Modularität und in ihren variablen Geometrien alle ein fixiertes Verhältnis zur Ontologie voraussetzen sollen? Diese Annahme zeigt die tiefe Unwissenheit vom Innenleben der Wissensformen. Das Innenleben übersetzt sich im Metatheoretischen als die exponentielle, morphologische Komplexität bestimmter Gegenstände, die nichts mit einer formal-ontologischen Bestimmung bzw. expliziten Formalisierung von einigen ihrer epistemischen Objekte 9 zu tun haben. Dass all Diese Abhängigkeit könnte am meisten – wenn sie tatsächlich gültig ist – für das kleine Korpus des Wissens der aristotelischen Wissenschaft oder frühe Entwürfe der
9
433 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
diese Gegenstände – und diejenigen unter ihnen, die als Epistêmai anzuerkennen sind – diese Abhängigkeit nicht aufweisen, hebt radikal die Wahrheit dieser Notwendigkeit, wie sie in der metaphysischen These formuliert wird, auf. Gemäß dieser Theorie ist die Abhängigkeit etwas, das dem Ereignis der Erscheinung von □MG intrinsisch wäre. Wenn nicht alle □MG – oder alle von ihnen, die als Epistêmê anzuerkennen sind – immer in ihrer Abhängigkeit von der Gegenstandstheorie erscheinen, um welche Notwendigkeit handelt es sich dann? In welchem Sinne kann man diese Abhängigkeit verstehen, wenn sie nicht für alle □MG (wie sie sich in der metatheoretischen Erfahrung zeigen) gilt? Um dieses Dilemma zu überwinden, können diejenigen, die (immer noch) argumentieren, dass eine solche Abhängigkeit invariant ist, eine klassische Unterscheidung vorschlagen. Tatsächlich würde es sich um eine Wissenschaft handeln, wäre sie nur erkennbar als Epistêmê von nichts anderem als diesem □MG, seiner Ausrichtung zur epistemischen Bestimmung einer Klasse von Objekten, oder unterhielte dieser Gegenstand ein erklärbares Abhängigkeitsverhältnis mit der Gegenstandstheorie. 10 Jedoch erreicht man dadurch nicht nur, das hybrid-hyper-komplexe Zusammenspiel unter den Wissenschaften nicht als □MG zu verstehen: Man verfällt auch in den klassischen Teufelskreis, der darin besteht, das demonstrandum als Voraussetzung des Beweises anzunehmen. Wenn dann Epistêmai nur jene □MG (oder Teile von gewissen □MG) wären, die eine Abhängigkeitsbeziehung mit der Gegenstandstheorie zeigten, dann wäre der Beweis der Invarianz eigentlich nutzlos. Der Beweis setzt schon auf dogmatische Weise die Invarianz in der Definition der Epistêmê voraus. Diese Unterscheidung de re zwischen Epistêmê und nicht Epistêmê erfordert auch eine Unterscheidung zwischen dem, was an dieser Wissenschaft wirklich epistemisch ist, und dem, was es nicht. Wieder ist dies eine typische Geste der Metaphysik und ihrer tiefen modernen Wissenschaft gelten. Allerdings war sie schon in der Phase ungültig, in der die Wissensformen der Neuzeit ihr »selbstbestimmtes Leben«, ihre innere morphologische Dynamik erworben hatten. Dass ein selbstbestimmtes Leben dann als Symptom der Krise verstanden wird, kann den Kern der Frage nicht berühren und zeigt stattdessen, wie das Gefühl der Krise, letztlich aus einer wesentlich metaphysischen Idee, Erkenntnis war. Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, cit., Hua. 6, S. 7. Vgl. auch M. Heidegger, Sein und Zeit, cit., GA 2, S. 13. 10 Vgl. A. Meinong, Über Gegenstandstheorie, cit., S. 30.
434 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs
Unkenntnis des Innenlebens des Wissens. Als ob es eine souveräne Autorität gäbe, sagt uns der (falsche) Philosoph, was wir in dem komplexen Organismus jeder Epistêmê als »wirkliche Wissenschaft« festhalten müssen. Diese Entscheidung sollte nur aus dem Kriterium einer Verbindung dieses □MG mit der Ontologie als Doktrin (von der er glaubt, ein Kenner zu sein) entstammen. Es ist letztlich diese Art von Arroganz und Unwissenheit, die lächerliche Ausdrücke wie »Wissenschaft denkt nicht« 11 und ihre Verbreitung hervorgebracht hat. Das schuf letztlich Raum für eine Aphasie oder im besten Fall für die stotternde Hermeneutik der Philosophie [infra § 130–131]. Statt der klaren Nutzlosigkeit der Unterscheidung de re, könnte man dann wieder eine Unterscheidung de dictu vorschlagen, die sich auf die Beziehung zwischen »Implizit« und »Explizit« konzentrieren würde. Die Gegenstandstheorie – als prôtê Epistêmê – könnte also ihre wesentliche Vorrangstellung vor allem in der Fähigkeit zeigen, die sie hat, ausdrücklich das Abhängigkeitsverhältnis, das die Theorien ihr gegenüber haben, zu formulieren, da sie selbst (ohne es in den meisten Fällen zu wissen) immer und notwendigerweise einen Hinweis auf die Ontologie voraussetzen. Wenn man die Gültigkeit dieser These außer Acht lässt, tut die Behauptung und die Unterstützung des Vorrangs der Gegenstandstheorie nichts anderes, als die Notwendigkeit aus der metatheoretischen Perspektive erneut zu bestätigen. Kraft der Relativität der □MG hebt sich die These durch sich selbst auf. Was uns allerdings interessiert, ist nicht die Behauptung, sondern die Tatsache, dass die Notwendigkeit der Gegenstandstheorie innerhalb der metatheoretischen Erfahrung wieder klar gezeigt wird. Tatsächlich zeigt die Behauptung – dass der Vorrang der Gegenstandstheorie vor allem bei der Erläuterung der wesentlichen Abhängigkeit aller Wissensformen von der Gegenstandstheorie in Erscheinung tritt – zwei formale Aspekte: Der erste ist die Zirkularität 12 und der zweite die Notwendigkeit der Behauptung der metatheoretischen Perspektive selbst, um den Vorrang richtig zu behaupten. Doch auch die Möglichkeit, dass die Gegenstandstheorie sich das Recht herausnehmen kann, eine Abhängigkeit gegenüber sich selbst zu behaupten, prangert bereits die groteske Situation metaphysischer Aussagen an. Wir verstehen einfach nicht, wie eine formale (oder semi-formale) Theorie zur Bestimmung des allgemeinsten Etwas gleichzeitig 11 12
Vgl. M. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, Frankfurt a. M., 2002, S. 140. Die wir im Detail in den folgenden §§ 70–71 sowie § 82 diskutieren.
435 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
Aussagen über die Abhängigkeit der Epistêmai von dieser Bestimmung formulieren kann. Wenn man natürlich jederzeit diese Abhängigkeit (mit oder ohne Recht) behauptet, bleibt man außerhalb des Kontexts eines formal-ontologischen Diskurses. In der Tat konstruiert man das Verhältnis zwischen diesem Diskurs (oder Teilen dieses Diskurses) und anderen Gegenständlichkeiten – die man jedoch in ihrem ganz typischen Wesen als Gegenständlichkeiten noch nicht erkannt hat. Es ist klar, dass wir uns, wenn wir von dieser Abhängigkeit sprechen, bereits im »metatheoretischen« Bereich befinden. Wenn wir über eine solche Abhängigkeit hinaus von dem Begriffspaar »implizit/explizit« sprechen, ist das, was dabei herauskommt, nicht die Metatheorie als Erfahrungshorizont, sondern eine Struktur. In welchem Sinne sprechen wir aber tatsächlich vom Impliziten und Expliziten aus dieser (notwendigerweise) metatheoretischen Sicht? Die Behauptung, dass »die Abhängigkeit manchmal implizit und manchmal explizit ist oder so im Verhältnis von dem Standpunkt der Betrachtung der Epistêmai aus erscheint«, hat genau das gleiche theoretische Ausmaß wie die Behauptung, dass das Abhängigkeitsverhältnis manchmal erscheint und manchmal nicht, gemäß der Art und Weise, auf die wir die Epistêmê betrachten. In diesem Sinne und je nach der Sichtweise, die man übernimmt, zeigen die Epistêmai eine solche Abhängigkeit: Sie erscheinen mit der Gegenstandstheorie lediglich dann verbunden, wenn wir sie aus der Perspektive einer fundamentalen Verbindung mit der Metaphysik betrachten. Dies ist jedoch genau die Bedeutung, die sich aus der Einführung der These in ihrem eigenen Kontext – der metaphysischen Erfahrung – ergibt. Diese Abhängigkeit (sich allein den Gesetzen des Metatheoretischen zu unterwerfen) kann als eine Dimension der Erfahrung verstanden werden: Das Paar »implizit/explizit« kann nur zugunsten der angemesseneren Idee einer »□metatheoretischen Erscheinung« aufgegeben werden. Das Explizite kann also nur der Erscheinung oder dem Bewusstwerden des □metatheoretischen Sachverhalts, der »Abhängigkeit« zwischen bestimmten □MG (die Epistêmai von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet) und der Gegenstandstheorie als einem anderen □MG entsprechen. Jedoch schwächt die Einschreibung dessen, das als invariant (de re) und variabel (de dicto) 13 gemäß Vgl. Th. McKay – M. Nelson, Propositional Attitude Reports, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2010): http://plato.stanford.edu/archives/win2010/ entries/prop-attitude-reports/).
13
436 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 76. Prôtê Epistêmê in der metaphysischen Hypothese
dem Begriffspaar implizit/explizit angenommen wurde (im Rahmen nomologisch strukturierter Phänomenalität), nur die Anfangsthese. Denn wenn die Abhängigkeit nur die Erscheinung eines bestimmten Sachverhalts ist, deren Teile □MG sind (d. h. als Struktur verstanden), dann kann die Abhängigkeit nur absolut relativiert werden. Die Relativität betrifft hier nicht nur das de dicto, sondern gilt auch notwendig für das de re. Die Abhängigkeit als Invariante ist nicht nur relativ in ihrer Auffassung, sondern auch in Bezug auf die Sache selbst. Abhängigkeit wäre dann nicht mehr als eine Beziehung, die zwischen zwei oder mehreren □MG unter Annahme einer bestimmten Perspektive hergestellt (oder modelliert) wird, 14 wenn wir Epistêmai gemäß ihrer metatheoretischen Morphologie, aus einer bestimmten Perspektive erfasst, erfahren. In diesem Sinne würde eine Vorrangstellung der prôtê Epistêmê einfach auf einen quantitativen Überschuss einer Okkurrenz des Sachverhalts reduziert werden. Diese Abhängigkeit wäre etwas, das »in den meisten Fällen« (epi to polu 15) nicht bei der Betrachtung der Epistêmai als □MG geschieht, sondern in den Fällen, in denen wir die ontologisch-formale Struktur einer Klasse von Objekten betrachten, auf die diese oder jene Epistêmê (gleichwohl nicht unbedingt alle) einen epistemischen Zugang bieten. Und es ist offensichtlich noch reduktiver. Allerdings vollendet sich die Schwächung der Ansprüche des Mythos der Ontologie als prôtê Epistêmê: erstens, wenn man die einfache Theorie der Abhängigkeit innerhalb der metatheoretischen Erfahrung nicht mehr betrachtet, zweitens, wenn man diese Theorie gemäß ihrer morphologischen Verfassung (als der □MG »Ontologie als prôtê Epistêmê«) betrachtet.
§ 76. Prôtê Epistêmê in der metaphysischen Hypothese Sobald erkannt wurde, dass dies der einzige Weg ist, die Gegenstandstheorie gemäß der nomologischen Struktur der metatheoretischen Erfahrung zu behandeln, stoßen wir auf zwei kontroverse Perspektiven. Die erste beruht auf der Überzeugung, dennoch in der Lage zu sein, die Vorrangstellung der Gegenstandstheorie gegenüber dem Vgl. infra §§ 117–119. Vgl. Aristoteles, Phys., 2, 196 d 10 – 197 a 8; Metaph., 4, 1026, b 28 – 1027 a 28; 10, 1064, b 30 – 1065 a 6.
14 15
437 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
Metatheoretischen zu beweisen (ungeachtet der Abschwächung der Abhängigkeit); die andere beruht auf der Aufgabe eines jeden axiologischen Vorrangs des □MG und der Analyse der Art seiner Gegebenheit und seiner strukturellen Konfigurationen, die innerhalb des metatheoretischen Horizonts variabel sind. Schließlich gilt die Tatsache, dass wir in den meisten Fällen, in denen wir die epistemischen Bestimmungen einer Klasse von Objekten betrachten, ihre Abhängigkeit von einer Gegenstandstheorie erfassen können, die einen Beweis des Vorrangs dieser Theorie repräsentiert. Allerdings ist es hier nicht klar, worin der Vorrang bestehen soll. Wie zeigt sich die Ontologie als prôtê Epistêmê? Ist sie nur die strukturelle Summe von Knoten und Verbindungen der Gegenstandstheorie als solcher, mit Ausnahme aller Abhängigkeitsbeziehungen, welche die Theorien ihr gegenüber haben? Oder würde die Ontologie als protê Epistêmê auch all diese Verbindungen und auch alle Epistêmai bedeuten, die sie als untergeordnete Wissenschaften in einer architektonischen Konstruktion unterhält? In diesem Fall wird die Ontologie prôtê Epistêmê nichts anderes sein als die Tatsache, dass (sozusagen) das System des gesamten Wissens in der Gegenstandstheorie sein strukturelles Zentrum findet. Doch in diesem Fall wäre die Ontologie als prôtê Epistêmê nicht die Gegenstandstheorie als □MG oder metatheoretischer Makro-Gegenstand, die von allen Epistêmai konstituiert wird, die auf sie verweisen und von ihr abhängen, sondern sozusagen die Perspektive des Metatheoretischen selbst, die metatheoretische Schau als solche. Denn tatsächlich ist das Wesentliche hier nicht in dem □MG »Gegenstandstheorie«, sondern in der Schau und (»spekulativen«) Auslegung dieser multi-strukturellen Abhängigkeit, zu finden. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass hier die Wahrheit des Metatheoretischen (und nicht der metaphysischen These) liegt. An diesem Punkt wird der Gegenstand, auf den das ganze Gewicht der Einheit des Wissens entladen wurde (falls es eine solche Einheit in der vereinfachten Darstellung der Metaphysik gibt), nunmehr wieder einmal relativiert. Denn die Wichtigkeit des □MG als »Gegenstandstheorie« wird in eine andere Dimension übertragen. In dieser Dimension ist das, was wichtig ist, das, was wir von den Zusammenhängen zwischen diesem □MG und den Epistêmai gemäß der nomologisch konstituierten metatheoretischen Erfahrung betrachten, aussagen und systematisieren können. In diesem Sinne bleibt die prôtê Epistêmê noch ein Desideratum; eine gesuchte Wissenschaft, die jedoch ohne einen Leitfaden gesucht 438 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 77. Die Neutralisierung und die Erscheinung der Gegenstandsstruktur
wird. Und dies liegt, wie wir sehen werden, 16 »in der Sache selbst«, da dieses Wissenschaftliche sich nie grundlegend objektivieren lässt. Es bezieht sich immer auf eine (speziell metatheoretische) Perspektive, aus der und durch die wir die Beziehung, die die Epistêmai« miteinander und mit gegenstandstheoretischen (meta-ontologischen) Modellen unterhalten, fassen können. Diese Unmöglichkeit einer Objektivierung betrifft nicht die Gegenstandstheorie (deren innere Zirkularität noch nicht berücksichtigt wurde), sondern die prôtê Epistêmê. Diese ist nicht die Gegenstandstheorie als □MG ausgelegt, sondern vielmehr die Perspektive, in der sie mit den Epistêmê in Verbindung tritt (vielleicht auch als Grundlegung). Die Unmöglichkeit der Objektivierung führt uns – als negatives Ergebnis – zu der adäquaten metatheoretischen Betrachtung der Ontologie bzw. der Gegenstandstheorie. Unabhängig von der unsinnigen Forderung, die Gegenstandstheorie zur Spitze der Konstruktion (des Gebäudes) des Wissens zu machen, kann die Gegenstandstheorie – da wir es hier, wie bei jeder Erfahrungsform, mit einer Horizontalität zu tun haben – das Objekt einer tieferen Beschreibung werden. Durch die Annahme der Gegenstandstheorie in der metatheoretischen Dimension erhalten wir ipso facto die Neutralisierung des illusorischen axiologischen Werts von Beziehungen, die beanspruchen, der Gegenstandstheorie eine metaphysische Haltung zuzuschreiben. Die Beziehungen, in denen eine solche »Gegenstandstheorie« als □MG erscheint, erscheinen eo ipso als neutral, neutralisiert, ohne dabei anonym, unbedeutend oder ohne metatheoretische Beschaffenheit zu sein.
§ 77. Die Neutralisierung und die Erscheinung der Gegenstandsstruktur Die Neutralisierung jeder axiologischen Projektion von Abhängigkeitsverhältnissen zeigt sich nicht nur als eine Reduktion, welche ermöglicht, »die Sache selbst« aufzufassen, sondern auch als eine Öffnung ihrer strukturellen bzw. genetischen Beschreibung, welche gemäß dem □Eidos bzw. gemäß dem □Logos geleitet werden kann. Diese Beschreibung enthält auch jene Dimensionalität, die aus diesen neutralisierten Beziehungen entstehen kann. Doch die »Gegen-
16
Vgl. u. IV. Teil: Der Raum der Mathesis.
439 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
standstheorie« ist, selbst wenn sie zunächst unabhängig von den ausgelegte Beziehungen mit den Epistêmai verstanden ist, als □MG äußerst komplex und schwer zu entziffern, zumal sie durch eine Komplexität charakterisiert ist, deren Richtlinien wir in diesem Paragraphen skizzieren werden. Unser Ziel ist es in der Tat nicht, die Aufgabe einer Beschreibung der Gegenstandstheorie (oder Ontologie), deren Erfüllung mehr als ein Buch erfordern würde, als solche zu leisten. Unser Ziel ist es, zu erkennen, was genau die Gegenstandstheorie als □MG entstehen lässt und bestimmt: die Grundfrage der Ontologie selbst. Eine solche Grundfrage (als Nachfrage) ist das, was gleichzeitig die metaontologische Situation öffnet. Was wir Gegenstandstheorie und/oder Ontologie nennen, ist ein □MG, der anschaulich (und somit sofort) innerhalb einer gewissen Form, durch mereologische Erfahrung gekennzeichnet, erscheint. Dieser Gegenstand widmet sich zwangsläufig verschiedenen Ausrichtungen, je nach unserer Stellung oder auch nach ihrer Wechselwirkung mit anderen Gegenständen, nach anderen Perspektiven der metatheoretischen Analyse etc. Und gerade hier, tritt die Anschaulichkeit des Gegenstands auf und das aufgrund der Tatsache, dass wir diesen Gegenstand aus anderen »Sichtweisen« sehen können, obwohl diese Ansichten zwangsläufig entscheidbare sind, sich diese doch entsprechend den Veränderungen in unserer Stellung innerhalb des Metatheoretischen geben. Eo ipso zeigt sich die strukturelle Unabhängigkeit des Gegenstands, der als solcher nicht von der Variation des Sinns der Aussagen, die ihn beschreiben, abhängt. Aus diesem Grund geht es beispielsweise in der scholastischen Ontologie (durch ein angemessenes Vorverständnis der nomologischen Struktur des □MG) nicht gleichzeitig unbedingt um die Erfahrung der Verbindung, welche die scholastische Ontologie zum Beispiel mit der christlichen Theologie und dem Problem der Universalien bzw. der materia signata quantitate unterhält. Im einen wie im anderen Fall geht es um verschiedene Auffassungen. Unter diesen Erfahrungen gibt es ipso facto die schlichte Auffassung, bzw. die Individuation, welche die bedeutungstragenende Intention im strengen Sinne überschreitet. Wenn wir an der Mereologie der III Logischen Untersuchung oder bestimmten Sätze der Principia Descartes’ bzw. der Ethik Spinozas oder dem Buch Z der Metaphysik arbeiten, wissen wir, dass hier ein und derselbe □MG aus drei verschiedenen historischen Perspektiven, drei verschiedenen Entwicklungsmomenten seines □Logos betrachtet wird. Das Gleiche 440 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 77. Die Neutralisierung und die Erscheinung der Gegenstandsstruktur
gilt für die strukturelle Analyse jedes Moments der anschaulichen Gegebenheit der Gegenstandstheorie als □MG. Wenn ich zum Beispiel an der Theorie der Tropen arbeite und insbesondere an einer besonderen These, »sehe« ich, dass sie strukturell mit der Gegenstandstheorie in einer morphologischen, mereologischen und völlig veränderlichen Beziehung steht. Die Tatsache, dass ich nicht (oder noch nicht) in der Lage bin, eine klare visuelle Modellierung und eine vollständige begriffliche Erklärung zu geben, wirkt sich weder auf die Anschaulichkeit dieser Erfahrung noch auf das Wesen von dem, was ich als diese oder jene Charaktere erkenne, aus. Was ist dann in einem ersten Ansatz das, was wir »Gegenstandstheorie« bzw. »Ontologie« nennen und was bei Aristoteles die »epistêmê tis ê theôrei to on ê on« hieß? Diese drei Namen meinen dasselbe und haben dieselbe Bedeutung, auch wenn sie einen verschiedenen Sinn haben, und orientieren uns an der Befestigung und der Anerkennung (die sehr unterschiedlich aufgebaut sein können) derselben Klasse metatheoretischer Erscheinungen. Aufgrund dieser verschiedenen Bedeutungen, die ebenfalls dieselbe Weise, einen Gegenstand anzuschauen, bestimmen, muss man zunächst Orientierung bei der Beschreibung des Gegenstands suchen. Der Name »Gegenstandstheorie« – als (formales) Synonym der Ontologie – skizziert eine epistemische Definition des Gegenstands selbst, nicht eines bestimmtes Dinges hier oder da, sondern von alledem, was als Gegenstand charakterisiert und als Thema eines intentionalen (dann auch erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen) Blicks erkannt werden kann. 17 Wenn wir die Ontologie nur als das, was sie theoretisch ist, nehmen, und wenn wir ihre Geschichte, ihre Entstehung, ihren □Logos beiseite lassen, wäre sie nichts anderes als eine theoretische, äußerst komplexe formale oder formalisierbare Struktur. Hier finden wir Untereinheiten, deren Aufgabe es ist, eine möglichst konsequente, klare und definierte Bestimmung dessen zu bieten, was wir unter »Gegenstand«, »Etwas« und damit dem, was wir als für unseren intentionalen Blick bedeutungsvolles »Thema« annehmen, verstehen: das Thematische. In ihrer reinen Strukturalität
17 Vgl. A. Meinong, Über Gegenstandstheorie, cit., S. 25: »Wer die Bedeutung und Eigenart des Objektivs nicht erfaßt hat, wer infolgedessen das jedem Erkennen zugehörige Sein am Objekte sucht, daher die Eventualität des Nichtseins und Soseins nicht ausreichend würdigt und wohl gar noch in allem Seienden ein Wirkliches antreffen zu müssen meint, der verfällt allem Psychologismus.«
441 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
betrachtet, ist es die Gegenstandstheorie jener □MG, mit der wir versuchen, zu einer Bestimmung des »Etwas« als solches zu gelangen. Es geht »einfach« um die Bestimmung von allem, was als »Etwas« und gleichzeitig als Träger von partikulären (ontologisch-regionalen) Bestimmungen beschrieben werden kann. Die epistemische Bestimmung, nach der sich die Struktur der Gegenstandstheorie ausrichtet, ist die Klasse aller Objekte, das heißt die Klasse des »Denkbaren« (cogitabile). Diese Struktur, die von uns als eine mereologische Struktur interpretiert wird, ist mit weiteren □MG verbunden, die andere metatheoretische (und unabhängige) Bestandteile aufweisen: Sie verbindet sich zum Beispiel gemäß einigen Möglichkeiten mit einer Mereologie, mit topologischen Fragestellungen und verschiedenen topologischen Formen; es gibt eine Theorie der Universalien, die eine Verbindung mit der Aussagenlogik, mit der Modallogik und mit der Metaphysik (in beiden Bedeutungen: klassisch und zeitgenössisch) etc. enthüllt. Man könnte auch argumentieren, dass diese kurze Liste nicht dazu dient, die Struktur der Gegenstandstheorie deutlich und vollständig zu klären. Doch dies ist nicht das Ziel. Das Ziel ist es nicht, auf die Beschreibung des □MG zu kommen, sondern ihre innere Dynamik als Bestandteil für die gesamte metatheoretische Dimension zu erfassen. Wir müssen sie also zunächst einmal anschaulich und auf einmal erfassen. Um dies zu tun, ist es nicht genug, gemäß dem □Eidos Erkenntnis von seiner Struktur zu haben, stattdessen muss gesehen werden, in welchem Sinne diese Struktur nur das Epiphänomen einer Genese, das Ergebnis einer nicht-definitven Konkretion ist. Die wesentliche und innere Dynamik der Gegenstandstheorie, die privative Situation, die eine solche Theorie in sich selbst trägt, ist etwas, was nicht nur ihre lokalen strukturellen Entwicklungen bestimmt, sondern sich auch von ihrem Ursprung her belebt und bewegen lässt. Wenn man beginnt, diesen Verzweigungen und diesen strukturellen Entwicklungen nicht gemäß dem □Eidos oder gemäß dieser metatheoretischen Schau der Gegenwart, sondern gemäß seiner Erscheinung als □Logos zu folgen, können wir in der Tat leicht die genetische Vielfalt, die in der Stärke und in der Tiefe der Dimension repräsentiert wird, auffassen. Jede dieser Makro-Komponenten als theoretische Struktur – abgesehen von kommenden Erweiterungen – bezieht sich auf Teile und auf verschiedene Zeitpunkte des □Logos des Gegenstands. Der □Logos skizziert eine genetische Kontinuität. Bereits die beiden Namen, die sich auf die »Gegenstands442 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 78. Die strukturelle und genetische Einheit der Ontologie
theorie« 18 beziehen lassen, nämlich Ontologia sive Ontosophia im lateinischen Sinne beziehungsweise Epistêmê tis ê theôrei to on ê on« 19 im griechischen Sinne, ziehen zwei Richtlinien zur genetischen strukturellen Kontinuität. Die Entstehung des lateinischen Namens (ontologia sive ontosophia) als Begriff, um den □MG zu definieren, führt an den Anfang der Neuzeit zurück, während der andere, griechische, eine genetische Kontinuität der strukturellen Entwicklung des Gegenstands skizziert, die sicherlich den Großteil seiner Variationen und seiner morphologischen Schrittweite zusammenhält. Um diese Variationen zu entdecken, würde eine dogmatische Lektüre der Bibliotheken über die Geschichte der Ontologie fast nichts nützen. Denn ohne den Leitfaden einer metatheoretischen Beschreibung würden wir immer mit einer Vielzahl von äußerlichen Erzählungen, die relativ zu anderen Erzählungen sind, zu tun haben. Allerdings sollte dieser Leitfaden nicht als asylum ignorantiae oder als Vorwand verwendet werden, um die Komplexität abzuweisen, die man auf der Grundlage dieser Geschichten systematisch rekonstruieren kann (und als Gegensatz zu ihrem einfachen und banal-narrativen Status. Diese doppelte genetische Kontinuität wird uns nützlich sein, um die privative Situation der Ontologie zu beschreiben, da sie im Kern und als Wesen dieses □MG (ungeachtet seiner strukturellen Komplexität) identisch bleibt. Was diesen □MG, diese Ontologie zusammenhält, ist kein Kern im substantiellen (wenn auch metatheoretischen) Sinne des Begriffs, sondern ein Vakuum. Es ist genau dieses Vakuum, das wir thematisieren sollten.
§ 78. Die strukturelle und genetische Einheit der Ontologie und ihr »Vakuum« Wenn wir den □MG als »Gegenstandstheorie« aus struktureller und genetischer Sicht betrachten, müssen zuerst drei einzelne Momente der tiefen, morphologischen Veränderungen, wenn nicht Metamorphosen, des Gegenstands festgestellt werden:
18 19
Vgl. A. Meinong, Gegenstandstheorie, cit., S. 35. Aristoteles, Metaph., 4, 1003 a 21.
443 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
1) 2) 3)
die Epistêmê tis ê theôrei to on ê on als erste organische Formulierung der Ontologie bei Aristoteles; die Ontologia sive ontosophia, das heißt die Neukonfiguration nach den Richtlinien des Cartesianismus; die Gegenstandstheorie, wie sie sich in der heutigen Situation als Erbschaft des Brentanismus präsentiert.
Hier finden wir genau genommen drei Formen von Vakuum, die alle auch strukturell und genetisch die Entwicklung des □MG animieren. Um allerdings dem Vakuum selbst zu folgen, wie es sich nur innerhalb der Gegenstandstheorie endgültig manifestiert, müssen diese drei Formen zumindest aus analytischer Sicht definiert werden. Unter »Vakuum« könnte man hier noch ungewiss ein Loch im □MG verstehen, das sich in einem Moment oder in mehreren Momenten seiner morphologischen Entwicklung festsetzt. Dieses Loch wäre als das »Ins-Leere-Laufen« seiner konstituierenden Strukturen zu verstehen: Das bedeutet, dass eine Zirkularität in der Grundlegung der Gegenstandsbestimmung selbst stattfindet. Diese Grundlegungszirkularität der Ontologie als solcher manifestiert sich immer noch – wenn auch in unterschiedlichen Typologien – in der Unmöglichkeit eines selbstständigen Erreichens der voll epistemischen Bestimmung einer Theorie (oder eines □MG) im Rahmen ihrer Sätze oder Prinzipien. Mit anderen Worten erweist sich die Gegenstandstheorie in den verschiedenen morphologischen Strukturierungen an jedem betrachteten Punkt ihrer Entwicklung als unvollständig. Wir müssen zuerst erkennen, dass die Formen dieses Lochs, bzw. Vakuums kontextuell sind, das heißt, sie hängen von der strukturellen Stellung dieses □MG in einem anderen ab, das größer ist und von allen Formen der metaphysischen Philosophie als Anschluss und Anordnung der Wissensformen beteiligt ist. Die Ontologie als □MG ist nicht in der Lage, diese Wissensformen bestimmen zu können – sowohl vom genetischen als auch vom strukturellen Standpunkt aus. Der Anspruch einer solchen Bestimmung entwickelt in den meisten Fällen keine tatsächliche Bestimmungsfähigkeit. Folgend findet die Ontologie als □MG ihre morphologische Konfiguration durch die Beziehung mit anderen Wissensformen oder durch den Einfluss, den solche Wissensformen über ihre eigene Struktur haben.
444 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 79. Die erste Form des Vakuums
§ 79. Die erste Form des Vakuums Die Epistêmê tis ê theôrei to on ê on manifestiert sich als ein □MG, der in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung und in Kontakt und Wechselwirkung mit anderen □MG positioniert ist. Diese Gegenstände gehen ihrerseits aus einer morphologischen Evolution hervor und bieten daher eine gewisse epistemische Bestimmung (vom metatheoretischen Standpunkt notwendigerweise relativ und kontingent) einer Klasse von Objekten. Es mag ganz trivial (was es jedoch nicht ist) klingen, zu sagen, dass eine Gegenstandstheorie sich an einer Vielzahl von Objekten orientiert (implizit oder explizit, bewusst oder nicht), welche die anderen Wissensformen (oder Techniken, oder Verfahren) darstellen, die sie – in ihrer charakteristischen metatheoretischen Verfassung – als Träger von propositionalen Bestimmungen erkennen. Die aristotelische Problematisierung des »ὄν«, ens inquantum ens, 20 als Gegenstand einer wohldefinierten Wissenschaft, wenn auch nicht immer als solche wahrgenommen und gesucht, tritt in einer ganz besonderen metatheoretischen Situation hervor. In dieser Situation erscheinen einige Gegenstände mit bestimmten Charakteristika und epistemisch gewordenen Bestimmungen – vor allem in Bezug auf physische Bewegung und Individuation. Von der Kopplung zwischen Individuation und physischer Bewegung – die niemals endet oder nicht grundlegend zu einer einmaligen und einzigartigen Strukturbestimmung der epistemischen Bestimmung führen kann – tritt genau dieses Vakuum (als metatheoretische, strukturelle Zirkularität) der Epistêmê tis hervor. Dieses Vakuum erscheint als grundlegende und unüberschreitbare Wechselbeziehung zwischen dem, was die Scholastik esse generaliter und esse eminenter genannt hat. 21 Die Charakterisierung (der Beurteilungsmöglichkeit) des esse generaliter, das die Bestimmung der epistemischen Individuation lenkt, verlangt eo ipso ein 20 Vgl. Thomas von Aquin, In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis, expositio IV, lect.1, Torino-Roma 1950, 151: 534. 21 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, cit., S. 7–8. Siehe auch J.-F. Courtine, Inventio Analogiae. Métaphysique et ontothéologie, Paris, 2005, II.1, L’embarras aristotelicien, 103–152; A. Mansion, Philosophie prémière, philosophie seconde et métaphysique chez Aristote, Revue philosophique de Louvain, 56, 1998: 165–221; A. Speer, The Fragile Convergence. Structures of Metaphysical Thinking. In G. T. Doolan (Ed.), The science of Being as Being. Metaphysical Investigations, Washington D.C., 2012, S. 70–95.
445 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
System zur Bestimmung physischer Bewegung, das davon ausgeht und auch dazu zwingt, ein esse eminenter zu postulieren. 22 Die epistemische Bestimmung zeigt sich als unvollständig. In der Tat kann ihre Formalität (oder ihre Semi-Formalität) die physische Bewegung nicht auf ein vollständiges System bringen und die Bestimmung selbst verweist auf die Voraussetzung eines esse eminenter. Dieses Letztere muss sich notwendig auf die formale (oder semi-formale) Bestimmung des esse generaliter beziehen, aber ohne nur generaliter bestimmt werden zu können, da entweder das »ὄν« eine Gattung ist, das heißt ohne Hierarchie, oder das »ὄν« eine hierarchische Struktur hat und schließlich keine eigene Gattung ist. Aus diesem ständigen zirkulären Abstoß – der konstant und grundlegend ist – und diesem philosophischen Dilemma heraus können wir beginnen, von der Metaphysik als einem Gegenstand zu sprechen, dessen metatheoretische Entstehung und Morphologie zu unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen □metatheoretischen Phasen durch genau dieses Vakuum belebt und bewegt werden.
§ 80. Die zweite Form des Vakuums Dieses Vakuum tritt auch wieder auf, wo sich Metaphysik in eine Metaphysik der cogitatio verwandelt. In der ersten Erscheinung der Zirkularität war das »ὄν« im Verhältnis zu den Kategorien ausgelegt und die Bewegung »sprach« die Sprache der causa finalis, als wäre sie anderen Formen der Kausalität übergeordnet. In der zweiten Form wird das Sein nun nach seinen geometrisch-formalen Prädikaten (kraft der Reduktion der Geometrie auf eine vollkommen formalisierte Algebra) ausgelegt. Die Bewegung des Gegenstands charakterisiert sich jenseits der ontologischen Attribute der Zweckmäßigkeit, da sie nur gemäß einer effizienten Kausalität eindringlich betont werden kann, die auch »darstellbar und kodierbar« ist. Die Welt in ihrem Werden kann auf der Grundlage des cogito als fundamentum inconcussum und seiner kognitiven Fähigkeiten in einem vollkommen nur kohärenten Bild kodiert werden. Allerdings gibt die volle Internalisierung der Welt und ihre kodierte Darstellung keine Garantie gegen Vgl. Aristoteles, Metaph., 6, 1026 a 22–25; Aristoteles Latinus, 3. 2. S. 127: »Dubitabit enim utique aliquis utrum prima philosophia sit universalis aut circa aliquod genus et naturam unam.«
22
446 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 81. Die dritte Form des Vakuums
das gleiche Phantom des Scheins, das aus dem Gedankenexperiment des hyperbolischen Zweifels – das heißt aus der Erschöpfung der weltlichen Äußerlichkeit in der Logik der Immanenz und der clara et distincta perceptio – entsteht. Die Welt kann sich letztlich nur als eine vollkommen kohärent kodierte Illusion erweisen. Jedoch ist es notwendig, dass sich in dieser Immanenz und innerhalb dieses Systems der cogitatio die Garantie, die Versicherung der nicht-illusorischen Wahrheit des kohärenten Codes der Phänomenalität befindet. 23 An dieser Stelle entwickelt sich die Ontologie (deren metaphysischer Charakter immer noch gegenwärtig und wirksam ist) durch eine ganz besondere Vorstellung zu einer Onto-theo-logie – der Idee der Unendlichkeit. Die Charakterisierung dieser Idee als unabhängig von der Fähigkeit des endlichen Denkens dient ipso facto als Träger einer Transzendenz in der Immanenz der Vorstellung. Die Vorstellung von Gott weist die Unabhängigkeit auf, die gleichzeitig als nachgewiesene metaphysische Garantie für die erkenntnistheoretische Wahrheit der äußeren Wirklichkeit fungiert. In diesem Sinne dient das Unendliche als Spur, als Zeichen einer ontologischen, autarken Vollkommenheit, aber ein solches Unendliches führt die wesentliche Dichotomie innerhalb des Seins wieder ein. Es gibt eine Vorstellung, die nicht vom endlichen Geist abhängt, gleichwohl von einem ens perfectissimum, dessen Existenz sich, gemäß der Grammatik der Metaphysik, als Grundlage der Endlichkeit selbst erweist: als ontologische Grundlage, als kinetische Grundlage (nur für den Beginn der kinesis), als erkenntnistheoretische Grundlage. Hier zeigt sich die Unvollständigkeit der Seinsbestimmung, die durch die Kohärenz angehalten wird (und nur angehalten werden kann) – ein Zeugnis des metatheoretischen Vakuums der Ontologie in Form von logisch-formaler Perfektion.
§ 81. Die dritte Form des Vakuums Die Unvollständigkeit der Seinsbestimmung (in der Form einer illusorischen Kohärenz) zeigt sich hier im »metatheoretischen Vakuum« der Ontologie als Unmöglichkeit, die Unendlichkeit im Inneren ihrer Vorstellung zu rechtfertigen. So betrachtet ist die reine Immanenz als reine Mathematisierung des Seins zweideutig charakterisiert. Sie 23
Vgl. J.-L. Marion, La théologie blanche chez Descartes, cit., S. 261.
447 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
weist eine Immanenz ipso facto auf, die in ihrer Wesenheit unabhängig von der Immanenz in Eigenschaft einer cogitatio ist. Dieses metatheoretische Vakuum bleibt konstitutiv bis Kant, das heißt bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Sein in der sinnlichen Erfahrung wieder eingeschrieben und als »kein reales Prädikat« charakterisiert wird. Das Sein ist die »Position eines Dinges« 24. Die erste Entstehung des Transzendentalen kann die Ontologie auf die Analytik der reinen Verstandesbegriffe durch die Erschöpfung jeder Form metaphysischer Transzendenz reduzieren. Allerdings reduziert bei Kant die gleiche Bewegung, welche die Ontologie zur Vorstellung (das heißt auf etwas ohne jede Form metaphysischer Transzendenz) reduziert, ipso facto diese Seinsauffassung und den Reichtum des Erlebten auf einen geschlossenen, fast klaustrophobischen Raum: Die Analytik der reinen Verstandesbegriffe. 25 So erneuert die Erweiterung des Psychischen als solches durch Brentano die Frage nach der Ontologie, unabhängig von jeder metaphysischen Transzendenz. Hier kann das metatheoretische Vakuum nur durch die Unmöglichkeit konfiguriert werden, einen Grund für die externe Existenz außerhalb der einfachen, vorsätzlichen inexistentia des Gegenstands zu finden. Meinong kodiert diese Zweideutigkeit als grundlegend und begründend für die Gegenstandstheorie selbst: Was besteht, existiert nicht gleich, Bestand bedeutet nicht gleich Existenz. 26 Angesichts dieser Dichotomie, angesichts der Zirkularität des »Sich-Zeigens« von Gegenständen, »von denen gilt, dass es dergleichen Gegenstände nicht gibt« 27, fällt man –
–
entweder in eine rein physikalistische Ontologie, die aus ontologischer Sicht dennoch gezwungen ist, das Sein als Bestehen unbestimmt zu lassen [infra § 97] (wie bei Quine), oder man akzeptiert die Erweiterung der Ontologie jenseits der physikalischen Individuation und gibt damit jedes sichere Kriterium für die Bestimmung von etwas, das es gibt, auf (wie in dem sogenannten NeoMeinongianismus). 28
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., B 626 – A 598. Ebd. B 303 – A 247. 26 Vgl. J. Benoist, Meinong et les niveaux de l’objectivité, Skepsis, 2004: 116–126. 27 A. Meinong, Über Gegenstandstheorie, cit., S. 8. 28 Vgl. G. Ryle, Intentionality-Theory and the nature of Thinking. In R. Haller (Hg.), Jenseits von Sein und Nichtsein, Graz, 1972, S. 7–14; vgl. auch eine moderate Kritik in W. J. Rapaport, Meinongian Theories and a Russellian Paradox, Nous, 12, 1978: 153– 180 und Id., Non-existent Objects and Epistemological Ontology, Grazer Philosophi24 25
448 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 82. Analyse der Zirkularität
Auf der einen Seite können wir nicht das Sein der Theorie bestimmen, welche die Beschränkung selbst in einem radikalen Physikalismus entscheidet, 29 während wir andererseits die physikalistische Beschränkung selbst vergessen und exponentiell Konflikte über besondere Fälle ausbrechen. 30 Entweder ist die Ontologie (als Theorie) »Etwas«, und dann bestimmt sie nicht alles, da sie nicht sich selbst bestimmen kann, oder »die Theorie ist nicht etwas«. In diesem letzten Fall würde sich jedoch die Frage stellen, wie wir dann von der allgemeinen Bestimmung dessen, was ist und existiert, und dessen, was nicht existiert, als einem allgemeinen Kriterium sprechen können? Hier wird die Einführung von höheren Ebenen des Diskurses, anderen »Meta-« in einem strukturellen Sinn, kaum helfen.
§ 82. Analyse der Zirkularität Die Analyse der drei metatheoretischen Momente der Gegenstandstheorie hat schlussendlich nichts anderes geschafft, als zu zeigen, wie sich ein Vakuum und eine Zirkularität, eine Unvollständigkeit in der Vollendung der Bestimmung des »Seins/Seienden« befinden. Das beweist letztendlich nur, wie die Gegenstandstheorie (Ontologie) in diesem Vakuum – in dieser unübertrefflichen Zirkularität der Begründung – letztendlich das Prinzip ihrer Entwicklung und ihre Sedimentierung findet. 31 Es wäre jedoch ein Zeichen von Oberflächlichkeit, zu glauben, dass angesichts der Invarianz eine Analyse der sche Studien, 25/26, 1985/6, S. 66–92. Die Literatur über Meinongs Gegenstandstheorie – nicht die theoretischen Entwicklungen des Neomeinongianismus – hat sehr deutlich die Funktion des Bestehens im wissenschaftstheoretischen Sinn und vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt fixiert. Siehe hierzu D. Jacquette, On defoliating Meinong’s Jungle, Axiomathes, 1–2, 1996: 17–42, insbesondere S. 26–31 [Meinong’s Jungle and Quine’s desert Landscapes Ontology]. 29 Vgl. W. v. O. Quine, Theories and Things, Cambridge (MA), 1981, S. 98 : »nothing happens in the world, not the flutter of an eyelid, not the flicker of a thought, without some redistribution of microphysical states.« 30 W. v. O. Quine, From a logical point of view, cit., S. 1. 31 Sollte es als so ungewöhnlich erscheinen? Sind nicht die supermassereichen Schwarzen Löcher der kinetische (und vielleicht nicht nur der kinetische) Motor der Galaxien? Dieselbe Frage gilt für jede privative Form, die wir bisher betrachtet haben: Warum sollte es im Zentrum etwas Substantielles geben? Haben wir nicht durch solche Voraussetzungen mit der Sublimierung von alten kosmologischen Modellen zu tun?
449 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
genetischen Konkretion dieses Vakuums als morphologischer Kern letztlich nutzlos sein müsse. Die metatheoretische Analyse hebt ein solches Werturteil auf, da sie sich am Wissen selbst und an der klaren Auffassung der Struktur des Gegenstands in all seinen Momenten orientiert. Die Bestimmung der genetischen Formen des Vakuums zeigt – wie wir sehen werden – nur noch einmal ein Spiegelungsverhältnis. Auf der einen Seite gibt es die Zirkularität, wie sie vor der Umsetzung der Gegenstandstheorie zur Metaphysik erscheint, andererseits gibt es den Zustand der Unvollständigkeit, in dem sich Zirkularität stromabwärts als □Eidos oder als ein zentraler Teil des □Eidos manifestiert, des □MG, je nach seiner Konfiguration und seiner aktuellen Erscheinungsform. Für die Entstehung der Spekularität muss es einen Abstand, die Einrichtung eines Raumes, einer Distanz und den Durchgang durch die Metaphysik geben. Dieser Durchgang ist kein nihil facti, sondern die notwendige (nicht ausreichende) Bedingung, um diese Einrichtung einer Öffnung aus der Distanz zu erkennen. Dieser Akt der Entstehung einer Distanz, gleich welcher Art und Räumlichkeit, bringt uns in eine völlig neue Situation: die meta-ontologische Situation. Das Problem ist viel einfacher, als man glaubt, und lässt sich genauer auf folgende Art und Weise formulieren: Die Zirkularität erweist sich als unüberwindbar. Wenn man behauptet, zu bestimmen, was ein Gegenstand sei, bestimmt sich die Theorie noch nicht aus sich selbst heraus, wobei sie in sich selbst etwas trägt, das zur gleichen Zeit bestimmt wird. Entweder bestimmt die Gegenstandstheorie nicht den Gegenstand in seiner Allgemeinheit oder sie bestimmt den Gegenstand und dann bestimmt sie sich damit durch sich selbst. Die Gegenstandstheorie scheint den Gegenstand zu bestimmen und nicht zu bestimmen und sich gleichzeitig durch sich selbst zu bestimmen und nicht zu bestimmen. Und dies gilt, wie wir sehen werden, sowohl für eine einfache logische Überlegung als auch für die Kontextualisierung der Zirkularität innerhalb des metatheoretischen Diskurses. Man muss versuchen, diese Formen der Zirkularität sowohl vom logischen als auch vom metatheoretischen Standpunkt aus anzugehen. Die Darstellung dieser Argumente ermöglicht eine große Ansammlung von Banalitäten, die tatsächlich der Sache entspricht. Die »Sache selbst« ist hier die Unmöglichkeit und der Unsinn der Selbstbestimmung. Das bedeutet, dass es keine Letztbegründung der Ontologie (oder der Gegenstandstheorie) durch sich selbst gibt. Nichts verhindert, dass jemand – in einem metaphysischen Größen450 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 82. Analyse der Zirkularität
wahn – mit Nachdruck behaupten kann, dass es ein Selbstbestimmungsrecht der Gegenstandstheorie aus sich selbst heraus gibt, ohne irgendwelche Probleme zu verursachen. Allerdings tauchen wir an dieser Stelle in das Gebiet der Logik und der elementaren Überlegungen ein, wonach eine Selbstbestimmung etwas ist, das ein Problem darstellt; vor allem, wenn Selbstbestimmung in eine holistische Perspektive der Bestimmung des »Etwas« und damit des »Alles«, das thematischer Gegenstand werden kann, des »Ganzen« überhaupt, übersetzt wird. Wenn wir jedoch die Zirkularität (oder das nichtgründende Wesen) der Gegenstandstheorie als eine Theorie und vom metatheoretischen Standpunkt als einen □MG betrachten, ist klar, dass dies viel weniger in Bezug auf die einfache Logik als auf die Zweideutigkeit, die hier durch die metatheoretische Perspektive selbst eingeführt wurde, geschieht. Der einzige Weg für den »Ontologen«, der jede Art von Ontologie der Unklarheit und Unvollständigkeit ausschließen würde, wäre, zu formalisieren. Natürlich wäre das Axiom einer solchen Theorie – wie es immer in sehr einfachen und groben Annahmen der Mystik geschieht – nichts anderes als ein aus sich selbstevidentes Axiom. Wenn wir p nehmen, als »bestimmbar nach den formalen Prädikaten des ›Etwas‹«, können wir das Axiom formulieren: 1. 2. 3.
8x p(x), »jedes x ist nach den formalen Prädikaten des ›Etwas‹ bestimmbar«. Der Bereich des X = {x1, x2, x3, x4, …, xn} ist dadurch festgestellt. Wir erfassen dadurch andere Vorgehensweisen: Nominalisierung »[a]«, von wohlgeformten »Formeln« (bzw. Sammlungen), die Elemente von x enthalten, und die Negation (:).
Nun ergibt die Nominalisierung auf das Axiom angewandt: 4.
[8x p(x)] → [8x p(x)] 2 X → p[8x p(x)]. Das Axiom, als nominalisiertes Element ist »bestimmbar …«.
Dasselbe gilt auch für die nominalisierte Negation des Axioms: 5.
: [8x p(x)] → [: [8x p(x)]] 2 X → p[:[8x p(x)]].
Im Falle dieser eher groben Formalisierung können wir davon ausgehen, dass x X. Ferner gehören alle x, die als Folge dieser Operationen der Negation und Nominalisierung über Symbole und aus anderen Folgen von Elementen gebildet wurden, zu X. Also auch »:[[[[a]]]]« = x, also »p(:[[[[a]]]])« etc. Diese ziemlich rudimentäre Theorie lässt nicht nur das nomina451 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
lisierte Axiom selbst als ein x hervorgehen, das heißt als etwas »bestimmbar nach den formalen Prädikaten des ›Etwas‹«, sondern auch die Negation des nominalisierten Axioms, die Nominalisierung der Negation und eine beliebige Sequenz von Nominalisierungen und Negationen. So könnte es ein mit allem bevölkertes Universum geben, aufgefüllt mit dem Axiom der Gegenstandstheorie und seiner Negation, da die Negation der Negation die Negation selbst aufhebt und das Modulo des Modulos nichts ergibt. Man könnte auch Sammlungen von Objekten (x1+x2+x3+ |x4|+ :x5), die selbst Objekte sind, annehmen, und so weiter. Jenseits von den Sonderfällen und den Streitfällen, die aus den Sonderfällen entstehen, besteht das Problem darin, dass es nicht die Ansiedlung und Umsiedlung des Universums X ist, sondern ein Element von X, nämlich die Nominalisierung des Axioms, die zu diesem Universum gehört, ohne dass das Axiom selbst dazu gehören kann. Dann nehmen wir also die klassische Strategie der Gödelisierung. Wir können eine Gödelzahl a) jedem Element von X sowie b) den Sammlungen, c) den Negationen und d) den Nominalisierungen zuschreiben. Die Negationen und die Nominalisierungen sind einfach: c1) der negative Wert der Zahl und d1) die Zahl des Modulos, die mit dem Element verbunden ist. Unter der Annahme, dass das nominalisierte Axiom zum Beispiel |24| wäre, wird es eine Welt geben, in der es zwangsläufig das Modulo gibt, ohne dass es 24 gibt. In diesem Fall würde sich X über x definieren, mit Ausnahme von xn, das heißt, dass die Gesamtheit von etwas einen Überschuss von etwas annehmen muss, ohne dabei tatsächlich einen annehmen zu können. Folgen wir der Gödelisierung: X = [N(godx)] _[N(godx) – n]. Es wäre einfach eine Menge natürlicher Zahlen, die nicht eine natürliche Zahl annehmen würden, sondern lediglich ihr Modulo (als Nominalisierung). Wenn wir jedoch die Gödelisierung der Nominalisierung als weitere Operation über natürlichen Zahlen denken wollen, wäre das Ergebnis genau gleich. Denn wir können keine natürliche Zahl annehmen, die [x1] entspricht (z. B. |5|), ohne dadurch x anzunehmen. Wenn wir das [a] nicht annehmen, ist die Menge X unvollständig und offen für einen Residuum. Auch das ist kein Skandal 452 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 82. Analyse der Zirkularität
an sich, außer für eine ganzheitliche Theorie, in der X alles umfassen sollte. In jedem Fall ist die Theorie gezwungen, zuzugeben, dass es etwas gibt, das nicht durch die Prädikate von etwas bestimmbar ist. Dies erweist sich als besonders ironisch, da es offensichtlich ist, dass etwas – dessen Nominalisierung etwas ist – auch etwas sein muss, das auch selbst gemäß den Merkmalen von etwas bestimmbar sein sollte. Die Gegenstandstheorie kann daher nicht anderes, als zuzugeben, dass es etwas gibt, das nicht durch die Prädikate des »etwas« bestimmbar ist. Deshalb sollten wir sagen, dass, wenn die Gegenstandstheorie Gültigkeit besitzt, es etwas geben muss, das zugleich nicht »etwas« ist. Von dort zieht man den Schluss, dass es nur für diejenigen ungünstig wäre, die blind an die unbegrenzte Macht der formalen Ontologie (oder die formale Gegenstandstheorie) glauben: Jede (formale) Gegenstandstheorie ist entweder unvollständig (d. h. relativ) oder widersprüchlich. Dieses Dilemma ist vor allem in dem Maß wichtig, da bereits eo ipso die Notwendigkeit und Einsicht der metatheoretischen Analyse entschieden ist, die diese grundlegende Sackgasse nicht selbst einführt, sondern ihr nur einen klaren Ausdruck verleiht. Es ist kein Skandal, dass jede Theorie, die sich »formal« nennt, entweder unvollständig (d. h. relativ) oder notwendig widersprüchlich ist. Und wenn man will, wirkt sich dies in keiner Weise auf die Gültigkeit der metatheoretischen Analyse aus, weil es die Gegenstandstheorie hier eo ipso, mit ihrer konstituierenden Relativität, als □MG gibt. 32 In der Tat impliziert die Möglichkeit, Gegenstände als □MG zu betrachten, bereits die Unmöglichkeit der Behauptung der Vorrangstellung dieses Theôrein über andere Theorien oder der normativen (oder einfach logischen) Vorrangstellung einer Ontologie als prôtê Epistêmê im metaphysischen Sinne. 33 Doch auch in der notwendigen und unvermeidlichen Behauptung ihrer Relativität oder Unvollständigkeit, ruft die Gegenstandstheorie – zu Recht als □MG aufgefasst – ein Unbehagen im Inneren der Perspektive selbst hervor. Der Unterschied, den man erfassen muss, wird durch die absolut positive oder konstruktive Rolle dieser ontologisch-privativen Situation der Gegenstandstheorie als □MG vorgeschrieben. Um diesen Unterschied zu erfassen, muss man dort eine Übersicht über die Situation haben, wo man, durch die Situation, die Spekularität zwischen Unvollständigkeit und/oder for32 33
Obwohl, wie wir sehen werden, die zwei Aspekte nicht identisch sind. Vgl. Aristoteles, Metaph., 6, 1026 a 19–22; 11, 1061 b 30 ff.
453 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
maler Relativität und Unvollständigkeit und/oder metatheoretischer Relativität feststellen muss.
§ 83. Die »privative« Situation der Gegenstandstheorie als solche Die ontologisch-privative Situation tritt durch die erste Korrespondenz zwischen der Unvollständigkeit/Relativität einer formalisierten (wenn auch sehr elementaren) Gegenstandstheorie und Unvollständigkeit/ Relativität der Gegenstandstheorie, gemäß ihrer ersten Beschreibung oder metatheoretischen Modellierung, auf. Diese Korrespondenz, dieses Spiegelungsverhältnis erweist sich aus mehreren Gründen als wichtig. Erstens, weil sie die Gegenstandstheorie, wie sie jetzt hier gemäß ihrem □Eidos erscheint, mit ihrem Vakuum verbindet (das im letzten Paragraphen als eine nicht-metaphysische Konfiguration beschrieben wurde, als Unvollständigkeit und/oder formale Relativität). Zweitens bringt diese Korrespondenz zu dem formalen, rudimentären Kern dieses Vakuums nach dem gleichen Spiegelprinzip seine essentielle, spekulative Ergänzung hervor. Tatsächlich sollten wir von dem sehr ungenauen formalen Beweis im vorstehenden Paragraphen nicht überrascht sein noch uns davon abschrecken lassen. Man sollte nicht davon ausgehen, dass eine formale bzw. beziehungsweise formalisierte Ontologie in vier oder fünf Passagen aufzufinden ist. Die Formalisierung kann eine hyper-raffinierte und elegante Entwicklung von Beweisen annehmen, kann eine fortschreitende Bestimmung abgeben, von allen Aspekten, die ein formaler und formal bestimmbarer Gegenstand (Mereologie zum Beispiel) enthält, ohne in der Lage zu sein, ihr wesentliches Vakuum ausfüllen zu können. Ihre höchste philosophische »Substanz« besteht gerade in der Überschreitung von mindestens einem Element des Objektbereichs, auf den wir (zumindest so tun, als könnten wir) den Monismus der formalen Bestimmung des »Etwas« projizieren. Bei diesem Projekt könnte man einwenden, dass dieses »Etwas« – in diesem speziellen Fall das Axiom der formalisierten Theorie selbst – kein Gegenstand ist. Dies ist ein scheinbar so naiver wie leicht zu widerlegender Widerspruch, zu dem wir zurückkehren (denn es ist tatsächlich viel weniger naiv, als wir denken). Wenn man so will, müssen wir für einen Moment auf einem Niveau bleiben, um uns der Tatsache bewusst zu 454 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 83. Die »privative« Situation der Gegenstandstheorie als solche
werden, dass im Wesentlichen die Formalisierung (hier als eine spekulative Auslegung) niemals etwas begradigen kann, was krumm ist, oder füllen kann, was ursprünglich durchlöchert ist. Die Zuweisung selbst eines Bereichs B zum f(x), das heißt zum p (abgesehen von der Bereichsausdehnung in diesem besonderen Fall des »Etwas«), setzt voraus, dass f(x) von den Elementen des Bereichs ontologisch verschieden ist. Der Bereich ist eine bestimmte Menge von Objekten (endlich oder unendlich, das spielt hier keine Rolle) und auf eine Weise bestimmt, dass der Grundsatz der Anwendung (Axiom oder Theorem, auch das spielt hier keine Rolle) und die Funktion notwendigerweise außerhalb des Bereichs (Zielmenge) bleiben, aus dem heraus und auf den die Funktion angewandt wird. Dies ist für die holistischen Perspektiven (oder holistischen Ansprüche) und vor allem für die Gegenstandstheorie nicht der Fall. Das Problem hier ist nicht die Identität des Zielbereichs und des Quellenbereichs, sondern die Undifferenzierung zwischen der Funktion selbst (Theorie, Prinzip oder Axiom) und den Bereichen; eine Art vernebelte Unbestimmtheit, die ungeachtet der formalen Hülle stark an die Nacht der Phänomenologie des Geistes 34 erinnert. Das Axiom ist etwas, das allerdings nicht in den Bereich des Bestimmbaren als Etwas gelangt. Wir werden den Grund dafür sehen: Da es am Rande des Bereichs von »etwas« steht. Um die Theorie selbst zu retten, kann in diesem Sinne diese Unvollständigkeit nur zur Relativität des Bereichs, verstanden als das Moment von allem außer dem Axiom, führen. Im Zusammenhang mit der spekulativen Auslegung und Umsetzung der formalen Unvollständigkeit/Relativität bekommt die Banalität des Einwands eine neue Bedeutung. In der Tat bleibt der Einwand auf der Grundlage des gesunden Menschenverstands bestehen, dass im Grunde klar ist, dass das Axiom selbst außerhalb des (8x) ist, dessen Bestimmbarkeit es aussagt. Dieser Einwand hat gleichzeitig nur eine Art innere Transversalität der ontologischen Situation bekräftigt, nämlich, dass sie sich immer außerhalb ihrer selbst auf projektive Weise erwidert – entsprechend ihrer Ressourcen, das heißt nach den Möglichkeiten, die ihr selbst zugeschrieben werden –, ohne dass dies jemals zu der ontologischen Bestimmung dieses Begriffs der Abstoßung führt. Und dies geschieht konstitutiv: Die Ontologie, die sich durch das Axiom ausbreitet, kann als ein »etwas« 34
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, cit., S. 19.
455 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
alles außer einem Axiom, wenngleich dessen Nominalisierung und Negation, bestimmen. Um das Axiom zu bestimmen, sollte das Handlungsfeld der Ontologie (bzw. die Zielmenge) erweitert werden. Doch die Situation wird exakt in der gleichen Art und Weise wieder entstehen: Das logische Prinzip (bzw. Axiom), das die Möglichkeiten seiner Bestimmung erweitert, gehört nicht zum erweiterten Handlungsfeld. Um dieses logische Prinzip zu bestimmen, sollte das erweiterte Handlungsfeld noch erweitert werden, und das ins Unendliche.
§ 84. Die holistische Aporie und die privative Situation Auf diese Weise drängt sich die Unvollständigkeit/Relativität jeder Gegenstandstheorie selbst als konstitutives Merkmal zwingend auf. Die Ontologie einer höheren Ordnung, die sich auf den Anwendungsbereich erstreckt, auf das, was den Handlungsrahmen einschränkt, konnte sich nur in der gleichen Situation befinden. Diese Situation ist ansonsten identisch mit der Situation einer Metatheorie, gedacht als »Objekt, das syntaktisch übergeordnet ist«. Diese Situation resultiert nie in der Bestimmung der Vollständigkeit, die sie zu implementieren vorgibt. Allerdings ist für die Gegenstandstheorie die Sackgasse notwendig, wohingegen die Situation für den □MG einfacher scheint – weil es hier darum geht, sich an die Extensionalität zu halten (die Gegenstände, die die Theorie beschreibt), um nicht in die holistischen Aporien einer souveränen Theorie zu verfallen, die kein »Meta-« mehr aufweist. Die holistische Aporie des Metatheoretischen erscheint nur, wenn wir den Holismus aus der Metatheorie des Impliziten, des Nebulösen, herauslösen und behaupten, dass es keine »ultimative, souveräne Theorie« gibt, indem wir dieses Element offensichtlich als ein theoretisches Element anerkennen – als das ultimative theoretische Element schlechthin. In diesem Sinne ist das Metatheoretische als Gegenstand nichts als eine Theorie höherer Ordnung und das wahrhaft Metatheoretische kann nichts anderes sein als eine Perspektive, aus der sich etwas Theoretisches ergibt. Für die Gegenstandstheorie – als metatheoretischer Gegenstand – heißt das, dass eine Metatheorie des Gegenstands (eine hypothetische Meta-Gegenstandstheorie), die selbst notwendig einer höheren Ordnung unterstehend gedacht wird, sich sofort in derselben Sackgasse befindet: Entweder bestimmt sie alles (d. h. die Gegenstandstheorie und ihren Zielbereich) und dann wird sie eine Meta-Meta-Gegenstands456 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 84. Die holistische Aporie und die privative Situation
theorie höherer Ordnung erfordern, um sich selbst im Bereich des »Etwas« einzuschließen, oder sie bestimmt nicht alles – und ist dann nutzlos. Allerdings kreuzen sich hier die metatheoretische und die metaontologische Sackgasse zwangsläufig nur unter der Eigenschaft des Vakuums, das die Gegenstandstheorie belebt und bewegt. Aus einfach logischer Sichtweise kann die Gegenstandstheorie niemals konstitutiv definieren, was sie hervorbringt, was ihr die Gegenstandsbereiche, für die sie gilt, beschreibt; das heißt dasjenige, was aus ihr eine Theorie macht, die etwas (in diesem speziellen Fall eine Theorie von »Etwas überhaupt«) beschreibt. Dieses »Etwas« hält sich auf Abstand, da es gleichzeitig sowohl bestimmbar als auch nicht bestimmbar ist als »etwas« gemäß den formalen Prädikaten, die ihm eigen sind. Von metatheoretischer Seite kann die Gegenstandstheorie nie ihren Seinscharakter konstitutiv definieren, da dieser Gegenstand nur von einer Bestimmung des Etwas Abstand nehmen kann, während er gleichzeitig unbedingt wieder in den Bereich des »Etwas« fallen muss, da ja die Theorie selbst und alle Theorien (und alle Ansammlungen und Kreuzungspunkte von Theorien etc.) etwas sind. Hier ist der Einwand, dass es ein »Etwas« gebe, das bisher nicht in den Anwendungsbereich der Bestimmung der Gegenstandstheorie gekommen sei, entscheidend. Wo liegt aus spekulativer Sicht die »eigentümliche Weisheit« dieses Einwands? Gibt es etwas, das nicht in den Anwendungsbereich der Gegenstandstheorie gehört (während es paradoxerweise »etwas« ist)? Wir könnten sofort bei dem Beweis der Logik stehen bleiben, dass die Gegenstandstheorie – und jede Theorie überhaupt – nie direkt von sich spricht. In diesem Sinne gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste besagt, dass die Theorie als Gegenstand kein Gegenstand, kein Etwas ist, da sie ja nicht in ihren Anwendungsbereich fällt, weil sie jeden Gegenstand ohne Unterscheidung bestimmt und sich nie durch sich selbst bestimmen kann. Die zweite Theorie lautet, dass die Gegenstandstheorie etwas ist, gleichwohl ohne die Möglichkeit, gemäß den formalen Prädikaten von etwas als etwas bestimmt zu werden: Sie bliebe also etwas ontologisch Unbestimmtes und Unbestimmbares. Die Tatsache selbst, über die Gegenstandstheorie als □MG zu sprechen, wäre aus spekulativer Sicht nichts anderes als die Nominalisierung des Axioms in der formalen Situation. Wir könnten über die Gegenstandstheorie als □MG nur dann sprechen (und tun es auch), wenn sie durch ihre Bestimmung neutralisiert wird, in aktueller Tä457 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel VIII Ontologie als Gegenstand
tigkeit bestimmte Gegenstände zu bestimmen. Die Anerkennung der Gegenstandstheorie als Gegenstand und als ein Etwas, kann nur im Nachhinein als notwendige spekulative Ergänzung hinzugefügt werden; als eine Erweiterung des »Gegenstandsbereichs«, als Bereich des Bestimmbaren gemäß den formalen Prädikaten des »Etwas«. Was uns interessiert, ist dann nicht der Spielraum dieser oder jener bestimmten Erweiterung, sondern die Bewegung der Unvollständigkeit/Relativität selbst, die sich durch verschiedene spekulative Figuren zeigt. Dass die Gegenstandstheorie immer konstitutiv ärmer sei als das, was sie verkündet zu sein, dass sie immer konstitutiv machtlos sei, alles zu bestimmen, dass sie immer konstitutiv gezwungen sei, sich zu relativieren – dies alles sind Figuren einer Bewegung oder eines Moments. Wir nennen dieses Moment – das sich eo ipso als ein strukturelles Merkmal zeigt, also eine Invariante in der Behauptung einer holistischen Gegenstandstheorie oder allgemeinen formalisierten Ontologie – die »ontologisch privative Situation«. Die Gegenstandstheorie im Allgemeinen ist immer noch von einer Privation, von einer Sterêsis, betroffen, die ihre Entstehung als eine Bestimmung von »etwas« erhöht. Die Erweiterung des Bereichs der Gegenstandstheorie durch sich selbst (als neutralisiertes Element) wäre ein klares Paradoxon; das Trilemma von Albert, bzw. das Münchhausen-Trilemma 35 kann an dieser Stelle erneut nur als unvermeidlich dargestellt werden, wenn wir der ontologisch privativen Situation drei unterschiedliche Konfigurationen verleihen, deren spekulative Artikulation zum Bewusst-Sein, zur Erfassung, zum Erleben der metaontologischen Situation führt.
35
Siehe hierzu H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, 1968, S. 15 f.
458 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
§ 85. Die Vollständigkeit der ontologisch privativen Situation: Die Metaontologie Dem Willen des monistischen Ontologen – oder der Ontologie selbst – eine holistische Bestimmung des Etwas zu entwickeln, stellen sich drei begründete Inkongruenzen entgegen (Münchhausen-Trilemma), welche die ontologisch privative Situation auf eine vollständige Art und Weise definieren. Diese drei »Inkongruenzen« sind: 1. der infinite Regress, »der durch die Notwendigkeit gegeben scheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen«, 2. der logische Zirkel in der Deduktion, »der dadurch entsteht, dass man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren«, 3. »der Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, das zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involviert.« 1 Die vollständige Definition der ontologisch privativen Situation kommt schlussendlich der Öffnung des metaontologischen Horizonts gleich. Dies wird möglich durch drei einfache Schritte: zuerst durch die Anwendung des Münchhausen-Trilemmas auf das Axiom der Gegenstandstheorie [MT-A (1–2–3)], dann durch die Betrachtung derselben Situation vom metatheoretischen Standpunkt der Gegenstandstheorie selbst [MT-G (1–2–3)], endlich durch die Anwendung des Trilemmas auf das Metatheoretische selbst [MT-Mt (1–2–3)]. [MT-A1] Die erste Letztbegründungshypothese der Gegenstandstheorie kann nur in einen regressus in infinitum verfallen: Wenn 1
H. Albert, loc. cit.
459 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
das Axiom etwas ist, das sich aber nicht, ex definitione, in seinem Zielbereich befindet, muss man notwendigerweise ein Meta-Axiom postulieren, welches die Gegenstände, die zum Zielbereich des Axioms gehören, und das Axiom selbst bestimmen könnte. Aber das Meta-Axiom, da es etwas ist, sollte ein Meta-Meta-Axiom zeigen, das etwas ist usw. [MT-A2] Die zweite kann nur in einen Zirkelschluss verfallen: Das Axiom müsste sich selbst als Etwas bestimmen. [MT-A3] Die dritte kann nur in einen Abbruch des Letztbegründungsverfahrens verfallen: Das Axiom, dass »alles nach den formalen Prädikaten des ›Etwas‹ bestimmbar ist«, wäre also ein selbst-evidentes Axiom, ohne jeglichen Bedarf eines Beweises und ohne jegliche zusätzliche Evidenz zu erfordern. Um den infiniten Regress auszuschließen, könnte man das Gewicht einer solchen aporetischen Situation über die Gegenstandstheorie selbst entladen, in dem Sinne, dass die Gegenstandstheorie einen solchen Regress durch ihre Evidenz selbst auslöschen könnte. Aber die Situation der Begründungsunmöglichkeit hebt auch einen zweiten Aspekte hervor: Bezüglich [MT-A2] kann man leicht sehen, dass, auch wenn eine Selbstbegründung ausgeschlossen ist (bzw. sein soll), die Hypothese der Selbstbegründung selbst zeigt, dass jede formal ontologische Betrachtung schon eine erste regional-ontologische Trennung, d. h. eine erste regional-ontologische Artikulation darstellt, die das Formale der formalen Bestimmung ex defitinione nicht einschließt und folglich nicht rechtfertigen kann. Es geht um die Trennung, die notwendig angenommen werden muss, aber nicht gerechtfertigt werden kann, zwischen Elementen, die sich transitiv bestimmen lassen (X = {x1, x2, x3, … xn}), und Elementen (das Axiom, α), die nur sich bestimmen können. Tatsächlich zeigt der Überschuss des Axioms von seinem Zielbereich eo ipso eine erste (obwohl nur anfängliche) regionale Artikulation, die nicht formal bestimmt werden kann, aber das Problem der Vollständigkeit jeder formal ontologischen Betrachtung in den beiden Fälle seiner hypothetischen Letztbegründung stellt. Diese Unentscheidbarkeit des Begründungsverfahrens findet, in der bereits beschriebenen Spekularität, auch ihre metatheoretische Übersetzung, weil, wie für [MTA1], nur ein Rückgang zur oder die Hypostase einer vollgeformten Gegenstandstheorie sowohl die formale Unbestimmbarkeit als auch
460 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 85. Die Vollständigkeit der ontologisch privativen Situation
die regionale Artikulation (die von [MT-A2] notwendig vorausgesetzt wird) begründen oder rechtfertigen könnte. [MT-G1] Die Gegenstandstheorie als □MG (als Gegenstand, als Etwas), der sich, ex definitione, nicht in seinem Zielbereich befindet, muss notwendigerweise eine Meta-Gegenstandstheorie postulieren, welche das Gebiet der Gegenstandstheorie – und die Gegenstände, die zu ihrem Zielbereich gehören – und die Gegenstandstheorie selbst als □MG bestimmen können muss. Aber eine solche Meta-Gegenstandstheorie, da sie etwas ist, muss eine Meta-Meta-Gegenstandstheorie postulieren, die einen □MG usw. annimmt. [MT-G2] Die Gegenstandstheorie könnte sich selbst als Gegenstand und als □MG vollständig bestimmen. [MT-G3] Das Gegenstand-Sein der Gegenstandstheorie wäre – nach dieser grundlegenden illusorischen Entwicklung – völlig selbstevident und es gäbe keinen Bedarf an einem Beweis des Seins des □MG, dessen Gegenstandstheorie nichts anderes als eine Instanziierung, ein Beispiel ist. Auch in diesem Fall könnte man, um den infiniten Regress auszuschließen, das Gewicht einer solchen aporetischen Situation über die Metatheorie selbst entladen, in dem Sinne, dass die (bzw. eine) Theorie wie die Metatheorie einen solchen Regress durch ihre Evidenz selbst auslöschen könnte. [MT-Mt1] Die Metatheorie muss notwendigerweise eine Meta-Meta-Theorie postulieren usw. Aber eine Meta-Meta-Theorie ist eo ipso eine Metatheorie, weil das Theôrein des Metatheoretischen immer dasselbe wäre: d. h. eine thematisch gerichtete Schau über horizontartige Gegenstände, die in diesem Fall Theorien höherer Ordnung wären. [MT-Mt2] Die Metatheorie könnte sich selbst vollständig bestimmen. [MT-Mt3] Die Metatheorie ist völlig selbstevident und es gibt keinen Bedarf an einem Beweis ihrer Vollständigkeit.
461 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
Jedoch sollte das Metatheoretische genau durch die Entwicklung in der Gegenstandstheorie und in dem Axiom seine Letztbegründung finden. So zeigt sich die Verbindung [MT-G1] → [Mt] (genau wie [MT-A1] → [G]) als Zirkelschluss, d. h. als die zweite Konfiguration des Münchhausen-Trilemmas [MT-Mt2] vom Standpunkt des Metatheoretischen. Aber [MT-G2] stellt wie [MT-A2] eine andere Querproblematik: Um sich selbst begründen zu können, muss die Gegenstandstheorie ein »es gibt« von Gegenständen (bzw. eines Gegenstands) voraussetzten, von denen gilt, dass es sie (bzw. ihn) nicht im Bereich der Bestimmung des Gegenstands gibt. Wenn die Gegenstandstheorie, als □MG, ein »Außersein« postulieren soll, das nur die Metatheorie bestimmen kann, dann deshalb, weil das Sein als Außersein genau das der Gegenstandstheorie (und eventuell jedes anderen □MG) ist. Es ist aber auch zu bemerken, dass [MT-Mt3] falsch und selbstwidersprüchlich ist. Es ist falsch, in Bezug auf ihren ersten Teil deshalb, weil die Metatheorie kaum selbstevident ist, da sie die Momente zwei und drei des Begründungsverfahrens [Abb. 14] erfordert. Es ist widersprüchlich weil es selbst, als Schluss eines Beweises, zeigt, dass es einen Bedarf an einem Beweis seiner Vollständigkeit gibt. Die ontologisch privative Situation vervollständigt sich in der Radikalisierung jedes Anspruchs an einer (ontologischen) Letztbegründung. Was am Ende einer solchen Letztbegründung für vollständig zu halten ist, ist also nur das Privative der Situation selbst. Eigentlich verursacht es eine bemerkenswerte Entzweiung innerhalb der ontologischen Situation selbst, eine Entzweiung, die »über sie hinaus« blicken lässt, ohne dass man dadurch – das heißt durch dieses »über sie hinaus« – daran denken könnte, eine Form des metaphysischen »Hinweises« wieder einzuführen. Es handelt sich hier um das gleiche Vakuum, das die Gegenstandstheorie vom metatheoretischen Standpunkt als ihren □Logos charakterisiert, gleichwohl die Situation hier radikalisiert ist, und zwar gerade im Sinne der ontologischprivativen Situation, welche kein Zurückgreifen auf »theologische« oder »nichttheologische« mystische Begriffe des Seins erlaubt. Es gibt hier keine mögliche Lösung durch eine Fundalmentalontologie 2 oder
Vgl. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, Frankfurt a. M., 1978, S. 201–202.
