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German Pages [131] Year 2016
Fausto Fraisopi
Philosophie und Frage Band 1: Über Metaphilosophie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817841
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B
Fausto Fraisopi Philosophie und Frage
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Das grundsätzliche Fragen liegt immer und ständig dem Wissen zugrunde. Ein grundsätzliches Fragen ist notwendig, wenn man die Komplexität unserer Zeit und unserer Welt verstehen will. Was uns aber heutzutage fehlt, ist die Verbindung zwischen der elementaren Situation jedes grundsätzlichen Fragens und der inflationären Vervielfachung von Wissensformen und partiellen Theorien. Damit einhergehend verliert die Philosophie den Sinn der Form eines ersten Wissens (prôtê epistêmê) als vorrangige Form eines Denkens, das den Wissensformen Einheit geben und den Sinn des Wissens für den Menschen erschließen könnte. Das Buch zielt darauf ab, im Dialog mit der phänomenologischen sowie mit der analytischen Tradition eine neue Schau zu entwickeln, welche die elementare Situation der Frage nach dem Sinn und die Komplexität des Realen wieder miteinander in Verbindung bringt. Ausgehend von der Frage nach dem Sinn kommen Grundfragen in den Blick, welche, jede auf ihre Art und Weise, einen Horizont öffnen, in dem das Denken eine Erweiterung seines Verstehens erreicht: der Horizont der Metaegologie, der Metatheorie, der Metaontologie und zuletzt der Metametaphysik. Durch die Entwicklung der Korrespondenz zwischen Grundfragen und Horizonten des Denkens öffnet sich nicht nur die Perspektive einer Archäologie, sondern die Perspektive der Zukunft des Wissens.
Der Autor: Fausto Fraisopi ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Husserl-Archiv.
https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Fausto Fraisopi
Philosophie und Frage Band 1: Über Metaphilosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48784-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81784-1
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ἔστι γὰρ ἀπαιδευσία τὸ μὴ γιγνώσκειν τίνων δεῖ ζητεῖν ἀπόδειξιν καὶ τίνων οὐ δεῖ Aristoteles
»Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle.« I. Kant
»Keine Erkenntnislinie, keine einzelne Wahrheit darf verabsolutiert und isoliert werden.« E. Husserl
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Inhalt
Erster Band Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Kapitel I.
status quaestionis . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
Kapitel II.
Die verwirrende Frage . . . . . . . . . . . . . .
49
Kapitel III.
Die Dimension der Theorien . . . . . . . . . . .
62
Kapitel IV.
Jenseits des Sinnes von Sein . . . . . . . . . . . .
74
Kapitel V.
Über die Topoi des Wissens . . . . . . . . . . . .
90
Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Nachwort. Vom spekulativen Denken . . . . . . . . . . . . .
108
7 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Inhalt
Zweiter Band Vorwort zum zweiten Band . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
I. TEIL META-EGOLOGIE Kapitel I. Das Feld der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . .
139
§ 1. Die Deklinationen des phänomenologischen Ethos; § 2. Die Bedeutung der Prinzipien; § 3. Das Prinzip der Phänomenologie; § 4. Die Verbindung zwischen der Reduktion und dem Ich-(das ist)-Horizont; § 5. Die Verbindung zwischen der Reduktion und der Phänomenalität; § 6. Die Verbindung zwischen dem Ich-Horizont und der Phänomenalität; § 7. Die typischen Setzungscharaktere der Sach-Erfahrung. Kapitel II. Logik und Phänomenologie des Fragens
. . . . . . . 158
§ 8. Die Frage als Sach-Erfahrung; § 9. Die Frage (als Nachfrage) und ihr Ereignis; § 10. Passivität und Kontextualität der Frage; § 11. Topographie des Gebiets der Frage; § 12. Über die Abstufung der Phänomene in der Polarität »leere/gesättigte Gegebenheit«; § 13. Über das Extrem gesättigter Gegebenheit als »Moment des radikalen Empirismus«; § 14. In Richtung des Extrems der »armen« Gegebenheit als Frage; § 15. Metatheoretische, metaphysische Fragen und die Frage nach dem »Ich«. Kapitel III. Theoretische Strukturen . . . . . . . . . . . . . . § 16. Die Frage als »transzendental-ursprüngliches Phänomen«; § 17. Das Ich und die Deixis; § 18. Das »Ich« und die gegenstandslose Vorstellung; § 19. Die Zweideutigkeit der Frage; § 20. Die Frage als Ereignis; § 21. Die intentio intellectus; § 22. Das intentum: »mein-Ich-in-der-Frage-»Was/wer bin ich?«; § 23. Die Frage, die sich neutralisiert; § 24. Die neutralisierte Frage, die Schau, die Selbstaffektion; § 25. Selbstaffektion und Zweideutigkeit der Noese; § 26. Die wesentliche Trennung; § 27. An-Egoität und Sinnesmangel; § 28. Das Ich als Distanz; § 29. Die spekulative Situation und das Multiversum. 8 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
191
Inhalt
Kapitel IV. Spekulative Strukturen . . . . . . . . . . . . . . .
237
§ 30. Ich-Horizont; § 31. Die verlorene Subjektivität und die Öffnung der ontologischen Analyse; § 32. Die spekulative Situation; § 33. Der »Ich-Horizont« jenseits des Seins; § 34. Der »Ich-Horizont« und das »Selbst«; § 35. Das dezentralisierte Ich und die Modularität der Selbstbeziehung; § 36. Spekulative Situation und Modularität; § 37. »Ich-Horizont« und egologische Relativität; § 38. Erfahrung und materiales Apriori; § 39. Aktuelles materiales Apriori und Kontextualität; § 40. Charaktere der HSB; § 41. Gewinn und Verlust der Identität; § 42. Das »philosophische Subjekt«.
II. TEIL META-THEORIE Kapitel V. Der metatheoretische Horizont . . . . . . . . . . .
289
§ 43. Das philosophische Subjekt und die Nicht-Sache der Philosophie; § 44. Das »im Leeren« philosophierende Subjekt; § 45. Das »im Leeren philosophierende Subjekt«, die Metaphysik und die metatheoretische Dimension; § 46. Die Frage, der Akt und die spekulative Charakterisierung ihres Noemas; § 47. Das Metatheoretische als Erscheinendes; § 48. Das Metatheoretische als solches; § 49. Die □metatheoretische Metamorphose der deiktischen Ausdrücke; § 50. Der □metatheoretische Gegenstand (oder der Gegenstand der □metatheoretischen Anschauung); § 51. »□Eidos« und »□Logos« als Namen für eine komplexere Wirklichkeit; § 52. Die Abschattungen und die Beziehungen zwischen den □MG. Kapitel VI. Die metatheoretische Erfahrung
. . . . . . . . . . 329
§ 53. Für eine Phänomenologie des Metatheoretischen; § 54. Das erste Abbild des Metatheoretischen; § 55. Die Analyse des □MG vom Standpunkt der Erkenntnis- und der Wissenschaftstheorie; § 56. Phänomenologische Analyse des □MG gemäß dem Eidos; § 57. Das □Eidos und die Modellierung; § 58. Phänomenologische Analyse des □MG gemäß seinem Logos; § 59. Der Gegenstand und seine Modelle;
9 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Inhalt
§ 60. Das □Eidos und das Werden des □MG; § 61. Der □Logos und die hermeneutische Perspektive des Gegenstands. Kapitel VII. Die metatheoretische Dimension
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§ 62. Der □MG und seine Dynamik; § 63. Strukturelle Modifikationen und semantische Variationen: Vom □MG und seiner Mereologie; § 64. Für eine Mereotopologie des Metatheoretischen; § 65. Mereologischer Atomismus und semantische Dimension; § 66. Zustände, Eigenschaften und Kategorien des □MG; § 67. Der visuelle Status der metatheoretischen Erfahrung und die Morphologie der Eigenschaften; § 68. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität I: Die Beziehungen zwischen den Gegenständen; § 69. Skizze der metatheoretischen Dimensionalität II: Statische und dynamische Beziehungen; § 70. Das ontologische Problem des Metatheoretischen.
III. TEIL META-ONTOLOGIE Kapitel VIII. Ontologie als Gegenstand . . . . . . . . . . . . .
421
§ 71. Zirkularität, die sich auf die metatheoretische Dimension auswirkt; § 72. Gegenstandstheorie als Theorie; § 73. Gegenstandstheorie als □MG; § 74. Erschöpfung des Vorrangs: Die metatheoretische Relativität der Gegenstandstheorie; § 75. Metatheoretische Analyse und Erschöpfung des Vorrangs; § 76. Prôtê Epistêmê in der metaphysischen Hypothese; § 77. Die Neutralisierung und die Erscheinung der Gegenstandsstruktur; § 78. Die strukturelle und genetische Einheit der Ontologie und ihr »Vakuum«; § 79. Die erste Form des Vakuums; § 80. Die zweite Form des Vakuums; § 81. Die Dritte Form des Vakuums; § 82. Analyse der Zirkularität; § 83. Die »privative« Situation der Gegenstandstheorie als solche; § 84. Die holistische Aporie und die privative Situation. Kapitel IX. Die Metaontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . § 85. Die Vollständigkeit der ontologisch-privativen Situation: Die Metaontologie; § 86. Die meta-ontologische Situation oder die Metaontologie; § 87. Die ontologische Frage als »Gegen10 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
459
Inhalt
stand«; § 88. Frage und problematischer Gegenstand der Metaontologie; § 89. Die Momente der Analyse der Frage »τί τὸ ὄν«; § 90. Analyse und Kritik des Götzen der Seinsfrage; § 91. Die Analyse der Frage: Erste Abstraktion; § 92. Metatheoretische Analyse der Frage: Zweite Abstraktion. Kapitel X. Metaontologie und Individuation
. . . . . . . . . . 499
§ 93. Metaontologie vs. Metaphysik; § 94. Die meta-ontologische Schwelle und ihre Dimensionalität; § 95. Die Vieldeutigkeit der Frage; § 96. Vieldeutigkeit und Metaphysik; § 97. Die Doppeldeutigkeit jenseits der Metaphysik: »On what there is«; § 98. Die beiden Sinne der Doppeldeutigkeit und die Bedeutungen der Metaphysik; § 99. Ontologische Relativität und metaontologischer Raum; § 100. Metaontologie und Anschauung; § 101. Anschauung und Singularität; § 102. Die Brechung des metaontologischen Gleichgewichts.
IV. TEIL DER RAUM DER MATHESIS Kapitel XI. Protothesen und Immanenz
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§ 103. Die Frage nach dem Realen; § 104. Die meta-metaphysische Situation; § 105. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin: Die Individuation; § 106. Die Öffnung des Horizonts der Mathesis; § 107. Protothese-(G) und radikaler Empirismus; § 108. Protothese-(p) und Individuationsprotokolle; § 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung; § 110. Die Mereologie in der meta-metaphysischen Regionalisierung; § 111. Die Mereologie und ihre topologische Integration. Kapitel XII. Die Dimension der Modelle und die Mathesis . . . .
576
§ 112. Metaphysisches Modell vs. □metaontologische Modelle; § 113. Was ist ein □MOM?; § 114. Metaontologische Topographie und der »Myth of the given«; § 115. Erfahrungsboden als epistemische Chora; § 116. Metaontologische Modelle (□MOM); § 117. Die Komplexität und die □MO Modellierung; § 118. Der naive Charakter der dreidimensionalen 11 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Inhalt
Voraussetzung und der Übergang zur Mo/dellierung; § 119. Grundlinien der □MO Modellierung; § 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ; § 121. Die Existenzfrage in den □MO Topoi und die Idee der Physis. Kapitel XIII. Mathesis und Struktur der Dekonstruktion
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§ 122. Der Horizont der Mathesis; § 123. Dekonstruktion und Mathesis; § 124. Die spekulative Reduktion; § 125. Metaphysische Frage und Theologie; § 126. Metaphysische Frage und Kosmologie; § 127. Metaphysische Frage und Anthropologie; § 128. Dekonstruktion und □MO Modellierung; § 129. Dekonstruktion und Öffnung der Formen der Mathesis: a) Das Menschliche als Mehrdeutigkeit; b) Mehrdeutigkeit des Weltlichen und Faserung des Realen; c) Das Heilige und seine Mehrdeutigkeit; § 130. Die Formen der Mathesis; § 131. Die Form der Mathesis. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
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Einleitung
»Und er ging ans Ufer des Meers, und setzte sich nieder« Homer, Odyssee, VI, 236
1. Ohne ihren Trieb und ihre Spannung zum Wissen kann sich die Menschheit lediglich auf die perspektivlose Produktion und Konsumierung von wissenschaftlichen, kulturellen oder materiellen Produkten beschränken. Der Mensch ohne irgendeine ideale Perspektive (der weder der Unwissende noch der Primitive ist, aber der sich guten Gewissens ausgesucht hat, ob er es sich eingesteht oder nicht, mit seiner Barbarei zu leben) verzehrt sich im Kauf oder im nichtigen Genuss dessen, was ihm selbst zur Verfügung steht. So kann er nur das günstige Produkt seines Nächsten werden. Alles konzentriert sich auf die blinde Performativität seiner Hilfsmittel und seiner Handlungen, alles orientiert sich nach dem, was er je nach Bedarf genießen kann, was er je nach Bedarf wissen kann, was er je nach Bedarf beweisen oder fühlen kann: Der Mensch ist um jeden Blick zum Horizont beraubt. Die Philosophie hat heute dasselbe Schicksal der Barbarei des Menschen, der diese praktiziert, zu erleiden: nämlich die Verblendung durch die Ergebnisse à bon marché. Diese Koinzidenz sollte nicht weiter verwundern, ist doch die Philosophie nur die Kristallisierung der Theôria, der Schau, und als solche ein Ausdruck des Menschen. Aber es ist unwichtig, dass eine dem Schicksal eines einfachen kulturellen und akademischen Konsums unterworfene Philosophie untergeht oder in ihrer Leere weiterlebt. Von Wichtigkeit ist, dass in ihrem Tod oder in ihrem limbischen Überleben die überwältigende Idee des Wissens, worauf diese Philosophie sich ihr Fuhrwerk schuf, nicht von deren Tod mitgerissen wird oder in ihrem limbischen Überleben vor sich hin vegetiert bzw. ihr kümmerliches Dasein fristet. Von Wichtigkeit ist, dass das reine Denken nicht untergeht oder sich nicht 13 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Einleitung
auf ein Überleben der Philosophie beschränkt, die nichts mehr zu sagen hat, außer von sich selbst, dass man davon befreit wird; von Wichtigkeit ist, dass es davon, als reines Denken, wie die Nymphe aus dem Kokon, befreit wird. 1 2. Was nun von der Philosophie nach dem Zusammenbruch des Glaubens an die Macht der Metaphysik geblieben ist, lässt sich in drei wesentlichen und grundlegend verlustreichen Tendenzen zusammenfassen. Erstens die Idee der Erneuerung der souveränen Theorie (philosophia delirans): eine letztlich nostalgische Tendenz. Wie alle Äußerungen von Nostalgie, so will auch diese die Metaphysik auf einem neuen Fundament wiederherstellen, um für die Philosophie so das vergangene Prestige der regina scientarium zurückzugewinnen. Allerdings hat die exponentielle Erweiterung der Wissenschaft und ihrer Ergebnisse bewirkt, dass es unmöglich geworden ist, ihnen Form (und Architektur) zu geben. Es ist vor allem unmöglich, dies mit der beschränkten Anzahl der Begriffe, derer die Metaphysik sich bediente, um diese illusionäre Architektur zu formen, zu machen. Man schaut also dieses recht komische Spektakel der Philosophen an, die nur daran denken, ein selbstbezügliches Lexikon wiederherzustellen, um von einer Metaphysik und einer Struktur der Welt zu sprechen, 2 indem sie sich ganz von äußeren Geschehnissen isolieren. Im Inneren dieser leeren Kathedralen ertönen die Stimmen der Priester ohne Allerheiligstes und ohne Liturgie. Die zweite Tendenz zeichnet sich dadurch aus, die inflationäre Vervielfachung der wissenschaftlichen Auswege zu imitieren, indem sie mehrere Formen der Philosophie der entwickelt (philosophia technica). Eine solche Entwicklung führt notwendigerweise zu einer Zersplitterung, die jede Form von Philosophie der in ihren weiteren inflationären Spezifika auflöst. Das Motto lautet also: »je mehr Spezifikation, desto mehr Wissenschaftlichkeit«. Daraus könnte man folgern, dass man das Gemurmel (und die akademischen Treffen) vervielfachen müsste, um das Wissen als solches deutlich auszudrücken. In diesen absolut sterilen Bienenstöcken ge1 Vgl. M. Foucault, Entretien avec Pierre Dumayet, Juni 1966: »Il me semble que maintenant la philosophie est en train de disparaitre, quand je dis qu’elle disparait, je ne veux pas que nous allons aboutir à une époque où tout le savoir est positif, elle se dissout ou si elle se dissipe dans toute une série d’activités de pensée dont il est difficile de dire si elle sont proprement scientifiques ou proprement philosophiques, nous arrivons à un âge qui est celle peut être de la pensée pure, de la pensée en acte.« 2 Vgl. u. Kap. I, Fn. 9.
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Einleitung
lingt einem aber nichts anderes, als ein recht wirres und langatmiges Hintergrundgeräusch zu erfassen. Vielleicht repräsentiert die Überheblichkeit selbst dieser Form des Philosophierens die grundlegende, typische Lasterhaftigkeit der Sterilität. Schlussendlich gelingt es nur, aufgrund der Selbsteinschränkung durch die Bildung immer kleinerer Miködomänen das fordistische Lob der Spezifikation der philosophischen Forschung zu wiederholen. All dies entwickelt sich in völliger Unwissenheit des Ergebnisses einer solchen Arbeitsteilung. Als abstraktes, finales Ergebnis sind solche Mikrodomänen nicht irgendetwas beliebiges, sondern sinnlose Fragmente der spekulativen Bewegung des menschlichen Denkens. Die letzte Tendenz kann schlussendlich nur die Institutionalisierung der historischen Krankheit der Philosophie sein, welche betont, dass der übrig gebliebene Rest an Möglichkeiten darin besteht, ihre eigene Geschichte zu schreiben und ihre Erzählung zu pflegen, ob nun auf nostalgische oder auf hyperspezialisierte Art und Weise (philosophia posthuma). 3. Das Individuum, das in der Philosophie eine Antwort auf seine Grundfragen suchte, ist von nun an nackt, es treibt auf der Oberfläche von Theorien, von denen es sich erhofft, dass eine Zusammensetzung ihm Identität und Wesen verleihen könne: Seine Wissenschaft ist zerstreut, seine Sozialität zerrissen, seine Spiritualität unempfindlich geworden. Es bleibt ihm nur die Frage nach dem Sinn: Das Individuum befindet sich in einer Notsituation, welche essentiell die seinige ist. Zwischen dem Stadium der Frage und dem der »allgemeinen Wissenschaft« (scientia generalis), von der es dachte, eine Antwort zu erhalten, findet die Zerlegung seines Privatlebens und die Erweiterung des Horizonts statt, welche die Philosophie auf eine Gesamtheit von Vorschlägen und zusammenhangslosen Thesen reduziert, ohne Bezug auf das Reale, ohne die Möglichkeit, eine neue Welt zu bilden. Die Aufgabe des reinen Denkens besteht darin, eine Erfahrung dieser Theorien nachzubilden, auf deren Oberfläche »die Gischt … die Wolke« (»l’ecume … le nuage«) des Individuums als »eigene Existenz« treibt, weil das Individuum niemals der Bedeutung des »Menschen« entsprochen hat, die irgendeine Philosophie, humanistisch oder nicht, ihm zuschrieb. 3 Diese privative Situation des Individuums ist allerdings das Residuum der Wahrheit, von dem aus ein neuer Denkweg beginnt. Die privative Situation stellt sich letztendlich als 3
Vgl. M. Foucault, loc. cit.
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Einleitung
entscheidend heraus: zunächst indem das Individuum selbst die Öffnung der Möglichkeiten des Fragens und auch des möglichen Unsinns von sogenannten Grundfragen preisgibt. In dieser Situation findet sich das Denken in eine Verbindung mit der Idee eines Wissens gesetzt, dessen Form ungewiss ist, kraft der Vielfalt der Formen, die eine solche Idee des Wissens annehmen kann: ein rein »offenes« Wissen. Dieses Spiegelungsverhältnis lässt die Epistêmê zwischen dem reinen Denken einerseits und den besonderen Wissensformen anderseits fortbestehen. Letztere bleiben in ihrem eigenen Leben unbegrenzt von dieser Metaphysik, die der Idee des Wissens eine charakteristische Form zuschrieb. 4. Die Idee der Mathesis universalis als Idee einer universalen primitiven Wissenschaft (nach dem Modell der Mathematik verstanden) begleitet schon seit Jahrtausenden die Entwicklung des spekulativen Denkens 4 als Suche einer Schau, die über die Partikularität (bzw. die empirisch instanziierte Konkretion) des Bekannten hinausgeht, um den Horizont selbst des Denkens und des menschlichen Zusammenlebens zusammenzufassen. 5 Die Suche einer Mathesis universalis entspricht dem Vorrang einer prôtê Epistêmê, ohne dass eine solche prôtê Epistêmê, eine solche erste primitive Wissenschaft ihrerseits der Metaphysik entspräche. Die prôtê Epistêmê, die erste – qua gesuchte (zêtoumenê) – Wissenschaft, besteht in der Suche selbst einer solchen Mathesis. Nach dem Ende der Metaphysik, nach der Öffnung von ganz neuen Perspektiven des Wissens, bleibt der erste Zweck einer prôtê Epistêmê bzw. des reinen Denkens immerfort die Suche einer solchen Mathesis. Was aber nun das Ende der Metaphysik (trotz ihrer nostalgischen Erneuerungen, die uns noch eine Struktur der Welt à bon marché zu verkaufen suchen) radikal ändert, ist der Anfangspunkt einer 4 Vgl. D. Rabouin, Mathesis universalis. L’idée de mathématique universelle de Aristote à Descartes, Paris, 2009, S. 25: »Das Projekt einer Mathesis universalis ist entscheidend für das Projekt einer Metaphysik tout court.« 5 Herausragende Denker der Vergangenheit wie Descartes, Leibniz, Bolzano, Husserl sowie die Begründer des heutigen neuen Wissens wie Norbert Wiener (N. Wiener, Kybernetik, München, 1963 S. 33) und Ludwig von Bertalanffy (L. von Bertalanffy, Allgemeine Systemtheorie. Wege zu einer Mathesis universalis. In: Deutsche Universitätszeitung 5/6 1957, S. 8–12) denken den Orientierungspunkt der Mathesis universalis als Ziel eines spekulativen Ansatzes, der diesem Wissen eine neue Form geben kann.
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Einleitung
solchen Suche, die nicht mehr eine (mehr oder weniger vollständige) Sammlung von wissenschaftlichen Ergebnissen ist, sondern der primitive ursprüngliche Trieb der Suche selbst, d. h. die Frage. Die Frage ist das Moment, in dem das Denken sich zu dem Erfahrungshorizont öffnet in der Suche einer Antwort, und eo ipso muss die Frage der Anfangspunkt einer nicht metaphysischen Suche einer Mathesis universalis als universaler Wissenschaft sein. In der Frage verwirklicht sich die ursprüngliche Situation des Denkens bzw. des Erfahrens als Verhältnis mit seinem Horizont. Was wir »Spekulativ« nennen, ist genau eine solche invariante Situation als Anfangspunkt jeder Suche. 6 5. Die Schau, um die es in diesem Buch geht, ist die Schau einer nichtmetaphysischen Mathesis, die darauf abzielt, das menschliche Wissen jedem narzisstischen Privileg, das der Mensch sich zuschreibt, zu entwenden: der bevorzugte Gegenstand der Schöpfung Gottes zu sein oder mit einem ontologischen Vorrang [infra § 90] oder mit einem ethischen, geistigen Vorrang 7 gegenüber dem, was ihn umgibt, bestimmt zu sein. Die Überschreitung des Wissens und der Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Begriffs, d. h. in der Form der Epistêmê beruht konkret auf und entsteht aus der Sinnfrage (d. h. auf/aus der Nachfrage des Sinns) und ist folglich nur eine negative, privative Überschreitung. Um dies zu denken – das heißt eine Mathesis, die sich strukturell auf einer Nachfrage gründet und durch sie ihre Beschaffenheit findet – würde man eine grundlegende Umkehrung der gegenwärtigen Verachtung für die systematischen Leitfäden benötigen. Aber das Wort »Leitfaden« ist jetzt im Plural zu verstehen, als das Gerüst der Situation des Menschlichen selbst. Dieses Gerüst bringt die Epistême in Sicherheit vor jeglichem prophetischen Denken und führt sie zu seiner strengen und peinlich genauen Form zurück. Aber es führt sie zunächst zu ihrer originalen und ursprünglich vorphilosophischen, spekulativen Dimension zurück. 8 Vgl. u. Nachwort, Vom spekulativen Denken. Es geht hier grundsätzlich um die Grundthese jedes heutigen kryptotheologischen Ansatzes der Philosophie. 8 Es handelt sich hierbei um die einzige mögliche Weise, den Dialog mit anderen Kulturen wieder zusammenwachsen zu lassen. Solche Zivilizationen, auch wenn sie am Wissen der Menschheit arbeiten, haben letztlich keine Idee eines Zuganges zur Einheit des Wissens (welcher nur durch die Form der Metaphysik oder der westlichen Philosophie entsprochen wird). Es kommt darauf an, den Zugang zur Einheit des 6 7
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Einleitung
Im Grunde genommen wird es einem niemals gelingen, die Radikalität der Erforschung der möglichen Formen der Mathesis außerhalb des Spekulativen nachzuvollziehen, das die Öffnung des reinen Denkens der Formen und bestimmter Konkretionen des Wissens, unabhängig von den Ideen, um die sich die Philosophie Sorgen macht oder machte, charakterisiert. Das einfache Bewusstwerden des Erkenntnisausmaßes unserer Tage und seiner vielförmigen Morphologie weist bereits auf die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur »klassischen« Form der Mathesis hin. 9 Diese klassische Form der Mathesis universalis beruht auf der Idee einer teleologischen Entwicklung des Wissens durch die Sammlung von allen möglichen Wahrheiten (bzw. wahren Sätze) über die »Welt«, die ein Korpus werden können. Der Einbruch der Komplexität in die Wissenschaft (zuerst durch die negativen Ergebnisse des Determinismus und danach als positive wissenschaftliche Eigenschaft) erscheint für das spekulative Denken, das sich von der Hülle der Idee des Systems gelöst hatte, die Befreiung der Phänomene selbst und die Möglichkeit einer neuen Erkundung zu sein. Was die Komplexität aufhebt, ist die Idee, die eng mit der Idee des Systems selbst verwandt war, nämlich die Idee einer Erkenntnis des schlichten und reinen Gegenstands (objectum purum et simplex). 10 Wissens vom Vorbild der Philosophie (bzw. der Metaphysik) zu befreien, um zur problematischen Instanz zu gelangen, die jeden möglichen Zugang verbindet. Diese Instanz nimmt die Form der Frage nach dem Sinn an, die das Invariant jenseits der Zugangsformen bleibt. 9 Siehe hierzu F. De Buzon, Mathesis universalis. In: M. Blay – R. Halleux (Ed.), La science classique (XVI-XVIII siècle): dictionnaire critique, Paris, Flammarion, 1998, S. 610–621; J. Mittelstrass, The philosopher’s conception of mathesis universalis from Descartes to Leibniz, Annals of Science, 36, 1979: 593–610. 10 Unter Komplexität verstehen wir die Gesamtheit aller voneinander abhängigen Merkmale und Elemente eines gewissen Phänomens, die in einem vielfältigen, aber ganzheitlichen Beziehungsgefüge (System) stehen. Insbesondere wird unter »Komplexität« die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der Elemente und die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe verstanden. Ein komplexes Phänomen bestimmt sich durch ein Gesamtverhalten, das man selbst dann nicht eindeutig beschreiben kann, wenn man vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und ihre Wechselwirkungen besitzt. Das komplexe Phänomen ist deshalb kein (der paradigmatischen Form der Objektivität unterworfenes) Objekt. Vgl. C. Hooker, Introduction to Philosophy of Complex Systems. In: C. Hooker (Ed.), Philosophy of Complex Systems, North-Holland, 2011, S. 3: »The impact of complex systems on science is a recent, ongoing and profond revolution. But a few honorable exceptions, it has largely been ignored by scientists and philosophers alike as an object of a reflective study.«
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Einleitung
6. Was hat es mit einer Idee von einer Wissenseinheit auf sich, wenn dieses Wissen jegliche Objektivität verloren hat? Würde diese Idee ihre Gültigkeit behalten, wenn der Verlust von Objektivität nur lokal begrenzt wäre? Der Verlust von Objektivität geschieht nur, wenn man die Idee des Wissens auf der beschränkten Idee gründet, das heißt wenn man das Wissen als analytische Beschreibung des einfachen Sein des Bekannten versteht. Wenn es unmöglich ist, dem Bekannten eine Gegenständlichkeitsform zuzuschreiben, da die Form notwendigerweise ihre Grenzen hat (was nicht für jede Gelegenheit gilt), dann befindet man sich in einer äußerst besonderen Situation, über welche man häufig in den alten Ruinen der philosophischen Kathedralen spricht, aber über die man eigentlich fast »nichts« weiß. Was bedeutet es, eine Erkenntnis von etwas Nicht-Gegenständlichem zu haben? Und zudem vorher: Was ist ein Wissen von Etwas, das kein Objekt, kein Ding ist? Was gibt es Wahres an einer Aussage, die keine Hilfe mehr in der Natur der Dinge findet? Wenn man von positiver Wissenschaft spricht, ohne dieses Genre von Fragen gestellt zu haben, wiederholt man lediglich die alten Litaneien von einem nunmehr veralteten Paradigma, einem Paradigma, das jedoch in einem abgesteckten Rahmen den Menschen als Subjekt definiert hat. Das Individuum verfügte nicht nur über den (illusorischen) Glauben, ein Wesen zu besitzen, etwas Vorrangiges zu sein, sondern es hatte auch überdies den Glauben, der Verwalter der Evidenz seines Wissens zu sein. Die privative Situation belastet jedoch nicht nur die Stimmung des reinen Denkens angesichts dessen, was das positive Wissen war. Wenn aber diese Stimmung von dieser privativen Situation affiziert wird, kehrt es von einer noch intimeren Situation des Menschlichen selbst wieder zurück: Hier sind das Epistemische und das Existentiale (um zwei bloße Namen zu verwenden) nur die zwei Gesichter desselben Spekulativs. Allein das Spekulativ, genauer bezeichnet als Spiegelungsverhältnis zwischen dem Epistemischen und dem Existentialen, zeigt, was genau der Zweck des Denkens in der privativen Situation ist. 7. Die Form oder den Horizont der möglichen Formen der Mathesis als menschliche Erkenntnis zu umreißen und zu definieren, ist ipso facto der allerletzte Zweck des reinen Denkens. In diesem Sinne ist die Philosophie nicht die allererste Voraussetzung der Realisierung
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Einleitung
dieses Zwecks. Die Philosophie gehört (oder gehörte 11) der Bewegung des Wissens als eine spirituelle Figur an, weil sie die Perspektive dieser Bewegung selbst beschreiben kann (oder könnte). Eine solche Beschreibung besteht darin, die dynamische Organisation des Wissens im Raum der Schau wieder aufzuzeigen. Weit davon entfernt, die Königin aller Wissenschaften, eine unbewegliche Figur im Zentrum eines Palastes zu sein, repräsentiert sie heute nur etwas Ausgegrenztes. Diese Ausgrenzung bzw. Selbstausgrenzung ist allerdings nicht als eine Disqualifizierung zu bezeichnen, sondern als Bewusstsein darüber, dass die Philosophie auf die extremen Grenzen des Wissens wirkt und nur dort wirken kann. Das reine Denken, von den Bestrebungen metaphysischer Größe jeder Philosophie befreit, hat die Verpflichtung, den Horizont des Wissens als solchen zu entdecken.