2
462 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
1
ooooo
MT
2
GT
3
α
4
MT-A3
MT-A2
MT-A1
5
6
MT-G3
MT-G2
a≠x a∉X = {x1,...xn} Innere Trennung des Zielbereichs (Formale/regionale Ontologie)
GT
MT-G1
MT-Mt3
MT-Mt2
7
8
Gt≠MG Gt∉X Außerseinsproblem
MT
MT-Mt1
∞
§ 85. Die Vollständigkeit der ontologisch privativen Situation
Abb. 14
463
https://doi.org/10.5771/9783495817858
.
Kapitel IX Die Metaontologie
eine fundamentalere Ontologie 3 deshalb, weil sie sich schlussendlich nur als die Form bzw. als der einzige Weg eines krypto-theologischen Mystizismus erweist. 4 Die ontologisch-privative Situation ist aus der Sichtweise jeglicher Letztbegründung dermaßen einfach, dermaßen erdrückend, dass sie keinerlei Ausweg offen lässt. Es gibt hier weder ein Allgemeineres noch ein Sein im Sinne der Verbergung bzw. der Exodus-Metaphysik 5 – obgleich verdeckt hinter den illusorischen Spuren des Dekonstruktivismus oder den Lobreden der Krise der Metaphysik. Es gibt hier im Gegenteil eine Art topologisches Paradox – wie die Löcher, deren Wände sich in einer vierten Dimension ausbreiten, um schließlich zurückzukommen und bei ihrer Rückkehr das Behältnis dieses Lochs selbst zu bilden (wie eine Moebius-Sphäre oder eine sphärische Klein’sche Flasche). In der Tat, wenn man diese eigenartige Sorte des dimensionalen Überschusses unter Beweis stellt, platziert man entweder die Gegenstandstheorie (und folglich jede Theorie) in einem aphasischen Nebel oder man reduziert die Theorie selbst auf den Widerspruch. Wenn die Gegenstandstheorie nicht »Etwas« ist, wenn sie nichts ist, woraus würde diese Behauptung hervorgehen und welchen Vorstellungsinhalt hätte sie bezüglich der Theorie selbst? Wenn die Gegenstandstheorie etwas wäre, jedoch nach den formalen Prädikaten des »Etwas« nicht bestimmbar wäre, dann gäbe es die unerfreuliche Folgerung eines internen Widerspruchs der Theorie, welcher sich nur durch die Notwendigkeit, irgendeine quidditas der Theorie selbst wiederzuerkennen, zeigt. Man kann lediglich unter Aporien wählen. Diese konstitutive Aporie erweist sich natürlicherweise als gar nicht aufhebbar durch die Einführung einer mystischen Wesenheit, des Seins, welche sie, man weiß nicht kraft welches erleuchtenden Inhaltes, unterbrechen könnte.
Ebd. S. 198: Zur Fundamentalontologie, behauptet Heidegger, gehört die Tendenz zu »einer ursprünglichen metaphysischen Verwandlung«. Vgl. dazu L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zur Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg – München, 2014, S. 228–238. 4 Heidegger selbst nennt eine solche »fundamentalere Wissenschaft« die »Wissenschaft des Übermächtigen« [GA 26, S. 13] und bestimmt ein solches Übermachtiges als das »Heilige« [S. 204]. 5 Vgl. Magistri Echardi expositio libri Exodi, sermones et lectiones super Ecclesiastici, cap. 24, Stuttgart, 1992, S. 14–21; P. Gire, Maître Eckart et la Métaphysique de l’Exode, Paris, 2006. 3
464 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie
Es geht hier nicht um das Zurückkommen auf eine Wiederholung oder eine dürftige Imitation einer Fundamentalontologie. Es geht, noch einmal, darum, eine Bewegung, genau genommen die Bewegung der ontologisch privativen Situation, auf noch radikalere Art und Weise zu denken. Um sie festzuhalten, muss man erneut zur Nominalisierung des Axioms zurückkehren. Um das Axiom zu benennen, muss es zunächst neutralisiert werden, das heißt, dass es innerhalb des Horizonts des formalen Diskurses (im Augenblick) nicht in seinem Charakter als Axiom wirksam ist. Wenn das Axiom jedoch neutralisiert und danach benannt wird, dann ist es der Inhalt des Diskurses selbst, welcher aufgehoben, überschritten und relativiert wird. Also zeigt der Horizont des formalen axiomatischen Diskurses ipso facto ein Residuum, ein »darüber hinaus«. Indem es diese typische Situation der Gegenstandstheorie ist, ist es zeitgleich das Kennzeichen jeder ontologisch privativen Situation als Bild im metatheoretischen Spiegel der Amphibolie des Axioms. Die Gegenstandstheorie als □MG ist auf konstitutive Art und Weise unnatürlich, da sie sich selbst aufhebt, um ein Regime des Diskurses und folglich ein Projekt der Bestimmung des Gegenstands als derartiger zu bilden. Jede Gegenstandstheorie ist, indem sie eine Bestimmung des Gegenstands überhaupt ist, zumindest auf problematische Art und Weise dazu gezwungen, über sich selbst hinaus zu verweisen. Es handelt sich um die metaontologische Situation.
§ 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie Was bedeutet es also, dass die Eigenschaften der ontologisch privativen Situation schlussendlich nichts anderes beschreiben als eine andere Situation, nämlich die metaontologische Situation? Es ist unbestreitbar, dass es an diesem Punkt weder mehrere noch nur zwei, sondern nur eine einzige Situation gibt, welche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wird und zwischen zwei konstitutiv unnachgiebigen Annäherungen gefasst wird. Die erste ist natürlicherweise die zu ihrer extremsten problematischen Spannung geführte metatheoretische Perspektive. Die Ausdrücke »ontologisch privative Situation« und »metaontologische Situation« meinen also dieselbe Sache, haben dieselbe Bedeutung, doch in zwei unterschiedlichen Sinnen. Man muss also diesen ersten Ausdruck analysieren, um so den 465 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
problematischen Überschuss im Verhältnis zur metatheoretischen Perspektive zu fassen, innerhalb und auf Basis derer man die gleiche Situation sub specie privationis, »kata tên sterêsin« betrachtet. Es ist folglich angebracht, als erstes die Möglichkeit eines doppelten Ausdrucks mit demselben Sinn zu erklären: metaontologische Situation sine Metaontologie. Die spekulative Identität – die spekulative Synonymie – der zwei Ausdrücke hebt den spekulativen Überschuss der Situation selbst hervor. Es gibt keine Metaontologie als Substantiv, als ob die Metaontologie eine Ontologie der Ontologie wäre, ein Gegenstand (obgleich ein □MG höherer Stufe). Es gibt nur die Unmöglichkeit der metaontologischen Situation, irgendeine gegenständliche Hypostase zu bieten, welche aus der spekulativen Sichtweise von einer Synonymie zwischen der Metaontologie und der metaontologischen Situation sprechen lässt. Es gibt eine Metaontologie nur als (metaontologische) Situation. Jedoch charakterisiert sich die Auffassung der Situation – im Verhältnis zu der Beschaffenheit der ontologisch privativen Situation – kraft einer Positivität, nämlich der thematischen Positivität der Ontologie (oder der Gegenstandstheorie) im Verhältnis zu einem Raum, einem Kontext, der nicht auch der Kontext, der Raum, der Horizont der metatheoretischen Erfahrung ist. Die Eigenschaften der ontologisch-privativen Situation können also nur den Übergang des Metatheoretischen zum Metaontologischen darstellen, ohne dass dieser Übergang im Sinne einer hegelschen Aufhebung zu interpretieren wäre. In der Tat legitimiert der Übergang vom Metatheoretischen zum Metaontologischen weder irgendeine Aufhebung noch irgendeine Widerlegung des Metatheoretischen selbst. In der Tat bleibt die »Logik« der metatheoretischen Erfahrung immer unabhängig (und, wenn man will, unberührt) vom Geist einer Begründung oder einer »ontologischen« Rechtfertigung des Gegenstands selbst. Wenn man in Betracht zieht, den □MG aus seinem ontologisch neutralen (und notwendigerweise undurchsichtigen) Status herauszuholen, das heißt aus seiner eigenen Dimension, schöpft man schließlich vielmehr die ganze aporetische Natur der »holistischen« Ontologie aus, die niemals darauf verzichten könnte, das Metatheoretische in das Gebiet seiner epistemischen Bestimmung einzuschließen. Im Gegenteil erweist sich die Metaontologie – und sie ist das Thema dieses Paragraphen – als spekulative und konstitutive Begrenzung des Metatheoretischen, nicht jedoch im eindimensionalen Sinne, nach dem es sich 466 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie
um Segmente eines philosophischen Diskurses handeln würde, die man zusammensetzen und aneinanderreihen müsste. Die Metaontologie begrenzt das Metatheoretische im Sinne der Dimensionalität: Das Meta-Ontologische erweist sich schlussendlich als eine ganz andere Dimension, versteckt in den Begrenzungen, in den Falten des Metatheoretischen. 6 Diese Begrenzungen sind die Begrenzungen des Anspruchs, davon den »universalen« Horizont einer jeden thematischen Vorgehensweise zu bilden. Aus diesem Grund geht die metaontologische Situation aus einem unterschiedlichen Verständnis der Eigenschaften der ontologisch-privativen Situation hervor. Die Veränderung des Verständnisses ist also mehr oder weniger nur eine Änderung des Vorzeichens von der Negativität zur Positivität, vom Meinen (und dem Erfassen) des Mangels zur Anerkennung einer neuen Dimensionalität. Es geht hier um nichts anderes als um eine spekulative Übersetzung des halb leeren oder halb vollen Glases, durch welches man weit entfernt davon ist, zu der Fülle des gesuchten Seins durch mystische oder theologische Abschweifungen der Metaphysik zu führen. Man ist vielmehr auf der Seite der (mehr oder weniger trostlosen) Landschaften, deren Topographie oder Erkundung man erst entwickeln muss. Was in diesem Metatheoretischen entbehrlich ist, enthüllt durch seine Erklärung – das heißt durch seine Problematisierung – die Positivität einer thematischen Öffnung. Eine solche Öffnung hat keine andere tiefere Realität, sie zeigt keine Begründungsabhängigkeit: In dieser Hinsicht kann sie sich nur als eine Sterêsis zeigen. Nun kann die Positivität – in der Gleichwertigkeit zwischen der metaontologischen und der ontologisch privativen Situation – nur die Positivität der Öffnung sein, nämlich der Dimensionalität, in der man die Formen der Ontologie in ihrer Unvollständigkeit und konstitutiven Relativität aufstellt, inspiziert und beobachtet. Die Veränderung der Perspektive findet nur zu Beginn des sich Bewusstwerdens der Tatsache statt, dass das »Vakuum« der Gegenstandstheorie in der metatheoretischen Dimension selbst nicht vollkommen verständlich ist, da sie sich selbst als eine ihrer Komponente erweist. Im Grunde genommen wirken sich die ontologisch privativen Eigenschaften der Gegenstandstheorie – als □MG – nicht auf die Theorie selbst aus, sondern bringen sich auch und vor allem kraft der Unmöglichkeit der ontologischen Qualifikation der Theorie selbst 6
Vgl. infra Kap. XIII.
467 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
gerade als Objekt zum Ausdruck. Das Vakuum könnte also niemals durch eine metatheoretische Betrachtung erklärt oder aufgehoben werden: Es könnte nicht aufgehoben werden, weil das Metatheoretische, als metatheoretische Erfahrung, für eine intentionale Beschreibung, nicht jedoch für eine normative Strukturierung geeignet ist. Es kann ebenso nicht durch das Metatheoretische erklärt werden, das heißt in gewisser Weise durch seine intime »Logik« eingenommen, durch eine der Strukturen seiner Verfassung der Erfahrung deskriptiv gerechtfertigt werden, einfach nur aufgrund der Tatsache, dass es gerade diese »Logik« ist, welche ihm fehlt. Sie fehlt nicht aufgrund irgendeiner Art des internen Widerspruchs, sondern aufgrund seiner ontologischen und metaphysischen Neutralität. Als lokale, das heißt regionale »Logik« vollbringt sie es nicht, eine Ontologie zu bestimmen, die dazu fähig ist, zeitgleich das Sein des □MG und das Sein aller Gegenstände, die keine metatheoretischen Gegenstände sind, zu verstehen. Die innere Spannung der Ontologie wohnt ihrem (angeblich legitimen) Anspruch inne, auch den Horizont zu bestimmen, in dem sie sich verortet und als Gegenstand oder zumindest als »Etwas« aufdrängt. In diesem Sinne ist diese Spannung, wie auch für die Eigenschaften der ontologisch-privativen Situation, nicht stärker negativ als positiv, wenn man darunter eine axiologische Zuweisung versteht. Die Negativität und die Positivität lassen sich vielmehr auf der Seite der Auffassung, ausgehend von einer spekulativen Position, der Natur der Situation verorten: Die Erfassung des grundlegenden Fehlers des Metatheoretischen in der Charakterisierung der Metaontologie, das heißt der Auffassung der ontologisch-privativen Situation als das, was sie ist, ist ipso facto dynamisch, da sie über sich selbst hinausweist. Dieser Verweis, diese Dynamis in ihrer ursprünglichen Unerfülltheit (bzw. Nichterfüllung) »sagt« lediglich, dass es in diesem Vakuum mehr zu sehen gibt. Was als grundlegende Unerfülltheit dieses □MG erscheint, ist in Wirklichkeit die Öffnung hin zu einer neuen Dimension der Erfahrung auf das, was sich nicht als □MG gibt, sondern – wir greifen den späteren Entwicklungen voraus – als die Ontologien selbst. Im Moment ist diese Öffnung der Perspektive noch nicht in ihrer ganzen Reichweite zu erfassen, sondern lediglich in der Bewegung der Öffnung selbst, ausgehend von der Sterêsis, sozusagen in actu projectionis. Dieser Akt der Projektion ist genau in dem Verweis fassbar, den die Gegenstandstheorie (oder die Ontologie) über sich selbst 468 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie
hinaus in problematischer Art und Weise umsetzt. Alles gründet sich auf der Haltlosigkeit der Gegenstandsbestimmung im Inneren der Theorie selbst: Die Theorie bleibt notwendig relativ und/oder unvollständig gegenüber der Annahme einer »allgemeinen« Gegenstandstheorie. Diese Haltlosigkeit bewirkt somit, dass die Eröffnung dieses Raums, dieses Residuums im Verhältnis zum Bereich des Gegenstands, des »Etwas«, zeitgleich die Neutralisierung der Gültigkeit der Ontologie selbst ist und ipso facto seine fundamentale Problematisierung repräsentiert. Die Eröffnung des Residuums des Bereichs des »Etwas« (oder des »Etwas, bestimmbar als solches«) ist gerade aufgrund der Tatsache, dass man ihre Konkretion in den Eigenschaften der ontologisch privativen Situation gefunden hat, eine problematische Öffnung. Was uns jetzt an unserem Versuch, die Öffnungsbewegung des »Metaontologischen« selbst zu fixieren, interessiert, ist gerade die problematische Natur der Öffnung selbst. Die Ontologie oder Gegenstandstheorie ist nicht aufgrund einer thetischen Setzung eines Raums überschritten: »Voilà! Hier platziert sich die Ontologie als solche, äußert sich und zeigt sich!« Das »Metaontologische« als Residuum ist ein spekulatives, charakteristisches Merkmal einer Situation (und von nichts anderem als einer »Situation«, nicht von einem Super-»Etwas«). Es besteht schlussendlich nicht in der problematischen Öffnung des »Etwas«, sondern des Betrachtens der Theorie des Etwas selbst als solcher in ihrer Möglichkeit, in ihrer Ausbreitung, in ihren Modalitäten, eine Antwort auf die Frage »Was ist der Gegenstand?« oder »Was ist ein ›Etwas‹ ?« zu erbringen. Aus diesem Grund zeigt sich die metaontologische Situation zunächst als der metatheoretischen Erfahrung unähnlich, selbst wenn Letztere von der Beschaffenheit der ontologisch-privativen Situation zu ihrer extremsten Spannung getragen wird. In der Tat ist dasjenige, das in der Einleitung des Metaontologischen radikal wechselt, wesentlich der Setzungscharakter. Im Metatheoretischen wird der Gegenstand nicht hinterfragt – wir würden, mit einiger Verschlagenheit, sagen: »wird niemals hinterfragt« –, wenn man als Gegenstand natürlicherweise »Gegenstand« überhaupt in seinem Charakter als »Etwas« versteht. Was eine Frage aufwirft, ist genauer genommen sein »Sein« als »□MG«, das heißt die ontologisch-regionalen Charakteristika des □Metatheoretischen als solches, ohne dass dadurch die Begriffe des »Etwas«, der formalen Ontologie, der regionalen Ontologie etc. in einem spezifisch problematischen Horizont eingeschrieben wären. Im Grunde genom469 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
men präsentiert sich dieser spezifisch problematische Horizont nur als eine Ausbreitung, eine Erweiterung, eine Verwandlung ins Gebilde als Dimension, in der die Gegenstandstheorie (oder die Ontologie) über sich selbst hinaus verwiesen wird. Diese »Verwandlung in Dimension« des Verweises ist nur die Anerkennung oder das elementar spekulative Bewusstwerden der Tatsache, dass der Verweis eine Distanz annimmt, also eine Räumlichkeit, folglich schlussendlich eine Topologie. Um mithin die Natur dieser Distanz aufzuklären, um diese Räumlichkeit auf intuitive Art und Weise in ihrer charakteristischen Form zu fixieren und um diese Topologie zu beschreiben, muss man den Moment befragen und analysieren, in dem sich genau – außerhalb einer expliziten und bewussten metatheoretischen Überlegung geboren – diese metaontologische Bewegung des Verweises, also die Projektion des Horizonts der Metaontologie selbst, zeigt: die Frage »τί τὸ ὄν;«.
§ 87. Die ontologische Frage als »Gegenstand« Das fundamentale Moment der Öffnung, die Projektion des metaontologischen Horizonts, kann nur »räumlich« – dort, wo man Räumlichkeit als Standort versteht – innerhalb der metatheoretischen Dimension, in der Frage »τί τὸ ὄν;« gefunden werden. Es ist also genau dieses »in der Frage«, in dem man die Öffnung des metaontologischen Raumes suchen, vorhersehen muss, weil die Frage – weit entfernt davon, in ihrem metatheoretischen Bestand statisch und unbeweglich zu sein – mit einer unbemerkten Dynamik ausgestattet ist. Und das ebenso vom Standpunkt der metatheoretischen wie auch einfach nur der »philosophischen« oder »theoretischen« Betrachtung aus – wenn diese beiden Worte für uns noch einen Sinn haben. Niemand glaubte, innerhalb der Geschichte der metaphysischen Fragestellungen oder einfach nur Formen der Ontologie, in der Frage selbst etwas Interessantes wahrzunehmen, etwas von Würde oder einfach nur etwas, das geeignet zur Befragung, Inspektion und Analyse als thematisches Element eines Blicks ist. Nun kann dies nur geschehen, wenn man an Vertrautheit gewonnen hat (sozusagen »intim geworden ist«), sowohl mit den Analysen der Frage (und mit einigen Formen der Frage) als auch mit den Analysen des □MG, gemäß dem ganz bestimmten intentionalen Verhalten, das sie charakterisiert. 470 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 87. Die ontologische Frage als »Gegenstand«
Die Frage »τί τὸ ὄν;« kann sich wie das Moment der Öffnung des metaontologischen Horizonts (bzw. der metaontologischen Situation) nur enthüllen, wenn sie gleichzeitig a) b)
sowohl als »Frage«, und zwar mit einer bestimmten noetisch-noematischen Struktur ausgestattet, als auch als □MG, und zwar als Gegenständlichkeit, die sich anschaulich auf unverzügliche Art und Weise innerhalb einer ganz bestimmten eidetisch charakterisierten Region der Erfahrung zeigt,
verstanden wird. Doch nun könnte ein Kritiker behaupten, dass es schlussendlich nicht allzu schlimm sei, wenn die Frage nicht gemäß der zwei Modalitäten anerkannt wird. Aber genau die Synthese dieser zwei Modalitäten in einem einzigen Element ohne ihre Spekularität anerkennen zu können, ist in letzter Instanz der Mangel jeder historisch philosophischen Interpretation. Es wäre also unmöglich, zu behaupten, dass die Frage ein Erlebnis im Sinne einer Sacherfahrung und gleichzeitig ein Gegenstand (und noch genauer ein □MG) ist. Auf den ersten Blick erschien die ontologische Frage als etwas Gemischtes, das heißt als »etwas«, das weder von der Dimension des Erlebnisses noch von der metatheoretischen Dimension gänzlich abhängig ist. Sie ist also hybrid. Es ist jedoch gerade diese Hybridisierung zwischen dem Erlebnisstatus und dem Metatheoretischen, die aus der Eröffnung der meta-ontologischen Situation etwas einfach nur Unnachgiebiges macht, und dies sowohl bezüglich der einfachen »Logik« der Frage als intentionales Erlebnis als auch bezüglich der »Logik« des »Verhaltens« der Frage als □MG. Die Hybridisierung erweist sich eo ipso als eine Amphibolie, da man – indem man gänzlich mit dem Einwand einverstanden ist –, entweder die Frage als ein Erlebnis oder als ein □MG versteht (natürlicherweise begrenzt), welcher Gegenstand eines Erlebnisses und genau genommen Gegenstand einer anschaulichen Erfahrung ist – und nicht das Erlebnis selbst. In diesem Sinne können uns gerade die begrenzten Fälle die Tatsache anzeigen, dass eine solche Hybridisierung notwendig, unabwendbar ist. Wir können »τί τὸ ὄν;« fragen, und zwar in all seinen modernen linguistischen Varianten – welche, wie wir sie sehen, alle aus der intrinsischen Mehrdeutigkeit der Frage hervortreten –, ohne diese Frage von dort aus als Zentrum, als Moment der Eröffnung der meta-ontologischen Situation zu erfassen und anzuerkennen. Doch die Frage hätte keinen □metatheoretischen 471 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
Sinn, selbst wenn sie einen Sinn hat, weil sie als solche verstanden wird: Sie hebt nämlich eine Befragung ohne anschauliche Erfüllung hervor, indem sie ein ganzes Ensemble von kontextuellen Anhaltspunkten charakterisiert, die der Orientierung für eine Antwort oder einer möglichen theoretischen Befriedigung dienen. Es ist jedoch nicht die gleiche Frage, die wir stellen, nachdem wir durch eine philosophische Bildung gegangen sind und auf implizite oder explizite Art und Weise all sein theoretisches Gewicht erfahren haben. Das theoretische Gewicht ist hier nicht mehr als ein Gewicht des Sinns, der Sättigung an historischen, philosophischen und spekulativen Bedeutungen, die der Akt der Frage selbst wachruft. Dieses Gewicht des Sinns, diese Erweiterung des Horizonts der Frage bis zu dem Ganzen der abendländischen Metaphysik, liegt nicht mehr einfach nur im intentional Erlebten, da es, implizit oder explizit, als eine historische Dicke auftritt. Die Analyse der metatheoretischen Erfahrung liefert dazu lediglich eine »Grammatik der Schau«. Einerseits haben wir eine intentionale Tätigkeit fast ohne Dicke, da dem Erlebnis der Frage »τί τὸ ὄν;« die gleiche Beschaffenheit zukommt wie einem flatus vocis, welcher fast leer jedes Vorstellungsinhalts seiner Teilvorstellungen ist. Andererseits haben wir die ganze metatheoretische Dicke der Gegenstandstheorie, ohne dass diese Dicke ebenso dynamisch oder dynamisiert ist. Diese Dicke geht bis zum Hinweis auf eine Möglichkeit von Dynamik, ohne dass sie ebenso zu einer positiven Dynamik der Vorführung des meta-ontologischen Horizonts führt. Und dennoch ist die Frage da und »verhält« sich gleichzeitig wie ein intentionales Erlebnis und wie ein □MG, auf die gleiche Art und Weise wie die Figur »H-E-Kopf« 7 auf einem Papier. Sie verhält sich wie eine Frage, da das Vakuum der Gegenstandstheorie – als ontologisch privative Situation – erneut die Frage selbst hervorruft, und zugleich verhält sie sich wie ein □MG, da die Frage, die Äußerung der Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, cit., II, XI, S. 503/4. Siehe hierzu auch J. Benoist, Voir-comme quoi?. In C. Chauviré – S. Laugier (Ed.), Lire les Recherches philosophiques de Wittgenstein, Paris, 2006, S. 247–248: »Le problème n’est plus tant celui du format du ›voir‹ (objectuel ou propositionnel, purement sensible ou semblant intégrer une composante intellectuelle ou interprétative) que celui du contraste entre une dimension d’achèvement et une dimension de découverte. Le ›comme‹ est toujours celui d’un contraste par rapport à ce qui était donné différemment, alors que la simple notion de ßanffraßvoirßanffrbß, quelle que soit la complexité de ce qu’elle se donne pour objet, renvoie toujours à une dimension d’achèvement«. Eine solche Dynamik kann in jedem Übergang zwischen jeder privativen Situation und der relativen Dimension als wirksam gesehen werden.
7
472 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 87. Die ontologische Frage als »Gegenstand«
Frage, nur als in eine theoretische Struktur eingeschrieben verstanden werden kann, deren Schlussstein sie als Gegenstandstheorie selbst darstellt. Der Akt des Fragens erwirbt lediglich einen Sinn vor dem Hintergrund der metatheoretischen Vorstellung der Forderung als Teil (als eröffnendes Moment) der Ontologie, der □MG »τί τὸ ὄν« erwirbt lediglich einen Sinn (geht von seinem Vakuum hin zur Öffnung der meta-ontologischen Situation) durch die erneute Hervorhebung der Frage in ihrer Form der intentionalen Positivität. Dennoch umgeht man das Problem, das heißt die Notwendigkeit, die hybride Natur der Frage selbst, ihre genau genommen spekulative Natur festzuhalten, nicht durch die Tatsache selbst, diese Zirkularität aufgezeigt zu haben. Und es ist genau das »Spekulative« der Frage, das aus der sogenannten Grundzirkularität heraustreten lässt: Nicht, weil es keine Zirkularität mehr gibt, sondern weil diese nichts anderes als ein System der Wechselbeziehung der Frage als Erlebnis hin zu seinem Sein als □MG und umgekehrt der Frage als »etwas, das mehr als das Erlebte ist« hin zu seiner Aktualität ist, welche trotz allem unüberschreitbar erscheint. Im Grunde genommen könnte der Teufelskreis keinem »Anspruch der Begründung« entsprechen und keine Begründungsaufgabe behindern. Welche Begründung sollte dieser Teufelskreis behindern? Keine, deshalb weil er aus einem Vakuum der Begründung hervorgeht, welche die Ontologie nicht nur im Verhältnis zu ihrem Anwendungsbereich betrifft, sondern auch im Verhältnis zu ihrem metatheoretischen Sein. Das Vakuum erneuert die Frage selbst als quaesitum und gleichzeitig als quaestio. Nun ist die Wechselbeziehung zwischen der Frage als Erlebnis (genauso wie als neutralisiertes Erlebnis) und der Frage als □MG, das Sein des einen Bilds im Spiegel des anderen und umgekehrt, genau das spekulative Wesen, das gleichzeitig und notwendigerweise einen dritten Punkt erfordert: der Standpunkt, die Situation eines Beobachters. Das Bild des Teufelskreises ist also trügerisch, da es auf eine Begründungshypothese verweist, die eo ipso unmöglich ist und sinnlos wäre. Im Gegenteil erschafft die Wechsel- bzw. Spiegelbeziehung, was auf einfache logische Art und Weise kaum erfasst werden kann: eine spekulative Situation, welche die Schau eröffnet. Es ist in der Tat die Schau, die das getrennte, unüberwindbare und dennoch »identische« Sein der Frage als Erlebnis und der Frage als □MG dynamisiert. Einzig und allein aufgrund der Schau, die auf die Frage als Erlebnis ge473 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
richtet ist, kann man anerkennen, dass sie das Spiegelbild der Frage als □MG ist und umgekehrt, auf eine genau spekulative Art und Weise. Dennoch stellt es kein Problem dar, dass wenn man die Schau auf den □MG richtet, man gleichzeitig die Frage als Erlebnis, als Spiegelbild erfasst – wohingegen die Aufmerksamkeit, die nur auf die Frage als Erlebnis orientiert ist, einige Ratlosigkeit hervorruft. Man könnte also einwenden, dass man niemals in der Frage als »Erlebnis« orientiert sein könne, das heißt im Akt des »τί τὸ ὄν;«-Fragens selbst, sondern immer und grundsätzlich in einer Art »abgeschwächter Reflektion« zur Frage als □MG. In der Tat ist die Frage niemals in actu experiendi erfasst, sondern immer als ein neutralisiertes Erlebnis, das immer offen bleibt, weil das, was an der Frage interessiert, sein Sein, ein Erlebnis und ein □MG gleichermaßen ist. Doch dieses doppelte Sein kann sich niemals zum Ausdruck bringen, wenn man einfach nur »τί τὸ ὄν;« fragt, da der Raum der Frage hier keine Nominalisierung, das heißt eine Neutralisierung der Frage, erlaubt. Man kommt schlichtweg nicht aus dem durch die Frage beschriebenen, thematischen Raum heraus, den man durch ihr Fragen eröffnet. Die Frage muss notwendigerweise überschritten worden sein – in ihrer Selbstaufhebung erfasst worden sein –, um als Gegenstand, als neutralisiertes Erlebnis gefasst zu werden, das heißt nominalisiert und nominalisierbar zu sein. Die Situation stellt also die Unmöglichkeit dar, im durch die Frage beschriebenen, thematischen Raum zu verweilen. Allerdings muss man diesen Sinnüberschuss nicht interpretieren, als ob man dadurch nichts Geringeres als den »wirklichen« Sinn von Sein erreichen würde. Ganz im Gegenteil. Innerhalb dieser spekulativen Situation beginnt man, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass das Sein keinen (einfach erfragbaren) Sinn hat – im Sinne eines Sinn-Überschusses. Handelt es sich hier um eine Artikulation der sehr alten und berühmten Lehre des pollakôs legomenon? Nicht direkt. Denn die Lehre des pollakôs legomenon– oder die der Omônumia pros hen –, die darauf durch grundlegenden Veränderungen die analogia entis 8 wird, ist schon eine Antwort auf die Frage, lässt sich schon notwendigerweise in der Struktur der Ontologie als □MG nieder. Hier bezieht sich der mehrfache Sinn (und nicht die mannigfachen Bedeutungen) des Seins nicht auf das Sein selbst, sondern auf
8
Vgl. J.-F. Courtine, Inventio analogiae, cit., S. 231 f.
474 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie
die Bedeutungen, die man innerhalb der Frage bekommt. Das Sein im Sinne der Metaphysik und auch das Sein, das man – den sehr deutlichen und sehr bekannten Missverständnissen folgend – weiterhin dem Diskurs der Ontologie zuschreibt, sind hier überhaupt nicht in Frage gestellt. Das könnte natürlicherweise als Paradoxie oder Fehlinterpretation erscheinen: Wie kann sich das Öffnungsmoment der meta-ontologischen Situation als unabhängig von einer Befragung des Seins zeigen? Man bemerkt sehr schnell die Tatsache, dass diese Frage nur auf der Basis der blinden Annahme des syntagmatischen Begriffs der »Befragung des Seins«, das heißt auf der Basis der Voraussetzung, dass diese Befragung des Seins selbst einen Sinn hat, in etwas »besteht«, legitim ist oder legitim erscheint. Es ist genau diese Beschaffenheit, auf der sich die metaphysische Unternehmung des »Abendlands« gründet – eine zweifellos gewaltige Unternehmung, die sich jedoch nunmehr als Konstruktion eines Riesen mit tönernen Füßen erweist. Folglich wird es genau diese Beschaffenheit sein – doch dieses Mal selbst als Gegenstand einer Befragung genommen –, die sich auf die Beschreibung der meta-ontologischen Situation konzentrieren wird, welche die Befragung des Seins selbst prüft und problematisiert.
§ 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie In diesem Sinne charakterisiert sich die Frage »τί τὸ ὄν;« im Verhältnis zur Ontologie auf eine gänzlich andere Art und Weise. In der Ontologie – und in ihren metaphysischen Entwicklungen – stellt die Frage kein Problem deshalb, weil sie es selbst ist, welche die Ontologie (oder die Gegenstandstheorie) entfaltet, die ihr schließlich ihre theoretische Physiognomie verleiht. Wir könnten ebenso behaupten, dass nur ausgehend von der Frage selbst die Ontologie derart konfiguriert werden kann, da das Fragen schon den Horizont der Antwort bestimmt. Dies könnte jedoch als eine hermeneutische Banalität erscheinen und würde nicht dazu beitragen, etwas im Abstand zwischen der Ontologie und der meta-ontologischen Situation wahrzunehmen. In welchem Sinn konfiguriert sich tatsächlich der Unterschied des Verhaltens der Frage im Verhältnis zur Ontologie und Metaontologie? Einerseits ist die Frage kein Gegenstand und vor allem kein »problematisches Objekt«, wohingegen die Frage selbst durch den 475 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
Umweg der Spekularität zwischen dem (neutralisierten) Erlebnis und dem □MG sozusagen »nicht mehr fragt«. Sie wird befragt. Dies entspricht der Aussage, dass sie in einen thematischen Raum gestellt ist, der kaum noch durch die Koordinaten der ontologischen Fragestellung bestimmt ist, doch in welchem eben diese Koordinaten in Frage gestellt werden. Wenn man die Frage de facto mit einiger metatheoretischer Naivität betrachtet, gehört sie nicht zur Ontologie im Sinne einer als konkrete Konstruktion eines Systems der Bestimmung des Seienden begriffenen Ontologie. Nach der Strenge des Prinzips, des deutlich im allgemeinen philosophischen Sinn begrenzten Prinzips, gehört die Frage »τί τὸ ὄν« nicht der Ontologie (oder der Gegenstandstheorie) an, da sie ihren – aus onto- und phylo-genetischer Sichtweise – zeitlichen Ursprung und teleologischen Grund darstellt. Die Ontologie nimmt den Platz als System der Gegenstandsbestimmung im Wesentlichen ein, um auf die Frage zu antworten und ihr Vakuum aufzufüllen. In dieser Bedeutung, einer Bedeutung, die das Metatheoretische und seine eigene Dimensionalität nicht berücksichtigt, ist die Frage kein Gegenstand oder kein Teil der Theorie, mit der man versucht, ihr eine Antwort zu geben. Dies erweist sich als sehr interessant in der Perspektive des Verstehens a) der Frage als Gegenstand, b) der Zugehörigkeit der Frage als □MG zur »Gegenstandstheorie« (oder Ontologie), c) der Positivität der Frage vom meta-ontologischen Standpunkt. Die Frage wird genau genommen problematisch, weil sie in dieser spekulativen Mehrdeutigkeit weiter besteht und weil diese »spekulative Beschaffenheit« immer auf ihre metatheoretische Natur hin erneuerbar ist, das heißt der letztmögliche Rückzug in Richtung einer naiven Überlegung der ontologischen Frage selbst. Jedoch ist ihre Positivität auch sozusagen eine »Perspektive«. Sie bewahrt sie durch ihr Wesen selbst, das Metatheoretische, lediglich, weil sie schon das Symptom einer für das Metatheoretische unüberwindbaren Problematik ist. Im Metatheoretischen bleibt die grundlegende Frage der Ontologie auf der gleichen deskriptiven Ebene vor dieser oder jener anderen naturalistischen These im Recht, ebenso wie vor dieser oder jener anderen These oder diesem oder jenem anderen begrifflichen Knoten in der Physik. Hier befragt man genauer die intentionale Struktur der Frage, das heißt die Art und Weise, nach welcher ihre Semantik und ihre intrinsische Logik über eine bestimmte Anzahl von theoretischen Koordinaten verfügen, und zwar nicht für die Bestimmung des Gegenstands (oder des Seienden oder des Seins), son476 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie
dern für die Entwicklung und Schichtung der Formen, der morphologischen Momente der Theorie (oder der Theorien) der Bestimmung selbst. Auf diese Weise bedeutet das Problematisch-Werden der Frage nur innerhalb der Metaontologie, dass die □metatheoretische topologische Dynamik der Ontologie selbst problematisch wird. Folglich ist dasjenige – ohne dadurch die Faszination der Sprachspiele übertreiben zu wollen –, was »aei kai palai te kai nun zetoumenon kai aporoumenon« 9 ist, nicht das »ὄν«, das sich innerhalb der Frage selbst als Gegenstand, als »Name« oder »nominalisiertes Element« als befragt vorfindet. Es ist schlussendlich das »τί τὸ ὄν;« selbst – in all seinen Erklärungen und Übersetzungen in den zeitgenössischen Idiomen –, was problematisch bzw. aporetisch ist und nicht lediglich sein Gefragtes, dessen begriffliche, phänomenologische und metatheoretische »Stellung« durch die Koordinaten der ontologischen Frage selbst vorgegeben werden. Hier ist das »ὄν« als »zetoumenon kai aporoumenon« nur eine Teilvorstellung des nominalisierten Elements der Frage, die an sich – als Ganzes – problematisch geworden ist. Man tritt hier aus der metaphysischen Neigung heraus, die auch die phänomenologische oder post-phänomenologische Unternehmung von Sein und Zeit charakterisiert, wo das Problem des Sinns des Seins auf marginale Art und Weise die ontologische und metaontologische Amphibolie der Frage berührt. In der intentionalen Analyse der ontologischen Frage von Sein und Zeit ist die Möglichkeit einer Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit der Frage noch nicht einmal in Betracht gezogen, da das Problem, das sich stellt (in Kontinuität mit der ganzen Metaphysik), nicht in der Frage, sondern in der Antwort besteht. Auf diese Weise ist die benannte Handlung abwesend, unterdrückt als Hypothese selbst der Suche. Hier ist es, wie anderswo in der allgemeinen Bestimmung der Metaphysik, lediglich das »ὄν«, welches das Problem, das »zetoumenon kai aporoumenon« darstellt. Aufgrund dieser Grundamphibolie jedoch, die impliziert, immer vom Gegenstand der Bestimmung zu sprechen – welche schlussendlich der Gegenstand selbst ist, das »ὄν« – sowie vom System der Bestimmung, der Fixierung des »Problematischen« im »ὄν«, wird die Oberflächlichkeit der metaphysischen Neigung angezeigt. Diese Neigung berücksichtigt nur das Nächste, das aus metatheoretischer Sichtweise am meisten »vorhanden« ist, um darin das Wesentliche zu unterschlagen. 9
Aristoteles, Metaph., 7, 1028 b 2–4.
477 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
Das Wesentliche ist hier das, was eigentlich ermöglicht, dass sich dieses »Vorhanden« in seiner Nähe zeigen kann. Es passt hier, dass man noch einmal erwähnt, dass das »Vorhanden« aus philosophischer Sichtweise nichts mit dem »Vorhanden« der Daseinsanalyse zu tun hat. Es geht im Wesentlichen um ein metatheoretisches »Vorhanden«, das ganz und gar nicht der Kritik der Metaphysik der Präsenz unterworfen ist. Dennoch zeigt die Tatsache des sich Konzentrierens – vom metatheoretischen Standpunkt als gestische Praxis und konzeptuell wiederholt und gegliedert – auf das, was metatheoretisch »vorhanden« ist, ebenfalls den ungehobelten und primitiven Charakter an. Über das Bild, die Erscheinung der Feinheit und der argumentativen Komplexität, die sich danach richtet, all diese Systeme der Bestimmungen aufzubauen, hinaus versteckt sich eine sehr banale Geste, bestehend aus der Neuformulierung der »topologischen« Problematik des grundlegenden Begriffs der Bestimmung selbst, das heißt des »ὄν« als »das, was auf systematische Art und Weise zu bestimmen ist«. Die Banalität der Tatsache, dass man das »ὄν« als definiendum nimmt – unwichtig ist hierbei, wovon man ausgeht und ob das definiens, als Dasein selbst, auch ein »ὄν« sei –, zeigt ipso facto eine Kurzsichtigkeit auf, welche ebenso die ganze höchst raffinierte und höchst komplizierte Konstruktion aus ontologischer Sichtweise betrifft. Der interrogative Ausdruck »τί τὸ ὄν« wird wirklich problematisch, wenn er benannt wird, da es schlussendlich die Benennung ist, welche die intrinsische Amphibolie aus der Frage selbst hervorhebt, und zwar als Leere einer gewissen intuitiven Beschaffenheit des Befragten – was nicht nur die Frage »τί τὸ ὄν« charakterisiert – und als Vakuum, das auch das mögliche System der Antwort charakterisiert. Der Abstand oder die metaontologische Amphibolie zwischen dem System der Gegenstandsbestimmung und der Fragestellung des Raums, in dem sich diese Bestimmung zeigt, ist genau dasjenige, worüber in der Auswahl des »Vorhandenen«, zum ontologischen à bon marché hin, kein Wort verloren wird, als ob die Ontologie selbstverständlich wäre. Dieses ça va de soi oder, wenn man will, der Anschein der Selbstverständlichkeit der Ontologie als solcher erfordert zwei letzte Überlegungen, die den Gegenstand der metaontologischen Befragung selbst betreffen oder die dasjenige problematisieren, das beginnt, die metaontologische Situation zu artikulieren: die Frage »τί τὸ ὄν;«. Warum kann man genau in diesem Moment, in dem das Denken griechisch spricht, die metaontologische Amphibolie schon 478 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie
erahnen? Warum beharrt man in der metaontologischen Situation noch darauf, sich gemäß der ursprünglichen sprachlichen Formel darauf zu beziehen? Diese zwei Fragen sind strikt und vor allem aufgrund dieses Anscheins des »sich von selbst Verstehens« der Ontologie miteinander verbunden. Dort, wo die Frage das erste Mal explizit »in« der Metaphysik des Aristoteles formuliert ist, ist die Amphibolie nicht nur schon da, sondern erweist sich als logische Folge der Charakterisierung der Wissenschaft als gewählter Wissenschaft eines »ὄν« selbst, das definitionsgemäß nicht eindeutig ist. Wenn sich nun die Wissenschaft nur durch ihren Gegenstand formen kann und muss, hat man Schwierigkeiten, zu verstehen, warum die auf einem »pollachôs legomenon« geformte Wissenschaft etwas »nicht Eindeutiges«, etwas »zetoumenon kai aporoumenon«, nur eine »gesuchte« Wissenschaft (»zetoumenê« 10) ist und nicht auch eine Wissenschaft, die sich selbst als »aporetische« (»aporoumenê«) darstellt. Durch welchen Punkt lässt sich die Aporie entfernen? Welche ist die Durchfahrt, auf der die Wissenschaft des »ὄν« ihren radikal problematischen Status, ihre Unsicherheit, sich als Wissenschaft zu bilden, überschreitet? Wenn es ferner die Wissenschaft ist, die ihren Gegenstand formt – wie in dem Fall der galiläischen Wissenschaft und in der Reform und Formalisierung der Ontologie von den Regulae ad directionem ingenii 11 ausgehend –, dann können der Abstand oder die Amphibolie nicht gleichermaßen vermieden werden, da die epistemisch fundierte Modellierung des Seienden auf genau gespiegelte oder problematische Art und Weise ein Problem der geformten Wissenschaft darstellt. In der Tat, wenn einerseits die geformte Wissenschaft der Aporie nicht entfliehen kann, stellt sie andererseits aufgrund ihrer behaupteten und gesuchten Universalität ein Problem dar. Diese kann nur versagend, verfehlend, entweder unvollständig oder widersprüchlich sein. Auf diese Weise entfernt selbst die semantische und formale Präzision nicht die ontologische/metaontologische Amphibolie, indem sie ihr lediglich eine andere metatheoretische Konfiguration zu ihrem Vakuum verleiht. Der Ausdruck in der griechischen Sprache ist jedoch insofern symptomatisch, als er genau die zwei begrifflichen Elemente enthält, das »τί« und das »ὄν«, das
Vgl. P. Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, Paris, 1962, S. 21–44. Vgl. J.-L. Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes: science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae, Paris, 1993.
10 11
479 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
»Etwas« und den »Gegenstand« 12, die beide jegliche Form der Amphibolie artikulieren und nach welchen die meta-ontologische Situation beginnt, ihre eigene Ausdehnung zu erwerben. Doch unsere Entscheidung, uns auf die Frage in ihrer fremden Formulierung zu beziehen, weit entfernt vom Verraten einer krankhaften Leidenschaft für die Vergangenheit, hat einen ganz anderen Nutzen. Sie zeigt die Frage immer und auf grundlegende Art und Weise als etwas Fremdes, was niemals vollkommen vergleichbar mit derjenigen philosophischen Sprache ist, in der man sich entschließt, zu schreiben. Auf eine bestimmte Art und Weise stellt die Wahl der griechischen Erfahrung »τί τὸ ὄν;« – ihre Formulierung in einer »toten Sprache« – (ähnlich wie für die Ausdrücke □Eidos und □Logos) eine paradigmatische Wahl dar, um das symbolische Element zu bewahren. »τί τὸ ὄν;« funktioniert als Symbol. Auf eine gewisse Weise hat dies nichts mit der Sache der meta-ontologischen Situation selbst zu tun (wie wir sehen werden, kann die Frage umformuliert werden), sondern lediglich mit der sprachlichen und kognitiven Struktur, die derart verfährt, dass die gesprochene Sprache und der Ausdruck in der gesprochenen Sprache in dem semantischen Code, der üblicherweise gesprochen wird, auch die Einschreibung der Sachen, die dort ausgedrückt sind, mit sich in den Bereich des Gewöhnlichen reißen. Weit davon entfernt, eine Grenze darzustellen, schildert dieser Fall, abgesehen von einigen äußerst seltenen Ausdrücken, die Kraft unserer expressiven Systeme; »τί τὸ ὄν;« ist also nicht semantisch unvergleichbar mit der gewöhnlichen Praxis der philosophischen Sprache: Es wurde eingegliedert und bleibt seit zwei Jahrtausenden eingliederungsfähig und aus diesem Grund wurde die Ontologie, zugleich in die Metaphysik eingeschrieben, niemals in ihrer »Selbstverständlichkeit«, in ihrem »Vorhandensein« befragt. Wir benutzen hier »τί τὸ ὄν;«, um die Frage optisch zu isolieren, um zwei Elemente, die uns in unseren folgenden Analysen dienen werden, zu erhalten: 1)
Die Symbolik – die Frage wird als eine Reihe von Symbolen verstanden, welche hinsichtlich der Semantik und der Syntax interpretiert werden. Der Charakter der Neutralisierung, sein immer innerhalb der metaontologischen Situation und als Eröffnungsmoment der Situation selbst »nominalisierter« Akt.
2)
12
Vgl. P. Aubenque, Une occasion manquée, cit.
480 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 89. Die Momente der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν«
§ 89. Die Momente der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν« »τί τὸ ὄν« ist lediglich als fremdes und unüberwindbares Element bezüglich der üblichen Praxis des Diskurses – ohne dadurch unverständlich sein zu müssen – und gleichzeitig als ein neutralisiertes und nominalisiertes Element zu verstehen. Die Frage wird hier der »Gegenstand« einer Analyse, die das »τί τὸ ὄν« sowohl in seinen intentionalen Strukturen als auch in seinen metatheoretischen Eigenschaften betrachtet. Wenn die Spiegelung jedoch auf die Weise beidseitig ist, dass sie ex principio keine Stiftung auf privilegierte Art und Weise erlaubt, ist es dennoch wünschenswert, wenn auch nicht notwendig, von der Frage als »intentionalem Gegenstand« und nicht als □MG auszugehen. Diese Wahl ist nicht willkürlich, sondern findet ihren Grund im Zusammenhang zwischen der intentionalen und der □metatheoretischen Vergegenständlichung selbst, sofern der Akt, wie wir sehen werden, – fundamental mehrdeutig und fundamental ungesättigt – allen Formungen der Ontologie als Antwort zugrunde liegt: Es geht um die vergangenen (also historischen) Formungen der Ontologie und die möglichen neuen Formungen der Ontologie (die wir, genau auf der Basis der generativen Grammatik der Frage, denken können). Die Tatsache, dass man die Frage als Akt isoliert – und nicht nur ihr Sein als □MG, sondern auch ihre Stellung innerhalb der weiteren □metatheoretischen Struktur der Ontologie in den Hintergrund drängt –, geht ebenfalls aus einem fundamentalen ökonomischen Prinzip des Diskurses hervor. Diese Wahl erlaubt es also, damit zu beginnen, eine Topographie der meta-ontologischen Situation ausgehend von ihrem zentralen und anziehenden und relativ einfachen Element zu skizzieren – noch keine Topologie zu bestimmen 13 –, in der schon alle Artikulationen des meta-ontologischen Bereichs selbst enthalten sind. Wir betrachten also die Frage als Gegenstand. Angesichts der Spiegelung zwischen der Frage als »intentionalem Gegenstand« (neutralisiertem Erlebnis) und als □MG fragen wir uns: Was fragt man mit der Frage »τί τὸ ὄν;«? Erfragt man nicht zufällig den Sinn von Sein? Oder erscheint diese Antwort auf die Frage nicht als durch die Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit der Frage selbst vorgetäuscht? In der Analyse Heideggers – die als Proto-Phänomenologie (oder, Für die Unterscheidung zwischen Topographie und Topologie im strengen Sinn vgl. Kap. XI, §§ 113–116.
13
481 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
wenn man so will, nur als eine unausgebildete, nicht entwickelte Phänomenologie) der Frage erscheinen kann – kann man schon beginnen, die strukturellen Elemente der Frage, jedoch nicht ihre heimtückischen Doppeldeutigkeiten, zu skizzieren. Die heimtückischen Doppeldeutigkeiten verhalten sich derart, dass man, wie wir sehen werden, dem Trugbild eines Sinns des Seins folgen kann, aufgrund der Tatsache, dass ein solcher Sinn innerhalb einer Frage erfragt ist, obwohl das Gefragte, aufgrund seiner intentionalen Struktur, illusorisch ist. Anders formuliert: Die Analyse dieser Frage, innerhalb derer man glaubt oder jemandem geglaubt hat, den Sinn von Sein finden zu können, enthüllt uns genau – in ihrer doppelten (intentionalen und metatheoretischen) Konstitution –, dass es dort, wo das »ὄν« ist, einfach kein Sein gibt, dessen Sinn man befragen und anfordern könnte. Im Gegenteil, dort, wo das Sein ist, dort, wo es kein »ὄν« mehr gibt, gibt es gar keinen Sinn der Frage selbst mehr. Der positive Ausgangspunkt der Metaontologie ist genau der Punkt, ausgehend von welchem die Metaphysik, lediglich als Verdeckungsmoment, aus einer komplexeren Situation herausgetreten ist. Anders gesagt: Die Strukturierung einer Frage in ihrem eindeutigen Sinn, wie Heidegger ihn voraussetzt, der jedoch in der Realität niemals derartig festgesetzt wurde, ist ein Mittel ut facile a dubitatione discendere. Die Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« – vom intentionalen und metatheoretischen Standpunkt – zeigt uns, auf welche Art und Weise sie durch ihre intrinsische Zweideutigkeit ein System der Fragen darstellt. Die Tatsache, dass man die Frage »τί τὸ ὄν;« mit einer Frage bezüglich des Sinns des Seins identifizieren will, die noch keiner wirklich gestellt hat, erscheint geradezu als spitzfindig. Um auf methodische und strenge Art und Weise mit der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« in ihrer doppelten Textur (intrinsisch phänomenologisch und metatheoretisch) zu verfahren, werden wir als erstes so vorgehen, dass wir die wesentlich metaphysischen Voraussetzungen kritisieren, welche die Basis jeder modernen Bedeutung der »Seinsfrage« bilden. Die Tatsache, dass man das allgemeine System der Seinsfrage derart kritisiert, wie es in allen ersten Paragraphen von Sein und Zeit entwickelt wurde, soll ganz und gar nicht wie eine Art Stellungnahme der Schulen analytische Philosophie versus kontinentale Philosophie verstanden werden. Im Horizont unserer aktuellen Untersuchungen gibt es keinen Platz für scholastische Diskussionen – als ob die Scholastik, sowohl hermeneutisch als auch analytisch, den Untersuchun482 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage
gen über die Form der Mathesis irgendetwas beisteuern könnte. Eine solch kritische Analyse, wie wir sie im folgenden Kapitel vornehmen werden, ist nichts als der notwendige Ausweg – und notwendigerweise konsequent – sowohl der Analyse der metatheoretischen Dimension (2. Teil) als auch der spekulativen Situation (1. Teil). In diesen Teilen wurde jeweils bewiesen, dass der Anspruch der Philosophie, Gesetze über das Wissen zu erlassen, grundlegend illusorisch ist und dass das Sein des Menschen ein »Trugbild« ist, das einer Doppeldeutigkeit entstammt. Und all dies auf dem Weg der Analyse der zwei angeblichen Grundfragen.
§ 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage Der Anfang von Sein und Zeit ist über eine These aufgebaut, deren Trivialität vom metatheoretischen (doch auch einfach spekulativen) Standpunkt beängstigend ist: Die Ontologie ist der fragende Diskurs über das Sein. Ausgehend von der Äußerung dieser These, denkt man die Auslegung von Sein und Zeit vorzunehmen, als ob nichts wäre. 14 Doch dies erweist sich schlussendlich nur als Wahrheit, da es die Ontologie selbst ist, so wie sie als »Antwort auf die Seinsfrage« dargestellt wird, die sich als beängstigende Trivialität erweist. Ebendiese Trivialität, einmal entgegen einer konkreten und vor allem klaren Entwicklung dieser »Ontologie« ausgelegt, führt in den meisten Fällen zum Mystizismus. In anderen Fällen lässt sie die Schafe des philosophischen Schäfers des Seins in der Lichtung des hermeneutischen Relativismus oder der angelsächsischen, analytischen Sprachphilosophie weiden (im Sinne: from Heidegger to the second Wittgenstein … easy done!). In der Tat müsste man sich nicht allzu sehr wundern, da Banalitäten nur aus noch unsinnigeren und unruhigeren (wenn nicht sogar vermessenen) Banalitäten hervorgehen können. Doch der wahre Grund liegt schlussendlich in der Frage selbst und in der Tatsache, Vgl. z. B. den wichtigen Kommentar von W. von Hermann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von »Sein und Zeit«, Bd. 1, Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, Frankfurt a. M., 1987, S. 21–100. Jedoch kann man von einem Kommentar keine metatheoretische Betrachtung erwarten. Vgl. auch K. Lehmann, Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers, Mainz – Freiburg i. B., 2003, 2 Bde, S. 171; M. Steinmann, Martin Heideggers ›Sein und Zeit‹, Darmstadt, 2010, S. 23; A. Luckner, Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, Stuttgart, 2010, S. 12–17.
14
483 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
dass sie aus einer Mystifikation hervorgegangen ist. Um jedoch die Notwendigkeit einer Überwindung des Mystizismus der Frage (und somit der Frage, wie sie gestellt und dargestellt wird) gründlich zu verstehen, muss man verstehen, auf welche Art und Weise sie sich, auf fast unvermeidbare Weise, zum Mystizismus hin öffnet. Um die Seinsfrage auf die intentionale und metatheoretische Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« zu beschränken, muss man nicht in erster Linie über den § 2 von Sein und Zeit (»Die formale Struktur der Frage nach dem Sein«) nachdenken, sondern über das, was unvermittelt zu der Ontologie des Daseins führt, um die Notwendigkeit einer solchen Analyse zu vergessen: der § 3 »Der ontologische Vorrang der Seinsfrage« und der § 4 »Der ontische Vorrang der Seinsfrage«. 15 Denn die Tatsache, dass man die Analyse der Seinsfrage in dem phänomenologischen und metatheoretischen Kontext verringert, um daran die Trivialität zu beweisen, ist nach allem nicht so schwierig, wenn man bedenkt, dass die fundamentalen Thesen der §§ 3–4 jeweils im zweiten und ersten Teil unserer Suche überschritten und widerlegt wurden. Im Grunde genommen macht das, was man in § 3 als eine »notwendige Ergänzung« identifiziert, das heißt die durch die Ausarbeitung und die Lösung der Seinsfrage (der Überlegung ihrer formalen Struktur nach) geforderten fundamentalen Überlegungen, nichts anderes, als den spekulativen Rückstand der Frage, die in der Seinsfrage erscheint, geheim zu halten. Diese fundamentalen Überlegungen sind genau mit den zwei Thesen identifizierbar: 1)
Die Seinsfrage hat einen ontologischen Vorrang, da sie »die prinzipiellste und konkreteste Frage« 16 ist. Die Frage nach dem Sinn von Sein hat einen ontischen Vorrang, da sie die durch den Menschen (Dasein) bezüglich seines Seins selbst gestellte Frage ist.
2)
Einerseits akzeptiert man – auf selbstbezügliche Art und Weise –, dass die Philosophie die wahre Vertreterin von Grundfragen und folglich eines fundamentalen Wissens ist, weil »die Wissenschaft nicht denkt« 17, insofern »sie sich nicht in der Dimension der Philosophie bewegt« 18. Das käme der Aussage gleich: »Du verstehst nichts, 15 16 17 18
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, cit., GA 2, S. 5–15. Ebd. S. 12. Vgl. M. Heidegger, Was heißt Denken?, cit., S. 4. Diese Präzision ist von Heidegger formuliert, aber es ist genau die Benennung
484 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage
weil du meine Sprache nicht gut sprichst!« In der Tat kann sich nur die Philosophie – nach den spekulativen Annahmen von Sein und Zeit – mit dieser Fragestellung beauftragen: »Aber solches Fragen – Ontologie im weitesten Sinne genommen und ohne Anlehnung an ontologische Richtungen und Tendenzen – bedarf selbst noch eines Leitfadens. Ontologisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher.« 19 Jenseits einer fast vollständig falschen Interpretation der Wissenschaftlichkeit und der Grundlagenkrise der Wissenschaften (die im Jahr 1927 fast unvermeidlich war), 20 ändert sich nur der dogmatische Charakter, durch den man die Philosophie und das Verhältnis der Philosophie zur Ontologie ins Auge fasst. Hier spielt die Philosophie keine andere Rolle als die Rolle der Metaphysik – regina scientiarum – unter dem Deckmantel der Phänomenologie. Im Grunde genommen schafft man es nicht, zu verstehen, warum man der Philosophie den Vorrang im Verhältnis zu den Wissenschaften anerkennen sollte, wenn nicht aufgrund zweier Vorurteile: Der erste Vorurteil besteht wesensmäßig in dem Prestige, das die Geschichte zu der Philosophie anerkannt hat, ein andere Vorurteil, in der Selbstzuschreibung eines Exklusivrecht der Betrachtung der Ontologie. Und folgerichtig kann die Philosophie sich einen solchen Vorrang nicht auf selbstreferentielle Art zuweisen, zumal sie sich, wenn sie der spekulativen Analyse ihres Wesens unterworfen ist, also einer wirklich radikalen Befragung, als etwas aus doktrinärer Sichtweise Unhaltbares erweist, dessen Auflösung die Öffnung und die Artikulation eines Bereichs, die sie beide relativiert, mit sich zieht. In Anbetracht dessen, dass es innerhalb des metatheoretischen Bereichs weder einen Vorrang noch das Ansehen eines Gegenstands im Verhältnis zu einem anderen gibt, muss man, wenn man die Frage überdenkt, diese ohne jeglichen ontologischen Vorrang denken. Die Vorranglosigkeit geht direkt aus der Konsistenzlosigkeit von dem, was der Träger dieses Vorrangs sein müsste, hervor: der Philosophie selbst. Die Frage kann an diesem Punkt nur ihren zurückbleibenden Vorrang vorweisen, den ontischen Vorrang. Doch sie stellt sich auch einer »Dimension der Philosophie«, welche die Unhaltbarkeit einer solchen Position vom metatheoretischen Standpunkt bestätigt, da die Philosophie keine eigene Dimension hat. Vgl. M. Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebenswegs, 1910– 1976, GA 16, Frankfurt a. M., 2000, S. 705. 19 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, cit., S. 15. 20 Ebd. S. 13.
485 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
nicht als illusorisch heraus, da sie, wie wir sehen werden, durch ein Spiel des Ansehens zunächst selbst ontologisch und dann ontisch-ontologisch wird. Um die metaphysische Idee der Philosophie unter dem Deckmantel einer »phänomenologischen« Analyse zu verschleiern, um ihre erstes Sein im Verhältnis zu anderen Wissensformen (regina scientiarum) zu formen, muss man zunächst die Idee der logischen Deduktion verlassen: »Logik überhaupt kann als das Ganze eines Begründungszusammenhangs von wahren Sätzen bestimmt werden.« 21 Das geht nicht in die Richtung einer neuen theoretischen Schau des Wissens selbst, da das metaphysisch Vorausgesetzte das Gleiche bleibt. Die Banalität, nach der sich die Wissenschaftlichkeit der Wissensformen nicht vollständig auf die Formen der axiomatischen Deduktion beschränken lässt, führt in diesem Fall zu einer anderen Banalität: Die Wissenschaft ist eine »menschliche Wissenschaft«, ein »Verhalten des Menschen«, eine Werthaltung des Menschen. Es ist also der Mensch, der sich als Vertreter der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften offenbart, jedoch nicht einfach aufgrund der Tatsache seiner Fragestellung, sondern eher aufgrund seines »ontologischen Seins«, das heißt, dass er immer auf bestimmte Weise mit dem Seinsverständnis, als welches er existiert, verbunden ist. Dennoch kann ebenfalls nicht jeder Mensch (in seinem eigenen jemand Sein), sondern nur der Philosoph, als Vertreter des Sinns der Wissenschaftlichkeit, aufgezeigt werden: »Die Frage der Existenz ist eine ontische ›Angelegenheit‹ des Daseins. Es bedarf hierzu nicht der theoretischen Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz.« 22 Das entspricht der Aussage, es liege nicht in der – unscheinbaren – Konkretheit der Existenz eines jeden Menschen, dass die Seinsfrage eine ihr, als »ganz besonderer Frage«, würdige Artikulation und Lösung erhält. Die Fundamentalontologie – aller Behauptung nach dieser Lösung würdig –, aus der alle anderen Ontologien hervorströmen können, muss notwendigerweise in dem »theoretischen Durchsichtigen« der ontologischen Struktur der Existenz, das heißt in der Analytik des Daseins, liegen. Nun sind die Tatsache, dass sich dieser Mensch, das Dasein, als Vertreter des Sinns des Seins, die Frage über sein Sein stellen kann, und die Möglichkeit, dass diese Frage »würdig ist, gefragt zu werden«, im Wesentlichen schon ex principio durch die 21 22
Ebd. S. 11. Ebd. S. 12.
486 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage
fundamentale – wenngleich fundamental erschlichene – Unterscheidung, »authentisch« oder »nicht authentisch« zu sein, unterdrückt. In Anbetracht dessen, dass sich das Dasein auf die eine oder andere Weise, mehr oder weniger ausdrücklich in seinem Sein versteht, muss man nicht bedenken, in welcher Weise das Dasein sein Sein befragt, da das in den meisten Fällen das »Nichtauthentische« hervorhebt. Im Gegenteil: Man muss dieses Fragen überwinden, um eine »ontologische Befragung des Daseins selbst« zu entwickeln: »Das Dasein hat sich so als das vor allem anderen Seienden ontologisch primär zu Befragende erwiesen.« 23 Die Möglichkeit, von der Seinsfrage als metaphysischem Rückstand zu dem, wovon sie schließlich der Rückstand ist (die metaphysische Kristallisierung), hingeführt zu werden, ist somit definitiv verstellt, indem das Dasein nichts anderes ist als eine Vogelscheuche für die Raben der demonstrativen Strenge. Die Seinsfrage bleibt also auf definitive Weise das Trugbild einer Fundamentalontologie. Doch die Maxime, »mit dem Hammer zu philosophieren« – um zu erfassen, aus welcher Leere die Götzen bestehen –, gilt in diesem Fall umso mehr. Hier muss man die »hohlen Töne« des Götzen der Seinsfrage erfassen, welche genau – was den »ontischen Vorrang« der Frage betrifft – in dem Vorrang des Menschen selbst besteht, von dem behauptet wird, dass er plötzlich in die Eintönigkeit der Nichtauthentizität zurückgestoßen wird. Im Grunde lenkt diese metaphysische Unterscheidung zwischen dem Authentischen und dem Nichtauthentischen den Blick von der Tatsache ab, dass das Dasein (oder einfach der Mensch) den Sinn seines Seins erfragt. Diese Frage hat eine komplett andere Struktur als die Seinsfrage. Das, wovon die Seinsfrage der Rückstand ist, die Handlung, durch welche der Mensch den Sinn seines Seins erfragt, enthüllt keine Struktur, die nicht im Horizont des »Ich« im axiologisch neutralen Sinn der Identität ist. In diesem Sinne und gemäß einer intentionalen Analyse der Frage, orientiert an dem, was jemand – unabhängig von der Tatsache, dass er Deutsch, Griechisch oder Japanisch spricht – wirklich fragt, bleibt die Seinsfrage in jedem Fall etwas Fiktives, das unbemerkt wieder in das Feld der Erfahrung, ausgehend von der metaphysischen Befragung, eingeführt wird. Indem das Individuum niemals gemäß der Seinsfrage fragt, sondern nur »Was/wer bin ich?«, hat die Seinsfrage nicht nur keinen ontologischen Vorrang, sondern auch keinen ontischen Vor23
Ebd. S. 13.
487 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
rang. Auch wenn sie schließlich keinen Vorrang hat, ist sie dennoch im Raum der intentionalen und metatheoretischen Analyse verortet.
§ 91. Die intentionale Analyse der Frage: Erste Abstraktion Die Frage hat also keinen Vorrang (mehr), weder ontisch noch ontologisch noch ontisch-ontologisch, weil es kein Dasein gibt, das die Seinsfrage (wenn nicht in einer philosophisch extrem kristallisierten Situation) stellt, sondern ein Individuum, jemanden, der »etwas« Elementareres (obwohl fundamental Zweideutiges) erfragt. Folglich kann man behaupten, dass das plötzliche Auftauchen der Frage »τί τὸ ὄν;« schließlich nicht an der formalen Struktur der Seinsfrage anhält. Im Grunde genommen ist es die Frage in ihrer formalen Struktur, von der man ausgehen muss, indem man die formale Struktur, bei der es sich nicht um eine formale Struktur der Seinsfrage handelt, hervorhebt. Es ist im Gegenteil die Struktur der Frage »τί τὸ ὄν;« in der Zweideutigkeit eines neutralisierten Akts und eines □MG und nicht in ihrem (aus Sichtweise der Epistêmê ziemlich präjudiziellen und deutlich erschreckenden) Charakter der »ganz besonderen Frage«, die wir analysieren müssen. Die Struktur, als formale Struktur, kann jedoch ihre Syntax, ihre intentionale Grammatik nicht ändern, indem genau diese Ausdrücke ihre referentielle Dynamik verkomplizieren. Es gibt in der Frage als Nachfrage das, was in der theoretischen Deklination der Nachfrage ein Erfragtes wird. Das Erfragte kann, in seiner theoretischen Deklination, nur mit einem Gefragten in Beziehung stehen. Dieses Gefragte ist der Gegenstand-worüber 24 man befragt. Weil die theoretische Frage immer ein absichtlich bipolarer, zweistrahliger Akt ist, ist es ziemlich leicht, sie mit Präzision im Verhältnis zum Gefragten und zum intentionalen Bestehen des Kerns der Fragestellung zu fixieren, im Verhältnis zu dem sich die anschauliche Leere des Erfragten einordnet. Der performative Akt des Fragens – in seiner theoretischen Deklination – impliziert also, wie wir gesehen haben, dass sich die anschauliche Leere, das Ungesättigte, in einer Topographie einordnet, welche um das Erfragte und sein Bestehen herum eingeordnet ist.
24
Vgl. E. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), cit., S. 77.
488 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 91. Die intentionale Analyse der Frage: Erste Abstraktion
Nun wird diese basale, elementare und allgemeine Struktur der theoretischen Deklination der Frage als ein performativer Akt komplizierter zu erfassen, wenn man innerhalb des Felds der theoretischen Fragen die wesentliche Frage einführt. Es reicht kaum aus, hier daran zu erinnern, dass man unter der wesentlichen Frage die Frage der Form »Was ist … ?« versteht. Es handelt sich hier natürlich um eine Vereinfachung und um eine ziemlich naive begriffliche Überlappung, da diese Überlappung im Grunde genommen ein ziemlich auffallendes metatheoretisches hystero-proteron verdeckt: Der Begriff des Wesens, »ousia«, ist eingeführt, genau, um auf diese Art von Fragen zu antworten. Die Frage charakterisiert sich hier also formal für die Art der Antwort, an der sie sich orientiert, in dem Sinne, in dem die »philosophische« Bestimmung der Natur der Frage genau diese Annäherung an die Form der Frage vortäuscht. Im Gegenteil muss die zunächst intentionale und dann metatheoretische Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« sie vor allem unabhängig von der falschen Normativität der Philosophie (des mehr oder weniger »herrlichen« Seins) erfassen, da die psychologisch-formale (semantisch-syntaktische) und intentionale Struktur keinen Vorrang (außer einen Vorrang des Mangels als privative Situation) und keine Normativität anerkennen kann. In letzter Instanz ist die Frage viel neutraler, als man denkt. Doch die Einführung der wesentlichen Frage verkompliziert und artikuliert die Struktur der Frage selbst aus anderen Gründen. Zunächst, weil diese Einführung das Erfragte auf der Ebene der Diskursivität oder, um genauer zu sein, der Formalität platziert. Das bedeutet, dass man zuvor urteilt, dass es ipso facto eine Sättigung gibt, das heißt eine integrale Erfüllung der anschaulichen Leere, die das Erfragte und folglich, in der intentionalen Situation der Frage, auch das Gefragte betrifft. Diese Erfüllung, auf dem formalen und/oder diskursiven Niveau platziert, kann nur durch eine formale Anschauung und/oder einen diskursiven Akt, dessen Wahrheit vorab akzeptiert wird, gegeben sein. Ein anderer Grund besteht darin, dass die wesentliche Frage nicht einfach eine ultimative Spezifizierung der theoretischen Frage ist, sondern selbst andere Deklinationen erlaubt. Diese Deklinationen entsprechen erstens den Deklinationen des Gefragten selbst. Nun kann sich die wesentliche Frage vor allem als Frage erweisen, die ein individuiertes »Etwas« betrifft, doch es ist genau diese Individuation, die ein Problem darstellt. Wenn man die Individuation nach der beschränkten Interpretation des Prinzips aller Prinzipien (die deflatio489 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
nistische Interpretation, die nur die sinnliche Wahrnehmung akzeptiert) interpretiert, kann das Fragen nur den »Eigennamen« und die Definition betreffen. Hier erscheinen der Eigenname und die Definition natürlicherweise zusammen, da der Eigenname dort den impliziten Träger der Definition darstellt, wo man durch den Eigennamen eine Idealität erreicht. Es bleibt zu sehen, ob der Eigenname tatsächlich der Träger einer Idealität ist. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass das »Ich« in der Verbindung zwischen dem Eigennamen und der Definition versagt, da es ein Deiktisches ist. Der Fall der Frage »τί τὸ ὄν;« ist natürlicherweise ein anderer als derjenige der Frage »Was/wer bin ich?« und auch anders als derjenige der Frage »Was ist die Philosophie?«. Denn einerseits haben wir ein Gefragtes, das ein Deiktisches ist, ohne eine festgelegte Idealität, und eine an zwei Erfragten oder zweideutig Erfragtem orientierte Frage. Andererseits ist der Fall viel näher, weil die Frage die gleiche Form besitzt und auch das Gefragte sich als von der gleichen repräsentativen Unhaltbarkeit befallen erweist. Wenn die Form jedoch – im Verhältnis zur Frage »Was ist die Philosophie?« – die Gleiche bleibt, ist es das Gefragte, was sich ändert und sich genauer ändert, weil es die gleiche Mehrdeutigkeit übernimmt, die gleiche Zweideutigkeit, welche die erste Frage befiel. In der Frage nach der Philosophie war das Gefragte nicht zweideutig, sondern in sich selbst dynamisch, das heißt als quid unvollendet, als etwas nicht ontologisch und intentional Festgelegtes stabil, um darin das Wesen zu erfragen (zu befragen). Hier, in der Frage »τί τὸ ὄν;«, stellt das »ὄν« in seiner semantischen Festlegung ein Problem dar – aber nicht, wie die Artikulation des Gefragten durch Teilvorstellungen (z. B. das philein und die Sophia in der metatheoretischen Frage). In der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« wohnt man einer Vervielfältigung der Frage, im Sinne der Befragung des semantischen Werts von »ὄν«, nach dessen Wesen man fragt und es befragt, bei. Wie muss man das »ὄν« verstehen? Gibt es hier eine Unmöglichkeit der Übersetzung und folglich auch der unerforschten Natur der Bedeutung? Doch hier ist man in der Frage und spricht nicht oder noch nicht von der Bedeutung. Was man hier zu wissen wünscht, ist »gänzlich zugehörig zum Bereich der Bedeutung« (und an diesem Punkt noch nicht einmal der Idealität). Die Unmöglichkeit der Übersetzung bleibt unabhängig von der Unbestimmbarkeit der Bedeutung: Es geht tatsächlich nicht um die mysteriöse, ursprüngliche Unklarheit des griechischen Denkens, die nur ein dichterisches Denken wieder begreifen 490 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 91. Die intentionale Analyse der Frage: Erste Abstraktion
könnte. Hier stellt das »ὄν« zunächst ein Problem der semantischen Festlegung dar, weil es in dem Sinne, in dem es als Zeichen für verschiedene Idealitäten »funktioniert«, mehrwertig ist. Es handelt sich – wie wir es in der metatheoretischen Analyse sehen werden – nicht oder nicht nur um das klassische Problem der »omonumia pros en«. Das »ὄν« funktioniert hier als der Katalysator bzw. der Kreuzpunkt mehrerer Perspektiven, von denen ausgehend man erfasst, was man aufgrund einer Übersetzung sicherlich unvollständig als »Gegenstand« bezeichnet. Lassen wir all diese metatheoretischen Fragen beiseite, welche im folgenden Paragraphen festgelegt werden. Es genügt uns, zu bemerken, dass es sich zunächst einmal nicht um die Seinsfrage handelt. Das »ὄν« in der Frage »τί τὸ ὄν« funktioniert als Synthese und Konkretion von mindestens drei Perspektiven, ausgehend von welchen man die Gegenständlichkeit erfasst. Das »ὄν« ist hier ein »Gegenstand« wie »dieses Ding da«, welches sich in seinem Reichtum und seiner intuitiven Fülle zum Ausdruck bringt. Das »ὄν« ist jedoch auch der Gegenstand in seiner ereignisreichen Singularisierung, in seiner Individuation, das heißt die Bedeutung einer knowledge by acquaintance, die nicht gemäß dem deflationistischen Realismus der Wahrnehmung bzw. des empirisch Gegebenen zu verstehen ist. Der Sinn des »ὄν« ist hier der Sinn des »dieses da«, des »tode ti«. Doch es ist auch der Gegenstand der Erscheinung mit seinen charakteristischen Eigenschaften, das tragende quid von Bestimmungen. In diesem Sinn beziehen wir uns auf das »ὄν«, auf den Gegenstand als präzise bestimmten Gegenstand, als »to ti ên einai« (der metatheoretische Wert dieser Korrespondenz wird im nächsten Kapitel verdeutlicht werden). Zugleich bedeutet jedoch das »ὄν« hier seine allgemeine, invariante und von den »ontologischen« Modifikationen unabhängige Struktur: das »τί«, das »Etwas«. Dieser Sinn des »ὄν« ist der Sinn des »ὄν« als »τί«, als irgendein Gegenstand, ein Gegenstand überhaupt. Die Frage »τί τὸ ὄν« ist folglich nicht die Frage »was ist Sein?«, sondern eher eine fragende Eröffnung, welche sich nicht auf eine Grundfrage, sondern auf eine »Struktur der Fragen« reduzieren lässt, die mindestens drei Unterschiede mit einschließt: 1. 2.