Vgl. St. Hawking, The Grand Design, New York, 2010, S. 5: »Living in this vast world that is by turns kind and cruel, and gazing at the immense heavens above, people have always asked a multitude of questions: How can we understand the world in which we find ourselves? How does the universe behave? What is the nature of reality? Where did all this come from? Did the universe need a creator? Most of us do not spend most of our time worrying about these questions, but almost all of us worry about them some of the time. Traditionally these are questions for philosophy, but philosophy is dead. Philosophy has not kept up with modern developments in science, particularly physics. Scientists have become the bearers of the torch of discovery in our quest for knowledge.« Das Problem dieser These ist einfach: Der Tod der Philosophie (den man ohne irgendein Problem hinnehmen kann) zeigt keinesfalls, dass die (Beantwortung der) Grundfragen zu den Naturwissenschaften gehören, welche glücklicherweise für diese immun sind. Wenn der Wissenschaftler bemüht ist, auf solche Fragen zu antworten, betritt er den Horizont des reinen Denkens. Es geht hier gleichzeitig um die Aufhebung der Rolle der Philosophie und des schlussendlich unnützen Diskurses über diese Rolle selbst. Nun ist die Analyse von Prof. Hawking hinsichtlich ihrer Strenge und Tiefe nicht mit seinen Analysen im Bereich der Physik zu vergleichen. Amicus Plato sed magis amica veritas. Unserer Meinung nach erfasst Freeman Dyson die Sache auf brutalere Art und Weise, aber auch viel allgemeiner, nämlich ohne implizite Voraussetzung dessen, was die Philosophie aussagen sollte. Vgl. F. Dyson, What Can You Really Know?, Review of J. Holt, Why Does the World Exists? An Existential Detective Story, The New York Review of Books, 8, 2012. »contemporary philosophers […] are a sorry bunch of dwarfs. They are thinking deep thoughts and giving scholarly lectures to academic audiences, but hardly anybody in the world outside is listening. They are historically insignificant.« 11
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Einleitung
Quando in tua domo negri corvi parturient albas columbas tunc vocaberis sapiens! 12 Dieser alchemische Satz ist eine für sich selbst sprechende Aussage, jedoch nicht von der Art, dass man auf alchemistische Formeln, auf obskure Weisheiten (oder auf extreme Banalitäten) oder auf neue metaphysische Formen zurückgreifen muss, um zur Wahrheit zu gelangen. Der Satz deckt das Oxymoron selbst auf, demzufolge die Sophia bzw. die Mathesis durch rätselhafte Formeln, metaphysische »Griffe« von übersinnlichen Strukturen, ontologische Escamotages usw. nicht erreichbar ist. Wozu also die Philosophie, wenn die Sophia bzw. eine Mathesis universalis nicht im Sinne eines Besitzes denkbar ist? Hier zeigt sich der »Unsinn« der Philosophie, trotz ihrer institutionellen und kulturellen Legitimation. Nur durch ihre notwendige Aufhebung in der metaphilosophischen Situation kann die Philosophie noch das Spiegelkorrelat der Suche nach den Formen (oder den möglichen Formen) der Mathesis bleiben. 8. Wir müssen uns also jetzt die Verbindung zwischen den Reflexionen, die sich innerhalb der metaphilosophischen Situation entwickeln, und der Untersuchung über die Formen der Mathesis, die eine Aufhebung der Philosophie notwendigerweise voraussetzen (um andere Strukturen erscheinen zu lassen und andere thematische Felder jenseits der Philosophie zu öffnen), verdeutlichen. Die Öffnung dieser Felder wäre notwendigerweise von den mannigfaltigen inflationären Formen der Philosophie und in den Fragen versteckt. Es ist banal und beinahe unnütz, zu wiederholen, dass die »Metaphilosophie« keine besondere Lehre ist, die nach der Philosophie kommen kann oder die der Philosophie selbst übergeordnet wäre: Die Metaphilosophie ist beiden Interpretationen zum Trotz keinesfalls als strukturelle oder diachrone Überwindung der Philosophie zu verstehen. 13 Die Metaphilosophie ist nichts Substantivisches. Das »Metaphilosophische« ist eine Situation, eine kritische Schwelle. Es handelt sich um einen grenzwertigen Durchgang, die Situationsgegebenheit des non plus ultra, die in Erscheinung tritt, wenn man die Philosophie ausübt, »Wenn in deinem Haus schwarze Krähen weiße Tauben gebären werden, dann wirst du weise genannt werden!« 13 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. In Schriften, Frankfurt a. M., 1969, § 121, S. 344. 12
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Einleitung
indem man ihrer Entwicklung eine Orientierung überträgt, die nicht unbedingt in ihrem Begriff, in ihrem Ausdruck selbst enthalten ist. In diesem Sinne sind die metaphilosophischen Einwände schon ausgeschlossen, weil die Metaphilosophie zunächst grob nicht für eine Theorie gehalten wird. Anschließend ist die Metaphilosophie als Situation in jedem philosophischen Ansatz wirksam, der auf die eine oder andere Weise – unwichtig welche – die Idee der Philosophie selbst als rationale Praxis hervorbringt. Was »metaphilosophisch« ist, ist nur der Raum des befreiten Theôrein. Das Theôrein ist nun frei, befreit von einer sklerotischen und verhängnisvollen Idee, nach der alle Grundfragen des menschlichen Aufenthalts innerhalb der Phänomenalität auf »das Herz der Vernunft« konzentriert sind, wo sich eine auf die eine oder andere Art und Weise benannte Lehre befindet, die antworten kann. 14 In diesem Sinne ist die Situation des »Meta-« der Philosophie (und folglich die Situationen der Meta-Egologie, einer philosophischen MetaTheorie, der Meta-Ontologie und der Meta-Metaphysik) keinesfalls mit derjenigen der Metamathematik oder der Metalogik vergleichbar. Und genau eine solche Unvergleichbarkeit ist das, was einen spekulativen Ansatz fordert. 15 9. Die im ersten Buch synthetisch, im zweiten Buch analytisch dargestellten Untersuchungen folgen einer grundlegenden, spekulativen Bewegung, innerhalb derer sie sich auf dem Niveau derjenigen Fragen platzieren, die als Grundfragen zu bezeichnen sind oder waren. Durch diese Bewegung wird geklärt, auf welche Art und Weise ihr Unsinn, ihre Transversalität, Sinnhorizonte öffnet (genau aus dem Grunde, weil die Grundfragen weder interne noch externe Fragen im Carnap’schen Sinne, sondern transversale Fragen sind). Im Inneren dieser Sinnhorizonte schreitet das reine Denken in seiner Erforschung und in seiner Suche nach Formen (oder nach der Form) der Mathesis fort. Vgl. dazu C. Romano, Au cœur de la raison, la phénoménologie, Paris, 2010. Siehe hierzu, P. K. Moser, Metaphilosophy. In R. Audi (Ed.), Cambridge Dictionary of Philosophy, Cambridge, 2008, S. 561–562. Aber die Situation ist nicht dieselbe, wie wir mit Russell bemerken können [B. Russell, The wisdom of the West, London, 1959, S. 7]. Daraus folgt, dass wir bedeutsame Ansätze zur Metamathematik entwickeln können, im klaren Bewusstsein dessen, wovon wir reden, während wir keine Idee haben von irgendwelchen metaphilosophischen Ansätzen, da wir keine klare und deutliche Idee davon haben, was die Philosophie selbst ist. 14 15
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Einleitung
Da das erste Buch als Einführung zum zweiten dient, genügt es hier, diese Bewegung auf eine lakonische Art und Weise vorzustellen, die man im Laufe der Argumentationsstruktur sich ausbreiten sehen wird. Das Nachwort zu dem ersten Buch (Vom spekulativen Denken) kann als Übergang zwischen den zwei Dimensionen derselben Suche dienen und gelesen werden. Jede der vier Grundfragen unserer Suche – 1) »Was/wer bin ich?«, 2) »Was ist die Philosophie?«, 3) »τί τὸ ὄν«, 4) »Was ist real/ das Reale?« – führt durch ihre Annahme das »Subjekt der Frage« zu einer (privativen) Situation, die von Beginn ihrer Entwicklung und ihrer Erkundung an eine neue Dimension eröffnet. Nach dem Begreifen der Zweideutigkeit der ersten Frage gelangt man zur spekulativen Situation, deren Gliederung die meta-egologische Dimension entfaltet, im Inneren derer man gerade die egologischen Formen gemäß der egologischen Relativität der Formen der Selbstbeziehung erfährt (Meta-Egologie). Innerhalb und aufgrund dieser Relativität entsteht die zweite Frage. Nach dem Begreifen der Zweideutigkeit der zweiten Frage gelangt man zur metaphilosophischen Situation, deren Gliederung die metatheoretische Dimension entfaltet, im Inneren derer man gerade die Wissensformen als Theorien gemäß der epistemischen Relativität der Erschließungsformen zur phänomenalen Welt erfährt (Meta-Theorie). Innerhalb und Aufgrund dieser Relativität entsteht die dritte Frage. Nach dem Begreifen der Mehrdeutigkeit der dritten Frage gelangt man zur metaontologischen Situation, deren Gliederung die meta-ontologische Dimension ausbreitet, im Inneren derer man gerade die Ontologieformen gemäß der ontologischen Relativität der Erfassungsformen der eigenen Gegenständlichkeit erfährt (Meta-Ontologie). Innerhalb und aufgrund dieser Relativität entsteht die vierte Frage. Nach dem Begreifen der Zweideutigkeit der vierten und letzten Frage gelangt man zur meta-metaphysischen Situation, in der man die Erfahrung der möglichen metaontologischen Modelle macht, um das Reale in seiner Komplexität zu fixieren. Die Gliederung der letzten Situation breitet die spekulative Dimension aus, im Inneren derer man gerade die Mathesisformen gemäß der typischen Relativität 16 des Spekulativs selbst erfährt (Meta-Metaphysik).
16
Vgl. u. Vom spekulativen Denken [5. Das relative Spekulativ].
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Einleitung
10. Das Spekulativ wird durch die Verkomplizierung des Wissens nicht aufgelöst, sondern es vermehrt daraus seinen inneren Wert: Es festigt sich aus dem Bewusstsein der Unmöglichkeit einer »Struktur der Welt« (als allerletzte »Antwort«) heraus, ohne sich gleichzeitig zum Irrationalismus oder hermeneutischen Relativismus zu degradieren. Doch das Spekulativ überlebt auch außerhalb jeglicher metaphysischer Einstellung. Die Horizonte und die Dimensionen, so wie sie sich im Laufe der Untersuchungen öffnen und ausbreiten, sind nicht als Momente einer progressiven Konstruktion zu denken. Im Gegenteil, sie vereinen sich nicht, da sie eine Makrovision der Welt, gerade in diesem Spiegelungsspiel, in dieser Spekularität, abgeben. 17 Ein solches Spiel, eine solche Spekularität bezeugt die konstitutive Unmöglichkeit für die menschliche Intelligenz, zu einem allerletzten Erfüllungszustand ihres Suchens zu gelangen. In diesem Sinne wäre eine Koexistenz der Horizonte sinnvoller als eine Synthese: Der Erfahrungs-Horizont (oder der Existenz-Horizont) der spekulativen Situation ist nicht vom Horizont der Wissensformen aufgehoben oder aufgelöst. Diese zwei sind weder durch den metaontologischen Horizont synthetisiert, noch gelingt es diesem, auf eine synthetische oder architektonische Form der Mathesis reduziert zu werden. Aus diesen Gründen wird auf die deskriptive Methode der phänomenologischen Untersuchung zurückgegriffen. 18
Die Spekularität (Specularity) ist das optische Phänomen der Reflexion, die immer ein Rückbild im Sinne eines Spiegelbilds zurückgibt. Die Fachdisziplin der Optik, welche die aus dieser Spekularität bzw. aus jeder Spekularitätssituation des Schauens entstehende Form der Schau studiert und beschreibt, ist die Katoptrik, d. h. die Lehre von der Reflexion des Lichtes an spiegelnden Oberflächen. 18 Die hier entwickelten Untersuchungen gründen sich nicht auf die Voraussetzung einer absoluten, grundlegenden Gültigkeit oder auf einem Vorrang phänomenologischer Untersuchungen vor anderen Methoden. Wenn die Phänomenologie (noch) Glaubwürdigkeit hat, dann nur, weil sie sich als Befragungs- und Beschreibungs-Methode gewisser Situationen präsentiert (und weil sie noch eine Form der prôtê Epistêmê sucht) [vgl. dazu Kap. XIII, Fn. 12]. Die Nützlichkeit dieser Methode, die nicht auf homogene Art und Weise auf alle unsere Untersuchungen angewandt wird, manifestiert sich zunächst lokal, das heißt in der Umsetzung gewisser Erscheinungssituationen. Die mögliche Universalität und allgemeine Gültigkeit der Phänomenologie betrifft diese Arbeit nicht. Deshalb können gewisse Teile dieser Arbeit als phänomenologisch häretisch erscheinen. Das, was niemand verneinen können wird, ist, dass die Nützlichkeit der Phänomenologie in dem Faktum besteht, dass wir erfahren: Die Phänomenologie erweist sich als nützlich, zumindest auf den ersten Blick, um Erfahrungsformen auf eine klare Weise festzuhalten. 17
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Einleitung
11. Wir haben die fünf Kapitel des ersten Buches nicht als Tribut entwickelt: Die Form einer knappen Reflexion entspricht einem Bedürfnis. Wenn man die Form des naiven Denkens überholen will (in der wir uns alle bis zu dem radikalen Moment der definitiven Entscheidung zum Wissen befinden), wenn man sich einen Weg durch die entwaffnende Komplexität des Wissens, das man uns präsentiert, bahnen möchte, wenn man alles in allem eine methodische und dadurch rationale Form des Philosophierens vollziehen und nun dadurch eine Orientierung der Sinnfrage finden will, muss man in der ersten Person die Besinnung als radikale Befragungsform erfahren. Und dies muss man nicht zum Zwecke einer Art asketischer Lebensform oder eines Intellektualismus, sondern aufgrund eines Bedürfnisses von Gesundheit und angewandter Sauberkeit des Denkens (medicina mentis) erleben. Ohne dadurch irgendeine ethische Form des Denkens bestärken zu wollen (je gefährlicher ein Denken moralisch ist, umso mehr bahnt es sich einen Weg zur Wahrheit), muss man erkennen, dass es zwischen der Entwicklung des Lebens und des Philosophierens eine gewisse Korrelation gibt, eine Spekularität, die man niemals radikal genug hinterfragt. Wenn ein strenges Leben als Rettung vor der gegenwärtigen Bulimie, auf dieselbe Art und Weise wie die knappe Reflexion als Suche nach einer verschwundenen Strenge in der kulturellen und philosophischen Bulimie dient, die uns umkreist und charakterisiert, dann stellt diese knappe Reflexion einen Katharsismoment, einen mentalen Hygienemoment dar. 12. So wie man nach einem Abendessen, bei welchem das Gemurmel der Stimmen unsere Ohren schwächt und die vollkommene Stimmung in uns einen gewissen Ekel auslöst, das Bedürfnis nach gesunder Einsamkeit verspürt, genauso muss man in Anbetracht des Chaos auf dem gegenwärtigen Markt der philosophischen Ideen den Strenge- und Härtestatus erreichen. Die knappe, strenge Reflexion zeigt sich also nur noch als ein Symptom der Arbeitsbescheidenheit anstatt als Zeichen einer intellektuellen Überlegenheit. Für diejenigen, die in dieser strengen Darstellungsform das Zeichen einer Abwesenheit von analytischer Klarheit und einen Mangel in der Bestimmung der Strukturen sehen wollen, die dort (vielleicht zu sehr) synthetisch präsentiert sind, habe ich beschlossen, dem ersten Buch ein zweites, analytischeres und detaillierteres hinzuzufügen, in dem alles, was
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Einleitung
sich im ersten Buch befindet, einen angemessenen Darstellungsraum findet. 19 Diese zwei Formen entsprechen den beiden Pflichten gegenüber den Anderen: die Einfachheit durch eine kurze und klare Darstellung und die Strenge im Beweisen durch eine analytische, längere Annäherung. Allerdings bewahrt eine analytische Annäherung das Ergebnis langer Studien und einer langen Arbeit voller Reflexion und Sedimentierung vor der gegenwärtigen Mode, alles und irgendetwas zu veröffentlichen. Es gibt nichts Verhängnisvolleres für die Suche nach dem Wissen als die aktuelle Mode der Philosophie (und nicht nur der Philosophie), die daraus besteht, immer präsent zu sein, sich immer auszustellen, Kongress- oder Workshoptiere zu sein, alles zu veröffentlichen, was man denkt. Und dies nur deshalb, weil man etwas im wöchentlichen Rhythmus sagen oder veröffentlichen muss. Man wohnt also so der Geburt beinahe komischer Figuren bei, die nichts mit dem Wissen an sich zu tun haben, die sich auf ihr konstantes Erscheinen und auf ihre Überdarstellung, die Maßeinheit ihres Erfolgs, berufen (es geht hier ebenso um renommierte Akademiker wie auch um arme Nachahmer, deren Lust zu reden und zu erscheinen ihren geistigen Raum dominiert). Aber all dies ist nur eine Form des Narzissmus, die mit dem Wissen an sich nichts zu tun hat. 13. Der Verlust jeder Eitelkeit ist der Verlust des narzisstischen Refugiums der Identität des Philosophen, der glaubt, dass es unnötig sei, sein Leben selbst dem Wissen zu widmen und den Sinn dieses Lebens in Frage zu stellen. Dieser Philosoph verflüchtigt sich in seine rein technischen Übungen. Die Tatsache, sich hinter seinem Narzissmus der kleinen Diffe-
Vgl. G. W. Leibniz, Nouveaux essays sur l’entendement humain. In Philosophische Schriften, Bd. V, Berlin, 1885, S. 181/2: »Il faut (…) que l’esprit soit prépare par avance et se trouve déjà en train d’aller de pensée en pensée, pour ne se pas trop arrêter dans un pas glissant et dangereux. Il est bon pour cela de s’accoustumer généralement à ne penser que comme en passant à certaines choses, pour se mieux conserver la liberté d’esprit. Mais le meilleur est de s’accoustumer à procéder méthodiquement et à s’attacher à un train de pensées dont la raison et non le hazard (c’est-à-dire les impressions sensibles et casuelles) fassent liaison. Et pour cela il est bon de s’accoustumer à se recueillir de temps en temps, et à s’élever au dessus du tumulte présent des impressions, à sortir pour ainsi dire de la place où l’on est, à se dire: dic cur hic? Respice finem, où en sommes nous? Venons à propos, venons au fait!«
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Einleitung
renzen 20 zu verstecken, welcher das Ego des Philosophen schützen und ihn am Ufer bleiben lassen könnte, ist nichts anderes als das Zeugnis eines endgültigen Schiffbruchs, das aus dem Entsetzen, sich jeglicher Entdeckung zu verpflichten, besteht. Jeder Gelehrte, der eines Tages den Anblick (oder einfach die Ankunft) von Migranten erfahren hat, jeder Gelehrte, der persönlich die Desorientierung des Migranten erfahren hat oder der dem Schiffbruch entkommen ist, weiß, dass er trotz der bequemen Situationen, trotz der kolossalen Bibliotheken oder der eleganten Akademien (durch die er sich bestärkt und beruhigt fühlt) nie vor dem Schiffbruch sicher ist. Denn der Schiffbruch ist nicht nur außen erlitten worden, sondern auch innen, gemäß einer mehr als singulären figurativen Symmetrie. Der Schiffbruch stellt sich dem Menschen als extreme Möglichkeit dar und ist viel authentischer als der Tod. Ein Gelehrter (als Mensch) kann sich niemals vor dieser Möglichkeit schützen. Der Schiffbruch passiert dort, wo es Entdeckung zu machen gibt. 21 Nur in diesem Sinne, im Sinne einer Entdeckung, eines Triebs, der immer an erster Stelle steht, kann das Denken, jenseits jeglicher Eitelkeit, den überschüssigen Status einer prôtê Epistêmê einholen. Der Erkundungstrieb ist die elementare Situation des Menschen. Nun ist die Erkundung des Horizonts der Epistêmê nicht weniger gefährlich oder weniger ausschlaggebend als eine geographische, physische Erkundung. Denn als Synthese der menschlichen Desorientierung angesichts der Leere seiner Bestimmung riskiert sie dennoch den Schiffbruch, ist sie eine Situation, für die – glücklicherweise! – nicht der berühmte Ausruf gilt: »Ihr, die ihr gesichert lebet in behaglicher Wohnung!« Der Gelehrte kann nichts anderes tun, als nie zu vergessen, dass er als Mensch, was er auch tut und was er auch ist, der Möglichkeit zum Schiffbruch ausgesetzt ist. Es ist dieses Gefühl, das jenseits von jedem Truthmaker das, was er tut, »wahr« macht. Das heißt, es ist das Gefühl, sich auf demselben Menschheits-
Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930. In Gesammelte Werke und Schriften, 14, London, 1991, S. 474. 21 P. Levi, zitiert in Into the wild, [J. Krakauer]: »The sea’s only gifts are harsh blows, and occasionally the chance to feel strong. Now I don’t know much about the sea, but I do know that that’s the way it is here. And I also know how important it is in life not necessarily to be strong but to feel strong. To measure yourself at least once. To find yourself at least once in the most ancient of human conditions. Facing the blind death stone alone, with nothing to help you but your hands and your own head.« 20
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Einleitung
niveau der Letzten, der Ausgestoßenen zu befinden, im Bewusstsein dessen, dass es kein Menschheitsniveau gibt. * * * Diese Arbeit hat seit dem Jahre 2001 von der freundschaftlichen Hilfe und dem Rat zahlreicher Personen profitiert, welchen ich zu tiefem Dank persönlich verpflichtet bin. Jedoch beinhalten die kommenden Ausführungen dieser Arbeit nichts Persönliches, rien de personnel. Der Leser wird infolgedessen keinerlei Bezug zur Person des Autors finden, eine kleine Fußnote im zwölften Kapitel ausgenommen (die jedoch nur aus dem Grunde einer ökonomischeren Darstellung erfolgt). In einer solch langen Zeit (2001–2015), habe ich einige Ideen gefunden, die schon in anderen sehr anspruchsvollen Studien erarbeitet hatten (ohne dass ich mit dessen bewusst gewesen wäre). Solche Studien haben mich veranlasst, die Forschung weiter zu verfolgen. Wichtig erscheint mir zunächst das IMI (Interrogative Model of Inquiry) für alles, was die Logik der Frage betrifft. Anschließend hat die Theorie der Pluralität des Selbst, auf analytische Art und Weise von Th. Metzinger (Being no one) beschrieben, bestätigt und untermauert, was man phänomenologisch als hybride Selbstbeziehung angenommen bzw. vermutet hatte. Jedoch stellt sich eine phänomenologische Interpretation gegen die Grundthese eines Ego-Tunnels (als grober Reduktionismus), da das Ich kein Tunnel, sondern Horizont ist. Die Idee einer Dynamik der Theorien, phänomenologisch ausgearbeitet, hat anschließend einen sehr berühmten Vorgänger im Werk von W. Stegmüller gefunden. Das meta-ontologische Modell des XI. Kapitel wurde schon in Geometry and Meaning 22 ohne ihre spekulativen Absichten, jedoch mit einer sehr scharfsinnigen Struktur bestimmt. 23 Aber das Buch, das dieser Untersuchung über die Möglichkeit einer Mathesis universalis als universal primitive Wissenschaft ihre allgemeine Orientierung verschafft hat, ist La nouvelle alliance (Dialog mit der Natur) von I. Prigogine und I. Stengers:
Vgl. D. Widdows, Geometry and Meaning, Stanford, 2004. Für die Verortung der Analysen in dem Horizont der gegenwärtigen Forschung, siehe das Vorwort zu dem zweiten Band.
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Einleitung
»Unsere Wissenschaft wird sich zu dem Universalen öffnen, wenn sie aufhören wird, mit dem Versagen, mit dem sich-für fremd-halten, zu den Sorgen und zu den Befragungen der Gesellschaften, in der sie sich entwickelt, wenn sie endlich fähig wird eines Dialog mit der Natur, deren mannigfaltige Bezauberung sie schätzen könne, und eines Dialog mit den Menschen aller Zivilisationen, deren Fragen sie beachten könne«. 24
Ist eine solche Öffnung der Wissenschaft zu dem Universalen nicht dieselbe, die Hegel und sogar schon Kant in der Kritik der Urteilskraft anerkannt und als Spekulativ benannt haben? 25 Diese Arbeit wurde primär unabhängig von der Erpressung der kommenden Jahre verfasst, das heißt unabhängig von der »Erpressung der Zukunft«, eine Erpressung, welche alle menschlichen Gefühle affiziert. Sie wurde im Geiste einer Entdeckungsreise, im Sinne des folgenden Zitats von Proust verfasst: »Le seul véritable voyage, le seul bain de Jouvence, ce ne serait pas d’aller vers de nouveaux paysages, mais d’avoir d’autres yeux, de voir l’univers avec les yeux d’un autre, de cent autres, de voir les cent univers que chacun d’eux voit, que chacun d’eux est.« 26 Hier ist genauso die Identität zwischen dem Jenseits des Bekannten und dem Jenseits des Gesehenen klar, wie das, was im Zentrum des Chiasmus, zwischen der Öffnung der Schau bzw. der Erkenntnis und der Entdeckung neuer Landschaften steht: sein Kern. Was diesen Chiasmus formuliert, sein Kern, ist nur der unbezähmbare, radikale, gewalttätige und vielleicht illusorische Trieb, auf der Suche nach etwas über das Erscheinende hinauszuwachsen: die Istoria. Dieses Etwas ist die Antwort auf dieselben Fragen, die wir uns alle stellen: »All he’d wanted were the same answers the rest of us want. Where did I come from? Where am I going? How long have I got?« 27
Dieses Werk gründet sich auf der Hoffnung, welche außerhalb der Vanitas fortbesteht, Spuren des Denkens zu hinterlassen, ohne dabei der Hoffnung als Selbstbehauptungs- oder als Anerkennungsmittel zu dienen, oder die Vanitas von irgendjemandem erleichtern zu können. Dies kennzeichnet ipso facto die Notwendigkeit zur Demut. 24 I. Prigogine – I. Stengers, La nouvelle alliance. Metamorphose de la science, Paris, 1979, S. 52. 25 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg, 1991, § 55, S. 139. 26 M. Proust, La Prisonnière, Paris, 1925, S. 69. 27 Vgl. H. Fancher – D. Peoples, Blade Runner, Movie Script, 1982.
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Einleitung
Denn die Spur als solche ist nur für jemand anderen, im Dienste von jemand anderem, sehr wahrscheinlich unbekannt, sobald derjenige, der sie hinterlassen hat, schon im Zufallsnebel verschwunden ist. Was bis zu diesem Verschwinden bleibt, ist der Geist der Erkundung und einer immer neu gesuchten Öffnung der Schau.
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»Τί οὖν ποιήσεις φιλοσοφίας πέρι; πῇ τρέψῃ ἀγνοουμένων τούτων;« Platon, Parm., 135 c
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Kapitel I status quaestionis
Dic cur hic? Respice finem. 1 Auf dem halbem Weg des Menschenlebens eines jeden geschieht es manchmal, dass man sich fragt: »Was machen wir gerade? Wozu all die Bemühungen? Waren unsere Entscheidungen die richtigen? Haben wir den rechten Weg genommen? Sind wir zu langsam gegangen und haben uns von unserem Ziel, insofern das Leben gezwungenermaßen eines haben muss, ablenken lassen? Haben wir uns letztlich nicht von dem täuschen lassen, was zu tun war?« Es geht nicht um eigene Fragen der Philosophie, sondern um Fragen, die dem gewöhnlichsten Menschen erscheinen (da wir schließlich alle gewöhnliche Menschen sind). Doch das kommt vor und muss vorkommen, wenn sich der Philosoph oder ganz einfach eine Person in ihrer Jugend öffentlich dazu entschieden hat, die Erkenntnis zu suchen und – genau genommen – nichts außer Frage stehen zu lassen; nichts, das nicht das Siegel der Evidenz und der Wahrheit trägt. Was machen wir gerade an diesem Punkt, an dem wir sind? Woraus besteht »unser Philosophieren« heutzutage genau, in unserer leibhaften Gegenwart, unter den Bedingungen, welche diejenigen sind, die von der heutigen generellen Praktik des Wissens determiniert sind? Jetzt ist die Notsituation, die Descartes in Verbindung mit der Suche nach der Wahrheit, für welche die Philosophie als Vehikel dienen sollte, beschreibt, noch größer geworden und erweitert sich zur einfachen Verständnisfrage der Philosophie selbst. Es geht um die Frage nach dem Sinn dessen, was man zu guter Letzt ausübt. Wenn man wissen will, was die Philosophie ist, und begreifen will, was man heutzutage lesen müsste, um schlichtweg einen Hinweis zur Sachlage der Philosophie und zu ihren Problemen zu bekommen, müsste man – angesichts des »Haufens so dicker Bücher« – mehr als tausende Male »unserer Lebenszeit für die Lektüre« auf1
Vgl. G. W. Leibniz, loc. cit.
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Kapitel I status quaestionis
wenden und »man benötige mehr Geisteskraft, um das Brauchbare herauszusuchen, als um es selbst herauszufinden« 2. Die Menge der Publikationen vervielfachen sich, die Spezifikationen nehmen rasch zu. Das ist an sich nichts Schlechtes, doch muss man erkennen, wohin dieser maßlose Erweiterungsvorgang führt: nicht zum Wissen, sondern zu den selbst-interpretatorischen Formen und Selbstfeiern der Praktik der Philosophie, welche sich präjudiziell für »technisch« hält und feiert. Im Grunde genommen glaubt man, dass das Nachäffen des intimen Lebens der Wissenschaft für eine immer oberflächlicher und kurzsichtiger gewordene Befragungspraktik ausreicht, um sich auf den Rang des Wissens zu erheben. Eine schöne Illusion, mehr nicht. Dies ist allein deshalb eine Illusion, weil ein Forscher in der Philosophie, der den Trieb zu einer Philosophie im kosmischen Sinn verkennt, die zentrale Verantwortung der philosophischen Berufung betrügt: sich »auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« 3 zu beziehen. Dieser sehr würdevolle Satz spricht von der zentralen Verantwortung der Berufung der Philosophie, indem er voraussetzt, dass sie eine invariante Charakteristik aufweist – ein anerkanntes Ideal für diejenigen, die sich öffentlich zur Suche nach der Erkenntnis bekennen. Aber eine sowohl neuscholastische als auch technische und technisierte Philosophie hat nicht nur ihre kosmische Rolle betrogen und aufgegeben, sie hat sogar jede Bedeutung des Suchens vergessen und macht daraus von nun an (fast) ein Spottobjekt. Im Grunde genommen müsste man an diese beiden Seiten, die der technischen Bedeutung und die der kosmischen Bedeutung des Philosophierens, nicht wie an zwei Seiten derselben Medaille denken, sondern schlichtweg wie an zwei Ufer eines mit Wasser überschwemmten Flusses. Wenn eine der beiden Seiten nachgibt, verliert der Lauf des Flusses seine Physiognomie, indem er die Felder überströmt und in diesem Fall alles ein Sumpf wird. Jedoch ist das technisierte Abdriften der Philosophie gefährlich, weil eine solche Praktik des Denkens seine wahre kosmische Bedeutung vergessen lässt, die spirituelle Bedeutungen schöpfen sollte. Es handelt sich um die Suche »anderer« Bedeutungen, die als Residuum
Vgl. R. Descartes, La Recherche de la vérité par la lumière naturelle, Würzburg, 1989, S. 31. 3 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Immanuel Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin-Leipzig, 1900 sgg., 29 Bde., III-IV, B 867 – A 830. 2
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Kapitel I status quaestionis
nach der totalen Ausschöpfung kleiner Fachgebiete (welche bis zum Auslaugen des Gebiets führt) bleiben und erscheinen können. Gleichermaßen stellt sich eine einfache philosophisch-kosmische Praktik der Philosophie, von der wissenschaftlichen Strenge losgelöst, als ein mystischer und irrsinniger Abdrift dar, völlig konzentriert darauf, »tiefe« Worte durcheinanderzubringen, die jedoch nichts anderes als einen dumpfen, unangenehmen und langweiligen Klang haben. 4 Die Wahrheit besteht vielleicht in etwas anderem, nämlich in der Unmöglichkeit einer substantiellen und messbaren Beziehung zwischen den beiden Praktiken bzw. Aspekten (die technische und die kosmische), da die eine, in einem sehr feinen Mechanismus oder in einem extrem mächtigen (dennoch extrem fragilen) Spiegelungsspiel, als Spiegelbild der anderen sich erweist. Die Fähigkeit, dieser Spiegelung zuzuschauen, diese zu kennen, dieser beizuwohnen, ist nicht nur wichtig für den Philosophen – der nur ein Individuum ist, das sich selbst als Philosophen darstellt, unwissend, am Anfang nie wissen könnend, worum es schlussendlich geht (und gehen wird). Von dieser Fähigkeit hängt das Leben des Wissens selbst ab, aber nicht weil dieser mysteriöse Gegenstand die Philosophie, die Krönung der Wissenschaft oder eine souveräne Theorie darstellt. Von dieser Fähigkeit hängt das Leben selbst des Wissens und jeder Wissensform einfach deshalb ab, weil die »Tathandlung« des Wissens seine Erfüllung in einer Diskrepanz findet, nämlich in der Diskrepanz zwischen Antworten und Grundfragen. Diese sind tatsächlich die Grundfragen, die sich jedes Individuum, welches sich zu einem Leben zum Wissen verpflichtet hat, stellt. Der Ort dieser Diskrepanz nimmt den Namen des reinen Denkens an, des radikalen Denkens, als von jeder Etikette, von jeder Projektfinanzierung, von jeder Konferenz, von jeder Veröffentlichung, von jedem »Prestige« unabhängig. 5 Der Ort dieser Diskrepanz ist, wenn man so will, der Weg, den wir als Individuen jeweils nehmen müssen, um in die universelle Be-
4 Vgl. M. Heidegger, Schelling. Vom Wesen der Menschlichen Freiheit (1809), GA 42, Frankfurt a. M., 1988, S. 102: »Nach der einen Seite wird Philosophie eine Art Fachwissenschaft, nach der anderen ein ungebundenes Schweifen in Begriffen als bloßen Zeichen; jedes Mal wird der eigenen und einzigartigen Wahrheit der Philosophie ausgewichen. Kein Wunder, daß die Philosophie entmachtet ist, wo sie selbst glaubt, vom Selbstmord leben zu können.« 5 Siehe hierzu M. Heidegger, Nietzsche, I, GA 6/1, Frankfurt a. M., 1996, S. 562.
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wegung des Wissens zu gelangen, besser gesagt, um im offenen Meer navigieren zu können. Jeder von uns öffnet sich einem Leben zum Wissen, beherzigt die persönlichen Motivationen, indem man sich trifft, indem man Geschehnisse hinnimmt. Was all diese persönlichen Besonderheiten zusammenhält, kann nur durch das radikale Denken herausgefunden werden: nämlich die unveränderliche Beziehung, die den Ausgangspunkt und die allumfassende Bewegung des Wissens selbst zusammenhält. Eine solche Situation kann nur umgesetzt werden, indem man vortäuscht, einen konkreten Weg zu rekonstruieren, indem man dennoch die Universalität des Weges selbst, die Universalität jedes Weges, jeder Entdeckung, verheimlicht. Paradoxerweise kann – einer sehr scharfsinnigen, in unseren Existenzen versteckten Ironie folgend – das, was das »Wahrste« ist, das Authentische schlechthin (als Epistêmê), durch eine Fiktion (bzw. eine narrative Konstruktion) gründlich wieder ersonnen werden. 6 Wir schauen uns um, und um diese Konstruktion zu inszenieren, wählen wir den Ausgangspunkt einer Lebenserfahrung, die sich am Wissen orientiert (das hypo- der epi-stêmê). Warum das menschliche Wissen? Warum die Wissenschaft? Warum gibt sich der Mensch so viel Mühe und strengt sich an, sein Wissen zu erschaffen und auszubauen? Weil das Wissen, in seiner Einheit erfasst, in seiner Bewegung, nur der Ausweg aus einem Instinkt ist und, genau genommen, der Instinkt, auf die Fragen zu antworten, welche die Individuen betreffen. Diese Fragen betreffen den Menschen und sein In-der-WeltSein, 7 die Individuen und ihre (gemeinsame, wie auch individuelle) Erschließung der Phänomenalität, der Ereignisse, deren Sinn sie nicht begreifen. Die Individuen fragen nach einem Sinn der Phänomene und der Ereignisse, einem Sinn, der ihre kosmische Nudität verkleidet oder verkleiden könnte. Jetzt hat sich das Reale, dem die Individuen (und wir selbst) ausgesetzt sind, ohne sich dort einen Sinn vor Augen führen zu können, der nicht fiktiv wäre, in seiner völligen Komplexität manifestiert. Einer Komplexität, welcher die Wissenschaften zu folgen begonnen haben und welche sie auf bewundernswerte Art und Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia. In Oeuvres Complètes, Paris, 1996, 11 B.de, Bd. VII, S. 22: »[…] illasque aliquandiu omnino falsas imaginariasque esse fingam […]«. 7 Siehe hierzu M. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, Frankfurt a. M., 1977, §§ 12–13. 6
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Weise lokal entschlüsseln (was der technisierten Philosophie gar nicht bewusst ist). Ist man sicher, dass es einem sogar gelingen könnte, die explodierende Wirklichkeit in ihrer völligen Komplexität mit den zeitgenössischen Versionen des Universalienstreits, der fiktiven Entitäten, der möglichen Welten, der Debatten über den konzeptuellen und nicht konzeptuellen Inhalt der Wahrnehmung, der Vorstellung vom »Ereignis des Anderen«, des ähnlichen Abdriftens der Hermeneutik in ihrem letzten Verfallsstadium zu verstehen und zu fixieren? Macht es richtig Sinn, zu fragen, ob der Klimawandel, die Wirtschaftskrisen, die Wechsel der Souveränitäts- und Emanzipationsformen de re oder de dicto sind oder ob es davon Universalien etc. gibt? Ist das nicht das Symptom einer leeren und vollständig selbstbezüglichen Metaphysik? Schließt die Tatsache, einen epistemisch scharfsinnigen Blick auf die Phänomenalität oder auf gewisse Typen der Phänomenalität zu haben, wirklich mit ein, die Forderung einer Synopsis aufzugeben? 8 Wie können wir auf strenge Art und Weise die »philosophischen« Fragen stellen, die heute auf den Titelblättern der Zeitungen stehen, etwa die der nachhaltigen Entwicklung, die des Klimawandels, die der Arten- und darin inbegriffen die der Menschenwanderung, die des Auslöschens von jedem Sinn des menschlichen Zusammenlebens in und mit der Natur, die der Wirtschaft oder auch die des Verhältnisses zwischen diesen Themen? Muss man gezwungenermaßen ein Philosoph der- werden (zuzüglich fünf oder sechs Spezifizierungen)? Sind wir uns wirklich sicher, dass es uns gelingt, den Schleier der Illusion herunterzureißen, welchen das globale System um uns herum errichtet hat, kritische Instanzen auf unserer Schau der alltäglichen Barbarei, die uns umfasst, auszulöschen und dieses globale System mit veraltetem Werkzeug der Philosophie, in Form von neuer Metaphysik, 9 die uns zur Verfügung gestellt ist, denken und verändern zu können? So wie sie erscheint, um die alten Ideen oder die 8 Vgl. W. Sellars, Philosophy and the scientific image of man. In Science, Perception and Reality, London, 1963, S. 3: »And there is a place for specialization in philosophy. For just as one cannot come to know one’s way around in the parts, so one can’t hope to know one’s way around in ›things in general‹, without knowing one’s way around in the major groupings of things. It is therefore, the ›eye on the whole‹ which distinguishes the philosophical enterprise.« 9 Vgl. P. van Inwagen, Metaphysics, Boulder (CO), 2002, II ed.; E. J. Lowe, The FourCategory Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science, Oxford, 2006; D. M. Armstrong, A World of States of Affairs, Cambridge, 1997.