Wie muss man das »Etwas« (oder einfach »irgendeinen Gegenstand«) verstehen? Wie muss man den »Gegenstand« als »präzisen Gegenstand« oder »bestimmten Gegenstand« verstehen?
491 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
3.
Wie muss man den »konkreten Gegenstand« (oder einfach das »dies«, den »instanziierten Gegenstand«) verstehen? 25
Diese Struktur der Fragen, die weder eine Struktur der Grundfragen noch eine Frage im Sinn der Seinsfrage ist, beschreibt sozusagen drei unterschiedliche Bereiche, drei topographische Regionen, die im symbolischen Moment »τί τὸ ὄν;« zusammengeschmolzen sind. »τί τὸ ὄν;« ist natürlicherweise kein symbolisches Moment, nicht weil der Gebrauch der griechischen Typographie unser alphabetisches Verständnis überschreitet, sondern weil gerade dieses Überschreiten das komplexe – und indirekte – Verhältnis zwischen dem typographischen Element und dem, was ihm eine volle Bedeutung verleiht, unterstreicht. »τί τὸ ὄν;« zeigt als symbolisches Moment zunächst eine intentionale Struktur auf, das heißt das elementare Gerüst unserer fragenden Annäherung zum Erscheinenden in seiner Polysemie, den drei Formen der »Leere«, die aus unserer alltäglichen Sacherfahrung hervorgehen. Doch das »τί τὸ ὄν;« lässt sich, wie wir schon vorgegriffen haben, nicht auf die »Struktur der Fragen« außerhalb einer jeglichen metatheoretischen Stellungnahme reduzieren. Das »τί τὸ ὄν;« wäre, indem es seine fragend artikulierte Struktur um die unnachgiebige Polysemie des Wortes »Gegenstand« beibehält, nur eine Abstraktion, falls diese als »lediglich intentionaler Akt« begriffen wird. Die Intentionalität des Aktes »τί τὸ ὄν;« oder der drei synthetisierten Akte in ihrer symbolischen Form ist lediglich eine erste – dennoch notwendige – Abstraktion. Diese intentionale Struktur der Fragen geht gleichzeitig aus einem anderen, sozusagen »nicht-intentionalen« Bereich hervor, insofern sie vom plötzlichen einfach intentionalen Auftauchen der Frage verdeckt bleibt. Das, was »τί τὸ ὄν;« in Wirklichkeit – als symbolisches Moment – zeigt, ist die Möglichkeit, mindestens drei fragende Momente anzuzeigen, das heißt die
Vgl. G. E. L. Owen, Aristotle on the Snares of Ontology. In R. Rambrough (Ed.), New Essays on Plato and Aristoteles, New York, 1965, S. 69–95. Owen individuiert drei Klassen von Fragen: »1) questions of individual existence over time, in the sense in which we say that a man or a block of ice comes into existence and goes out of existence (i. e. that the man dies or the ice melts); 2) questions of sortal existence, timelessy understood: whether there are such things« [Owen identifiziert solche Fragen mit der Benutzung des existentialen Quantors]; 3) more abstract or conceptual questions of existence in connection with items like the infinite, the void, and the subject matter of geometry.«
25
492 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion
konstitutive Polysemie des »ὄν« in seiner metatheoretischen Beschaffenheit festzulegen, welche das »hypo-« des intentionalen Epi-Phänomens repräsentiert. Man schafft es nicht, diese Polysemie festzulegen und sie, ausgehend von der einfachen Betrachtung des Akts einer der drei Fragen, als unüberwindbar anzuerkennen. In jedem dieser neutralisierten (einzeln genommenen) Akte gibt es notwendigerweise etwas, das überschreitet, einen Sinn, der entweicht. Folglich kann die Antwort auf die Frage (aus strikt logischer Sichtweise) weder jemals der Fixierung der Idealität noch natürlicherweise einer Sammlung von Anzeichen einer Instanziierung des »ὄν« oder des Gegenstands entsprechen. Das Metatheoretische ist als zweite abstrakte Komponente des symbolischen Moments »τί τὸ ὄν;« genau dasjenige, was den Überschuss der komplexen Polysemie hervorhebt, die seit der ursprünglichen Fragestellung und vielleicht schon vorher auf implizite Weise ausgearbeitet wurde.
§ 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion Das, was immer und notwendigerweise den Sinn-Überschuss des »ὄν« im Verhältnis zum nominalisierten Akt einer der drei Fragen in den Vordergrund drängt, ist ihre metatheoretische Konsistenz. Man könnte also denken, dass das Metatheoretische schlussendlich die ganze Lösung für das Problem darstellt, als ob eine Lösung durch etwas, das lediglich den Rahmen der fragenden Struktur »τί τὸ ὄν;« festlegt, gegeben werden könnte. Die metatheoretische Komplementarität bringt jedoch im Verhältnis zur »einfachen« intentionalen Struktur nicht nur keine Lösung (das heißt keine Antwort) auf die Frage, sondern sie zeigt auf, auf welche Weise diese Frage kaum dazu imstande ist, eine Antwort zu erhalten. Das, was man, von der Artikulation des symbolischen Moments ausgehend, in der Struktur der drei Fragen schon geahnt hat, ist durch die metatheoretische Analyse bestätigt, und es ist abzuwarten, ob »τί τὸ ὄν;« den Eröffnungsmoment von dem, was man »abendländische Philosophie bzw. Metaphysik« nennt, darstellt, und zwar genau als Artikulation der strukturellen Komplexität der drei Fragen, die sozusagen ineinander verwoben sind. »τί τὸ ὄν;« ist nicht nur das Anzeichen einer intentionalen Struktur des Erlebnisses (in) der Frage, sondern der Teil, der metatheoretische Knoten, ausgehend von dem sich zumindest drei 493 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
problematische Strukturen des abendländischen Denkens kreuzen. Diese Strukturen entsprechen genau diesen drei Fragen, die in der monistischen Setzung der Seinsfrage verdeckt bleiben. Hier ist die Frage »τί τὸ ὄν;« natürlicherweise kein symbolisches Element, sondern ein präziser □metatheoretischer Gegenstand, der die strukturelle und genetische Entwicklung der □metatheoretischen Komponenten der Ontologie charakterisiert, die genau hier ihren ersten gemeinsamen Punkt finden. Wenn man eine metatheoretische Analyse dieses □MG entwickelt, bemerkt man im Grunde genommen die Tatsache, dass sich seine strukturelle Stellung innerhalb dieses □MG, der die Ontologie ist, als Bild im Spiegel von »τί τὸ ὄν;« als symbolisches Element der einfach intentional fragenden Struktur erweist. Aus diesem Grund erweist sich die Tatsache, dass man »τί τὸ ὄν;« einfach als □MG behandelt, in gleicher Weise als eine Abstraktion wie die erste. Das Fragen, welche Abstraktion einen Vorrang (natürlicherweise nach dem Paar ratio cognoscendi / ratio essendi) hat, ist unnötig und unnütz. Im folgenden Paragraphen müssen wir uns im Hinblick auf die Möglichkeit befragen, auf direkte Weise dasjenige zu erfassen, dessen Abstraktion diese zwei Abstraktionen darstellen. Im Moment muss man sich an diese typisch axiologische Neutralität des »reinen Schauens« halten und auf jegliche Zuweisung eines Vorrangs verzichten. Es ist dennoch sicher, dass die Frage, die das erste Mal in der Metaphysik Aristoteles’ formuliert wurde, schon die ganze intrinsische Polysemie des »ὄν« bezeugt, und das nicht nur im einzigen Sinn, der in Sein und Zeit zum Beispiel im ersten Paragraphen auftaucht. Man könnte also behaupten, dass das Sein der »allgemeinste« Begriff ist (»to on esti katholou malista pantôn, illud quo primum cadit sub apprehensione est ens, cuius intellectus includitur in omnibus, quaecumque qui apprehendit«). 26 Man könnte ebenso behaupten, dass der »Begriff des ›Seins‹ ›undefinierbar‹ ist« 27 – sowohl bei Aristoteles als auch in der Scholastik (theologisch vom monotheistischen Götzen betroffen). Doch dies stellt vom metatheoretischen Standpunkt betrachtet schon eine extrem grobe Vereinfachung dar (ohne dadurch notwendigerweise behaupten zu wollen, dass Heidegger sich dessen
Vgl. Aristoteles, Metaph., 3, 1001, a 21; Thomas von Aquin, S. Th. II, q. 94, a 2. Zitiert nach Sein und Zeit, cit. S. 3. 27 M. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, cit., S. 5. 26
494 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion
nicht völlig bewusst war 28). Was sich als ausschlaggebend erweist, ist die Tatsache, dass das »ὄν« nach dem gefragt wird, nach dem sich alle theoretischen Komponenten des Aristoteles-Diskurses ordnen, die drei Makroteile der prôtê Epistêmê, etwas Verwandeltes (wenngleich noch nicht komplett verwandelt) und davon ausgehend selbst etwas fast nicht Fassbares ihrem ursprünglich polysemischen Inhalt nach ist. Gibt es nicht zufällig eine Polysemie, welche die Formen des pollakôs Legesthai überschreitet und einrahmt, in dem Sinne, in dem das pollakôs gerade eingeführt ist, um diese Polysemie innerhalb des eindeutig konzeptuellen Rahmens festzulegen? Nota bene: »Eindeutig« ist hier der konzeptuelle Rahmen des »legein« und nicht des »legomenon« als solchem. Woher kommt das »ὄν«, das in der Frage gefragt wird? Steht es als äußerste mereologische Einheit des □MG als etwas zur Diskussion, dessen □Logos man noch erfragen kann? In ebendiesem Sinn kann man von einer Kristallisierung, von einer Sublimierung des »ὄν« der Frage sprechen. Das »ὄν« ist ebenso wie das Gefragte innerhalb der Frage, da Antwort nichts anderes als die prôtê Epistêmê ist, kaum ein terminus a quo und aus diesem Grund wird prôtê Epistêmê lediglich anzeigen, wie man das »ὄν« ausdrückt und schlussendlich nicht, was es ist. Und das stellt keine Banalität dar. Ohne von dort aus in die philologischen Diskussionen zurückzukehren, die dennoch willkommen waren, muss man daran erinnern, dass das Wort und der Gebrauch des »ὄν« bei Aristoteles eine Geschichte, bzw. genauer einen □Logos haben. Wir könnten auch hinzufügen, dass nur bei Aristoteles, in seiner meisterhaften Systematisierung der philosophischen Problematik, das »ὄν« stricto sensu ein Ausdruck der Philosophie wird. Man könnte dennoch einwenden, dass es schon in Platons Sophistes (wo Platon die Metaphysik des Abendlandes gründet) ein »ὄν« gibt. 29 Selbst viel früher, im ersten Fragment von Anaximander, spricht man davon im Plural. Es gibt es bei Zenon 30 und bei Melissos 31 und auch weit vorher bei Parmenides, da, wo die Problematik des Seins zum ersten Mal gestellt wird. 32 Es genügt keine Sensibilität oder eine vage philosophische GelehrsamVgl. W. von Hermann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, cit., S. 21– 43. 29 Vgl. Platon, Soph., 254 d. 30 Vgl. Zenon, Fr. 1, in Fragmente der Vorsokratiker, cit., Bd. 1, S. 155. 31 Vgl. Melissos, Fr. 7, Ebd. S. 270. 32 Dennoch setzt eine solche Behauptung eine extrem naive Schau der Geschichte der Philosophie voraus, die der Geschichte der Philosophie im Comic sehr nahesteht, die 28
495 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
keit, um dort eine Polysemie zu erfassen, die außerhalb des »Philosophischen« bleibt – ohne dass die Polysemie dadurch zu einer fremdartigen mystischen Natur zurückgeführt werden müsste. Man muss zur Wurzel des Gebrauchs des »ὄν« (im Singular) und des »ὄντα« (im Plural) gehen, einem essentiell alltäglichen, nicht philosophischen Gebrauch, um wenigstens zu versuchen, die Polysemie zu erfassen. Wenn die Polysemie des griechischen Alltags zum Beispiel auch die Hylê, die Chôra und viele andere philosophische Übertragungen der Ausdrücke betrifft, deren Gebrauch bekannt ist, ist die Sache mit dem »ὄν« eindeutig und nicht zufällig. Weit entfernt davon, uns in einer detaillierten philologischen Analyse zu engagieren, müssen wir in erster Linie auf zwei Momente Acht geben: 33 Die Hypostase des »ὄν« als megiston Genos im Sophistes und die Festlegung des »ὄν« als terminus technicus bei Aristoteles. Beides ist vom metatheoretischen Standpunkt natürlicherweise weder identisch noch banal. Bei Platon kann man dazu sagen, dass das »ὄν« bis zum Sophistes, wo es eine »Struktur« und folglich ein □MG wird, kein philosophischer Ausdruck ist. Das »ὄν« des Sophistes zeigt sich als Möglichkeit einer Lösung des Problems der Metexis nach dem tritos Anthrôpos 34: Eine solche Lösung kann natürlicherweise nicht mehr in die Aporie einer Wiederholung innerhalb der Formen, der Verhältnisse zwischen den Gegenständen und den Formen selbst, zurückfallen. Diese Unmöglichkeit verhält sich so, dass das innerhalb der hypothetischen Lösung dieser Probleme stehende »ὄν« mehrdeutig ist: Es ist Partizip und Substantiv einerseits und es behält – andererseits – das pragmatisch linguistische Wesen der konkreten Sprache bei, indem es sich gleichzeitig in das Herz der ersten Entstehung eines philosophischen Lexikons hinein projiziert. In jedem Fall bleibt es nicht mehr als ein metatheoretisches Stück der Figur »koinonia tôn genôn«, 35 als erstes Moment einer Entstehung, die, als strukturierende Methode, das Seiende, das »ὄν«, als Hypostase charakterisiert (ohne sich in letzter Zeit im Umlauf befindet (und welche ein Zeichen der Zeit ist, als ob die Gelegenheit eine Struktur bezeuge). 33 Es genügt uns zitieren Ch. H. Kahn, Linguistic Relativism and the Greek Project of Ontology. In G. M. Sprung (Ed.) The question of Being, Pennsylvania, 1977, S. 31–44; J. Hintikka, The varieties of Being in Aristotle. In The logic of Being, Dordrecht, 1986, S. 81–114. Siehe hierzu auch Ch. H. Kahn, Existence Does Not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy. In Essays on Being, cit. 34 Vgl. Platon, Parm., 132 a – 133 a. 35 Vgl. Platon, Soph., 254 c.
496 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion
ihm trotzdem den gleichen Charakter der Hypostase des Begriffs als »idea«, »eidos« zuzuweisen). Bei Aristoteles offenbart sich das »ὄν«, weit davon entfernt, als ein Teil einer Doktrin zu erscheinen, und wird der Schnitt- und Fluchtpunkt verschiedenartiger problematischer Instanzen, die Phänomene zu verstehen. Das »ὄν« der Frage ist nicht das Sein, ist weder das Seiende als graue Formalität, das heißt schon im ontologisch-formalen Sinn, noch eine normative Struktur des Verständnisses. Bei näherem Hinsehen »ist die Frage der Metaphysik in ihrem Zentrum, welches die Ontologie ist, nicht das Sein, sondern ein Netz von [problematischen] Konzeptionen: das Mögliche, das Wesen, der Gegenstand, das Ereignis etc.« 36. Man muss diese Behauptung noch einmal auf metatheoretische Weise lesen, das heißt ihr die Beschaffenheit der strengen Analyse auf ein »Etwas« geben. Diese Auslegung bildet das Gerüst der problematischen Konzeptionen, den Knoten, durch den die Kette und das Gerüst des »ὄν« hindurch verlaufen. Nicht mehr, doch auch nicht weniger als das. Das »ὄν« erscheint schließlich als Schlussstein jeglicher metatheoretischen Architektur, jeder Fragestellung der »prôtê epistêmê«, ohne dadurch eine präzise begriffliche Bedeutung, eine Idealität zu haben. Das »ὄν« ist innerhalb der Frage »τί τὸ ὄν« ohne (eine) Idealität, seine Beschaffenheit ist das Ergebnis der systematischen Übereinstimmung mehrerer Probleme, die Ausdrucksformen betreffen. Aus diesem Grund gibt es das »ὄν« der Frage nicht mehr in dem Sinne, in dem es ein Sein als mystische Entität gäbe, welches alles Seiende in seinem Sein charakterisiert. Was das »ὄν« charakterisiert, ist die Geschichte der Bestimmung bzw. Begrenzung der Phänomenalität – einer Phänomenalität, die, wenigstens in der aristotelischen Untersuchung, schon nach den Dimensionen des Verstehens sich umgestaltet. Diese Skizze des vieldimensionalen Verständnisses gibt, bis zu Aristoteles und selbst über Aristoteles hinaus, niemals die Polysemie auf, die sich aus der Sedimentierung des alltäglichen Gebrauchs zur Kategorisierung einer Sprache und einer philosophischen Grammatik erhebt. Das »ὄν« der Frage ist weder das Sein noch der kristallisierte Gegenstand der Ontologie, sondern das, was gleichzeitig mehreren Instanzen des Verständnisses und des alltäglichen Gebrauchs entgegenkommt, von dem ausgehend sich der Ausdruck hervorhebt, um der Knoten der prôtê Epistêmê als □MG zu werden. Einerseits 36
F. Nef, Qu’est-ce que la métaphysique, Paris, 2004, S. 16.
497 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel IX Die Metaontologie
ist das »ὄν« das »pollakôs legomenon« (interpretiert nach den Verhältnissen, die dieses »Sagen« mit den Theorien der Bewegung, der Möglichkeit etc. unterhält), andererseits ist das »ὄν« das Ganze der Ausdrücke, die wir auf mehrere Arten und Weisen übersetzen können: Die Sachen des alltäglichen Lebens, die Sachen der Natur, der in Frage gestellte Gegenstand, der Gegenstand des Diskurses etc. Das Moment der Festlegung des »ὄν« in der Frage ist das Eröffnungsmoment der Metaphysik als Knoten von Instanzen des Verstehens, es ist das Beharren eines alltäglich sedimentierten Gebrauchs, welcher nicht in den Raum der aufkeimenden Metaphysik zurückkehrt und dessen Grenzen bestimmt. Wenn das wahr ist, wenn das »ὄν« der Frage, das »ὄν« als Gefragtes, seine (selbst paronymische) Kategorisierung übersteigt und seine Paronymie erhält, wenn sich diese Paronymie an die Paronymie des »phainesthai«, des »phainomenon« bindet, muss man nicht (oder nicht nur) das Verhältnis zwischen der Ontologie und der Phänomenologie reflektieren, sondern auch das Verhältnis zwischen den Instanzen des phänomenologischen Verstehens (im weiteren Sinne) und dem, was sich durch den geöffneten Raum der meta-ontologischen Situation zeigt.
498 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
§ 93. Metaontologie vs. Metaphysik Das Problem, das sich am Anfang der vorhergehenden Analysen klar stellte, bestand darin, eine gemeinsame Wirklichkeit jenseits von zwei Abstraktionen zu denken. In anderen Worten: Ist es möglich, zu denken, auf eine klare (oder einfach anschauliche) Weise zu begreifen, woher diese zwei Abstraktionen kommen und wovon sie Abstraktionen bleiben, nämlich begriffliche, partielle Visionen? Die Versuchung war tatsächlich, zu behaupten – dogmatisch (wie sonst) –, dass keine dieser zwei Abstraktionen ein terminus ad quem ist, sondern, dass sie zwei provisorische Stufen sind, um zu etwas anderem zu führen, nämlich dem Ontologischen bzw. dem Metaontologischen. Diese Versuchung bewirkt im Grunde nichts anderes, als der metaphysischen Tendenz zu folgen, deren Inkonsistenz genau Anlass gibt a) zu den metatheoretischen Analysen und b) zur Entstehung der metaontologischen Situation als solcher. »Jenseits« gibt es sicherlich weder ein Sein noch, ganz offensichtlich, ein autrement qu’être – das durch eine gewisse Phänomenologie entwickelt wurde, stimuliert und eingebunden in der »theologischen« Interpretation des epekeina tês Ousias. Im Moment, rebus sic stantibus, erscheint die metaphysische Überwindung den zwei Abstraktionen unmöglich. Das, worum es hier geht, ist genau zu verstehen. In welchem Sinne kann dieses »jenseits« aufgefasst werden? In welchem Sinne kann man die zwei Aspekte der Frage (phänomenologisch und metatheoretisch) aufrechterhalten? Sie sind a) als notwendigerweise komplementär und b) als propädeutisch für das Verständnis des Metaontologischen als solches (das heißt als »Perspektive« und niemals als »Gegenstand«) zu betrachten. Die zwei Abstraktionen sind nicht als Abstraktionen von einer metaphysisch souveränen Wirklichkeit oder von einer metaphysisch zu vereinigenden oder totalisierenden Realität (das Ziel einer pleromatischen 499 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
Sehnsucht als rationale Argumentation verkleidet) zu verstehen. Das, wovon diese zwei Abstraktionen Abstraktionen sind, ist wieder einmal die Einheit einer privativen Situation, die sich dieses Mal nicht als eine privative Situation des ganz einfachen Individuums (dieser Mensch hier oder dieser Mensch dort) herausstellt, sondern als privative Situation der Menschheit in ihrer allgemein theoretischen Einstellung. In der Tat tritt die Notwendigkeit, die Frage »τί τὸ ὄν;« ausgehend von diesen beiden Perspektiven zu behandeln (die sich ihrerseits auf zwei privative Situationen gründet, die »existentiale« und die »epistemische«), hervor. Es geht um eine Art allgemeinere privative Situation, die nur die Unmöglichkeit bestimmt, die Privativität der Erfahrung als solche zu überschreiten, sowohl vom Standpunkt der Perspektive des Individuums als auch vom Standpunkt der epistemischen (bzw. theoretischen) Perspektive des Wissens. In diesem Sinn stellen sich die intentionale Analyse (welche die Frage selbst nach den Strukturen der Frage auffasst, jedoch unabhängig von jeglicher Tradition) sowie die metatheoretische Analyse der Frage (die diese Struktur als historisch anders bestimmt individuiert, das heißt als □MG) nur als zwei perspektivisch konvergente Linien zu einem einzelnen Punkt heraus. Um diesen Punkt aufzufassen oder, noch genauer, um zu verstehen, welche topologische Struktur diese Konvergenz zeigt, können wir von einer These ausgehen: »Das Phänomen der Phänomenologie war zu guter Letzt … nichts anderes als die griechische Erscheinung.« 1 Ohne in die »philologischen« oder »historisch-philosophischen« Details der These zurückkehren zu wollen, müssen wir bemerken, dass sie mit einem kritischen Geist formuliert ist, als ob man – richtig – über diese Erscheinung hinaus oder jenseits des Sinnes dieser Erscheinung gehen könnte, in Richtung einer totalisierenden Erfahrungsform, als Antwort auf die Sehnsucht zu einer pleromatischen Existenz. In der Tat bewirkt die Phänomenologie – in ihrem ursprünglichen und ursprünglich rationalistischen Geist – nur eine radikale Ersetzung der Jenseitsphilosophie von fast zwei Jahrtausenden Erforschung des Pleromas, der Sensucht zur Totalität als Sättigung der anthropologisch-privativen, existentialen wie epistemischen Situation. Das, was die Phänomenologie wesentlich wieder einrichtet – jenM. Henry, Quatre principes de la phénoménologie, in Phénoménologie de la vie, I, Paris, 2004, S. 77–104, S. 89.
1
500 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 93. Metaontologie vs. Metaphysik
seits aller Bibliotheken, die man über dieses oder jenes Thema schreiben kann –, ist das profunde, intime Bewusstsein der wesentlichen Fremdheit, der fundamentalen Angst des Individuums angesichts des Reichtums und der Relativität (ex defintione an-axiologisch) der Erscheinung. Die Reduktion des Menschen, der Welt, von Gott [infra § 129], so sehr getadelt, entspricht – und folgt notwendigerweise als Korollar – dem plötzlichen Rückgang in die Situation der totalen Öffnung zur Erscheinung, die sich voraussetzungslos als unüberschreitbar gezeigt hat. In diesem Sinne zeigt die Phänomenologie (als interrogative und deskriptive Einstellung), indem sie diese Situation der totalen Öffnung zu den Phänomenen anerkennt (in welcher das Individuum nackt ist) die Möglichkeit einer historischen und (meta)theoretisch neutralen Interpretation der Frage. In diesem Sinne, gemäß der phänomenologischen Einstellung, ist die Frage »τί τὸ ὄν;« in ihrer Strukturalität (auch der semantischen) nur die erste Reaktion auf das Bewusstsein dieser verwirrenden Eröffnung. Die Frage ist ein Befragungsakt nach dem Sinn dessen, das es in diesem Ausmaß von relativen Erscheinungen und ohne axiologische Ablaufplanung gibt. Dasjenige, das jedenfalls von der »historischen« Phänomenologie wieder in Betracht kommt, ist eine fast unumgängliche Kontamination zwischen dem Phänomenologischen und dem Ontologischen. Und gerade wegen der Abwesenheit einer metatheoretischen Perspektive bleibt diese Kontamination der Ursprung der mystischen Derivate dieser »Einstellung«. Die Kristallisierung der deskriptiven Einstellung in der Theorie – ohne Bezug auf die »Logik« des Metatheoretischen, die wir im zweiten Abschnitt beschrieben haben – bewirkt also, dass die Phänomenologie nicht nur die Öffnung zur Erscheinung erneuert, welche die Voraussetzung der Frage als »Akt« ist, sondern auch versucht, eine Systematisierung der Erscheinung als Ontologie zu geben. Das Metatheoretische trennt schließlich die Einstellung jeder phänomenologischen Analyse von der Tendenz, eine holistische Ontologie zu entwickeln, und hebt das Projekt einer Ontologie auf, die als Antwort auf die Beunruhigung der Öffnung auf die Erscheinung dienen sollte. In diesem Sinne bewirkt die Analyse der Ontologie – oder, um es besser zu sagen, der phänomenologische Ansatz zur Ontologie als theoretisches Problem – nichts anderes als die intrinsische Unentschlossenheit gegenüber jeglicher Ontologie als solcher. In diesem Sinne lässt der phänomenologische Ansatz zur Ontologie, das heißt das Projekt der theoretischen Systematisierung der Erscheinung in 501 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
ihrer (an-axiologischen) Relativität, die fast notwendige Emergenz von gewissen Strukturen erkennen, die in ihrer theoretischen und epistemischen Einstellung die Bestimmung des »ὄν« ins Auge fassen, ohne dadurch eine fundamentale Einheit erreichen zu können. Eine derartige Analyse zeigt also nicht die Möglichkeit einer Ontologie, sondern die Emergenz von Strukturen – oder von einem System von Strukturen –, die den theoretischen Ansatz des Denkens zur Öffnung der Erscheinung artikuliert. Dasjenige, worauf es hier hinausläuft, ist gerade die Emergenz, das Auftauchen, einer anderen Form der Erscheinung, nämlich der Erscheinung von theoretischen Strukturen, die zur Irreduzibilität der Erscheinung eines epistemisch eindeutigen Ansatzes konvergieren (und diese voraussetzen): Ontologien, in ihrer Pluralität und in ihrer Relativität. Dadurch ist auf die meta-ontologische Situation selbst hingewiesen. Von der Seite der individuellen Erfahrung betrachtet, zeigt sich die Situation als Öffnung, eine irreduzible und unüberschreitbare Öffnung eines jeden zur Erfahrung und zur Erscheinung, in ihrem Ausmaß und in ihrer befremdlichen Relativität. Vom meta-theoretischen Standpunkt, das heißt vom Standpunkt der Erfahrung der theoretischen Einstellung, zeigt diese Situation die Emergenz, die Entstehung von Strukturen, die niemals den Reichtum und die Komplexität jener phänomenalen Erscheinung in einem einzigartigen und eindeutigen Modell konstitutiv erschöpfen. Wenn sich folglich einerseits die phänomenologische Ontologie als ein hölzernes Eisen erweist, dann erweist sich eine ontologisch deklinierte Metatheorie (das heißt eine Metaontologie als systematische Theorie von Ontologien) als eine Chimäre. Denn die phänomenologische Ontologie – das heißt die Reduktion der »phainomena« auf das »ὄν« und des »ὄν« in seiner Polysemie auf den »Gegenstand« einer eindeutigen Bestimmung – löst ihre eigene Bedingung auf, nämlich die irreduzible Öffnung der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsmodi. Folglich gibt es entweder die Phänomenologie oder die Ontologie (einzigartig, weder relativiert noch pluralisiert): Die Phänomenologie kann nur die theoretische Artikulation der Struktur der Frage und nicht ihre Antwort artikulieren. Ansonsten würde man ihr zur eigenen Auslöschung oder Verwandlung zur Metaphysik behelfen. Gleichzeitig könnte eine Theorie der Ontologien niemals systematisch im Sinne des Axiomatischen sein, niemals ihre Vollständigkeit erreichen, indem sie sich als Theorie der Gegenstandstheorie darstellt, ohne als □MG Gegenstand zu sein. Die Metaontologie bzw. das Metaontologische ist also weder das 502 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 94. Die meta-ontologische Schwelle und ihre Dimensionalität
teleologische Ziel einer axiomatischen Vervollkommnung (oder Erweiterung) der Ontologie, die daraus eine maximale Theorie würde, noch das theologische oder eschatologische Ergebnis einer Offenbarung, die der irreduziblen Vielzahl der Erscheinung, den »phainomena« einen Sinn geben würde. Die Metaontologie ist vor allem nichts anderes als eine Schwelle, der Ort der Konvergenz zweier Unmöglichkeiten: die Unmöglichkeit, der Theôria einen ultimativen Gegenstand zuzuschreiben (denn das benötigt einen eindeutigen Gegenstandsbegriff), und die Unmöglichkeit, aus der Theôria des Gegenstands selbst einen Gegenstand zu erzeugen. Jedoch ist es zugleich diese Schwelle, die sich – wenn sie oft erreicht wird – als eine Dimension erweist.
§ 94. Die meta-ontologische Schwelle und ihre Dimensionalität Zwischen der Behauptung, der zufolge die Metaontologie nichts anderes als eine Schwelle ist (genauer definiert durch die Konvergenz zweier Unmöglichkeiten), und der Behauptung, der zufolge sich dieselbe Schwelle als eine bestehende Dimension erweist, ist offensichtlich eine Diskrepanz. Diese Diskrepanz besteht genau genommen in der Passivität, die zwei Analysen der Frage »τί τὸ ὄν;« noch als zwei bestimmte Abstraktionen durch zwei Betrachtungsfelder aufzufassen. Im Gegenteil stellt sich die Fähigkeit, die Sache anzuschauen, von denen die Frage genau handelt, ausgehend von einer neuen thematischen Öffnung dar. Wenn man so will, stellt die Komplementarität und die Spekularität der beiden Analysen eine andere Art des Einsamen dar, den kritischen Moment, ab welchem sich eine abstrahierende Analyse als unzureichend erweist. Eo ipso und durch eine Art Gestaltwechsel drängt sich die Metaontologie als ein selbstständiges Element auf. Dasjenige, das für die □MG gelang, das heißt die Tatsache, als etwas anschaulich sich Zeigendes anerkannt zu sein, gelingt auch für die Momente einer Erfahrung im Inneren der metaontologischen Situation. Die metaontologische Situation ist ein Kontext: Folglich nimmt das, was sich in diesem Kontext (als klar charakterisiert) zeigt, eine Verhaltensstabilität bzw. eine morphologische Stabilität an. Man kann diese Stabilitätsform nicht nur als Thema einer idealisierenden Abstraktion betrachten, sondern auch als selbstständige Gegenständlichkeit, die an sich und von sich selbst 503 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
gibt. In diesem Sinne gelangt man dazu, den Sinn der metaontologischen Dimensionalität zu erkennen. Die Frage »τί τὸ ὄν;« ist, als neutralisiertes Element, nicht nur ein Teil der □MG »Ontologie« oder »prôtê epistêmê«, sondern ein wesentlich metonymisches Element. Hier zeigt sich eine Metonymie, wie wir sie übrigens in den Fragen »Was/wer bin ich?« und »Was ist die Philosophie?« bemerkt haben. Dieses metonymische Element zeigt in erster Linie: 1) Die Unmöglichkeit, zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage zu gelangen. 2) Das Gewebe der problematischen und strukturellen Relationen, welche die Frage selbst unterstützen. Die Frage »τί τὸ ὄν;« ist also in der metaontologischen Perspektive kein Akt, der auf irgendeine Erfüllung orientiert sein kann, sondern ein Widersinn, der die Aporien von jeder »Theorie des Seins« oder »Gegenstandstheorie« mit holistischen Absichten anzieht (und synthetisiert). Jedoch ist es gerade nicht die Sprache, das heißt der semantische Code der Formulierung der Frage, der die Vieldeutigkeit bewirkt. Ihre Vieldeutigkeit besteht in derselben metatheoretischen Natur. »τί τὸ ὄν;« ist folglich nur der symbolische Ausdruck eines □MG und des Öffnungsmoments einer metaontologischen Perspektive.
§ 95. Die Vieldeutigkeit der Frage Warum ist die Frage vieldeutig? Warum wurde diese Vieldeutigkeit durch eine bessere sprachliche oder semantische Formulierung nicht getilgt (und kann auf konstitutive Weise nicht getilgt werden)? Warum erscheint die Frage durch eine konstitutive Vieldeutigkeit bestimmt? Ist die Frage vieldeutig, weil die Feststellung ihres Gefragten notwendigerweise andere Befragungen erfragt? Um diese Typologie von Vieldeutigkeit zu klären – analog, aber nicht identisch zur Zweideutigkeit der Frage »Was/wer bin ich?« und zu derjenigen der Frage »Was ist die Philosophie?« –, müssen wir für einen Moment darauf zurückkommen, was wir im vorhergehenden Kapitel über die Zweideutigkeit vorweggenommen haben. Um das zu tun, gilt es noch einmal, die Wichtigkeit des Perspektivenwechsels und der Schau zu wiederholen, die uns erlaubt, im »τί τὸ ὄν;« nicht nur ein neutralisiertes Erlebnis wiederzuerkennen, sondern einen □MG mit der Öffnung, 504 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 95. Die Vieldeutigkeit der Frage
die diese Schau impliziert, nämlich die Möglichkeit struktureller Auffassungen. Der Ausdruck »τί τὸ ὄν;« ist eine Struktur. Folglich enthüllt die Struktur des »τί τὸ ὄν;« – als Struktur einer gewissen Erfahrung der Phänomenalität – eine doppelte Unmöglichkeit: a.
b.
ins naive Stadium der Frage zurückzukehren, ohne ipso facto gezwungen zu sein, sich über den unvollständigen Sinn der Frage als Akt und über seine notwendigen Komplemente auszufragen; die Phänomenalität auf die Grammatik des Seins zu reduzieren.
Wenn man den Akt und seine Motivation (nämlich, dass man durch die Frage wissen will) betrachtet und wenn man ihn in filigran seiner metatheoretische Strukturalität betrachtet, sieht man etwas anderes. »τί τὸ ὄν;« ist nicht nur ein Knoten (oder Punkt, oder Begriff) im metatheoretischen Sinne des Begriffs, sondern der gordische Knoten der Metaphysik. Diese Eigenschaft ist gerade erfassbar, wenn man vom metatheoretischen Standpunkt aus dasjenige betrachtet, was die Komplemente des Aktes sind. Wir hatten gesehen, dass man die Konvergenz des Fragens nach drei Koordinaten exemplifizieren könnte: 1. 2. 3.
Wie muss man das »Etwas« (oder einfach »irgendeinen Gegenstand«) verstehen? Wie muss man den »Gegenstand« als »präzisen Gegenstand« oder »bestimmten Gegenstand« verstehen? Wie muss man den »konkreten Gegenstand« (oder einfach das »dies«, den »instanziierten Gegenstand«) verstehen?
Man könnte diese Achsen des ontologischen Fragens (oder diese drei Dimensionen der traditionellen Ontologie selbst) präziser definieren [infra § 118]. Das »ὄν«, wonach man fragt, ist mehrwertig, da es sich, vollbracht durch das philosophische Bewusstsein des Abendlands, als Wortführer oder als Thema der Wiederzusammensetzung einer Verteilung darstellt. Das »ὄν« ist der Name einer formalen und allgemeinen Struktur. Es ist das Vehikel von mannigfachen empirischen Charakteristika, das Instanziierte. In der Tat vollzieht man in der zeitgenössischen Ontologie eine Reduktion dadurch, dass man nur zwei Fragen zulässt: »What is there?« und »What is what there is?«. Jedoch handelt es sich nur um eine illusorische Reduktion, die das Problem des Ontologischen von seiner eigenen meta-ontologischen Dimension trennt. Jedoch erweist sich »τί τὸ ὄν;« unabhängig von den Formulierungen als vieldeutig. Abseits der steten Formulierungen, 505 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
zeigt das »τί τὸ ὄν;« seine Vieldeutigkeit nicht durch das Bedürfnis von Komplementen zu einer ontologisch singulären Frage als Akt, die für die Auffassung seines Sinns notwendig sind. Das »τί τὸ ὄν;« ist aber gleichzeitig das metonymische Moment der Spekularität zwischen der intentionalen Sprache des Individuums und der Erscheinung als solcher. Diese intentionale Sprache weist eine interne, historische (genetische) wie strukturelle Artikulation auf und beruht, weit weg von jeglicher mythischen Teleologie, auf einer Non-Konformität bezüglich desjenigen, das sich manifestiert. Das Element »τί τὸ ὄν;«, wiedererkannt als □MG, fixiert viel eher als das Fragment von Parmenides die Erschließung des Individuums zur Öffnung der Phänomenalität und konsequenterweise zu einer Diskrepanz. Die Frage stellt die Diskrepanz, die Diskrepanz der Non-Identität zwischen dem Denken (der intentionalen Sprache) und dem Sein (der Erscheinung) selbst als unüberschreitbar fest. In diesem Sinne ist die Vieldeutigkeit der Frage, nämlich der Vielzahl der Sinne des »ὄν«, von denen ausgehend man Definitionen (oder Systeme von unterschiedlichen Bestimmungen) geben kann, aufgefasst. Durch eine solche Auffassung erscheint eigentlich ihre eigene Dynamik, mit der man sich auf die strukturellen Verbindungen konzentrieren kann. Diese strukturellen Verbindungen betreffen die Ontologie (und nicht das Sein) und ihr Verhältnis zum Sinnmangel auf der einen und zur Metaphysik auf der anderen Seite.
§ 96. Vieldeutigkeit und Metaphysik Die Öffnung der metaontologischen Perspektive hebt die Sakralität der Verbindung auf, welche die klassische Metaphysik (vom kritischen Standpunkt) wesentlich unangreifbar gelassen hatte. Nach dieser Metaphysik sollte die metaphysische Fortsetzung des ontologischen Denkens etwas Unumgängliches bleiben. Die »Geste« der Fortsetzung der Ontologie in der »Metaphysik« – als sedimentierte Geste, als Weise des blinden Gehens in einem Raum (dem meta-ontologischen Raum) – besteht auch dort, wo sich die klassische Ontologie in der Phänomenologie oder der analytischen Philosophie versteckt. Die Versuchung ist zu stark, der Instinkt zu sehr sedimentiert, um dazu zu gelangen, den terminus a quo und, auf wirkliche Weise, den terminus ad quem von dieser Geste zu denken, ohne ihn akritisch 506 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 96. Vieldeutigkeit und Metaphysik
vorauszusetzen. Diese beiden Elemente sind in Wahrheit nichts anderes als eine Hypostase, oder das Ergebnis einer Hypostase: vor allem des Sinnes, des Sinnes des Seins – als mythologische Antwort auf unsere menschlichen, allzu menschlichen Sorgen, eine erste und letzte Struktur zu finden, der Mythos einer Antwort auf unsere epistemischen Beunruhigungen, die eine Art von Sublimierung jener Sorgen sind. Der Sinn des Seins ist nicht eine Erfindung Heideggers. Trotz aller (sogar hartnäckiger) Kritik, die man an der heideggerschen Weise, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen (und an vielen anderen Fragen), üben kann, gibt Heidegger dieser »Geste« einen Namen. Dennoch ist diese Weise, die Frage zu stellen, nichts anderes als ein säkularisiertes Residuum der Weise, durch welche die christliche Theologie die Frage nach dem Sinn stellt, und hierin beruhen seine Grenzen. Jedenfalls ist die Benennung, die am Ende der Metaphysik stattfindet und dort, wo man der Grundlagenkrise der Wissenschaften beiwohnt, gerade wichtig, weil sie feststellt oder diese Bewegung klar intendiert: Es ist kein Zufall, dass eben nach dieser Benennung der Name der Metaontologie – obwohl auf völlig und absolut unkritische Weise – erscheint. 2 Jedoch repräsentiert der Sinn von Sein zugleich eine Hypostase und eine Synthese der Versuche, sowohl auf die existentialen als auch auf die epistemischen Sorgen zu antworten, die sich aus der privativen Situation herauskristallisieren, die sich im Projekt der Rekonstitution der Einheit der Erscheinung offenlegt. Doch in dieser Synthese präsentiert sich der Sinn der Doppeldeutigkeit der Metaphysik als eine leere (oder unvollständige) Architektur der Rekonstitution. Denn die Metaphysik enthält in sich eine konstitutive Doppeldeutigkeit, sowohl aus struktureller Sicht als auch aus historischer. In der Tat ist der Sinn der Metaphysik in seinem allumfassenden Sinn genau die Synthese zwischen der prôtê Epistêmê und der Theologie des Augustinus. Die eine war der Versuch, auf die Sorgen der griechischen Form der Theôria zu antworten, die andere der Versuch, auf den Identitätsbedarf des desorientierten Menschen der spätantiken Zeit zu antworten. In diesem Sinne ist es Augustinus (durch die Rhetorik geprägt), der zum ersten Mal und auf meisterhafte Weise diese Doppeldeutigkeit einleitete und der sie im Mittelalter in der Form der philosophia ancilla theologiae überstieg.
2
Vgl. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, cit.
507 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
Obgleich er den Vorrang zwischen Philosophie und Theologie umkehrt, erneuert Descartes gerade die Zweideutigkeit in der Form einer Metaphysik, die von jeglicher traditionellen Theologie befreit ist. Die Benennung selbst »Onto-theo-logie« fixiert in ihrer eigenen Formulierung eo ipso das Zweideutige selbst, das sich in der Form einer persönlichen Meditation manifestiert, die sich wiederum auf die Fundierung der Wissenschaft richtet. Das Genie von Descartes nimmt die Spätfolgen des Augustinismus in dem Sinne hin, in dem er die Form selbst der Meditation als soliloquium entwickelt, welche ihn aber daran hindert, den augustinischen Grund der Metaphysik als christliche Metaphysik zu verlassen. Denn die Form der Meditation ist durch die doppeldeutige Synthese selbst bestimmt, welche die Metaphysik belebt. Es geht um die Synthese zwischen einer existentialen Frage und einer epistemischen/ontologischen Frage, die ihre Antwort allein in etwas Hypostatischem finden können. Ein solches »Etwas« sollte außerhalb der Phänomenalität (des Endlichen) bleiben und der Phänomenalität Sinn geben. Der Gottesbeweis gibt der Wissenschaft, die nur eine epistemische, einzig kohärente Darstellung erfüllen kann, Sinn, und er gibt dem Individuum Sinn, das einen neuen Sinn von seinem »In-der-Welt-Sein« (durch die Wissenschaft) finden will, nachdem man die Anthropologie und die scholastische Kosmologie geleert, geleugnet und überstiegen hat. Dort, wo die onto-theo-logische Metaphysik tödlich verwundet ist, ist die Metaphysik mit Kant und dem deutschen Idealismus nicht verleugnet, da die – noch einheitliche und nicht-relativierte – Ontologie noch die Basis für den Übergang zur Metaphysik bleibt, die dieses Mal eine Metaphysik des Willens wird. Die Ontologie, um es noch einmal zu wiederholen, ist nicht die Metaphysik, doch sie erweist sich als Unterstützung der Metaphysik für eine Bewegung, die von der Sinnfrage zur ultimativen Antwort führt. Der klarste Beweis der Notwendigkeit der Ontologie für die Metaphysik ist gerade die Philosophie Nietzsches, in der eine reine Metaphysik des Willens ohne Ontologie eo ipso die Implosion der Metaphysik selbst darstellt. Als letzte Stufe der Erosion des Grundes der Ontologie als Stützpunkt – um eine metaphysisch letzte Antwort zu geben – erweist sich eine Metaphysik des absoluten Willens als ebenso unnütz wie eine Metaphysik des absoluten, monolithischen Seins einer Art, wie sie der Eleatismus vorstellt. Weder das eine noch das andere lassen die Bewegung der ultimativen Sinngebung ausführen. Dies zeigt genau, dass die Ontologie – einzigartig und nicht-relati508 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 97. Die Doppeldeutigkeit jenseits der Metaphysik: »On what there is«
viert – für den Gebrauch und den Konsum des Menschen geschaffen ist, welcher der psychischen, kollektiven Pathologie des Sinns, das heißt der letzten Wahrheit, unterliegt. In diesem Sinn erfragt die Frage »τί τὸ ὄν;« dasjenige, das es gibt, und »Was gibt es?« fragend, kann sie nur fragen: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« Die Frage »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« ist also nur diejenige, die der Verlauf des Bewusstwerdens der Metaphysik erreicht, die an die Theologie gebunden ist. In diesem Erreichen bereitet sich der Boden für die Metaphysik des Willens. Die Doppeldeutigkeit der klassischen Metaphysik besteht also im Vorstellen einer instrumentellen Frage als rein theoretische Frage, im Vernebeln des Raumes, in dem sich die Fragen, die das Sein betreffen, verorten, weil es letztendlich keine einzige Frage geben kann. Die Doppeldeutigkeit der Metaphysik enthüllt sich also gerade dort, wo die gute Frage gestellt wird, dort, wo »τί τὸ ὄν;« in eine philosophisch adäquate Form rückübersetzt wird, wo die Frage inadäquat erscheint. Das ereignet sich in der Formulierung der Frage in der Form »What is there?«.
§ 97. Die Doppeldeutigkeit jenseits der Metaphysik: »On what there is« In der Geschichte des abendländischen Denkens ist es dem Denken selten gelungen, sich so radikal und auf solch geniale und klare Weise in eine Problematik zu vertiefen, wie Quine es mit der Ontologie gelungen ist. Es ist hilfreich, das Incipit von »On what there is?« zu wiederholen: »A curious thing about the ontological problem is its simplicity. It can be put in three Anglo-Saxon monosyllables: »What is there?« It can be answered, moreover, in a word – »Everything« – and everyone will accept this answer as true. However, this is merely to say that there is what there is. There remains room for disagreement over cases; and so the issue has stayed alive down the centuries.« 3
Quine konzentriert sich sofort auf zwei Aspekte: Die allgemeine, aber notwendige Antwort und die offene Problematik durch die partikulären Fälle. Diese Problematik ist der uneingeweihte Akt einer wesent3
W. v. O. Quine, From a logical point of view, cit., S. 1.
509 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
lich metaontologischen Befragung. 4 Jedenfalls hängt die Frage daran, welche die metaontologische Befragung von Quine einleitet, jedoch nur kraft der Annahme des Bewusstseins, dass die alleinig mögliche Antwort eine sinnlose Antwort ist (oder ohne jede Nützlichkeit für das Verständnis): »Alles.« Tatsächlich kann jemand nur auf diese Weise auf eine auf den ersten Blick sehr einfache Frage antworten, beeinflusst eben von der Einfachheit, welche die Figur der niemals in Frage gestellten Ontologie bezüglich ihrer internen und externen Struktur charakterisiert. Es ist also nur kraft der Erfahrung des Metatheoretischen, dass diese zwei Strukturen oder diese zwei Klassen von strukturellen Relationen, intern und extern, als etwas Fragwürdiges erscheinen können. Die Antwort selbst ist also der Hinweis auf die konstitutive Unvollständigkeit, welche die Ontologie affektiert. Aber was bedeutet die »Unvollständigkeit« der Ontologie genau? Wie könnte die Ontologie unvollständig sein? Die Unvollständigkeit der Ontologie beruht eben auf der Tatsache, dass sie niemals ausschließlich in der Definition eines Verarbeitungssystems von möglichen Antworten auf die Frage »What is there?« bestehen kann. So gestellt lässt die Frage zumindest ex necessitate eine andere Frage zu, die notwendigerweise mit der ersten einher geht, und die auf die Präsenz einer metaphysischen Instanz im Inneren des metaontologisch offenen Raums durch die Befragung des »ὄν« oder durch das being-there, das Da-seiende, hinweist. In diesem Sinn fügt man notwendigerweise zum Element der Befragung »what is there?« die Frage »What is what there is?«, die nicht die Stellung der Ontologie klärt, sondern einzig ihre Zweideutigkeit. Dieses letzte Element wäre die Frage, welche die Metaphysik charakterisiert. 5 Jedoch ist es gerade diese Kopplung zwischen zwei Fragen und den beiden Disziplinen, die Licht auf die Doppeldeutigkeit der Ontologie (verstanden aus einer holistischen und definitiven Perspektive) wirft. Die Reduktion des metaontologischen Raums auf nur diese beiden Elemente, auf die Kopplung zwischen den zwei Elementen (die selbst nicht als □MG wiedererkannt sind) und auf die beiden Fragen erscheint als ein fürchterlicher Fehler. Diese Reduktion, in ihrer Erstickung, trägt eindeutig dazu bei, die thematische Öffnung der MeVgl. P. van Inwagen, Meta-ontology, Erkenntnis, 48, 1998: 233–250. Vgl. A. Varzi, On doing Ontology without Metaphysics, Philosophical Perspectives, 25, 2011 : 407–423.
4 5
510 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 97. Die Doppeldeutigkeit jenseits der Metaphysik: »On what there is«
taontologie festzustellen, da jegliche Ontologie, die sich unter der Form vorstellt, zeitgenössisch, erhalten durch einen gewissen Einfluss von Quine, ihren Bezug zur Metaphysik diskutieren muss. Und dies ist völlig abhängig von einer meta-ontologischen Öffnung, auch wenn diese Abhängigkeit auf explizite oder implizite Weise aufgefasst ist. In der zeitgenössischen Debatte (bevölkert durch mehrere Meta-X ohne irgendein Kriterium, um ihre Ordnung und Konsistenz spekulativ aufzufassen) verbindet man die Aufgabe, eine Antwort auf die Frage »What is there?« zu finden, mit der Ontologie, und diejenige, eine Antwort auf die Frage »What is what is there?« zu finden, mit der Metaphysik. Entweder ist die Metaphysik einer Ontologie vorgängig, oder umgekehrt. Im zweiten Fall fände man sich einer sehr unverständlichen oder zweifelhaften Position gegenüber. 6 Es ist tatsächlich ziemlich komisch, zu denken, dass die Ontologie eine Art Bestandsaufnahme des Existierenden aufsetzen soll, desjenigen, das es gibt, aus zwei und genau zwei Gründen, die einerseits von Hacker 7 und andererseits von Bianchi und Bottani 8 vorgetragen wurden. Auf der einen Seite erscheint es sehr komisch, das heißt vermessen und obsolet, zu denken, dass es die Angelegenheit der Ontologie und der professionellen Ontologen sei, der Menschheit zu sagen, was existiert oder was nicht existiert. Man stelle sich einen modernen Ontologen vor, der ex cathedra deklariert, was existiert: »Hier, meine Damen und Herren, ist das, was wir als existierend vorschlagen! Weil es letztendlich das ist, worum es sich handelt!« In diesem Sinn kann man sehr gut mit Hacker übereinstimmen, dass die Ontologie letztlich nur Katalogen folgen müsste, die aus partikulären Wissenschaften hervorgehen. Doch, wie wir sehen werden [infra § 98–99, 105], ist es einzig ein viel umfangreicherer Weg der metaontologischen Horizontbeschreibung, der eine derartig pragmatische Annahme legitimieren kann, die andernfalls willkürlich wäre. Es gibt allerdings noch einen anderen, logischen Grund, um an dieser vorrangigen Stellung der Ontologie in Bezug zur Metaphysik zu zweifeln, nämlich gerade, dass dieser Ontologe mit seinen Mitarbeitern oder seinen besonnenen Kollegen eine vorläufige Bestandsauf-
Vgl. A. Varzi, Ontologia, Roma-Bari, 2008. Vgl. P. M. S. Hacker, Events, Ontology and Grammar, Philosophy, 57, 1982: 477– 486. 8 Vgl. C. Bianchi – A. Bottani, Introduzione : metafisica, ontologia e significato, in C. Bianchi – A. Bottani (Ed.), Significato e ontologia, Milano, 2003, S. 7–23. 6 7
511 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
nahme von demjenigen hätte erstellen müssen, das als etwas gedacht ist, um dann im Inneren dieses Felds dasjenige zu umgrenzen, was wirklich existiert. Und in diesem Fall wäre das Aufsetzen der ex cathedra proklamierten Bestandsaufnahme schon weit festgesetzt in der Metaphysik und die Metaphysik des »what is what there is« würde sich genau auf einer Beschränkung des Felds von »etwas«, des »Denkbaren« gründen, um zu der ontologischen Dimension der Bestandsaufnahme zu führen. In diesem Sinne ist die Metaphysik schon in der Ontologie derart, dass sie als vorläufiges Kapitel dargestellt ist, das schon das Schlechteste der metaphysischen Einstellungen angenommen haben muss, dass heißt, man muss entschieden haben, was dasjenige ist, welches das »being there« entscheidet, um es danach einer augenscheinlich rein deskriptiven Metaphysik zuzuschreiben. Die Bestimmung der Natur des Existierenden, dessen Bestandsaufnahme von der Ontologie aufgesetzt wurde, ist eine Entscheidung über den Existenzcharakter, die auf konstitutive Weise willkürlich bleibt. Entweder ist die Metaphysik mit Ontologie durchsetzt oder sie ist ihr vorhergehend. Die These des Vorrangs, prä- oder post-phänomenologisch, 9 wird von mehreren Autoren behauptet 10 und geht aus der unserer Meinung nach legitimen Umkehrung von der metatheoretischen Zuschreibung zwischen den Fragen und den Disziplinen hervor. Varzi folgend, erkennen wir diese Umkehrung tatsächlich wieder, nach welcher dasjenige die Metaphysik wäre, das entscheidet, »what is there?«, und der Ontologie übrig lässt, zu sagen »what is what (there) is?«, was einzig deskriptiv und auf das Existierende begrenzt wäre. Doch selbst wenn man der metatheoretischen Zuschreibung zustimmt, würde der Einwand derselbe bleiben, zumal man in der Tat ohne eine vorläufige ontologische Befragung nie zu einem beschränkten Feld der ontologischen Beschreibung, beschrieben durch die metaphysische Zuschreibung eines Existenzkriteriums, gelangen könnte. Die Metaphysik muss, das sei noch einmal betont, von Vgl. A. Meinong, Über Gegenstandstheorie, cit.; R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle, 1931. 10 Vgl. G. Bergmann, Two Types of Linguistic Philosophy, Review of Metaphysics, 5, 1967: 417–438; I. Johansson, Ontological Investigations, London, 1989; R. Grossmann, The Existence of the World, London, 1992; R. Chisholm, A Realistic Theory of Categories, Cambridge, 1996 und J. J. E. Gracia, Metaphysics and Its Tasks, Albany, 1999, doch allen voran A. Thomasson, Fiction and Metaphysics, Cambridge, 1999 und Categories, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2004. 9
512 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 98. Die beiden Sinne der Doppeldeutigkeit
etwas vorangestellt werden. Wenn dieses »Etwas« nicht die Ontologie ist – als einfache deskriptive Bestimmung des Existierenden – muss es die thematische Öffnung der Gegenständlichkeitsformen sein. Und an diesem Punkt, inmitten dieser naiven Dichotomien, setzt sich allmählich die Unterscheidung zwischen formaler Ontologie und materialer Ontologie fest, die dazu beiträgt, die opake Oberfläche einer ambiguen Ontologie bezüglich ihrer externen Bezüge zu durchdringen.
§ 98. Die beiden Sinne der Doppeldeutigkeit und die Bedeutungen der Metaphysik Jedoch versteckt der Götze einer Ontologie ohne jegliche interne Artikulation hinter dem Schein einer extremen Finesse einen traurigen Mangel. Es geht um eine Ontologie, die sich auf kurzsichtige und autistische Weise auf das Existierende (das Vorurteil zugunsten des Wirklichen) oder auf dasjenige, worüber man entschieden hat, dass es das Existierende ist, konzentriert, indem eine solche Ontologie die Debatten und die Befragungen dessen, was zu diesem Wirklichen gehört oder was nicht, wuchern lässt. Dieser Mangel stellt genau die Tatsache heraus, welche die Ontologie ohne ihren eigenen Horizont gemäß der Komplexität ihrer eben externen Relationen nicht aufgefasst hat: Sie wird nämlich nicht als Gegenstand (überdies als ein sedimentierter Gegenstand) betrachtet und folglich nicht ihrer ersten und fundamentalsten internen Artikulation entsprechend aufgefasst, die dadurch die Probleme zwischen formaler 11 und materialer Ontologie 12 bestimmt. Diese Unterscheidung löst die Probleme nicht. Sie zeigt jedoch, wenn sie als Thema einer meta-ontologischen Analyse angenommen wird, die unauflösliche Natur der Fragen über den Vor11 Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, cit., Hua. 17, S. 82. Wir finden die Bestimmung der formalen Ontologie als »Apriorische Gegenstandslehre« in Ebd. S. 154; vgl. auch Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester 1917/18, Hua. 30, S. 367. B. Smith, An Essay on formal Ontology, Grazer Philosophische Studien, 6, 1978: 39–62; B. Smith – K. Mulligan, Framework for Formal Ontology, Topoi, 3, 1983: 73–85. 12 Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., S. 11, 36; Erfahrung und Urteil, cit., S. 435; Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914), Hua. 28, S. 302; Hua. 30, S. 371. Siehe hierzu auch L. Albertazzi, Formal and Material Ontology, in R. Poli – P. Simons (Eds.), Formal Ontology, S. 199–232; R. Poli, Ontologia formale, Genova, 1992, S. 51–54.
513 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
rang zwischen Ontologie und Metaphysik sowie einer gewissen Menge von Fragen, die metaphysische Bedürfnisse wieder aufnehmen und die das letzte Wort über das Existierende ausdrücken wollen. Wenn man tatsächlich die formale Ontologie als algebraisches Bestimmungssystem der Struktur irgendeines Gegenstands betrachtet (nämlich die leere Form eines Gegenstands überhaupt), kann man das materiale Apriori und die regionale Ontologie als die Deklination einer solchen Form betrachten, eine Deklination, die notwendigerweise impliziert, dass die rein formalen Prädikate einen repräsentativen Träger erwerben: Die Eigenschaft P1 wird zu »Farbe«, folglich P1 = {Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett …}, die Eigenschaft P2 wird zu »Form«, die Eigenschaft P3 wird zu »molekulare Charakteristik« usw. dekliniert. Konsequenterweise sollte die ontologische Verpflichtung nur auf diese oder jene materiale Ontologie angewendet werden, um genau zu sagen, welche materiale Ontologie oder welche materialen Ontologien das Gebiet des Existierenden (bzw. des Wirklichen) erschöpfen. Doch dem ist nicht so. Warum sollte man nicht Verpflichtungen über die ontologischformalen Strukturen annehmen? Welche Unrechtmäßigkeit würde – bezüglich der Verpflichtungen über die Existenz der Spaziergänge, der Begierden, der social networks oder der Telefonanrufe – eine Stellungnahme über die Existenz der »Eigenschaften«, der »Relationen« usw. zeigen? Und der Großteil der zeitgenössischen Metaphysik fährt nur fort, tausende und abertausende von Publikationen über die Verpflichtungen zu formalen Strukturen, die Universalien, die Eigenschaften, die Tropen usw. zu veröffentlichen. Folglich gibt es einerseits eine Metaphysik, die nicht die interne und wesentlich problematische Artikulation zwischen formaler Ontologie und materialer Ontologie berücksichtigt. Andererseits gibt es jedoch eine andere Metaphysik (oder eine andere Form von Metaphysik), die sich verpflichtet, die Existenz der Gegenständlichkeiten, die zu der formalen Ontologie und nicht zu einer (oder mehreren) materialen Ontologie gehören, zu beweisen. Warum also nicht eine Theorie, die sich verpflichtet, die Existenz einer materialen Ontologie und die von Gegenstände der formalen Ontologie, nämlich einer Klasse von Gegenständen und Strukturen, die sie charakterisieren, zu beweisen, aufstellen? Diese zweiköpfige Metaphysik wäre nicht absurder oder widersprüchlicher als andere Formen der Metaphysik, die z. B. behaupten könnten: »Es existieren die physischen Gegenstände und die Universalien« oder »Es existieren die physischen Gegenstände und die Uni514 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 98. Die beiden Sinne der Doppeldeutigkeit
versalien, aber nur diejenigen Universalien, die den Gegenstand der Physik bestimmen«. Die interne Artikulation der Ontologie bestimmt nicht nur ihre Zweideutigkeit bezüglich der vereinfachten Versionen der Beziehung zwischen Ontologie und Metaphysik, sondern erweitert auch die Ladung der intrinsischen Doppeldeutigkeit zu einer modellierten Metaphysik über ein Bedürfnis und über eine beschränkte und nicht-modularisierte Schau der Ontologie. Dieses Bedürfnis und diese Vision sind nichts anderes als das meta-ontologisch blinde Bedürfnis, etwas als »das Letzte« (fetischistisch als »letztendliche Struktur des Realen« interpretiert) zu bestimmen. Warum könnte man sich nicht zur Existenz aller Ontologien, der materialen und der formalen zugleich, also zum blühendsten Realismus verpflichten? Welche Gründe kann ein sparsamer Ontologe schließlich hervorbringen? Ex falso quodlibet! Jede Hypothese könnte gleichfalls die richtige sein. Rekapitulieren wir folglich die verschiedenen Situationen der Doppeldeutigkeit. 1.
2.
Es gibt eine erste Kopplung zwischen Fragen (»What is there?«, »What is what there is?«) und Theorien (Ontologie, Metaphysik), die der Ontologie die Bestimmung der Existierenden (bzw. der Wirklichen) und der Metaphysik die Definition dieses Existierenden zuschreibt. Damit die Ontologie in diesem Sinne aus der ganzen Palette des Denkbaren entscheiden kann, was existiert und was nicht existiert, müsste sie einer impliziten Metaphysik der ontologischen Verpflichtung folgen und die metaphysische Analyse der Bestandsaufnahme vorwegnehmen. Folglich wäre sie entweder der Metaphysik sowohl vorgängig als auch nachfolgend, oder sie wäre ein extrem schwacher Teil der Metaphysik selbst. Es gibt eine zweite Kopplung zwischen Fragen und Theorien. Die Ontologie bestimmt, was ein Gegenstand ist (und die Klassen von Gegenständen), dessen Existenz wiederum die Metaphysik definiert. In diesem Sinne gäbe es zum einen eine Krypto-Ontologie, welche die Palette der Ontologien anordnet, von denen die Metaphysik entscheidet, welche zugelassen werden und welche entfernt werden, und zum anderen eine explizite Ontologie, die bescheiden beschreibt, was die Metaphysik entschieden hat. In diesem Sinne wäre die Ontologie der Metaphysik vorgängig und nachfolgend, jedoch nicht im ersten Sinne einer Verdopplung der Metaphysik, sondern einer Verdopplung der Ontologie.
Jedoch sammeln sich diese beiden Situationen miteinander und bestimmen eine doppelte Situation der Ungewissheit: Man weiß nicht nur nicht, welche Funktion man welchem □MG zuschreibt, sondern 515 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
man weiß auch nicht mehr, womit man anfängt: durch die Bestandsaufnahme des Denkbaren, durch das Kriterium der existentialen Situation, durch die Definition der Ontologie oder der Metaphysik? Dies geschieht überdies im Einleiten der Stille über die Ontologie und über ihre interne Artikulation, die nicht die Doppeldeutigkeit der Ontologie im Inneren, sondern die Doppeldeutigkeit der Metaphysik nach einem anderen Sinn bestimmt. Die Ontologie, die den Bereich ausgewählter Gegenstände als existierende beschreibt, wäre nur eine Beschreibungspraxis einer materialen Ontologie, ohne zu erzählen, dass es eben die Artikulation zwischen formaler Ontologie und materialen Ontologien zu betrachten gilt. Wenn man also diese Artikulation betrachtet, hätte man drei Formen der metaphysisch möglichen Praxis: eine Form der ontologischen Verpflichtung zur materialen Ontologie, eine Form der Verpflichtung zur formalen Ontologie und schließlich eine Form der Verpflichtung zu beiden zugleich oder zu mehreren materialen Ontologien und zu deren ontologisch-formalen Strukturen. In diesem Sinne ist die zentrale Figur der Metaphysik, die so sehr in Mode ist, marginalisiert durch eine Öffnung der einzig ontologisch möglichen Pluralität (und der Relativität) auf der Grundlage des klaren Verständnisses des meta-ontologischen Horizonts, in welchem sie sich manifestiert.
§ 99. Ontologische Relativität und metaontologischer Raum Der Akt der Ausgrenzung der Metaphysik ist also kein willkürlicher Akt, sondern etwas, das – im Rahmen und im theoretischen Vorgehen der Entwicklung – notwendigerweise der Hypothesenentwicklung folgt, welche die möglichen Beziehungen mit der Ontologie betreffen, wenn man diese Beziehungen sowohl als interne (Teil/Ganzes) als auch als externe betrachtet. Die Ausgrenzung der Metaphysik ist also in jeder Form, die sie annehmen kann (der Charakterisierung folgend, die wir der Ontologie geben) unumgänglich, weil man sich einer Definition der Ontologie verpflichtet, die ihr gleichfalls eine funktionale Charakterisierung verleihen kann. Wenn jedoch die Ausgrenzung nicht gleichwertig zur Negation ist, dann setzt die Einschreibung der pluralisierten Ontologie in einen metaontologischen Raum eo ipso die Metaphysik für jede Bedeutung, die man ihr geben kann, in Klammern, wenn diese Bedeutung an die metatheoretische Definition der Ontologie gebunden ist. Die aberwitzige Hypothese, 516 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 99. Ontologische Relativität und metaontologischer Raum
eine Metaphysik ohne Ontologie einleiten zu können, wird aufgrund der Tatsache nicht berücksichtigt, dass eine Metaphysik ohne Ontologie eine gegenstandslose Metaphysik (sowohl im Sinne einer Überschreitung der Ontologie als auch einer Verpflichtung zu dieser Ontologie) wäre. Es ist also wirklich zu bemerken, dass: a)
b)
die Zuschreibung irgendeiner Verbindung zwischen Metaphysik und Ontologie die Ontologie selbst pluralisiert, kraft der internen Artikulation zwischen formaler Ontologie und materialen Ontologien; eine solche Zuschreibung den Raum verschiedener Formen der Ontologie öffnet, kraft ihrer eigenen Materialität bzw. Regionalität.
In diesem Sinne ist der Gebrauch der Syntagmen »materiales Apriori« und »regionale Ontologie« aus meta-ontologischer Sicht identisch, eben weil er den metaontologischen Horizont als Öffnung von möglichen Konfigurationen der Gegenständlichkeitsformen voraussetzt. Der meta-ontologische Horizont lässt, in der Einführung der eher absoluten Relativität unter den Gegenständlichkeitsformen (oder unter den begrifflichen Bestimmungsstrukturen der Gegenständlichkeit), nicht nur die betrachteten konkreten Formen der Ontologie (die Ontologien, welche die natürlichen Gegenstände, die sozialen Objekte, die Objekte der Informatik und jede andere Form betreffen) zu, sondern auch die formale Ontologie als solche, weil sie, als Bestimmungsform, nur in diesen Horizont zurückkommen kann, ohne deshalb darin eine gewisse Stellung zu finden. Die ontologische Relativität, die Quine 13 und Husserl (trotz aller möglichen Differenzen) verbindet, besteht im Folgenden: Weil man von der Ontologie spricht, bezieht man sich auf ein System oder auf eine Bestimmungsstruktur der Gegenständlichkeitsform, zufolge welcher der Ausdruck »etwas« – und die Relationsformen, die dieser Ausdruck mit sich führt – eine bestimmte Bedeutung hat (inklusive der Hypothese, eine »leere« Vorstellung zu haben). Es ist also wahr, dass die Rede von »Ontologie« als »materialer Ontologie« eine Form der Relativierung, auf eine radikalere Weise, schon ankündigt. Diese Vgl. W. v. O. Quine, Ontological Relativity. In Ontological Relativity and other Essays, S. 67: »Thus ontology can be multiply relative, multiply meaningless apart from a background theory. Besides being unable to say in absolute terms just what the object are, we are sometimes unable even to distinguish objectively between referential quantification and a substitutional counterfeit. When we do relativize these matters to a background theory, moreover, the relativization itself has two components: relativity to the choice of ›background theory‹ and relativity to the choice of how to translate the object theory into the background theory.«
13
517 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
Gefahr der Relativierung war in der nicht-kritischen Perspektive einer natürlichen Fortentwicklung der Metaphysik und der Ontologie noch nicht gedacht, während die ontologische Relativität auf eine Struktur oder auf eine Situation der Öffnung zu einer topologischen Struktur hinweist, die nichts mit dem horror vacui des Relativs als Ergebnis einer Relativierung zu tun hat. Die Ontologien im metaontologischen Raum sind wesentlich homogene Bestimmungen, gleichermaßen vorrangs- und hierarchielos. Es gibt keine Vorrangstellung im metaontologischen Raum und die Ontologien werden in ihrer potentiellen Unendlichkeit und in ihrer axiologischen Neutralisierung betrachtet. Im metaontologischen Horizont gibt es keinen Vorrang einer epistemischen Ontologie vor einer Ontologie des Gewöhnlichen bzw. des Alltäglichen und umgekehrt. Das öffnet auch eine mögliche Kombinatorik von hybriden Ontologien, die durch die Implementierung, die Zerschneidung oder die Kreuzung von schon existierenden Ontologien [infra § 119–120] konstruiert und modelliert werden können. Jedoch bleibt das Problem, dass die Grenzenlosigkeit des meta-ontologischen Horizonts, sein Bevölkert-Sein durch eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von möglichen Ontologien (sogar den bizarrsten), ex principio nicht ermöglicht, irgendetwas über die Bestandsaufnahme der Welt zu behaupten. Eine solche Grenzenlosigkeit ermöglicht nicht nur die Möglichkeit, in diesem Horizont keinen vorrangigen Ort zu wählen oder ein vorrangiges Objekt auszuwählen, das sich hier zeigt, sondern es ermöglicht auch keinerlei Behauptung darüber, welche oder wie viele Ontologien schließlich in diese Bestandsaufnahme (oder in eine mögliche Form der Bestandsaufnahme) eingeschrieben werden können. Dennoch riskiert der augenscheinliche Reichtum dieses Horizonts, der sich mit den verschiedensten Ontologien bevölkert, das Wesentliche zu verschleiern. Was wesentlich ist, ist nicht der demographische Schritt eines solchen Horizonts, sondern das kontextuelle Wesen jeglicher Ontologie als solche, die an sich etwas Proliferatives ist, wobei sie der Genese neuer Erfahrungs- bzw. Erkenntniskontexte folgt. Wenn es nicht eine festgesetzte Anzahl an materialen Ontologien gibt, sodass der Raum des »Etwas« restlos zerschnitten wird, wenn dieser Raum in einen Horizont verwandelt wird, in eine elastische Öffnung, dann wird die Ontologie etwas Kontextabhängiges, das nichts in re hat, sondern einzig propter dictum seu visum. Es sind die Erfahrungs- bzw. Erkenntnisformen als kontextuelle Formen, welche dieser oder jener anderen Erfahrung bzw. Erkenntnis ihre ent518 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 99. Ontologische Relativität und metaontologischer Raum
sprechende Ontologie vorschreiben und welche auf die mögliche logische oder algebraische Formalisierung hinweisen und welche eo ipso die Relativität einer solchen Ontologie bestätigen. Die Öffnung des metaontologischen Horizonts bewirkt also nur die Enthüllung der Ontologie als das, was sie ist, nämlich ein kontextueller Raum im Inneren, von dem es eine Deklination einer gewissen formalen Bestimmungsstruktur des »Etwas« gibt. Die wahre ontologische Relativität kann nur in der Kontextualisierung der Ontologie selbst bestehen, das heißt in der Behauptung, dass jegliche Ontologie nichts anderes ist als kontextuelle Sicht, ausgehend von der man das »Etwas« und die Prädikate, die mit ihm formal verbunden sind, dekliniert. Eine ontologische Relativität kann sich nur auf zwei entgegengesetzte und einander ausschließende Positionen gründen: Entweder denkt man, dass die Formen der Ontologie irgendwo in die Natur, in die Realität, in das Verständnis usw. eingeschrieben sind, oder man denkt, dass die Plastizität ihres Hervortretens und ihrer gegenseitigen Hybridisierung die Praxis intentionaler Sprachen wieder aufnimmt. Die erste Position ist offensichtlich dogmatisch und widersprüchlich, weil die Relativität schließlich bis zum Ende keine Relativität wäre, und um eine falsche, kontrollierte Relativität zu sein, muss sie sich auf eine Metaphysik stützen, deren Aufhebung, wie wir gesehen haben, die Voraussetzung für die ontologische Relativität ist. Die Ontologie, in ihrer Relativität außerhalb jeder Metaphysik verstanden, ist strikt an den Kontext gebunden, weil sie nur die gegenständliche Bezugnahme der Erfahrung auf den Sinn des Kontexts bewirkt, und der Kontext die Gründe der Festsetzung von besonderen (in den meisten Fällen impliziten) Individuationsprotokollen generiert. 14 Der Kontext, der eine gewisse Erfahrungsform entfaltet, entfaltet gleichzeitig implizit – das heißt gemäß impliziter Annahmen, die sich im Hintergrund halten und die Überzeugung bestimmen – Individuationskoordinaten der thematischen Singularität, einer gewissen Form des »Etwas«. Und die Ontologie stellt explizit das dar, worüber sich eine Individuation orientieren kann. In diesem metaontologischen Horizont, in dem man eine wesentliche Verknüpfung zwischen Ontologie und Kontextualität wiedererkennt – nämlich Vgl. M. Gabriel, The Meanings of »Existence« and the Contingency of Sense, Speculations: A Journal of speculative Realism, 4, 2013: 74–83 und Id., Fields of sense. A New Realist Ontology, Edinburgh, 2015, Kapp. 5–6, S. 135–186.