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verwaschenen Streitereien zu erneuern und um einem hyper-beschleunigten Produktionsrhythmus zu folgen, ohne Ablagerungen, ohne Rückzug, verliert nicht nur die Philosophie ihren Kontakt mit dem Wissen und den Wissensformen (die anfangen, die Phänomenalität innerhalb dieser Komplexität zu beschreiben), sondern sie verliert sodann auch den Kontakt, den die Erkenntnis als solche, auf radikale Art und Weise, mit dem Instinkt, der ihr eigen ist, verbindet. Man könnte Folgendes als Abhilfe vorschlagen, welches als Allheilmittel für alle Leiden einer a-synoptischen, kurzsichtigen Öffnung zum Wissen geschätzt wird: die Interdisziplinarität (bzw. Transdiziplinarität). 10 Es wäre einfach genug, nur viele kleine Kompetenzen zusammenzusetzen, genährt durch die fordistische extreme Teilung der wissenschaftlichen Arbeit, um die große Öffnung des Geistes über die Komplexität des Realen zu veranlassen. Unglücklicherweise summieren sich mehrere kleine, lähmende Visionen nicht derart auf, dass man als Ergebnis die Öffnung des Horizonts des Denkens und das, was auf radikale Art und Weise denkwürdig ist, erhielte. Die Notsituation einer auf rhapsodische Art und Weise umgesetzten Interdisziplinarität, welche sich fast durch Zufall zusammensetzt (wie diejenige, die von den Wissenschaftlern von unterschiedlicher Herkunft propagiert wird), ähnelt ein wenig den Witzen, bei denen man so zu erzählen beginnt: »Da sind ein Franzose, ein Italiener, ein Deutscher und ein Engländer … Der Franzose sagt … Der Deutsche antwortet …«. Man verbleibt hier in einer Notsituation, vergleichbar mit einer Erbschaft, mit welcher man nicht umzugehen weiß. Warum jedoch muss man sich um jeden Preis einer solchen Notsituation entziehen? Gerade hier, in der Stille, die herrscht, nachdem der Lärm der Verkäufer der Antworten sich verzogen hat, kann das reine und radikale Denken erwachen. Die Aufgabe des Denkens – in dieser Notsituation und in dieser überwältigenden Stille – besteht nur darin, die Verwurzelung jeglicher Wissensform in der Bewegung des universalen Wissens, im fundamentalen Instinkt der Erkenntnis zu erkennen: die Frage nach dem »Sinn«. 11 Würde es also nicht genügen, neu zu fragen, den Sokratismus in der Technisierung des Gedankens wieder zu übersetzen, das Fragen selbst in eine Maschine zu implementieren, welche die J. Mittelstrass, Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanzer Universitätsreden (214), Konstanz, 2003. 11 Vgl. Th. Nagel, Über das Leben, die Seele und den Tod, Hain, 1984. 10
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Möglichkeit der Antworten, gemäß der Spieltheorie, durch einen Algorithmus berechnet? Was sonst müsste man befragen? Es wäre an der Zeit, die Fragen selbst und diese »Grundfragen«, die nichts anderes sind als theoretische Deklinationen der »Sinnfrage« der Menschheit, zu hinterfragen. Doch dieses Hinterfragen muss auf der Ebene des Muts zur Wahrheit, welcher in jeder absoluten Notsituation notwendig ist, stattfinden: der Mut zur Wahrheit, der Mut, eventuell zu erkennen, dass diese Fragen keinen Sinn haben. Es ist klar, dass jedermann nach dem »Sinn« seiner Existenz und zugleich der Welt, seines einen oder anderen Seins fragt, und es ist klar, dass diese »Frage« ihre Form nicht nur als »unpersönliche theoretische Frage« findet: Wir fragen immer und stets nach dem Sinn unseres eigenen »In-der-Welt-Seins«. In jeder Hinsicht wird eine solche Frage durch unsere Wunschformen, durch unser soziales und politisches Handeln, durch unsere verschiedenen Lebensformen artikuliert. Wir handeln und leben in der Hoffnung, dass dieses Handeln oder diese Lebensformen ihren grundlegenden Sinnmangel selbst erfüllen könnten. Das Fragen (bzw. das theoretische Fragen) ist auch eine Form dieses Handelns, es entsteht aus dem Handeln in den Lebensformen. Das Individuum handelt aufgrund der Sinnfrage und der (womöglich illusorischen) Voraussetzung, dass, wenn auch gewissermaßen versteckt oder verdrängt, dennoch ein Sinn zur Verfügung steht, dass es irgendwo einen Sinn geben muss (unbeweglich stehend im Äther unserer persönlichen Kosmologien). Die Sinnfrage findet allein deshalb ihre theoretische Deklination in den »Grundfragen« oder in als »grundlegend« betrachteten Fragen, weil jede Frage ihrerseits eine Nachfrage ist, z. B. eine Gewissheitsfrage, eine Informationsfrage, eine Nachfrage, um beruhigt zu sein usw. Omnis quaestio est petitio. Jede Frage ist ein Akt, der es anstrebt, eine Leere zu füllen – unabhängig von der Natur des in Frage gestellten Gegenstands. Es geht hier um diejenigen Fragen, welche die Menschen unbedingt für grundlegend halten, um ihr Dasein auf der Erde zu verstehen, um einen Sinn für ihr In-der-Welt-Sein zu haben, um einen Sinn für ihre Erschließung zu den Phänomenen zu haben, um einen Sinn zu haben, der ihre kosmische Nudität verkleidet. Einzig und allein wenn man solche »Grundfragen« anspricht, wenn man diese Fragen auf neue Art und Weise anspricht, kann man die Verwurzelung des universalen Wissens in seiner nackten Eigenart der Existenz wieder ergreifen. Doch diese »neue Art und 38 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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Weise« besteht nicht – oder nicht notwendigerweise – in der Forschung oder der Ausarbeitung eines Wissenssystems, welches schlussendlich als Antwort dienen könnte. Zu denken, dass die Wissenschaft auf die Grundfragen antworten muss, nur weil sie sich als letzte Instanz derselben Fragen herausstellt, entspricht einem schweren Missverständnis. Die Wissenschaft als solche hat ihren Ursprung in der Sinnfrage gefunden, da jeder wissende Mensch genau »wissend« geworden ist, weil er auf die eine oder andere Art und Weise versucht, auf diese Frage zu antworten, weil er auf seine Art und Weise den Weg durchläuft, der die sinnlose Individualität an die universelle Bewegung des Wissens zusammenhielt und -hält. Aber dies bedeutet nicht, dass eine sich ausbreitende Wissenschaft, welche sich an der Grenze des Sichtbaren verliert, die Verwurzelung in dieser Frage verloren hat, weil sie nicht den umgekehrten Weg bestreitet. Der Ozean hat seinen Sinn nicht verloren, nur weil er nicht in die Flussbetten zurückkehrt. Die Tatsache, dass die traditionelle Philosophie unfähig geworden ist, diese Verwurzelung zu erfassen, gründet sich auf der Idee einer Konstruktion des Weltsystems als Antwort auf die Sinnfrage und auf die als grundlegend betrachteten Fragen, welche sich als unangemessen und unmöglich erwiesen hat. Nun aber kann sich ein neuer Weg, um diese Verwurzelung wieder zu ergreifen, nur an der historischen und theoretischen Grenze einer solchen Philosophie befinden. Man muss also diesen einleitenden Weg durchlaufen, diese Schwelle bewohnen, indem man auf die ganze Philosophie verzichtet – das heißt nun, indem man sich von jeder Zugehörigkeitsbemühung zur traditionellen Methode der Philosophie absondert, ihren Schulen und dem Evidenzkriterium, mit welchem es ihr niemals gelungen ist, zu prunken. Dahin kommt man nur, wenn man an der Sache des Fragens selbst festhält. Aus diesem Grund haben wir entschieden, diesen Ansatz des Fragens auf phänomenologische Art und Weise weiterzuentwickeln, ohne jegliche Befürchtung, gewissen Philosophen zu missfallen, die sich für die Verteidiger der »wahren Phänomenologie« halten, entweder als Verteidiger des Gedächtnisses des Gründungsheiligen und seiner Doktrin gegen den Irrglauben oder als die radikaleren Erneuerer. Gleichermaßen tun wir dies ohne irgendeine Befürchtung des Missfallens derjenigen, die sich aufregen oder schmunzeln, wenn sie auch nur jemanden von der »Phänomenologie« reden hören, als ob die Suche nach der Wahrheit schlussendlich in einem Gütesiegel liegen 39 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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könnte. Diese nutzt man bei Autos, bei Haushaltsgeräten, man gibt ein Rating für Völker ab, doch ist man noch nicht bei einem solchen Genre der Verdummung auf der Suche nach dem Wissen – trotz allen gegenteiligen Bemühungen – angelangt. Der phänomenologische Ansatz der Beschreibung des Fragens ist nur das Werkzeug, welches wir in der Situation äußerster Armut jeglichen Philosophierens haben, wie zwei Steine, die dazu da sind, ein kleines Feuer zu entfachen, damit wir unseren Weg fortsetzen, die Nacht entdecken und im Morgengrauen des Folgetags ankommen. Dieser Ansatz kann also nur in einer einfachen Analyse unserer »intentionalen Sprache« bestehen oder, exakter formuliert, in der »intentionalen Sprache« der Fragen selbst, nicht nur am Werk der überkomplexen Befragungen, welche die Wissenschaftler den Phänomenen stellen, sondern auch in unserer üblichsten, banalsten, wirklich »banalen« Erfahrung, welche die pompa magna der ehemaligen wie auch der neuen Metaphysiker ausgegrenzt hat. Doch wenn diese große Metaphysikparade einmal vorbeigezogen ist, hinterlässt sie nur eine ohrenbetäubende Stille von dem, was wirklich würdig war, befragt zu werden. Sind wir uns wirklich sicher, dass es uns gelingt, die letzten Worte über die feste und invariante Struktur der Welt, 12 über ihre ersten und allerletzten Elemente, in den vier Wänden des Ateliers der Metaphysik auszusprechen? Ist all dies nicht das ironische Spektakel des Alchemisten, der seine Seele dem Teufel verkauft, weil er vom Götzen eine allerletzte Antwort verlangt? Riskiert dieser überhebliche Metaphysiker, der sich rühmt, zu all diesen Antworten zu führen oder führen zu können, nicht wie Faust zu enden, ohne trotzdem die tragische Geschichte desselben riskiert zu haben? Ist dieser überhebliche Metaphysiker, der vielleicht in uns wohnt, nicht dem Götzen der allerletzten Antwort ausgeliefert? Gibt es keine bessere Zeit, um uns an den Instinkt des Auffüllens und der Fülle zu halten, der seine erste Offenbarung im Fragen und infolgedessen in den Fragen findet? Halten wir nun an der »Frage« und an ihrem ursprünglichen Öffnungszustand fest, um einen Weg zu suchen, der uns zum Fragen und zu den »grundlegenden« Fragen bringt, um dort den Weg wiederzufinden, der uns zur Bewegung des universellen Wissens bringt. Betrachten wir also unsere Erfahrung in ihrem allgemeinsten 12 Siehe hierzu St. French, The Structure of the World. Metaphysics and Representation, Oxford, 2014.
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Sinne unserer intimen und unüberschreitbaren Erschließung der Phänomene. Was es in unserer Erfahrung gibt, in unserem »Erfahren«, teilt sich in den unterschiedlichen Präsenzmodalitäten des »es gibt« auf: es gibt, was es gibt, als etwas Wahrgenommenes, Gesehenes, Gerochenes, Gehörtes, Angefasstes, Probiertes, Verstandenes (einfach oder gemäß einer komplexeren Struktur). 13 Es gibt, was es gibt, als Wiedererinnertes, Ausgedachtes, Ermitteltes, Gefragtes, Erfragtes, Nachgefragtes, gemäß den verschiedenen Wunsch- und Besitzformen. Wenn das, was es gibt, bewirkt, dass unsere Erfahrung die Erfahrung von etwas sein soll, lässt sich dieses »es gibt« erblicken und manifestiert sich – immer in einer variablen Form – mit dem, was sich um es oder mit ihm befindet, indem es sich hervorhebt. Dies gilt für jede Erfahrung von etwas, die immer eine für Variation und Wechsel offene Erfahrung dieses »es gibt« ist: Wir können unter verschiedenen Gesichtspunkten die Erfahrung von selbigem »dies« machen, das den Raum unseres Erfahrens ausfüllt, aber auch um andere »es gibt« abzuwägen, welche sich in mannigfaltigen Formen in der Erfahrung selbst hervorheben. Jacques sieht dieses Sofa und anschließend erinnert er sich an dasselbe Sofa, wie es in seiner Kindheit im Zimmer seines Großvaters stand: Er sieht dieses Sofa und er betrachtet den schönen Teppich, der daneben liegt, oder er stellt sich vor, im Sommer am Strand unter vorbeifliegenden Möwen zu sitzen. Diese Formen des »etwas ist präsent« unserer Erfahrung, welche sich abgesondert oder auch in sehr komplexen Vermengungen darstellen, können zum Objekt einer Beschreibung werden, von welchem man mehr als von jeder Metaphysik lernen kann: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« 14 Die Aufgabe der Beschreibung dieser intentionalen Sprache, die Ausbildung der Epiphanie der Sachen, äußert sich also gemäß zweier möglicher Perspektiven, nämlich der Beschreibung eines jeglichen »Etwas« – darin inbegriffen die Zahlen und andere »abstrakte« Formen – gemäß seiner eigenen Gegenständlichkeitsformen, unabhängig von den Modalitäten und der Beschreibung der Modalitäten, durch die wir uns auf Gegenstände beziehen. Unter diesen Modalitäten gibt es auch die Frage. Das »es gibt« des Etwas in Form der Frage ist eine der wesentlichen Modalitäten der Präsenz einer Sache, eine Vgl. E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Hua. 25, S. 20. Vgl. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen. In Werke, Bd. 12, N. 488, S. 432. Vgl. Kap. XI, § 115.
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Modalität durch die wir (und nicht nur) das Reale treffen werden. Sie ist vor allem eine durch einen grundlegenden Mangel bestehende Modalität. Es handelt sich, wenn man es von Näherem betrachtet, nicht um einen Präsenzmangel – wenn man das »es gibt« nicht auf einen primitiven Fetischismus reduzieren will. Wenn Jacques eine Frau liebt, ist ihm diese Frau präsenter als jede andere Person im Universum. Wenn er sich beispielsweise wünscht, nach Hause zu gehen, in seiner Bibliothek zu sein, bei seinen Büchern und Zeichnungen, ist dieser Raum nur in der Wunschmodalität präsent, das heißt gemäß einer Form des Erinnerungsvorgeschmacks eines bekannten, intimen Zustands. Ist nicht manchmal das Gewünschte anschaulich klarer und präsenter als mehrere Wahrnehmungen? Die Abwesenheit des »Etwas« in Form der »leibhaftigen« Präsenz ist das, was die Präsenz des »es gibt« von etwas in der Form des Wunsches charakterisiert. Was das »es gibt« in dieser besonderen Modalität charakterisiert, ist ein »Mangel«, ein »Defektiv-Sein« oder das »es gibt« ist ein »es gibt«, welches bedingt ist durch den Mangel der leibhaftigen Präsenz. Doch ist es genau genommen diese Leere, die unser Leben in seinen Wurzeln charakterisiert, und die Frage – in allen Formen, durch die sie sich verdeutlicht – macht nichts anderes, als dieser Leere eine Form zu verleihen, indem sie ihr eine Stimme verleiht, eine Schau und eine thematische Öffnung ermöglicht. Man muss sich nicht wundern, dass eine gewisse Philosophie, angetrieben durch die Eitelkeit und den Fetischismus, die Frage als Ausdruck der Leere zurückgedrängt hat, die unsere unüberschreitbare Erschließung der Erscheinung antreibt. Was sonst, wenn nicht eine »Leere«, ermöglicht unseren Trieb (zu sehen, zu fühlen, zu berühren, zu essen und zu trinken, zu rennen), unser Verlangen (nach Zuneigung, nach Anerkennung), all die sozialen, politischen Forderungen, all unsere ästhetischen, spirituellen und erotischen Erfahrungen etc.? Der Trieb, der Wunsch, die Neugier, der Zweifel sind nur Frageformen, die einer »Leere«, einem »Fehlgriff«, einem Mangel Form und (intentionalen) Ausdruck verleihen. Warum sollte eine Frage nicht auch eine Nachfrage sein? Schauen wir uns die Frage näher an! Wenn wir eine Frage stellen: Was tun wir denn anderes, wenn nicht einen »Wunsch zum Wissen« auszudrücken, einem Mangel, einem »Ungreifbaren«, das es inmitten unserer Frage als »Erfragtes« gibt, Form zu geben? Dass jede Frage eine Nachfrage sei, ist selbstverständlich durch die Tatsache selbst, dass man fragt, weil man etwas zu wissen wünscht, es wissen will, begründet. 42 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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Omnis quaestio est petitio: Jede Frage ist eine Nachfrage. 15 Man muss also die Frage und jede Frage als »Nachfrage«, das Fragen als ein Nachfragen begreifen: »Jemand will etwas wissen.« Daher interessieren wir uns weder für private, psychologische Gründe der Frage noch für die Natur von »etwas« oder von »jemandem«, an den diese Frage gerichtet ist: ein Individuum, ein Computer, ein Netzwerk, ein wissenschaftliches Handbuch, eine Enzyklopädie, die universale Vernunft etc. In seiner »Einfachheit« als Akt repräsentiert das Fragen, ebenso wie das Nachfragen, nur das Spannungsfeld zwischen einem psychologischen Zustand und einem anderen. Der erste Zustand ist derjenige des »Ungreifbaren«, eines Mangels. Von was ist dieser Mangel genau genommen der Mangel, in der Situation des theoretischen Nachfragens? Dieser Mangel erscheint wie ein Mangel von etwas, was sich in der Frage selbst durch einen Aspekt oder mehrere Aspekte seines Präsenzmodus zeigt. In der Nachfrage selbst und durch die Nachfrage will man es schaffen, den Aspekt in seiner Anschaulichkeit, das heißt seine leibhaftige Präsenz vom Gesichtspunkt dieses »theoretischen« Präsenzmodus, genauer zu begreifen: Man fragt danach, um ihn »im Auge«, »im Blick« zu haben. Wenn Jacques fragt: »Wo ist meine Uhr?«, zielt er darauf ab, dieses »es gibt« zu haben, wobei er zu wissen verlangt, wo es ist. Wenn Jacques fragt: »Auf welcher Grundlage kann ich begründen, dass die Kollision zwischen Protonen die Abgabe von Hadronen verursacht?«, zielt er gleichfalls darauf ab, dieses »es gibt« zu haben, von dem er zu wissen verlangt. Es handelt sich hier um ein »im Blick haben«, um eine Präsenzform der leibhaftigen Evidenz, die nicht weniger legitim ist als die erste. Die Ausarbeitung oder die Entdeckung neuer Formen der leibhaftigen Präsenz – ausgehend von der ursprünglichen (morphogenetischen) Form des Wahrnehmens – hat das menschliche Wissen veranlasst, von der Evidenz zu sprechen. Die Evidenz ist in diesem Kontext die Form der Befriedigung des Mangels des »es gibt« (oder von allem »es gibt«) in Form des theoretischen Fragens. Die Evidenz ist das Ideal jeglicher Auffassungsfähigkeit des Wissens von jedem »es gibt« in seinem »theoretischen« Präsenzmodus geworden. In jedem Fragen richtet man sich nach einer »vollen« Präsenzform, ohne
Vgl. Nicolai de Cusa, De venatione sapientiae. In Opera omnia, Bd. 12, Hamburg, 1982, Prol. N. 1, XIIm 4.18: »Appetitus nostrae naturae inditus.«
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irgendeinen Rest, eine Präsenz, die der Befragung keinerlei Raum lässt. Das Ziel der Wissenstätigkeit besteht in der vollen Evidenz der Erkenntnis als Ergebnis einer Sublimierung, welche typisch für das menschlichen Denken ist: Die volle Evidenz der Erkenntnis, die allerletzte Evidenz des Wissens, ist die Verallgemeinerung der Evidenz eines gewissen »es gibt«, und zwar als theoretischer Präsenzmodus für alles, was es im theoretischen Präsenzmodus gibt (oder dort geben kann). Diese absolute Präsenz, frei von Rest und Mangel dessen, was es zu wissen gibt, ist nur die äußerst poetische, vornehme Sublimierung des Zustandes, in welchem sich jeder von uns, angesichts der Epiphanie des Realen, in seinem ganzen Glanz und seiner ganzen Leibhaftigkeit befindet, welche sich in verschiedenen Landschaftsformen oder in gewissen Betrachtungsmomenten zeigt. Das Ideal der vollständigen Evidenz ist charakterisiert als Fluchtpunkt der Perspektive des menschlichen Wissens, als Orientierungspunkt jeder Theorie. Als letztendlicher terminus ad quem jeder Suche, jedes theoretischen Wissens und auch jeder »theoretischen« Form der Nachfrage ist es dasjenige, »wonach« jeder Wissensmensch schaut und wonach er sich selbst in seiner Praxis orientiert. Die Evidenz ist das Ziel seiner Entdeckungsreise. Dies ist im Wesen des menschlichen Wissens selbst dermaßen gewaltig und dermaßen fest verwurzelt, dass diese weder durch die typisch epistemologische noch die anti-wissenschaftliche Kritik zumindest minimal entwurzelt werden konnte. Das Wissen schreitet je nach Fragestellung oder je nach »theoretischem Nachfragen« und durch die rechtzeitige oder verschiedenartig orientierte Wiederformulierung des theoretischen Nachfragens fort. Das Wissen bewegt sich in der Perspektive, deren Fluchtpunkt das Ideal der vollen Evidenz ist. Doch jenseits der Erziehung bzw. Erbauung führt uns diese Ansprache zu nichts, wenn es uns nicht gelingt, unseren Blick von dieser zentrifugalen Bewegung abzuwenden, um eine zentripetale Bewegung zu entwerfen. Diese Bewegung bringt die Schau vom terminus ad quem, von diesem »wozu«, zum terminus a quo mit sich. Ein solcher terminus a quo ist das »von wo an« der Evidenz-Reihe, aber auch das »von wo an« der Nachfragen-Reihe. Wenn das Ziel des Wissensfortschritts (und gleichermaßen unseres Lebens) die Präsenzfülle ist, und wenn diese Fülle in der theoretischen Sphäre ihr Abbild, ihre sublimierte Darstellung in der vollen Evidenz findet, wäre dasjenige, was sich an der anderen Seite als 44 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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vollkommenes Spiegelelement befinden wird, eine absolut evidenzleere Präsenz oder besser gesagt: unvorstellbar asymptotisch nahe an der Evidenzleere. Doch wäre das Spiegelelement der theoretischen Präsenzmodalität das Spiegelelement jeder Erfüllungsform? Denn wenn man es von Näherem betrachtet, geschieht es erst ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, dass jemand anfängt, auf theoretische Art und Weise nachzufragen, um die Leere der Evidenz auszufüllen oder das, was er aus theoretischer Sichtweise als die Evidenzleere des Realen bezeichnet. Zeitgleich verharrt er weiterhin sehr häufig in dieser Nachfragesituation gemäß den anderen Formen, um zu anderen Erfüllungsformen zu finden (oder was er zu Recht oder zu Unrecht als Vollendungs- bzw. Erfüllungsform bezeichnet). Wenn infolgedessen am Horizont der theoretischen Lebenspraxis, als Fluchtpunkt einer Perspektive, das Ideal der vollen Evidenz wohnt – von allem, was es gibt oder was es dort zu wissen geben kann –, dann befinden sich am Horizont von eines jedermanns Leben andere Ideale oder häufig auch Trugbilder. Der Horizont von jedermanns Leben ist etwas Ausgedehntes, Ausgestrecktes, sodass dieser mehrere mögliche Fluchtpunkte annimmt, indem er jedermanns Orientierungsblick folgt. Aber das »da, wo«, das heißt die reine Situation, in der sich das Individuum befindet, kann nur ein Punkt sein. Es kann sich natürlich nach rechts, nach links, nach vorne, nach hinten gut bewegen, hinaufsteigen, herabsteigen. Doch dieses »da, wo es sich befindet« besteht weiterhin als Punkt, manchmal ohne Ausdehnung, ohne Dimension, als eine »reine Situation«. Wenn man auf die Suche nach dem Punkt geht, der hingegen unserem theoretischen Fragen innewohnt, suchen wir nicht nur das Spiegelelement der Evidenz als theoretische Fülle, sondern das Ursprungselement jedes menschlichen Fragens. Folgen wir der theoretischen Frage also rückwärts, um zu sehen, wohin sie uns führt. Denn an diesem Punkt ist schon klar, dass wir mit der Analyse des Nachfragens (in unserem Falle in Form der »theoretischen Nachfrage«) anfangen müssen, weil das Nachfragen selbst in sich schon die Form der Präsenz von etwas ist, dessen Ideal (oder Spiegelbild) der Fülle am Horizont des Lebens projiziert ist. Wenn die theoretische Nachfrage nur die theoretische Deklination eines Präsenzmangels ist, wird sich eine solche Beschaffenheit sowohl in der Nachfrageform als auch in den Gegenständen zeigen. In diesem zweiten Fall geht es um jene Gegenstände, von denen man verlangt, die volle theoretische Präsenz zu ergreifen. In diesem Parallelismus finden sich die Spuren, 45 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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die Hinweise, die uns zu diesem »da, wo er sich befindet«, zu dieser reinen Situation jedes Individuums als etwas Fragendem, bringen können. Wir können die Fragen, welche das Gewöhnliche betreffen, schon zur Seite legen, weil das Gewöhnliche nur die alltäglichen Erfahrungen betrifft und die Dinge, von denen man das »wo«, das »von welcher Farbe«, das »wann«, den »Namen«, den »Preis«, das »wie das funktioniert« erfragt, gezwungenermaßen einen Vorkenntnisstatus haben. Unsere gewöhnliche Erfahrung ist von Fragen bevölkert. Doch diese Fragen betreffen nur das Gewöhnliche und damit etwas, mit dem man – auf die eine oder andere Art und Weise – zu tun hat. Doch was gibt es vom Standpunkt der »Präsenz« des Gefragten in der gewöhnlichen theoretischen Nachfrage noch Ärmeres? Schon die wissenschaftlichen Fragen erscheinen viel abstrakter: Das Gefragte erscheint in ihnen als viel transparenter, farblos, in jedem Fall viel schwieriger zu ergreifen als die »Farbobjekte« unserer alltäglichen Erfahrung. Doch wenn man dies von Näherem betrachtet, gibt es unter diesen Fragen gewisse, die noch abstrakter sind und die nach dem »was« fragen, welche man als die Wesensfragen bezeichnet und die sich an jene »Fragen« annähern, die wir als »Grundfragen« bezeichnet haben. Allerdings sind die Wesensfragen gewiss nicht alle grundlegend, da viele unter ihnen ganz einfach zur innerlichen Bewegung gewisser Wissensformen gehören, bei welchen man gemäß gewisser pragmatisch akzeptierter Definitionsformen vorgeht – ohne dass dieser Ablauf jedes Mal ein »grundlegendes« Wissen oder ein »erstes« Wissen genannt wird. Was diese Fragen – welche das Wissen des »was« von etwas betreffen – oft als Grundfragen charakterisiert, sind gerade gewisse Typen des »etwas«. Diese Typen lassen sich nicht auf eine Praktik des Wissens zurückführen, so wie sie auf von vornherein extrem bemessene Art und Weise durch die Wissenschaftler oder Wissenden ausgeübt wird. Durch diese »Etwas«-Formen behauptet man im Gegenteil, es zu schaffen, eine Distanz zu bemessen, zu durchlaufen und abzudecken. Es geht um die Distanz zwischen dem »da, wo« sich das Individuum befindet einerseits, und dem Horizont des Sinns seines In-der-Welt-Seins andererseits. Solche »Etwas«-Typen sind Gegenstände wie das Leben, das Schicksal, der Mensch selbst, die Welt, die Geschichte, die Natur, das Schöne, Gott usw. Fragen wie »Was ist das Leben?«, »Was ist der Mensch?«, »Was ist die Welt?«, »Was ist Gott?« werden zu Recht als Grundfragen be46 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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zeichnet, weil sie das Wesen von »etwas« erfragen, welches die Menschen glauben als entscheidend annehmen zu müssen. Durch diese Fragen glauben sie ein für alle mal – ohne dadurch sich in den zu schwierigen Wegen der Wissenschaft zu verlieren – den Sinn ihrer Existenz erfasst zu haben. Könnte man den Inhalt dieser Fragen bezweifeln? Oder könnte man bezweifeln, dass sie Nachfragen eines Mittels sind, um in einer Gesamtansicht ein extrem zerstreutes Leben aufzusammeln (ein Leben, das allzu oft nicht zu einer verständlichen Einheit zurückführt)? Wer könnte abstreiten, dass die Individuen nur »Was ist Gott?« fragen, um die extreme Grenze ihres sinnlichen bzw. phänomenalen Lebens zu fassen? Wer könnte abstreiten, dass sie »Was ist die Welt?« fragen, um ihre kleinen, mikroskopischen, alltäglichen Existenzen einerseits und diese extreme Grenze eines Sinns andererseits zu verbinden? Wer könnte abstreiten, dass sie »Was ist der Mensch?« fragen, um sich als solche, das heißt als Bewahrer eines Wesens, zu verstehen? Wenn wir natürlich mit dem zynischen Stil des Wissens fortfahren, mit seinen geduldigen und abgemessenen Schritten, gelangen wir an den Punkt des Bewusstseins, dass diese »Etwas«-Formen, welche es zum Ziel haben, das Wesen zu erfassen, schlussendlich keinerlei Evidenz und keinerlei transparente Struktur besitzen. Sie ähneln vielmehr unregelmäßigen Kristallen, Salzformationen, welche eine lange Sedimentierungsgeschichte und keine invariante Notwendigkeit haben, sozusagen keine himmlische Natur. Diese Formationen haben (und hatten) im Gegenteil eine äußerst irdische – menschliche, allzumenschliche – Geschichte. Sie sind wie kaleidoskopische Kristallen: Wenn man versucht, einen Lichtstrahl zu projizieren, bringen sie Magie und Entzückung hervor. Wenn folglich die theoretischen Fragen des Wissens »leerer« erscheinen als die gewöhnlichen Nachfragen – sie sind es, weil sie durch eine geregelte Semantik kontrolliert werden, die dazu führt, dass ihre Fragen an ein Befragen gebunden ist, das die Wissenden von ihren Praktiken her kennen –, erscheinen die metaphysischen Fragen leerer als die wissenschaftlichen Fragen. Erstere verlangen nur nach dem Wesen von »etwas«, welches schlussendlich nur die Kristallisierung von Bewegungen einer Zivilisation in einer Ecke irgendwo im Kosmos darstellt und deren Sprache die Wortbedeutung sehr oft im Laufe ihrer Geschichte und ihrer Bewegungen verändert hat. Wenn man sich dies eingesteht, muss man sich fragen: Gibt es eine allerletzte 47 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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Situation, die uns die Konsistenzleere unserer Erfahrung zeigen kann? Gibt es eine Situation, die uns glauben lässt, dass man mit dem Finger das »Vakuum« der individuellen Erfahrung selbst berühren könnte? Gibt es ein non plus ultra?