14
519 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
zwischen Ontologie und einem Sinnfeld –, kann man jede Ontologie nur als lokative Ontologie wiedererkennen, ohne dadurch den idealistischen Irrtum zu begehen, alles »Konkrete« in einer lokativen Ontologie als existierend zu betrachten.
§ 100. Metaontologie und Anschauung Dieser Irrtum wäre eine Form von erweiterter Metaphysik, die für jede Form der (relativierten) Ontologie eine Existenzform zuließe, das heißt, die auf dogmatische Weise jede Gegenständlichkeitsform mit einer Existenz und daher mit einer Anschauung verbünde. Eine solche Verbindung gründet sich über die Voraussetzung, dass die Gegenständlichkeit, die als ontologisch-materiales Konkretum besteht, gleichzeitig existiert. Das »Konkretum« ist als Bestehendes inmitten einer materialen Ontologie nicht das Existierende 15 – nicht, weil es nicht existieren kann, sondern weil es ganz einfach ein Element ist, eine Gegenständlichkeit, die sich im meta-ontologischen Horizont als Gegenstand in dieser thematischen Öffnung gibt. Wenn tatsächlich jeder Gegenstand ein in einem Sinnfeld bestehend existierender ist, müsste man denken, dass der Gegenstand x sowohl als □metaontologischer Gegenstand 16 als auch zugleich als individuiert (bzw. instanziiert) tout court existiert. Diese beiden Existenz-modi zeigen, dass die Universalisierung der Existenz als einfach Verbundenes zu einem Sinnfeld völlig unsinnig ist. Dasselbe Konkretum würde in einem Sinnfeld (allein aufgrund seiner konkreten Seinsbestimmung in einer materialen Ontologie) und zugleich nach irgendeiner Anschauungsform existieren. Das konkrete Individuum in einer materialen Ontologie ist kaum das Existierende. Ex converso: Das Existierende existiert nicht allein durch seine Konkretheit in dieser oder in jener Theorie bzw. Sinngestaltung. Folglich haben die Bedingungen der Konkretheit in einer materialen Ontologie mit der Existenz nichts zu tun, sondern allein mit der Bestimmungsform, die eine solche Ontologie einer bestimmten Deklination des »Etwas« und den strukturell verbundenen Prädikaten zuschreiben kann. In anderen Worten: Die meta-ontologische Betrachtung der Konkretheit eines GegenDies ist die These des Neomeinongianisumus. Vgl. G. Priest, Towards Non-Being. The Logic and Metaphysics of Intentionality, Oxford, 2005. 16 Der kontextuelle Operator hat hier denselben Sinn wie für □MG. 15
520 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 100. Metaontologie und Anschauung
stands in seiner Ontologie ist unabhängig von jedem Diskurs, der die Individuation betrifft, ohne welchen die Unabhängigkeit als inflationärer Drift der Ontologie interpretiert wäre. Dass dies unabhängig vom Diskurs der Individuation ist, bewirkt keinen deskriptiven Ansatz der Metaontologie als Beschreibung von lokativen Ontologien, es befreit nicht von der Inflation der Existenz. Die Region des meta-ontologischen Horizonts, die als materiale Ontologie definiert ist und gerade dadurch lokativ nichts anderes ist als die Einheit der Prädikate, die auf mehr oder weniger scharfsinnige Weise »ein Konkretum« definieren, verleiht der Deklination des »Etwas« als intentionale Polarisierung ihren bestimmten Gegenständlichkeitsgehalt. Die materiale Ontologie betrifft explizit die Gegebenheit des Konkretums nach einer lokativen Form. Im Inneren jedes kognitiven und empirischen Kontexts – dessen materiale Ontologie die Formalisierung des »Etwas« nach der intentionalen Polarisierungsform dekliniert –, also im Inneren jeglicher Form des Theôrein, hat die Rede von Objekten einen Sinn aufgrund der Möglichkeit, Individuationsprotokolle zu konkretisieren, d. h. das »Etwas« in einer Erfahrungs- bzw. Erkenntnis-Konkretion individuieren zu können. In jeder Region des metaontologischen Horizonts haben die ontologisch-formalen Begriffe wie »Gegenstand«, »Ereignis«, »Sachverhalt«, »Ganzes«, »Teil«, »Unabhängigkeit«, »Nicht-Unabhängigkeit«, »Eigenschaft« usw. einen Gehalt, einen bestimmten Sinn, indem sie so die Erscheinung, das Wirkliche auf eine gewisse Weise und nicht auf eine andere ausschneiden. Die These, dass die Lokativität eine metaphysische Rolle spielt, muss notwendigerweise auf die Anschauung als Stütz-Punkt der Existenz oder auf eine gröbere und primitivere Individuationsidee rekurrieren – vorausgesetzt, dass sie imstande sei, die Anschauung zu definieren, ohne sie weder auf eine erbärmliche Form der Wahrnehmung zu reduzieren, noch zu vergrößern, indem sie sich im Ununterscheidbaren auflöst. Was die phänomenologische Analyse zu leisten vermag, ist einer solchen Metaontologie nicht gegeben: ein ausreichender Begriff von Anschauung, von dem aus sich die Unzulänglichkeit für jeglichen metaontologischen Gebrauch bzw. für jeglichen metaphysischen Gebrauch, der auf der ontologischen Position der Relativität ausgehend vom metaontologischen Horizont gegründet ist, aufzeigen lässt. Gerade vor den Logischen Untersuchungen, in den Studien zur elementaren Logik, skizziert Husserl eine erste fundamentale Definition der Anschauung: »Angeschaut ist, was immanenter repräsentiert, was 521 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
bloß intendierter Gegenstand eines gewissen, vorstellenden Aktes ist.« Husserl fährt fort: »Nur was für sich bemerkt ist, kann als angeschaut bezeichnet werden. Blicke ich auf das vor mir liegende Messer, dann ist nur das Messer angeschaut und nicht gleichzeitig der unbeachtete, für sich zu keinerlei Gegenständlichkeit durchdringende Hintergrund. Nur mit dem eben Herausgehobenen bin ich besonders beschäftigt, nur darauf habe ich es abgesehen, nur dieses schaue ich an.« 17
Die Anschauung verbindet sich mit der Gegenständlichkeit, das reine und einfache »einen Gegenstand haben«. Das, was also schließlich die Anschauung kennzeichnet, ist der Charakter der »Zuwendung-zu«, das »auf-etwas-Gerichtetsein«, die Gerichtetheit auf, ohne die es keine Assimilierung der Anschauung und der Aufmerksamkeit gibt. Jenseits dieser Assimilierung stellen wir jetzt eine sehr minimale Bestimmung der Anschauung auf, die von der kognitiven und intentionalen Analyse abgeleitet und daher mit ihr kompatibel ist. Wir könnten die Anschauung als kognitive Situation bestimmen, durch welche der Geist einem Gehalt zugewandt ist, ein Erlebnis, durch welches sich eine unmittelbare Polarität des Geistes zur Sache vollzieht – wobei »Sache« im weitest möglichen Sinne des Begriffs verstanden wird. Allerdings ist diese Bestimmung ganz offensichtlich sehr unbefriedigend, da sie die Intentionalität selbst mit der intentionalen Auffassung identifiziert, ohne weitergehend die Gegebenheitsart der Gegenständlichkeit zu qualifizieren. Wenn die »Zuwendung-zu« nichts anderes als ein anderer Name der Intentionalität, nur eine der Formen der Aufmerksamkeit ist, kann die Anschauung aus diesem einfachen Grund kaum mit der Intentionalität identifiziert werden. Wenn es also eine Diskrepanz zwischen der Intentionalität als kognitiv fundamentaler Modalität des Bewusstseins und dem Bemerken, der Aufmerksamkeit gibt, gibt es auch eine fundamentale Diskrepanz zwischen dem, »das einfach intendiert wird«, und dem, was demgegenüber »angeschaut« ist. Um grob über das Problem zu sprechen, aber auch, um das Problem auf etwas effektivere Weise zu fixieren: Alles, was angeschaut ist, muss intendiert sein, wohingegen alles, was intendiert ist, nicht zwangsweise angeschaut ist, das heißt, dass es sich nicht zwangsläufig nach der Modalität der Anschauung gibt. Als Folge ist die An17
E. Husserl, Aufsätze und Rezensionen (1890–1910), Hua. 22, S. 113.
522 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 100. Metaontologie und Anschauung
schauung das kognitive Moment, das sich als am engsten mit der Singularität verbunden erweist, und folglich das einzige Element, welches als dazu geeignet individuiert sein könnte, die ontologische Relativität in die Metaphysik zu übersetzen. Der Hinweis auf die Beziehung zwischen Anschauung und Singularität, also die Existenz (vom metaphysischen Standpunkt aus) reicht nicht aus. Wenn wir wirklich behaupten, dass die Anschauung die kognitive Situation ist, in welcher die Intentionalität mit einer Singularität in Beziehung gebracht wird, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Singularität zu bestimmen, um eine etwas weniger vage Bestimmung von »Anschauung« zu erhalten. Was ist die Singularität? Ganz offensichtlich gibt es verschiedene Weisen, die Singularität zu verstehen. Ohne – im Moment – das fast unendlich lange Verzeichnis von möglichen Bestimmungen der Singularität zu öffnen, begrenzen wir uns auf drei Bedeutungen der Singularität, die wir anführen, und deren Aufklärung uns progressiv zur Bestimmung der Beziehung zwischen Anschauung und Singularität führen wird. Es gibt zunächst dasjenige, das wir als die »Singularität« im metaphysischen Sinne des Begriffs bestimmen könnten, das heißt die konstitutiv ersten Elemente des Universums, diese Elemente, die niemals ein Ganzes sein können, sondern die sich immer als Teile zeigen. Ohne komplexe Argumentationen der Quantenmechanik zu stören, könnten wir die Hypothese außer Kraft setzen, derzufolge die Anschauung eine privilegierte Beziehung mit einer solchen omnimodo determinata Singularität unterhält, auch und vor allem was die Existenz betrifft. Ein zweiter Sinn des Begriffs »Singularität« könnte dasjenige sein, was wir »ontologische Singularität« nennen, und was sich mit dem aristotelischen Ausdruck »tode ti« zusammenfassen ließe: Dieser Tisch, dieser Stift, dieses Buch könnten wohl in ihrer numerischen Einheit Exemplifizierungen einer solchen Akzeptanz der Singularität repräsentieren. Durch die ontologische Singularität könnten wir den numerisch identischen Gegenstand verstehen, mit dem die Intentionalität in die unmittelbare Beziehung durch die Anschauung eintritt. Jedoch sehen wir wohl, dass diese Bestimmung auch nicht befriedigend ist, da die numerische Identität – die ontologische Einheit des Gegenstands – kaum eine adäquate und nicht aleatorische Behandlung der Singularität garantieren kann, die sich in die Beziehung zur Intentionalität durch die Anschauung setzt. Wenn ich zum Beispiel meine Schuhe betrachte, dort neben dem Bett, habe ich nicht zwei 523 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
sinnliche Anschauungen von zwei Singularitäten, sondern ich habe die Anschauung von meinen zwei Schuhen als Einheit, als »eine Singularität«. Jedoch könnte das Schuhbeispiel trügerisch sein und einen absolut groben Einwand herbeiführen, demzufolge zwei Schuhe ein Paar ausmachen und ich die Anschauung der Singularität »ein Paar von Schuhen« habe. Der dritte Sinn ist derjenige der »thematischen Singularität«. Die Tatsache, dass die thematische Singularität indessen die einzige ist, die eine adäquate Behandlung der Natur der Anschauung unterhalten kann, wird durch zwei Argumente gezeigt. Erstens gibt es Beispiele von thematischen Singularitäten der Anschauung, die nicht mono- oder dual-gegenständlich sind, dass heißt »tode ti« als Paare, Tripel usw.: Wenn ich meine Bücher von Aristoteles suche, sehe ich mich um und ich sehe, dass sie jemand (ich weiß, wer) in einen Schrank in der Küche eingeräumt hat. Meine Beziehung zu »meinen Büchern von Aristoteles« ist nicht eine Beziehung zu einer bestimmten Vielheit – wobei es danach eine solche gut sein könnte, auf mittelbare Weise –, sondern eine unmittelbare Beziehung zu einer thematischen Singularität, das heißt zu einer Gegenständlichkeit, die nicht ontologisch singulär ist, das heißt numerisch identisch. Sowohl meine Bücher von Aristoteles als auch die Austern, die ich zu essen erwarte, dort, auf dem Tisch, haben für meine Anschauung – für die Anschauung, die ich von ihnen habe – weder eine notwendigerweise numerische Bestimmung noch müssen sie zwangsweise als eine Einheit höherer Gattung gedacht werden. Sie können es, doch das passiert im Nachhinein, durch die Reflexion auf die Anschauung. Die Frage »Wo sind die Sachen, die ich hier gelassen hatte?« gibt keine Qualifikation der Art noch der Zahl und repräsentiert dennoch eine Beziehung (in der noematischen Form der Frage) zu einer thematischen Singularität. Zweitens ist das, was uns zwingt, die Anschauung bezüglich des Begriffs der »thematischen Singularität« zu betrachten, die Mannigfaltigkeit der Anschauungsformen selbst. Sogar wenn die Ursprünglichkeit der Anwesenheit tatsächlich immer auf irgendwelche Weise mit der Wahrnehmung verbunden ist – die sich als prinzipielle Modalität der Anschauung erweist –, übersteigt die Anschauung nichtsdestoweniger die Wahrnehmung und erweitert sich auf andere Formen der thematisch singulären Auffassung (bzw. Auffassung einer thematischen Singularität). Die Wesensschau, so wie zum Beispiel die formale Anschauung, die Anschauung in der Mathematik usw. 524 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 101. Anschauung und Singularität
übersteigt das Feld der prinzipiellen Ursprünglichkeit, die man in der Wahrnehmung wiederfinden kann, zumindest in der onto- und phylo-genetischen Konstitution von verschiedenen Anschauungsformen.
§ 101. Anschauung und Singularität Gleichwohl ist das, was uns hier interessiert, nicht der Vorrang, den man, nach einer kuriosen Idee der phänomenologischen Orthodoxie, der Wahrnehmung zuschreiben sollte. Im Gegenteil interessiert uns die Unmöglichkeit, eine ausreichend befriedigende Bestimmung der Anschauung zu erreichen, um so zur Ausgrenzung der Anschauung aus der Metaontologie weiterzugehen. Nun ist das, was alle Anschauungsmodi zusammenhält – und das, was genau genommen eine Anschauung bestimmt –, nicht nur der Umstand, dass sie eine »thematische Singularität« anvisiert, sondern die Weise, durch die sie eben anvisiert, durch die diese thematische Singularität sich zu zeigen gibt. Der Ausdruck »sich zu zeigen« lässt schon verständlich werden, dass die thematische Singularität in der Anschauung »präsent« ist, »sich« eigentlich auf eine unmittelbare Weise »präsentiert«, die keine Ausweichmöglichkeit gegenüber dem Verständnis lässt, um sie in ihrem Sein zu »gestalten«, zu »modifizieren«. Die Anwesenheit der thematischen Singularität in der Anschauung ist eine thematisch »notwendige« Präsenz, das heißt »nicht abweisbar«, »nicht zu verneinen«, »nicht manipulierbar in ihrem Sein« durch die Entscheidungen sowie rechnerische oder argumentative Modalitäten des Verstandes. Die Seinsart der thematischen Singularität in der Anschauung, ihre Erscheinung zur Intentionalität ist als das »Nicht-anders-sein-Können« charakterisierbar. Man könnte einwenden, dass man hier in eine modale Verwirrung zwischen der Anschauungswirklichkeit (ihrer Effektivität) und ihrer Notwendigkeit gerät, doch ist das nur an diesem Punkt so, der sich in der Diskrepanz zwischen Realismus der Anschauung (klar durch eine Metaphysik und auf den Gebrauch einer gewissen Metaphysik gerichtet) und phänomenologischer Theorie der Anschauung (die zu keinem befriedigenden Anschauungsbegriff führt und die Metaontologie vom Hirngespinst der Anschauung befreit) abspielt. Nehmen wir, zum Beispiel, zwei untereinander sehr verschiedene Anschauungsarten: 525 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
1.
Ich suche mein Notizbuch und ich betrachte meinen Schreibtisch: »Das Notizbuch ist nicht auf meinem Schreibtisch.« Hier handelt es sich wohl um eine thematisch negative Singularität in dem Sinne, in dem ich eine beliebige Anschauung habe, doch diese Anschauung gerade in der Abwesenheit des Objekts besteht, das ich in dem perzeptiven Kontext suchte, der durch den Sachverhalt »Gegenstände auf meinem Schreibtisch« bestimmt wurde. Ich denke über die Lösung eines mathematisch komplexen Problems nach und auf einmal fällt meinem Geist ein, dass sich dieses Problem durch ein gewisses Theorem lösen lässt. Es handelt sich auch nicht um eine Anschauung, da ich (soweit ich weiß) kaum dank einer Argumentation auf die Konklusion gekommen bin. Etwas ist mir als Anschauung der Möglichkeit einer Beziehung zwischen diesem Problem und diesem Theorem in den Geist gekommen.
2.
Was ist der Modus dieser Anschauungen? Eine limitative und grob realistische Theorie der Anschauung, die die Anschauung nur mit dem Empfindungsgehalt (qualia) identifiziert, kann hier nur eine Verkennung der modal-fundamentalen Kategorien in Erwägung ziehen. Was für diese Theorie – wie die kantische Theorie zum Beispiel – angeschaut ist, ist allein dasjenige, was die Sinnesorgane affiziert, also ein Ton, eine Farbe, ein wahrgenommener Gegenstand. 18 Doch sind wir wirklich sicher, dass die Wahrnehmung eines Gegenstands allein und tatsächlich als Wirkung eines Dings über die (zwangsweise unbekannte) Vorstellungsfähigkeit des Subjekts zu betrachten ist? Das ist in der Tat die These, welche die transzendentale Ästhetik eröffnet, eine These, die das Phantom einer ontologischen Dualität (von der nicht sicher ist, dass sie sich bei Kant eigentlich finden lässt) hervorruft und die schließlich für die Behauptung der interpretativen Natur der Wahrnehmung zwingend ist. Sobald ich einen Würfel beobachte, sehe ich weder die Seite eines Würfels noch weiße Flecken auf einem roten Grund und andere weiße Flecken auf zwei anderen roten Rauten: Ich sehe den Würfel, den Würfel, der da ist, da im Wahrnehmungsfeld, da in meiner Erinnerung, da in der Anschauung, die ich von ihm als kognitive Situation auf eine thematische Singularität gerichtet habe. Um nun zur realistischen These der Anschauung zurückzukommen, muss man eingestehen, dass diese Anschauung nach dieser These notwendigerweise unter der Kategorie der Wirklichkeit interpretierbar ist, welche ebenso bewirkt, dass »Sein kein reales Prädikat ist«. Die Anschauung ist also nicht notwendig, da sie eine Mög18
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., A 33 – B 19.
526 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 101. Anschauung und Singularität
lichkeit verwirklicht und zwangsweise ein Feld von Erscheinungsmöglichkeiten offen lässt, die ipso facto verhindern, sie als notwendig zu betrachten. Dennoch erscheint uns das Faktum, allein mit diesen Kategorien zu denken, extrem vereinfacht, wenn nicht gar grob. Es ist klar, dass solche Kategorien allein anwendbar sind, wenn man eine Zugangs-Ontologie (und eine metaphysische Idee des Zugangs zur Wirklichkeit) etabliert hat, derzufolge nur das existiert, was unter die Sinne fällt. Die Metaontologie kann also weder durch die Behauptung der Kontextualität jeglicher materialen Ontologie als lokative Ontologie diese Ontologie mit einem inflationären Platonismus durchkreuzen noch imaginäre Universen eröffnen [infra §§ 100– 101]: »Jede lokative Ontologie hat auf die eine oder andere Weise ihre eigene Anschauungsform, eben weil sie ein Sinnfeld repräsentiert.« Man muss nur jenseits von jeglicher ontologischen Verpflichtung und jeder metaphysischen Stellungnahme über die Natur der Anschauung als solche nachdenken. Dafür darf man keine Antwort suchen (und wir suchen niemals eine einzige Antwort) auf die Frage »What is there?«. Selbstverständlich könnte das Buch, wenn ich meinen Schreibtisch auf der Suche nach meinem Buch durchsuche, auf dem Tisch sein oder es könnte nicht auf dem Tisch sein, und folglich ist meine Anschauung »Das Buch ist nicht auf dem Tisch« keine ontologisch notwendige Anschauung. Ebenso selbstverständlich ist, dass meine mathematische Anschauung nicht jene sein könnte oder gar falsch usw. Gleichwohl gibt es, wenn wir in der Reduktionsordnung (und dank der Einklammerung jeglicher Ontologie) denken, sehr wohl eine andere, modale Betrachtungsebene der Natur der Anschauung. Unabhängig von ontologischen Hypothesen betrachten wir nur das, was im Erlebnis geschieht, das heißt, sobald sich die Intentionalität mit der Anschauung einer thematischen Singularität in Beziehung gesetzt befindet. Das Erlebnis selbst ist folglich dasjenige, das wir »absolut« nennen – nämlich in Begriffen der Modalität »notwendig« oder in Begriffen der Phänomenologie der Gabe »unumstößlich«. 19 Es ist das Erlebnis selbst als kognitive Situation, in der und durch die sich die Intentionalität in Beziehung gesetzt befindet, nämlich mit einer so und so bestimmten thematischen Singularität. Es ist gerade die ganze Bestimmung dieser thematisch gegebenen Singularität, die apodiktisch ist, die in ihrem »absoluten« Charakter der Positivität nicht zu 19
Vgl. J.-L. Marion, Étant donné, cit., S. 314 f.
527 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
leugnen ist. Im Beispiel des Buches, das nicht auf meinem Schreibtisch liegt, ist der Gedanke mit einer thematischen Singularität in Beziehung gesetzt, die so bestimmt ist, dass ich sie nicht verneinen kann. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass diese Anschauung wahr sei, noch, dass ich allein diese Anschauung haben könnte. Ich kann beispielsweise meinen Schreibtisch gründlicher untersuchen und das, was ich suchte, unter einem Papier versteckt auffinden. In diesem Fall kann ich den Wahrheitscharakter meiner vorgängigen Anschauung bzw. anschaulichen Auffassung verneinen – »ich habe mich getäuscht, ich hatte nicht gründlich geschaut« –, doch ich kann in keinem Moment negieren, dass ich gesehen hatte, dass »das Buch nicht auf meinem Schreibtisch war«. Hier darf man vom Standpunkt der intentionalen Analyse der Anschauung zwei Ausdrücke nicht durcheinanderbringen: »Ich hatte gesehen, dass das Buch nicht auf dem Schreibtisch war« und »Ich hatte nicht gesehen, dass das Buch auf dem Schreibtisch war.« Ich kann mich wohl mit dem zweiten der Ausdrücke artikulieren, doch das negiert in keiner Weise die anschauliche Positivität der thematischen Singularität: »Das Buch ist nicht auf meinem Schreibtisch«. Die Tatsache, dass ich eine gewisse perzeptive Auffassung gehabt habe, derzufolge das Buch abwesend war, muss kaum gleichbedeutend zur Negation dieser Auffassung und aller thematischen Bestimmungen sein, von denen sie sozusagen die Trägerin war. Wenn wir die zwei Fälle identifizieren würden, müssten wir jeden Anschauungscharakter der optisch deformierenden Effekte, der optischen Illusionen verneinen, um uns nur im Bereich der perzeptiven Anschauung aufzuhalten. Die Tatsache, dass das Theorem, das ich als mögliche Lösung des Problems anschaulich aufgefasst habe, es nicht löst, muss uns kaum diese Auffassung (als eben illusorische Auffassung oder täuschende Auffassung) verneinen lassen. Es ist ebendieser absolute Charakter der kognitiven Situation – in der eine gewisse thematische Singularität nach den Bestimmtheiten erscheint, die in ihrer Positivität keineswegs widerrufen werden können –, der uns vom »unmittelbaren Charakter« der Anschauung als solcher sprechen lässt. Wiederholen wir also die Definition und bereichern sie mit dem Begriff der thematischen Singularität und der Unmittelbarkeit: Die Anschauung ist die kognitive Situation, in welcher (oder ›dank welcher‹ oder ›aufgrund welcher‹) sich die Intentionalität auf unmittelbare Weise mit einer thematischen Singularität in Beziehung gesetzt befindet (das
528 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 101. Anschauung und Singularität
heißt auf derartige Weise, dass jeder erfolgreiche Akt die Positivität der Bestimmungen dieser Singularität in dieser kognitiven, zeitlich bestimmten Situation nicht verneinen kann).
Doch einmal die Anschauung auf hinreichend weite und »plastische« Art definiert zu haben, ohne in einen »sensualistischen« Monismus der Empfindung und auch nicht in einen der Wahrnehmung – die, immer eine gewisse »Interpretation« zulassend, diesem Monismus entweicht – zu fallen, erfordert, auf eine Weise zu definieren, in der man die anschauliche Gegebenheit der »Sache selbst« denken kann. In anderen Worten: Wir haben erfolgreich die Möglichkeit einer unmittelbaren Gegebenheit der »Sache selbst« bestimmt, ohne dafür die Modalitäten einer solchen »Gegebenheit« zu bestimmen. Im Moment haben wir lediglich eine Beziehung zwischen der »Sache selbst« (als Sache einer Sacherfahrung) in ihrem Überschuss bezüglich des Empfindungsdings und der Möglichkeit ihrer Gegebenheit. Man kann also versuchen, die verschiedenen Modalitäten der Anschauung so anzuordnen, dass sie der Natur der unmittelbar gegebenen Gegenständlichkeiten als thetische Singularitäten folgen, das heißt im Befolgen ihrer Zugehörigkeit zu den materialen Ontologien: formale Gegenständlichkeiten, Wesen, mathematische Gegenstände, Wahrnehmungsgegenstände usw. Falls man dem Reduktionismus entkommen möchte, der darin besteht, jegliche Anschauungsform auf die Wahrnehmung einzuschränken, kann man nur von der ontologischmaterialen Aufteilung Gebrauch machen und beschreiben, ob und wie sich die Gegenständlichkeiten einer solchen materialen Ontologie anschaulich zeigen. Das ist jedoch ein Projekt, das der Metaphysik oder dem Übergang vom metaontologischen Horizont zur Existenz kaum hilft. Denn diese Charakterisierung der Anschauung hat nichts »Ontologisches« im metaphysischen Sinne des Begriffs, das heißt, dass sie kaum über die Existenz des Angeschauten, sondern allein über den Bestand – über die Immanenz – eine Stellung einnimmt, die unwiderruflich auf der intentionalen Ebene der thematischen Singularität erscheint. Folglich ist jede Behauptung der Existenz, zum Beispiel der mathematisch komplexen Struktur des working mathematician, außer Kraft gesetzt, sodass jede Diskussion allein die Existenz des Anschauungsgegenstands betrifft. Die Analyse der Anschauung bleibt zu jeder Transzendenzzuschreibung neutral, indem sie ipso facto noch die Unmöglichkeit jeglicher Begründung einer Erkenntnis- bzw. 529 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
Wissenschaftstheorie als solche behauptet, das heißt die Unmöglichkeit eines ontologisch neutralen Übergangs von dem »Für-seiendHalten«, dem Bereich der konkreten Gegenständlichkeit, zum Bereich der Objektivität. Die thematische Singularität gibt sich also auf unmittelbare Weise, und es ist ebendiese Unmittelbarkeit, die aus phänomenologischer Sicht das Wesen der Anschauung ausmacht, das heißt die Unmöglichkeit, dass das intentionale Bewusstsein die ihm unmittelbar gegebene Vorstellung, wenn nicht auf neutralisierende oder abstrahierende Weise, so doch eingreifend modifizieren kann. In der intentionalen Immanenz des intuitiven Erlebnisses steht die Existenz oder Nicht-Existenz, die Wahrheit oder Falschheit der Singularität, die der Gerichtetheit thematisch unmittelbar gegeben ist, nicht im Gespräch. Deswegen berühren weder der Einwand von der Nicht-Existenz der anschaulichen Singularität – der am häufigsten erhoben wird – noch die kognitiv reduktionistischen Einwände, wie wir sie im Folgenden betrachten werden, die intentionale Natur der thematisch anschaulichen Singularität.
§ 102. Die Brechung des metaontologischen Gleichgewichts Dasjenige, das in der Akzeptanz der Anschauung als thematische Singularität fehlt, ist das Kriterium, das folglich bewirkt, dass man die Identifizierung der Anschauung nicht mit der Tatsache herbeiführt, durch ein Sinnfeld (im Sinne der material lokativen Ontologie) beschrieben zu sein. Wenn jede Anschauung auf eine thematische Singularität hinweist, dann ist nicht jede thematische Singularität zugleich auch Anschauungsgegenstand. Anders gesagt: Wenn es eine absolute Koinzidenz zwischen thematischer Singularität und Anschauung gibt, dann ist die Anschauung (als Anschauungsidee) nutzlos, nicht weil wir eine Anschauung von jeder thematischen Singularität haben, wie der Idealist behauptet, sondern weil die Termini der Frage derartig arm sind, dass sie die Komplexität einer Metaontologie nicht unterstützen können, die angesichts der kognitiven und epistemischen Situationen deskriptiv und konstruktiv gesetzt ist. Angesichts dieser Situationen erscheint die Idee, sie durch die archaische Dichotomie zwischen Anschauung und Begriff aufzulösen, als die Absicht, Protonen mit einer Steinschleuder beschleunigen zu wollen. Es ist kein Zufall, dass die Dichotomie zwischen Aisthêta und 530 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 102. Die Brechung des metaontologischen Gleichgewichts
Noêta ihre Geburt dort findet und die Reihe mythischer Lösungen der Dichotomie dort einleitet, wo die Metaphysik selbst geboren wird. Doch »die Seele ist auf eine gewisse Weise alle Sachen«: »ê psychê ta onta pôs estin«. 20 Dieses »auf eine gewisse Weise« heißt, dass der Abstand zwischen Repräsentiertem und Existierendem oder zwischen dem ontologisch beschriebenen Konkretum und dem Individuierten nur auf willkürliche Weise auf der Grundlage einer Metaphysik bestimmbar ist. Diese Beziehung einer solchen Metaphysik mit der Ontologie wurde nicht radikal in Frage gestellt. Genauso bewirkt am Ende der Metaphysik die Formulierung des »Prinzips aller Prinzipien« 21 nur die Erneuerung der Verlegenheit dieser »gewissen Weise«, dieses pôs. Das Prinzip sagt gerade nichts über den Abstand, der zwischen einer »originär gebenden Anschauung« und dem Rahmen, notwendigerweise lokativ, durch die »ontologischen« Charaktere des Syntagmas »in den Grenzen« beschrieben besteht. Das lässt auf eine Weise, die für eine gewisse Idee von Wissen dramatisch ist, das Problem der Individuation offen und folglich auch das Problem des Realen selbst, eines Realen, dessen extrem verarmter Begriff auf unentwirrbare Weise mit einer gewissen Idee von Metaphysik verbunden ist. Diese extrem beschränkte Idee des Wissens profitiert nur von der Sinn-Frage von jedem Individuum, obwohl eine solche Sinnfrage (als Nach-Frage) in der Philosophie verkleidet oder transfiguriert wird. Wonach das Individuum fragt, ist die Garantie, einen Griff auf die Welt haben zu können, durch die Versicherung der Existenz der letzten und ersten Elemente des Realen. Wenn das »Prinzip aller Prinzipien« nichts darüber sagt, über welche oder welche anderen Anschauungsmodi es die Erkenntnisbzw. Wissensquelle darstellt – auf vollkommen kohärente Weise mit der Voraussetzung einer metaphysisch intrinsischen Neutralität gegenüber jeder ontologischen Stellungnahme –, dann kann die metaphysische Tendenz nur zwei Wege verfolgen. Der erste Weg besteht darin, das meta-ontologische Gleichgewicht durch die einseitige Behauptung eines und nur eines Kriteriums der Individuation und Individuationsform zu (durch-)brechen. Der zweite Weg besteht darin, Aristoteles, De An., 3, 8, 431 b 21. Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit.: »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der »Intuition« originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« 20 21
531 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
die Anschauungsmodi inflationär zu erweitern, das heißt, zu behaupten, dass jede regional ontologische Konkretheitsform (die Konkretheit in einem Sinnfeld) gleichzeitig eine Individuationsform ist. Beide Wege entsprechen nur einer tiefgreifenden metaphysischen Neigung, die mit einer »fundamentalen« Frage für den Menschen verbunden ist oder als solche betrachtet wird: Was ist das Reale? Die Metaphysik öffnet sich, erneuert sich historisch und erneuert sich kontinuierlich als theoretischer Willensakt, die ontologische Relativität zu durchbrechen, indem sie glaubt, im Denken eine Inanspruchnahme des Realen garantieren zu können, das ein für alle Mal gut und gültig sei. Das »sozein ta phainomena«, die Verankerung der Metaphysik des cogito (und folglich von verschiedenen, gleichermaßen kohärenten, aber metaphysisch neutralen Weltbildern) in der Metaphysik des ontologischen Gotteseweises bei Descartes und jegliche metaphysisch idealistische Form, post-idealistisch und zeitgenössisch, haben dies gemeinsam: Sie erneuern lediglich den Akt, durch den der Mensch glaubt, auf die Frage »Was ist das Reale?« antworten zu können, um seinen Geist in seiner kosmischen Verwirrung zu beruhigen. Schließlich ist die Metaphysik zuerst ein Akt der Reaktion gegen die Verwirrung, ein Akt, der im kollektiven Unbewussten sedimentiert ist. Nur so kann diese Reaktion als eine Disziplin (ohne Strenge und logische Evidenz) formalisiert werden. In anderen Worten: Die zeitgenössische Metaphysik ist, vom Standpunkt der Metaontologie betrachtet, lediglich der äußerst grobe Versuch, durch den die Menschen glauben, dem horror vacui einer solchen ontologischen Relativität entkommen zu können. Es gibt keine Individuationsmöglichkeit in der thematisch deskriptiven Öffnung der Metaontologie, kein metaphysisches Individuationskriterium, sondern nur ein kontextuelles (lokatives) Kriterium der Konkretheit. In der Tat spiegelt die Äquivalenz zwischen Metaontologie und ontologischer Relativität auf theoretische Weise (auf die Bestimmungsformen des Etwas gerichtet) jene absolute Relativität der Selbstbeziehung durch die Öffnung selbst der Phänomenalität als Epiphanie des Realen wider. Die Frage nach dem Realen, das heißt die Frage einer begrifflich definitiven Inanspruchnahme des Realen, stellt sich nicht nur in der ontologischen Frageform dar, sondern auch in der expliziten, »Was ist real?« oder »Was ist das Reale?«. Die Frage nach dem Realen (bzw. die Wirklichkeitsfrage 22) kann also nur unter dieser Zweideutigkeitsform erscheinen, 22
Vgl. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, cit.
532 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 102. Die Brechung des metaontologischen Gleichgewichts
die alle »fundamentalen« Fragen kennzeichnet. Solche Fragen werden ausdrücklich gestellt, um dieses Bedürfnis der Inanspruchnahme zu befriedigen. Mit den Grundfragen geht es immer um dieses Bedürfnis der »Garantie« einer letzten Struktur oder einer ersten Konstitution der Welt, als ob durch die Gebung einer solch illusorischen Garantie die Verwirrung im mindesten Teil geleugnet werden könnte. Es geht um die Desorientierung, welche die Individuen (und manchmal das kollektive Bewusstsein in all seinen Formen) angesichts des Realen selbst in seiner vielgestaltigen Natur erfahren. Ist die Frage also legitim formuliert, wenn sie doppeldeutig ist? Lassen wir für einen Moment den Diskurs über ihre Rechtfertigung beiseite, die genau bis zu dem Augenblick, in dem man seine Zweideutigkeit erkundet hat, müßig erscheint. Was ist dieses Reale, dessen Frage eine definitive Festsetzung fordert? Ist es das Reale, das wir in unserem Alltag erfahren? Ist es im Gegenteil das, was uns in der Ontologie unserer gewöhnlichen Sprache entweicht oder dessen Konsistenz sich einer Reflexion über unsere ontologischen Sprachverpflichtungen entzieht? Sind die ökonomischen Krisen real? Sind sie nicht derartig abstrakt, dass selbst wenn wir von ihnen sprechen, als ob sie existieren würden, sie nicht wirklich existieren? Ist die Erderwärmung wirklich vom Menschen verursacht? Ist unsere verheerende Wirkung real? Ist es dagegen nicht möglich, dass hinter diesem hyper-komplexen Diskurs nichts steht? Man könnte die Beispiele zu Tausenden vervielfachen. Diese Beispiele würden die Empfindung des Entweichens des Realen nur wiederholen und voraussetzen lassen, obwohl das Reale als Terminus in unserer objektivierenden Sprache liegt. Einerseits gibt es das Reale als etwas Deutliches in unserer Sprache, anderseits gibt es die Unmöglichkeit seiner Auffassung, weil auch die Wissenschaft in ihrer immer stärkeren und schnelleren Bewegung nie das Reale, sondern nur Phänomene, Strukturen oder Invarianten des Realen bestimmen kann. Hier erfährt man die Dichotomie zwischen dem Existentialen und dem Epistemischen (bzw. Ontologischen) in dem Sinne, in dem das Existentiale hier als Ensemble der Phänomenalität zu nehmen ist, die als »Objekt« in unsere Sprache und unsere gewöhnliche Erfahrung zurückkommt, und das Epistemische (bzw. das Ontologische) ist als dasjenige zu betrachten, das man als das Ganze des Existierenden postulieren muss, das uns das Wissen als »real«, als »individuiert« und »strukturiert« aufzeigt. Welche unter den gegenständlichen Figuren, die in unsere gewöhnliche Erfahrung treten (die nicht immer heimische Objekte sind, son533 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel X Metaontologie und Individuation
dern auch Krisen, Konflikte zwischen Zivilisationen, Globalisierungsformen, geopolitische Phänomene, ebenso wie Klimawandel und all die anderen komplexen Phänomene), existieren wirklich? Wie können wir hoffen, einen Ausgang zu finden, um aus dem Kokon unserer gewöhnlichen Erfahrung zu schlüpfen und denken zu können, sinnvoll vom Realen sprechen zu können, das uns umgibt? Diese Frage hat das Wissen immer belebt und belebt es noch immer, obwohl dieses Wissen selbst dieses Schicksal der Desorientierung erlitten hat, das es zu verdrängen angehalten war. Es scheint, dass die Öffnung eines meta-ontologischen Horizonts – der jede »definitive« Entscheidung über die Einrichtung der Welt als einfach »willkürlich« annulliert – nicht helfen kann, eine neue Situation wiederzugewinnen. Die Frage, die aufgrund einer solchen Verwirrung gestellt wird, die sich ihre ontologische Relativität auferlegt, scheint nicht dieselbe wie diejenige nach den Wissensformen oder den metaphysisch klassischen Formen. Wie könnte uns eine solche Frage helfen? Genau die meta-ontologische Situation ist der Ausgangspunkt, um durch die Analyse einer solchen Frage eine Mathesis zu denken. Eine solche Mathesis muss auch methodisch diese komplexen Erscheinungsformen fixieren, welche die Metaphysik oder eine metaphysische Form der Wissenschaft ignoriert hat. Das ist allein möglich, wenn die Mathesis zuerst »Horizont« wird.
534 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Vierter Teil DER RAUM DER MATHESIS
»Εἰς μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, ἵνα ἕκαστον ὁριζόμενος δῆλον ποιῇ περὶ οὗ ἂν ἀεὶ διδάσκειν ἐθέλῃ«. Platon, Phaedr., 265 d
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
§ 103. Die Frage nach dem Realen Die metaontologische Öffnung verneint ipso facto die Möglichkeit, ein (ausreichend evidentes und nicht willkürliches) Kriterium der Individuation, nämlich ein einziges Kriterium, das im Feld des Realen bestimmt, was existiert oder nicht existiert, zu behaupten. Die ontologische Relativität präsentiert sich, anstatt neue Möglichkeiten für die Metaphysik zu eröffnen, vielmehr als ihr Grabstein. Die Metaphysik wird darauf begrenzt, willkürliche Aussagen zu formulieren, die dasjenige betreffen, was legitim als »Bestandsaufnahme des Realen« oder als »Weltbild« betrachtet wird. Dieses Bild, als ultimatives Ergebnis des Wissens betrachtet und in jeglichem positivistischen Ansatz vorausgesetzt, wäre seinerseits nur das Ergebnis einer arbiträren Wahl. Im Gegenteil, es ist ebendiese Idee eines »Weltbildes« – die in allen ihren mehr oder weniger metaphysischen Formen nicht zum Bewusstsein der »Philosophie« gekommen war –, die durch die metaontologische Öffnung aufgehoben ist. Wenn »Philosophie Metaphysik ist« in dem Sinne, in dem jede Philosophie durch ein intimes Bedürfnis, »System zu werden« bzw. »das Wirkliche vollständig zu bestimmen«, affektiert würde, dann hebt die metaontologische Öffnung (die aus der Einführung der metatheoretischen Dimension hervorgeht) jegliche »Philosophie« im klassischen Sinne des Wortes auf: Die Konstruktion eines »Weltsystems« ist eine illusorische Hoffnung geworden. Nicht zufällig treten die Frage nach dem Wirklichen und die neuen Formen des Realismus nur am Ende der Metaphysik hervor. Das heißt, dass sie sich nur ereignen, wenn die Philosophie ihre Unfähigkeit, das Vehikel des Aufbaus eines Weltsystems zu sein, erkannt hat. Diese Unfähigkeit dekliniert sich sowohl in der Form des hermeneutischen Relativismus als auch in der Form einer neuen Form von Metaphysik, die bereitwillig akzeptiert, die ontologische 537 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
Relativität als kritisch negative Bedingung aufzuheben. Die Frage nach dem Realen ist eine Frage, die von der typischen Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit der Grundfragen bestimmt wird. Was sie fragt, fragt sie grundsätzlich unter Berücksichtigung des Kontexts, in welchem sie formuliert ist, das heißt in einem post-metaphysischen oder meta-metaphysischen Kontext, in welchem die Metaphysik selbst als etwas Problematisches betrachtet werden muss. Die Frage ist in ihrer Formulierung offenbar linear: »Was ist real/das Reale?« Ganz offensichtlich berücksichtigt die Frage nicht – und zurecht – die Möglichkeit, dass es nichts Reales gibt, nach dem man fragt bzw. fragen kann. Die Frage ist nicht durch eine Art philosophisches Mangels affiziert, der darin besteht, zu denken, dass das »wahrlich radikale« Denken des Philosophen sich dazu drängen kann, nichts weniger zu verstehen als die Irrealität der Welt, in welcher er sitzt, isst, schwitzt usw. Die These, der zufolge »es […] keine Tatsache, sondern allein Interpretationen [gibt]« – seit Nietzsche 1 nachgeahmt und zu den höchsten Formen der Komik erhoben –, bleibt außer Frage. Das, was man durch die Frage erfragt, ist nicht die Vergewisserung über das Faktum, dass das Reale in letzter Instanz existiert, sondern das Kriterium, wodurch man die Verbindung zwischen einem System der Welterkenntnis bzw. von Welterkenntnissen und den singulären Sach-Erfahrungen denken kann. Die Frage neutralisiert sich also durch sich selbst, sobald sie nach der doppelten Form formuliert wird, die ihr eigen ist. Eine solche doppelte Form tritt ab einer ausreichend grundlegenden Betrachtung des defizitären Charakters ihrer zwei singulären Formen »Was ist real?« und »Was ist das Reale?« hervor. Man kann leicht erkennen, dass wenn man die Antwortmöglichkeiten zur ersten Frage in der metaontologischen Öffnung betrachtet – aber auch in der gewöhnlichen Erfahrung (die implizit verfährt, auf der Basis einer ontologischen Relativität, die nicht aus problematischer Sicht aufgefasst ist) –, man es nur mit Objektreihen zu tun hat: entweder mit einer Entitätenreihe, deren legitime Existenz nur vorausgesetzt wäre, oder mit einer Reihe von Objektklassen (oder materialen Apriori), deren Auswahl gleichsam auf ein nicht ausreichendes Kriterium begründet würde, um als zureichend evidentes Kriterium betrachtet zu werden. Man müsste eine wohldefinierte Idee von demjenigen, was das Reale ist, ausweisen, um die Auswahl zu unterstützen, nämlich die Idee der 1
F. Nietzsche, Nachlass. In Nietzsche Sämtliche Werke, cit., Bd. 12, 7 [60], S. 315.
538 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 103. Die Frage nach dem Realen
Klasse oder einer systematischen Anordnung zwischen Klassen, welche die Gegenstände bestimmen: Die zwei vereinfachten (und offensichtlich eindeutigen) Formen der Frage vereinigen sich in einer Frage, die als Grundfrage erscheint, die sich aber, nach der Aufhebung der Metaphysik durch die ontologische Relativität, als wesentlich doppeldeutig herausstellt. Das metaphysische Moment der Antwort könnte nur eine Doppeldeutigkeit verursachen, weil das Gefragte selbst (schon) doppelt ist: Es artikuliert sich zwischen einer Erfahrungsdimension und einer (epistemischen) Beschreibungsdimension. Die Erfahrungsdimension ist die Dimension des phänomenalen Realen in seiner totalen Unbestimmtheit (weil der Idee selbst des Realen eine Definition fehlt); die (epistemische) Beschreibungsdimension ist die Dimension desjenigen, was die Wissensformen schließlich als das Reale – in einem System von Gegenständlichkeitsklassen (Gegenstände, Ereignisse, Sachverhalte), die als Existenz behauptet werden können – betrachten. Die Dichotomie oder die Entgegensetzung der zwei Frageformen ist illusorisch. Beide Fragen weisen, in der neutralisierten Frage, auf zirkuläre Weise aufeinander hin. Das lässt uns einer effektiven Trennung bewusst werden, die zwischen der unmittelbaren Erfahrung des Realen in den Phänomenen und der Möglichkeit einer Anordnung zwischen den Wissensformen besteht. Solche Wissensformen und ihre systematische Anordnung sollten uns sagen, was wirklich als real zu betrachten ist. Was ist wirklich als real zu betrachten? Es geht um eine Objektklasse, die eo ipso durch ein materiales Apriori definiert und durch eine Wissensform bestimmt sein sollte. Einerseits besteht das Reale als Grundlage aller unserer Handlungen, auch und vor allem als Horizont jeglichen wissenschaftlichen Verhaltens – aus was bestünde das Wissen, wenn nicht aus einer Realitätsform? – und andererseits besteht die Öffnung der epistemischen Individuationen, die allein diesem unbestimmten Wirklichen und sich zum unbestimmten Ausbreitenden die Form einer Struktur geben könnte. Das Existentiale – als Öffnung des Individuums zur Erfahrung nach allen möglichen Sacherfahrungsformen betrachtet – und das Epistemische spalten sich innerhalb der offenen Dimension der Frage: Wie wir sehen werden, ist genau diese Dimension, welche sich allein ausgehend von der Einführung der ontologischen Relativität öffnet, diejenige, die uns Zugang zu der Metamorphose des metaontologischen Raumes im Raum der Mathesis verschafft. Im Moment muss man sich noch an die Dichotomie halten und versuchen, zu sehen, auf 539 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
welche Weise die neutralisierte Frage nach dem Wirklichen den Emergenzpunkt darstellt, von welchem aus man die Situation als meta-metaphysische Situation bezeichnen kann.
§ 104. Die meta-metaphysische Situation Tatsächlich ist die Metaphysik nach all ihren Formen nur ein Versuch, auf die Frage nach dem Realen zu antworten, das sich der Menschheit offenbaren kann. Durch eine solche Offenbarung erfährt die Menschheit die Verwirrung ihrer Erschließung selbst zu einer ontologisch relativen Phänomenalität, welche nicht auf einen »Sinn« reduzierbar ist. Das Problem ist hier vor dem Hintergrund der Frage zu denken, wie die Metaphysik auf solche Weise im Bereich der ontologischen Relativität über die Individuation noch »etwas sagen« kann: Auf welche Weise kann sie noch ein Auswahlkriterium der Existenz angeben? In der Tat verharren und verbleiben die Hypothesen der Metaphysik immer die gleichen, aber es ist eben ihre Explikation und Fixierung zum problematischen Bewusstsein, das sich hier als entscheidender Faktor der Raumeröffnung der Mathesis verhält. Es gibt zunächst die Metaphysik im klassischen Sinne: »Diese [scil. die Metaphysik] denkt das Seiende im Ganzen – die Welt, den Menschen, Gott – hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens.« Ihre Aufgabe ist: »be-gründen« 2. Die Metaphysik stellt sich hier als eine Form des Holismus der Erkenntnis dar, sogar in dem Fall, in dem dieses »holistische« Begründen nicht auf die Formen der durch Kant präsentierten Vernunftideen rekurriert, sondern mithilfe der hyperraffinierten Sprachen der Modallogik vorgeht. Es gibt in der Folge eine reduktionistische Metaphysik, die darin besteht, möglichst die Individuationskriterien zu begrenzen, das heißt sie auf eine Klasse von Gegenständen zu begrenzen, die sich notwendigerweise in einen Materialismus verwandelt, auch wenn ein solchen Materialismus mit allen letzten Entdeckungen der physikalischen Wissenschaften begründet wird. Es gibt schließlich eine Form von Metaphysik, die darin besteht, die Individuationsformen zu materialen Ontologien und zur formalen Ontologie auszudehnen und die ontologische Relativität in 2
M. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Sache des Denkens, cit., S. 69.
540 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 104. Die meta-metaphysische Situation
einer ununterschiedenen Form der Individuation von allem, was sich in einem Sinnfeld als konkret manifestiert, aufzulösen. Jedoch ist das Problem hier nicht, welche Form von Metaphysik zu wählen ist, weil alle ihre Formen dazu streben, auf arbiträre Weise und ohne konkrete Evidenz über die von der Metaontologie auferlegte negative Bedingung hinauszugehen. Eine solche negative Bedingung besteht darin, zu behaupten, dass jeder Bruch des Gleichgewichts der ontologischen Relativität nicht aus der metaontologischen Situation hervorgehen kann. Und wenn dieser Bruch nicht aus der perfekten Horizontalität, die durch die Metaontologie zwischen den Gegenständlichkeitsformen eingeführt wurde, hervorgehen kann, dann kann er nur aus einem Willen hervorgehen, zu einer Bestimmung, einer Begründung, einer Rechtfertigung zu kommen, zu der Antwort auf eine Frage, die in sich selbst doppeldeutig ist. Die Metaphysik reduziert schließlich nur, um zu versuchen, das Gleichgewicht der ontologischen Relativität zu zerbrechen: von innen, indem man wählt, dass man jeden ontologischen Konkretheitscharakter in einem Sinnfeld als Individuation annimmt; von außen, indem man an eine fundamentale Ontologie oder auch »Weltstruktur« oder sogar an Gott appelliert. Dann gilt für die Metaphysik die Formel: ex falso quodlibet. Da die Entscheidung willkürlich ist, wenn schließlich das Gleichgewicht der ontologischen Relativität im Namen einer Antwort auf die Frage nach dem Realen zerbrochen werden könnte, ist jede Antwort gleich aus Sicht ihrer letztlichen Nicht-Legitimierung. Jemand behauptet, es gebe eine »Weltstruktur«, die so oder so konstituiert wäre, jemand anderes behauptet, dass allein die Physik (und warum nicht auch die Soziologie oder die Biologie?) sagen kann, was existiert und was nicht, jemand anderes behauptet eine Art un-begründete Begründung des Seienden in seiner Totalität durch das Sein (der Ab-Grund) usw. An diesem Punkt präferiert man die Klarheit, durch welche Spinoza seinen metaphysischen Ausgangspunkt als Lehrsätze (und Definitionen) formuliert – d. h. die Unendlichkeit der Substanz –, die zumindest die Charakteristik der intellektuellen Ehrlichkeit hat. 3 Das Problem ist hier, dass man in letzter Instanz der Welterfahrung eine letzte Grundlage der Individuation schaffen möchte, die
3 Vgl. B. Spinoza, Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg, 1955, S. 3–5.
541 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
man schon durch die Frage »Was ist real?/das Reale?« als möglich voraussetzt, ohne die Gefahren, die sich in einer solchen Frage verbergen, anerkannt zu haben. 4 Wir haben gesehen, dass die Frage notwendigerweise eine holistische ist, da sie ein Individuationsprinzip erfragt, das für jedes real Singuläre (oder jedes reale collectivum) und folglich für das Reale als collectivum (collectivum von allen collectiva und von allen singularia) zählt. Wenn es allerdings ein Individuationskriterium gibt, das der Relativität der Ontologien entkommt, wenn man fragt, ob es ein solches Individuationskriterium gibt (zur Rechtfertigung der existentialen Aussagen), das die partikularen Kriterien (durch Begründung, durch Anordnung, oder jeden anderen Weg) übersteigt, dann fragt man schließlich nach einer Entscheidung, einem Hinweis danach, was die Struktur der Weltexistenz ist oder auf was sich eine Weltstruktur, die einzig benannt und niemals ausgearbeitet wurde, schließlich gründen soll. Tatsächlich erreicht es keine Form der Metaphysik – auch hinter dem falschen Bild eines solchen wissenschaftlichen Vorgehens, das sie oft darstellt –, das Projekt zu denken, sich mit der Klassifizierung der Individuationsformen zu begnügen. Die Metaphysik muss unbedingt die singulären Individuationsformen als philosophisch uninteressant ansehen und überwinden. In diesem Sinne interessieren die Wissensformen – mit ihren Praktiken und ihren Diskussionen über die Individuationspraktiken – den Metaphysiker nicht wirklich. Das Problem ist, dass sobald man nicht nur diese oder jene Form der Metaphysik, sondern die Metaphysik selbst als Möglichkeit eines einzigen Individuationskriteriums in Frage stellt, die Metaphysik aufgehoben wird. Sie wird genau durch diese ontologische Relativität aufgehoben, deren Equilibrium stärker als jede willkürliche metaphysische Entscheidung ist. In diesem Sinn besteht der erste theoretische Gewaltakt darin, vorauszusetzen, dass es ein solches Kriterium gibt; der zweite darin, dass die Auswahl eines Kriteriums als Bestimmungsgrund des metaphysischen Weltsystems zu betrachten ist. Jedenfalls kann die Brechung der ontologischen Relativität auf den metaphysischen Akt der dogmatischen Existenzbehauptung eines
Die Zweideutigkeit (als Unsinn) der Wirklichkeitsfrage, jedoch in einet anderen Formulierung, wurde schon bei Carnap deutlich fixiert. Vgl. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, cit., S. 34: »Die Wissenschaft kann in der Realitätsfrage weder bejahend noch verneinend Stellung nehmen, da die Frage keinen Sinn hat.«.
4
542 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 105. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin: Die Individuation
solchen Kriteriums allein durch eine pragmatische Entscheidung umgekehrt werden, die nicht das Absolute der Individuation sucht, sondern die Praxis selbst in diesem oder jenem Kontext und die Individuationsformen, auf welche eine solche Praxis oder eine Wissensform hindeutet. Wenn das metaontologische Gleichgewicht ohne einen Evidenzmakel nicht gebrochen werden kann, handelt es sich nicht um eine Reduktion oder eine Aufhebung der ontologischen Relativität. Man verlässt den metaontologischen Horizont ebenso wenig, wie man den metatheoretischen Horizont durch die Erfindung eines losgelösten Standpunktes verlässt oder den metaegologischen Horizont durch die dogmatische Voraussetzung einer privilegierten Form von HSB verlässt. Vielmehr handelt es sich darum, die Metaphysik auf die ontologische Relativität zu reduzieren, indem man daraus etwas Relatives macht. Man muss schließlich die Illusion ausschöpfen, eine externe Stellung bezüglich der Öffnung von Ontologieformen erreichen zu können. Die ontologische Relativität – die ausdrücklich bei Quine formuliert ist oder die sich schon in der Ungewissheit des Prinzips aller Prinzipien von Husserl befindet – ist unüberschreitbar. Wenn jegliche Ontologie relativ ist, wenn alles, was erscheint, in einer Form erscheint, die durch eine materiale Ontologie oder einen ontologisch-materialen Komplex fixiert wird, dann könnte die Metaphysik nichts anderes als relativiert zu dieser Öffnung sein. Sie besteht nur in der Beschreibung und in der Modellierung von Individuationsprotokollen, die dieser oder jener anderen Wissensform (oder der Interaktion von mehreren Wissensformen) gehören und für diese koessentiell sind.
§ 105. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin: Die Individuation Die Rolle der Metaphysik in der Öffnung der ontologischen Relativität scheint nur diejenige einer protokollarischen Disziplin der Beschreibung von Wissensformen gemäß ihrer Individuationsprotokolle zu sein. Erscheint die Idee einer Metaphysik als protokollarische Disziplin nicht zufällig als genaues Gegenteil desjenigen, das sie seit tausenden von Jahren behauptet hat zu sein und heute immer noch behauptet, nämlich eine souveräne Theorie? Schließlich wäre die Idee einer protokollarischen Metaphysik nichts anderes als eine Wiederaufnahme der Idee von der »deskriptiven Metaphysik« (durch Straw543 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
son vorgebracht 5), welche im Lichte der ontologischen Relativität (von Quine und der Phänomenologie 6) als Unmöglichkeit jeglicher holistischen Behauptung (jeglicher Behauptung einer letztendlichen Struktur der Welt) reinterpretiert wird. In diesem Sinne wäre die Metaphysik nichts anderes als die Disziplin einer deskriptiven (Be-) Stimmung, die sich an den kognitiven und experimentellen Protokollen orientiert, die uns in einem epistemischen bzw. nicht-epistemischen Kontext zu gewissen Aussagen über die Individuation anleiten. In diesem Sinne wäre eine Metaphysik nichts anderes als die Beschreibung der ontologischen Verpflichtungen, die wir im Inneren Im Sinn von Peter Strawsons »deskriptiver Metaphysik« gegen eine »revisionäre«, vgl. P. F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, 1959, S. 9. Wir nehmen die zweite Definition von deskriptiver Metaphysik, die David Chalmers formuliert: »Here is useful to distinguish two sorts of descriptive metaphysicians. Some descriptive metaphysicians will hold that the coincidence between commonsense and correct ontology is a non-trivial fact about the world. On this view, one may reasonably hold that ontological and ordinary existence assertions differ in cognitive significance, though it turns out that their truth-values and correctness-values coincide. On this view, the correctness of ordinary assertions is trivially sensitive to the commitments of commonsense ontology, while the correctness of ontological assertions is nontrivially sensitive to commitments of commonsense ontology. So descriptive metaphysicians of this sort can clearly accept the distinction between ordinary and ontological existence assertions, and between different ways that these are associated with conditions of correctness. Other descriptive metaphysicians will hold that the coincidence between commonsense and correct ontology is a trivial fact. On this view, the only sense that one can give to ontological existence assertions derives from that of ordinary existence assertions, so that the two sorts of claim coincide in cognitive significance, and automatically coincide in correctness. On this view, there may be no relevant difference in the conditions of correctness for ordinary and ontological existence assertions. This sort of view is an important view, but it clearly requires a fairly deflationary view of ontology that is closer to ontological anti-realism or lightweight realism than to heavyweight ontological realist« [D. Chalmers, Ontological Anti-realism, in D. Chalmers – D. Manley – R. Wasserman (Eds.), Metametaphysics, New Essays on Foundations of Ontology, 77–129, S. 85]. 6 Wir müssen hier bemerken, dass die ontologische Relativität nicht ein ontologischer Relativismus ist, sondern »nur« zu einem ontologischen Pluralismus als ontologischem Kontextualismus führt. Wir folgen hier noch David Chalmers [cit., S. 94] und Matti Eklund. Vgl. M. Eklund, Carnap and Ontological Pluralism. In Metametaphysics, cit., 131–156, S. 137: »What any ontological pluralist view involves is – roughly, see immediately below – the following: There is a number of different languages we could speak, such that (a) different existence sentences come out true in these languages, due to the fact that the ontological expressions (counterparts of there is«, »exists«, etc.) in these languages express different concepts of existence and (b) these languages can somehow describe the world’s facts equally well and fully (maybe some of these languages are more convenient to use than others but that is a different matter).« 5
544 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 105. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin: Die Individuation
von gewissen Praktiken und Dynamiken des Wissens (oder ihrer Interaktion) annehmen. Das bedeutet nicht, dass solche Dynamiken jemals zu einem axiomatischen System führen könnten, das in der Lage wäre, zu bestimmen, welche Verpflichtungs-Modi ein für alle Mal, ohne Ausnahme, gültig wären. Die »Protokollierung« bleibt die einzige Überlebensmöglichkeit der Metaphysik: Eine solche Protokollierung ist nur vom Standpunkt der ontologischen Relativität und der deskriptiven Methode möglich. Eine solche Methode besteht darin, den Götzen und das Dogma »einer« Anschauungsform (noch kantisch gedacht) beiseitezustellen, um eine allgemeine Topographie der Individuation als Rechtsquelle jedes Wissens zu skizzieren. Jedenfalls muss der Ausdruck »jede originär gebende Anschauung« 7 – um nicht unter die dogmatische Charakterisierung des Empirismus zu fallen – im Lichte der wesentlichen Trennung zwischen der gewöhnlichen und der epistemischen Erfahrung gelesen werden, die sich innerhalb der Frage selbst als Zweideutigkeitsform manifestiert. Dass sich das Reale manifestiert, braucht keinen Beweis durch eine souveräne Theorie. Das Reale ist die Grundlage von jeglichem menschlichen Fragen und von jeder Forschung; dieser unerschütterliche Grund, der jedes Vorgehen bloßstellt, der vorgibt, den Horizont der Forschung, von welchem sie sich entwickelt, zu übersteigen. Dass sich »dieses« Reale der Erscheinung eben in den Grenzen, »in welchen es sich [zu sehen] gibt«, manifestiert – nämlich in einer ontologisch materialen Form, durch welche dieses »Reale« der Erfahrung als »Etwas« so oder so Bestimmtes anerkannt ist –, ist genau das, was eine deskriptive Aufgabe eröffnet. Jedoch erscheint eine solche Aufgabe nicht so einfach zu erledigen. Sie erfordert zuerst eine allgemeine und vorläufige Bestimmung des Horizonts, worin diese Beschreibung eine Beschreibung ist, und dann eine Auffassung der »meta-metaphysischen Situation«, welche ein solches Handeln sich orientieren lässt. Warum sollten wir von der Individuation oder von Individuationsprotokollen sprechen – an welche sich zu halten die Metaphysik auf eine protokollarische Disziplin reduzieren würde –, ohne von Anschauungen zu sprechen? Ist der Mythos des Gegebenen so tief verwurzelt? Wir können diesen Mythos entwurzeln, allein durch ein tiefes Verständnis dieser meta-metaphysischen Situation und der damit verbundenen Unmöglichkeit für die Metaphysik, einen Raum öffnen zu können, von welchem 7
Vgl. E. Husserl, loc. cit.
545 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
ausgehend ein »Blick von Nirgendwo« angenommen werden könnte. Warum könnte die Hervorhebung der Individuation in der meta-metaphysischen Situation den Mythos des Gegebenen (implizit und in dem Begriff der »Anschauung« wirkend) und folglich die metaphysisch vorgeschlagene Korrelation zwischen »Geist« und »Welt« aufheben? 8
§ 106. Die Öffnung des Horizonts der Mathesis Die meta-metaphysische Situation ist nur diese hervorgehende Situation der Neutralisierung von der Frage nach dem Realen. In dieser Situation findet die Hervorhebung der zwei Gefragten »Reales« und »real« statt: Das eine in der Form des »collectivum«, das andere in der Form von singularia oder eines »singularis«, der dasjenige ist, was sich im Inneren des Erfahrungshorizonts in all seinen möglichen Formen als »sichtbar« manifestiert. Das, was die meta-metaphysische Situation zunächst bedeutet, ist nicht, von der Metaphysik in Richtung ihrer Letztbegründung ausgehend einen Schritt voran zu sein, sondern die Aufhebung selbst seiner Grundstimmung als Trieb, die Immanenz (in der Erfahrung) kraft einer Begründungsgeste zu übersteigen. Die Meta-Metaphysik ist keine Metaphysik zweiter Ordnung, nämlich eine mächtigere oder verstärkte Metaphysik, sondern die Charakteristik einer Situation, durch welche die Metaphysik in ihrem Unsinn anerkannt und aufgehoben wird und in welcher sich die Unüberschreitbarkeit der Immanenz in der Phänomenalität manifestiert. 9 Nur in den anti-metaphysischen Begriffen und in der metametaphysischen Situation (welche im Voraus jedes strukturelle Bestimmungsverhältnis zwischen einem Realen als solchem und dem Realen auflöst) kann man einen Horizont für die Mathesis auffassen. Um die wirkliche meta-metaphysische Natur dieser Situation zu verstehen, reicht es aus, eine strukturelle Unmöglichkeit der Sättigung der Öffnung jeglicher Erfahrung selbst zu bedenken. Es handelt sich um die Unmöglichkeit, die Diskrepanz zwischen der Erfahrung des Realen in seiner konstitutiven Horizontalität (als »thematisch anVgl. J. McDowell, Mind and World, cit. Vgl. E. Husserl, Krisis, cit., S. 56: »Keine Erkenntnislinie, keine einzelne Wahrheit darf verabsolutiert und isoliert werden.« 8 9
546 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 106. Die Öffnung des Horizonts der Mathesis
schaulicher Gegenstand«) und dem Realen als Kollektivum der Erscheinung zu vernichten bzw. als aufgelöst zu betrachten. Dies aus dem Grund, dass man das Reale als Kollektivum der Erscheinung nie objektivieren kann – weder bezüglich seiner Effektivität noch bezüglich der Konstruktion oder der Hervorhebung einer Struktur, die seine Erscheinungsmöglichkeiten begrenzen könnte. Auf jeden Fall bleibt die metaphysische »Geste« der Feststellung eines fixen Codes der Individuation aufgehoben. Die Individuation wird innerhalb der Grenze der Immanenz zurückgehalten und »offen« gelassen: sowohl in dem Fall, in dem man das Reale als möglichen Gegenstand einer Auffassung begreift, ausgehend von der systematischen Anordnung einer Vielzahl von Erkenntnissen (und Verifikations- bzw. Individuationsprotokollen), als auch in dem Fall, in dem man es als elementare Struktur, als Struktur selbst der charakteristischen horizontalen Antizipation jeder »Sacherfahrung« begreift. Um als Individuiertes durch diese Struktur (als Horizontstruktur) aufgefasst zu sein, muss sich ein »Etwas« in einem Raum, in einem unobjektivierbaren (unindividuierbaren) Horizont verorten. Die Möglichkeit einer Individuation oder der Anordnung eines wohldefinierten Systems von Individuationsprotokollen selbst setzt eine Leere voraus, das Residuum einer konstitutiven Nicht-Bestimmbarkeit. Eine solche Nicht-Bestimmbarkeit lässt das »etwas Reales« in einem thetisch notwendigerweise individuationslosen Raum, einem nicht-individuierten collectivum, bestehen. »Existenz eines Realen hat sonach nie und nimmer einen anderen Sinn als »In-Existenz«, als Sein im Universum, im offenen Horizont der Raum-Zeitlichkeit, dem Horizont schon bekannter und nicht bloß jetzt aktuell bewusster, aber auch unbekannter, möglicherweise zur Erfahrung und künftigen Bekanntheit kommender Wirklichkeiten.« 10 Dieser Horizont zeigt sich eben aufgrund der Unmöglichkeit jeglicher Individuation, jeder ontologischen Verpflichtung, die für den Horizont selbst als Struktur genommen werden könnte – auch wenn diese Verpflichtung nur das Ergebnis der Konstruktion (oder der Sammlung) aller möglichen Verpflichtungen wäre. In diesem Sinne kann die Horizontstruktur jeder Sacherfahrung die Metaphysik der Individuation durch die Aufhebung ihrer fundamentalen »Geste« in der Immanenz zurückbehalten. Dieses »Jenseits« der Antizipation in der Erfahrung, das konstitutiv die Fixierung aller Klassen und möglichen Individuationsstruk10
E. Husserl, Erfahrung und Urteil, cit., S. 29.
547 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
turen antizipiert (und nie als wirklichen Mangel affiziert), ist die Transzendenz des Sinns. Durch diese »Transzendenz des Sinns« als Grundstruktur der Kointentionalität des Horizonts zeigt sich die Unmöglichkeit jeder metaphysischen Gestaltung der Mathesis. Diese Unmöglichkeit gilt auch, wenn in gewissen Fällen dieser Gedanke krypto-metaphysisch (unter dem Namen einer allgemeinen und vollständigen Beweistheorie) ist. Die zwei Sinne des »Realen/realen« beruhen, so wie sie aus der Frage hervorgehen, nämlich so, dass sie aus der Situation der ontologischen Relativität hervorgehen, auf einer irreduziblen, spekulativen Situation. Eine solche spekulative Physionomie – die aus der Verbindung zwischen der deskriptiven Analyse und der Reflexion über ihre fundamentalen Ergebnisse entsteht – ist im Sinne jeder metaphysischen Deklination der Mathesis, als Auffassung einer Struktur der Welt bzw. eines Weltbildes, vollständig nutzlos. Das Reale, das aus der Analyse der Frage in seiner Zweideutigkeit hervorgeht, zeigt sich niemals als etwas Substantivierbares, Individuierbares, als der Gegenstand einer möglichen ontologischen Verpflichtung, und zeigt sich auch nie als etwas mit einer »gegenständlich« definierten Physionomie. Es ist der Terminus eines wesentlichen Hinweises von dieser Öffnung des Gerichtet-Seins (und daher eines möglichen Individuationsprotokolls) zu demjenigen, das immer und notwendigerweise das intentionale Korrelat (und/oder die verbundene Variable) übersteigt. Es geht wesentlich um einen Terminus, der auf eine gewisse Weise die Deklinationen der Individuationsprotokolle antizipiert und bestimmt. Tatsächlich ist die Struktur der Ko-Intentionalität der beiden »Reales/real« selbst in jeder Ansatzform zur Phänomenalität situiert, sowohl in der gewöhnlichen Erfahrung als auch in einer epistemisch kategorisierten Erfahrungsform. Eine solche Struktur verhindert jede Substantivierung der Welt, indem sie diese Welt auf den Gehalt einer letzten (und letztendlichen) Konfiguration reduziert. Anstatt einer Substantivierung finden wir den Terminus einer Beziehung, den Hinweis selbst der intentional anschaulichen Gerichtetheit auf das Jenseitige seines gegenständlich individuierten und individuierbaren Korrelats. In diesem Sinne lässt sich die Instanz, der zufolge jede »Sacherfahrung« ihren eigenen Horizont hat, hier nur in die meta-metaphysische Situation als Vorbeigehen a parte ante, nämlich als Zurückführung der metaphysischen Bewegung in der Immanenz der Erfahrung, rückübersetzen. Das nicht-substantivierbare Reale ist in letzter Instanz nur der Hori548 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 106. Die Öffnung des Horizonts der Mathesis
zont jeglicher bestimmter Individuationsformen, die weiteste Konfiguration, welche, als Horizont, nicht substantivierungsfähig ist, aber kraft einer Art von Protothese fortbesteht. Aufgrund der Präsenz eines spekulativen Korrelats des Realen einer Individuation – das auf jeden Fall niemals objektiviert oder substantiviert sein kann – können die metaphysischen Ansätze nur eine Meta-Metaphysik entwickeln. Eine solche Metametaphysik sollte dazu dienen, zu entscheiden, wie die ontologische Relativität aufgehoben oder wie der wesentlich horizontale Charakter jedes Ansatzes zum Realen als solchem verneint werden kann. In diesem Sinn scheint die Erfahrung (einer gewissen Philosophie des Geistes folgend) von qualia und das Wissen (einer gewissen Idee der Erkenntnistheorie folgend) zu einem System von Verifikationsketten reduziert werden zu müssen. Die neue Metaphysik (die alles in allem brutaler und skurriler als die alte ist) bestimmt nur willkürlich, welche ontologischen Kategorien oder welche regionalen Ontologien diejenigen sind, zu denen etwas, um zu existieren, gehören muss. Dennoch ist das, was die Idee einer Mathesis – die aus der metatheoretischen Dimension und der metaontologischen Situation entstammt – eben erproben, anpeilen muss, dieses Unobjektivierbare, das aus der Öffnung selbst von allen möglichen Individuationsformen hervorgeht. Dieses Unobjektivierbare ist nicht der Grund der Erkenntnis, sondern der Horizont der Mathesis selbst. 11 Hier ist der Horizont, in welchem man mögliche Individuationsformen erfährt und der sich als das Reale der Erfahrung selbst präsentiert, etwas An(ti)-ontologisches und zugleich nicht Ontologisierbares: Das Reale hat weder die Individuation des physischen Felds noch die Singularität eines abstrakten atomistischen Universals. Dieser Horizont instanziiert und manifestiert sich in der Dynamik des Hinausgehens der Singularität jeder Individuation, also in der Dynamik der Verwirklichung einer Erkenntnis durch eine Form oder ein begrenztes System von Individuationsformen. Es handelt sich eher um ein relationales Ganzes als um ein substantielles, auf das man keine Bestandsaufnahme projizieren und von dem man keine Hypostase denken kann. All das weist auf seine topologisch konstitutive Elastizität hin. Eine solche topologische Elastizität ist das Spiegelbild der Elastizität jeglicher Erfahrungs-
11
Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, cit, [49], S. 48.
549 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
form (die gleichzeitig horizontale Erfahrung von etwas und Horizontserfahrung ist). Die Erfahrung des Realen, als horizontale Mit-Beziehung jenseits der thematisch gegenständlichen Beziehung, zeigt sich in seiner Plastizität und in seiner konstitutiven Beweglichkeit. Der Ersatz bzw. die Annullierung eines Individuationsprotokolls durch ein anderes oder die Transformation bzw. die Reduktion einer Ontologie auf eine andere – da die Erkenntnis sich oft, aber nicht notwendigerweise durch eine ontologische Sparsamkeit vollzieht 12 – verneint nicht das Bestehen, aber bestätigt darin die These oder die Proto-These eines solchen Unobjektivierbaren. Die Plastizität der Horizontalität jeglicher Erkenntnis impliziert also notwendigerweise nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, die Individuationsprotokolle einer Erkenntnis- bzw. Wissensform zu modifizieren. Es geht um die Notwendigkeit einer kontinuierlichen topologischen Rekonfiguration, ausgehend von gewissen atomistischen Erfahrungen, welche die Agglomeration von Möglichkeiten (und möglichen Beziehungen) verwirklichen. Jedoch geht es auch, a converso, um die Notwendigkeit der Aufhebung der Gültigkeit eines Beziehungsgerüsts, das zu einer instabilen oder nicht ausreichend klaren Erkenntnisform des phänomenal Realen geführt hat. Die horizontal charakterisierte Erfahrung des Realen wird, durch topologische Rekonfigurationen – das heißt durch Rekonfigurationen der Topologie von gewissen aktuellen Agglomerationszentren –, nicht geschwächt. Das ist wesentlich abhängig von der Formalität dieser Struktur selbst. 13 Der Horizont jeglicher Erkenntnis – und folglich der Horizont der Mathesis selbst – ist, ganz wie die Horizontstruktur der Erfahrung, nicht rigide. Seine Plastizität akzeptiert nicht nur, sondern ermöglicht auch die Rekonfiguration, die lokale und partielle Modifikation seiner Topologie durch die Eingliederung, das Verschwinden oder die Anordnung von Individuationsprotokollen.