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Kapitel II Die verwirrende Frage
Was könnte dieses non plus ultra sein? Wenn man die abnehmende Reihe der intuitiven Fülle der nachzufragenden Gegenstände verfolgt, scheint es, als gebe es jenseits der metaphysischen Gegenstände – wie Gott, die Welt und die Menschen – nichts anderes. Man hat von Gott nur Bilder oder Wörter, welche die religiöse Erfahrung der Menschen erfüllen (und manchmal übersättigten). Von der »Welt« hat man nur eine Reihe zerstreuter und äußerst vielseitiger Erfahrungen und Worte, welche die Menschen gefunden haben, um diesen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Solche Wörter sind lediglich wie die Bilder oder die Wörter, die die Menschen glauben von Gott gehört zu haben (»that was just a tree … just a tree …«): Sie sind ein Kaleidoskop. Dieselbe metaphysische Inkonsistenz zeigt sich für die Vorstellungen des »Menschen«, welche, wenn man genauer hinschaut, nur eine verbale »institutionelle« bzw. kulturelle Evidenz zeigen. Natürlich existieren die Menschen, selbst wenn sie nicht über die Möglichkeit verfügen, das Wesen des »Menschen« oder etwas, das mit einem Wesen in Verbindung steht oder mit ihm übereinstimmt, erkennen zu können. Was also liegt, im Bereich des Fragens, von den metaphysischen Fragen am weitesten entfernt, d. h. ist etwas Ärmeres als diese Fragen, von denen man erwartet, das Wesen des Menschen, sein »Schicksal«, sein »Heil«, seinen »Vorrang« über andere Lebensformen im Kosmos zu erfassen? Doch wenn man die Bewegung von Näherem betrachtet, welche die Schau des Individuums mit dem Horizont seines Lebens selbst verbindet, wird diese Bewegung genau durch diese Leere festgehalten. Eine solche Leere charakterisiert immer auf unüberschreitbare Art und Weise sein Leben und sein Suchen, und sie folgt ihm dahin, wo dieser ist – ohne Ausnahme, fehlerlos, wie sein eigener Schatten. Diese Leere findet gerade in der Nachfrage einen Ausdruck, die wir uns alle schon mindestens einmal
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im Leben und unabhängig von den von uns gesprochenen Sprachen gestellt haben: »Wer/was bin ich?« Man könnte gegen uns einwenden, dass die Frage (als Nachfrage) genau deshalb zweideutig ist, weil man entweder fragt »Wer bin ich?« oder »Was bin ich?« [infra § 19, Fn. 23], dass man aber niemals beides gleichzeitig fragt. Das ist falsch! Wenn wir in der kosmischen Nudität unserer ganzen Existenz fragen: »Wer bin ich?« fragen wir nicht nur nach unserer »biographischen« oder »narrativen« Identität, so wie in den Fällen von Amnesie. Und wenn wir fragen: »Was bin ich?«, dann nicht, weil wir nach einer taxonomischen Definition fragen, welche es auch sein mag. Wenn wir fragen, fragen wir gleichzeitig nach dem Sinn unserer Lebensidentität (mit all ihren Erzählungen oder ihren möglichen Berichten) und nach der Fähigkeit, all diese möglichen Berichte zu einem »universellen«, »idealen« Sinn zusammenbringen zu können, egal woher dieser gekommen sein mag oder kommen könnte. Wenn wir nachfragen, fragen wir nach, um uns in einem Bild von uns selbst reflektieren zu können, wovon sich in all diesen Berichten (aber auch allen Erinnerungen, Handlungen, Treffen, Projekten, Erfahrungen, Absichten, Wünschen, Problemen, Ängsten) nur ein Teil findet, ein Teil, der in der Zusammensetzung dieses Spiegelbildes eine Rolle spielt. Was versuchen wir – in all unserer Erfahrung, durch all unser »Handeln« – zu erreichen wenn nicht die Einrichtung dieser Korrespondenz? Ist es schlussendlich nicht diese Nachfrage, die uns wie ein Grundgeräusch in den Bewegungen im Inneren unseres Lebenshorizonts begleitet? Es ist gerade so, weil uns diese Nachfrage die längste Zeit während unserer Existenz begleitet, dass sie sich gelegentlich in besonderen Erfahrungen manifestiert, dass sie aus dem Hintergrund, in welchem sie angesiedelt ist, auftaucht (man hat glücklicher- oder unglücklicherweise andere Dinge zu tun), um die Form einer theoretischen Frage anzunehmen. Doch dieser Abschnitt, dieses Hervortreten, all die Ereignisse der Frage sind nur eine Form der Nachfrage und somit des Sinnmangels, der unser Leben prägt, und sich bis zum allerletzten Horizont unseres Lebens verteilt. Was beispielsweise die Dichter, die Romantiker, die Komponisten, die Maler als das Erhabene zu beschreiben (oder zu benennen) versucht haben, ist schlussendlich nur eine dieser Situationen, in denen oder durch die die Nachfrage Raum gefunden hat, um sich zu manifestieren, wo sie ein Echo unserer Schau hört, wo sie ein Bild findet. 50 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel II Die verwirrende Frage
Dieses Bild ist das Bild von etwas Vollem/Leerem, hauptsächlich aber ist es die Erfahrung des Horizonts, in dem alle Gegenstände, ohne Unterscheidung, niemals völlig im Vordergrund sind. Doch genauer betrachtet ist die Erfahrung des Erhabenen nur die visuelle Übersetzung des Sinnmangels, den wir alle auszugleichen versuchen, der kosmischen Nudität jedes Individuums, welche die Denkpuristen oder Moralapostel, die Verkäufer von Glaubensarten, Wahrheiten, Werten zu bedecken suchen, indem sie die »Weltanschauungen« oder »Weltbilder« derart gestalten, dass sie eine Antwortillusion liefern. Wer/was bin ich? Ist es nicht das, was bleibt, wenn alle Glaubensarten, die unserem Leben Sinn geben konnten, in sich zusammengesackt sind? Ist es nicht das, was bleibt, wenn das Individuum angesichts der Ablenkungsöffnung, der Sternräume, der menschlichen Tragödien oder angesichts der Sphinx der Verwüstung 1 nackt ist? Ist dies nicht der Rest, das, was dem einer Realität mit mehreren Dimensionen ausgesetzten Individuum bleibt, die es dünnhäutig nicht mehr erkennt und so seinem eigenen Leben keinen Sinn mehr zu geben vermag oder angesichts derer es sich nicht mehr in der Lage fühlt, einen Sinn wiederzuerkennen? Dieser Rest erscheint schlussendlich als eine erste, besonders eigenartige Evidenz, nämlich nicht nur wie die Gewissheit eines Verlustzustandes, sondern auch wie die von seiner Fortdauer – trotz aller menschlichen Versuche, eine Erfüllung zu erreichen. Diese Versuche – die sich im reinen Lebensgenuss des Körpers ergehen, im vergleichslosen Konsum von Produkten, im Handeln, in der Karriere oder in den großen religiösen Systemen mit ihren ethischen Kodizes und ihren »Weltbildern« etc. – kommen immer zu spät, immer zu spät im Vergleich zur Nachfrage, deren Antworten sie darstellen wollen. Die verständliche und legitime Reaktion, einen Sinn zu gestalten, den Sinn anzustreben, der die Leere der Nachfrage »Was/wer bin ich?« beantworten und ausfüllen kann, kommt immer zu spät, zu langsam. Schlussendlich hat sich, wenn das Individuum der Nachfrage glaubt, den illusorischen Status von etwas Befriedigendem erreichen zu können, wenn es glaubt, das »da, wo es ist« fixieren und messen zu können, schon die Frage selbst über seinem Lebenshorizont verteilt, um dort zu bleiben – unveränderlich und gleich.
1 Vgl. Gustave Doré (1832–1883), L’Enigme, 1871, Huile sur toile, Musée d’Orsay, Paris.
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Kapitel II Die verwirrende Frage
Man könnte uns Zynismus vorwerfen, wenn wir die Unendlichkeit des Sinnmangels behaupten: »They said to me, here’s the place, stop, raise your head and look all that beauty. That order! They said to me, come now, you’re not a brute beast, think upon these things and you’ll see how all becomes clear. And simple! They said to me, what skilled attention they get, all these dying of their wounds.« 2
Selbst die Worte des Gewöhnlichen, die bleiben (»the words, that remain«) sowie das höchste oder genaueste Wissen können den Raum jedoch nicht ausfüllen, über den sich der Blick der Nachfrage selbst erstreckt, weil sie nur Orte im Inneren dieses Raumes, dieses Horizonts repräsentieren. Es kann weder darum gehen, das Wissen zu disqualifizieren – nur weil es der Nachfrage nicht antworten (und den Erwartungen nicht entsprechen) kann – noch einen in der kosmischen Einsamkeit des Individuums völlig zurückgezogenen, ungebildeten Existentialismus zu entwickeln, noch in der logischen oder grammatikalischen Analyse der Nachfrage zu bleiben. Es geht vielmehr darum, die Erfahrung, die man gemacht hat, festzuhalten – welche diejenige der Bewegung der Frage selbst qua Nachfrage ist. Halten wir uns also nun an der Erfahrung der Frage qua Nachfrage fest. Was machen wir, wenn wir uns fragen »Was/wer bin ich?«. Warum sollte zunächst eine solche janusköpfige Frage als das Anzeichen einer Bewegung akzeptiert sein, als eine Erfahrung im Inneren, in der wir eine grundlegende Situation für unsere Wissensidee suchen? Die Frage drängt sich jedem von uns auf. Und wenn man sich dieser annimmt, bleibt dort jeder von uns in der Erfahrung der Aufhebung. Einer Aufhebung wovon? Was besteht im Aufhebungszustand fort, wenn wir uns fragen »Was/wer bin ich?«? Es ist die Bewegung in der Suche einer Antwort. Es ist eine solche Bewegung, die sich verzögert: In dieser Aufhebung einer Bewegung, was dasjenige ist, das unsere Schau eröffnet, befindet sich genau genommen die Gesamtheit der Regionen, der Figuren, der möglichen Orte, wo man nach einer Antwort sucht. In diesem Aufhebungszustand, der zunächst die intime Erfahrung der Nachfrage charakterisiert, gibt es eine Art Öffnung zu unserem Lebenshorizont: unsere Gefühle, unsere körperlichen Identifikationen, unsere Erinnerungen, unsere Erwartungen, unsere Ängste, unsere Erkenntnisse – kurz: alles, was sich 2
Vgl. S. Beckett, Endgame, London, 1964, S. 55.
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in der Erfahrung von etwas gleich welcher Form befindet. All dies, jedoch in der Form der Aufhebung jeder möglichen Antwort, ist das, was sich unserer Schau eröffnet. Eine solche eröffnete Schau dehnt sich von dem Punkt dieser reinen Situation (das »da, wo« das Individuum als Subjekt der Frage sich befindet) bis zum Horizont des Lebens aus (da, wohin der Sinn als non plus ultra projiziert wird). 3 Dennoch ist die Erfahrung der Frage selbst qua Nachfrage, qua privative Situation die Erfahrung der aufgehobenen Gesamtheit dieses Erlebten genau genommen der Möglichkeit enthoben, eine Antwort liefern zu können. Die Frage ist Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes, und dies im Sinne einer Erfahrung der ersten tragenden Struktur. Es geht hier um die Struktur von dem, was alle Erlebnisse als Momente einer Lebensform zusammenhält. Die Erfahrung, welche sich durch die Nachfrage verwirklicht, ist die Erfahrung von etwas, d. h. einer Urtatsache: Wir sind nichts anderes als Horizonte. Ich bin ein Horizont: Ich habe keinen Horizont, als ob dieser Horizont das Ergebnis einer Zuschreibung der Außenwelt sei, als ob es im Vorhinein einen Kern, ein Inneres, einen spirituellen Kokon, der einen geheimen Raum beherbergen würde, gäbe. Wenn man die Erfahrung der Nachfrage und der Einheit der absolut neutralen Schau macht, die das eigene Leben zusammenhält, kann man nur sagen: »Ich bin nur ein Horizont!«, »Ich bin ein Horizont!«, »Die Öffnung ist mein Sein!«. Es gibt nur die Öffnung des Erfahrens und seine dissipative Natur. Es gibt keine Innerlichkeit im Sinne eines vor der Äußerlichkeit geschützten Orts, in dem man sich scheinbar zur Suche nach einer flüsternden Wahrheit zurückziehen kann. Ein solcher geschützter Ort zerplatzt jedes Mal, wenn das fragende Individuum das unüberschreitbare und konstitutive Band erfährt, welches das »da, wo er ist« – seine Situation, welche vor seiner Haut keinen Halt macht, die jedoch seine Leiblichkeit imprägniert – und den Lebenshorizont, in dem die Antwort zu der Nachfrage selbst angesiedelt ist, zusammenhält. Dieses »da, wo er ist«, seine reine Situation, die nur einen Punkt darstellt – etwas Nicht-Dimensionales –, ist nicht der Ort eines Inneren (eines claustrum). Die Fiktion dieses »Inneren« ist plötzlich nach draußen geworfen und mit der unüberschreitbaren Räumlichkeit des Lebenshorizonts wieder vereinigt. Es kann dort jenseits dieses Punktes vorkommen, jenseits dieser reinen Situation, aber nicht Es geht hier um die Phänomenalisierung im Existentialen (vgl. u. Kap. V und Nachwort) der universalen Epoché der Phänomenalität als Grund einer ersten Philosophie.
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Kapitel II Die verwirrende Frage
»drinnen«: Und das Jenseits ist nur ein anderer Teil des Horizonts, eine andere Situation (wenn auch erweitert). Aus diesem Grund hat man seit Jahrtausenden versucht, die Illusion dieser Innerlichkeit als Ort einer »anderen« Verheißung zu gestalten; man vermeidet es immer, die Erfahrung des Erhabenen transparent zu betrachten, um zu schauen, welches seine konstitutive Struktur ist. Die Nachfrage macht diese Struktur als »unveränderlich in jeglicher Erfahrung« offensichtlich. Das »Ich bin ein Horizont« – als Bewusstsein dieser Invarianz – ist vom Standpunkt der Gewissheit die ungeeignetste Antwort auf die Nachfrage »Was/wer bin ich?«. »Ich bin ein Horizont«, ein Horizont, der sich mit anderen Horizonten vereint, sich ausweitet, sich verkleinert, sich erhebt, sinkt, doch auf jeden Fall nichts mehr als das. Das reine und einfache Bewusstsein des Horizont-Seins zeigt sich dem Individuum in der Erfahrung der Nachfrage – doch in jeder Sacherfahrung ist es nur seine »reine Situation«, welche die überdeutliche Tatsache seiner Öffnung bedeutet. In diesem Sinne sind dieses »da, wo er ist« und der Lebenshorizont, wo sich die Nachfrage ausweitet, die zwei Punkte, zwischen denen die Wissenssysteme den Ansiedlungsort jeder Antwort bestimmen bzw. festlegen. Diese zwei Punkte sind »Nicht-Orte«, imaginäre Orte, reine Fiktionen, zwei non plus ultra. Um gesehen, erfasst, berührt zu werden, werden sie unmittelbar dem Horizont wieder zugeführt, der das Individuum selbst ist, ohne irgendeinen noch zu entdeckenden mysteriösen oder geheimen Ort. Die Dichotomien, die man vorschlägt, beispielsweise die zwischen einer »geschlossenen Innerlichkeit« und der »reinen Äußerlichkeit des Weltlichen« als Typisches des neuzeitlichen Denkens, schlagen sich somit (dem Anschein nach) auf äußerst feinsinnige Art und Weise wieder vor, jedoch implizieren sie gründlich derbe eine nicht bezwingbare Gewaltigkeit der Innerlichkeit selbst. In dieser Innerlichkeit sollte »das Andere« in Erscheinung treten. Aber diese Dichotomien sind nur die konstruierten Dichotomien einer neuen Apologetik. Angesichts dieser falschen Dichotomien setzt sich das Bewusstsein selbst als Horizont-Sein – und zwar durch die Erfahrung der Nachfrage. »Horizont zu sein« (nichts anderes als Horizont) bedeutet »Öffnung zu sein«. Man kann das erfahren, bevor man sich in den Abstraktionen wiedererkennt, die das Thema als »Geist-Körper« bzw. als »Denken-Fleisch« bestimmen, und auch vor jeder anderen Definition, weil jede Definition qua Definition einen Raum, eine Öffnung, einen Horizont (der wir alle sind) zur Voraussetzung hat. 54 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel II Die verwirrende Frage
Wichtiger als die Antwort, als jede persönliche oder wissenschaftliche Antwort (die man angesichts der Nachfrage »Was/wer bin ich?« finden könnte), ist es, zu bemerken, dass das »Ich bin ein Horizont«, das Horizont-Sein des Individuums, in einem Aufhebungszustand der Erfahrung in der Nachfrage als Erfahrungsform fortbesteht. Diese Form von »Nichtbeantwortungs-Antwort« der minimalen Antwort – die aus der Unmöglichkeit hervorgeht, eine Spekularität zwischen den Formen des »was/wer« des Befragten herzustellen –, zeigt schlussendlich nur, dass keine Definition möglich ist. Dieses »Ich bin nur ein Horizont«, oder das »Ich bin ein Horizont« seitens des Individuums, das nur durch die Erfahrung der Nachfrage (oder durch seine ästhetische Übersetzung in das Erhabene) erlebt werden kann, kann aber niemals als richtige Definition betrachtet werden. Was also ist diese rein negative oder privative Evidenz, die aus unserem Bewusstwerden, Horizont zu sein, hervorgeht, wenn wir »da, wo« die Nachfrage uns verortet, sind? Dieses »da, wo« ist die spekulative Situation, die kaum der Philosophie oder der Sprache der Philosophie angehört, jedoch dieser invarianten Struktur, die all die Erfahrungsformen schafft. Was die spekulative Situation als eigenen Erfahrungsgegenstand der Nachfrage fixiert, ist nur die Struktur der Erfahrung selbst: Jede thematische Öffnung als Sach-Erfahrung ist gleichzeitig der Ort einer Spiegelung, die dem erfahrenden Individuum ein Bild, wenn auch äußerst schwach oder, wie in den meisten Fällen, extrem undurchsichtig, zurückgibt. In diesem Sinne würde eine angebliche reflexive Auslegung von Erlebnissen das Individuum niemals zu seiner eigenen vollen Transparenz bringen. Die eigene Transparenz ist nur ein Mythos, so wie auch die Innerlichkeit einer ist. Das Individuum verliert in seiner spekulativen Situation keinesfalls seine Subjektivität, da die »Subjektivität« schlussendlich nur eine Erfindung ist, die versucht, die Sinnleere der Öffnung (die wir alle sind) auszufüllen, durch den Götzen eines präsenten »Ich« – ein Götze, der wegen seiner Leere ab dem Moment widerhallt, an dem man beginnt, ihn zu berühren und zu entdecken. Abseits jeder nachempfundenen Verfälschung, die man durch diesen Götzen (nichts anderes als ein anderer »Name«, um den Sinnmangel auszufüllen) zu finden erhofft, besteht die spekulative Situation. Durch die spekulative Situation erfahren wir die Pluralisierung unseres »Ich« in mannigfaltigen Selbst-Formen. Es geht um die Mannigfaltigkeit reflektierender Bilder unserer Formen von »Sach-Erfah55 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel II Die verwirrende Frage