§ 107. Protothese-(G) und radikaler Empirismus Die Dynamik der Konstitution, Ausschaltung, Anordnung zwischen den Individuationsprotokollen kann nie die Beziehung zum Realen 12 13
Vgl. W. v. O. Quine, From Stimulus to Science, Cambridge (MA), 1998, S. 71. Vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt, cit., Hua. 39, S. 71.
550 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 107. Protothese-(G) und radikaler Empirismus
vernichten. Die Auffassung dieser Dynamik bestimmt das klare Bewusstsein der Mathesis als »Öffnung-worin« man eine Beschreibung von Individuationsformen denken kann. Diese Individuationsformen zeigen sich durch Individuationsprotokolle, die gewisse □MG entwickeln, um bestimmte Erscheinungsformen oder gewisse Gegebenheiten in ihrer Invarianz zu beschreiben. Das, was jedoch noch nicht klar ist, ist, welche Struktur die Individuation eines Realen (sowohl relativ zur gewöhnlichen, als auch zur epistemischen Erfahrung) und die Beziehungsstruktur zum Realen artikuliert. Es gibt eine enge Verbindung in jeder Sacherfahrung, sei sie eine epistemische oder eine nicht-epistemische Erfahrung, zwischen dem Hier und dem Dies der Individuation, d. h. diesem Realen und dem Realen als letzten Terminus, ein Terminus, der sich der Hypostase irgendwelcher Form von Subjekt-Objekt-Beziehung entzieht. Eine solche Hypostase kann sowohl die Hypostase der Beziehung auf einen Gegenstand der atomischen, alltäglichen, morphogenetisch strukturierten Erfahrung sein als auch die der Beziehung auf einen epistemischen Gegenstand (als Individuationsprotokoll eines □MG). Die Verbindung zwischen diesem Realen und dem Realen als letzten Terminus aber bestimmt sowohl den Raum (und das Ausmaß) der gewöhnlichen Erfahrung als auch den Raum (und das Ausmaß) der wissenschaftlichen Erfahrung. Jenseits irgendwelcher Hypostase der Subjekt-Objekt-Beziehung, aber diesseits der Hypostase einer festen Welt- und IndividuationsStruktur, gibt es diese Grenze, bezüglich welcher sich das Reale/das Wirkliche in Singularitätsformen beschneiden lässt. Die Form der Protothese beginnt sich in dieser doppelten Rückständigkeit abzuzeichnen: Wir sind immerzu in einer Gewissheit des Realen. Das Reale als Thema einer an- bzw. nicht-ontologischen Hinweisung ist stets für uns da. Dieses Reale ist auf eine Art »völlig gewiss, [so] dass letztlich der Umkreis des Erfahrbaren in eine Einheit der Einstimmigkeit der Erfahrung zu bringen ist, in der alles Erfahrbare in durchgängiger Gewissheit zusammenstimmen müsste« 14. Das Reale stellt sich genau als eine »immerforte Voraussetzung«, als »Unterlage für die Prädikate des objektiven Geistes« 15 heraus. In diesem Sinne ist die Horizontstruktur nicht nur in der Öffnung von diesem oder jenem anderen Innenhorizont (die Öffnung der progressiven Bestimmung des Thematischen in dieser oder jener anderen 14 15
Ebd. S. 74. Ebd. S. 72.
551 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
Richtung) aufgefasst noch lediglich als Öffnung eines Außenhorizonts, als Möglichkeit, ein bestimmtes Umfeld zu beschreiben und möglicherweise auszubreiten. Das gehört, wenn man so will, noch zur atomischen Erfahrung, zur charakteristischen Topologie eines (anschaulichen) Thematischen als solches. Ausgehend vom Hintergrundbewusstsein der thematischen Öffnung als solches, oder, um es besser zu sagen, in der Sedimentierung des Bewusstseins ihrer Invarianz tritt etwas Identisches hervor, das die bestimmte Topologie übersteigt und sich, als Residuum, als ein »Etwas« präsentiert, das notwendigerweise diese oder jene Emergenz einer Topologie antizipiert. 16 Der Atomismus der Individuation, der nicht nur einen numerischen singularis – sondern auch jedes »collectivum«, als individuiertes (und/oder individuierbares) »Thematisches« aufgefasst – betrifft, ist nur das Ergebnis einer sicherlich nützlichen und notwendigen Abstraktion – sowohl in der Ökonomie unserer gewöhnlichen Erfahrung als auch in der Ökonomie der Einführung von epistemischen Individuationsprotokollen. In diesem Sinn kommt jede atomische Individuation in all ihren protokollarischen (und kognitiven) Gegenstandsformen aus einer Abstraktion. Es geht tatsächlich um die Abstraktion der Form von dem »In-dem«, von dem »worin«, wo sich die Individuation selbst verortet. Was ist der Charakter der thematischen Präsenz dieses »In-dem«, von dem jede Individuation abstrahiert? Das Wo dieser Auffassung, dieser thematischen Präsenz, ist eben das Residuum jeglicher Neutralitätsmodifikation, das Residuum all dessen, was in Zweifel gezogen werden, in Frage gestellt werden usw. kann. Nach dieser Modalität präsentiert es sich nicht als Gegenstand einer explizit gesetzten These, sondern als das invariante »Kontinuum« einer proto-positionalen These, die jede »Setzung« als solche antizipiert. Das ist es, was wir »Protothese-(G)« nennen. Diese Protothese hat keine Variation, keine passage à vide, beispielsweise in den Fällen von epistemisch ontologisch-regionalen Anomalien, wenn z. B. ein Individuationsprotokoll durch anderen Protokolle ersetzt wird oder sich mit einem anderen implementiert oder aufgegeben wird. Eine solche Protothese hat auch in den Fällen komplexerer Anomalien, etwa gewisser Paradigmenkrisen, keine Variation. Diese These als Proto-These wirkt in der Öffnung selbst des Raumes: Im Inne-
16
Ebd. S. 76.
552 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 107. Protothese-(G) und radikaler Empirismus
ren dieses Raumes kann jede epistemische Praxis (aber auch eine kognitive Stimmung) ihre Individuationsprotokolle neu ausrichten. Obgleich sie jeder Anomalie widersteht, widersteht sie nichtsdestotrotz auch jeglicher Fixierung und ontologisch positiven Bestimmung, indem sie als Objekt einer reinen Deixis in der Form der Allgemeinheit bleibt: »all that«. 17 Der Moment des radikalen Empirismus zeigt sich als Moment der Öffnung eines Raumes der Mathesis selbst. Dennoch: Ohne eine spekulativ inhärente Charakterisierung der Spiegelung zwischen der Bezugssituation zu einem ontologisch determinierten Individuierten und der Indexierungsstruktur der Protothese in der Form des radikalen Empirismus bedeutet dieser Moment nichts. Schon im ersten Kapitel fragten wir nach der Herkunft und dem Träger von »all diesem« als »Deixis einer unkodierbaren, unobjektivierbaren Sicht«. Dieses Moment blieb besonders schwer zu erfassen. Jetzt können wir es durch die metaontologische Korrespondenz, die zwischen der Prototese-(G) und der Individuation (fort-)besteht, festhalten. Jede Individuation, folglich jegliche Singularisierung einer Anschauung, sei sie einfach kognitiv oder epistemisch, gründet sich auf einem Akt der Indexierung (Deixis) – wenn auch extrem komplex und raffiniert. In diesem Sinn ist das durch Quine gestellte Paradox in »Speaking of Objects« 18 immer noch aktuell. Es gibt kein Mittel, den Horizont der Indexierungsformen durch Gesten des (metaphysischen) radikalen Bruchs der ontologischen Relativität, die keine letzte Evidenz haben, zu verlassen. Wenn sich die Indexierung nach den Formen, die die Topologie der Individuationsfelder bestimmen, artikulieren kann, ist sie notwendigerweise durch jede Form der ontologischen Verpflichtung vorausgesetzt. Jede ontologische Verpflichtung, als ontologisch-materiale bzw. ontologisch-regionale Bestimmung einer Gegenständlichkeit in der Erfahrung, setzt die topologische Öffnung der Indexierung als solche voraus. Diese Öffnung antizipiert die Formen, welche die Indizierung in den epistemischen, bestimmten Praktiken annehmen wird. Wenn man durch eine hylemorphische Bestimmung fortfahren wollen würde, dann ist das Moment des radikalen Empirismus, der die Protothese-(G) wiederaufnimmt, nur die leere Indexierungsform der reinen Materie (oder des rein materiellen Bestehens) des Realen. 17 18
Vgl. W. James, A World of pure experience, cit., S. 36. W. v. O. Quine, Ontological Relativity and other Essays, Columbia, 1969, S. 1–25.
553 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
Die Protothese kann also nur in dem Übriggebliebenen der Singularisierung des Thetischen als Indexierung Anwendung finden – in der Topologie, deren Indexierungsform die Deklination ist. In diesem Residuum, das zugleich das »diesseitig« Gesuchte durch die Phänomenologie und das »jenseitige« jeglicher epistemischen Ontologisierung ist, konvergieren die Radikalisierung des Empirismus und die Radikalisierung des Transzendentalismus. Diese Radikalisierung des Transzendentalismus, der wir im ersten Teil gefolgt sind, zeigt lediglich, dass das »transzendental« als »Ich-Horizont« nicht das Synthetische a priori ist, sondern ein topologisch Synoptisches der Indexierung, und folglich in jeglicher epistemischer und nicht-epistemischer Individuationsform. Hier zeigt die Radikalisierung des Empirismus nichts anderes als dieselbe Sache vom Standpunkt der Individuationsprotokolle, indem sie nichts anderes tut, als zu zeigen, wie das Reale, als Grund jeglichen Empirismus, der ontologisch übrigbleibende Gegenstand einer Protothese bleibt. Aufgrund dieses Residuums der Ontologisierung bleibt (und muss notwendigerweise bleiben) das quid dieser These, ihr Thetisches, unqualifiziert und unqualifizierbar vom Standpunkt der gegenständlichen Singularität. Das führt mit sich, dass das Reale weder ein collectivum von Objekten sein kann noch ein collectivum von Sachverhalten, ein collectivum von Ereignissen und jeglichen anderen Vorstellungen, die aus einer Kombination zwischen diesen Begriffen hervorgehen könnte.
§ 108. Protothese-(p) und Individuationsprotokolle Das Problem ist hier, dass in der Definition der Protothese-(G) der mit dem Moment des radikalen Empirismus mitbehauptete Realismus, ganz einfach außerhalb einer spekulativen Interpretation genommen, alles und nichts bedeutet, weil er seine Extension ausgehend von der Definition erlangt, die man dem Realen selbst gibt. Indem man das Reale für das nimmt, was es ist, schreitet man keinen Millimeter voran, weil man das ganze Gewicht der Definition auf ontologische, lokale Fragen entlädt, nämlich auf die protokollarische Metaphysik. Einer Dynamik zufolge, die sich bereits ab der Definition des Ich-Horizonts abgezeichnet hat, ist ein Reales (bzw. ein Wirkliches) hier alles, was sich im Vordergrund einer allgemeinen These der Existenz der Welt hervorhebt: Der Setzungscharakter dieses Realen (bzw. dieses Wirklichen) kann nur modifiziert werden, 554 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 108. Protothese-(p) und Individuationsprotokolle
wohingegen die allgemeine These (Protothese-(G)) notwendigerweise nur unmodifizierbar gültig bleibt. Das deiktische Moment, das notwendigerweise durch das Moment des radikalen Empirismus allgemein und leer ist, »all dies«, impliziert notwendigerweise die Frage vom »Was«: »All dies … aber was?« Dennoch, selbst wenn man glaubt, hier das Problem des Realismus gelöst zu haben, stellt der Realismus selbst ein anderes Problem, nämlich dasjenige der Festsetzung der Erfahrung des Realen nach den Individuationsformen, dar. Dieses Problem ist das Problem der Mathesis, sowohl für dasjenige, das die epistemische Individuation, als auch für dasjenige, das die gewöhnliche Erfahrung betrifft. Allerdings kommt die gewöhnliche Erfahrung, wenn sie sich niemals auf einen epistemischen Ansatz reduzieren lässt – in dem Sinne, dass es wahnsinnig wäre, zu denken, man könne die gewöhnliche Erfahrung als eine theoretische Form der deskriptiven Stimmung gegenüber der Erscheinung kennzeichnen –, wieder als Gegenstand und nicht als »Theorie« in Betracht – ab dem Moment, ab dem man notwendigerweise die Kognitionswissenschaften in die Mathesis inkludieren muss. Auf jeden Fall ist das, was uns im Moment interessiert, die Tatsache, dass sich jede (epistemisch oder gewöhnlich orientierte) Erfahrungsform auf Individuationsprotokollen gründet, das heißt auf dem stiftenden Akt einer Verbindung zwischen zwei Protothesen. Wenn diese Individuationsprotokolle nichts anderes als Strukturen sind, welche die Individuation in einem gewissen Kontext wiedererkennen lassen, dann kann dieser Akt nur vom »Dieses-Hier« oder »JenesDort« der Erfahrung handeln, sei dieser ein Akt der gewöhnlichen oder der epistemischen Erfahrung. Warum müsste die Erfahrung der Singularität, das heißt die Erfahrung von etwas als Sacherfahrung, auch Ergebnis einer Protothese sein? Würde die so verstandene Protothese nicht auf sehr gefährliche Weise einem idealistischen Moment gleichen? Nein, denn die Protothese-(p) ist tatsächlich nicht die Kreation eines Golems aus einem Stück Schlamm, als ob es völlig heterogene (perzeptuelle, semantische usw.) Elemente gäbe, die plötzlich und auf mysteriöse Weise eine lebendige Form, nämlich die ontologische Individuation, annähmen. Die Protothese-(p) gründet sich notwendigerweise auf den Charakter der Grundlosigkeit, das heißt der unmittelbaren Gegebenheit – durchweg unabhängig von den Vermögen des Subjekts – desjenigen, das sich als thematischer Gegenstand zu sehen gibt. Die Proto555 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
these-(p) gründet sich auf die An-Erkennung der Grundlosigkeit, das heißt auf das kognitiv sedimentierte Bewusstsein einer Unmittelbarkeit: Das, was sich manifestiert, ist die nicht in Frage stellbare Grundlage jeglicher Artikulation einer bestimmten Sacherfahrung. 19 Das Subjekt (sowohl von der gewöhnlichen als auch von einer epistemischen Erfahrung) weiß, dass es den Erscheinungscharakter des gegenständlichen Kerns seiner Erfahrung nicht ändern kann. Das Subjekt weiß, dass es nicht die apriorische Erfindung von etwas ex nihilo ist, sondern das Individuierte selbst. Die Protothese schreibt, wenn man der Anschauung folgt – und nicht der vorherigen Determinante –, nur dasjenige ein, das sich auf unmittelbare Weise in der Spiegelhaftigkeit des modularen Bezugs zwischen formaler Ontologie und regionaler Ontologie zeigen wird. Hier ist »Etwas«, das ich als einen bestimmten Gegenstand anerkenne, welches folglich all die Eigenschaften des formalen Gegenstands, aber zugleich die Eigenschaften eines Gegenstands eines bestimmten Typs hat, in ein System von Gegenstandskategorien und Idealitäten eingeschrieben, die sozusagen sein »phänomenales Leben« strukturieren. In der Tat, um davon die Anschauung als Gegebenheit einer thematischen Singularität zu haben: 1.
ist sich das Subjekt immer schon konstitutiv bewusst über das »Dies«, das sich auf unmittelbare Weise als etwas aus ontologisch-regionaler Sicht Charakterisiertes (oder Charakterisierbares) gibt, und erfährt das Subjekt das »Dies« auf kontextuelle Weise (als dieser so und so charakterisierte oder charakterisierbare Gegenstand).
2.
Aus diesem Grund ist die Protothese-(p) schwer von der Anschauung selbst zu unterschieden, weil sie, genau genommen, ein Moment der Anschauung ist, das zur thematischen Singularität zugehört. Jedoch zeigt sich eine gewisse interne Artikulation in der Erscheinung, durch welche die Gegebenheit als solche anerkannt wird. Wenig Einfluss hat, dass das Erfahrungssubjekt sich getäuscht hat oder dass es nach einer Weile zurückkommt, um dasjenige zu bezweifeln, was es in seiner Sach-Erfahrung artikuliert hat: Das modifiziert die Natur der Überzeugung, aber aus phänomenologischer Sicht überhaupt nicht die Natur und die Rolle der Protothese-(p). Das kommt dem gleich, zu sagen, dass die Gegebenheit (die weder Gegebenes, noch Gebendes ist) jenseits und außerhalb jeder Anthropologisierung und jeder 19
Vgl. auch E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 240/1, S. 323.
556 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung
Theologisierung, mit einer Art von »ontologischer Wiedererkennung« als »Anerkennung« zu tun hat. Die Stiftung der Spiegelhaftigkeit zwischen der Gegebenheit x und der Öffnung ihrer Bestimmungsdimensionen im Bewusstseinsstrom zu einem Moment t ist unumkehrbar, und deswegen kann man nur a posteriori ihre anschauliche Natur denken und die wiedererkannte Gegebenheit (zu diesem Moment) bleibt unmittelbar. Die deiktische Festsetzung eines bestimmten Inhalts als Kern einer letzten Bestimmung in mehreren Dimensionen verneint weder die Genese noch die zwei Niveaus (kognitiv und metametaphysisch) jeglicher anschaulichen Auffassung, sondern hilft, die transzendentale Struktur der Festsetzung selbst (mit der Horizontstruktur eng verbunden) von ihren materialen und genetisch strukturierten Deklinationen zu teilen. Das meta-metaphysische Vorgehen kann und muss erklären, auf welche Weise sich die Kontexte selbst strukturieren, das heißt auf der Grundlage welcher Strukturierung der Normalisierung der Umstände sich die Akte der Protothese-(p), die Festsetzung von gewissen Anschauungskernen und die Öffnung verschiedener transitiver Bestimmungsdimensionen entfalten können. Dennoch muss, selbst wenn man Fehler macht, jegliche Protothese-(p) trotzdem die Funktion der singulären Deixis erfüllen.
§ 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung Warum sprechen wir hier von singulärer Deixis? Um was handelt es sich, wenn wir von Deixis sprechen, und warum kennzeichnet sie sich als »singulär«? Ganz offensichtlich ist die durch die Proto-These in den Akt gesetzte Deixis, welche die Proto-These selbst konstituiert, nicht der somatische Hinweisakt des Fingers, der sich als eine ganz bestimmte Deklination – wenn nicht als eine Verdoppelung – in dem Moment der (mehr oder weniger komplexen) unmittelbaren Gegebenheit in der Wahrnehmung herausstellt. Die Deixis, die die ProtoThese konstituiert (und auf welcher sie sich artikuliert), ist ebenfalls nicht von ausdrücklicher Natur. Eine solche Deixis (als »Umstands«Element) hat keine Stelle in einer Aussage – obwohl viele Aussagen deiktisch sind, allein, indem ihr Sinn an die Kontextualität der Aussage selbst gebunden ist. Wie es einen »nicht phrastischen Sinn« der Umstände gibt, das heißt eine deiktische Natur der Aussage, durch ihre Forderung selbst verstanden zu sein, gibt es einen nicht logischen 557 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
und auch nicht anschaulichen, deiktischen Sinn, der aber selbst als Anschauung, das heißt als Festsetzung von etwas als »demjenigen, ab welchem« man eine weitere Bestimmung vornehmen kann, anerkannt wird. Das, was die Deixis mit der Protothese-(p) der expliziten oder nicht expliziten deiktischen Formen ihrer Kontextualität (das »in diesem Moment« von dem »in diesem Moment hatte man gesehen«, oder das »hier« von dem »hier findet man …«) teilt, ist ihre substantivisch minimale Form, ihre einzige und elementare Form, »dies«, das sich nicht pluralisiert, da es nicht die aufgefassten Gegenstände (oder die Erfahrungen), sondern die thematische Singularität der Gegebenheit als unmittelbar wiedererkannte betrifft. Sie ändert sich selbst nicht einmal für die doxische Neutralisierung: »Es ist wohl das, was man zu sehen glaubte«, »es ist wohl das, was man in dieser trügerischen Demonstration sah«. Die Unveränderlichkeit, der »feste« Charakter der proto-thetischen Deixis entzieht sich ihr und ipso facto der Änderung der Umstände und ihrer normalisierten Strukturen, für welche die Deixis im Gegenzug die begriffliche Änderung hinnimmt und ihre Tätigkeit erhält. Warum also nennt man diese singuläre oder partikuläre Protothese »Protothese-(p)«? Bezüglich dessen ist diese Protothese singulär bzw. particularis? Ganz offensichtlich kann sie sich nicht pluralisieren, es sei denn, man begreift – außerhalb der Erfahrung – mehrere Anschauungsakte, die eine Pluralität der Protothese-(p) darstellen würden. Aber dieser Anschauungsakt bzw. Auffassungsakt – die Auffassung des Protothetischen-(p) –, der eine thematische Singularität hat, wird nur eine Protothese (in der Zufälligkeit) haben. Denn die thematische Singularität des Erlebten ist dasjenige, was es charakterisiert – unabhängig von der Komplexität der Gegenständlichkeit, auf welcher ein solches Erlebnis intentional polarisiert ist. Wenn die exklusive Beziehung zwischen dem Erlebnis und seiner Protothese keine Ausnahme zulässt, von was spricht man dann, sobald man die Protothese als Protothese-(p) kennzeichnet? Es ist die Protothese-(p) – deren Genese sozusagen morphogenetisch erforschbar ist –, die jede Form der Individuationsprotokollierung zum Trotz jeglicher Genese artikuliert. Die übermäßige Ausdehnung des Rückgriffs auf die Genese und auf die Sedimentierung – obgleich akzeptabel und überzeugend für den gesunden Menschenverstand – hat kein anderes Ziel, als das Dilemma zu bewältigen, das die Individuation affektiert – und folglich die Metaphysik, die vor558 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung
gibt, von dieser Individuation aus zu begründen. Entweder gründet man die Anschauung auf das rohe physikalische Quale oder man erweitert und relativiert die Individuation. 20 Im ersten Fall verliert man den Großteil des Anschaulichen (einschließlich des Wahrgenommenen), wenn man es als ein Diskursiv, irgendwo in dem Nebel des Psychischen versteckt, betrachtet; im zweiten Fall verbindet man die Anschauung mit dem Akt einer »regionalen« Fixierung. Es geht genau um die Fixierung von demjenigen, welches als das Thematische – »von dem aus« gleichfalls regionale Bestimmungen vollzogen werden – anerkannt ist. Wenn übrigens die Protothese-(p) als Einschreibung eines Kerns in mehrere Dimensionen von bestimmbaren Bestimmtheiten notwendigerweise den genetischen Charakter dieser Dimensionen aufzeigt, warum kann man nicht die Ko-Generativität der Einschreibung von dem intuitiv Thematischen und von seiner relativen, möglichen Bestimmungen behaupten? Das, was die Genese niemals bewerkstelligen kann, ist, die Protothese als solche abzuleiten, da die genetische Reihe, als Grundlage zugelassen, Protothesen voraussetzt, um andere Protothesen zu erklären, ohne jemals die Protothese als solche als Identifizierung eines »unmittelbar Thematischen« erklären zu können. Die Tatsache, dass die Struktur selbst der Protothese in der tierischen und menschlichen Geschichte eine Genese hat, stellt eine andere Frage. Diese Frage wird durch die Voraussetzung einer genetisch möglichen Erklärung nicht gelöst. Denn das Bestehen einer Kluft zwischen dem Bewussten und dem Unterbewussten (bzw. die neurokognitive Dimension) bedeutet weder, dass dieses Niveau des Bewussten absolut undurchlässig ist, noch, dass tatsächlich eine morphogenetische Konkretion des Bewussten selbst stattfinden kann. Wir definieren Protothese-(p) als (oft nicht expliziten) Akt der ontologisch ursprünglichen Anerkennung des Thematischen in der Anschauung (nach ihren ontologisch
Vgl. D. Chalmers, Perception and the Fall from Eden. In T. S. Gendler – J. Hawthorne (Eds.), Perceptual Experience, Oxford, 2006, S. 49–105, S. 78: »One should be a pluralist about representational content. It may be that experiences can be associated with contents of many different sorts by different relations: we can call such relations content relations. For example, there may be one content relation that associates experiences with object-involving contents, and another which associates experiences with existential contents. … On this view, there may not be such a thing as the representational content of a perceptual experience. Instead, a given experience may be associated with multiple representational contents via different content relations.«
20
559 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
regionalen bzw. materialen mannigfaltigen Formen), als unmittelbare Gegebenheit einer thematischen Singularität. Eine solche Singularität zeigt sich als solche ipso facto in einer doppelten Spekularitätsverbindung: a) b)
einerseits mit der Charakterisierung von etwas im Allgemeinen und daher mit der formalen Ontologie; andererseits mit der Individuation dieser Singularität einer ontologisch-materialen Bestimmungsstruktur.
Dieses Moment der Protothese ist völlig wichtig für die Konstitution jeder Sach-Erfahrung. Die Protothese, durch welche sich die Anschauung als ontologisch-formal und ontologisch-regional bestimmt (und bestimmbar) fixiert, eröffnet zuerst eine mereologische Bestimmung, die sich regionalisiert, und die nichts mit den Stücken zu tun hat, die durch die kognitiven (morphogenetischen) Strukturen der thematischen Singularität konstituiert sind. Die Protothese-(p), welche die Individuation feststellt, entfaltet die Konfiguration der Topologie der thematischen Öffnung der Erfahrung des Realen, indem sie zunächst eine ontologisch-regionale (zuerst mereologische) Deklination auf die Gegenstandsstruktur zuschreibt. In diesem Sinn kann man bezüglich jeglicher Individuation von Mereo-Topo-logie sprechen, weil die Individuation kraft der ontologischen Relativität, in welcher sich ihre meta-metaphysische Fixierung einschreibt, mereotopologisch ist. Die Topologie einer Mereologie setzt die Regionalisierung jeder Ontologie und dann die Topologie des metametaphysischen Horizonts voraus.
§ 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung Die Protothese-(p) stellt sich als Einschreibung jeder Anschauung in die Spekularität zwischen formaler und materialer Ontologie dar. Nach einer solchen Einschreibung wird das »Dies« folglich: a. b.
sowohl als ein »etwas« überhaupt gekennzeichnet (und/oder kennzeichenbar) vom »ontologisch-formalen« Standpunkt. als auch als ein »so oder so bestimmter Gegenstand« bestimmt (und/ oder bestimmbar) nach einer ontologischen Regionalität.
560 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung
Das gilt für jede Erfahrungsform und folglich auch für die metatheoretische Erfahrung. Durch die Protothese-(p), welche das »Dies« anerkennt (und anerkennen lässt), gibt sich das »Dies« der Anschauung in der Öffnung des Realen. Das Subjekt fasst den Anschauungsgegenstand als etwas auf, das sich gibt und das sich nach einer Gegenstandsform strukturiert. Eine solche Form ist sowohl allgemein als auch die ontologisch partikuläre und charakteristische Form. Diese Spekularität, die jegliche Erfahrung kennzeichnet und in welcher die Erfahrung sich zunächst nur charakterisiert, ist vor allem Spekularität zwischen einer ontologisch-formalen Mereologie und ihren ontologisch-regionalen Deklinationen (und ihrer Partikularisierung), das heißt nach den Idealitäten – und den Wesensgesetzen –, die dem Individuierten seine partikuläre Kennzeichnung liefern. In und durch den protothetischen Akt der Anerkennung, »Dies ist es, worum es geht« (das tatsächlich die meiste Zeit implizit, stumm werden und bleiben kann), findet man schon eine doppelte mereologische Öffnung, nach welcher 1)
2)
dieser Gegenstand in einen ontologisch-formalen Rahmen von Wesensgesetzen eingeschrieben ist, die seine Beziehungen zu seinen Teilen und auf entsprechende Weise die Beziehungen der Teile untereinander, unabhängig von seinem Sein als etwas Individuiertes, etwas Anerkanntes, etwas Gesetztes als »metatheoretisch« oder »perzeptiv« oder »mathematisch« strukturieren; dieser individuierte Gegenstand eine mereologisch strikt abhängige Form von seiner ontologisch-materialen Kennzeichnung hat. Zu den möglichen Beziehungen zwischen dem Ganzen und den Teilen »gehört […] allzeit ein apriorisches Gesetz, welches in dem Allgemeinen des bezüglichen Teiles und Ganzen seine begrifflichen Grundlagen hat« 21.
Dennoch nennt der Teilcharakter – und der nicht ontologisch-formale Relationscharakter, der die Einschreibung des Gegenstands in die mereologische Grammatik erlaubt – eine Partikularität, die durch das Wesen des Gegenstands als partikuläres Objekt genau bestimmt ist. 22 Um nun nicht die Mereologie schlechthin, aber, wie man jederzeit mereologisch etwas Individuiertes erfährt, zu denken, muss man die formalen Gesetze a priori etablieren, die das Feld der »formalen Mereologie« beschreiben. Jedoch muss man dann vor allem dazu kom21 22
Vgl. E. Husserl, III Logische Untersuchung, cit. Hua. XIX/1, § 10, S. 253. Ebd. S. 253.
561 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
men, die Implementation zu kennzeichnen, die diese Gesetze erfordern, um die Beziehungen zwischen »Ganzem« und »Teilen« in der Partikularität jeder regionalen Erfahrung (das heißt regionaliter konstituiert und nach den partikularen Wesensgesetzen charakterisiert) zu bestimmen. Wir schreiten nun in drei Schritten voran: 1) werden wir zunächst die Formalisierung einer phänomenologischen Mereologie wiederholen, dann werden wir 2) die elementaren Begriffe und philosophisch fundamentalen Probleme der Mereologie einführen und 3) schließlich greifen wir die Aspekte und aufgeworfenen Probleme durch die metatheoretische Deklination der Mereotopologie auf. Die Mereologie ist grundsätzlich doppelt: Sie kann sowohl vom Standpunkt der Apophantik (ausgehend von der Zusammensetzung der Vorstellungen in den Aussagen) als auch vom Standpunkt der Ontologie konstruiert werden. Die wesentliche Unterscheidung, die die Entwicklung der Mereologie artikuliert, ist diejenige, die im Bezug auf eine deskriptive Analyse der Vorstellungen eingeführt wurde: Ein Ganzes setzt sich aus unabhängigen Teilen und aus nicht-unabhängigen Teilen zusammen. Diese Teile können auch als Inhalte angesehen werden. 23 Eine solche Unterscheidung stellt sich als wesentlich propädeutisch heraus, um die Rolle zu verstehen, die von den Spezies und von den formalen und materialen Gesetzen, die diese Beziehung leiten, gespielt wird. Das stellt zwei fundamentale Fragen: Welche mereologischen Eigenschaften zwischen Gegenständen muss man annehmen? Wie kann man abhängige und unabhängige Gegenstände (Teile oder Inhalte) unterscheiden? 24 Die mereologische Beziehung bildet sich auf diesem Punkt nach den drei notwendigen Kennzeichen: (A1) der Reflexivität (xTx) (A2) der Transitivität ((xTy ^ yTz) → xTz) und (A3) der Antisymmetrie ((xTy ^ yTx) → x = y). Diese drei Axiome skizzieren das, was wir als Grundmereologie definieren könnten, gegründet auf fünf Eigenschaften: (A4) Gleichheitseigenschaft (xEGy = df xTy ^ yTx), (A5) des echten Teils (ETxy = df xTy ^ : yTx), Ebd. 233. Vgl. E. Casari, On the relationship between Parts and Wholes in Husserl’s Phenomenology. In Rediscovering Phenomenology, Springer, 2007, SS. 67–102. 23 24
562 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung
(A6) der echten Extension (xEEy = df :xTy ^ yTx), (A7) der Überlappung (xÜy = df z(zTx ^ zTy)) und der Unterlappung (Unxy = df z(Txz ^_ Tyz)). Daran kann man zwei weitere mereologische Beziehungen knüpfen: – –
die Beziehung der Disjunktion, die zwischen zwei Gegenständen besteht, welche keinen Teil gemein haben (xDy = df :xÜy) und die Beziehung der Kombination, die zwischen drei Gegenständen besteht, von welchen die zwei ersten disjunkt sind, aber Teil am dritten haben ((xT (y^z) :xTy) → xTz).
Aber kommen wir zur ersten Frage zurück: Wie kann man zwischen abhängigen oder unabhängigen Gegenständen (Teilen oder Inhalten) unterscheiden? Die grundsätzliche Idee der Mereologie gründet sich auf ein doppeltes Vorgehen: 1. 2.
zunächst die von geschlossenen Gegenständen absolut unabhängigen Gegenstände bezüglich einer Abschluss-Operation identifizieren und dann den Integrationsbedarf eines abhängigen Gegenstands identifizieren, welchen es erfordert, um geschlossen zu werden.
Allgemein betrachtet, ist der Abschluss in einem mereologischen Basissystem eine Operation, die jedem Element x ein Element x° zuweist, sodass die drei Beziehungen bestehen: [C1] xTx°, [C2] xTy → x°T y°, [C3] x°° = x°. Das, was man »Integrationsbedarf« nennt, repräsentiert eine primitive Operation @ und muss zwei elementare Bedingungen erfüllen: [D1] ein Gegenstand x ist (absolut) unabhängig genau dann, wenn (gdw.) @(x) = 0, und [D2] ein Gegenstand x ist (absolut) abhängig gdw. @(x) = 0 → @(x) = y. Ganz offensichtlich kann @(x), wenn @(x) das ist, was es für x braucht, um (ein Ganzes) zu sein, nicht als Teil haben, was x bereits hat. Folglich erhalten wir: [A8] x Π @(x) = 0. Denn wenn man voraussetzt, dass @(x) ebendas ist, was x fordert, um (als Ganzes) zu existieren, dann erfordert das resultierende Objekt 563 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
dieser Operation, sofern wir es dem x zuweisen, nichts mehr, sondern ist absolut unabhängig. [A9] @ (x @(x)) = 0. Schließlich erscheint es natürlich, wenn man voraussetzt, dass x ein Teil von y ist, die Tatsache anzunehmen, dass der kleinste unabhängige Gegenstand, der x als echten Teil enthält, ein Teil des kleinsten, unabhängigen Gegenstands ist, der y enthält (x @(x) P y @(y)). Daher nimmt man [A10] x P y → x @(x) P y @(x) an. Nun ist es einfach, zu zeigen, wenn wir die Operation (°) als [D3] x° = x@(x), definieren, dass die Operation (°) (C1-C3) erfüllt. Deswegen sind die absolut unabhängigen Gegenstände geschlossene Gegenstände bezüglich sich selbst. Man muss nun die Abhängigkeit zwischen Gegenständen bezüglich der Unabhängigkeit oder der Nicht-Abhängigkeit bestimmen. Husserl folgend, erfordert x Gründung oder Integration durch ein y gdw. x nicht existieren kann, mit Ausnahme einer umfassenderen Einheit, die es mit y kombiniert. 25 Also erfordert x eine Gründung oder Integration durch ein y gdw. x disjunkt zu y und zu jeder Einheit, in der x y als Teil haben muss, ist. Wenn x° existiert (und es ist ganz offensichtlich der kleinste Gegenstand, in welchem x existieren kann), dann folgt von diesem, dass, um etwas zu sein, ausgehend von welchem x eine Gründung oder Integration erfordert, (1) ein Teil von x° disjunkt von x sein muss und gemäß (A7) es ein Teil von @(x) sein muss. Schreiben wir also IGF für »Integrationsbzw. Gründungs-Forderung«. Wir haben: [D4] x IGF y gdw. y P @(x). Wenn y = @(x), dann x IGF ausschließlich y. Zudem haben wir: [D5] x IGF ausschließlich y gdw. y = @(x). Vom phänomenologischen Standpunkt können wir auch eine »relative Abhängigkeit eines x bezüglich eines y« betrachten, die zwei Beziehungen bestimmt: die Abhängigkeitsbeziehung von x relativ zu y 25
Ebd. S. 268.
564 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung
und die Abhängigkeitsbeziehung eines x relativ zur ganzen Kollektion von Inhalten, bestimmt durch y und all seine Teile. Die erste ist eine echte Abhängigkeit, durch welche x echt von y abhängt gdw. x allein in y bestehen kann. Konsequenterweise muss x ein echter Teil von y sein, daher existiert x° auf jeden Fall; so muss es ein Teil von x° sein. Also: [D6] hängt x echt von y ab gdw. x ein echter Teil von y und y ein Teil von x° ist. Die zweite Beziehung ist eine (einfache) Abhängigkeit, derzufolge x von y abhängt gdw. x kombiniert mit anderen Inhalten der ganzen Kollektion von Inhalten bestimmt durch y und all seine Teile allein bestehen kann. Daher: [D7] hängt x von y ab gdw. x IGF ein Teil von y. Die IGF-Beziehung stellt gewisse Bedingungen an y, nämlich dass y ein Teil von @(x) ist, dass es einen Teil von @(x) enthält, dass es keine zu x° fremden Teile enthält und dass es disjunkt zu x ist. Die echte ABH erfordert dagegen, dass y bereits x und folglich alle Teile von x enthält. Eine andere mereologische Beziehungsform zeichnet sich mit den Fragmenten und Momenten ab, weil es sich um Beziehungen handelt, die sich zwischen einem x und einem y abspielen, von dem x ein Teil ist. Man wird 1. 2.
(relativ) unabhängige Teile haben, die Stücken entsprechen: Fragmente. (relativ) abhängige Teile, die Momenten entsprechen: abstrakte Teile.
Ex definitione ist ein Fragment von y ein Teil von y, der nicht von y abhängt, wohingegen ein Moment von y ein Teil von y ist, der von y abhängt. Das führt zu einem Theorem, demzufolge ein relativ abhängiger Gegenstand auch absolut abhängig ist und ein relativ unabhängiger Gegenstand vielleicht im absoluten Sinne abhängig. THEOREM (1) Wenn ein a als solches ein Gründungsbedürfnis von einem m hat, (dann) hat jedes Ganze, das als Teil ein a, aber kein m hat, das gleiche Gründungsbedürfnis.
Mit anderen Worten, wenn x eine Gründung durch y erfordert, dann erfordert jedes Ganze, das x, aber nicht y hat, eine ähnliche Gründung. Dieser Begriff ist nicht derjenige durch [D4-D6] beschrieben, da dafür, dass es eine vernünftige Gründungsrelation eines x auf 565 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
einem y gibt, x von y abhängen muss, ein Teil von @(x) ein Teil von y sein muss. Jedoch hat ein y, das diese Bedingung erfüllt, im Allgemeinen viel mehr Teile als jene, die x erlauben können, zu existieren. Dies sind die Teile von y, die nicht in x° vorkommen. Man ist also gezwungen das (Be-)Gründungsverhältnis einzuführen: [D8] x ist auf y gegründet gdw. x von y abhängt und y ein Teil von x° ist. Da »ein Fragment sein« und »ein Moment sein« zwei gleichsam transitive Beziehungen sind, und wenn y ein unabhängiger Teil von z (also relativ zu z) ist, dann ist jeder unabhängige Teil x von y auch ein unabhängiger Teil von z. Dagegen gilt: THEOREM (2) Wenn y ein abhängiger Teil des Ganzen ist, dann ist es auch ein abhängiger Teil von irgendeinem anderen Ganzen, von dem y ein Teil ist.
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration Die Formalisierung und die Wiederholung der Mereologie – oder vielmehr ihrer Grundlinien – erweisen sich jedoch, nicht (oder nicht nur) aufgrund der Abwesenheit jeder detaillierteren Entwicklung der möglichen Formen, welche die Mereologie aus einem strikt formalen Standpunkt annehmen kann, als weitgehend unzufriedenstellend. Ihre Unzulänglichkeit manifestiert sich auch und insbesondere hinsichtlich der Analyse der mereologisch strukturierten Natur der regionalisierten Erfahrung. Warum erweist sich die Mereologie schließlich als unzureichend, unabhängig von ihrer großen oder kleinen Präzision in der rein formalen Bestimmung der Beziehungen zwischen Ganzem und Teil? Anders ausgedrückt: Wie weit können wir dank der Mereologie im Verständnis der formalen Struktur, z. B. des □MG oder einer Tonerfahrung, kommen? Selbst wenn man der Mereologie nicht die Rolle einer vollständigen Beschreibung der formalen Gegenstandsstruktur zuschreibt, bleibt die Frage entscheidend: erstens, aufgrund der kognitiven Notwendigkeit seitens des Subjekts, eine räumliche Visualisierung in den mereologischen Verhältnissen zu leisten. Zweitens, aufgrund der Notwendigkeit, mereologische Beziehungen räumlicher Deklinationen dort zu liefern, wo die regionalen Ontologien, die die Gegenstände kennzeichnen, es erfordern. 566 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration
Die Topologie oder, besser gesagt, die Implementierung der Topologie in die Mereologie, stellt sich jedenfalls quasi als ein notwendiger Schritt dafür heraus, dass die formale Mereologie eine Stellung zu den Objekten hat. Mit Verweis auf den zweiten Teil unserer Untersuchungen, die Diskussion der Unterscheidung zwischen einer einfachen topologischen Modellierung und der impliziten (aber notwendigen) Topologie gewisser regionaler Ontologien, müssen wir jetzt die frühere Frage angehen. Es muss, genauer gesagt, versucht werden, zu verstehen, in welchem Sinn die Frage der topologischen Implementierung der Mereologie fast natürlich ist – unabhängig von der Tatsache, dass die topologische Natur der Beziehung zwischen Ganzem und den Teilen von der Modellierung oder der regionalen Ontologie abhängt. Woher kommt nun diese Implementierungsnotwendigkeit? Sie kommt genau aus der Notwendigkeit hervor, aus der ontologischen Formalität auszutreten und gewisse mereologisch formale Beziehungen als angemessen oder nicht angemessen betrachten zu können. Insbesondere, wenn wir eine »extensionale, allgemeine Mereologie« [EAM] betrachten: »Für jedes Ganze gibt es ein Menge von (potentiellen) Teilen; für jede spezifizierbare Menge von Teilen (zum Beispiel fiktionale Gegenstände) gibt es prinzipiell ein vollständiges Ganzes, das heißt ihre mereologische Summe oder Fusion«. 26 Dennoch gibt es in der Theorie kein Mittel, eine Unterscheidung zwischen dem guten oder dem bösen »Ganzen« zu finden. Es gibt kein Mittel, ein integrales Ganzes aus einer zerstreuten Summe von Entitäten ausschließlich in Termen von mereologischen Beziehungen »Teil-sein-von« darzustellen. Man könnte ganz klar einwerfen, dass dieses hier nicht eine Aufgabe ist, die man der Mereologie als eben ontologisch formale Komponente des Zugangs zu Gegenständen zuschreiben müsste. Allerdings stellt sich, wie wir sehen werden, die Frage in jedem Fall. Unabhängig von der Topologie des Modells und der Topologie des regional räumlichen Gegenstands muss man im einen oder anderen Moment aus der formalen Apriorität herausgehen, um daraus etwas zu machen, das heißt, um es auf irgendeine Gegenständlichkeitsform anzuwenden. Die Implementierung der Topologie in der Mereologie A. Varzi, Parts, Wholes and Parts-Whole Relations. The prospects of Mereotopology, Data and Knowledge Engineering, 20, 1996: 259–286, http://www.columbia. edu/~av72/papers/Dke_1996.pdf, S. 10. Siehe hierzu noch B. Smith, Mereotopology: A theory of parts and boundaries, cit.
26
567 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
hilft also kaum, direkt dieses letzte zu regionalisieren, da man dafür voraussetzen müsste, dass nur eine Topologie für jede Regionalisierung existiert, und an diesem Punkt kommt man dazu, das »ontologisch Formale« als solches zu verlassen. Die Implementierung der Topologie in der Mereologie dient also nur dazu, eine Schnittstelle (Interface) zu erschaffen, welche die Regionalisierung richten kann, das heißt, welche die topologischen, »rein formalen« Beziehungen vorbereiten kann, als, zum Beispiel, »Teil-sein-von« in ihrer Modellierung oder räumlichen Regionalisierung. Das vollzieht sich durch das Bias der Einführung a) eines primitiven Begriffs, wie »Verbindung«, b) von drei Axiomen, die die topologische Basistheorie definieren und c) von gewissen Beziehungen, die (teils) außerhalb der mereologischen Bestimmungen liegen, die schon eine gewisse Form von Räumlichkeit einführen. Die drei Axiome folgen aus den formalen Axiomen der Mereologie: [TB1] x_x, [TB2] x_y, y_z→ x_z, [TB3] xPy→8 z (z_x→z_y). Die Beziehungen, die sich daraus ergeben, sind: – Beziehung der externen Verbindung [VE], – des tangentialen Teils [TT], – des internen Teils [IT], – der Inklusion [I], – der internen Inklusion [II], – der tangentialen Inklusion [TI], – der Superposition [S], – der Überschneidung [ÜS], – der echten Superposition [ES], – der Koinzidenz [K], – der Angrenzung [A]. Nun kann diese Basisskizze der Topologie nach verschiedenen Weisen oder Strategien in der Mereologie artikuliert werden. Dem Aufsatz von Varzi folgend, gibt es drei fundamentale Strategien. Die erste besteht darin, der Topologie eine wesentlich mereologische Grundlage zu verleihen oder, wie wir hinzufügen könnten, die wesentlich mer568 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration
eologischen Basisbegriffe der Topologie zu explizieren. Die zweite, sehr viel radikalere Strategie besteht darin, zu behaupten – und zu zeigen – in welchem Sinn und nach welchen Modalitäten sich die Mereologie schließlich als nichts anderes erweist als ein (Unter-)Teil der Topologie, und dass man in letzter Instanz die Mereologie auf der Basis der primitiven Begriffe der Topologie erklären kann. 27 Jedoch erscheint uns diese letzte Strategie einem starken Zweifel ausgesetzt, da die (wenn auch minimale) Anschaulichkeit der Topologie eine Überschreitung bezüglich der Mereologie bekundet, in welcher es – zumindest prima facie – keine Spur der räumlichen Anschaulichkeit gibt und folglich keine Möglichkeit, sie unmittelbar in die Topologie einzufügen. In welchem Sinn also könnte sich die Mereologie als ein Teil der Topologie herausstellen, wenn die Topologie selbst eine Mereologie zulassen muss, um die Mereologie als einer ihrer Teile zu behaupten? Bevor wir die dritte Strategie vorstellen, welche unseres Erachtens die scharfsinnigste ist, verweilen wir einen Moment und reflektieren über dieses befremdliche oder zumindest nicht zufriedenstellend klare Verhältnis zwischen der Topologie und der Mereologie. Es ist leicht, einzusehen, dass an erster Stelle der Einwand zur zweiten Strategie, der oben formuliert wurde, zu klären ist, demzufolge die Mereologie nicht ein Teil der Topologie sein kann, da die Topologie eine Mereologie zulassen müsste, die ihre Beziehung Ganzes/Teil mit der Mereologie strukturiert. An zweiter Stelle müssen wir über den Überschuss der räumlichen Anschaulichkeit nachdenken, den die Topologie durch das Verhältnis zur Mereologie im Sinne eines Anschaulichkeitsüberschusses offenbart, der im Horizont der formalen Ontologie kaum zugelassen werden kann. Kommen wir zum ersten Punkt. Es erscheint mehr und mehr, dass der an die zweite Strategie adressierte Einwand nicht tragbar ist, denn wenn man sich an die Grundthese hält, müsste man auch behaupten, dass die Mereologie auch kein Teil der formalen Ontologie ist; denn gerade aufgrund der Mereologie selbst müssten wir von der Mereologie behaupten, dass sie ein Teil der formalen Ontologie ist.
Ebd. S. 15: »Aus diesem Standpunkt« – fügt Varzi hinzu – »kann die Topologie, so wie die Mereologie als eine Verallgemeinerung der Identitätstheorie betrachtet werden, und noch wichtiger […], auf die gleiche Weise kann die Topologie als eine Verallgemeinerung der Mereologie begriffen werden, in welcher die Vereinigungs- und Verbindungsbeziehung das Teil-Sein und die Überlappung als Spezialfall umfassen«.
27
569 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
Doch wenn der Einwand zur zweiten Strategie nicht stichhaltig ist – in dem Sinne, in dem man nicht ausreichend definierte, metaontologische Strukturen ausweist, um sie bis zum Ende aufrechtzuerhalten – muss man sich nur auf die zweite Quelle der Ratlosigkeit konzentrieren, das heißt auf den Anschaulichkeitsüberschuss von den topologisch-formalen zu den mereologisch-formalen Vorstellungen. Wenn die fundamentale These der Strategie darin besteht, die topologische Natur der Mereologie zu behaupten, müsste man auch erklären können, warum man in der Mereologie keine Form der räumlichen Anschaulichkeit findet. Im Gegenteil. Will man behaupten, dass die Mereologie ohne räumliche Vorstellungen wohldefiniert ist, müsste man dagegen erklären, (1) warum sie einen Spezialfall der Topologie darstellt und (2) worin sie sich von der Topologie selbst unterscheidet. Wir müssen schließlich entscheiden – oder zur Bestimmung kommen –, ob die mereologischen Begriffe (1) fundamentalerweise topologische sind und (2) auf räumliche Begriffe verweisen. Ganz offensichtlich kommt der Verweis, der einfache Verweis auf eine Form der mimisch-begrifflichen Räumlichkeit, wie beispielsweise derjenige des Induktionsprinzips, nicht einer Topologie gleich, da hier die Räumlichkeit letztlich nicht strukturiert, sondern sozusagen extrinsisch ist. Wenn also die Begriffe und Beziehungen, anstatt topologisch zu sein, durch einen einfachen Verweis auf räumliche Begriffe mereologisch strukturiert sind, muss man dazu gelangen, zu verstehen, ob diese Räumlichkeit auf der formalen Struktur selbst der Mereologie beruht – als Residuum der Erschöpfung jeglicher Non-Formalität in der Genese der logischen Strukturen – oder ob sie immer nur eine mögliche, wenn auch wichtige Anwendung der Mereologie zur Räumlichkeit bleibt. Kehren wir zu den Basisbegriffen der Mereologie zurück. Wenn wir beispielsweise die Beziehungen betrachten, wie sie von Varzi formal beschrieben und benannt sind, würde die Behauptung der topologischen Natur der Topologie, zumindest prima facie, notwendig erscheinen. In der Tat hat man, wenn man Wörter wie »Überlappung« [Overlap] und »Unterlappung« [Underlap] usw. buchstäblich nimmt, den Eindruck, es mit topologischen Begriffen zu tun zu haben. Wenn man jedoch vom Namen zu den Eigenschaften geht, hat man es mit logischen Definitionen erster Ordnung zu tun, ohne Verweis auf räumliche Begriffe (es sei denn, man will sich bis zur Behauptung vordrängen, dass selbst die Vorstellung »Teil-sein-von« räumlich oder topologisch ist, was widersinnig wäre). Wenn man sich überdies 570 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration
an die Formalisierung der Mereologie wendet, 28 ist die Abwesenheit der Räumlichkeit und dadurch der Topologie offensichtlich. Man könnte sich an die Fundierungsverhältnisse klammern, für welche jedoch die Räumlichkeit nicht ganz offensichtlich intrinsisch ist und, um dies zu zeigen, bedürfte es keiner großen Mühe. Man könnte auch behaupten, dass die Menge-Beziehungen der Disjunktion und der Komplementierung im Hintergrund räumliche Vorstellung haben. Aber das bedeutet weder, dass diese Begriffe eine Topologie implizieren, noch, dass solche Begriffe eine intrinsische Räumlichkeit haben. Die Menge-Beziehungen der Disjunktion und der Komplementierung können auf rein algebraische Weise dargestellt werden. Und die Tatsache, dass algebraische Topologien existieren, bedeutet weder die Behauptung noch den Beweis, dass jedes algebraische Element topologisch ist. Zuallererst führt uns die Ausgrenzung der Hypothese, nach welcher die Mereologie intrinsisch topologisch ist, zu der evidenten Spaltung zwischen »dem intrinsisch topologischen Sein« der Mereologie (das heißt, zugleich und notwendigerweise eine räumliche Strukturierung zu behaupten) und dem Fakt, mit einem Verweis zu den räumlichen Vorstellungen zu operieren. Wir müssen an diesem Punkt zu einer Entscheidung kommen, ob die Räumlichkeit, die man in den topologischen Strukturen wahrzunehmen glaubt, den Strukturen selbst intrinsisch ist oder ob es nicht nur ein subjektives Komplement einer ontologisch-formalen Struktur ist, ohne einen konstitutiven Verweis auf den Raum. Diejenigen, die behaupten möchten, dass dieser Verweis intrinsisch ist, könnten manche Beispiele von mereologischen Beziehungen anführen, in oder durch welche sich ein Verweis zu einer räumlichen (oder verräumlichten) Vorstellung von Elementen auf fast automatische, unreflektierte Weise vollzieht. Wir werden nicht einen Moment zögern, dieser These in Verbindung mit dem Verständnis über die Natur dieses unreflektierten Verweises, der fast Angelegenheit eines mentalen Automatismus ist, ihre Gültigkeit, ihre Scharfsinnigkeit zuzugestehen. Dennoch, obwohl die Räumlichkeit auf unentwirrbare Weise mit der morphologisch konstituierten Erfahrung verbunden ist, müssen wir weiter gehen und verstehen, auf welche Weise sie es ist. Und in dieser Hinsicht ist die Genese das, was den Vordergrund der Bühne einnimmt.
28
Vgl. z. B. die oben dargestellte Mereologie von Husserl-Casari.
571 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
Nun ist die Tatsache leicht zu zeigen, dass die Mereologie ihre Genese – als ontologisch-formale, reine Struktur – im Ausgang der räumlichen Erfahrung gefunden hat. Das kommt der Behauptung gleich, dass sowohl auf dem ontogenetischen Niveau (das heißt für das, was die Morphogenese unserer impliziten begrifflichen mereologischen Struktur betrifft) als auch auf dem phylogenetischen Niveau (das die Ausarbeitung einer ontologisch-formalen Mereologie als solche betrifft) die Erfahrung der Beziehungen des »Ganzen« räumlich und ihre Teile zweifelsohne einen terminus a quo darstellen. Aber das ist hier nicht die entscheidende Frage! Das, worauf es zu bestimmen ankommt, ist, ob eine solche Genese auf vollständige und integrale Weise zu einer totalen Ausschöpfung der Räumlichkeit in der Vorstellung der mereologischen Strukturen geführt hat. Die Tatsache, dass diese Erschöpfung aus phylogenetischer Sicht integral ist, ist klar. Dennoch würde man, indem man das subjektive und partikuläre Gegenstück der mereologischen Erfahrung beiseite setzt, das Wesentlichste beiseitesetzen, die Tatsache, dass die Mereologie eine Erfahrungsstruktur ist. Denn es ist gerade die Erfahrung ohne ihre mereologische Struktur, die uns interessiert und nicht das Bestehen einer formalen Ontologie qua talis. Wenn nun die Kluft zwischen der Nicht-Räumlichkeit der Mereologie und der Räumlichkeit der mereologischen Auffassungen in den meisten Fällen (epi to polu) ihren Ursprung in dem Übergang von der Idealität der nichträumlichen Struktur zu der subjektiven Dimension findet, dann ist die Räumlichkeit der ontologisch-formalen Struktur nicht etwas Intrinsisches. Aus diesem Grunde ist man gezwungen, die (aristotelische) Redewendung epi to polu, in den meisten Fällen, zu verwenden. Denn wir selbst könnten sie, wenn wir mit den (rein)symbolischen Ableitungen der Mereologie vertraut werden, in rein formaler Weise belassen, ohne Rücksicht auf die morphogenetische, räumliche Grundlage, von wo unsere mereologische, elementare Erfahrung ausgeht, zu nehmen. Die Räumlichkeit, die das Subjekt more mereologico in seinem Vorgehen einführt, hängt also nicht von der Mereologie selbst ab, das heißt, dass es ihr nicht intrinsisch ist, sondern von der subjektiven Abstraktionsunfähigkeit eines Individuums. Daher muss man notwendigerweise schließen, dass die Mereologie bezüglich der Räumlichkeit neutral ist, und notwendigerweise folglich, dass sie nicht in einen Bereich der Topologie zurückkehrt. Das verschließt nicht, sondern eröffnet ganz im Gegenteil das Befragungsfeld des Verhältnisses 572 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration
zwischen der Mereologie und der Topologie, da die Tatsache, dass die Mereologie in ihrem ontologisch formalen Bestand keine Form der räumlichen Anschaulichkeit (des Vorgestellten) zugibt, nicht die Forderung der Topologie nach der mereologischen Erfahrung löscht. Die räumliche Darstellung der mereologischen Beziehungen, die in den Akten eingreift, ist weit entfernt davon, etwas quasi Neben-Sächliches zu sein, und entfaltet die Interaktion zwischen der formalen Struktur und den regionalen Ontologien, auf welche sie sich anwendet und auf welche sie sich nur anwenden kann, um die Erfahrung von etwas auf mereologische Weise zu definieren. Eine solche ursprüngliche Räumlichkeit der Vorstellung, welche aus der Morphogenese der Strukturen hervortritt und welche in der Subjektivität der Akte zurückkehrt, eröffnet ipso facto das Anwendungsfeld der Mereologie zu den verschiedenen Gegenständlichkeitsregionen, von denen aus man erfährt. An diesem Punkt erweist sich die dritte Strategie als die scharfsinnigste. Von diesem Standpunkt aus »kann die Topologie nach allem als eine Unter-Theorie der Mereologie betrachtet werden«. Das bedeutet dass sie »eine auf spezifische Bereiche anwendbare Unter-Theorie ist, deren Verbindungen und Begriffe in den Teilrelationstermini zwischen Entitäten eines partikulären Typs (beispielsweise in den räumlichen Regionen) erschöpft werden können« 29. Vielmehr, als durch topologische Strukturen (übrigens sehr wichtige) formale Aspekte der Anwendung der Mereologie auf die Gegenständlichkeitsregionen zu entwickeln, interessieren wir uns für spekulative Probleme dieser Anwendung. Nun ist die erste Frage, die sich stellt, zu wissen, ob jede Anwendung der Mereologie auf eine regionale Ontologie ipso facto eine topologische Strukturierung impliziert. In dieser Hinsicht muss angemerkt werden, dass eine solche Implikation, damit sie notwendig ist, jeder regionalen Ontologie ihre Räumlichkeit zuerkennen muss, das heißt, dass sie – auf ganz offensichtlich dogmatische Weise – jeder Gegenständlichkeit, die durch eine regionale Ontologie beschrieben wird, das Prädikat der Räumlichkeit zuschreiben müsste. Um das zu machen, müsste man – notwendigerweise a priori – behaupten, dass alle Gegenstände, die man erfahren kann, jedes »Etwas«, das man auffassen kann, intrinsisch räumlich sind. Das bedeutet ganz offensichtlich nicht nur,
29
Ebd. S. 15.
573 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XI Protothesen und Immanenz
1. 2.
dass jede Gegenständlichkeit gemäß einer Räumlichkeit darstellbar ist und dass jede Erfahrung von etwas räumlich als (ontologisch-regionalisierte) kontextuelle Erfahrung ist.
Hier ist der Begriff der intrinsischen Räumlichkeit sehr viel stärker, weil er wesentlich metaphysisch ist. Die intrinsische Räumlichkeit ist nicht die kontextuelle Räumlichkeit, weil diese letzte allein behauptet, dass sich ein Gegenstand – als thematisches Objekt einer anschaulichen Auffassung – in einem Kontext gibt, der weder reduziert noch jemals auf die ontologische Räumlichkeit des Gegenstands selbst reduziert werden kann (das heißt, was ihm durch die regionale Ontologie zugeschrieben ist, welche die Gegenständlichkeit hier charakterisiert). Die intrinsische Räumlichkeit ist auch keine repräsentative Räumlichkeit des Gegenstands: Die Tatsache beispielsweise, zu behaupten, dass sich die natürlichen Zahlen auf einer Geraden ausweisen, entspricht überhaupt nicht der Behauptung, dass die Zahl selbst intrinsisch räumlich ist. Das einzige Mittel, um die intrinsische Räumlichkeit jedes Gegenstands zu behaupten, wäre es, eine monistische physikalische Ontologie zu entwickeln, derzufolge die Bedingung der Existenz jedes Gegenstands eine metrische, raum-zeitliche Individuation ist. Jedoch würde sich diese Lösung genau aus physikalischer Sicht als unhaltbar herausstellen: Auf experimentalem Niveau kann in der Quantenmechanik das Ereignis auf konstitutive Weise weder Ort noch präzise metrische Individuation haben. Auf dem Niveau der physikalischen Theorie, zum Beispiel in der SUSI-Theory, müsste man aufstellen, nach welchen und nach wie vielen Dimensionen ein Gegenstand ein Gegenstand ist. Auf jeden Fall kann man nicht a priori sagen, dass jeder Gegenstand intrinsisch räumlich ist. Der einzige gangbare Weg ist, zu behaupten, dass ein Gegenstand als solcher in eine räumliche Vorstellung eingeschrieben sein kann und gegebenenfalls in eine topologische Strukturierung des metaontologischen Raumes zurückkehren kann. Diese Behauptung (als spekulative Hypothese) öffnet die Möglichkeit, auf rein deskriptive Weise zu entscheiden, 1.
2.
ob die Räumlichkeit der Gegenstandsvorstellung ihm intrinsisch ist, da sie ihm durch die regionale Ontologie zugeschrieben ist, die seine Gegenständlichkeit als solche definiert und ob sie der Modellierung einer Erfahrungsform zugehört, für welche von einer intrinsischen Räumlichkeit zu sprechen sinnlos ist, da man
574 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration
sich durch den Ausdruck »intrinsische Räumlichkeit« auf eine physikalische Räumlichkeit bezieht.
Folglich muss man überlegen – viel eher, als sich zu fragen, ob sich der Großteil der Gegenstände, die nicht eine intrinsische Räumlichkeit haben, dagegen nach einer Topologie strukturieren können, ohne dadurch eine fiktive Räumlichkeit zu haben –, in welchem Sinne die Räumlichkeit (und auch die topologische Räumlichkeit) das gegenständliche Universum in dieser oder jener anderen Gegenständlichkeitsform strukturiert. Das tritt aus der Tatsache hervor, dass die Modellierung selbst – oder der Großteil der Modellierungen von sinnlich unsichtbaren Gegenständen – eine topologische Strukturierung ihrer Gegenstände erfordert, einfach weil diese Gegenständlichkeitsformen weder eine intrinsische Räumlichkeit physikalischen Typs haben noch jemals haben können. Ist die topologische Räumlichkeit also weniger intrinsisch? Muss die morpho- und ontogenetische Struktursedimentierung der räumlichen und topologischen Visualisierung gewisser Gegenständlichkeitsformen als fiktiv, extrinsisch, völlig nichtoperativ in unserer Gegenstandserfahrung interpretiert werden? Ganz im Gegenteil! Wenn wir zum Beispiel die Mathematiker sogar in ihren komplexesten Themen (beispielsweise die Theorie der Kategorien) heranziehen, sehen wir dort eine räumliche Strukturierung und, wenn man so will, eine topologische, deren morphologische Stabilität derart ist, dass sie die falsche Frage der intrinsischen oder nicht-intrinsischen Natur der Räumlichkeit der Gegenständlichkeiten einklammert. Auch wenn man von ihrer morphogenetischen Strukturierung (sowohl der Räumlichkeit als auch der Topologie nach) sprechen kann, fasst die Frage nach der intrinsischen Natur der Räumlichkeit nicht die Sache selbst auf. Man könnte dieselbe Sache der Interaktion zwischen verschiedenen berechnenden Komponenten in einem informatischen System behaupten. Wenn ihre Modellierung eine Räumlichkeit und eine wohlbestimmte Topologie darstellt, fragt man sich vergeblich, ob diese Räumlichkeit intrinsisch ist oder weniger. Die negative Antwort lässt uns keinen Schritt in Richtung eines Verständnisses und einer Fixierung dieser metaontologischen Dimension machen. Die positive Antwort eröffnet die Aufgabe der Modellierung, die nicht die Aufgabe der Modellierung eines Gegenstands ist, sondern die Modellierung der Ontologien selbst. 575 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
§ 112. Metaphysisches Modell vs. □metaontologische Modelle Der Weg über die metaontologische Dimension hat uns gezeigt, dass uns die Frage nach dem Realen, wenn sie auf scharfsinnige Weise artikuliert wird, nicht zur meta-metaphysischen Individuation eines Gegenstandsraumes führt, dessen Bestandsaufnahme durch eine Individuationsform (oder durch die fixe Einheit von Individuationsformen) vorgeschrieben sein müsste, sondern zu einer topologischen Öffnung. Es gibt keine Räumlichkeit in dem Sinne, durch den die Öffnung der mereo-topo-logischen Modellierungen vom Standpunkt der metaphysischen Auswahl (die in einer physikalischen Individuationsform endlich individuiert sein würde) auf eine wohlbestimmte Räumlichkeitsform beschränkt sein müsste. Die topologische Räumlichkeit, die zu den Ontologien und ihren Individuationsprotokollen als Ergebnis ihrer Modellierung gehört, ist keine physikalische Räumlichkeit. Sie hat daher mit derjenigen Räumlichkeitsidee nichts zu tun, welche wir tendenziell in dem Realen, das sich durch seine Erscheinung vor uns öffnet, wiederfinden. Es geht hier vielmehr um die Aufhebung der Möglichkeit einer einzigartigen Individuation und eines metaphysischen Protokolls, das dazu dienen würde, den Raum des Realen und seinen Inhalt ontologisch zu bestimmen. Die Räumlichkeit, auf welche wir uns hier beziehen, ist allein die topologische Räumlichkeit. Der Unterschied zwischen der topologischen Räumlichkeit (relativ zur Ontologie als solcher, innerhalb des metaontologischen Horizonts) und der Räumlichkeit der Wahrnehmung (die wir durch eine frei erfundene Abstraktion erhalten), weist uns schon auf eine Kluft hin. Es geht um die Kluft zwischen dem, was ein metaphysisches Modell sein kann (und notwendigerweise sein muss), und dem, was
576 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 112. Metaphysisches Modell vs. □metaontologische Modelle
metaontologische Modelle sein können. 1 Der Raum, so wie er auf der Grundlage einer einzigen Idee der Individuation und der metaphysischen Grundvoraussetzungen (sowohl explizit als auch implizit) gedacht wird, entweicht jeder Pluralisierung. In dieser Perspektive wären »die Räume« nichts anderes als Portionen des Raumes oder Raumregionen, aber sie könnten niemals eine Pluralisierung als Räume finden. Es ist der metaontologische Übergang, der diese Pluralisierung und die Entstehung der Korrespondenz zwischen der Ontologie und ihrer Topologie mit sich zieht. In der metaontologischen Öffnung und in der Perspektive einer Modellierung der Ontologien selbst – die durch die Unmöglichkeit einer einseitigen Beschränkung der Räumlichkeit auf die vorgeblich wirkliche Räumlichkeit zuerst erscheint – gibt es keinen Platz für einen Raum, der nicht ein topologisch-metaontologischer Raum ist. Die (zunächst numerische) Entgegensetzung zwischen Räumlichkeit in ihrer monistischen Bedeutung und Topologie in ihrer pluralistischen Bedeutung im Sinne der ontologisch beschriebenen Topologien, die durch die Ontologien selbst konfiguriert werden, entwickelt schon eine Alternative. Diese Alternative ist die meta-metaphysische Alternative zwischen dem Projekt eines metaphysisch einzigen Modells und dem der Modellierung der Systemformen der Individuation, die durch die Ontologien selbst und die Wissensformen, auf welche sie sich beziehen, entwickelt sind. 2 Das metaphysische Modell der Welt oder des Realen bzw. des Seins kann nur holistisch sein und der Holismus, jeglicher (ontologischer) Holismus, Für den Ausdruck »□metaontologische Modelle«, »□MOM«, gilt das, was man (auch) für »□MG« gesagt hat, nämlich, dass der kontextuale Operator darauf hinweist, dass sie sich im Inneren des metaontologischen Horizonts verorten, von dem ausgehend man Strukturen auffassen kann, ohne, dass es präjudiziellerweise bestimmt sei, dass diese Strukturen eine und nur eine Ontologie betreffen. 2 Normalerweise entwickelt man keine Ontologien ex nihilo, um imaginär mögliche Universen zu erschaffen, sondern um Wissen zu erlangen. Ganz offensichtlich kann jedermann absolut kohärente Ontologien von etwas entwickeln, so viele er möchte, die man nicht auf epistemische oder erfahrende Weise auffassen kann. Gleichfalls kann man Gemälde, Skulpturen machen oder Romane schreiben, die nicht notwendigerweise (und auch glücklicherweise) realistisch sind. Und es ist auch wahr, dass solche imaginären Öffnungen weit entfernt davon sind, die universale Rationalität zusammenzuschnüren. Im Gegenteil, indem sie ihre Fähigkeit erweitern, in anderen Welten/Nicht-Welten zu leben, helfen sie dabei. Aber die Erforschung der Formen der Mathesis kann sich im Moment in der Modellierung der Ontologien vollziehen, die keinen wesentlichen Bezug, keine Verschmelzung mit den Wissensformen haben. 1
577 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
muss letztendlich ein metaphysischer Holismus sein. Diesem metaphysischen Holismus eines einzigen Modells – der ein Bild der Welt vermittelt, das heißt ein Holismus, der das Weltbild in der Letztbegründung der Wissenschaften (jedoch in der Unwissenheit von der Struktur des Metatheoretischen) erforscht – setzt sich der Pluralismus der metaontologischen Modelle entgegen. Aber was ist ein metaontologisches Modell (□MOM) genauer? Warum setzt es sich dem Götzen eines Weltbildes entgegen? Warum könnte ein □MOM nicht ganz einfach als eine Ontologie identifiziert werden? De facto ist ein □MOM nicht nur eine Ontologie, weil eine Ontologie ganz einfach ein formales oder formalisiertes System der Gegenständlichkeitsbestimmung sein kann, ohne dass es notwendig ein Individuationsprotokoll implementieren muss. Wenn allein die Ontologie als notwendigerweise relativ, als Gegenstand innerhalb einer Öffnung (im metaontologischen Horizont) und, aus metametaphysischer Sicht, als ein sedimentiertes System, das eine Protothesis-(p) oder ein System von Protothesen-(p) bestimmt, vergegenwärtigt ist, dann kann es Anlass geben (und tut es auch tatsächlich) zu einem □MOM. Man könnte ein □MOM zunächst als ein einer (notwendigerweise relativen) Ontologie intrinsisches System definieren, die ihm erlaubt, Protothesen-(p) einzusetzen. Wenn man sich an diese Definition hält und zunächst zur Charakterisierung der □MOM zurückkommt, versteht man sofort, auf welche Weise die □metaontologische Modellierung ipso facto die Idee einer Konstitution (oder einer möglichen Rekonstitution) eines Weltbildes verneint. In diesem Sinn ist die Idee eines Weltbildes als ein einziges epistemisches Bild der phänomenalen Welt (auch wenn bloß als Telos gedacht) aufgegeben. Es geht um den Gedanken eines reziproken Verweises zwischen mehreren □MOM, die den Zugang des Wissens zum Realen strukturieren können (wie wir in den folgenden Paragraphen sehen werden). In diesem Sinn gibt es keine Möglichkeit, eine vollständige Bestimmung von Seiten eines □MOM oder selbst von mehreren □MOM, von demjenigen also, das sich als das Reale manifestiert, zu denken. Was sich glücklicherweise (und vielleicht notwendigerweise) in der metaontologischen Perspektive einführt, ist die Notwendigkeit, die Bewegung der ontologischen Strukturen, ihrer Interaktionen, ihrer Verwicklungen, ihrer Verschmelzungen usw. und folglich die Dimension der Generativität, die aus dieser Dynamisierung hervorgeht, zu denken. Genauer gesagt: Unabhängig von den utopischen und grotesken Forderungen jeglicher normativ holistischen Ontologie zerstören 578 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 113. Was ist ein □MOM?
schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Praxis und besonders die unüberschreitbare Realität der negativen Ergebnisse jeder Letztbegründung die Idee der Möglichkeit eines Weltbildes. Das Weltbild konstituiert sich also weder ausgehend von einem singulären, epistemischen Modell noch als eine enzyklopädische Sammlung von epistemischen Modellen. Es konstituiert sich durch ein Netz von □MOM, welches, wie wir sehen werden, morphologisch zu demjenigen analog ist, das durch die Kybernetik beschrieben wird. Aber das Netz ist kein Bild mehr. Der Raum des Horizonts, in welchem sich die Formen der Mathesis zeigen, ist ein »topologischer« Raum. Wir könnten sagen: Es geht um die kategorische Öffnung der strukturellen Beziehungen zwischen mehreren topologischen Räumen. Und es ist genau von dieser Kluft zwischen Modellen aus – und zwischen der Annahme der Möglichkeit eines einzigen Modells und der Möglichkeit einer Vielzahl von Modellen –, dass sich die Perspektive der Mathesis selbst definiert.
§ 113. Was ist ein □MOM? Wir müssen nun zu einer scharfsinnigeren Bestimmung von »Modell« und der »meta-ontologischen Modellierung« selbst kommen, weil die Beziehung (schließlich ausreichend allgemein und vage), die wir im vorhergehenden Paragraphen geliefert haben, nicht ausreichen würde, um den Weg vom meta-ontologischen Horizont zur Perspektive oder zur Feststellung der Dimension der Mathesis zu entwickeln. Kommen wir also zu der Idee einer meta-ontologischen Modellierung selbst zurück, um dann auf scharfsinnigere Weise die Idee eines □MOM zu definieren. Es gibt eine Art Spiegelungsdynamik zwischen dem »Gegenstand« als Zuschreibungsbedingung eines intentionalen Bestands und der Sacherfahrung als Ergebnis einer Menge von Implementierungsbedingungen eines konzeptuellen Schemas oder einer Grund-Ontologie der Erfahrung. Damit ich »Gegenstand« im Kontext einer existentiellen Zuschreibung benutzen kann, muss ich schon die Regeln für die empirische und öffentliche Verwendung des Wortes »Gegenstand« gelernt haben, das sich auf eine Entität der objektiven Welt bezieht – also ein Gegenstand mit einem phänomenalen Körper in Raum und Zeit ausgestattet. Auf gewisse Weise ist die Zuschreibung einer Existenz etwas Genetisches oder etwas, das eine Befolgung der Regeln voraussetzt, die nur auf 579 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
der Erfahrung des Realen fundiert sein können. Das heißt weder, dass es keine Welt gibt, noch, dass wir eine stumme Erfahrung von den Gegenständen als Sachen ohne Namen oder ohne Bedeutsamkeit haben. Das heißt, wiederholen wir es, dass die existentielle Zuschreibung als ontologisch relativ (also genetisch konstituiert, ohne ein letztes metaphysisches Fundament in re) zu interpretieren ist und dass sie als eine der Koordinaten eines Systems interpretiert werden kann. Ein solches System ist in einer Ontologie und in jeder Theorie verschmolzen und als etwas Auffassbares ist es auch modellierbar. 3 Man kann also im meta-metaphysischen Diskurs über die verschiedenen Individuationsprotokolle (die den Ontologien eigen sind) nachdenken – eine deskriptive und topographische Aufgabe, die diese Protokolle selbst bezüglich ihrer Beziehungsontologie beschreibt. In diesem Sinne wäre die □MO Modellierung lediglich eine Sprache, hinreichend klar und fähig, die Individuationssysteme einer Zugangsform zum Realen und auch ihre Interaktionen zu beschreiben. Da es sich um eine meta-metaphysische Modellierung handelt, die folglich bereits auf jeder ontologischen Verpflichtung und jedem Individuationsprotokoll beruht, wäre es sinnlos, sich zu fragen, wo diese Modelle sind. Diese Modelle treten durch die Auffassung einer kohärenten Modellierungssprache als Charakteristiken von gewissen Wissensformen hervor. Der metatheoretische Horizont erweist sich also noch als Ausgangspunkt einer derartigen Modellierung, ohne dass dadurch die Modellierung dieser Systeme und die Topographie, die sie hervortreten lässt, auf ebendiesen Horizont kontinuierlich zurückzuführen oder zu reduzieren sind. Die Modellierung gibt sozusagen Zugang zu einem anderen Raum, zu einer anderen Dimension, die ihre Spekularität mit dem metatheoretischen Horizont, dieser aber nicht die gleiche »Dicke« behält. In anderen Worten: Ein □MG ist viel reicher und komplexer, mannigfaltiger artikuliert als sein □MOM, weil die Sprache der metaontologischen Modellierung durch die Reduktion wirkt und (selektiv) gewisse Komponenten der □MG selbst hervorhebt. Jedenfalls können wir dazu gelangen, in einem □MG die Termini, Knoten oder Punkte zu isolieren (oder hervorzuheben), die als framework für die ontologische Beschreibung ihrer eigentlichen GeMan kann selbstverständlich von einer Welt reden, aber nicht mit Grund, als der letzten Instanz einer vollständigen Objektivität. Das »Von-der-Welt-Reden« wäre, heutzutage, wie von einer intrinsischen Verortung von Körpern reden.
3
580 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 113. Was ist ein □MOM?
genstände funktionieren können – der Gegenstände, die es als Bereich des epistemischen Ansatzes, der ihm eigen ist, fixiert. 4
Abb. 15
Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, cit., [279] S. 286 : »Die Wissenschaft als Operation innerhalb der gegebenen Situation des Forschens rechtfertigen, – und gerade dadurch die Notwendigkeit einer ›ergänzenden‹ Ontologie zu dieser operationalen Wissenschaft einsichtig machen – Die wissenschaftliche Behandlung des Seins, der Zeit, der Evolution usw. charakterisieren als eine Festlegung von ßanffraßZügenßanffrbß des Universum oder von »Zügen« des Seienden, als eine systematische Auslegung dessen, was sie aufgrund ihrer Funktion als Scharniere enthalten. Die Wissenschaft ist aus Prinzip nicht erschöpfende Darstellung, sondern physiognomisches Portrait – ihre manipulative und ihre operationelle Freiheit ist unmittelbar synonym mit einer Intra-ontologie. Die Äquivalenz, die die analytische Geometrie zwischen Raum und Zahl einführt, ist nicht als eine Vergeistigung des Raumes (Brunschvigs) zu verstehen, sondern ebenso als eine Verräumlichung des Geistes, als eine Anschauung von der ontologischen Äquivalenz von Raum und Zahl vor einem Erkenntnissubjekt, das von der Welt ist.«
4
581 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
In diesem Sinn können wir die ontologische Struktur – die durch den □MG (explizit oder implizit) vorgeschrieben wird – als ein relational strukturiertes Ensemble von Termini (Punkten oder Knoten) denken, die als Träger einer Ontologie dienen. 5 Diese Termini projizieren sich auf den Erfahrungshorizont, indem sie einen Raum beschreiben (der, wie wir sehen werden, ein geschlossener topologischer Raum ist, ohne dadurch endlich zu sein). 6 Dieser Raum ist der ontologische Bereich des □MG oder, um es besser zu sagen, sein ontologisches Abbild, seine ontologische Projektion auf den Horizont der Erfahrung. Wenn in der visuellen Metapher oder in jeglicher graphisch möglichen Modellierung dieser Raum, der den ontologischen Bereich darstellt, als eine zweidimensionale Portion des Raumes (nämlich als eine Oberfläche) erscheinen kann, dann ist diese Projektion jedenfalls nicht vollständig identifizierbar mit der Idee des Raumes, die der gewöhnlichen Erfahrung entstammt.
5 Vgl. dazu U. Moulines, Structuralism: The Basic Ideas, cit., S. 5 : »The simplest structural units a theory consists of are its models (in the sense of formal semantics). They are sequences of the form: hD1, D2, …, Dm; R1, R2, …, Rni where the Di are so called »basics sets« and the Ri are relations constructed over (some of) these sets. Di settle the theory’s ontology, i. e. they contain the objects assumed by the theory as »real« – be they empirically detectable or purely mathematical objects. And as for Ri, they often are functions from empirical objects to real numbers or vectors.« 6 Vgl. B. van Fraassen, The scientific Image, Oxford, 1980, S. 64 [A new Picture of Theories]: »Impressed by the achievements of logic and foundational studies in mathematics at the beginning of this century, philosopher began to think of scientific theories in a language-oriented way. To present a theory, you specified an exact language, some set of axioms, and a partial dictionary that related the theoretical jargon to the observed phenomena which are reported. Everyone knew that this was not a very faithful picture of how scientists do present theories, but held that it was a »logical snapshot«, idealized in just the way that point-masses and frictional planes idealize mechanical phenomena. There is no doubt that this logical snapshot was very useful to philosophical discussion of science, that there was something to it., that it threw light on some central problems. But it also managed in mislead us. A picture is only a picture – something to guide the imagination as we go along. I have proposed a new picture, still quite shallow, to guide the discussion of the most general features of scientific theories. To present a theory is to specify a family of structures, its models; and secondly, to specify certain parts of those models (the empirical substructures) as candidates for the direct representation of phenomena. The structures which can be described in experimental and measurement reports we can call appearances: the theory is empirically adequate if it has some model such that all appearances are isomorphic to empirical substructures of that model.« (Hervorhebungen von mir).
582 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 113. Was ist ein □MOM?
Abb. 16
Warum soll diese Projektion zweidimensional, nämlich ontologisch bi-dimensional sein? An diesem Punkt, in dieser fast paradoxalen Frage, manifestiert sich die ganze Kluft, die zwischen einer □metaontologischen Modellierung und unserer »gewöhnlichen« Vorstellung der Wirklichkeit besteht, als ob das Reale sich in einem dreidimensionalen Raum wieder verschließen ließe, oder schlimmer, sich auf einen Plan zurückführen ließe, in dem wir Portionen als ontologische Projektionen abschneiden könnten. Hier ist die Auffassung des Unterschieds zwischen der ordentlichen Räumlichkeit (die notwendigerweise die Grundlage einer visuellen Modellierung sein muss) und der topologischen Räumlichkeit (die eine □MO Modellierung unterstützen muss) entscheidend. Dennoch ist die eine wichtig, um die andere einzuführen, weil man durch die visuelle Modellierung die neue Beschreibungsaufgabe des Horizonts der Mathesis und der Formen der Mathesis verstehen kann, die sich hier verorten. Ebenso ist es wichtig, zu verstehen, in welchem Sinn die topologische Struktur der Modelle die visuelle Modellierung überschreitet und dadurch ihre theoretische Substanz repräsentiert. Ein □MOM, zunächst nach einer visuellen Modellierung begriffen, ist eine Struktur im Inneren eines □MG, die eine Projektion auf den Erfahrungshorizont bewerkstelligt, die (mindestens) eine Portion dieses Horizonts beschreibt. Die Bedingung »mindestens« ist notwendig, weil es, wie wir sehen werden, nicht notwendig ist, dass ein 583 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
□MG nur einen (einzigen) Teil des Erfahrungshorizonts individuieren muss. Das wäre nur möglich, wenn man den □MG auf extrem begrenzte Weise (als eine »einfache« Theorie oder eine Theorie »des Einfachen«) begreifen würde. Das, was die □MO Modellierung also entwickelt, ist eine doppelte Situation oder ein Spiegelungsverhältnis zwischen der mereo-topologischen Struktur, die sich in einem □MG hervorhebt, und der Portion des Erfahrungshorizonts, die davon seine Projektion im visuellen Modell repräsentiert. Genauer betrachtet gibt es hier die Beziehung zwischen mehreren Elementen: ein □MOM und die Topologie, die es herbeiführt, das visuell Korrespondierende des Modells und die Portion des Raumes, die es im Erfahrungshorizont beschreibt. Diese drei Elemente beziehen sich ihrerseits auf den □MG. Aufgrund dieser Elemente und ihrer strukturellen Beziehungen können wir dazu kommen, die Beziehung zwischen einer »Topographie« und einer □MO »Topologie« zu denken. Die theoretische Reflexion über das Abbild und über die Aufgabe der Erforschung der Formen der Mathesis in der visuellen Modellierung wird uns zur Einführung und als Vergleichungsterminus dienen, um die Strukturen zu denken, die sie aus logischer und metaontologischer Sicht konstituieren.
§ 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given« Die Ergebnisse der Analyse der metatheoretischen Erfahrung haben uns die Unmöglichkeit einer ersten und letzten Schau jeglicher Wissensform aufgezeigt, das heißt die Unmöglichkeit eines »Blicks von Nirgendwo« bezüglich des intimen Lebens des Wissens. Die Ergebnisse der metaontologischen Analysen haben diese Unmöglichkeit bestärkt. Der alleinige Weg, den man gehen kann, um die Formen der Mathesis zu denken, ist derjenige, der seinen Ausgangspunkt in der Verweigerung jeglicher Form des Vorrangs und Überschusses findet. Wenn die Wissensformen (als □MG) keine Form des Vorranges aufweisen, wenn die Ontologien (die solche Formen enthalten und beschreiben) eine Form oder ein letztes System von Individuationsformen herbeiführen lassen können, dann ist die einzige Möglichkeit, sich einen Weg zur Mathesis zu bahnen, jede architektonische Stimmung aufzugeben, um sich selbst der Erkundung der Wissensformen und der Relationen zu widmen, die sie mit dem Erfahrungsboden 584 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«
unterhalten. In diesem Sinn kann der Gedanke der Formen der Mathesis am Anfang nur »topographisch« sein. Was bedeutet »Topographie« im visuellen Modell einer □MO Modellierung? Der topographische Ansatz als erste Skizze eines Gedankens über die Formen der Mathesis ist nur die Beschreibung und die Kartierung (mapping) der ontologischen Bilder, die von der Projektion und von der Beschreibung eines gewissen Anteils des Erfahrungsbodens abhängen. Nur im Inneren dieses Anteils des Erfahrungsbodens vollzieht eine Ontologie ihre Individuationen, indem sie gewissen genetisch entwickelten Protokollen folgt. Die □MG sind keine Sachen, die nirgendwo bleiben. Sie beruhen auf dem Erfahrungsboden in dem Sinne, in dem es eine gewisse Verwurzelung gibt: Diese Verwurzelung ist so stark, so konstitutiv, dass sie, im Gegenteil, jede Interaktionsdynamik durch etwas bestimmt, das »Gegebenheit« genannt werden kann. Die Analyse des Metatheoretischen hat die Theorien oder die Wissensformen in ihrer ganzen Bodenhaftigkeit, in ihrer ganzen Abhängigkeit von Dynamiken gezeigt, die nicht überirdisch bzw. himmlisch, sondern genau genommen geodätisch sind. Der genetische Ansatz zu den Wissensformen, etwa ihre strukturelle Archäologie, kann also gleichfalls nur auf positive Weise die metaontologische Modellierung und ihr visuelles Gegenstück bestimmen. Die □MG sind also nur Strukturen, die sich in halber Höhe des Erfahrungsbodens aufhalten, kraft des Abstraktions- und Idealisierungsverfahrens, die ihre eigene Struktur verursacht haben. Doch sie stehen immer in (modularer) Beziehung mit dem Erfahrungsboden oder mit anderen □MG, die ihrerseits in direkter Beziehung mit dem Erfahrungsboden stehen. Diesen Erfahrungsboden zu erkunden, kommt schließlich damit gleich, eine systematisch deskriptive Aufgabe der Gegebenheitsformen zu entwickeln, die jedes Wissen im Erfahrungsboden identifiziert. Hier gibt es keinen »Mythos des Gegebenen«, 7 der ungefragt bleibt, weil die Idee selbst von »Gegebenheit« ontologisch relativiert ist. Die Gegebenheit in ihrer Mannigfaltigkeit ist nicht durch die Idee eines Gegebenen vereinzelt, als ob alles gegeben wäre oder als ob das Gegebene, Wortführer des Realen, etwas wäre, das man auf philosophische Weise ein für all Mal festlegen könnte. Es gibt kein »Gegebenes«. Das Gegebene ist ein Mythos
7
Vgl. W. Sellars, cit.
585 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
(akzeptiert oder ganz einfach erduldet), 8 ist die Hypostase einer letzten basalen Invarianz der Individuation. Jenseits einer solchen Hypostase sind nur »Gegebenheiten« die Grundlage der Erkenntnis. Es gibt Gegebenheiten (und Dateien), durch Erkenntnis- bzw. Erfahrungsformen anerkannt und kodiert, die nicht metaphysisch behaupten, das Gegebene aufzufassen. Niemand kann verneinen, dass die Erkenntnisse auf der Grundlage von gewissen Gegebenheiten (bzw. Daten) voranschreiten. Und weit davon entfernt, ein naives Vorgehen zu sein, ist es eben die Verankerung im Erfahrungsboden durch die Individuation von gewissen Gegebenheitsformen, die dem Wissen eigen ist, und das daraus wiederum etwas Redegewandtes macht: Das Wissen beschneidet die Erscheinung des Realen, um strukturelle und morphologische Invarianten zwischen Phänomenen einzuschreiben – seien sie natürliche, soziale oder geistige Phänomene. Jedoch kann auch niemand lediglich behaupten, dass eine Gegebenheitsform als Paradigma für die anderen funktionieren kann, sodass einer derartigen Gegebenheitsform ein Vorrang zugeschrieben werden könnte, um über dieser Form ein architektonisches System des Wissens zu strukturieren. Kraft des fundamentalen ersten Status ihrer qualitativen Homogenität verlässt man niemals die Horizonthaftigkeit der Individuation. Dennoch, wenn man nicht dazu kommt, aus der Gegebenheit ein architektonisches Konstruktionsprinzip zu machen, kann man auch nicht dazu kommen, daraus das letzte Zeugnis der skeptischen oder hermeneutischen Relativierung zu machen, als ob die implizite theory ladenness in jedem Individuationsprotokoll in einer holistischen These verabsolutiert werden könnte. Schließlich ist der Holismus der theory ladenness nichts anderes als das Gegenstück, das Spiegelbild des Mythos des Gegebenen, lässt aber ebendiesen Mythos weiterbestehen, indem sie allein die Akzeptanz des Gegebenen ändert. In diesem Sinn wäre das Gegebene – in der holistischen Annahme einer theory ladenness – gleichsam die Grundlage, auf welche sich die Ladung der Theorie stützen könnte. Es könnte nur ein wesentlich »graues« Gegebenes, aber nichtsdestotrotz, als anonyme Materie der demiurgischen formgebenden Kraft des Erkennens, identisch sein.
8 Vgl. J. Benoist, »Le mythe du donné« et les avatars du kantisme analytique, Révue de Métaphysique et de morale, 2004/4: 511–529.
586 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«
Die Relativierung der Individuationsprotokolle 9, die sich als Protothesis-(G) über die Voraussetzung des Bestehens des Erfahrungsbodens artikuliert, fixiert weder die prinzipiellen Modalitäten der Gegebenheit, welche als Quelle der Individuationsprotokolle zugelassen werden, noch die Gegebenheit als gleichfalls grau, auf welche die Protokolle ihre ganze kreative und strukturierende Kraft werfen könnten. Dasjenige, das in der visuellen Modellierung als wichtig zu behalten ist, ist, dass der Boden, auf welchen die Theorien die Individuation und das ontologische Abbild werfen, schon irgendwie bestimmt ist, schon nach seinen Hügelbildungen, seinen Vertiefungen konstituiert ist, ohne dass die Wissenschaft in einer Weise diese geologische Physionomie mit ihrer theoretischen Ladung ändern könnte. Die Positionierung eines □MG in halber Höhe eines gewissen Anteils des Erfahrungsbodens bestimmt weder die Struktur dieses Bodens noch gelangt sie jemals dazu, seine erste Konstitution zu verschleiern. Aus diesem Grund gibt es keine Möglichkeit, an eine vollkommene Ausschöpfung des ganzen Erfahrungsbodens durch die ontologischen bzw. epistemischen Projektionen zu denken. Es geht hier um die Idee einer letztendlich ganz klassischen Teleologie, nach welcher solche epistemischen Projektionen, die miteinander undurchlässig wären, mit ihren ontologischen Abbildern den Erfahrungsboden (wie ein Mosaik der Welt) pflastern könnten. Diese Art, die Horizontalisierung des Wissens und den Parallelismus zwischen der Dimension der □MG und des Erfahrungsbodens zu denken, wäre nur eine ausreichend ungeschickte Verkleidung einer gewissen Idee der positivistischen Metaphysik und einer gewissen metaphysischen Theorie des Wissens. Die Aufgabe ist nicht linear in dem Sinne, in dem die Positionierung des Wissens bezüglich des Erfahrungsbodens und der Evolution der Projektionsformen von ontologischen Abbildern auf ebendiesem Boden nicht entscheidbar ist, Für die Individuationsprotokolle gilt dasjenige, was nach Neurath für die Protokollsätze gilt, das heißt, dass sie der Geschichtlichkeit und Wandlung unterworfen sind. Vgl. O. von Neurath, Protokollsätze, Erkenntnis, 3, 1932/33: 204–214. In dem Artikel »Protokollsätze«, nach der Metapher des Schiffs, lesen wir: »Der Wandlungsprozess der Wissenschaften besteht darin, dass Sätze, die in einem bestimmten Zeitalter verwendet werden, in einem späteren wegfallen, wobei sie oft durch andere ersetzt werden. Manchmal bleibt auch der Wortlaut bestehen, aber die Definitionen werden geändert. Jedes Gesetz und jeder physikalistische Satz der Einheitswissenschaft oder einer ihrer Realwissenschaften kann solche Abänderung erfahren. Auch jeder Protokollsatz« [S. 208].
9
587 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
es ist »nur« der Gegenstand einer möglichen Beschreibung. Die Aufgabe ist nicht linear oder nicht notwendigerweise oder immer linear. Das bedeutet, dass man Fälle verstehen kann, in denen sich mehrere ontologische Projektionen partiell überlagern oder anfangen, sich zu überlagern, oder beginnen, sich zu trennen; Fälle, in denen ontologische Projektionen in einem netzartigen (aber modularen) Bild zusammengesetzt sein können oder eingeschlossen in einem Bild, das sie zusammensetzt, ohne dass diese Idee der Zusammensetzung ex principio verstanden ist, auf fast automatische Weise, für jedes ontologische Bild als solches. Das Projekt einer metaontologischen Topographie ist ausschließlich das Projekt der Beschreibung von Positionierungsformen der □MG bezüglich des Erfahrungsbodens und das Projekt einer synoptischen Schau. Eine solche Schau ist stets erschöpfender als die ontologischen Projektionen ebendieser □MG in ihrer diachronen Entwicklung und hebt, in ihrer letzten Konfiguration, die ontologischen Strukturen durch Individuationsprotokolle von Erkenntnissen hervor. Es gibt kein Weltbild zu konstruieren, nur eine Topographie des Realen, sodass es durch die spiegelhafte (stets neumodellierbare) Beziehung zwischen den Wissensformen und ihren ontologischen Bildern hervortritt.
§ 115. Der Erfahrungsboden als epistemische Chora Die Lebenswelt ist die ursprüngliche Dimension jeder Wissensform. 10 Das, als Zeichen einer radikalen Umkehr der transzendentalen Perspektive, muss hier wieder aufgenommen und im Lichte der Errungenschaften des □MOM und in Funktion der Begriffe, die uns im Folgenden geliefert werden, neu betrachtet werden. Wenn das Reale und nicht die Welt 11 sich stets in ihrer phänomenalen, nicht thematischen und nicht thematisierbaren Gegenwart als Gegenständlichkeit hält, ist es sozusagen nur ein evidenter Boden jeglicher theoretischen und nicht-theoretischen Erfahrungssituation. E. Husserl, Umsturz der Kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation, Husserl Archives Leuven, Ms. D 17, S. 4. Vgl. D. Pradelle, Par-delà la révolution copernicienne. Sujet transcendantal et facultés entre Kant et Husserl, Paris, 2012 [Kap. VII] 11 Wird der »Welt« hier augenscheinlich jede Möglichkeit zur metaphysischen Ontologisierung unterschlagen. 10
588 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 115. Der Erfahrungsboden als epistemische Chora
Wenn jede Situation ein »da, wo« der Situation selbst impliziert, wenn sich das Individuum, das etwas erfährt bzw. erlebt, abwenden kann und dieses »da, wo« seiner kognitiven Situation thematisch entstehen lässt, bedeutet das, dass dieses »Reale« zugleich der Bedeutungsterminus jeglicher epistemischen Projektion ist, die das epistemisch gerichtete Individuum zur Definition einer Individuationsklasse verortet. Ein solcher unthematischer Terminus verortet ganz einfach das Verhalten jeglicher Individuation, jede epistemische Gerichtetheit, die durch die □MG geliefert wird. Dennoch, wenn »dieselbe Welt mit höherstufige[m] Sinn ausgestattet wird« 12, (dann) ist es nicht das Reale. Man könnte diesen Sinn nämlich lediglich in einer Mystik der Welt suchen, ein Sinn, der jeder Vergegenständlichung entkommt, ein stummer Sinn: Dieser »Sinn« würde also sehr variierende Sinnhinweise verursachen. Folglich, als Nicht-Seiendes, wäre er nur der Gegenstand einer schlechten Voraussetzung, derzufolge es letztlich einen »Sinn« in der Welt gibt. Das Reale hat keinen Sinn in dem Sinne, in dem es die Öffnung ist, in welcher man Sinngestaltungen bzw. Sinnhorizonte beschneiden, auffassen, hervorheben kann, ohne dass dafür solche Sinngestaltungen bzw. Sinnhorizonte zugleich als Verweis auf etwas Übergeordnetes fungieren – wenn auch auf einfache logische und phänomenologische Weise. »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre«: 13 Man darf nicht hinter den Phänomenen suchen, um das Absolute zu finden, weil es hinter den Phänomenen nur andere Phänomene gibt. Was sich ändert, sind »nur« die Dimensionen ihrer □MO Modellierung und das Spekulativ, das davon entstammt. Die Sinngestaltungen des Realen, wenn man von einem Sinn sprechen möchte, haben einen strukturellen Sinn in Bezug zu der Spiegelhaftigkeit, die sich zwischen dem Erfahrungsboden und der metatheoretischen Dimension errichtet. Diese Spiegelhaftigkeit ist außerhalb des Spekulativs selbst, das sich zwischen diesen beiden Komponenten errichtet, nicht auffassbar. Man kann daher nie dahin gelangen, von einer »ontologischen« Existenz dieser Erfahrung in ihrem Komplex zu sprechen, ohne die Strenge aufzugeben, die eben von der Beschreibungsmethode eingesetzt wurde. Der Erfahrungsboden kann nur als mitgemeint in jeder singulären Deixis bestimmt werden, ein mitgemeinter Terminus, der ontologisch eben 12 13
E. Husserl, Umsturz der Kopernikanischen Lehre, cit., S. 15. Vgl. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, N. 448, cit.
589 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
aufgrund seiner Komplexität, der Komplexität seines Gerüstes, unbedeutend ist. Wie die Definition des Systems von Protothesen uns gezeigt hat, ist die Erfahrung »des Realen« keine direkte Erfahrung, aber besteht nur im ontologisch unbestimmten Moment des radikalen Empirismus. In diesem Moment ist das, was in den Hintergrund gelegt wird, die Protothesis-(p). Die Erfahrung »des Realen« ist eine transversale Erfahrung, kann sich der Erfahrungsboden, als wesentliches Moment jeder kognitiven Situationalität, nur als etwas A-Ontologisches zeigen. Der Erfahrungsboden, außerhalb der Metapher der »ontologischen Bilder« aufgefasst, wäre also nur eine Art phänomenologische bzw. epistemische Chora. Denn die Charaktere, die man diesem Residuum zuschreiben kann – das stets das notwendige Residuum einer Individuation oder der Projektion eines □MG, von einem Individuationssystem, ist –, sind schließlich nichts anderes als die Charaktere eines metaontologischen Spiegelbildes, das heißt die Charaktere des Residuum, die man in dem Ich als reine Öffnung subjektiv interpretiert wiederfindet. Die Lebenswelt als Erfahrungsboden ist also keiner Individuation fähig und zeigt sich allein als ein Korrelat jeder Stellungnahme, von Seiten des □MG, zu einer (oder mehreren) ihrer Portionen. In diesem Sinn wird das Bestehen der Lebenswelt in der Perspektive des □MOM eine epistemische Chora. 14 Sie kann nur im spekulativen Spiegelungsverhältnis hervortreten, zwischen der metatheoretischen Dimension einerseits und der konkreten Situationalität andererseits, durch die Individuation oder durch die Beschreibung des geodätischen Verfahrens eines Individuationssystems, das als □MOM aufgefasst wird.
§ 116. Metaontologische Modelle (□MOM) Dennoch könnte die Idee einer Topographie nur ohne theoretische Konsistenz bleiben – nur ein »bloßes Bild« –, wenn sie nicht von der Entwicklung einer Topologie metaontologischer Modelle begleitet wäre. Nehmen wir also wieder auf, was wir als erste Skizze über das □MOM gesagt haben: Das □MOM ist eine Struktur von Termini, von Knoten oder Punkten, die zum □MG gehören. Eine solche Struktur betrifft explizit den Gegenständlichkeitsstatus ihrer Individuatio14
Vgl. Platon, Tim., 48–49.
590 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 116. Metaontologische Modelle (□MOM)
nen. Diese Struktur – die gleichzeitig ein □MG ist, weil sie gemäß der mereologischen Gesetze, die wir definiert haben, zum primären □MG gehört – artikuliert sich durch die Individuationsprotokolle, 15 die den eigentlichen ontologischen Bereich dieser Wissensform festsetzen. Wir haben behauptet, dass man die ontologische, (explizit oder implizit) vorgeschriebene Struktur durch die □MG als relational strukturiertes Ensemble von Termini (Punkten oder Knoten) als Träger einer Ontologie denken kann. Diese Termini lassen sich auf den Erfahrungsboden anwenden und sie beschreiben einen Raum (der, wie wir sehen werden, da er ein topologischer Raum ist, geschlossen ist, ohne dadurch endlich zu sein). Jetzt können diese □MOM als eine algebraische Mannigfaltigkeit (Varietät) gedacht werden, das heißt als eine Untergruppe des Raumes zu einer beliebigen Zahl (n) an Dimensionen, die durch polynomial-algebraische Gleichungen definiert sind. 16 In diesem Sinn lässt ein □MOM als algebraische Struktur oder algebraischer Raum zumindest drei Dimensionen zu – die kaum die drei Dimensionen der gewöhnlichen Physik sind, zu welchen sich die modernen Ontologen drängen, eine weitere Dimension hinzuzufügen, um so nicht außerhalb des Bezuges zu der Physik zu erscheinen (much ado about nothing!). Diese drei Dimensionen sind die minimal erforderten Dimensionen, damit es ein □MOM als Individuationsstruktur eines Gegenständlichkeitsbereiches innerhalb einer Wissenstätigkeit gibt. Diese drei Dimensionen sind a) die Dimension der formalen Ontologie, b) die der materialen Ontologie (wenn es davon nur eine in einem □MG gibt) und c) die des bzw. der Individuationsprotokolle. Jedem Element der Achse 2 (materiale Ontologie) werden ein oder mehrere Elemente der Achse 1, das heißt der formalen Ontologie, entsprechen. Von dieser Entsprechung wird man eine Projektion auf Wir definieren die Individuationsprotokolle genau, wie Van Fraassen die »Experimental- und Mess-berichte« [experimental and measurement reports] definiert. Siehe oben Fn. 5. Solche »Substrukturen«, die im Modell algebraisiert werden (die Maßeinheiten, die Lokalisierungen auch in Databases, die Koeffizienten von raumzeitlichen Veränderungen, usw.), schreiben die Maßeinheiten, Lokalisierungen, Koeffizienten von raum-zeitlichen Veränderungen, usw. in der Erfahrung vor. Diese Bezeichnung, bzw. Vorschreibung gilt nicht nur für Phänomene, die zu einer vorgestellten Idee der Natur gehören, sondern für alles Sichtbare oder Beobachtbare jeder Wissensform, die in ein □MOM übersetzt werden kann. 16 Für die Vieldimensionalität der Erfahrung und des Erfahrungshorizonts – der nicht auf eine Drei-Dimensionalität reduziert werden kann – vgl. E. Husserl, Die Lebenswelt, cit., Hua. 39, Nr. 12, § 2, S. 113. 15
591 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
den Vektor 3, denjenigen der Individuation, haben. Diese erste Darstellung muss nicht zu der Annahme führen, dass eine materiale Ontologie notwendigerweise als monodimensionale modelliert werden muss, ebenso wie die anderen. Das, was hier wichtig ist, ist zu unterstreichen, dass die ontologisch-formale Dimension bezüglich des □MOM invariant bleibt, auf welchen sie implementiert ist. Folglich werden die □MOM nur eine ontologisch-formale Dimensionalität haben, während sie, wie wir sehen werden, mehrere ontologisch materiale und mehrere Individuations-Dimensionen werden haben können. Um die ontologisch-formale Dimension als monodimensional zu denken, reicht es aus, eine Aufzählung der Elemente zu denken, die sie zusammensetzen, zum Beispiel: 1 = Individuiertes; 2 = Klasse; 3 = Beziehung Ganzes/Teil; 4 = Sachverhalt; 5 = Ereignis; 6 = Funktion mit einem Argument / einstellige Funktion; 7 = Funktion mit zwei Argumenten / zweistellige Funktion etc. Gleichfalls könnte die materiale Ontologie gemäß einer Aufzählung nach einer oder mehreren Dimensionen formalisiert sein, die Anlass zu einer Projektionsstruktur auf der Achse oder den Achsen der Individuation geben. In diesem Sinn kann das □MOM als ein algebraischer, normierter Raum und zugleich als ein Raum, der zu Operationen fähig ist, die man dort vollziehen kann, erscheinen. In diesem Sinn könnte der Unterschied, der zwischen dem □MOM und der visuellen Modellierung der ontologisch projizierten Bilder auf den Erfahrungsboden durch die □MOM eines □MG besteht, nicht klarer und radikaler sein. Das Bild kann niemals, in dem Fall der Modellierung des □MOM, die topologische Struktur eines □MOM absorbieren. Die □MOM bestehen in einem Milieu weiter, das ihnen eigen ist: das Milieu der algebraischen Topologie und ihrer Modellierungsform. Das Bild kann in vielen Fällen helfen, sich eine Idee der Situationen, der Ereignisse, der Sachverhalte zu verschaffen, die sich in dem □MOM auf absolut notwendige Weise strukturieren. Aber diese richtige Zugangsform zu den □MOM ereignet sich allein durch die Annahme der Modellierung von Strukturen, die sich bereits im □MG als ihre eigenen und bestimmten □MOM, als eine gewisse Bestimmung von Anwendungsbereichen dieser Wissensformen definiert haben. Die visuelle Abbildung, die notwendigerweise dreidimensional sein kann, hilft vor allem, die Nicht-Linearität der Aufgabe in gewissen Modellierungsfällen zu betrachten. Sie hilft insbesondere Fälle wie die Überlagerung und die Verschmelzung gewisser Modelle 592 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 116. Metaontologische Modelle (□MOM)
mit anderen epistemisch wohlbestimmten Ansätzen anschaulich aufzufassen. Eine solche Überlagerung oder eine solche Verschmelzung müssen nicht als die Regel betrachtet werden: Sie lösen die präjudizielle Regel auf, derzufolge es eine 1 → 1 Korrespondenz zwischen einem □MOM und einer Portion des Erfahrungsbodens gibt. Es gibt Fälle, die eine mögliche Interaktion 1. 2.
zwischen □MOM untereinander und/oder zwischen einem □MOM und mehreren Portionen des Erfahrungsbodens
darstellen. Wie wir schon vorweggenommen haben, lässt die Dynamik des Wissens (als Dynamik der □MG) – da sie etwas ist, das auf keine fixe (und metaphysisch fixierte) Architektonik antwortet, das die Metamorphose, die Variation, die Hybridisierung der epistemischen Zugangsformen zur Phänomenalität zulässt – auch zu, dass eine solche Metamorphose, eine solche Variation, diese Hybridisierung die lineare und zweideutige Beziehung zwischen einem □MOM und seinem ontologischen Bild übersteigt. Dies ist der Fall der Wissenschaft, des Wissens, unserer Gegenwart, der Wissenschaft der Komplexität und jeder wissenschaftlichen Praxis, welche die Interdisziplinarität aufgrund ihrer deskriptiven Beschäftigung mit komplexen Systemen in Frage stellt. Jedoch zerstören die Wissenschaften der Komplexität heutzutage die Idee einer linearen Aufgabe (und die naive Voraussetzung, derzufolge es ein □MOM für einen □MG gibt). Die Komplexität – von der wir einen spekulativen und epistemischen Ansatz in den folgenden Paragraphen darstellen werden – muss schließlich ausgehend von einer anderen Perspektive betrachtet werden. Man muss die Komplexität, so wie sie in den epistemischen Praktiken des Wissens erscheint, mit der Idee des □MOM selbst in Beziehung setzen. 17 Das ist von einer radikalen Wichtigkeit, nicht nur für die punktuelle Es ist vielleicht die Abwesenheit eines solchen Ansatzes, nämlich die Einsetzung der Komplexität in einen spekulativen Diskurs über die Formen der Mathesis aus metaontologischer Sicht (oder der Ontologie, wenn man sich auf naivere Weise nähern möchte), die dieses ganze Ensemble von Kenntnissen, die von da an die Wissenschaft unserer Zeit konstituieren und, wenn man so will, das Paradigma, in welchem sie sich entwickelt, ohne Bürgerrecht in der Befragung der Philosophie lässt, die stumm bleibt angesichts dieser Änderung, deren Konturen sie nicht aufzufassen weiß, weil sie nicht mehr dazu in der Lage zu sein scheint, sich zu den Idealen des Wissens zu erheben, die ihr einen losgelösten und synoptischen Beobachtungspunkt der Sache liefern könnten.
17
593 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
Definition der Modellierung selbst, sondern auch weil man nur, wenn man das Wissen annimmt – wie es gegenwärtig praktiziert wird, das Wissen der Komplexität –, die spekulative Perspektive einer Erforschung der Mathesis, ihre Verwurzelung zu ihrer Zeit erlangt oder, wenn man so will, ihre Zeit im Denken annimmt.
§ 117. Die Komplexität und die □MO Modellierung Diese beiden Aspekte der Wichtigkeit einer In-Beziehung-Setzung zwischen der Erforschung der Formen der Mathesis und der Komplexität vom Standpunkt der □MOM verweisen auf einen anderen Aspekt. Es geht um das starke Verständnis, dass die Welt des Wissens, die wir kannten, eine verschwundene Welt ist. 18 Diese Welt ist von innen zerstört gewesen: Sie implodierte kraft ihres prinzipiellen Fehlers. Dieser Fehler bestand in der Aufgabe, das Reale als Ordnung zu denken, und (auf offensichtlich implizite und unbewusste Weise) die Ontologie, nicht den Gegenstand, als etwas Einzigartiges und, vor allem, etwas Fixes zu denken. Selbst dort, wo in der Neuzeit das Denken des Realen dynamisch wird und die Dynamik die zentrale Rolle der Physik sowie der Metaphysik spielt, genau in diesem Moment erleidet sie die theologischen Spätfolgen der Ordnungsidee: In diesem Moment, wenn auch unfassbar oder nur teleologisch fassbar, bleibt die »dynamische Ordnung« die erste und letzte Charakteristik des Realen. Die Emergenz der Komplexität geht von den negativen Ergebnissen der Erkenntnisse aus, die eine einzige und fixe Ontologie voraussetzten. Die Quantenmechanik, die dissipativen Strukturen, die Komplexität der Morphogenese, die chaotischen Systeme, heben eine solche Komplexität bzw. Verschränkung als Merkmal des Realen definitiv hervor. Dieselbe Emergenz der Komplexität hat diese Voraussetzung verneint und fragt immer wieder danach, die Öffnung der Phänomene, die unter die Definition »komplexe Phänomene« fallen und die den »einzigartigen« Ontologien entwischen, zu messen. Das fordert auch und vor allem, eine Modellierungsgrammatik vom Standpunkt der formalen und der materialen Ontologie und vom Wir geben hier nur eine sehr zusammenfassende Darstellung dessen, was das Universum der Komplexität und der Wissenschaften des Komplexen heutzutage repräsentiert. Siehe hierzu F. Fraisopi, La complexité et les phénomènes, cit., S. 33–204; C. Hooker (Ed.), Philosophy of Complex Systems, cit.
18
594 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 117. Die Komplexität und die □MO Modellierung
Standpunkt ihrer Individuationen zu denken. Es geht um eine Modellierungsidee, welche die klassische (implizite) dreidimensionale Struktur der Ontologie erweitern und einschließen könnte. 19 Aber warum verlangt die Komplexität, die topologische Struktur der klassischen Ontologie zu erweitern? Nehmen wir eine berühmt gewordene Definition der Komplexität: »Prima facie ist die Komplexität ein Gewebe (complexus: das, was zusammengewoben ist) von heterogenen, untrennbar verbundenen Bestandteilen: Sie stellt das Paradox von dem Einen und dem Vielfachen. In zweiter Annäherung ist die Komplexität tatsächlich das Gewebe von Ereignissen, Wirkungen, Interaktionen, Retroaktionen, Bestimmungen, Zufälligkeiten, die unsere phänomenale Welt konstituieren. Aber nun stellt sich die Komplexität mit beunruhigenden Zügen des Durcheinanders, des Unentwirrbaren, des Ungeordneten, der Mehrdeutigkeit, der Ungewissheit, … dar«. 20
Haben das Miteinander-Verschmelzen, das Unentwirrbare, die Unordnung, die Mehrdeutigkeit, die Ungewissheit Bürgerrecht bzw. Platz in einer Ontologie oder in einer ontologischen Modellierung, die als einzigartig und fix verstanden wird? Könnte die order from the noise, das Hervortreten einer Struktur aus seinem Nicht-Sein in einem System, im Inneren eines fixen □MOM modelliert sein, das weder Interaktion noch Implementation von Strukturen zulässt? Wie könnten die Merkmale der Komplexität, die durch die Komplexität fixiert sind – Nicht-Linearität von Interaktionen und Nicht-Additivität, nicht-deterministische Vorhersagbarkeit, Emergenz, Irreversibilität (path dependence), holonome und non-holonome Beschränkungen, Equilibria und Stabilitäten, Amplifikation, Symmetriebruch, globale Kohärenz, Modularität usw. 21 –, eine modellierende Fixierung für das, was ihren Seinscharakter betrifft, haben? Wie könnte sich die Öffnung der Schau über die Hürde der klassischen Ontologie und des beschränkten Systems des Wissens, das sie charakterisiert, auf den Aber es gibt auch einen anderen, fundamentaleren Grund, um die Komplexität und die metaontologische Modellierung in Beziehung zu setzen: Die komplexen Phänomene erscheinen nur in ihrer Modellierung, nämlich in der Modellierung, die aus ihnen die Wissensform macht, die sie fixiert. In diesem Sinn ist das □MOM nicht eine Art philosophisches Komplement des epistemischen Modells als Explizierung seiner ontologisch impliziten Struktur, sondern der einzig mögliche Weg, sein Sein und seine mögliche Individuation festzusetzen. 20 E. Morin, Introduction à la pensée complexe, Paris, 2005, S. 21. 21 Vgl. C. Hooker, Introduction to Philosophy of Complex Systems, cit., S. 21. 19
595 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
Horizont der Mathesis erweitern, um anzufangen, das übermäßige Ausmaß ihrer neuen Aufgabe zu erkunden – und sich nicht nur passiv vorzustellen? Das, was die Komplexität im Wissen bricht, sind nicht nur die begrifflichen Schemata der klassischen Wissenschaft, sondern auch die Symmetrie zwischen der Form der Mathesis, welche die klassische Wissenschaft kategorisiert hatte, und der Ontologie, die notwendigerweise diese Form seit mehreren Jahrhunderten bestimmen sollte. Eine solche Situation hat viel Zeit und viele negative Ergebnisse verlangt, um die starken (und erhabenen) Voraussetzungen einer solchen Idee der Mathesis und einer solchen Ontologie in Frage zu stellen. Dasjenige, was die Emergenz der Komplexität als Charakteristik des phänomenal Wirklichen, das sich von den Wissensformen (□MG) her beschneidet, für die Erforschung der Form oder der Formen der Mathesis darstellt, ist die wesentliche Symmetriebrechung zwischen der Idee der Natur und der Idee des Gegenstand. Jene Symmetrie wurde als Zentrum des Horizonts des Wissens gewählt, eines Horizonts, den ein algorithmisch vorgetragenes Wissen auf isochrone Weise messen sollte. 22 Eine solche Symmetrie als bijektive Funktion zwischen einer Erkenntnis (die sich ins Unendliche vermehrt) und einer Gegenstandsidee einer Ontologie (die als impliziter Referenzpunkt fix bleibt) verschwindet oder muss lokalisiert werden. Es gibt hier mit der Emergenz der Komplexität im Raum der □MOM keine Brechung der epistemischen Symmetrie zwischen dem Determinismus und der Vorhersagbarkeit (wie im Fall der Entdeckung der chaotischen Systeme). Es gibt (stattdessen) eine noch radikalere Symmetriebrechung, wenn man so will, nämlich jene zwischen der Mathesis und ihrer ontologischen, impliziten Grundvoraussetzung, nämlich das Vorurteil einer bestimmten und bestimmbaren Ontologie als einzigartige, festgesetzte Ordnung der Gegenständlichkeit: »Es gibt eine Ontologie für die Welt« und/oder »Es gibt eine Metaphysik für die Welt«. Die Studien, die Hypothesen über den Vier-Dimensionalismus in der Ontologie sind nichts anderes als der n-te Versuch, erneut eine einzigartige und fixe Ontologie (und Metaphysik) vorzuschlagen. 23 Aber das ist von jetzt an nicht (mehr) möglich in einem metaontologischen Horizont, aufgefasst als Vgl. G. W. Leibniz, De l’horizon de la doctrine humaine, cit., S. 35–37, 45, 65. Vgl. Th. Sider, Four-Dimensionalism. An Ontology of Persistence and Time, Oxford, 2003. 22 23
596 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 117. Die Komplexität und die □MO Modellierung
unüberschreitbar, worin die Ontologien – mit ihren Individuationsprotokollen ausgestattet – aus der Struktur der □MG als modellierbar gedacht sind, ohne etwas zu haben, das heilig, unantastbar und fix ist. Dennoch ermöglicht eben die Emergenz der Komplexität seit der Grundlagenkrise einer Wissenschaft, einer Idee der Mathesis und einer durch die Idee der Ordnung, der Einfachheit, der architektonischen Einheit geleiteten Ontologie die Erweiterung des □MOM zur Komplexität selbst – und das ausgehend von diesen Wissenschaften, welche sich »Kybernetik« und »Systemtheorie« genannt haben. 24 Das, was die Kybernetik in letzter Instanz darstellt, ist eine Modellierung, die sich aus der Interaktion zwischen frameworks, das heißt zwischen Protokollen und Verarbeitungsniveaus des Informationsstock, entwickelt. Diese Interaktion impliziert auf exakte Weise ihre Nicht-Rückführbarkeit, weil jedes framework dem Informationsstock, der aus anderen frameworks stammt, eine qualitativ irreduzible und systematisch unausweichliche Gegenständlichkeitsform verleiht. Das gibt uns die Möglichkeit, eine Definition der Komplexität zu skizzieren, die von dem □MOM ausgeht und vor allem die Potentialitäten der □MOM erweitert. Eine solche Erweiterung beginnt durch die negative Bedingung der Irreduzibilität der Komplexität auf eine fixe Struktur: Die Komplexität zeigt angesichts der fixen und einfachen Ontologie der Welt eine konstitutive Unangemessenheit. Das übersetzt sich auch und kann sich nur übersetzen in den Termini der □MO-Modellierung. Denn es ist allein die □MO Modellierung, die dem, das man konstruktivistische (oder radikal konstruktivistische) Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie nennt, einen letzten Stützpunkt gibt, um die »Sache selbst« zu verstehen, weil sich zunächst, insbesondere im Fall der Komplexität, das Komplexe nicht als Gegenstand (entweder existierend oder als Abbild-Kopie) darstellt. Ein solcher Stützpunkt ist kein metaphysischer Grund, sondern eine ausreichend klare Sprache. Das phänomenal Wirkliche lässt sich in seinem Seins-Charakter fixieren, so wie in seinen möglichen Individuationsmodalitäten im Inneren des □MOM. Ein komplexes Phänomen ist ein Phänomen, das sich nicht auf ein dreidimensionales □MOM reduzieren lässt. Es betrifft oder erfordert die Integration anderer ontologischer Dimensionen in das AnVgl. L. von Bertalanffy, General System Theory. Foundations, Developments, Applications, New York, 1969, insbesondere S. 48–54, 149–153.
24
597 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
fangs-□MOM oder den Übergang, die Transformation eines Modells zu einem anderen (das reicher ist) oder die Komposition aller □MOM, die es braucht, um nach seiner systemischen Entwicklung fixiert zu sein. Die erste Möglichkeit, die Integration anderer ontologischer Dimensionen in das Anfangs-□MOM, entspricht letztendlich der zweiten, weil ein integriertes □MOM mit anderen Dimensionen notwendigerweise ein ganz anderes Modell wäre, ein ganz anderes »Objekt« mit anderen möglichen Individuationsprotokollen, die aufgrund der Bereicherung der ontologischen Charakteristika, die in dem Anfangs-□MOM mit seiner topologischen Änderung enthalten sind, eingesetzt wären. Die dritte Möglichkeit, nämlich die Komposition mehrerer □MOM, die für die Fixierung ihres Individuationsbereiches die explizit gebundene Möglichkeit an die interdisziplinären Erkenntnisse erfordern, wird nur ein neues Objekt repräsentieren können. In diesem Sinne ist ein neues Modell ein neues Objekt, weil die □MOM eine ähnliche Mereologie der □MG haben, weil die ersten ihr ontologisches Skelett darstellen. Folglich ist eine strukturierte Pluralität der □MOM ein □MOM, weil die Strukturierung von mehreren □MG ihrerseits ein □MG ist.
§ 118. Der naive Charakter der dreidimensionalen Voraussetzung und der Übergang zur Modellierung Das, was diese Möglichkeiten letztlich hervortreten lässt, ist die Naivität, die im Hintergrund der klassischen Idee der Ontologie, auch versteckt hinter den meisten Ergebnissen zeitgenössischer Ontologie, bleibt. Die zeitgenössischen »Ontologen« fragen noch aus ontologischer Sicht nach den Dimensionen der Gegenstände (und folglich der Welt), ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass diese Form des Fragens aus metaontologischer Sicht vollständig überholt ist (zumindest, wenn man nicht Partei ergreift für eine Ontologie, die sich schließlich auf eine physikalische Struktur von gewissen Gegenständen reduziert). In diesem Sinn wiederholt der Vier-Dimensionalismus nur auf extrem naive Weise dasjenige, was wir schon durch die allgemeine Relativität gezeigt haben, ohne irgendetwas unserer Idee von Ontologie und demjenigen, das wir kritisch von der Relativität der Ontologie auffassen werden, hinzuzufügen. Wenn man – aufgrund der hervortretenden Dimensionen der intentionalen und metatheoretischen Analyse der Frage – die traditionelle Ontologie von 598 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 118. Der naive Charakter der dreidimensionalen Voraussetzung
Aristoteles bis zu unseren Tagen zu formalisieren versuchte (wir könnten sagen: bis Husserl und Quine), ist das, was zu Tage träte, nur eine drei-dimensionale Ontologie. Husserl (mit seiner Idee des materialen Apriori und der regionalen Ontologien) und Quine (mit seinem Prinzip der ontologischen Relativität und der Unerforschbarkeit der Bedeutung) erweitern nur das Spektrum der Ontologien. Diese Erweiterung hat nicht den mindesten Vorteil und stellt ein fundamentales Moment nicht nur für den Übergang zu einer deskriptiven Metaontologie, sondern auch zu einer konstruktiven Metaontologie dar. Das, was sie brechen, ist eben die Wand des Dogmatismus, der die Schau der Ontologien selbst (und der Erfahrung, die man davon macht) von der Erfahrung des Realen trennt, indem er denken lässt, dass die Drei-Dimensionalität des Raumes (sogar mit der Zeit) nicht den Seinscharakter des Realen erschöpft. Aber die naive – und nie hinterfragte – Voraussetzung einer dreidimensionalen Ontologie ist nicht weniger schädlich als diejenige, die die klassische Physik affizierte. Es geht um die der Metaphysik intrinsische Idee der dreidimensionalen Ontologie und das Vorurteil zugunsten der Gegenstände der kinästhetischen Wahrnehmung. Nun ist das, was die Einstein’sche Relativität in die Krise versetzt hat (sozusagen) die Idee der Linearität der fixierten Welt durch eine stets dreidimensionale Ontologie, die aufgrund des Dogmatismus der Drei-Dimensionalität niemals hinterfragt wurde. Noch einmal: In diesem Sinne wäre der VierDimensionalismus nur eine dreidimensionale geometrisch-physische Ontologie, bereichert um eine vierte Dimension der Zeit. Und so wie diese Physik nicht vollständig die Quantenphänomene erklärt, verliert ihre ontologische passive Übersetzung das Reale in seiner Komplexität. Wie wir durch die Analyse der Frage »τί τὸ ὄν;« gesehen haben, ist die traditionelle Ontologie stets nach drei thematischen Koordinaten strukturiert und konstituiert, von denen in einer einzelnen Frage Folgendes enthalten ist: die Dimension der Syntax (der logischen Grammatik), der Semantik (der Gegenstände) und der Individuation (der ontologischen Verpflichtungen nach gewissen existentialen Aussagen). Die Ontologie ist dreidimensional, weil der Raum jeder möglichen Ontologie als ein dreidimensionaler, linearer Raum gedacht wird. Die metaphysische und post-metaphysische Ontologien sind immer in einer naiven, anschaulichen Dimensionalität verankert: Es geht um dieselbe Situation der Wissenschaft bis Riemann, die in einer 599 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
naiven, anschaulichen Konzeption des geometrischen und physikalischen Raumes (die Konzeption des euklidischen Raums) verankert war. 25 Man muss sich also fragen: Warum könnte man den »metaontologischen« Raum – das heißt die Dimensionen der Ontologie als Gegenstand und als □MOM – nicht nach demselben systematischen Ausmaß denken, mit welchem Riemann den Raum dachte? 26 In anderen Worten: Warum kann man eine Ontologie als n-dimensionalen Raum nicht denken? An diesem Punkt bleibt nunmehr übrig, eine □MO Modellierung zu entwickeln, die in der Lage ist, diese erweiterte Schau zu systematisieren, die nicht eine Schau des Seienden ist. Das Seiende wird zuerst durch den Begriff der »Erscheinung« ersetzt und entzieht sich folglich jedem naiven Realismus. Es geht um eine Schau über die Ontologie selbst. Diesen Schritt zu vergessen oder zu verkennen, wäre gleichbedeutend damit, die Metaontologie noch auf dem Niveau der Topographie zu denken. Es geht vielmehr darum, die Topologie der □MOM selbst zu erreichen. Und dennoch haben uns die Erkenntnisse – seit mehreren Jahren – florierende Beispiele der □MO Modellierung oder, wenn man so will, konstruktivistischer Ansätze, angewandt auf die Ontologie selbst, gegeben. Die Tatsache, dass diese Ansätze keine spekulative Lesart oder keine Echos im Denken oder im kollektiven Imaginär des Wissens gefunden haben, ist nicht den Erkenntnissen selbst anzukreiden. Es ist vielmehr dieser stummen und stumpfen oder (in den besten Fällen) apathischen Philosophie anzulasten, die nicht den Mut hat, einen spekulativen Ansatz zu diesem (exponentiell ansteigenden) Wissenshorizont zu entwickeln, Siehe hierzu auch M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, cit, [264] S. 269: »[Ontologie] Den topologischen Raum als Modell des Seins benutzen. Der euklidische Raum ist das Modell des perspektivistischen Seins, er ist ein Raum ohne Transzendenz, er ist positiv, ein Netzwerk von Geraden, die parallel zueinander verlaufen oder senkrecht zueinander stehen entsprechend den drei Dimensionen, und er enthält alle möglichen Platzierungen in sich […]. Der topologische Raum als das Milieu, in dem sich Beziehungen der Nachbarschaft, der Einschließung etc. abzeichnen, ist dagegen das Bild eines Seins, das – wie die Farbflecken von Klee – das allerälteste und das Sein ›am ersten Tag‹ (Hegel) ist, es ist das, worauf das regressive Denken stößt, ohne es direkt oder indirekt (durch »Wahl des Besten«), vom ens a se ableiten zu können, und da sein fortwährendes Residuum ist. Es kommt nicht nur auf der Ebene der physischen Welt vor, sondern es ist wiederum konstitutiv für das Leben, und schließlich begründet es das wilde Prinzip des Logos.« 26 Vgl. B. Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, cit. 25
600 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 118. Der naive Charakter der dreidimensionalen Voraussetzung
dessen Landschaft die Komplexität und die Informatik radikal geändert haben. Das erfordert »nur« den Übergang von der Idee der Ontologie zu der Idee einer konstruktivistischen Metaontologie, was dem Übergang von der Wahl der paradigmatischen Beispielhaftigkeit des Wahrnehmungsraums (der naiven Physik, so wie sie in der Ontologie passiv gefiltert wird) zu dem topologischen Raum der Modelle (welche den Wahrnehmungsraum verstehen und modellieren können, aber nicht umgekehrt) gleichkommt. Der Skandal ist nicht, dass die Philosophie das Gewöhnliche oder die Wahrnehmung oder die gewöhnliche Erfahrung befragt. Der Skandal ist, dass die Ontologie noch an einen gewöhnlichen Charakter des Diskurses gebunden ist, der weder der Dimension der gewöhnlichen Erfahrung noch den komplexen und extrem raffinierten Modellierungen des Wissens zugehört, für die es nicht ausreicht, eine philosophische Wiederholung zu liefern, um ein profundes, spekulatives Verständnis davon zu bekommen. 27 27 Vgl. B. Smith, Ontology. In L. Floridi (Ed.), Blackwell guide to Philosophy of Computing and Information, Oxford, 2003, S. 155–166: »In a development that has hardly been noted by philosophers, a conception of the job of the ontologist close to that of the adherents of internal metaphysics has been advanced in recent years also in certain extra-philosophical disciplines, as linguists, psychologists and anthropologists have sought to elicit the ontological commitments (›ontologies‹, in the plural) of different cultures and groups. Exploiting the terminology of Quine, researchers in psychology and anthropology have sought to establish what individual human subjects, or entire human cultures, are committed to, ontologically, in their everyday cognition, in much the same way in which philosophers of science had attempted to elicit the ontological commitments of the natural sciences. Thus they have engaged in inquiries designed to establish how folk ontologies (or folk biologies, folk theories of physics, folk psychologists, and so on) develop through infancy and childhood, or to establish the degree to which given elements of folk ontologies reflect universal features of the human cognitive system«. Und weiter »In a related development, also hardly noticed by philosophers, the term ›ontology‹ has gained currency in recent years in the field of computer and information science in a way which has led to a veritable explosion of publications and conferences on the topic of ontology. a term which has become popular especially in domains such as knowledge engineering, natural language processing, cooperative information systems, intelligent information integration, and knowledge management. The philosopher-ontologist, in principle at least, has only one goal: to establish the truth about the domain in question. In the world of information systems, in contrast, an ontology is a software (or formal language) artefact designed with a specific set of uses and computational environments in mind, and often ordered up by a specific client or customer or application program in a specific context. The work of Quine played an important role, too, in the initial phases of the development of what I shall henceforth refer to as ›information systems ontology‹.«
601 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
Es ist im topologischen Raum des □MOM, in dem sich jede Möglichkeit abspielt, eine Mathesis oder die Formen der Mathesis (so, wie sie transparent, filigran aus der metatheoretischen Erfahrung hervortreten) zu denken. Jedoch hat uns die mathematische Erkenntnis, obgleich ohne spekulative Absicht, ein Beispiel der konstruktiven Metaontologie, nämlich Formen des □MOM, geliefert, ohne deswegen die Fähigkeit zu haben, diese Konstruktionsformen an den Sinn zu binden, den sie für das Innenleben des Wissens und für die menschliche Erkenntnis haben. Die Beispiele einer solchen »konstruktiven Metaontologie«, die eine algebraische Strukturierung zwischen Ontologien entwickelt, finden sich überall im Horizont der Informationswissenschaft. Die Ontologien sind auf algebraische Weise »kombiniert«, um die Strukturierung jeder Database zu erhalten und um die Erkenntnisformen zu artikulieren, die gerade die taxonomischen Grenzen einer einzigen materialen Ontologie überschreiten. 28 Die Frage und die Notwendigkeit, die sich hier stellen, sind, ob diesem Kompositionssystem oder dieser Grammatik der strukturellen Schau eine allgemeine Form gegeben werden kann, für dasjenige, das nicht nur die algebraische, »graue« Ontologie der bits betrifft, sondern den allgemeinen Ansatz zum Realen, der in dieser Methode, um Ontologien zu systematisieren und zu klären, besteht. Diese allgemeine Form kann man nur in dem unendlichen Reservoir des Wissens und der erhabenen Erkenntnisse der Mathematik finden und Wenn man die exponentielle Steigerung der Publikationen in den wissenschaftlichen Bereichen im Allgemeinen betrachtet, und wenn man auch den Aufschwung betrachtet, den die Informatik in unserer Zeit gehabt hat – eine Sache, deren Tragweite allein die Philosophie hat ignorieren können, nebst seltenen Ausnahmen –, kann man sich vorstellen, dass die wissenschaftliche Literatur sehr umfassend ist. Wir weisen hier einzig auf einige elementare Referenzen hin, bei denen es sich nicht um ein Durchdringen des Bereichs der Philosophie der Information handelt (Philosophy of computing), sondern nur um eine Skizze einer allgemeinen Strukturierungsmethode der gedachten Ontologien. Hierbei folgen wir dem Vorschlag von Barry Smith, der von der ontologischen Relativität von Quine und ihrer Metaontologie ausgeht. Vgl. beispielsweise M. Prasenjit, An Algebraic Framework for the Interoperation of Ontologies, Dissertation, Stanford, 2004, http://infolab.stanford.edu/~prasen9 /thesis-pm.pdf; S. Kaushik – S. Farkas – D. Wijsekera – P. Amman, An Algebra for Composing Ontologies, http://cs.gmu.edu/~tr-admin/papers/ISE-TR-06-07.pdf; G. Wiederhold, An Algebra for Ontology Composition, in Proceedings of 1994 Monterey Workshop on Formal Methods, http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/summary? doi=10.1.1.57.3259. Vgl. auch D. Widdow, Geometry and Meaning, Stanford, 2004 (insbes. Kap. 5 Word-Vectors and Search Engines, S. 132–167; Kap. 6, Exploring Vectors Spaces in One and More Languages, S. 167–200).
28
602 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 119. Grundlinien der □MO Modellierung
insbesondere in dem Projekt, das die letzten 50 Jahre der mathematischen Fortschritte dominiert hat, die Kategorientheorie.
§ 119. Grundlinien der □MO Modellierung Mit dem Artikel General Theory of natural equivalences 29 von Samuel Elienberg und Saunders Mac Lane führt man (mathematisch) die Grundbegriffe ein, die uns die Grammatik der Schau auf die Interaktion der □MOM liefern, die wir als topologische Vektorräume denken. Durch die Begriffe der Kategorie, der Funktoren und der natürlichen Transformationen eröffnet die Kategorientheorie eine neue Ansatzmethode zu den Strukturen. Diese neue Methode wendet sich in der □MO Modellierung an: Dadurch stellt sich die □MO Modellierung als die entscheidende Komponente dar, um die metatheoretische Dimension und die meta-metaphysische Perspektive zu kreuzen, um die Auffassung der Formen der Mathesis (die wir erforschten) herbeizuführen. Der strukturelle und lokale Ansatz der Kategorientheoretiker ist für den Moment, unabhängig von jeglicher Implementation im Spekulativ, darauf ausgerichtet, die Fälle von gegebenen Morphismen bzw. Isomorphismen zwischen Strukturen desselben Typs zu individuieren und zu analysieren, seien es Vektorräume, Mengen, topologische Räume usw. Sobald ich einen Gegenstand dieser Gattung in einen anderen Gegenstand dieser Gattung transformiere, kann ich mich fragen, ob die Transformation natürlich ist und was die durch die Transformationen (hindurch) bewahrten Charakteristiken sind. Die Schau richtet sich auf die Eigenschaften eines mathematischen Systems und auf die Vereinheitlichungsmöglichkeit dieser Eigenschaften durch ein visuelles System von Diagrammen und Pfeilen. F ðfÞ
F ðXÞ ! F ðY Þ # ty tx # GðXÞ ! GðY Þ GðfÞ
Vgl. S. Elienberg – S. MacLane, General Theory of Natural Equivalences, Transactions of American Mathematical Society, 58/2, 1945: 231–295. Vgl. auch A. Asperti – G. Longo, Categories, Types and Structures, Cambridge (MA), 1991, S. 1–88.
29
603 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
In diesem Sinn ist die Kategorientheorie eine Grammatik der Schau: »Viele mathematische Konstruktionseigenschaften können durch die universalen Eigenschaften von Diagrammen dargestellt werden.« 30 In diesem Sinne findet das partikuläre Problem der Struktur eines mathematischen Gegenstands, so wie es in einem mathematischen, fixen Arbeitskontext erscheint, ein allgemeines Schema, in dem es das Phänomen des Strukturdynamismus selbst »einfasst«. Das, was wesentlich ist, ist der Charakter der Universalität der Konstruktionen, nicht die »konkrete« Weise, durch welche eine Struktur – nach ihren intrinsischen Komponenten – konstruiert wird, sondern die möglichen Beziehungen mit anderen Strukturen, die ihren Vollzugscharakter hervorheben. Betrachten wir ein Beispiel mit topologischen Räumen: Wenn man die topologischen Räume B und C betrachtet und sie miteinander multipliziert, sieht man, dass das Produkt durch folgende Eigenschaften eindeutig bestimmt ist: 1.
Es gibt einen Homeomorphismus p1, der von A zu B geht, und einen Homeomorphismus p2, der von A zu C geht (beispielsweise isomorph zu B), Das Produkt ist universal bezüglich [1], in dem Sinne, in dem es in der Erscheinung anderer, ähnlicher Strukturen reiterierbar ist.
2.
Diese Eigenschaften definieren wesentlich das Produkt (nicht die Strukturen selbst) und sie setzen sie als salienten Inhalt des Produkts zwischen zwei topologischen Räumen fest. Das Produkt ist auf diese Weise völlig bestimmbar, ohne sich auf eine interne Struktur des topologischen Raumes selbst zu beziehen. Die mappings dieser Räume, das heißt die stetigen Funktionen, bewahren die topologische Struktur. In diesem Sinne können wir eine Kategorie C definieren, ausgehend von einer Objektklasse Ob (C), eine Klasse Hom (A, B) für jedes geordnete Paar von Objekten hA, Bi von C, deren Elemente Morphismen der Domäne A und der Ko-Domäne B wären, und eine Kompositionsoperation »d«, die zwischen Paaren von Morphismen f und g definiert ist gdw. die Ko-Domäne mit der Domäne von f zusammenfällt, die folgende Axiome erfüllt: 1.
Wenn f 2 Hom (A, B) und g 2 Hom (C, A), dann f � g 2 Hom (C, B). Für alle A 2 Ob (C) gibt es einen Morphismus IA 2 Hom (A, A), genannt »Identität von A«, sodass für alle Morphismen f und g,
2.
30
S. Eilenberg – S. MacLane, cit., S. 244.
604 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 119. Grundlinien der □MO Modellierung
für welche die Komposition rechts oder links mit IA definiert ist, gilt: IA � f = f und g � IA = g. Dieses Axiom etabliert die wesentlichen Eigenschaften der Identität: 3.
Wenn die Kompositionen definiert sind für jeden Morphismus k, g, f,
dann k � (g � f) = (k � g) � f. Dieses Axiom etabliert die Assoziativität der Komposition. Auf diese Weise konstituiert sich die Kategorie Top der topologischen Räume. Eine solche Kategorie enthält: a) die topologischen Räume als Objekte; b) die kontinuierlichen Funktionen als Morphismen. Sie konstituiert sich im Inneren des kategorialen Horizonts und enthält: a1) mit einer Struktur ausgestattet Objekte; b1) partikuläre Morphismen als Transformationsfunktionen, welche die Struktur erhalten. So können wir auch durch die Funktoren Objekte einer gleichen Kategorie oder Objekte, die verschiedenen Kategorien angehören (topologische Räume und Mengen zum Beispiel), verbinden, indem wir unsere strukturelle Schau erweitern. Die Verbindung von gewissen Objekten mit gewissen anderen Objekten wäre also nur die Definition eines Funktors, und die Kategorienlehre könnte wieder als die Lehre zwischen den Funktoren und den Kategorien, durch die Isomorphismen und die natürlichen Transformationen, erfahren werden. Was kommt also durch diese elementare (und rein passive) Definition hervor, wenn man die metaontologische Modellierung in Transparenz der Kategorienlehre als Grammatik der Schau der strukturellen Interaktion der □MOM liest? Im metaontologischen Sinne der Modellierung liefert die Kategorientheorie eine Schau und überhaupt auf die □MO Strukturen anwendbare Begriffe, ohne direkte Beziehung auf die Individuation, 31 indem sie die Autonomie des Niveaus der Modelle selbst fixiert und so die spekulative Auffassung a) ihrer Interaktion und b) ihrer Reduzierbarkeit oder Irreduzierbarkeit eröffnet. 32 Die Grammatik der kaVgl. dazu Th. Mormann, Categorial Structuralism. In W. Balzer – U. Moulines, cit., S. 265–286. 32 Die mögliche Entwicklung einer Interaktion von verschiedenen Modellen (vom kategorischen Standpunkt und durch Morphismen) ist schon bei van Fraassen dargestellt. Vgl. B. van Fraassen, The scientific Image, cit., S. 67: »If for every Model M of T 31
605 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
tegorialen Schau der □MOM verleiht die Möglichkeit, die Konstruktionen und ihre Isomorphismen zu vergleichen, die zwischen den verschiedenen metaontologischen Strukturen der □MG fortbestehen, indem sie auch andere mögliche Modellierungen für die epistemischen Ansätze vorschlagen, die mehrere verschiedene □MOM enthalten. Wir haben eine simultane Schau, eine synopsis auf eine modellierende Situation im metaontologischen Horizont, ohne direkt und naiv zur ontologischen, natürlichen Verpflichtung gehen zu können. Es geht hier um die Aufhebung unseres Bedürfnisses, eine unmittelbare Stellungnahme für die Betrachtung jeder Wissensform als solche zu finden und zu verlangen. Aber es gibt etwas mehr, etwas radikal Erneuerndes, wenn man die Entwicklung der Kategorienlehre bezüglich der Natur der □MOM betrachtet, die als algebraische, topologische Räume gedacht werden. Diese durch die kategoriale Grammatik gelieferte Schau bereichert sich und entwickelt sich durch eine treffendere und aussagekräftigere Struktur aus spekulativer Sicht, dem Topos. Diese Beziehungen zwischen Strukturen in der kategorialen Erfahrung nehmen eine genaue Form an. Wenn sich die Anwendung der Algebra auf die Geometrie vollzieht, indem man geometrische Gegenstände als die Lösungs-»Orte« von Gleichungen oder Gleichungssystemen betrachtet, zieht das eine statische Verbindung zwischen den Idealen der Polynome und den Mannigfaltigkeiten mit sich, die reguläre mappings veranlassen. Mit dem kategorialen Ansatz können wir die Mannigfaltigkeiten und die regulären mappings als eine Kategorie betrachten und in diesem Fall betrifft jedes reguläre mapping einen Homeomorphismus von R-Algebren (nämlich Algebren, die auf den reellen Zahlen konstruiert sind). Dann können wir den strukturellen Dynamismus zwischen R-Algebren und den Mengen betrachten und durch den Bündel-Begriff und die Anwendung der Topologie von Grothendieck generalisieren. Außerdem können wir nicht nur die affinen Mannigfaltigkeiten studieren, sondern über die Änderung von Mannigfaltigkeiten aus struktureller Sicht, der Grundänderung der algebraisch entsprechenden Struktur folgend, hinaus gehen. Wir werden nicht mehr Punkte haben, sondern Bündel und die Definition eines Standorts, der uns erlaubt, die Totalität der Bündel in diesem Standort und ihre Beziehungen zu isolieren. Der Topos ist die Familie von there is a model M’ of T’ such that all empirical substructures of M are isomorphic to empirical substructures of M’, then T is empirically at least as strong as T’.«
606 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 119. Grundlinien der □MO Modellierung
allen auf einem Standort definierten Ensemblebündeln. Der Topos ist nicht eine Korrespondenz zwischen einer R-Algebra und einer Mannigfaltigkeit, sondern ein geometrisches Universum, das durch eine Topologie im Grothendieck’schen Sinne und die Kategorie von R-Algebren erhalten wurde, die alle möglichen Deckungsbezüge zwischen ihnen etablierten, nämlich alle möglichen Dynamiken zwischen topologischen Räumen und ihren strukturellen Modifikationen. Seit der atemberaubenden und erhabenen Mühe der großen Menschen unserer Zeit können wir die Topoi und ihre Beziehungen mit den □MOM als eine strukturelle Beziehung denken, die durch den Bezug zur vulgären Voraussetzung einer drei- oder vier-dimensionalen Räumlichkeit völlig abweicht, in welcher eine Welt noch als linear und zusammengesetzt aus einfachen atomischen Entitäten betrachtet wird. Wenn wir also die □MOM als algebraische, topologische Räume denken, gelangen wir dazu, die Topoi als geometrische Universi oder Kosmoi zu begreifen, selbst im Inneren, von welchem gewisse Modelle ihre Interaktion und, vor allem, ihre Implementierung in der Geometrie, die ihnen entspricht, finden. Aber vom spekulativen Standpunkt her stellen die metaontologischen Topoi nicht nur eine einfache (wenn auch extrem raffinierte) Anwendung eines mathematischen Modells (unter anderen möglichen) zu einer philosophischen Thematik (unter anderen möglichen) dar, als ob man eine andere Wahl treffen könnte und irgendein anderes mathematisches Modell auf die intrinsische Dynamik anwenden könnte, die wir für die □MOM zu denken suchen werden. Es wird etwas Tieferes (und Radikaleres) sein, da sich aufgrund der Topoi und der Spiegelhaftigkeit, die ein Topoi zwischen einer Topologie und ihrer Geometrie entwickelt, das Spekulativ selbst auf der Grundlage des □MOM vollzieht, seine Emergenz findet und sich als theoretische Errungenschaft darstellt. Der Raum der letzten Sichtbarkeit der Gegenständlichkeitsformen und der Raum der »logischen« Diskursivität reflektieren sich nicht in einer fixen Beziehung, statisch und extrem starr, so starr, dass es reicht, dass der »Komplex« hervortritt, um ihr fragiles Gleichgewicht zu zerstören. Die beiden Formen spiegeln sich in einem dynamischen und extrem harmonischen Bezug, demjenigen eines geometrischen Universums, welches nicht nur die Variation toleriert, sondern sie als seinen eigenen Erscheinungsursprung zulässt. Wenn man die Rahmen des Realen denken möchte, ohne wieder in eine banale und fälschlicherweise neue Metaphysik zu fallen, muss man 607 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
dahin kommen, zu sehen, auf welche Weise es gerade die Idee der Bündel und nicht die der Punkte ist, welche diese Spiegelhaftigkeit charakterisiert, indem man zugleich den Punkt als eine abstrahierende Reduktion auf dem Niveau der Dynamik von metaontologischen Modellen anerkennt. Die Bündel von Mengen (und nicht die Punkte, die Elemente) sind nach ihren Verhältnissen zu studieren. Die Verhältnisse stellen – übersetzt in die □MO Modellierung – alle möglichen Varietäten eines Modells durch die Integration von Dimensionen oder durch die Transformation in ein anderes Modell vor. Dadurch werden die Morphismen, welche die □MG der ontologisch elementaren Charakterisierung des ersten Modells verleihen, im zweiten bewahrt. Ganz offensichtlich können wir die Pflanzen, die Tiere, die Nebel, die Pulsare usw. sehen, aber das Problem ist hier nicht, ob wir etwas sehen können. Das Problem ist vielmehr, ob wir die Individuationscharaktere nur mit einer Ontologie denken können, die sich von dem kristallisiert, was sich gemäß der sinnlichen Erfahrung zu sehen gibt, wenn auch eine solche Schau technologisch erweitert ist. Das Problem ist, ob wir die Gegenständlichkeiten in ihrem individuierten Gegenständlichkeitscharakter auffassen können, nach einer Ontologie, die über das Sichtbare modelliert wird, die ausgehend von der drei- oder vierdimensionalen, sichtbaren Welt herauskristallisiert wird. Was ist der individuierte Gegenständlichkeitscharakter einer metabolischen Variation? Was ist der individuierte Gegenständlichkeitscharakter einer wirtschaftlichen Krise oder jedes anderen komplexen Phänomens? Ohne eine Grammatik der Schau, die sich bewusst im Horizont der □MOM orientiert und sich auf die Interaktionsgesetze zwischen diesen Modellen als thematische Gegenstände richtet, ist es unmöglich, solche Problemen aufzulösen. Ohne eine Studie, eine Erkundung, eine Analyse solcher Dimension bleibt das Vakuum zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir unter dem Titel der individuierten Gegenständlichkeit in den verschiedensten und komplexesten Wissensformen annehmen können.
§ 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ Das stellt aufs Neue die Notwendigkeit dar, zur Thematik der ontologischen (Ab-) Bilder zurückzukommen, um zu prüfen, auf welche Weise, selbst in einer visuellen Übersetzung dessen, was kein drei608 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ
dimensionales Bild hat, die Situation des □MOM als Raum von gegenständlichen Identifizierungen die Situation völlig neu konfiguriert, die unmittelbar dazu beitragen könnte, das Spiegelungsverhältnis zwischen den □MG und dem Erfahrungsboden zuzulassen. Die spekulative Beziehung, die sich durch den □MOM zwischen den □MG auf der einen Seite und dem Erfahrungsboden auf der anderen Seite entwickelt, ist von nun an als dynamisch aufgefasst. Die Dynamik, die wir als eigentlich und entscheidend für die □MG angesehen haben, lässt sich hier in einen Spiegelungsdynamismus übersetzen, das heißt in den Dynamismus zwischen dem metatheoretischen Horizont einerseits und dem Erfahrungsboden andererseits gemäß jener Grammatik der Schau, von den topoi als Interaktionsorte zwischen zwei Horizonten bzw. Dimensionen geleitet. Aber das, was hier genau zum Vorschein kommt, ist die Tatsache, dass ohne Horizontverschmelzung, die sich durch die Emergenz der spekulativen Beziehung verwirklicht, diese beiden Dimensionen nur eine konfuse und extrem arme Summe von Elementen wären, ohne eine interne Logik, nämlich ohne dieses Innenleben, das sie kennzeichnet. Es geht leider nicht mehr nur um die erhabene Idee einer Lektüre der Welt als Buch geschrieben in mathematischen Zeichen und geometrischen Figuren. 33 In der Tat ist das Spekulativ der □MO topoi allein das Wahre dieser beiden Dimensionen, außerhalb welcher es einerseits lediglich singuläre und sterile Erkenntnisse gäbe und durch den Gemeinsinn verklärte Auffassungen und andererseits diese sprudelnde Realität, welche die gewöhnliche Erfahrung nur zulassen kann, ohne davon den geringsten Griff zu haben. Einerseits gäbe es das Residuum von gewissen Erkenntnissen, die sich als passiv übernommene Idee im Gemeinsinn (common sense) und auch im Gemeinsinn einer Philosophie herauskristallisiert haben. Andererseits gäbe es eine Kristallisierung gewisser, äußerst fließender und ungewisser Meinungen über das Reale, die in der vulgata der Medien und in den gewöhnlichen Diskursen zirkulieren. Außerhalb des Spekulativs verlieren sowohl das Wissen als auch das Reale ihre Dimension und sind daher in ihrem eigentlichen und intimen Leben verkannt, das nur der Raum der □MO Topoi hervortreten lassen kann (ganz wie ein experimental implementiertes Modell das intime Leben eines Metabolismus oder der konstitutiven Realität der Materie hervortreten lassen kann). Innerhalb dieses Horizonts der □MO topoi muss man also die 33
Vgl. G. Galilei, Il Saggiatore, Torino, 1977, S. 33.
609 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
Idee der ontologischen Bilder der Wissensformen und dieselbe Idee nach einem Spekulativ denken, das dasjenige der zwei Dimensionen ist, die sich gegenseitig durcheinander spiegeln. Wir können also in dem Fall der Projektion eines ontologischen Bildes, umgesetzt durch eine Wissensform, eine Mannigfaltigkeit von Situationen betrachten: Im klassischen Fall projiziert ein singulärer □MG seine ontologische Struktur, indem er einen Anteil, eine Region des Erfahrungsbodens beschreibt, in dessen Inneren die Identifizierung zu einem Punkt, einer Linie, einem Ensemble von Segmenten, einer Oberfläche führt. Diese Identifizierung und die Abwicklung der Spiegelhaftigkeit zwischen dem Wissen und der phänomenalen Welt folgen einer wohlbestimmten Geodäsie. Das Wissen zeigt immer ein geodätisch genaues Verhalten. Aber wie wir in den Fällen der Komplexität gesehen haben, stellt dieser Fall, eher als das zu sein, was in den meisten Fällen (epi to polu) geschieht, nur eine kleine Facette des Innenlebens der Erkenntnisse dar, welche, um dazu zu gelangen, gewisse Phänomene zu fixieren und zu identifizieren, ihre epistemischen Vorgänge kreuzen und, was wichtiger ist, ihre □MOM verschmelzen müssen. Die Beziehungsmodalitäten können, wie wir gesagt haben, gemäß der Inklusion, Exklusion und der modularen Beziehung geordnet werden. Im ersten Fall kann die visuelle (oder metaphorische) Folge dieser Inklusionsdynamik mittels der Definition einer UnterRegion im Inneren der Region und durch eine Projektionsfunktion von einem Punkt (einer Linie, einer Menge von Segmenten, einer Oberfläche) zu einem Punkt (oder einer Linie, einer Menge von Segmenten, einer Oberfläche) im Inneren der Unter-Region oder, umgekehrt, von innen nach außen bewerkstelligt werden. 34 In diesem Fall kann die zweideutige Entsprechung (z. B. Punkt-Punkt, Linie-Linie, Segmentenmenge-Segmentenmenge, Oberfläche-Oberfläche) nicht bewahrt werden: Ein Punkt projektiv in eine Linie, in eine Segmentenmenge, oder Segmente in eine Oberfläche, eine Oberfläche in eine Linie usw. können sich transformieren. Im Fall der Exklusion, nämlich in dem Fall des Bestehens zweier (oder mehrerer) □MOM, die keine völlig reduzible Struktur aufweisen, wird man einen □metatheoretischen Komplex haben, der »seine« ontologische Struktur auf den Erfahrungsboden projiziert, der aber nicht nur eine Region im Inneren beschreibt oder identifiDies hier wäre der klassische Fall, der von Quine über proxy-functions, über Interpretationsfunktionen, definiert wurde.
34
610 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ
ziert, von welcher das Verhalten der identifizierten Gegenständlichkeit ihre Geodäsie findet. In diesem Sinn wird man mehrere Regionen mit ihren partikulären Geodäsien und mit Identifizierungen haben, die zugleich den Geodäsien folgen. Aber selbst in der partiellen Exteriorität handelt es sich um einen neuen »Gegenstand«, der einem □metatheoretischen Sachverhalt und daher einer Projektion auf die Topographie (nach ihrem eigentlichen Spekulativ) entspricht. Zunächst muss man hier anmerken, dass, obzwar die modulare Beziehung nicht explizit ist, es in jedem Fall eine modulare, elementare synopsis gibt, die der Konjunktion (und-und-und) zufolge die verschiedenen ontologischen Bilder in diesem Spiegelungsverhältnis zwischen der Dimension der Theorien und der Dimension des Erfahrungsbodens als mitgemeint/mitgegeben artikuliert. In diesem Sinn ist der dritte Fall, die modulare Beziehung, nur das Ergebnis der modellierenden Strukturierung (weil das Wissen in seiner Ausübung nicht auf die Vereinheitlichung durch die Konstruktion von Modellen thematisch höheren Niveaus verzichten kann), die sich ausgehend von der synoptischen Auffassung der ontologischen Bilder und Elemente vollzieht, die im Sinne der beschriebenen Regionen ihrer eigenen Geodäsie folgen. Man wird eine modulare Beziehung mit keiner Konvergenz haben können: Das ontologische Bild wäre also die topographische Komposition der ontologisch getrennten oder konvergierenden Bilder, in welcher die Anordnung der Modelle zur Hervorhebung der gemeinsamen Bestimmung einer Makroregion des Erfahrungsbodens mit anderen Regionen führt, die nicht dahin zurückkommen können. Man wird auch eine integrale Konvergenz haben können. Aber eine Frage bleibt noch offen, und es handelt sich um eine entscheidende Frage: Wie kann das möglich sein? Was ist die identifizierte Gegenständlichkeit in diesem Fall? Fehlt hier nicht dasjenige, sogar in der Sublimierung der Erfahrung im visuellen Bild des □MOM, das man als den Fingerzeig, die einfache, atomare, direkte Anzeige betrachtet? Auf was und in was vollzieht sich die Deixis des »Dies«, das heißt der Protothesis-(p), die das kognitive Moment der Gegenständlichkeitsidentifizierung (oder der Anerkennung einer identifizierten Gegenständlichkeit) kennzeichnet? Eine solche Deixis kann sich nur in einem □MO Topos vollziehen, kann sich nur auf dem Bündel vollziehen, das im Inneren des Topos die Interaktionsdynamik der □MOM fixiert. Hier kann die Deixis (nicht zufälligerweise) ihre Stellungnahme haben. Man kann 611 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
es auf die Weise denken, eine Protothesis-(p) von etwas Komplexem oder ganz Einfachen zu haben, die der naiven Hypostase der Wahrnehmung (und das bleibt in vielen anderen Erfahrungsformen und Konstitutionsformen der HSB gültig) entgeht. Der Topos ist hier der Ort, der Horizont der Deixis des »Komplexen« und folglich auch des »Einfachen«, die der perzeptiven Identifikationsform (ein subatomares Phänomen, das sich zum Beispiel auf fünf Dimensionen erstreckt) entgehen.
§ 121. Die Existenzfrage in den □MO-Topoi und die Idee der Physis Das stellt das Existenzproblem in eine Menge von epistemischen Beschreibungen, die angesichts des Gemeinsinns keinen Einfluss auf das Reale zu haben scheinen, weil sie scheinbar keinen Einfluss auf ein concretum haben, wie wir gewohnt sind, es zu denken, wenn wir unsere Erfahrungsform des »Wahrnehmungsdinges« hypostasieren. In diesem Sinne hätte nur allein dasjenige eine Individuation, was einen Wahrnehmungscharakter, mit einer raum-zeitlichen Angrenzung ausgestattet, hat. Aber das ist nicht wahr, es ist bei den Quantenphänomenen und, vor allem, bei den komplexen Phänomenen nicht der Fall und es gibt so manche Wissensergebnisse, die diese Form von scattered existence 35 bezeugt und beschrieben haben, nicht nur nach der zeitlichen Ausbreitung oder Verstreuung, sondern auch, und vor allem, was es noch skandalöser macht, in der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung oder Verstreuung. Aber ebendas was das Problem hervorbringt, ist nicht das, was skandalisiert, sondern der Skandal selbst und das, was ihn bestimmt, nämlich die Voraussetzung, dass es eine räumliche, zeitliche, oder raum-zeitliche Kontinuität gibt, um von Individuation zu sprechen. Im Fall der Deixis im Inneren des □MO Topos kann man leicht erkennen, dass diese Idee, wenn man so möchte, das Residuum eines naiven Ansatzes zur wissenschaftlichen Erkenntnis ist. Ein solch naiver Ansatz gründet sich auf einer wesentlich brutalen Voraussetzung der Kontinuität zwischen dem Wirklichen der Sache als Ding (Objekt einer Dingerfahrung) und dem Wissen – wenn man so will der Mathesis –, so wie wir sie hier gerade skizzieren. Wenn man jedes Element eines atomaren □MOM be35
Vgl. F. Fraisopi, La complexité et les phénomènes, cit., S. 510–522.
612 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 121. Die Existenzfrage in den □MO-Topoi und die Idee der Physis
trachtet, wird es eine mögliche Individuation verwirklichen, welche zur entsprechenden Wissensform zurückzuführen ist. Aber im Innenleben des Wissens geht es nicht nur um atomare, fixe Korrespondenzen. Das Innenleben des Wissens verwirklicht sich in der kontinuierlichen und kontinuierlich variierenden Reibung zwischen dem Wissen und der Komplexität der Erscheinung. Und diese Reibung verwirklicht sich eben durch das Spekulativ als In-Spiegel-Setzung eines gewissen Teils des Erfahrungsbodens und eines gewissen □MG durch den □MO Topos, der keine Dinge mehr hat. Ebenfalls darf man sich hier, wie in der Analyse jeglicher Erfahrungsform, die wir im ersten Kapitel skizziert haben, nicht zwischen dem Ding und dem epistemischen Objekt verwirren lassen. Die Konfusion gründet sich auf das Verkennen der wesentlichen Unterscheidung zwischen Ding- und Sach-Erfahrung. Ausgehend von dieser kann man eine andere Unterscheidung festsetzten, nämlich die Unterscheidung zwischen der Sach-Erfahrung im Bereich einer einfachen Erfahrung und dem quid, ebenfalls Sach-Erfahrung, das sich ausgehend und allein im Inneren des Horizonts von □MG und der Praxis der □MO Modellierung definiert. Die Sacherfahrung ist hier eine spekulative Situation, die sich in der Topologie der □MOM verortet und manifestiert, die topologische Situation eines bestimmten Modellierungsmoments: Diese spekulative Situation ist schließlich nur die In-Spiegel-Setzung zwischen der metatheoretischen Dimension und einem gewissen Gegenstand, Ereignis, Sachverhalt, der sich innerhalb des Erfahrungsbodens hervorhebt (dasjenige, das durch die Topographie exemplifiziert werden kann). Nach diesem visuellen Wissensmodell haben wir es mit einem bestimmten Sachverhalt, Beziehungen, Überlagerungen, Inklusionen, Verschmelzungen zwischen Regionen des Erfahrungsbodens zu tun, die nicht auf das Objekt (im noch groben Sinn von Ding) hinweisen, sondern auf gewisse Dimensionen der gegenständlichen Erfahrung. Die Meinung, derzufolge man notwendig nur mit Dingen zu tun hat, ist von einer eingefleischten, metaphysischen Idee bestimmt. Es geht um die Idee einer natura creata, auch wenn diese Idee in einer epistemischen und philosophisch raffinierteren (oder säkularisierten) Idee einer Natur verkleidet oder verborgen wird. Eine solche Idee einer fixen Natur ist nur die Sublimierung unseres fetischistischen Instinkts, immer und notwendigerweise zu den Sachen als Dinge zurückzukommen, wie Objekte eines Griffs, eines Besitzes, 613 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XII Die Dimension der Modelle und die Mathesis
einer Manipulation. Es ist diese Idee, die man aufheben und aufgeben muss. Das kommt damit gleich, nicht nur die Idee wiederzugewinnen – wie in einem Ansatz der Ideengeschichte –, sondern den Sinn selbst einer Erschließung unseres Geistes, die die Griechen Physis nannten. Und die Physis hat hier nichts Ontologisches, es ist vielmehr etwas An-Ontologisches und eo ipso etwas Anti- und Meta-Philosophisches, das man allein jenseits der klassischen (wir könnten aber auch sagen: unüberschreitbaren) Kategorien des Abendlandes denken kann. Im Sinne einer solchen Physis kann man auch (aber auf völlig veränderte und sublimierte Weise) aus spekulativer Sicht die Idee einer Kinesis kata Topon« 36 wiedergewinnen. Die »kinesis« bestimmt sich nun eben in Relation zum Topos, der sich ausgehend von der □MO Modellierung definiert. Der Topos ist hier der Ort selbst des Spekulativs, weil er an-ontologisch, und daher meta-ontologisch ist. Als Folge kann die Kinesis, die sich ausgehend vom Topos eines □MG bestimmt, nicht die Kinesis des Dinges sein, sondern, durch die kontinuierliche, flüssige und kontinuierlich rekonfigurierte Interaktion zwischen der metatheoretischen Dimension und dem Erfahrungsboden, der intrinsische Dynamismus unserer spekulativen Schau über die Phänomenalität. Diese Spiegelhaftigkeit lässt die Kinesis erscheinen, die weder die Kinesis des Dings noch die Kinesis oder der Dynamismus von Theorien als □MG ist, sondern die Kinesis ihrer spekulativen Interaktion. Um eine Physis und eine Kinesis kata Topon jedoch nach und außerhalb der Metaphysik neu zu denken, ist, in und durch die Aufhebung/Relativierung jeglicher Metaphysik als solcher eine neue Schau von uns gefordert. Es geht um eine Schau, die die Rolle des Leitfadens unserer »Wissenschaftlichkeit«, unserer theoretischen und epistemischen Stimmung gegenüber der Phänomenalität annimmt. Die Untersuchung über die Formen der Mathesis kann nur den Impuls zu dieser neuen Schau geben, wenn nicht von ihrer Bestimmung, dann eben in demselben Stil des griechischen Denkens und der wissenschaftlichen Revolution, die von einer neuen Form der Schau außerhalb jeder Schwärmerei und jedes Obskurantismus handeln. Gewisse Epochen verlangen eine Metabasis tês Dianoias, die das Risiko impliziert, in die Formen des Irrationalismus und des Obskurantismus des Denkens zu verfallen [infra § 130–131]. Angesichts dieser Metabasis stellt sich eine entscheidende Alternative: Entweder 36
Vgl. Aristoteles, Phys. 3, 8, 208 a 31.
614 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 121. Die Existenzfrage in den □MO-Topoi und die Idee der Physis
denkt man die Probleme der Metamorphose des Realen, das wir als globale Komplexität erfahren, durch das dichterische Denken aufzulösen, oder man verpflichtet sich zur weit schwereren Arbeit, diese spekulative Denkdimension zu erforschen. 37 Diese Dimension schiebt das Wissen nicht zur Seite, es teilt im Gegenteil die Idee des Wissens, der Mathesis, von diesem Spekulativ, das der menschlichen Erfahrung als solcher eigentlich ist, mit. In diesem Sinn ist sie nicht nur reicher als ein dichterisches Denken, sondern schützt auch vor irrationalistischen und obskuren Tendenzen. Es geht tatsächlich um die Tendenzen derjenigen, die wiederholt behaupten (indem sie die Meister nachahmen wollen), dass »die Wissenschaft nicht denkt«, ohne die leiseste Ahnung zu haben, von was die Wissenschaft (und die Epistêmê) handelt und in welchem Maße sie das Spekulativ verkörpert, mit dem gleichen Recht wie jede andere spirituelle Aktivität.
Jedoch darf man diesem dichterischen Denken mit all seinen Problemen (die Kritik der Technik, das Verdammen des Vergessens der Dimension der Gewohnheit, das Hervorheben, zum ersten Mal, einer gewissen durch die Metaphysik vergessenen »Sakralität« der Umwelt usw.) seine prophetisch fundamentale Rolle nicht verkennen. Das Problem ist, dass, die Hände seines Meisters außen vor gelassen, sich diese Denkform verengt, eine leere Wiederholung wird, eine kryptische Übung, obskurer als die obskursten Seiten von Heidegger, und undienlich/unbrauchbar für ein Gemeinprojekt einer Paideia.
37
615 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
§ 122. Der Horizont der Mathesis Die Form der Mathesis – oder den Horizont ihrer möglichen Formen – zu skizzieren und zu definieren, ist ipso facto das ultimative Ziel des reinen Denkens. Wenn die Bestimmung der meta-egologischen, meta-theoretischen, meta-ontologischen Dimension als Feld möglicher Beschreibungen dazu beiträgt, den Horizont zu definieren, worin sich die Formen der Mathesis denken lassen, dann kann diese Definition nur an eine pars destruens anschließen, welche die Schau des reinen Denkens befreit und seine Perspektive freigibt. Diese pars destruens gilt nicht (oder nicht nur) für Ideen und Vorurteile von Einzelpersonen wie eine Art Aufklärung des gesunden Menschenverstandes, weil der gesunde Menschenverstand gegenüber der Tätigkeit der Aufklärung der Vernunft ausreichend robust und undurchlässig ist. 1 Diese Aufklärung wird als Wirkung gedacht – aber als eine transversale –, relevant für die direkte Beziehung zwischen dem Horizont der Mathesis und den Wissensformen, die dort ihren Platz und ihre Einheit finden. Die pars destruens gilt auch nicht (mehr) für den Erkenntniswert von gewissen metaphysischen Behauptungen, den man dem Mensch, der Welt, der Geschichte oder Gott etc. zuteilwerden lässt. Dieser Wert ist bereits zu Genüge enttarnt worden. Die pars destruens gilt im Gegenteil oft für diejenigen Verhältnisse, die sich sehr häufig nicht erklären lassen, die zwischen gewissen Wissensformen und gewissen Hypostasen oder metaphysischen Überbleibseln fortbestehen. Es geht um den Menschen als Idee für die Geisteswissenschaften, die Idee der Welt oder der Natur für die Naturwissenschaften oder die Idee eines Gottes für die Theologie (und die Religionswissenschaften überhaupt). Diese Verbindungen haben nur zum Effekt, dass sie die Beschrei1
Vgl. B. Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg, 1976, S. 3–13.
616 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 123. Dekonstruktion und Mathesis
bung und das neue, interaktive Auftreten der Wissensformen unvollendet lassen, während sie gleichzeitig dem □MG – oder den anderen Aggregationsstrukturen von □MG – eine Verwurzelung in einer letzten Wirklichkeit als notwendigen und unvermeidlichen Bezugsterminus ihres epistemischen Ansatzes vortäuschen. Das ist, als ob man für einen phoronomisch beweglichen Gegenstand einen »natürlichen« Ort (oder die Tendenz, sich an einem bestimmten Ort zielen), beanspruchen wollte. Diese pars destruens kann sich also nur als eine Form der Dekonstruktion präsentieren, als Dekonstruktion der impliziten metaphysischen Voraussetzungen, die eine Wissensform implizit nehmen kann.
§ 123. Dekonstruktion und Mathesis Über Dekonstruktion zu reden, bedeutet nicht, eine allzu banale und klägliche Diskussion mit Bezug auf Derridas Theorie der Dekonstruktion zu führen, um zu entscheiden, ob jene adhärent oder häretisch ist. Doch sowohl die Kopplung »Dekonstruktion und Mathesis« als auch der intrinsisch phänomenologische Ansatz, den sie mit sich bringen, zeigen, dass die Dekonstruktion – weit entfernt vom Gedanken der Postmoderne – mit einer positiven Aufgabe verbunden ist. Sie ist nicht nur auf konstitutive Weise dazu orientiert, die Gerechtigkeit als nicht dekonstruierbar zu entlarven, sondern auch dazu, einen Erziehungsweg gegen den Fanatismus einer absoluten Wahrheit zu erkunden. Dieser Weg kann nur zur Eröffnung eines neuen Horizonts der Mathesis führen. Die Dekonstruktion wendet sich hier dem Anspruch zu, einen endliches terminus in der Beschreibung des Menschlichen, des Weltlichen und des Heiligen zu erreichen – das heißt, diese adjektivischen Formen zu einem ontologisch-metaphysischen Wesen zu bringen. In diesem Sinne kann die Dekonstruktion in dem Bewusstsein agieren, nach dem »die idealen Gegenstände eine Geschichte haben«, einen materialen Ursprung und eine Dicke. 2 In diesem Sinne kann die Dekonstruktion nur von der phänomenologischen Stimmung und der Feststellung ihrer Entstehung genährt werVgl. J. Derrida, Sur parole, instantanés philosophiques, La Tour d’Aigue, 2003, S. 80: »Phänomenologie ist immer die Ressource der Dekonstruktion, da sie es erlaubt, die spekulative und theoretische Sedimentierung und die philosophischen Voraussetzungen rückgängig zu machen.«
2
617 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
den und unter Hervorhebung der Sedimentierung der Idealität ihren privilegierten Gegenstand nur in den Gegenständen der Metaphysik finden. Die Hypostase dieser Gegenstände, selbst ohne epistemische bzw. logische Gründe, liegt einer bestimmten Vorstellung von Wissenschaft und Wissen zugrunde, durch den falschen und illusorischen Anspruch, dass die Theôriai alles in allem auf epistemische Weise Aspekte dieser Gegenstände beschreiben können. Wenn nun jedoch die definitorischen Ansätze zur Beantwortung der metaphysischen Frage par excellence (»Was ist das?«) nicht für die Dekonstruktion gültig sein können, wir wenden uns im Gegenteil an die Dekonstruktion an der metaphysischen (Nach-)Fragen, die gemäß der Metaphysik gestellt werden würden. Die Metaphysik zeigt sich hier als Residuum einer oder mehrerer der Wissensformen, die durch holistische Hypostasen eine Antwort finden wollen. Die metaphysischen (Nach-)Fragen (und nicht die metaphysischen Begriffe) sind das, was angenommen werden muss, um den Anspruch zu überwinden, dass es in der Entwicklung dieser Fragen Raum für eine solche Metaphysik (oder ein nicht horizontales bzw. geodätisches Wissen) gibt. Aus dieser Sicht ist der metaphysikkritische Ansatz einer Analyse von Begriffen gänzlich naiv, weil die wahre und unübertrefflich metaphysikkritische Erfahrung erfolgt, indem man an die Wurzeln, das heißt zu den Fragen, vorstößt: Hier sind die Fragen im doppelten Sinne des Aktes des Fragens und des Verlangens, eine Sättigung zu finden, zu verstehen. Erst auf dieser Stufe können wir etwas Neues wie die spekulative Reduktion verstehen. Ohne in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit der Erscheinung zu stehen und ohne je phänomenalisierte oder sich phänomenalisierende gewesen zu sein, können die Begriffe der Metaphysik nur auf drei Wegen in die Erscheinung eindringen: a) durch ästhetisch-symbolische Ausdrücke; b) durch die Nachfragen an ihr Wesen; c) im metatheoretischen Horizont. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Begriffe für die Analyse des ästhetischen Ereignisses eine konstitutive Rolle haben – aber ebendiese Begriffe in diesem Kontext den gleichen Erkenntnisgehalt eines Stilllebens oder der Vorstellung eines Gebäudes –, sind die einzigen Fälle, in denen sie den Kern einer Sach-Erfahrung darstellen, die der anschaulich »armen« Momente der spekulativen Fragen: »Was ist Gott?«, »Was ist die Welt?« … »Was ist das Leben?« … »Was ist das Schicksal?« … »Was ist der Tod« … »Was ist der Mensch?«. 3 3
Vgl. Th. Nagel, Mortal Questions, cit., S. 1–23.
618 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 124. Die spekulative Reduktion
§ 124. Die spekulative Reduktion Durch und in der spekulativen Reduktion erkennen wir nicht nur, dass die Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik selbst (wie Kant 4 und Husserl 5 hinreichend nachgewiesen haben) völlig veraltet ist. Durch und in der spekulativen Reduktion sehen wir ebenfalls, dass sich das Bestehen selbst der Metaphysik (und jeder metaphysischen Ontologie) auf ihren eigenen Nach-Fragen gründet. Es geht um die Schlussfolgerung, dass es einen Gegenstand geben muss, von dessen Bestehen wir »Sinn« erwarten – oder von dessen Existenz wir einen »Sinn« verlangen. Daraus folgt, illusorisch, dass man etwas über den Gegenstand wissen kann. An dieser Stelle wird jenseits der ursprünglichen Ambivalenz zwischen »Frage« und »Nachfrage«, zwischen einfacher »Frage« und »Anspruch auf eine Antwort« (und daher »Voraussetzung/Vermutung eines Wissen«) die Forderung in ihrem höchsten Sinne gezeigt: Der Anspruch eines Daseins, dessen, wonach man fragt; also eines metaphysischen Wissens, das alle Prinzipien einer ontologischen Relativität übertrifft. Dies zeigt sich vor allem auch in der Analyse von metaphysischen oder spekulativen (Nach)-Fragen: Wenn man alle derartigen Fragen betrachtet, bedeutet die Existenz von etwas als Erfragtes im strengen Sinne nicht nur eine Definition, sondern auch etwas Wesentliches vom metaphysischen Standpunkt. 6 Es ist in der Tat einfach, die Variation – die immer in den metaphysischen Fragen tätig ist – zwischen der Definitions- und der Wesensfrage zu erkennen. In der Tat ergibt sich auf dem Niveau der Alltäglichkeitsphänomene und auch der formalen (bzw. kategorialen) Anschauungen für das Wesen an sich eine Nominaldefinition oder eine Konstruktion als Ersatz einer leeren Anschauung durch bekannte Darstellungen: Das Wesen ist Nominalwesen oder Struktur-Invarianz-Wesen lediglich im aufgeführten Bedeutungsnetzwerk. Aber auf metaphysischer Ebene kann ein solcher Unterschied zwischen Wesen und nominalem Wesen in der Behauptung kaum bemerkt werden: Die Behauptung stellt das Wesen Gottes sowie das Wesen der Welt und das Wesen des Lebens und Schicksals des Menschen im ganzen Sinne in Frage. Denn diese Wesensformen, die von diesen 4 5 6
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., Ak. III, B 377 – A 341 f. Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, §§ 56–58, S. 122–127. Vgl. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, cit., S. 49–62.
619 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
»Entitäten« und diesen »Gegenständlichkeiten« verlangt werden, können in der Perspektive des metaphysischen Fragens keine Nominalisierung finden. Jede Nominalisierung »Was bedeutet der Ausdruck x?« bedeutet schon eine Ausschaltung ihrer metaphysischen Gültigkeit. Kraft dieser Annahme, die in der metaphysischen Antwort versteckt ist, gilt dass für solche Fragen die bloße Namenserklärung als »Realität« nicht nur einfach unzureichend, sondern auch lächerlich ist. Wenn Menschen – getrieben von ihrem metaphysischen Instinkt – fragen: »Was ist das Leben?«, wäre es für den Metaphysiker lächerlich, zu sagen, sie ist dasjenige, »was zwischen Geburt und Tod passiert«. Durch diese Frage, als Nachfrage, fordern sie mehr als das, mehr als eine einfache Definition. Das Gleiche gilt für Fragen im Zusammenhang mit anderen erwähnten Begriffen. Hier fragt man mehr vom Wesen Gottes, des Menschen, des Schicksals, der Seele, der Welt; man verlangt, etwas zu begreifen, das mehr als ein semantisch kohärentes Wissen ist, etwas »anderes«, nämlich den Sinn. Aber diese ganze Frage bzw. Nachfrage nach dem Sinn ist schlechthin unsinnig. Für den Moment müssen wir, in und durch die spekulative Reduktion, den anschaulichen Vorstellungscharakter dessen anstreben, das unter die eidetische Analyse der Forderung fällt, um nämlich die Leere der Anschauungen von metaphysischen Fragen als wesentlichen Fragen zu kennen. Die eidetische Beschreibung berechnet hier ein sehr unsicheres und schweres Gebiet, weil sie gezwungen ist, asymptotisch leere Akte zu behandeln, die der reinen Bedeutung sehr nahe, aber noch Sach-Erfahrungen sind. Solche Sach-Erfahrungen bestehen in einer wesentlichen Frage von etwas, das auf fundamentale Weise den Fragenden interessiert. Es geht um ein Phänomen, reich an Bedeutungsverbindungen, aber arm an Anschauung. Die metaphysische Frage ist demnach eine wesentliche Frage, die durch ihren sehr anschauungsarmen Gehalt viele »psychologische« Bedeutungen als Erwartungen, existentielle Projektionen, Sublimierungen etc. verbindet. Deren spezifischer Charakter ist uns egal. Was diese eidetische Analyse interessiert, ist die Verbindung selbst und nicht die spezifischen Vorstellungen, die mit der Frage und den subjektiven Vorstellungen im nicht-strukturellen und nicht-phänomenologischen Sinne verknüpft sind. Die wesentlichen, metaphysischen Fragen zeigen sich also, vom eidetischen Standpunkt, als Gegenteil der gesättigten Phänomene: Arm an Anschauung, reich an Bedeutungen bieten sie ein Netz von Bedeutungen, das quasi asymptotisch die 620 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 125. Metaphysische Frage und Theologie
volle Einheit des Phänomens selbst erschöpft. Es gibt die Frage nach dem Wesen Gottes, es gibt die Frage nach dem Wesen der Welt, es gibt die Frage nach dem Menschen und allem, was ihn betrifft: seine Seele, sein Schicksal, sein Leben, die Freiheit, seine Krankheit … sein eigenes Sein. Allerdings müssen wir uns, sobald wir uns im Bereich der spekulativen Reduktion befinden, den Fragen annähern, um ihre intentionale Seite zu erschließen, während wir keine Angst vor Gotteslästerung, Atheismus oder Skepsis haben dürfen: Hier geht es nicht darum, die Frage (nach der Existenz Gottes, der Existenz der Welt und der Existenz der Seele, des Schicksals, der Freiheit usw.) zu stellen, um eine Antwort zu finden, weil hier die metaphysische Neutralität »mehr als anderswo« gelten muss. Die spekulative Reduktion verschreibt sich und muss sich ausschließlich der eidetischen Natur der metaphysischen Fragen verschreiben. Angenommen wir können die metaphysischen Fragen »Was ist die Seele?«, »Was ist das Schicksal?«, »Was ist Freiheit?« unter dieser einen Frage: »Was ist der Mensch?«, subsumieren, finden wir eine Art transzendentaler Einräumung aller solchen Fragen (wie in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft dargestellt) aus drei Fragen: »Was ist Gott?«, »Was ist die Welt?«, »Was ist der Mensch?«. Daher muss man der spekulativen Reduktion diese drei Klassen von armen Phänomenen unterordnen.
§ 125. Metaphysische Frage und Theologie Wir beginnen daher mit der Frage nach Gott, indem wir uns mit dem Vorstellungscharakter des Noemas der Frage und dessen Kern sowie dem Körper der Frage und ihrem Kern, dem Gefragten befassen: Woher kommt und was ist die Vorstellung von Gott und aus was besteht die Frage nach seinem Wesen? Wir haben keine leibliche Gegebenheit Gottes – etwas ganz triviales –, auch nicht in der christlichen Darstellung der Selbstgegebenheit Gottes in und durch den Leib Christi oder der Darstellung des Mysteriums der Eucharistie (selbst wenn man sich einem Bereich dieses Diskurses widmet, der nicht aus dem Delirium affiziert wird). Es muss dann also nichts anderes bekräftigt werden, als dass die Vorstellung von Gott, dessen Wesen man erfragt, die Sedimentierung einer Projektion von Bedeutungen ist. Die wesentliche Struktur dieser Projektion ist näher am Begriff der Entäußerung 621 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
Hegels 7 bzw. der Entfremdung Feuerbachs 8 oder der symbolisch bzw. archetypischen Sublimation Jungs als an der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita. Aber sie ist nun einfach gemäß dem Problem des Wesens der Vorstellung und ihrem anschaulichen Inhalt und nicht ihrem metaphysischen Inhalte zu bezeichnen. Entweder kommt die Vorstellung von rein ästhetischen Erfahrungen oder sie kommt aus der symbolischen Auslegung (Sublimierung), die aus diesen Erfahrungen hervorgeht. Die Vorstellung an sich hat in jedem Fall keine leibhafte Gegebenheit des Noemas, der Gegenstand der Frage nach »Gott« oder möglicherweise der »Person(en) Gottes« wäre, dessen/deren Wesen wir in Frage stellen. Durch die spekulative Reduktion erkennt man die Tatsache, dass der Vorstellungsgehalt Gottes in der Frage bis an das Minimum seiner anschaulichen Masse ausgereizt wird. Der Begriff »Gott« zeigt sich also als Bedeutungsintention, ausschließlich bestehend aus einer Zusammenfassung subjektiver oder kultureller Bedeutungen: Diese Zusammenfassung hat ihren Ursprung in dem Wesen des Subjekts selbst, das auf »Gott« eine Vielzahl von Erwartungen oder Überzeugungen projiziert. Solche Erwartungen oder Überzeugungen werden in unterschiedlichsten Archetypen transfiguriert und finden manchmal ihre Synthese im Namen oder im Bild von etwas Souveränem. Solche Archetypen oder ein solches »Souverän« sind der Endlichkeit entgegengesetzt, in der das Leben und die tägliche Erfahrung ursprünglich verortet sind. Das bedeutet nicht, dass es keine Erfahrung des »Heiligen« gibt, im Gegenteil. Die Auffassung der Leere des Götzen »Gott« (als Idee einer einzigen sklerotischen arroganten Quelle der Wahrheit einer Konfession) beschreibt im Gegenteil die Öffnung einer Mathesis der Erfahrung des Heiligen und eine neue Dimension der Erfahrung selbst [infra § 129]. Da wir von »Gott« keine leibhaft anschauliche Gegebenheit haben können, muss die Bedeutungsintention »Gott« – als Noema der Frage angenommen – durch anschaulich integrative Erfüllung bzw. Sättigung integriert werden. Diese ist nichts anderes als das Ergebnis dieser Zusammenfassung, das heißt, die resultierende Darstellung der subjektiven Integration von verschiedenen Darstellungen. Dies kann leicht durch die Vgl. G. W. F. Hegel, Jenenser Realphilosophie, Leipzig, 1923, 2, S. 217. Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums. In Werke, 7, Berlin, 1883, S. 81, 202, 293, 305 f., 320, 326.
7 8
622 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 125. Metaphysische Frage und Theologie
Annahme der Antwortformen als Sättigung der Frage erklärt werden. Auf die Frage »Was ist Gott?« antworten viele oft: »Für mich ist Gott …«. Diese Antwortform ist nicht nur die gewöhnliche, sondern sie ist etwas Strukturelles. So ist für die Bedeutungsintention »Gott« keine leibhafte, anschauliche Erfüllung möglich; und in der Leere der Frage ist auch ihre intuitive mögliche Erfüllung so unsicher, dass sich die Häufigkeit einer solchen Frage zeigt. Die wesentliche Frage, im Sinne einer Definitionsfrage, erfordert die Klärung eines Ausdrucks, unter dem die verschiedensten intuitiven Träger aufgeführt werden können, ohne dass sie daraus die Möglichkeit einer Definition gewinnen kann. Da wir keine leibhaft anschauliche Gegebenheit einer anschaulichen Erfüllung und auch niemals eine als logisch oder ästhetisch definierte Darstellung haben, entzieht sich das, wovon wir das Wesen erfragen, jeder geistigen Auffassung: Aus dem Ausdruck »Gott« können wir nichts Bestimmtes gewinnen. Also ist die metaphysische Frage »Was ist Gott?« gleichzeitig notwendig, wenn wir den Glauben »an Gott« annehmen. Denn die Reflexion über eine so neblige Darstellung gibt dem Geist, der aus der Frage nach Gott nichts fest Bestimmtes gewinnen kann, einen Ursprung: die Frage selbst. Für die metaphysische Frage ist gleichzeitig die Frage nach dem Wesen unerlässlich. In ihr finden wir, im Gegensatz zu saturierten Phänomenen, eine Bedeutungsmenge, der wir die geringste Anschauung zuordnen oder zumindest so tun, als würden wir sie zuordnen. Das macht die ganze erhabene Produktion von Symbolen und ästhetischen Vorstellungen. Für den Moment, weil einzig die spekulative Reduktion auf Fragen der Metaphysik angewendet werden kann, sind wir nicht daran interessiert, dass eine solche Anschauung auch gegeben sein könnte. Daher betrachten wir auch nicht die Kritik der Möglichkeit der Offenbarung sowie die Möglichkeit eines Verständnisses des gesättigten Phänomens. Alles spielt sich hier im »armen« Phänomen ab. Was man mit der Frage »Was ist Gott?« sucht und verlangt, ist eine leibhaft anschauliche Gegebenheit. Eine solche Gegebenheit kann auch als symbolische und ästhetische Darstellung gegeben werden, durch die sich alle freien Bedeutungen des Denkens – seine Erwartungen, seine Hoffnungen, all seine Ängste usw. – eines desorientierten Individuums verfestigen können. So gibt es immer noch eine unzureichende Verbindung zwischen der Frage und ihrer Erfüllung: Die Frage ist, in einem gewissen Sinn, immer noch eine gerechte und legitime Nachfrage (als Ereignis). 623 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
§ 126. Metaphysische Frage und Kosmologie Im Fall der »kosmologischen« Frage, d. h. der metaphysischen Frage nach dem Wesen der Welt, gibt es im Gegenteil weder eine symbolische noch eine ästhetische Vorstellung, und auch keine Vorstellung in individuo dessen, wonach wir fragen, was die Welt ist. Die metaphysische Frage nach der Welt und ihrem Wesen (»Was ist die Welt?«) hat keine repräsentativ-individuelle Konsistenz auf der Ebene der Anschauung. Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, ist der Begriff der »Welt« sogar noch schwächer, dunkler und unsicherer in Bezug auf die metaphysische Konzeption von Gott. In der identischen Abwesenheit einer leibhaftig anschaulichen Gegebenheit finden die metaphysischen Fragen nach Gott und nach der Welt ihre Verschiedenheit durch die Vorstellung selbst des Gefragten. In Bezug auf Gott ist die Frage nach dem Wesen selbst legitim, durch und kraft der bedeutsamen und repräsentativen Konkretionen (durch Tradition, Kultur, Kunst, Religion usw. oder durch ikonographische Systeme gegeben). Dahingegen ist die Frage nach dem Wesen der Welt gar nicht auf diese Weise konstituiert. Woher kommt also die Weltvorstellung, von der wir das Wesen verlangen? Warum muss also die Frage nach der Welt weniger legitim sein als die Frage »Was ist Gott?«, wenn wir von der Erfahrung im Realen ausgehen? Ist die Welt etwa nicht immer in unseren Augen vorhanden? Warum sollten wir nicht versuchen, das Wesen von etwas, dessen Erfahrung sich nie teilen, nie isolieren kann, zu erfragen? Ist das nicht ein Paradoxon für die Phänomenologie, die – durch das Prinzip des »zu den Sachen selbst« – über einen privilegierten Zugang zu der Welt verfügen will? Ist diese Frage selbst nicht mehr legitim, »nicht die legitimste aller Fragen«? Es muss zuerst noch einmal darauf hingewiesen werden, dass wir hier nicht die Frage nach der Legitimität selbst, also als eine solche Frage, betrachten: Die Frage, obwohl das Phänomen ärmer sei, legitimiert sich durch sich selbst, als Sach-Erfahrung in sich selbst und aus sich selbst. Die Frage legitimiert sich durch ihren einfachen und nackten Bestand. Aber woher kommt dann die Frage nach der Welt? Warum umfasst die »einfache«, fast »normale« Vorstellung von »Welt« die Frage nach ihrem Wesen? Der bedeutungstragende Begriff einer »Welt« ist trivial, aber, wie in den meisten Fällen, ganz klar. Diese Mehrdeutigkeit wird durch die Frage selbst nach ihrem Wesen erklärt. Durch die Tatsache, dass wir eine Erfahrung von etwas haben 624 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 126. Metaphysische Frage und Kosmologie
– als eine Art der Intentionalität –, eine Erfahrung, die das Lebens selbst eines Subjekts bestimmt, können wir niemals die Realität der Welt (entweder als Realität oder als Wirklichkeit) behaupten oder bezweifeln. Die Frage bezieht sich spezifisch auf die Problematik »Was ist die Welt?«. Woher kommt unsere Absicht, eine Antwort auf so etwas wie »das Wesen der Welt« zu suchen? Es ist, weil wir es gewohnt sind, unter dem Begriff »Welt«, all die Erfahrungen zu klassifizieren, die sich im intentionalen Leben abspielen, entweder als immanente Anschauung oder als transzendente Anschauung. So ist also der Begriff der »Welt«, unter dem wir die gesamte Erfahrung organisieren, ein Sammelbegriff, der kraft seiner kollektiven Natur mehrdeutig ist. All dies wird durch die Mehrdeutigkeit von Ausdrücken bezeugt, die wir für den Gegenstand selbst übernehmen: »Das ist meine Welt«, »Weltwissen«, »Wissen der Welt«, »Weltbild«, »Menschenwelt« etc. Es ist also genau diese Mehrdeutigkeit, deren Wesen wir durch die »metaphysische« Frage von oder über das Wesen der Welt suchen. Wenn alles zur Welt gehört, alles weltlich ist, gibt es keinen Eigencharakter der Intention, die der »Welt« eine Bestimmung oder eine Erfüllung als Individuation geben könnte: Es gibt keine leibhaft anschauliche Gegebenheit in der Eigenschaft einer anschaulichen Erfüllung dieser Intention. Es sollte daher nicht gesagt werden, dass die Welt in ihren Spezifikationen oder durch die Sachen der Welt manifestiert wird. Man sollte aber vielmehr behaupten, dass die Welt, als kollektive Vorstellung, in ihren Exemplifikationen verloren wird und ihre eigene Auflösung in den Versuchen, sich zu exemplifizieren, findet. 9 Die Welt ist kein universeller, sondern ein allgemeiner, kollektiver (collectivum) Begriff, der kraft seiner Natur und der Frage nach seinem Wesen zwangsläufig notwendigerweise leer und gehaltlos bleibt. Denn jede Anschauung, die wir finden können, ist eine leibhaft anschauliche Gegebenheit einer oder mehrerer Erfahrungen als angebliche Exemplifikationen der Welt. Die Welt wird niemals leibhaft gegeben sein. In Anbetracht der Tatsache, dass die »metaphysische« Frage eine Frage nach dem oder über das Wesen der Welt ist, wird in der Frage nicht das philosophische Wesen der »Vorstellung von Welt« gesucht, sondern das Wesen der Welt selbst. Dieses Fragen ist also leer und gehaltlos, fast völlig 9 Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, cit., 1: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.«
625 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
leer, weil es keine »Welt« über ihre angeblichen Exemplifikationen hinweg gibt. Es gibt keine Welt, die sich manifestiert, oder besser: Es gibt jederzeit eine Erscheinung in ihrer Partikularität, die in den eidetischen Allgemeinheiten des intentionalen Bewusstseins (und nicht in der Welt selbst) verortet werden kann. Es gibt nur eine reine Deixis, welche keine begriffliche Bedeutung hat. So beruht die Frage nach dem und über das Wesen der Welt auf der Voraussetzung, der zufolge es etwas gibt, dessen Erfahrungen Spezifikationen sind. Um die Erfahrungen und die Gegenstände von intentionalen Erlebnissen jedoch als Spezifikationen der Welt zu behaupten, muss man zwei implizite Voraussetzungen annehmen. Man muss voraussetzen, dass solche Erfahrungen und Gegenstände nichts anderes als die Spezifikationen von etwas sind und dass es ein Wesen gibt, dessen Spezifikationen sie nur sind. Aber im Wesen der Erscheinung kann man nie die Eigenschaft der »Spezifikation der Welt« finden. Es scheint an diesem Punkt ein Teufelskreis zu sein: Man kann nur nach oder über das Wesen der Welt fragen, wenn man schon vorausgesetzt hat, dass es die Welt gibt und dass sie ein Wesen hat. Man kann nur nach dem Wesen der Welt fragen, wenn man annimmt, dass die Erscheinungen Spezifikationen des Wesens der Welt sind. Diese falsche Annahme enthüllt sich im nicht-finalen (im Sinne von »höchsten«) Charakter der möglichen Antwort auf die Frage nach oder über das Wesen der Welt. Auf die Frage »Was ist die Welt?« können wir nicht durch eine Bestandsaufnahme oder durch eine Bestandsaufnahme jeder möglichen Bestandsaufnahme antworten, das heißt eine Antwort auf das Konfigurationskollektiv geben.
§ 127. Metaphysische Frage und Anthropologie Jenseits dieser Frage – wie in einem Voranschreiten in der Leere der Gegebenheit, wie ein sich Entfernen vom Moment des radikalen Empirismus – stoßen wir auf die Frage »Was ist der Mensch?« als Synthese, als Sammlung von allen spekulativen Fragen, wie »Was ist das Leben?«, »Was das Schicksal?«, »Was ist Freiheit?« 10 etc. Warum also sollte diese Frage die geringste Anschaulichkeit haben? Ist der Mensch nicht die naheliegende Sache par excellence, die wir, als Menschen, zu erfragen verlangen? Man könnte gegen den Einwand einen 10
Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt, 1928, S. 13 f.
626 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 127. Metaphysische Frage und Anthropologie
Gegeneinwand erheben: Warum, wenn es doch der Mensch ist, der diese Frage stellt, kann die Frage nach seinem eigenen Wesen nicht diejenige Frage mit der geringsten Anschaulichkeit sein, das heißt also eine noch ärmere Erscheinung als alle anderen? Die Frage »Was ist der Mensch?« ist die ärmste der wesentlichen Fragen, da sie »nach jemandem« fragt, dies aber in der Form der »dritten Person« und des Begriffs. Wo es in anderen Fragen die zumindest scheinbare Erscheinung einer Gegenständlichkeit gab, deren Wesen man erfragen konnte, wird sich diese andersartige Erscheinung, diese intentionale Polarität zwischen Frage und Gefragtem, in der die wesentliche metaphysische Frage »Was ist der Mensch?« gefragt wird, auflösen und verschwinden. Bei der metaphysischen Frage, die das Individuum (wer sonst?) über den Menschen stellt, gibt es keinen gerichteten intentionalen Strahl mehr, der auf eine Gegenständlichkeit projiziert wird. In diesem spezifischen Fall der Frage nach dem Wesen hat die Frage kein Noema, auf das sie auch nur die geringste Wesensantwort richten kann: Deshalb muss die Frage eine reflexive Dynamik entwickeln, die den Blick von der Frage auf den, der fragt, umlenken kann. Es gibt zwei Möglichkeiten für diese Sammlung von spekulativen Begriffen: Die erste ist die ästhetische Darstellung, die zweite ist das Vorstellungskollektiv. Hier gibt es eine symmetrische Position im Verhältnis zur metaphysischen Frage nach dem Wesen Gottes oder der Welt: Die ästhetische oder symbolische Darstellung Gottes auf der einen Seite und das Vorstellungskollektiv auf der anderen Seite stellen das Noema, dessen Wesen man verlangt, dar. Hier sind im Gegenteil die ästhetische Darstellung oder das Vorstellungskollektiv nur Termini einer Spiegelung (bzw. Reflexionsbegriffe). Welche anschauliche Konsistenz wird daher eine wesentliche Frage haben? Fast keine. Aber an diesem Punkt ist das »fast« sehr wichtig, weil es eine unwägbare Anschauungsquantität, ein »ε« neben Null darstellt. Was können wir vom Wesen des Menschen in einer ästhetischen Darstellung sehen? Nichts, außer dass der Mensch, der fragt, sich in ihr anerkennt. Was können wir in den Erscheinungen der menschlichen Beispiele als Spezifikation der Gattung »Mensch« sehen? Nur eine Komödie oder schwache Analogien zwischen den unterschiedlichsten Charakteren. So projiziert der Gedanke auf diesen Begriff (was er vom Menschen denkt), auch im Falle eines ästhetischen Spekulativs – ein Gemälde, eine Skulptur, ein Gedicht, ein Roman etc. –, eine Vielzahl von Bedeutungen leerer, gehaltloser Anschauung. Es bleibt einfach das Bild 627 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
von etwas, das der Mensch selbst erwidert, dessen Wesen wir erfragen! Im Falle eines spekulativen Begriffs als Vorstellungskollektiv kann das Denken nur von den Manifestationen der Menschen abstrahieren, um Ähnlichkeiten unter ihnen zu finden, die zu einem Vorstellungskollektiv führen, das angeblich der Begriff des »Menschen« sei. Aber im ersten Fall, indem wir auf dieses »Bild« oder diese »ästhetische Darstellung« projizieren, was der Mensch angeblich ist, werden wir keinen noematischen Terminus »Mensch« haben, nach dessen Wesen wir fragen. Die Vorstellung des Menschen ist, weit davon entfernt, etwas Wesentliches zu sein, ganz willkürlich. Identisch sind in der zweiten Hypothese, abgesehen von den Charakteren, die wir als menschliche Charaktere denken, die Eigenschaften des Menschen. Wir haben nicht mehr als eine fiktive Darstellung von den tatsächlichen Erscheinungen oder eine epistemische Auffassung von strukturellen Invarianten des Menschlichen, dessen Wesen wir erfragen, aber durch eine willkürliche, subjektive Vorgehensweise gegeben. In der Frage »Was ist der Mensch?« entzieht sich das Gefragte dem Sichtbaren und vernebelt sich, wenn man versucht, den Aufmerksamkeitsstrahl darauf zu projizieren. Es gibt weder durch Tradition gegebene Vorstellungen noch eine ausreichend klare Vorstellung des spekulativen Begriffs der Frage. Die metaphysische Frage nach dem Menschenwesen stellt sich als die gehaltloseste heraus, die am wenigsten klarste aller metaphysischen Fragen. Müssen wir sie also als das ärmste Phänomen definieren? »Leert« die Frage nach dem Wesen des Menschen den Gedanken selbst von aller Verwandlung ins Wesen, anstatt den Gedanken »aufzufüllen«? Findet also der Mensch, der nach seinem Wesen fragt, nichts oder fast nichts, wovon oder dessen Wesen er erfragen kann? 11 Warum dann also scheinen so fundamentale Fragen, in erster Linie die Frage nach dem Menschen, nach seinem Wesen, auf der phänomenologischen Ebene als so leer, so arm? Zeigt sich hier nicht eine klare Entgegensetzung zwischen dem klaren Denken (bzw. einer dekonstruktiven Phänomenologie) und der Metaphysik, gemäß der man das eine als so reich und so gesättigt erkennt und das andere als
Eine solche Situation wird durch Martin Heidegger in seinem Werk, das er Nietzsche gewidmet hat, beschrieben und antizipiert. Vgl. M. Heidegger, Nietzsche, I, cit., S. 360.
11
628 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 127. Metaphysische Frage und Anthropologie
arm und umgekehrt? Sollten wir die Beschreibungsmethode dann als eine grobe Art der Vorgehensweise definieren, im Gegensatz zum Reichtum und der Tiefe der Metaphysik, die in solchen Fragen fundamentaler Ereignisse etwas erkennen kann? Diese Fragen zeigen eine fast völlige Verkennung der beschriebenen Situation. Zeigt sie die grundlegende und fundamental spekulative Natur dieser Fragen außerhalb der Metaphysik als Antwortsystem? Vor allem liegt die erste, wirkliche Entgegensetzung zwischen Phänomenologie und Metaphysik 12 in der Tatsache, dass die erste nie nach einer axiologischen Stufenreihe zwischen den Phänomenen fragt und deshalb nie einen ontologischen Vorrang eines Phänomens vor den anderen setzt. Das deskriptive Wesen der Phänomenologie erlaubt ihr nie, einem Phänomen eine Eigenschaft, die nicht mit der eidetischen Analyse verbunden ist, zuzuordnen. Und in der eidetischen Analyse gibt es keine vorrangstiftenden Charakteristika und so kann es nie ontologischen Vorrang geben. Ist es also völlig falsch, zu sagen, dass die eidetische Analyse die Frage »Was ist der Mensch?« nicht erkennt oder, ganz allgemein, dass sie in metaphysischen Fragen kein grundlegendes Ereignis erkennt? Nein, denn die Analyse hebt die Wesentlichkeit selbst von Phänomenen hervor. Aber man muss die Natur dieser Wesentlichkeit, dieser Gründlichkeit berücksichtigen. Es ist nicht die Aufgabe der Definition von intentionalen Strukturen, zu bestimmen, welche Erscheinungen und welche Ereignisse fundamental sind. Die Aufgabe der Definition besteht lediglich darin, die Phänomene nach ihren einfachen Strukturen an-zu-erkennen. Auch hier ist wieder die Überzeugung, gemäß der eine Untersuchung – indem wir in der metaphysischen Frage ein »armes« Phänomen sehen – diese Phänomene zur gleichen Zeit als »schwächere« Phänomene anerkennt, typisch für den Stil der Metaphysik. Durch die Tatsache, dass die metaphysische Frage über den Menschen eine Manifestation der »armen« Anschauung ist, sind wir phänomenologisch nicht befugt, eine Herabstufung des schwächeren Phänomens anzuerkennen. In der Frage nach dem metaphysischen Wesen des Menschen haben wir undeutlich eine spekulativ reflexive Dynamik gesehen, die in anderen Phänomenen und insbesondere in den »armen« Phänomenen nicht erkennbar war. Die Quelle der intentionalen Strahlung in der
12
Vgl. M. Richir, Métaphysique et phénoménologie, cit.
629 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
Frage »Was ist der Mensch?« ist gleichzeitig auch das Ziel, der Gegenstand der Frage als Gefragtes. Einfacher gesagt ist es der Mensch, der fragt, und es ist ebenfalls der Mensch, der in Frage gestellt wird; es ist (das Individuum als) ein Mensch selbst, der die Frage über ihn selbst einleitet. Aus diesem Grund, in Bezug auf dieses Phänomen der wesentlichen und reflexiven Frage, muss die Frage und auch das Gefragte einen dritten Begriff finden, auf den der intentionale Strahl projiziert wird, indem der Gegenstand der Frage selbst, sein Kern, das Wesen des Menschen, aufgedeckt wird. Die Menschen als Beispiel des Menschlichen, dessen Wesen und kosmische Bedeutung wir erfragen, die aus verschiedenen kulturellen oder künstlerischen Kontexten und anthropologischen, religiösen Darstellungen stammen, sind nicht himmlische Darstellungen, die das Fehlen eines gut definierten Noemas oder der anschaulichen Armut der Frage selbst überwinden können. Aber wenn es so ist, dass die Frage nach dem Wesen des Menschen so arm an Anschauung und so speziell ist, dass wir, auf eidetischer Ebene, nicht von einem gut definierten Noema, sondern von einer anomalen, noematischen Konfiguration sprechen können, bedeutet das folglich, anzuerkennen, dass es trotzdem, obgleich als Derivat und inkonsistenter Begriff, eine Vorstellung gibt. Auf jeden Fall hat die Darstellung des Menschen – auf eine Weise, die nicht die Analyse der Frage betrifft – eine Konsistenz, die das Subjekt nach »etwas« fragen lässt. Es geht um eine fragmentierte Vorstellung, absorbiert von dem anthropologischen Horizont. So ist die Frage nach dem Wesen des Menschen bereits orientiert, wenn auch unmerklich. Aber ist die Frage nicht das absolut arme Phänomen? Nein. Man muss die Frage noch näher betrachten. In der Frage selbst gibt es ein Individuum, das sein eigenes Wesen in der Eigenschaft als Mensch hinterfragt. Die Frage wird damit implizit »Was ist mein Wesen als ›Mensch‹ ?« fordern. Es kann an dieser Stelle der nicht vollkommen reine Charakter der Frage wahrgenommen werden, der implizit aus der Orientierung am Begriff des Menschen und der Möglichkeit, dass sich ein solcher »Gegenstand« stiften kann, durch ein Logon didonai folgt. Wenn ich mich frage »Was ist der Mensch?«, bin ich schon in einem sozialen, kulturellen, philosophisch breit gefächerten Horizont, der den Menschen bereits als etwas charakterisiert hat, über das wir kulturell, historisch, theologisch, philosophisch geprägte Fragen stellen können. Wenn ich frage »Was ist der Mensch?«, frage ich mich selbst sub 630 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 128. Dekonstruktion und □MO Modellierung
specie anthropologiae. 13 Es gibt bereits eine Konkretion – aus dem Bereich der Potentialität –, dessen, was der Mensch sein soll, um nach dem Wesen zu fragen: der Mensch als Menschheit, der Mensch als solcher oder, noch schlimmer, der Mensch als Person – im Gegensatz zu Gott und der Welt als gegebene Singularitäten in der Frage. Der Mensch als Subjekt an sich ist in vorher festgelegten Kategorien zu behandeln, gibt sich der Frage nicht leibhaft bzw. persönlich. Aus diesem Grund können die metaphysischen Fragen und insbesondere die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht eine Mathesis begründen oder sich als Bestimmungsgründe der Bewegung des reinen Denkens darstellen. Die Kategorien, durch und in denen wir nach dem Wesen des »sogenannten« Mensch fragen, sind Kategorien einer Kultur, die den Menschen als Gegenstand einer anthropologischen, soziologischen, religiösen, philosophischen Untersuchung erkennt. Der Mensch ist in der Frage »Was ist der Mensch?« nicht gegeben. Die Frage stellt sich weder als ursprünglich noch als fähig, eine systematische Gliederung der Bedürfnisse des Wissens der Vernunft zu liefern, wie sie es noch in der Kritik der reinen Vernunft war. Die Frage verbirgt im Gegenteil das echte Spekulativ (als reine Situation, als reines »da, wo«), das wir in der Frage »Wer/was bin ich?« erkannt haben. Auf diese Weise sind die Dekonstruktion und die Modellierung, welche ursprünglich aus diesem Spekulativ entstammen, komplementär.
§ 128. Dekonstruktion und □MO Modellierung Metaphysische Fragen sind im Hinblick auf ihre »Leere«, im Sinne der gründlichen Mehrdeutigkeit ihres Gefragten hervorgehoben: Der Sinn der Fragen nach dem Wesen Gottes, der Welt, des Menschen (und nach allen Figuren, die mit solchen Götzen eine Verbindung haben können) ist konstitutiv zerstört. Er ist im Labyrinth der Bedeutungen (und Erfahrungen), die ohne eine kodierte Regel auf das Gefragte projiziert werden, verloren gegangen. Aber die Bedeutung der Dekonstruktion, um die es sich in der spekulativen Reduktion handelt, bleibt ganz unsicher, wenn wir am bloßen Bewusstsein der Sedimentierung der Vorstellungen stehen bleiben, die ganz zufällig in Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M., 1971, S. 373.
13
631 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
Hinblick auf die Figuren der metaphysischen Fragen sind. Die Tatsache selbst, in den metaphysischen Fragen eine Sublimierung der Unsicherheit, der fehlenden Sättigung unserer Erfahrung zu erkennen, kann nur von der Struktur der Modellierung unterstützt und getragen werden. Eine solche Modellierung ersetzt diese unfassbaren Gegenstände unseres Imaginären durch klar und deutlich kodierbare, meta-ontologische Modelle. In diesem Sinne gibt es ohne Modellierung keine strenge Dekonstruktion in dem Sinne, dass es das Wesen der hyper-komplexen theoretischen Strukturen und deren ontologische Orientierung ist, die letztendlich entscheidet, in welcher Weise wir, an der Stelle des »mythischen« Menschen, der Welt und Gott etwas anderes erkennen müssen. Dieses »Andere« ist keine andere Gestaltung der Metaphysik (weil die □MG oder deren metaontologische Modellierungen keine Dinge sind, die sich außerhalb der Phänomenalität befinden). Dieses »Andere« ist keine leere Mystik, die dem Individuum nach seinem Aufwachen aus dem metaphysischen Traum bleibt und die er gemäß dem ikonographischen Code seiner Tradition erfüllen kann. Dieses Etwas ist das Verhältnis eines □MG (oder eines Aggregats oder eines □MG-Systems) zu einem Ort, und zwar genau das, was von ihren zugrundeliegenden Ontologien als »das Menschliche«, »das Weltliche« oder »das Heilige« aufgezeigt wird. Die □MO Modellierung – mit der Auffassung von □MG und ihren Interaktionsformen gekoppelt – ersetzt nur das Substantiv dieser Figuren mit ihren adjektivischen Formen: Der »Mensch« wird »das Menschliche«, die »Welt« »das Weltliche«, »Gott« »das Heilige«. Eine solche Ersetzung zeigt zuerst, auf welche Weise wir den »Menschen«, »Gott« oder die »Welt« nur als Termini einer Projektion einer Klasse von epistemischen Bestimmungsmöglichkeiten denken müssen, die sich auf den Erfahrungsboden beziehen. Man könnte sicherlich behaupten, dass wir durch eine negative Projektion die Erscheinung Gottes, der Welt, des Menschen finden können. Nach dieser Hypothese könnte eine andere Form des Denkens das Absolute anerkennen, dahingegen erkennt die Modellierung anstelle eines Gottes oder eines brennenden Dornbusches nur einen Teil der Lebenswelt, auf den sich die Wissensformen beziehen. Man könnte auch behaupten, dass solche metaphysisch souveränen Entitäten eben jenseits der ikonoklastischen Modellierungsmethode liegen. Das Problem ist aber vielmehr, dass die Götter oder der Mensch oder die Welt (die uns diese Prediger darstellen) selbst ein Betrug sind, der ein tieferes Verständnis verbirgt. Es geht hier um das Verständnis der Be632 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 128. Dekonstruktion und □MO Modellierung
ziehung zwischen Wissensformen (als □MG) und dem Ort, den sie auf dem Boden der Erfahrung einnehmen, der Teil des Erfahrungsbodens, den sie zu entziffern, zu erforschen und zu erkennen ermöglichen. Die Geisteswissenschaften haben keinen privilegierten Gegenstand, nämlich den Menschen, weil der Mensch selbst der Name des Spiegelungsbildes (strukturiert durch ein □MO Topos) eines □MG und der Boden der Erfahrung ist und eben nicht etwas Unveränderliches, über das wir (kraft seiner Unveränderlichkeit, die dem In-derWelt-Sein des Individuums Sinn geben sollte) sprechen könnten. Das Annehmen, dass der Mensch de re oder die res selbst sei, schwächt die Wissenschaft. Die Geisteswissenschaften als solche, wenn sie den Aspekt und den Ausgang einer Fälschung ableiten (Mensch vs. Natur), können die Frage nur fortwährend stärken, auf die manche Prediger bereit sind, eine Antwort zu geben. Wenn wir die Praxis der Wissenschaft genauer betrachten, ist der Mensch niemals in den Geisteswissenschaften präsent, er weicht aus, um sie einfach den Blick der einen oder anderen Theôria auf einen Teil des Erscheinungshorizonts fokussieren zu lassen. Ebenso lassen sich auch die Naturwissenschaften nicht auf die »Welt« anwenden. Die Welt, wie wir sie in der Frage und als metaphysischen Gegenstand verstehen, ist auf die gleiche Weise ein Götze, wie auch der »Mensch« einer ist. Wenn die natürliche Welt noch heute als ein philosophisches Problem 14 angesehen werden kann, dann ist das gerade so, weil die Philosophie (oder eine bestimmte Philosophie) völlig aufgegeben hat, den Entdeckungen und der Eigendynamik der Wissenschaften zu folgen, um sich in ihrer eigenen asphyktischen Idee des Wissens zu beschränken. Doch für eine asphyktische Idee des Wissens, welches nur in den semantischen 14 Vgl. J. Patočka, Le monde naturel comme problème philosophique, Den Haag, 1976. Wenn »die Welt in ihre Ganzheit« – nach Patočka – ist »das Problem der Philosophie« (S. 5) nur, weil »der moderne Mensch […] kein einheitliches Weltbild [hat]«. »Er lebt – argumentiert Patočka – in einer Doppelwelt, nämlich in seiner natürlich gegebenen Umwelt und zugleich in jener Welt, welche die moderne Naturwissenschaft, die im Prinzip der mathematischen Naturgesetzmäßigkeit fußt, für ihn schafft.« (S. 1). Das Denken über das Ganze, das aus der Welt als Hauptproblem der Philosophie neu anfangen sollte, ist eo ipso von der Pluralität der □MOM und durch das Spekulativ (in einem nicht metaphysischen Sinn) aufgehoben. Wenn es kein Ganzes im krypto-metaphysischen Sinn gibt, erscheint die Frage auch mehrdeutig und weit davon entfernt, das Problem der Philosophie zu sein. Dann ist, was in der Weltfrage »Gründliches« bleibt, nur ihre nostalgische Stimmung.
633 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
Schwankungen des philosophischen Sprachgebrauchs gesucht wurde, kann die Idee der »Welt« ausreichen und ihre hypostasierende Voraussetzung viele gute leere Gedanken ermöglichen, die sich für »kosmologische« halten. Es wäre auch eine Täuschung, zu glauben, nicht nur, dass es eine Wissenschaft von Gott (oder des Wortes Gottes) gäbe, sondern auch, dass es einen Gegenstand der Religionswissenschaften gibt. Als Wissenschaften, als □MG, orientieren sich die Religionswissenschaften an einem bestimmten Bereich der Erfahrung, nämlich der Erfahrung des Heiligen, ohne dazu dieses Heilige immer zwangsläufig auf Gott zurückführen zu wollen. Und sogar in der Relativierung der Erfahrung des Heiligen im Inneren einer Konfession oder eines Kults, eines spirituellen Ansatzes, ist Gott nur ein Element einer theoretischen Konstellation, die nichts mit »der Antwort auf alle unsere Fragen« zu tun hat: Es gibt keine grundlegende, natürliche Verwurzelung zwischen den Religionswissenschaften und dem brennenden Busch. Als Aggregate, □MG oder □MG-Systeme haben die religiösen Studien einen wandelbaren Blick und weite Möglichkeiten im Hinblick auf bestimmte Phänomene, ohne dazu diese Phänomene deduktiv zur Offenbarung Gottes reduzieren bzw. eine solche Offenbarung vorbereiten zu wollen.
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis Durch die spekulative Reduktion der metaphysischen Fragen und den Ersatz der substantivierten Hypostasen durch adjektivischen Formen öffnet die Dekonstruktion ipso facto eine neue Form der Mathesis oder mehrere Formen der Mathesis, die aus theoretischen Formen (oder aus Aggregaten der theoretischen Formung) bestehen, die ihren Blick und ihre Formen an der Objektivierung bestimmter Teile des Erfahrungsbodens orientieren, um eine Beschreibung davon zu liefern. Diese Beschreibung, als Konvergenz eines oder mehrerer Blicke, bringt uns zu illegitimen Hypostasen, die (für eine Weile) aus der Invarianz eines Anteils des Erfahrungsbodens und der Invarianz der Beziehung zwischen ihren □MG und diesem Ort entstehen. Der »Mensch«, die »Welt« und »Gott« repräsentieren nur solche Hypostasen, welche keine ontologische Festigkeit außerhalb einer topographischen Invarianz haben. Man könnte dies mit einer Passage aus der Kritik der Urteilskraft erklären: Wir glauben auf illusorische Weise 634 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
den Menschen (oder die Welt oder Gott) »in dem Raum, wo die meisten der Bilder« des epistemischen Ansatzes konvergieren, »im Innern der durch das Licht beleuchteten Stelle, die sich darin projiziert findet« 15in dieser oder einer anderen Form des Theôrein. Hier gibt es aber nur eine Invarianz und keine Substanz, kein Wesen. Aus diesem Grund können das »Menschliche«, das »Weltliche« und das »Heilige« niemals von ihrer adjektivischen Form getrennt werden. In diesem Sinne sind das Menschliche wie auch das Weltliche, das Göttliche bzw. das Heilige nur mehrdeutige Begriffe.
a)
Das Menschliche als Mehrdeutigkeit
Die Tatsache, dass die Geisteswissenschaften letztendlich auf topographische Weise nur diese Mehrdeutigkeit verfestigen können, 16 erhöht wiederum die Möglichkeit der Erkenntnis der Tatsache, dass letztendlich die Erfahrung des Menschen selbst – als einmalige, feste, einzigartige – nur eine leere Intention ist. Die analogische Ausdehnung von Strukturen oder Teilen von Strukturen führt von einer materialen Apriorität zu neuen Formen der Erfahrung und ipso facto zu einer Veränderung in der HSB oder zu einer Schaffung neuer Formen der HSB. Es geht also um eine Reihe genetischer HSB entsprechend dem Wachstum der Komplexität und dem Reichtum der anschaulichen Erfahrung (die Erweiterung des »Ich-Horizonts«). Nachdem allerdings erst einmal die Entstehungsdynamik und die Sedimentierungsformen der »Selbstbeziehung« skizziert worden sind, ist die letzte Frage noch nicht beantwortet: »Warum – auch unter Anerkennung Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 17. In Kants Gesammelte Schriften, Bd. V, 165–487, S. 234: »Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Normalgröße urteilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und, wenn es mir erlaubt ist, hierbei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminiert ist, da wird die mittlere Größe kenntlich.« 16 Siehe hierzu, M. Foucault, Wer sind Sie, Herr Professor Foucault? [1967]. In Schriften in vier Bänden, Frankfurt, 2001, Bd. I, S. 779: »Man entdeckt, dass die Möglichkeit des Menschen letztlich auf einer Menge von Strukturen beruht, die er zwar denken und beschreiben kann, deren Subjekt oder modernes Bewusstsein er jedoch nicht ist. Diese Reduktion des Menschen auf Strukturen, in die er eingebunden ist, scheint mir charakteristisch für das heutige Denken zu sein«. 15
635 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
in mehreren Modalitäten der HSB – hat jeder immer eine Art ständiges »Identitätsbewusstsein«? Wenn es ein metaphysisches oder transzendentales Ego, also letztlich die metaphysische Grundlage des menschlichen Denkens, gäbe, wäre die Art des konstanten und identischen Bewusstseins der Identität einfach (aber dogmatisch) garantiert. Aus metatheoretischer Sicht handelt es sich im Gegenteil um die illusorische Auffassung eines quid absolutum, die nicht vertretbar ist – weder aus erkenntnistheoretischer noch aus intentionaler Sicht. Es muss jedoch in jedem Fall auf eine solche Frage geantwortet werden, da ja bereits die ganz einfache Frage »Wer/was bin ich?« ein konstantes (und latentes) Bewusstsein der Identität zeigt, auch wenn sie – als »Ich« oder »Selbst« dargestellt – gleichzeitig keine konsistente Vorstellung hat. Der Vorstellungsgehalt und Vorstellungsinhalt des »Wer« oder des »Was« der Frage konnte der Annahme einer metaphysischen Natur oder eines transzendentalen Egos einen Wert (ein Abkommen, das nicht in Frage gestellt wird!) verleihen. Allerdings ist der Mangel an Vorstellungsgehalt und Vorstellungsinhalt nicht die Bestätigung des Fehlens eines umfassenderen Identitätsbewusstseins als solches. Jedoch zeigt, wenn wir die illusorische Lösung eines metaphysischen oder transzendentalen Egos ausschließen, die Dynamik einer HSB, durch die wesentliche Struktur der Korrelation und durch eine Sedimentierung strukturiert, auch die Notwendigkeit, ein zugrunde liegendes »Identitätsbewusstsein« anzunehmen. Ist der »Ich-Horizont« die Grundlage desselben Hintergrundbewusstseins? Durch die Öffnung des psychischen Lebens nimmt der »Ich-Horizont« nicht nur die Sedimentierungen von apriorisch-materialen und hybriden Selbst-Beziehungen an, sondern auch etwas, das eine andere Form der Sedimentierung widerspiegelt: Die Sedimentierung der Identität. Der Vorstellungsgehalt dieser Sedimentierung ist zwar leer, aber immer noch wirksam, wenn nicht fundamental. Der »Ich-Horizont« besitzt nicht nur Sedimentierungsstrukturen, die der Erfahrung der Gegenständlichkeit (im Sinne von apriorisch-materialem) und dem System von Selbstbeziehungen (HSB) eine festgelegte Konfiguration bieten. Er besitzt auch die Sedimentierung der Bewusstseinsidentität als solche, die sich nach und nach in der Verkettung der HSB im psychischen Leben instanziiert. So wie der Begriff der »Welterfahrung« kann sich der Begriff der »Selbst-Erfahrung« nur auf eine leere Intention beziehen oder besser in einer so breiten und vagen Weise, dass er als »leer« erscheint. 636 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
Die »Welterfahrung« und die »Selbst-Erfahrung« können also nur als das Gesamtgefüge einer Sedimentierung verstanden werden. Es geht einerseits um die apriorisch-materialen Erfahrungsgegenstände (mit all den Erfahrungen, die dem »Ich-Horizont« entsprechen) und andererseits um die Erfahrungen der Selbste als HSB (mit all den Erfahrungen, die dem »Ich-Horizont« entsprechen). Selbsterfahrung als eine Intention, die als Setzungsakt in der Verkettung der Konfigurationen von Erfahrung in der Form der ersten Person aufrechterhalten wird, zeichnet in erster Linie nicht mehr als die Sedimentierung von Akten, durch die sich ein jeder als Ego, gemäß der verschiedenen Formen der wesentlichen Korrelation, halten kann. Durch die Natur einer solche »Sedimentierung« – welche die Möglichkeit öffnet, sich in der Form der ersten Person zu erkennen – kann eine einfache, unmittelbare Selbst-Erfahrung, geteilt mit jeder Erfahrung von Gegenständlichkeit, die ihr Bestehen erneuert, nur eine »leere Auffassung«, eine »Auffassung ins Leere« sein. Die Bedeutungsintention der »Erfahrung des Selbst« (oder »innerer Erfahrung« oder »Selbsterfahrung«), als unabhängig von den tatsächlichen Erfahrungen der Gegenständlichkeit verstanden, durch welche die Selbstanerkennung als Ego stattfinden kann, ist nur eine leere Erfahrung. Durch diese leere Erfahrung erfasst man nichts anderes als eine abstrakte »Idealisierung« von Momenten tatsächlicher Anerkennung in einer solchen Form oder einer anderen Form von HSB. Die Bedeutungsintention »Selbsterfahrung« ist nichts anderes als die Idealisierung sedimentierter Erfahrung der HSB. Sie kann sich folglich nur durch tatsächliche hybride Selbst-Beziehungen erfüllen, welche die kontextuelle Erfahrung sowie die apriorisch-materiale Erfahrung der Gegenständlichkeit widerspiegeln. Der Mensch als narzisstischer Götze verschwindet, um dem Menschlichen den Platz frei zu machen. Es geht um das Menschliche in adjektivischer Form, die einzig durch die Komposition der einzelnen Bereiche (die von den Geisteswissenschaften bzw. Kognitionswissenschaften oder auch Formen der geistigen Besinnung beschrieben werden) individuiert werden kann. Diese Wissenschaften müssen kaum noch einen Begriff im metaphysischen Sinne haben, weil die Mathesis nicht danach verlangt, weil für sie keine Notwendigkeit mehr besteht, metaphysisch fortzuschreiten. 17 Es gibt eine ähnliche Analyse bei Sellars, worin es zwei verschiedene Bilder gibt: das Bild, das der Mensch von sich selbst hat, und das Bild, das die Wissenschaften geben können, unabhängig von jeder metaphysischen Hypostase. Siehe hierzu
17
637 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
b)
Mehrdeutigkeit des Weltlichen und Faserung des Realen
Die Mathesis der Geisteswissenschaften braucht nicht zusätzlich solche metaphysischen Hypostasen, weil sie sich auch mit den Naturwissenschaften, durch die Bündelung der Werkzeuge und Untersuchungsmethoden überschneidet, sodass sich manchmal die Räume des Horizonts der Erscheinung, die durch Geistes- und Sozialwissenschaften beschrieben werden, mit den Räumen der Naturwissenschaften überschneiden oder überlappen. In diesem Fall macht es absolut keinen Sinn mehr, von einer Trennung zwischen Natur- und Geistes/Sozialwissenschaften metaphysisch zu sprechen, da dies vielmehr nur noch zur Orientierung dient. In jedem Fall ist der Mangel eines Bezugs zur Ontologie für die Geistes- und Sozialwissenschaften gleich dem Mangel des ontologisch-monistischen Bezugs für die Naturwissenschaften. Es gibt keine Welt, die als höchste und vollständige Instanz der Unterscheidung beschrieben werden könnte. 18 Die Welt, wie sie durch die pseudo-philosophischen Probleme dargestellt wurde, ist ein Götze. An der Stelle der Welt befindet sich kein Universum, sondern ein Multiversum, ohne dass die Wissenschaft oder das Wissen sich ihrer Realität annähern können, sondern ganz im Gegenteil: Sie werden von einem sklerotischen Verweis auf eine ideologisch konstituierte »Welt« befreit, die paradigmatisch selektiv ist. Wenn es ein Multiversum ohne monistisch-ontologische Bedeutung gibt, gibt es dann noch einen möglichen Verweis auf die Erkenntnis der realen Phänomene? Denn nach den metaphysischen Tendenzen, die noch immer auf der Suche einer Welt als »Problem« (als Quelle einer Sinngebung) sind, wäre es ein Widerspruch, von einer Realität der Welt, die sich als an-ontologische Phänomene zeigt, zu sprechen. Wenn wir allerdings das »Reale« als den von verschiedenen Arten der wissenschaftlichen Stellungnahme beschriebenen Raum denken, können wir sie zugeben, als Terminus, der auf der einen Seite jene Dimension der Mathesis beschreibt, der aber auch »irgendetwas« An-Ontologisches bleibt. Dieser Raum des »Realen« tritt als Ergebnis der Konstruktion und mehrerer Wissensprojektionen im Erfahrungshorizont auf. In diesem Sinne tritt das Reale an die W. Sellars, Philosophy and the scientific image of man. In Science, Perception and Reality, London, 1963, S. 1–40. 18 Wir finden die Erweiterung einer solchen Dichotomie vom Standpunkt des Weltbegriffs bei B. C. van Fraassen, The Scientific Image, Oxford, 1980.
638 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
Stelle der »Welt« als philosophisches Problem, ohne dass dieses »Reale« metaphysisch-fetischistisch interpretiert wird. Was ist die Tendenz der zeitgenössischen analytischen Metaphysik, die eine Bestandsaufnahme der Welt sucht, wenn nicht die fetischistische Tendenz, auf letztlich sehr alte Weise Onta zu inventarisieren? Das Reale präsentiert sich als widerspiegelnder Begriff der Mathesis, weil sie letztendlich der Bedeutungsbegriff für die Erforschung unbekannter Gebiete der Erfahrung ist, aus der sie besteht. Das Reale ist keine Dimension, sondern eine Multi-Dimensionalität. Und so ist sie, als Multi-Dimensionalität, einer Vergegenständlichung nicht fähig, ohne dabei immer der Ursprung jedes Idealismus oder einer radikalen Skepsis zu sein. Die Mathesis gründet sich auf der Dekonstruktion der »Welt« als Götze. Die »Welt« ist nicht mehr das »Problem« oder der »Grundbegriff« einer philosophischen Untersuchung und lässt sich nicht auf diese Alternative zwischen Idealismus und Realismus reduzieren. Das Multiversum des Realen ist immer anders in Bezug auf sich selbst, weil die Multidimensionalität in der und durch die Modularität des Ansatzes der Mathesis lebt. Die Idee einer Lücke zwischen Intelligenz und dem Realen aus epistemischer Sicht ist die theoretische Symmetriebrechung, die alle Metaphysik als »letzte Antwort« unterbricht. Eine solche Idee ist keine Öffnung zur Mystik, sondern zu einer nicht sklerotischen Idee der Erkenntnis bzw. des Wissens: Diese Idee dient aber keinem Götzen und ist nicht fetischistisch, sondern dynamisch, als eine »Dynamik« des Realen verstanden. Diese Darstellung des Realen kann sich nur durch die Praxis der meta-ontologischen Modellierung nähren, gemäß der es nicht nur die Klasse der Gegenstände gibt, sondern auch Wissensstrukturen, von denen die unterschiedlichen Ontologien die Regionen des Erfahrungshorizonts zerteilen, die sich nicht auf den sklerotischen Begriff der ontologischen Einzigartigkeit der Welt reduzieren lassen. Die Welt wird also von einer Klasse der Topographien des Realen und der Strukturen, die sich in einen Topos auffassen lassen, ersetzt. Das Reale des naiven Realismus kann nur als Verweis auf etwas dienen, das durch die metatheoretische Perspektive und dann auch durch die meta-ontologische Perspektive (der Modellierung) fortschreitend zerstört (und implizit dekonstruiert) wurde. Die Fixierung dieses komplexen Realen verlangt eo ipso die □MO Modellierung und die Hybridisierung zwischen »einfachen« und »komplexen« Formen der Erfahrung im Horizont der Erschei639 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
nung. Diese Fixierung beschreibt einen alternativen Ansatz für das Reale, der ihren unabhängigen Charakter aus der Schau der Gegenständlichkeit verfestigt. Das »Weltliche« als adjektivische, mehrdeutige Form verfestigt die Abkehr vom Realen als widerspiegelnder Begriff, der konstitutiv nicht auf die Mathesis reduzierbar ist, weil sie weder einen Verweis auf einen Begriff von Gegenständlichkeit hat noch konstitutiv an jenem teilhaben könnte. Das Reale weicht immer weiter und weiter ab, noch weiter als dort, wo wir die Grenzen gesetzt hatten: Es steht in Verbindung mit dem unobjektivierbaren Horizont aller Erfahrung und es entfernt sich in jedem Fall von der Mathesis, weil es der Spiegelbegriff der Mathesis selbst, das Mittel seiner Anerkennung, ist. »Das Abweichen des Realen« ist eine spekulative, wesentlich mehrdeutige Abweichung, wenn man die Möglichkeit betrachtet, der zufolge »das Abweichen des Realen« sowohl im syntaktischen Schema des Genitivus als objectivus als auch im Schema des Genitivus als subjectivus interpretiert werden kann. Es handelt sich um einen Genitivus subjectivus in dem Sinne, dass das Reale durch sich selbst abweicht, wenn wir versuchen, die Komplexität (oder die komplexen Phänomene) und die ontologische Hybridisierung von gewissen Erscheinungen zu verstehen. Es handelt sich aber auch um einen Genitivus objectivus in dem Sinne, dass das Reale der Gegenstand der Abweichung ist; das, worauf die Abweichung stattfindet. Diese letzte Hypothese hat auf jeden Fall mehrere Lösungsmöglichkeiten vom Standpunkt des reinen Gedankens. Weichen etwa die meta-ontologischen Modellierungen gewisser komplexer Phänomene vom Realen ab, in dem Sinne, dass sie das Reale auf die Seite schieben; oder weichen sie vom Realen in dem Sinne ab, dass sie den Bereich des Realen überschreiten? Es ist in der Tat so, dass beide dieser epistemischen Hypothesen sich verwirklichen. In welchem Sinne? In einem Sinne, dass sich die Ausdehnung des Raums des Realen durch die Vergrößerung des Realen der Protothese-(G) im Verhältnis zu dem Gegenstand einer Protothese-(p) erfüllt, weil das, was diesen Gegenstand mit dem (notwendigerweise allgemeinen) Hintergrund des deiktischen Moments des radikalen Empirismus wesentlich verbindet, die ontologischen Membranen sind, auf die man in der Problematik des Gedankens des Realen trifft. Es geht zunächst einmal darum, sich über die Vermehrung (bemessen durch die pragmatische Notwendigkeit der Wissenschaften oder die interdisziplinären Forschungsnetze) der Ontologien von Gegenständen der Protothese-(p) bewusst zu werden. Es geht im Anschluss darum, die Erscheinung der 640 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
Phänomene zu verorten, welche ein □MOM als dynamische Struktur zwischen den Ontologien, die untereinander interagieren, um so eine anschauliche Wirklichkeit zu festigen, erfordern. Der Raum des Realen ist also kein linearer, drei- oder vier-dimensionaler Raum. Der Raum des Realen ist ein Raum von topoi, in deren Innern man auch seltsame topologische Strukturen findet, die durch die Interaktion von einigen Teilen des Raums der regionalen Ontologien strukturiert sind. Es handelt sich um die Spiegelung der Mathesis, durch und in der der Mensch nicht ein Bild im Gegenzug zu einer Welt findet, als wäre dieses Bild die Antwort auf seine Sinnfrage. Es geht um das Spekulativ (als Spiegelungsverhältnis) der Mathesis, als Öffnung des reinen Gedankens zu den Wissensformen: Dieses Bild ist das Spiegelbild der Identität des menschlichen Wissens als Öffnung eines Horizonts, als eine Entdeckung, als eine Beschreibung der neuen Formen der Paideia als En-kyklios-paideia. Das spekulative Denken nährt sich von der Differenz des Realen, der Abweichung all dessen, das sich als Horizont, als Widerlegung jedes objektivierend fetischistischen Anspruchs der Metaphysik manifestiert. Die Mathesis ist also Ausdruck der Freiheit jedes Denkens, jedes Unternehmens des menschlichen Wissens. Die Mathesis befreit sich von den faktischen Bedingungen, aus denen sie sich entwickelt und abgezeichnet hat, durch die sie umgeben ist, indem sie alle solche Bedingungen, als Erbschaft für die, die kommen werden, transzendiert. Nichts Aufschlussreiches, sondern lediglich eine strukturelle (und tiefgehend metaphysisch neutrale) Situation von fehlender Sättigung. Diese Situation ist direkt mit der Unmöglichkeit verbunden, eine Mathesis als Architektonik des Wissens über die Welt zu bestätigen, die schon da und auf metaphysische Weise präsent ist. Es handelt sich um den Unsinn einer metaphysischen Bestätigung par excellence; diejenige, welche die Regel jeder Abfassung einer ontologischen Bestandsaufnahme angeben will. Die Differenz aber, die sich sagen lässt, die wir nicht (be-)schreiben können, das Sich-Differieren des Realen (oder des Weltlichen), ist auf der anderen Seite sicherlich die Unmöglichkeit, das Gerüst des Realen gemäß der Kategorien des Gegenstands in Beschlag zu nehmen – das heißt, das Reale oder das Weltliche durch eine Entwicklung, die sich vom Standpunkt des Onta vollzieht, auf etwas Vergnügliches oder völlig Beherrschbares zu reduzieren. Das Reale wird nicht durch Beziehungen zu den Gegenständen charakterisiert, die dort angenommen werden und die wir (gemäß 641 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
dem Wahn unserer hypertrophischen Projektualität) erwartet hatten, zu transformieren, zu vervielfältigen, zu verkaufen, zu konsumieren, wegzuwerfen, zu zerstören, wie es uns gefällt. Hier liegt die paradoxale Natur des Realen, die aber nur für unseren (weder legitimen noch illegitimen) Trieb zur Ontologisierung paradoxal erscheint. Es geht um die Unangemessenheit zwischen der Natur (der Erscheinung) und unseren Ausdrucksformen. Aus diesem Trieb gehen auch die Tendenzen hervor, die auf die Definition des Realen als »Basis« oder einer archetypischen (und pragmatischen) Form der Gegenständlichkeit zurückgreifen. Das Paradox des Realen und des Weltlichen ist ihr nicht-ontologisches, an-ontologisches Sein. Das Reale und/oder das Weltliche sind An-ontologische, weil sie eine Öffnung ohne Struktur sind, von der wir nur die topographische Entwicklung und die multi-dimensionale Faserung des Wissens (die nicht nur das kodierte Wissen ist, sondern auch dasjenige, das sich in den Praktiken des Lebens, der Alltäglichkeit und im Horizont der Zivilisation ausdrückt) folgern können. Die Dynamik, der zufolge das Reale und/ oder das Weltliche differieren, ist ein invarianter, konstanter Bestandteil, der den (wesentlich metaphysischen) Mythos der ontologischen Differenz überschreitet. Dieses »differieren« und »sich aussondern« zeigt sich als Invarianz, genau von der Tautologie der Definition des Realen selbst (»alles, mit dem wir zu tun haben«) ausgehend, gemäß der das, was man erlebt und erfährt, in einem Ganzen zusammengefasst wird. Die Differenz des Realen, das Abweichen des Weltlichen, beginnt zumindest sich abzuzeichnen im Bewusstwerden der tautologischen Natur der Definition (das heißt ihrer »Leere«) und eben nicht ausgehend von der Aktivität der Anhäufung der Gegenstände in einem Raum, der als ontologisches Reservoir des Realen angenommen worden war. Die Differenz des Realen, das Abweichen des Weltlichen, liegt in einer transversalen, schrägen Situation, die nicht die Differenz und die Distanz – zwischen dem, was das Reale in einer Definition oder in jeder Definition präsentiert, und dem, was das Reale wirklich ist – sein kann. Die Stellung des Problems in solchen Termini verlangt nur eine Aporie, eine »Sackgasse«. Die Differenz des Realen, das Abweichen des Weltlichen, gründet sich auf der Verweisung an eine Mathesis, die keine ontologische Struktur mehr erkennt, die aber, auf der Basis der Verfestigung der Komplexität gewisser Phänomene und der Hybridisierung der Formen von »einfacher« und »komplexer« Erfahrung, die »Welt« als »Basis« eines Positivismus oder einer 642 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
groben Architektonik zerstört. Die Implosion jeder fetischistischen Idee der »Welt« zeigt sich durch die Ausdehnung der Anzahl der ontologischen Dimensionen: In diesen Dimensionen verortet sich der Raum der Protothesen und lässt sich durch diese messen. Aber an diesem Punkt gäbe es eine Metaphysik à bon marché, die sich, kraft der illusorischen Idee eines »Meta-Bildes«, im Recht fühlt, zu bestimmen, »was das Wirkliche ist«. Es geht um eine grobe Übersetzung der Theorie des Raums mit n-Dimensionen oder um die allgemeine unterschiedslose Anwendung der Theorie der Kategorien zum Realen (des Einen, des Seins etc.). 19 Solche Ansätze können wahrheitsgemäß nur als »intellektuelle Betrügereien« 20 definiert werden. Die Mathesis, die das entwickelte Idealbild der »Welt« zur Implosion bringt, die sich, in ihrer Modellierung, ihrer Erforschung, die Entstehung der Beziehungen zwischen Teilen regionaler Ontologien und zwischen regionalen Ontologien selbst entwickelt, verfestigt den reinen Gedanken der Differenz des Realen (des Abweichens des Weltlichen) gemäß dem Doppelsinn des Abweichens, den wir erwähnt haben. Das Reale und/oder das Weltliche weichen ab, differenzieren sich ganz offensichtlich, wo ihr Raum sich ausdehnt – aber weder im Sinne einer Ausdehnung des Raumes mit einer oder mehreren regionalen Ontologien noch durch die Einführung 1, 2, 3, … n anderer, regionaler Ontologien. Das Reale und/oder das Weltliche weichen in ihrer Faserung, in ihrer Beschaffenheit, die durch die Modellierung komplexer Phänomene hervorgehoben wird, ab. Das Reale und/oder das Weltliche weichen ab, weil sie immer woanders (oder immer gleichermaßen woanders) sind. Sie sind immer woanders und sie bleiben nicht gefügig im »wo«, in dem sie eine Struktur festigen, dominieren, aufnehmen wollen (um dadurch diese Natur zu festigen). Die Faserung ihrer Dimensionen, die Beschaffenheit ihrer Oberfläche, die Textur ihrer Fäden sind immer feiner als der Finger, mit dem wir sie durchdringen, erforschen und berühren wollen. Das öffnet eine ganz »andere« Dimension der Mathesis als prôtê Epistêmê«.
Vgl. z. B., A. Badiou, Logiques du monde. L’être et l’événement, II, Paris, 2006 und F. Jedrzejewsky, Ontologie des catégories, Paris, 2011. 20 Siehe hierzu A. Sokal – J. Bricmont, Fashionable Nonsense, New York, 1998. 19
643 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
c)
Das Heilige und seine Mehrdeutigkeit
Warum stets Gott? Ist diese Bedeutung zufälligerweise konstant und mehr und mehr gelähmt, der illusorische Begriff, der nicht durch ein atheistisches Vorgehen entladen ist, sondern durch die Erkenntnis selbst der Religion als solche? Ist es wirklich notwendig, dass jede religiöse Erfahrung eine Bedeutung, überdies persönlich, liebend, überreichlich in ihrer Liebe, haben muss? Man könnte auf völlig legitime und sehr profunde Weise antworten: Jenseits des Sinnlichen »sehe ich nichts oder nichts Anderes. An der Stelle des monotheistischen Götzen sehe ich nur den Wald des sinnlichen Lebens oder die Metamorphosen des Göttlichen in unseren täglichen Bemühungen, geliebt zu werden.« 21 Warum sollten wir denken, dass sich das Heilige in seinen Metamorphosen und in seinen vielgestaltigen Epiphanien auf ein unicum reduzieren muss? Welche überhebliche Idee der menschlichen Erfahrung, welche fanatische Idee des Heiligen! Dies ist nicht nur eine extrem pervertierte Eitelkeit, der zufolge man sich als Empfänger des göttlichen Wortes wähnen kann – der Stimme, die ins Ohr des Geistes von jemandem flüstert und die nicht zu Anderen, expressis verbis, spricht. Dies stellt eine seltsame Idee des Göttlichen oder von Gott dar. 22 Sie ist auch und vor allem auf eine Unkenntnis des menschlichen Wissens zu beziehen, die sich auf diese Metamorphosen und diese Epiphanien konzentriert und sie studiert, sie dechiffriert, ohne vorzugeben, eine Ordnung des Vorrangs der einen über die anderen behaupten zu können. Noch einmal ist die Wissenschaft nur normativ für dasjenige, das die Behauptungen über die Phänomenalität betrifft und nicht über die Ordnungen oder Niveaus der Würde, die man den Phänomenen zuschreiben müsste. In Vgl. J. Benoist, L’idée de phénoménologie, Paris, 2001, S. 102. Vgl. G. W. Leibniz, Brief an J. Bouvet S.J. In Der Briefwechsel mit Jesuiten in China (1689–1714), Hamburg, 2006, 426/8: »Von (persönlichen) Leidenschaften einmal abgesehen, ist diese Einschätzung nur aus der Voreingenommenheit einiger braver Leute zu erklären, die in eigensinnigem Beharren auf ihre Standpunkte und der besonderen Gnade, die Gott ihnen, wie sie nur gern glauben, gewährt hat (fast wie eine junge Dame aus Lüneburg, die bei aller Besonnenheit im übrigen die Welt von oben herab ansah, weil sie sich als die Braut Christi, der ihr zu erscheinen pflegte, wähnte) und aus Mangel an Nächstenliebe, das heißt an allumfassendem Wohlwollen, zu Antipoden jenes Celio Secondo Curione, des Verfassers von De Amplitudine Regni Coelestis geworden und bereit sind, sogar die ungetauft gestorbenen Kinder zu verdammen. Das ist bezeichnend für die seltsame Vorstellung, die sie von Gott haben mussten, wenn sie ausreichend die Folgen dessen bedachten, was sie ihm zuschreiben«.
21 22
644 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis
diesem Sinn, da sie sich auf den Erfahrungsboden projiziert und sich dort ihre Topologie projiziert, bleibt die Wissenschaft stets und notwendigerweise horizontal. Und die Religionswissenschaften sind etwas, das nicht nur einen Ansatz der phänomenalen Komplexität des »Religiösen« oder des »Heiligen« liefert, sondern sie theoretisierend herstellt. Wenn man die religiösen Phänomene »am religiösen Maßstab« 23 studieren muss, kann man verstehen, dass die grobe Voraussetzung einer Antwort auf die Frage nach Gott nicht nur ungewöhnlich erscheint, sondern eine tiefe Unwissenheit vermittelt oder ausdrückt. Die religiösen Phänomene, so wie sie im Inneren eines deskriptiven Vorgangs eingeschrieben sind, so wie sie in ihrem Topos erscheinen, entziehen sich der Reduktion zu einer Vorrangsordnung einer Hierophanie über andere ebenso wie den Voraussetzungen eines Vorranges von gewissen Phänomenen über andere. Das kommt damit gleich, zu sagen, dass das »Religiöse« oder das »Heilige« als Erscheinungsgegenstände keine fixe Stellung in dem Erfahrungsboden haben, in welchem diese ein für alle mal gefunden und kategorisiert werden können: »Es gibt keine ›reinen‹ religiösen Phänomene«, das heißt, dass »es keine allein und ausschließlich religiösen Phänomene gibt«: »Die Religion ist eine menschliche Sache, und eine soziale Sache, eine linguistische Sache, eine ökonomische Sache – denn man begreift den Menschen außerhalb der Sprache und aus dem kollektiven Leben.« Das ist es, was Eliade als »eine polymorphe Masse und manchmal chaotisch von Gesten, von Überzeugungen und von Theorien, die dasjenige konstituieren, das man religiöse Phänomene nennt« 24, bezeichnet. Hier artikuliert sich das Heilige in den »Sakralitäten«, den ontologisch verschiedenen und heterogenen »heiligen Fakten« (Riten, Mythen, göttliche Formen, heilige und verehrte Objekte, Symbole, Kosmologien, Theologoumena, gesegnete Menschen, Tiere, Pflanzen, heilige Orte). Dieses Heilige findet im Inneren der Mathesis nicht nur seinen Ort, seinen Topos, sondern auch seine Anerkennung. Die Komplexität der heiligen Phänomene, der Formen der Hierophanie eben als Formen der Hierophanie, der Erfahrung, kann nur im Inneren des Topos anerkannt sein, der nicht die Hierophanie in der Konkretheit des Gegenstands (oder des Nicht-Gegenstands) 25 »Gott« 23 24 25
Vgl. M. Eliade, Traité d’histoire des religions, Paris, 2004, S. 11. Ebd. S. 12. Wir beziehen uns dadurch auf den Versuch, die negative, dionysische Theologie zu
645 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
auflöst, sondern sie in all ihren Transformationen, Metamorphosen, meta-ontologischen Übergängen erscheinen lässt. Die Einschreibung der Hierophanie im Inneren ihres angepassten Topos, der nicht der heilige Raum, verstanden als Ort, ist, sondern das durch die □MO Modellierung der Phänomene beschriebene Universum, lässt die Dialektik zwischen Heiligem und Profanem auffassen und die fast eingefleischte Unterscheidung überschreiten, der zufolge es primitive Hierophanien (also »barbarische«) und kapitale Formen des Mysteriums, wie die Inkarnation, gäbe. Die Hierophanie ist Anzeichen eines Systems, und dieses System zieht das Reale, seine Faserung, seine kontinuierliche Morphogenese mit sich, ohne die man ein für alle Mal sagen kann, wo sich der Raum einer Hierophanie befindet und welche Hierophanie authentisch und nicht authentisch ist. Jenseits dieser Botschaft der profunden Toleranz, die durch diese Idee inspiriert ist, muss man auch das Wesentliche erforschen. Das Heilige ist nicht als ein Stadium der Geschichte des Bewusstseins oder der Menschheit denkbar; es ist nicht irgendwo (zum Beispiel in Jerusalem) eher instanziiert als anderswo, in einem Moment der Menschheitsgeschichte eher als in einem anderen. In diesem Sinn eröffnet die ontologische Aufhebung des Heiligen (als vier-dimensional identifizierbar) das intime Bewusstsein desjenigen, das wir vom Standpunkt des Existentialen betrachten haben. Das Heilige im Existentialen (sowohl als singuläre als auch gemeinsame, kollektive Erfahrung verstanden) ist: »[e]in Element in der Struktur dieses Bewusstseins« 26. Es ist dieses Element, das wesentlich und klarerweise die Unruhe der Individuen angesichts der Abwesenheit (bzw. des Mangels) des Sinns katalysiert und Antworten liefert, obzwar diese Antworten niemals so sind, dass sie die Öffnung sättigen können, die jedermann selbst ist. Aber wichtig ist nicht, diese Antworten zu beurteilen. Das Wichtige ist, zu verstehen, wie sie sich in die multiversale Erscheinung des Realen einschreiben.
benutzen, vor allem nach dem Ende der Onto-theo-logie, um denselben Gott zu behaupten. 26 Vgl. M. Eliade, L’épreuve du labyrinthe, Paris, 2006, S. 176: »Das Heilige ist nicht ein Stadium in der Geschichte des Bewusstseins, es ist ein Element in der Struktur dieses Bewusstseins«.
646 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 130. Die Formen der Mathesis
§ 130. Die Formen der Mathesis Das lebendige Denken, das sich immer im Spekulativen vollzieht, handelt hier in und durch den skandierten Rhythmus der Konstruktion und Dekonstruktion, als ob sie physiologische Momente wären, die Systole und Diastole, das Einatmen und Ausatmen des Denkens. In diesem Sinn artikuliert sich das Spekulativ der Mathesis oder besser gesagt, das Spekulativ, das eine nicht-metaphysische Mathesis in sich selbst ist, »natürlich« zwischen einer kritischen Arbeit und der Arbeit zu dieser Enkyklios-paideia, im radikalsten Sinne seiner konstitutiven Horizonthaftigkeit 27 und der Irreduzibilität der Schau verstanden. 28 Dieser Rhythmus, der aus der Physis hervorgeht – derselben Physis, die sich in den Topoi (als nicht manipulierbare Objekte) zeigt – ist der Rhythmus des Denkens selbst, das sich nur im Horizont des Sinns und des Realen erstrecken kann und dort bleibt, ohne dadurch dem Sirenen-Gesang einer höheren Erkenntnis als einer inneren Wahrheit nachzugehen. In diesem Sinn repräsentiert das Spiegelungsverhältnis zwischen dem Existentialen und dem Epistemischen, das in der Mathesis und in ihren Topoi seine Verwirklichung findet, ipso facto die Aufhebung sowohl der Hypothese einer höheren Erkenntnis (metaphysisch oder enthüllt oder geschützt im göttlichen Verstand) als auch der Hypothese einer inneren Wahrheit. Was sind (oder sind immer gewesen) die fundamentalen Typen des Irrationalismus, wenn nicht die Zulassung einer höheren Erkenntnis und die Entdeckung des Reichtums einer eigenen, inneren Wahrheit? Dennoch repräsentieren die Festsetzung des Ich-Horizonts einerseits und die metatheoretische Dimension andererseits, als Termini, zwischen welchen sich dieses Spekulativ artikuliert, eo ipso die Unmöglichkeit dieser beiden Hypostasen. Einerseits bewirkt der Ich-Horizont als Öffnung der Erfahrung, aufgefasst als Lebenswelt, nur eine Veräußerung jegliches (metaphysischen) Inneren, indem er zeigt, dass die Amphibolie nur eine Illusion ist. Andererseits Vgl. W. Jaeger, Paideia, cit., S. 11: »Die Theoria der griechischen Philosophie ist dem künstlerischen Bilden und Dichten der Griechen urverwandt. Sie enthält nicht nur das rationale Element, an das wir dabei in erster Linie denken, sondern wie der sprachliche Ursprung des Wortes sagt, ein Element des Schauens, das den Gegenstand immer als Ganzes, in seiner Idea, das heißt als geschaute Gestalt erfaßt«. 28 Vgl. E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie, cit., Hua. 2, S. 38: »Das Schauen läßt sich nicht demonstrieren oder deduzieren.« 27
647 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
bewirkt die metatheoretische Dimension, die kein »höher« im Sinne einer qualitativ höheren und übergeordneten Form des □MG zulässt, nur die Horizontalisierung jedes (metaphysischen) Höheren, indem sie es eben auf die Form zurückbringt, die jedem Wissen eigen ist – diejenige, eine Erkenntnis unter anderen zu sein. Wenn also die beiden Elemente des Spekulativs (durch welche sich die Idee der Mathesis verwirklicht) die klassischen Hypothesen des Irrationalismus aufheben, dann überwindet diese Mathesis selbst in ihrer spekulativen, lebendigen Natur (und durch ihre Formen, die eine solche Spiegelhaftigkeit verwirklichen) das Desinteresse am Realen und vor allem an einer einheitlichen Sicht über das Reale (die durch jeden Irrationalismus geübt wird). Das Verschwinden dieser Nachfrage einer einheitlichen Schau (und nicht einer faktischen Vereinheitlichung) bringt notwendigerweise die entsprechende Verbindung des Vermittlungselementes zwischen den Erkenntnissen und den Emanzipationsinstanzen der Menschen mit sich. Die Menschen, welche um jeden Blick zum Horizont beraubt sind, haben auch kein klares Bewusstsein mehr von dem, was man machen muss, um die Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das gilt umso mehr in einer komplexen Welt, in der keine detaillierte Wissensform und keine Summe von Erkenntnissen Verständlichkeit liefern kann. Die Verständlichkeit des Realen (das sich als Multiversum dargestellt hat) wird nämlich nicht durch ein aufgesplittertes und dann wieder als Struktur zusammengesetztes Wissen geliefert. Der Fordismus des Wissens ist nur der Reflex oder das theoretische Erbe des Fordismus der industriellen Arbeit, 29 welches die Wissenschaftler mit sich führen. Die Menschheit, die sich von dieser Epistêmê nähren müsste, um ihre Instanzen der Gerechtigkeit zu erheben, leidet unter derselben Form der Abgestumpftheit. So wie der Arbeiter konstitutiv gehindert wurde, zu einer globalen Schau, zu einer Synopsis des einheitlichen Prozesses und des Reichtums, den er mit erschuf (und der auf diese Weise nicht wieder verteilt werden konnte), zu kommen, ist ein Arbeiter des fordistischen Wissens blind gegenüber jeder synoptischen Schau desjenigen, das die universale Bewegung des Wissens sein kann und schließlich sein muss. Aber wenn in den Machtverhältnissen der industriellen Produktion und der Arbeitsteilung jemand gewesen wäre, der daran Gewinn gemacht hätte (zumindest in einer 29 Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, cit, [293] S. 302 [Philosophie der Rede und Unbehagen an der Kultur].
648 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 130. Die Formen der Mathesis
kurzen Zeit), gewinnt im Feld des Wissens zuletzt niemand. Niemand kann Profit daraus ziehen, die ganze Menschheit verliert. Die □MO Topoi des Wissens repräsentieren, als Formen der Mathesis, die Verbindungsformen und die Verbindungsdeklinationen, welche die universale Bewegung des Wissens und die menschliche Dimension zusammenhalten. Und die Einführung dieser Spiegelhaftigkeit lässt die anti-metaphysischen Instanzen des Denkens hervortreten. Die Götzen der Metaphysik, die diese Spiegelhaftigkeit verbergen, sind nur grobe ontologische Hypostasen einer Grundvoraussetzung, der zufolge es ein stabiles Reales gibt, und daher stabile, stabilisierbare und anästhetisierbare Situationen im Realen und der Erschließung zu den vielförmigen Metamorphosen des Realen. Letztendlich sind die relativistische Hermeneutik und die Metaphysik der fixen Strukturen nur zwei Aspekte derselben Denkstimmung. Einer solchen Denkstimmung nach kann das Wissen nicht die menschliche Situation ändern und vor allem nicht die Weise ändern, durch welche die Menschen dieses Multiversum bewohnen und mit unendlichen und unendlich reichen, anderen Erscheinungsformen des Lebens mitbewohnen. Schließlich ist diese Konvergenz nicht so erstaunlich. Denn sowohl eine Metaphysik, spekulativ in einem einzigen Sinn des Spekulativs (derjenige des Blicks von oben, des view from nowhere bzw. prospicere de specula) als auch eine Hermeneutik, spekulativ im anderen Sinn (derjenige der reflexiven Erforschung eines Bildes im Austausch für das entfremdete Individuum, videre per speculum) können niemals diese Form des Spekulativs verwirklichen. Dieses Spekulativ beruht zuvor und verleiht der Mathesis nichts, das außerhalb der intimen Bestimmung der menschlichen Vernunft liegt und die universale Bewegung des Wissens überschreitet. Die □MO Topoi sind ebendie visuelle Festsetzung dieser Bewegung in der Dimension, welche die seinige ist, diejenige der Reibung, der Dynamik, der fortbestehenden Dialektik zwischen dem Horizont und der Erfahrung, dem Existentialen und der Dimension des Wissens, dem Epistemischen. Die »plurale Form«, welche die □MO Topoi charakterisiert, ist das, was die Idee einer dynamischen Totalität liefert, eben weil sie aus einer Verschmelzung ihrer Teile in kontinuierlicher Bewegung hervortritt. Diese Teile sind eo ipso ihre spekulativen Komponenten, nämlich die □MG und die Portionen des Erfahrungshorizonts, den sie individuieren und auf welchem sie eine Topographie/Topologie liefern, ihre eigentlichen Elemente, nämlich die 649 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
□MOM, die in diesen Topoi als geometrische Universi konvergieren und dort in ihrer eigentlichen Beziehung bestehen. Es wäre in der Tat zu einfach, zu behaupten, dass die partikulären Erkenntnisse eine Integration erfordern, ohne dadurch zu fragen, woher diese Integration kommen kann und in welcher Form man darauf antworten kann. Wenn sich diese Integration durch axiomatische, leere Systeme oder durch eine Bestandsaufnahme der beschriebenen Erkenntnisgegenstände vollzieht, dann wäre dies, wie den Durst eines Durstigen mit Salzwasser löschen zu wollen. Wenn das Leben des Wissens ein einheitliches Leben ist, dann bedeutet die Zersplitterung der Erkenntnisse, um ihre Errungenschaften zu berechnen, gleichsam die Zerstörung seiner Bewegung, die seine Wichtigkeit für die Menschheit ausmacht. Die Erkenntnis beschreibt nicht Objekte. Das ist, was diejenigen denken, die nichts mit dem Wissen zu tun haben, oder, umso schlimmer, die Philosophen, die von diesem Leben die höchste und erhabenste Fixierung geben sollten. Das Innenleben der Epistêmê zu berühren, um dadurch eine Form zu isolieren, oder den Erfahrungsboden zu berühren, um dadurch aufzufassen, welche definierte Form ihm eine Wissensform gibt, ist grobschlächtig und das Symptom der verhängnisvollsten Unwissenheit – diejenige Unwissenheit, die in Gelehrtheit verhüllt ist. Die zwei Dimensionen halten sich in einer Spiegelungsdynamik und es ist daher in der Spiegelungsdynamik, dass man diese einheitliche Schau suchen muss, die nicht systematisch, sondern synoptisch ist.
§ 131. Die Form der Mathesis Jenseits dieses Horizonts der Mathesis, der sich in diesen Topoi artikuliert, wird es keine »Form« der Mathesis geben im Sinne eines Codes, eines Corpus: Die Mathesis ist keine teleologische Vollbringung des menschlichen Denkens. In diesem Sinn ist die Form der Mathesis also nur die Öffnung des Spekulativs selbst, das als Spiegelungsdynamik und zugleich als Anzeichen eines gemeinsamen Projekts, ihre Formen aus Sicht einer neuen Form von Paideia zu erkunden und zu beschreiben, besteht. Die Form der Mathesis weist also nicht auf »etwas« im Sinne einer Gestalt, die einem »Auffassbaren« eine Physiognomie verleiht, sondern auf die Form selbst der Stimmung und des Öffnungszustandes, der aus dem Unsinn (non-sense) der sogenannten Grundfragen 650 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 131. Die Form der Mathesis
hervortritt. Wenn die (alten) Griechen dazu gelangten, eine prôtê Epistêmê als eine erste Form einer Mathesis und als Vehikel der menschlichen Spannung zum Wissen zu denken, ist es nicht »trotz« dieser Tatsache, dass sie die fundamentalen Fragen in einem Öffnungszustand ließen. Im Gegenteil: Es ist auf der Grundlage dieses »Offenlassens«, das heißt auf der Grundlage des intimen Bewusstseins der Unmöglichkeit einer letzten Antwort auf die Sinnfrage, dass sie zu den Anfängen der Mathesis gelangten. Es ist im Sinne der Erkundung und der stets gesuchten Erweiterung des Schauens als Theôrein, dass das griechische Denken immer der terminus a quo und der terminus ad quem, das erhabene Beispiel eines spekulativen Denkens bleibt. Das Spekulativ, das sich hier als intime Struktur der Mathesis manifestierte, »lässt« nicht nur die Grundfragen »offen«, sondern öffnet sich, verbreitet sich ausgehend von ihrem Unsinn und der Hervorhebung dieser Unsinnsformen. Von hier aus öffnen sich die Dimensionen und artikulieren sich die Dimensionen des Spekulativs selbst. Die spekulative Situation, durch die Zweideutigkeit der Frage »Was/wer bin ich?« eröffnet, indem sie die konstitutive Äußerlichkeit jeder Erfahrung (des Sich) festsetzt, setzt auch die konstante und unüberschreitbare Bewegung der Veräußerlichung desjenigen fest, das man für Formen der inneren Wahrheit halten könnte. Die metatheoretische, offene und sich artikulierende Dimension aus der Undeutlichkeit der Frage »Was ist die Philosophie?«, indem sie die konstitutive Äußerlichkeit jeder Erfahrung (des Sich) festsetzt, setzt auch die konstante und unüberschreitbare Bewegung der Horizontalisierung desjenigen fest, das man für die höheren Erkenntnisformen halten könnte. Von der Stiftung oder der Öffnung dieser zwei Dimensionen (des Existentialen und des Epistemischen), die durch die Voraussetzung einer ultimativen Antwort verborgen waren, beginnt dieses Spekulativ, sich zu definieren. Es definiert sich zunächst als metaontologischer Horizont, ausgehend vom Unsinn oder von der Undeutlichkeit der Frage, die man für das lebende Herz einer ersten Philosophie hielt: »τί τὸ ὄν;« In der unüberschreitbaren Relativität der Ontologien, durch die Zweideutigkeit der Frage »Was ist real/das Reale?«, gelangt man dazu, das Spekulativ als Spiegelungsdimension aufzufassen. Auf dem Niveau der □MO Modellierung und der kategorialen Korrespondenzen zwischen diesen n-dimensionalen □MOM (und ihren Modifikationen) gelangt man dazu, das Spekulativ als Aufgabe des Denkens 651 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
und zugleich als Projekt einer Mathesis aufzufassen. Man gewinnt hier die problematische, fundamentale Dimension zurück, die sich in der letzten Phase der abendländischen Philosophie instaurierte. Diese Dimension besteht zwischen dem Willen, die Aufgabe des Denkens neu aufzufassen, 30 und der Notwendigkeit, eine Mathesis universalis für die Menschheit zu konstruieren. Nach und jenseits der Degradierung der Philosophie im Technizismus geht es um eine Mathesis, welche die Spekularität zwischen Existentialem und Epistemischem auffassen kann. Diese beiden philosophischen Instanzen zeigen den fundamentalen Wert einer solchen problematischen Dimension. Denn die problematischen Dimensionen lassen sich nicht ins Innere der Schulen zurückbringen und lassen sich nicht in dem kodierten Stil einer Tradition auffassen. Diese problematischen Dimensionen bewohnen uns, beschreiben unsere Art, das Reale zu bewohnen und unsere Fähigkeit zu wissen, wie wir hier bewohnen können. So ist die problematische und wesentlich spekulative Dimension der Beziehung zwischen der Aufgabe des Denkens und der Mathesis verborgen geblieben, und dies aufgrund der Unfähigkeit seitens des Denkens, dialektisch mit der radikalen, aufstrebenden Änderung des Wissens zu interagieren. Entweder hat man sich für eine technizistische Philosophie (als ob hier die Lösung wäre, eine oberflächliche Strenge zu der schwierigen Idee der Mathesis zu ersetzen) oder für ein prophetisches oder pseudo-prophetisches Denken (als ob eine solche Entscheidung die Öffnung eines Denkens nach der Philosophie zeigen könnte) entschieden. Die Antworten auf die Grundfragen (wenn diese Fragen, als fundamentale verstanden, schon voraussetzen, dass eine Antwort auf jeden Fall möglich sei) stellen nämlich nicht eine »Transformation des Denkens« dar. Sie zeigen vielmehr, durch ihren Unsinn, die Möglichkeit der Artikulation des Problematischen des Denkens selbst jenseits des Mythos einer letzten Wahrheit. Diese Voraussetzung einer letzten Wahrheit zieht entweder das metaphysische Derivat eines Denkens oder das Prophetische mit sich, demzufolge die Antwort nur jenseits der Rationalität liegt, eine Rationalität, die auf dem »Relativ« voranschreitet, ohne wirklich zu denken. Das irrational Prophetische ganz als das Hyper-Rationale einer prozeduralen Fachlichkeit ist nicht das, was dem Denken erlaubt, seine Transformation zu finden.
30
Vgl. M. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, cit.
652 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
§ 131. Die Form der Mathesis
Die Horizontalität der Erscheinung in ihrem Ausmaß, ihrer Irreduzibilität auf das Beweisbare, zeigt als Lösung, als Transformationswege, weder die Ablehnung des Beweisens selbst noch die hysterische Beschleunigung eines myopischen Beweisens. Die Transformation des Denkens lässt sich übrigens in dem Spekulativ erahnen, das sich nicht auf eine über-mächtige Dialektik des Geistes reduzieren lässt, die weder eine Versöhnung jeder Reibung zwischen dem Wissen und dem Realen leistet noch die Zulassung einer Mannigfaltigkeit von Anschauungen, von denen man lediglich lokale Beschreibungen erreichen sollte (weil endlich das, was alles zusammenhält, die Subjektivität ist). Das Spekulativ ist dasjenige, das aus der Spiegelung zwischen dem Existentialen und dem Epistemischen entsteht, indem es ein unüberschreitbares und konstitutives Spiegelungsverhältnis entwickelt, ohne aber eine Versöhnung zu leisten. Die Methode der Beschreibung oder eine neue Beschreibungsform muss man innerhalb dieses Spekulativs suchen. Das Denken transformiert und erneuert sich nicht in der Beschreibung des Realen, so wie es sich zeigt, oder in der Vorschreibung einer Einheit zum Existential und zum Epistemischen, die in kontinuierlicher Reibung und Spiegelung sind. Das Denken transformiert sich, wenn es anfängt, in dieser Dimension zu wohnen, die aus der In-Spiegel-Setzung des Existentialen (das derartige Reale, das sich in seinem irreduziblen und entfremdeten Ausmaß manifestiert) und des Epistemischen (das Metatheoretische in seinem eigentlichen Leben) resultiert. Nur darin kann es die Konfigurationen dieser Spiegelung beschreiben. Aus diesem Grunde musste eine Mathesis, die statisch auf der Basis des Abbildes der Mannigfaltigkeitslehre gedacht war, 31 von der Lebenswelt getrennt bleiben oder keine völlige Auffassung ihrer Beziehung erreichen. Die Lösung des problematischen Verhältnisses zwischen Mathesis universalis und Lebenswelt könnte nur eine Reduktion sein: der einen auf die andere oder beider auf den Pol der Subjektivität bzw. der Objektivität. Es ist dagegen das Spekulativ, das diese Kopräsenz als Dimensionalität, als Ort des Spiegelns verwirklicht. Die Aufgabe des Denkens ist, die horizontale Form dieser Mathesis zu erkunden und im Inneren dieser Form zu versuchen, eine neue Form von Enkyklios-paideia zu konstruieren … für die Zukünftigen: 31 Vgl. E. Husserl, Prolegomena zur reinen Logik, cit., Hua. 18, § 69, S. 248, § 70, S. 250.
653 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Kapitel XIII Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
»Au midi de la pensée, le révolté refuse ainsi la divinité pour partager les lutes et le destin communs. Nous choisirons Ithaque, la terre fidèle, la pensée audacieuse et frugale, l’action lucide, la générosité de l’homme qui sait. Dans la lumière, le monde reste notre premier et notre dernier amour. Nos frères respirent sous le même ciel que nous, la justice est vivante.« 32
Vgl. A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek, S. 392: »Auf der Mittagshöhe des Denkens lehnt der Revoltierende so die Göttlichkeit ab, um die gemeinsamen Kämpfe und das gemeinsame Schicksal zu teilen. Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt.«
32
654 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis
Acquist, L., A new Approach to the Logical Theory of Interrogatives, Tübingen, 1975. Adler, M. J., The Four Dimensions of Philosophy, London, 1993. Albert, H., Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, 1968. Albertazzi, L., Formal and Material Ontology. In Poli, R. – Simons, P., (Eds.), Formal Ontology, S. 199–232. Albertini S.J., F., Corollaria seu Quaestiones theologicae de Trinitate, Incarnatione Verbi et de Eucharistia, Lyon, 1616. Alighieri, D., Convivio, Milano, 1983. – Die göttliche Komödie, Berlin, 1922. Arendt, H., The human condition, Chicago, 1998 (II Ed.). Aristoteles, Protreptikos oder Einfuhrung zur Philosophie, Darmstadt, 2005. Aristotelis Opera, edidit Academia Regia Borussica, Berlin, 1831–1870. Armstrong, D. M., Truth and Truthmaking, Cambridge, 2004. – A World of States of Affairs, Cambridge, 1997. Asperti, A. – Longo, G., Categories, Types and Structures, Cambridge (MA), 1991. Aubenque, P., Le problème de l’être chez Aristote, Paris, 1962. – Une occasion manquée: la genèse avortée de la distinction entre l’»étant« et le »quelque chose«. In Aubenque, P., – Narcy, M., (Eds.) Études sur le Sophiste de Platon, Napoli, 1991, S. 367–385. Augustinus Hipponiensis, Confessiones, in Migne, Patrologia Latina, Bd. 32, Col. 0657–0868. – De trinitate libri quindecim, in Migne, Patrologia Latina, Bd. 42, Col. 0819– 1098. Badiou, A., Logiques du monde. L’être et l’événement, II, Paris, 2006. Balzer, W. – Moulines, U. (Eds.), Structuralist Theory of Science, Berlin – New York, 1996. Barbaras, R., Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris, 2008. Beckett, S., Endgame. London, 1964. Benoist, J., »Le mythe du donné« et les avatars du kantisme analytique, Révue de Métaphysique et de morale, 2004/4: 511–529. – Critique du donné, Archives de philosophie, 73/1, 2010: 9–27. – Entre acte et sens. La théorie phénoménologique de la signification, Paris, 2002. – L’idée de phénoménologie, Paris, 2001.
655 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis – Meinong et les niveaux de l’objectivité, Skepsis, 2004: 116–126. – Voir-comme quoi? In Chauviré, C., – Laugier, S., (Ed.), Lire les Recherches philosophiques de Wittgenstein, Paris, 2006, S. 247–248. Bertalanffy, L. von, General System Theory. Foundations, Developments, Applications, New York, 1969. – Allgemeine Systemtheorie. Wege zu einer Mathesis universalis. In: Deutsche Universitätszeitung 5/6 1957, S. 8–12. Bianchi, C. – Bottani, A., Introduzione: metafisica, ontologia e significato. In Bianchi, C. – Bottani, A., (Ed.), Significato e ontologia, Milano, 2003, S. 7–23. Blasche, S., Selbstaffektion und Schematismus. Kants transzendentale Deduktion als Lösung eines apriorischen Universalienproblems. In Rohs, P., Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, Frankfurt a. M., 1998, S. 91–113. Bollinger, D., Yes-No Questions Are not Alternative Questions. In H. Hiz (Ed.), Questions, Dordrecht -Boston – London, 1978. Bouveresse, J., Le mythe de l’interiorité. Expérience, signification et langage privé chez Wittgenstein, Paris, 1976. Braun, D., Empty Names, Fictional Names, Mythical Names, Noûs, 39, 2005: 596–631. Budaeus, G., Annotationes in XXIV pandectarum libros, Paris, 1508. Bühler, K., Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart, 1934. Cameron, R., Truth-makers and Ontological Commitment, Philosophical Studies, 140, 2008: 1–18. Camus, A., Der Mythos des Sisyphos, Berlin, 2004. Carnap, R., Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Hamburg, 2004. Casari, E., On the relationship between Parts and Wholes in Husserl’s Phenomenology, in Rediscovering Phenomenology, Springer, 2007, S. 67–102. Casati, R., – Varzi, A., Holes and other Superficialities, Cambridge (MA), 1994. Cassirer, E., Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg, 1996. Castañeda, H.-N., Fiction and Reality. Their Fundamental Connections, Poetics, 8 : 31–62. – Thinking and the Structure of the World, Philosophia, 4, 1974: 3–40. Chalmers, D., Ontological Anti-realism. In D. Chalmers – D. Manley – R. Wasserman (Eds.), Metametaphysics, New Essays on Foundations of Ontology, Oxford, 2009, S. 77–129. Chomsky, N., Cartesian Linguistics: a Chapter in the History of rational Thought, New York, 1966. Clauberg, J., Elementa Philosophiae sive Ontosophia, Gröningen, 1647. Cohen, F. S., What is a question, The Monist, 39, 1929: 350–364. Courtine, J.-F., Inventio Analogiae. Métaphysique et ontothéologie, Paris, Vrin, 2005. Cresswell, M. J., The Logic of Interrogatives. In Crossley, J. – Dummett, M. (Eds.), Formal Systems and Recursive Functions, Amsterdam 1965, S. 8–11.
656 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis De Buzon, F., Mathesis universalis. In Blay M. – Halleux R. (Ed.), La science classique (XVI-XVIII siècle): dictionnaire critique, Paris, Flammarion, 1998, S. 610–621. Dennett, D., Consciousness explained, Boston, 1991. Derrida, J., De l’esprit. Heidegger et la question, Paris, 1987. – Sur parole, instantanées philosophiques, La Tour d’Aigue, 2003. Descartes, R., Oeuvres Complètes, Paris, 1996, 11 B.de. – La Recherche de la vérité par la lumière naturelle, Würzburg, 1989. Diels, H. – Kranz, W., Fragmente der Vorsokratiker, Berlin, 1956. Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart, 2010. Dodd, J., Farewell to States of Affairs, Australasian Journal of Philosophy, 57, 1999: 146–160. Dyson, F., What Can You Really Know?, Review of J. Holt, Why Does the World Exists?: An Existential Detective Story, The New York Review of Books, 8, 2012. Eco, U., Kand und das Schnabeltier, München, 2000. Eklund, M., Carnap and Ontological Pluralism. In Metametaphysics, S. 131– 156. Eliade, M., L’épreuve du labyrinthe, Paris, 2006. – Traité d’histoire des religions, Paris, 2004. Elienberg, S., – MacLane, S., General Theory of Natural Equivalences, Transaction of American Mathematical Society, 58/2, 1945: 231–295. Evans, G., The Varieties of Reference, Oxford, 1982. Fancher, H. – Peoples, D., Blade Runner, Movie Script, 1982. Fine, K., The Problem of non-Existents I. Internalism, Topoi, 1, 1982: 97–140. Fodor, J., The modularity of Mind, Cambridge (MA), 1987. Foucault, M., Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M., 1973. – Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 3. Aufl., Frankfurt a. M., 1966. – Entretien avec André Berten, 7 Mai 1981, Louvain, http://www.youtube.com/ watch?v=132QZ_C3ovs – Entretien avec Pierre Dumayet, A propos du livre »Les mots et les choses«, Juni 1966, http://www.youtube.com/results?search_query=foucault+pierre +dumayet&sm=1 – Entretien sur l’Archéologie du savoir, 2. Mai 1969, http://www.youtube.com/ watch?v=vz2YWmyyijI Foucault, M., Schriften in vier Bänden, Frankfurt, 2001. Fraisopi F., La complexité et les phénomènes. Nouvelles ouvertures entre science et philosophie, Paris, 2012. French, St., The Structure of the World. Metaphysics and Representation, Oxford, 2014. Freud, S., Das Unbehagen in der Kultur, 1930. In Gesammelte Werke und Schriften, 14, London, 1991. Gabriel, M., Fields of sense. A New Realist Ontology, Edinburg, 2015. – The Meanings of »Existence« and the Contingency of Sense, Speculations: A Journal of speculative Realism, 4, 2013: 74–83.
657 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 1999. Galilei, G., Il Saggiatore, Torino, 1977. Gauss, C. F., Werke, Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1863–1933, 12 B.de. Geldsetzer, L., Metaphilosophie als Metaphysik. Zur Hermeneutik der Bestimmung der Philosophie, Journal for General Philosophy of Science, 5/2, 1974: 247–255. Gire, P., Maître Eckart et la Métaphysique de l’Exode, Paris, 2006. Goethe, J. W., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, München, 1989. Hacker, P. M. S., Events, Ontology and Grammar, Philosophy, 57, 1982: 477– 486. Hamblin, C. L., Question. In P. Edwards (Ed.), The Encyclopedia of Philosophy, New York, 1967, S. 39–53. Harrah, D., A logic of question and Answers, Philosophy of Science, 28, 1961: 40–46. Harris, Z., The Interrogative in a Syntactic Framework. In Hiz, H. (Ed.), Questions, Dordrecht – Boston -London, 1978. S. 1–35. Hawking, St., The Grand Design, New York, 2010. Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg, 1991 – Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg, 1955. – Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1987. – Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986. – Wissenschaft der Logik, Hamburg, 1963. Heidegger, M., Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. Heidemann, D. H., Innere und äußere Sinn. Kants Konstitutionstheorie empirischen Selbstbewußtsein. In V. Gerhardt – R.-P. Horstmann – R. Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung, Berlin, 2001, S. 305–313. Held, K., Lebendige Gegenwart, Den Haag, 1966. Henry, M., Généalogie de la psychanalyse, Paris, 1985 – Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris, 2000. – L’essence de la manifestation, Paris, 1963. – Phénoménologie de la vie, I, Paris, 2004, 77–104. – Phénoménologie matérielle, Paris, 1990. Herbart, J. F., Hauptpunkte der Metaphysik. In Sämtliche Werke, Frankfurt a. M., 1964. Hermann, W. v., Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von »Sein und Zeit«, Bd. 1, Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, Frankfurt a. M., 1987. Hintikka, J., Answers to Questions. In Hiz, H. (Ed.), Questions, Dordrecht – Boston – London, 1978, S. 279–299. – Inquiry as Inquiry: A Logic of Scientific Discovery, Dordrecht, 1999. – On the logic of an interrogative model of scientific inquiry, Synthese, 47, 1981: 69–83. – The varieties of Being in Aristotle. In The logic of Being, Dordrecht, 1986, S. 81–114.
658 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis Hiz, H. (Ed.), Questions, Dordrecht – Boston – London, 1978. Honnefelder, L., Art. Sittlichkeit/Ethos. In: Düwell, M., Hübenthal, C., Werner, M. H. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart – Weimar 2002, 491–496. Hooker, C., Introduction to Philosophy of Complex Systems. In Hooker, C. (Ed.), Philosophy of Complex Systems, North-Holland, 2011. Husserl, E., Gesammelte Werke, 40 B.de. (Hua.), Springer. – Umsturz der Kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht. Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Körperlichkeit, der Räumlichkeit der Natur im ersten naturwissenschaftlichen Sinne. Alles notwendige Anfangsuntersuchungen, Husserl Archives Leuven, Ms. D 17. – Erfahrung und Urteil, Prag, 1939. Ingarden, R., Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle, 1931. Jacquette, D., On defoliating Meinong’s Jungle, Axiomathes, 1–2, 1996: 17–42. Jaeger, W., Paideia. Die Formung des Griechischen Menschen, Berlin, 1934. James, W., Essays in Radical Empiricism, Cambridge (MA), 1976. Jedrzejewsky, F., Ontologie des catégories, Paris, 2011. Johansson, I., On the Transitivity of Parthood Relations. In Hochberg, H. – Mulligan, K. (Eds.), Relations and Predicates, Frankfurt a. M., 2004, S. 161–181. Johnston, M., Constitution Is Not Identity, Mind, 1992 : 89–105. Kahn, Ch. H., Essays on Being, Oxford, 2012. – Linguistic Relativism and the Greek Project of Ontology. In Sprung, G. M. (Ed.) The question of Being, Pennsylvania, 1977, S. 31–44; Kant, I., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin – Leipzig, 1900 f., 29 B.de. – Lose Blatt Leningrad I. In Brandt, R. – Stark, W., (Hg.), Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg, 1987, S. 1–30. Kaplan, D., Demonstratives. In Almog, J., – Perry, J., – Wettstein, H., (Eds.), Themes from Kaplan, Oxford, 1989, S. 481–563. Kaushik, S. – Farkas, S. – Wijsekera, D., – Amman, P., An Algebra for Composing Ontologies, http://cs.gmu.edu/~tr-admin/papers/ISE-TR-06-07.pdf Kim, J., Rorty on the Possibility of Philosophy, Journal of Philosophy, 77, 1980: 588–597. Kleene, St. C., Introduction to Metamathematics, Amsterdam – New York, 1971. Koppelberg, D., Die Aufhebung der analytischen Philosophie, Frankfurt a. M., 1987. Koschorke, A., Geschichte des Horizonts : Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbilder, Frankfurt a. M., 1990. Kotarbinski, T., Gnosiology. The scientific approach to the Theory of Knowledge, London-Warsawa, 1966. Kubinski, T., An outline of the Logical Theory of Questions, Berlin, 1980. Lehmann, K., Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers, Mainz – Freiburg i. B., 2003. Leibniz, G. W., Philosophische Schriften, Berlin, 1885.
659 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis – De l’horizon de la doctrine humaine, Paris, 1991. – Der Briefwechsel mit Jesuiten in China (1689–1714), Hamburg, 2006. – Opuscules et fragments inedits, Hildesheim – Zürich – New York, 1966. Llewelyn, J., What is a Question, Australasian Journal of Philosophy, 42, 1964: 67–85. Lobacevsky, N. I., Pangeometry, Strasbourg, 2010. Lowe, E. J., The Four-Category Ontology : A Metaphysical Foundation for Natural Science, Oxford, 2006. Armstrong, D. M., A World of States of Affairs, Cambridge, 1997. Lowe, E. J. – Rami, A. (Eds.), Truth and Truth-Making, Stocksfield UK, 2009. Magistri Echardi expositio libri Exodi, sermones et lectiones super Ecclesiastici, cap. 24, Stuttgart, 1992. Mansion, A., Philosophie prémière, philosophie seconde et métaphysique chez Aristote, Revue philosophique de Louvain, 56, 1998: 165–221. Marion, J.-L., Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, 1997. – La théologie blanche chez Descartes. Analogie, création des vérités éternelles et fondement, Paris, 1981. – Sur l’ontologie grise de Descartes: science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae, Paris, 1993. Maurin, A.-S., If Tropes, Dordrecht, 2002. McDowell, J., Mind and World, Cambridge (MA), 1996 (II ed.). McKay, Th. – Nelson, M., Propositional Attitude Reports, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2010). Meillassoux, Q., Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris, 2006. Meinong, A., Über Gegenstandstheorie – Selbstdarstellung, Hamburg, 1988. Merleau-Ponty, M., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München, 1986. Metzinger, Th., Being no one. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge (MA), 2003. Meyer, M., (Ed.), Question and questioning, Berlin – New York, 1988. Minsky, M., The Society of Mind, New York, 1986. Mittelstrass, J., The philosopher’s conception of mathesis universalis from Descartes to Leibniz, Annals of Science, 36, 1979: 593–610. – Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanzer Universitätsreden (214), Konstanz, 2003. Morin, E., Introduction à la pensée complèxe, Paris, 2005. Moser, P. K., Metaphilosophy. In R. Audi (Ed.), Cambridge Dictionary of Philosophy, 2008, S. 561–562. Mulligan, K. – Smith, B., A Husserlian Theory of indexicality, Grazer Philosophische Studien, 28, 1986 Mulligan, K., (ed.), Language, Truth and Ontology, Dordrecht, 1992. – Two Dogmas of Truth-making, in Monnoyer, J. M. (Ed.), Metaphysics and Truth-makers, Frankfurt, 2007; Nagel, T., Über das Leben, die Seele und den Tod, Hain, 1984. Nef, F., Qu’est-ce que la métaphysique, Paris, 2004. Neurath, O. v., Protokollsätze, Erkenntnis, 3, 1932/33: 204–214.
660 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis Nicolai de Cusa, De venatione sapientiae. In Opera omnia, Bd. 12, Hamburg, 1982. Nietzsche, F., Sämtliche Werke, München – New York, 1980. Noll, R., The Aryan Christ: The Secret Life of Carl Jung, New York, 1997. Overgaard, S. – Gilbert, P. – Burwood, S., An introduction to metaphilosophy, Cambridge, 2013. Owen, G. E. L., Aristotle on the Snares of Ontology. In Rambrough, R., (Ed.), New Essays on Plato and Aristoteles, New York, 1965, S. 69–95. Patočka, J., Le monde naturel comme problème philosophique, Den Haag, 1976. Petitot, J., Morphogénèse du sens, Paris, 1985. Platonis Opera, edidit J. Burnet, Oxford, 1900. Poli, R., Ontologia formale, Genova, 1992. Prasenjit, M., An Algebraic Framework for the Interoperation of Ontologies, Dissertation, Stanford, 2004, http://infolab.stanford.edu/~prasen9/thesispm.pdf Precht, R.-D., Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?: Eine philosophische Reise, München, 2007. Prior, M. – Prior, A., Erotetic Logic, The Philosophical Review, 64 (1), 1955: 43– 59. Putnam, H., Mind, Matter and Reality, Philosophical Papers, Cambridge, 1975. – Realism with human face, Cambridge (MA), 1990. Quine, W. v. O., Form a logical point of view, Cambridge (MA), 1964. – From Stimulus to Science, Cambridge (MA), 1998. – Ontological Relativity and Other Essays, New York – London, 1969. – Theories and Things, Cambridge (MA), 1981. Rapaport, W. J., Meinongian Theories and a Russellian Paradox, Nous, 12, 1978: 153–180. – Non-existent Objects and Epistemological Ontology, Grazer Philosophische Studien, 25/26, 1985/6, S. 66–92. Rescher, N., Philosophical Dialectics: An Essay on Metaphilosophy, New York, 2006. – Philosophical Inquiries: An Introduction to Problems of Philosophy, Pittsburgh, 2010. – Philosophical Reasoning: A Study in the Methodology of Philosophizing. London, 2001. – The Strife of Systems: An Essay on the Grounds and Implications of Philosophical Diversity, Pittsburgh, 1985. Richir, M., Du sublime en politique, Paris, 1991. – L’expérience du Sublime, Le Magazine littéraire, 309: 35–37. – Métaphysique et phénoménologie. In Escoubas, E. – Waldenfels, B., (Hg.), Deutsche und französische Phänomenologie, Paris, 2000. – Variations sur le sublime et le soi, Grenoble, 2010. Ricoeur, P., À l’école de la phénoménologie, Paris, 1991. Riemann, B., Über die Hypothese, welche der Geometrie zu Grunde liegen, Göttingen, 1868. Rorty, R., Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton, 1980.
661 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis Russell, B., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society (New Series), XI, 1910–1911: 108–128. – Mysticism and Logic. In Mysticism and Logic and Other Essays, London, 1917. – The Wisdom of the West, London, 1959. Ryle, G., Collected Essays 1929–1968, London, 1971. – Intentionality-Theory and the nature of Thinking. In Haller, R., (Hg.), Jenseits von Sein und Nichtsein, S. 7–14. – The Concept of Mind, New York, 1949. Saccheri, G. G., Euclides ab omni naevo vindicatus, Mediolani, 1733. Scheler, M., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. In Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern, 1980. – Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt, 1928. Schlick, M., Unanswerable Questions?. In Question and Questioning, Berlin – New York, 1988, S. 36–40. Scotus, Ordinatio, in Opera Omnia, vol. I-XIII, Roma, 1901. Searle, J., Intentionnality. An essay on Philosophy of Mind, Cambridge, 1983. Sellars, W., Science, Perception and Reality, London, 1963. Seron, D., Introduction à la méthode phénoménologique, Bruxelles, 2001. Shoemaker, S., Self-Reference and Self-Awareness, Journal of Philosophy, 65, 1968: 555–567. Sider, Th., Four-Dimensionalism. An Ontology of Persistence and Time, Oxford, 2003. Sintonen, M., Structuralism and the Interrogative Model of Inquiry. In Structuralist Theory of Science, S. 45–74. Skinner, Q., The End of Philosophy, New York Times Review of Books, 23, 4, 1981: 46–48. Smith, B., – Mulligan, K., Framework for Formal Ontology, Topoi, 3, 1983: 73– 85. Smith, B., An Essay on formal Ontology, Grazer Philosophischen Studien, 6, 1978: 39–62. – Mereotopology: A theory of parts and boundaries, Data & Knowledge Engineering, 20, 1996: 287–303. – Ontology. In L. Floridi (Ed.), Blackwell guide to Philosophy of Computing and Information, Oxford, 2003, S. 155–166. Sokal A. – Bricmont J., Fashionable Nonsense, New York, 1998. Speer, A., The Fragile Convergence. Structures of Metaphysical Thinking. In Doolan, G. T., (Ed.), The science of Being as Being. Metaphysical Investigations, Washington D.C., 2012, S. 70–95. Sperantia, E., Remarques sur les propositions interrogatives. Projet d’une »logique du problème«, Actes du Congrès International de Philosophie, Paris, 1936, S. 18–28. Spinoza, B., Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg, 1955. – Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg, 1976. Sri Ramana Marashi, B., Who am I? In The Teachings of Bhagavan Sri Ramana Maharshi, India, 1997, S. 37–44.
662 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Literaturverzeichnis Stegmüller, W., The Structuralist View of Theories. A possible Analogue of the Bourbaki Programme in Physical Science, Springer, 1979. – Theorienstrukturen und Theoriendynamik, Springer, 2008 (2. Aufl.). Steinmann, M., Martin Heideggers »Sein und Zeit«, Darmstadt, 2010. Stobaeus, Opera, Danzig, 1753. Strawson, P. F., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, 1959. – The Bounds of Senses, London, 1959. Tengelyi, L., Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg – München, 2014. Thomae Aquinatis In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis, Torino – Roma, 1950. Thomae Aquinatis Summa Theologiae, Roma, 1952. van Cleve, J., The Moon And Sixpence: A Defense of Mereological Universalism, in Sider, T. – Hawthorne, J., – Zimmerman, D. W., (Eds.), Contemporary Debates in Metaphysics, Oxford, 2008, S. 321–340. van Frassen, B., The scientific Image, Oxford, 1980. van Inwagen, P., Creatures of Fiction, American Philosophical Quarterly, 14, 1977: 299–308. – Meta-ontology, Erkenntnis, 48, 1998: 233–250. – Metaphysics, Boulder (CO), 2002, II éd. Varzi, A., Mereology, Stanford Encyclopedia of Philosophy, May, 14 2009. – Ontologia, Roma-Bari, 2008. – On doing Ontology without Metaphysics, Philosophical Perspectives, 25, 2011: 407–423. – Parts, Wholes and Parts-Whole Relations. The prospects of Mereotopology, Data and Knowledge Engineering, 20, 1996: 259–286, http://www.columbia. edu/~av72/papers/Dke_1996.pdf Walther, J., Logik der Fragen, Berlin – New York, 1985. Widdows, D., Geometry and Meaning, Stanford, 2004. Wiederhold, G., An Algebra for Ontology Composition. In Proceedings of 1994 Monterey Workshop on Formal Methods, http://citeseerx.ist.psu.edu/ viewdoc/summary?doi=10.1.1.57.3259 Williams, D. C., On the Elements of Being, The Review of Metaphysics, 7, 1953: 3–18, 171–192. Williamson, T., The Philosophy of Philosophy, Oxford, 2007. Wittgenstein, L., Schriften, Frankfurt a. M., 1969. Zalta, E., Referring to Fictional Characters, Dialectica 57, 2003: 243–254. Ziegler, J., Die Origo und das Grundlagenproblem der Deixis, Deutsche Sprache, 17, 1989: 193–205.
663 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Personenregister
Acquist, L. 159 Adler, M. J. 297 Albert, H. 458 Albertazzi, L. 513 Albertini, F. 222 Alighieri, D. 107, 307 Amman, P. 602 Arendt, H. 202 Aristoteles 82, 109, 137, 237, 419, 426, 437, 443, 446, 453, 477, 494, 531, 614 Armstrong, D. M. 36, 426 Asperti, A. 603 Aubenque, P. 248, 479–480 Augustin 117, 202, 232
Camus, A. 74 Carnap, R. 78, 93, 120, 131, 186, 532, 542, 619 Casari, E. 562 Casati, R. 246 Cassirer, E. 61 Castañeda, H.-N. 377, 426 Chalmers, D. 544, 559 Chisholm, R. 512 Chomsky, N. 251 Clauberg, J. 427 Cohen, F. S. 182 Courtine, J.-F. 445, 474 Cresswell, M. 159 Cruse 389
Badiou, A. 643 Barbaras, R. 290 Bardohl, R. 318 Beckett, S. 52 Benoist, J. 141, 199, 448, 472, 586, 644 Bergmann, G. 512 Bertanlaffy, L. von 597 Bianchi, C. 511 Bollinger, D. 160 Bolzano, B. 16 Bottani, A. 511 Bouveresse, J. 116 Braun, D. 377 Bricmont, J. 643 Budaeus, G. 125 Bühler, K. 257, 314 Burwood, S. 297
De Buzon, F. 18 de Lara, J. 318 Dennett, D. 253 Derrida, J. 125, 617 Descartes 508 Descartes, R. 16, 33, 35, 203, 228 Diogenes Laertios 334 Dodd, J. 426 Dyson, F. 20
Cameron, R. 426
Eckart 464 Ehrig, H. 318 Eilenberg, S. 604 Eklund, M. 544 Eliade, M. 645–646 Elienberg, S. 603 Evans, G. 257–259 Farkas, S. 602 Feuerbach, L. 622
665 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Personenregister Fodor, J. 252 Foucault 352 Foucault, M. 14, 59, 132, 326, 332, 631, 635 Frassen, B. van 132 French, St. 40 Freud, S. 27 Gabriel, M. 519 Gadamer, H.-G. 161 Galilei, G. 609 Gauss, C. F. 399 Geldsetzer, L. 294 Gilbert, P. 297 Gire, P. 464 Goethe, J. W. 41, 193, 589 Gracia, J. J.E. 512 Grossmann, R. 512 Hacker 511 Hamblin, C. L. 159 Hanson, N. R. 136 Harrah, D. 159 Harris, Z. 183 Hawking, St. 20 Heath, T. L. 398 Hegel, G. W.F. 29, 102, 112, 114, 206, 334, 455, 622 Heidegger 540 Heidegger M. 61 Heidegger, M. 34–35, 85, 109, 118– 119, 125, 130, 158, 188, 202, 204, 207, 230, 280, 295, 429, 434–435, 445, 462, 464, 484, 494, 507, 628, 652 Henry, M. 146–147, 217, 226, 500 Herbart, J. F. 141 Hintikka, J. 129, 161, 496 Hooker, C. 18, 594–595 Husserl, E. 41, 76, 86, 97, 131, 142, 148, 150, 152, 155, 158, 165, 168, 181, 185, 188–189, 192, 195, 200, 208, 213, 227, 241, 264, 309, 311, 318, 323, 334, 338, 341, 355, 358, 384, 406, 422, 425, 434, 488, 513, 522, 531, 545–547, 550, 556, 561, 588, 591, 619, 647, 653
Ingarden 512 Jacquette, D. 449 Jaeger, W. 124, 647 James, W. 108, 179, 192, 553 Johansson 389 Johansson, I. 512 Johnston 389 Kahn, Ch. H. 83, 496 Kant, I. 33, 112, 130, 141, 200, 216, 227, 267, 448, 526, 619, 635 Kaplan, D. 313 Kaushik, K. 602 Kiefer, F. 169 Kleene, St. C. 73, 417 Koppelberg, D. 352 Koschorke, A. 180 Kotarbinski, K. 219 Kubinski, T. 159 Lehmann, K. 483 Leibniz, G. W. 16, 26, 32, 67, 102, 104, 222, 227, 596, 644 Levi, P. 27 Levinas, E. 223 Lewis, D. 377 Llewelyn, J. 159 Lobacevsky, N. I. 399 Longo, G. 603 Lowe, E. J. 36, 426 Luckner, A. 483 MacLane, S. 603–604 Mansion, A. 445 Marion 203 Marion, J.-L. 67, 139, 176, 181, 184, 447, 479, 527 Maurin, A.-S. 426 McDowell, J. 257, 546 Meillassoux, Q. 141 Meinong, A. 80, 246, 434, 441, 443, 448, 512 Meinong, A. v. 134 Meister Eckart 464 Melissos 495
666 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Personenregister Merleau-Ponty, M. 192, 205, 332, 549, 581, 600, 648 Metzinger, Th. 131, 254 Minsky, M. 253 Mittelstraß, J. 37 Mittelstrass, J. 18 Morin, E. 110, 595 Moser, P. K. 22 Mulligan, K. 194, 426, 513 Nagel Th. 618 Nagel, Th. 37, 123, 131 Nef, F. 497 Neurath, O. von 352, 587 Nicolai de Cusa 43 Nietzsche, F. 78, 101, 538 Noll, R. 413 Overgaard, S. 297 Owen, G. E.L. 492 Parmenides 118 Parret, H. 169 Patočka, J. 633 Petitot, J. 251, 379 Platon 31, 104, 282, 287, 495–496, 535, 590 Poli, R. 513 Prasenjit, M. 602 Precht, R.-D. 283 Priest, G. 520 Prior M., A. 129 Prior, M.,A. 159 Putnam, H. 109, 251 Quine, W. v. O. 85, 89, 247, 352, 449, 509, 517, 550, 553, 601–602 Quine, W.v.O 134 Rabouin, D. 16 Ramana Marashi 213 Rami, A. 426 Rescher, N. 297 Richir, M. 331, 629 Riemann, B. 98, 600 Romano, C. 22 Rorty, R. 108
Russell, B. 22, 92, 171 Ryle, A. 448 Ryle, G. 66, 230 Saccheri, G. 399 Scheler, M. 201, 626 Schlick, M. 123 Scotus, J. 230 Searle, J. 168, 231 Sellars, W. 36, 116, 136, 148, 585, 637 Shoemaker, S. 230 Sider, Th. 596 Sintonen, M. 130 Skinner, Q. 108 Smith, B. 135, 194, 381, 513, 567, 601 Sokal, A. 643 Speer, A. 445 Sperantia, E. 182 Spinoza, B. 541, 616 Stegmüller, W. 132 Steinmann, M. 483 Stobaeus 334 Strawson, P. 256 Strawson, P. F. 544 Strensom, A.-Br. 169 Taentzer 318 Tarski, A. 353 Th. McKay, Th. 436 Thomas von Aquin 445, 494 Thomasson, A. 512 Van Cleve, J. 426 van Fraassen, B. 591, 605 van Fraassen, B. van 638 van Frassen, B. 582 van Inwagen, P. 36, 377, 510 Varzi 389 Varzi, A. 135, 246, 511, 567 von Bertalanffy, L. von 16 von Hermann, W. 483, 495 Walther, J. 160 Widdow, D. 602 Widdows, D. 28 Wiederhold, G. 602 Wiener, N. 16
667 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
Personenregister Wijsekera, D. 602 Williams, D. C. 426 Williamson, T. 132 Williamson. T. 298 Wittgenstein, L. 21, 61, 123, 131, 179, 261, 277, 472, 625
Zalta, E. 377 Zenon 495 Ziegler, J. 257
668 https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .
https://doi.org/10.5771/9783495817858 .