rungen«, wodurch wir das Reale, das heißt die Phänomenalität in ihren vielfaltigen Erscheinungsdimensionen, erfahren. Die »Selbste« als mannigfaltige Formen unseres »Auf-uns-selbst-Beziehens« in der ersten (singulären und pluralen) Person sind schlussendlich nur Spiegelbilder, Spiegelungssituationen, die wir nur wiedererkennen, indem wir mit der Phänomenalität, gemäß ihren Formen in gewissen Kontexten oder Praktiken, zu tun haben: das »Ich« als »Vater«, »soziales Individuum«, »wirtschaftlicher Akteur« etc. Die Erfahrung des Realen, der Phänomenalität, ermöglicht uns die Darstellung unserer eigenen Identifikationsformen (und nicht nur von uns als Individuen, sondern auch als »duale«, »plurale« Subjekte). Jedoch sind solche Individuationsformen nicht als das Funkeln unendlicher Spiegelungen zu verstehen, die man zum Beispiel beobachtet, wenn man eine sich im Meer spiegelnde Sonne sieht. Diese Identifikationsformen regulieren sich im Leben über die kognitive Bildungsdynamik bestimmter konzeptueller Schemata. Solche Schemata regulieren zugleich den kontextuellen Zugang zu einem Gegenstandsbereich und seine typische Erfahrungsform. Die Erfahrungsform ist als Lebensform etwas von vornherein Sedimentiertes. Wenn diese Formen nicht fest sind und jede Form morphologisch variabel ist, sind die Identifikationsformen des Individuums in seinen einzelnen, dualen, mehrfachen »Selbsten« nicht mehr fest: Sie akzeptieren die Metamorphose, die Deformierung, die Variation, die Aufhebung oder die Vermischung mit anderen oder in andere komplexere Konfigurationsformen. Doch in der besonderen Optik unseres Lebens (bzw. Denkens und Wissens) handelt es sich notwendig zugleich um eine Schau in die Ferne oder auf Distanz (dioptrisch) und um eine spiegelbildliche Schau (katoptrisch). Das Individuum oder die Individuen, welche die überfeine, begriffliche oder äußerst dicke Oberfläche dieser Zugangsformen zum Wirklichen sehen, bekommen ein Bild von sich selbst zurück. Es geht um die stets offene Möglichkeit, sich in diesen Lebensformen anerkennen zu können. Solche Formen der Selbstanerkennung finden, als Identifikationsformen, durch die Erfahrung eine Stabilisierung. Die Identifikationsformen bilden sich als ein Spiegelbild durch gewisse Lebenspraktiken des Individuums und konzeptuelle Schemata, welche sie aktivieren, um dem Erfahrungshorizont selbst einen Zugang zu gewähren. In diesem Sinne entwischt jede Erfahrungsform dem »reinen Unbekannten« und folgt einem Vorverständnis 56 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel II Die verwirrende Frage
oder einer begrifflichen Verständnisform. In diesem Sinne aktiviert sich auch und reaktiviert sich dieses »Spiegelungsverhältnis« zwischen dem Individuum und dem »Selbst«. Dieses »Selbst« gibt in dieser Lebensform eine persönliche Individuation oder ein Spiegelmittel der Wiedererkennung von sich selbst. Man wird unmittelbar die Fremdheit einer solchen Situation dagegenhalten können, in der das »Ich« als »Ich« qua »Substanz« im Zentrum eines kopernikanischen Imaginären sozusagen ausschweifend ist. Man findet eine Pluralität von »Selbsten«, deren Zusammensetzung in einem »einzelnen und festen Bild« eines einzelnen Menschen unmöglich oder illusorisch ist. Man könnte auf die kognitiven Wissenschaften zurückgreifen, deren recht besonnene Forschung uns schon die Illusion dieses beinahe fetischistischen »Postulats« des »Ich« gezeigt hat. Wir entscheiden uns hier, in dieser phänomenologischen Evidenz zu bleiben, welche die Evidenz des reinen Denkens selbst ist, indem wir uns fragen, was der Mensch in unserer Erfahrung in der ersten Person Unveränderliches an sich hat, wenn nicht die thematische Öffnung dieser Erfahrung selbst, nämlich die Öffnung, in der wir uns als »Ich als Vater«, »Ich als Sohn«, »Ich als politischer Akteur«, »Ich als Bürger«, »Ich, der ich hier sitze, um nachzudenken« etc. identifizieren. Wir nehmen uns vor jeder Anmaßung in Acht, die »Natur des Menschen«, die »Natur des Subjekts« oder die »Natur des Individuums« zu bestimmen. Dies geschieht aus zwei Gründen: weil es ein wenig zu prachtvoll und einseitig wäre angesichts dessen, was uns das Wissen sagt, und weil wir wissen, dass auch Ausdrücke wie »die Natur von …« oder »der Mensch« philosophische Erfindungen sind. Aufgrund der Aufhebung jeder Gültigkeit von Philosophien, die wir hier vollzogen haben, aufgrund unserer freiwilligen Ausgrenzung aus der Philosophie, können wir uns mühelos von einer Illusion befreien. Es geht dabei um die Illusion jeder Egologie, die darin besteht, die Öffnung unseres Lebens zu einer kleiner werdenden Sache, zu einem einfachen Etwas zu reduzieren. Es geht um eine Fiktion, eine Abstraktion. Und diejenigen, die eine solche Reduktion meisterhaft vollzogen haben, hatten zumindest die intellektuelle Ehrlichkeit, es zuzugeben. Doch hier, in der freiwilligen Ausgrenzungssituation, bis zu der wir vorgedrungen sind, gibt es andere Gründe für unsere Vorsicht: Wo in der absoluten Horizontalität unseres Lebens, so wie sie aus unserem Bestehen auf der Nachfrage (da wir nicht wissen, wie wir darauf antworten sollen) hervorgeht, finden wir das »Ich«? Fin57 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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den wir das einzelne »Ich«? Ist es wirklich dieses »Ich«, in dem das Individuum glaubt, sich wiederzuerkennen, indem es glaubt oder vortäuscht, sein Fleisch, die psychologischen, affektiven und auch sozialen, spirituellen Gründe neutralisiert zu haben, die es bis hierhin gebracht haben, sein Verliebtsein in jemanden, Vater, Sohn, jemanden, der die Kunst mag, die Natur etc. – ist dieses Ich das »wahre Ich«? Und diese Frage gilt für jede andere Identifikationsform, die das Individuum als »Selbst« wiedererkennt. Dieser Moment, dieser Zustand und diese Möglichkeit der Identifikation, der Wiedererkennung gehen aus einem Parallelismus zwischen dem Boden der Erfahrung und einem gewissen von vornherein sedimentierten begrifflichen Schema hervor. Es ist hier, auf der lichtdurchlässigen Oberfläche dieses Netzwerkes unserer Orientierung innerhalb des Erfahrungshorizonts, worin sich die Lebensformen und auf entsprechende Art und Weise die Formen der Selbstbeziehung bilden. Allerdings lässt sich diese Gewissheit niemals zu der Illusion führen, unserem Lebens- und Erfahrungshorizont ein vollständiges Pflaster geben zu können. Es gibt keine mögliche und vollständige Systematisierung dieser lichtdurchlässigen Oberflächen. Es gibt keine absolute, vorrangige Sichtweise, situationsfrei, im Inneren des Horizonts der Erfahrung. Die Erfahrung zeigt sich durch eine egologische Relativität. Jedenfalls kann das Individuum nur seine Horizontalität sein. Das Individuum kann, aufgrund seiner egologischen Relativität, niemals dieses Bilderspiel vollständig ergreifen und bändigen, weil es sich nur als Horizont ergreifen oder nur als Horizont leben kann (selbst wenn es glaubt, dorthin entfliehen zu können, indem es sich in seinen vier Wänden einschließt). Das Individuum kann natürlich aus der Reflexion bzw. aus der Erzählung eine Zusammensetzung von Identifikations- bzw. Selbstbeziehungsformen entwerfen (zum Beispiel wenn es mit Erfahrungsformen zu tun hat, die zum Teil ihre Oberflächen miteinander kreuzen). Es kann auch im Glauben leben, sein »Selbst« inmitten der vielfältigen Spiegelungen ergreifen zu können. Es kann auch eine reflexive Randposition einnehmen, um eine Auffassung von einem Bild oder von mehreren Bildern gewinnen zu können, als ob das »Selbst« etwas zur Ergreifung durch Introspektion Bereites sein könnte. Jedoch ist das optische Gleichgewicht des Bestehens dieses Spiegelbildes, immer im Rahmen der Metapher verstanden, dermaßen empfindlich, dass man, wenn man sich ihm annähert, um diese Oberfläche zu ergreifen und dort von Näherem das Bild zu betrachten, nur 58 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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ein Objekt ergreift, das sich nicht mehr als katoptrische Oberfläche gibt, sondern nur als Gerüst einer nicht mehr leibhaftigen Sacherfahrung: ein aus Darstellungen, Bedeutungen, logischen Verbindungen, deiktischen Verweisungen etc. sedimentiertes Objekt. Dem Individuum oder einer Menge an Individuen gelingt es niemals begrifflich, ein »Selbst« oder mehrere »Selbste« als Teil einer festen Struktur zu besitzen oder zu begreifen. Dieses »Selbst« ist nur häufiger als andere besuchte Orte, familiärer als andere seiner Horizontalität, ohne dass diesem eine Natur »an sich«, eine »feste Struktur« zugeschrieben werden könnte. Es ist nur die wahnsinnige Idee gewisser Philosophen – allesamt sind sie ganz neu – dem »Ich« Recht geben zu können oder den Welthorizont des Lebens eines jeden zu einer Identifikationsform reduzieren zu können. Woher kann diese Idee stammen? Wenn man es von Näherem betrachtet, kommt nicht mehr und nicht weniger als eine trügerische Argumentation zum Vorschein, die weder die Kraft hat, sich ausdrücklich zu formulieren, noch eine solche Konsistenz, um behaupten zu können, was auch immer es sei zu gründen. Ausgehend von der Voraussetzung, dass die Philosophie die souveräne Theorie ist, die all das Wissen in einer Architektonik oder in einer (zunehmend mysteriösen) axiomatischen Form vereint, schließt man daraus, dass es auch ein »Subjekt« gibt, dessen Interpretation immer durch seine Verwahrerin in Form der Philosophie zu erfolgen habe. 4 Gemäß dieser Voraussetzung könnte diese Idee einer souveränen Theorie die mehrdimensionale Erfahrung von den Phänomenen vereinen, um diesem »Ich« Sinn oder wenigstens Konsistenz zu verleihen. Doch dort, wo wir sind, auf der Schwelle oder an der Grenze der Philosophie – deren Bedeutung jegliche Konsistenz verloren hat – gibt es keinerlei souveräne Theorie, sondern nur Lebensformen in Dieses Postulat ist illusorisch und führt von der Hypostase einer Subjektivität, deren Wissenschaft die Philosophie sein solle, zur Hypostase eines »philosophischen Subjekts« als »Figur« der Philosophie selbst als erster Wissenschaft. Siehe hierzu M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M., 1966, 3. Aufl., S. 18: »Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der (man könnte ihn ganz allgemein den phänomenologischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz der zu einem transzendentalen Bewusstsein führt.« Aber was uns interessiert, ist die Wiedereinschreibung des »philosophischen Subjekts« als illusorischer Hüter einer hypothetischen Wissenschaft der Subjektivität in dem Spiel der Erfahrung und der Faktizität selbst.
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ihrer »egologischen Relativität«. Innerhalb dieser Relativität und dieser Formenplastizität des »Auf-sich-selbst-Beziehens« gibt es offensichtlich die Form des »philosophischen Subjekts«, das, was als Verwahrer des Sinns selbst der Subjektivität zu betrachten war. Und diese Form ist nicht weniger legitim als andere Formen. Doch das Problem ist hier im Gegenteil, dass die Form »würdiger« scheint oder scheinen könnte. Genau durch die Ausdehnung oder die Schwindel erregende Erweiterung des Feldes, worin sich die »philosophischen Sachen« zeigen, ist eine solche Zuschreibung der Würdigkeit sinnlos geworden! Im Grunde genommen ist diese Identifikationsform eines »Ich« aus der Sicht dieser allgemeinen und genetischen Charakteristika weder verschieden von anderen Identifikationsformen noch mit einer Vorrangstellung ausgestattet. Sie ist innerhalb des Lebenshorizonts verwurzelt, sie ist ein »da, wo« sich das Individuum platziert, um zu einer gewissen Klasse von Gegenständen, Beziehungen, Sachlagen, Ereignissen etc. Zugang zu haben. Sie hat ihre Entstehung, in dem Sinne, dass das Individuum, das lernt, mit dieser Gattung von »Sachen« zu tun zu haben, die man »philosophische Sachen« nennt, sich von dieser selbstbezüglichen Form absetzt. Was ist es also, das diese Individuationsform von den anderen unterscheidet, abseits ihrer Entstehung und ihrem plötzlichen Auftauchen in einer niedergelassenen Kultur, die eine gut ausgebildete Sprache sprach (obwohl glücklicherweise die Philosophie heute alle Sprachen derjenigen spricht, die sie ausüben)? Was ist die erste und entscheidende Charakteristik dieser Lebensform? Was ist der Grund dafür, dass das Individuum sich dazu entschlossen hat, diese Lebensform auszuüben – oder mag es von ihr angezogen worden sein? Es ist nur das Versprechen zur Befriedigung eines Bedarfs: der Bedarf, einen Vorrang der Schau zu gewinnen. Ist es nicht das, was das Individuum in jenem Moment suchte, als es sich dieser Lebensform verpflichtet hat? Ist es nicht die Spannung hin zur reinen Schau in seiner Vorrangstellung, die es in diese unsterblichen Monumente eingraviert vorgefunden hat, deren Größe es bestaunt und woran es sich ein Beispiel genommen hat? Das philosophische Leben des Menschen breitet sich an diesem Entscheidungs- und Verpflichtungspunkt aus, auf dieser Stimmung zu bestehen und zu antworten, mit seinen eigenen Worten und der gemeinsamen Arbeit mit anderen, die auf der allgemeinsten Wissenshaltung bestehen, auf dieser Nachfrage, die auf seiner ersten Ver60 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel II Die verwirrende Frage
pflichtung beruht und sich hierdurch festsetzt. Ist dieser gesuchte und nachgefragte Vorrang der Schau letztlich nicht die Illusion einer Antwort – die das Individuum noch für möglich hält – auf seine erste Nachfrage, die Nachfrage der Selbsterkenntnis? 5 Wir sind uns schon bewusst geworden, dass diese Antwort aufgrund der radikalen Zweideutigkeit der Nachfrage grundsätzlich unmöglich ist. Was hier aber interessiert, ist die Lebensform 6 des »philosophischen Subjekts«, so wie sie durch das Individuum anerkannt und üblich ist. Diese Lebensform verwandelt die Nachfrage selbst. Durch diese Nachfrage eines Vorrangs der Schau als mögliche Aufhebung der Zerstreuung 7 des Realen, seiner eigenen Erfahrung und seiner eigenen Individuationsformen, verwandelt das »philosophische Subjekt« seine wesentliche Frage eindeutig vollkommen zur Sinnfrage seines Lebens, seines Schauens, zur Form der Sinnfrage seines Wissens.
5 Vgl. E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg, 1996, S. 15: »Daß Selbsterkenntnis das höchste Ziel philosophischen Fragens und Forschens ist, scheint allgemein anerkannt«. Nun aber ist, könnten wir sagen, dieses Faktum auch immer unbefragt geblieben. 6 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, cit., § 23, S. 300. 7 Siehe hierzu, M. Heidegger, Sein und Zeit, cit., § 36, S. 229; § 68, S. 459; GA 61, S. 119; GA 26, S. 173 f.
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Kapitel III Die Dimension der Theorien
Wenn man nur ein klein wenig im Laufe der Jahre vorrückt und sich umdreht, blickt man mit einem kleinen Lächeln auf die Hoffnungen und die Versprechen, die in den überwältigenden Jahren unserer Jugend gesteckt haben. Dieses Lächeln ist im Wesentlichen von der Gewissheit abhängig, die man mit der Zeit entwickelt hat, dass manche der Versprechungen teilweise illusorisch waren, weil sie dazu bestimmt waren, nicht aufrechterhalten zu werden oder sich gar nicht zu realisieren. Es stellt sich in der Tat heraus, dass eine dieser Hoffnungen illusorisch war – entweder weil man die Kraft nicht hat oder hatte, um diese zu realisieren, oder weil die Wirklichkeit tatsächlich auf ihrer überwältigenden und unerforschbaren Strecke mit aller Gewalt ihre Realisierung durch unüberschreitbare, faktische Bedingungen verhindert hat. Nun, Ironie des Schicksals oder Witz der Vernunft, müsste das »philosophische Subjekt« notwendigerweise dieses gebrochene Versprechen erkennen. Es wird auch jenen Sinnmangel erleben, denselben Sinnmangel, den es versuchte, in und durch die Suche nach einem Vorrang der Schau auszufüllen. Aber die Philosophie erscheint letztendlich unfähig, eine Aufgabe zu erfüllen. Ein gebrochenes Versprechen bedeutet allerdings nicht, dass dieser Vorrang nicht irgendwo ansässig ist. Es bedeutet nur, dass ein solcher Vorrang, um erworben zu werden, eine Verpflichtung und ein Entdeckungsrisiko verlangt, welches die Philosophie in ihrer doktrinären Dimension nicht einmal erahnen lässt. Jedenfalls kann die Philosophie die Nachfrage nach einer ersten Schau nicht beantworten. Das philosophische Subjekt, gelegen »da, wo« seine Lebensform es setzt – und zwar unter »philosophischen Sachen« –, kann nicht mehr auf notwendige und unvermeidbare Art und Weise begreifen, was es tut. Jedenfalls kann das »philosophische Subjekt« gemäß einer Notwendigkeit, die sich durch immer neue faktische Situationen äußert, nur den Kontakt mit und den Bezug zu den »Sachen« verlieren, mit denen es zu tun hat. 62 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel III Die Dimension der Theorien
Dieses Feld von Sachen, in dessen Inneren es sich befindet und wo es angefangen hat zu handeln, weitet sich zur Maßlosigkeit aus: Die »Sachen selbst« differenzieren sich, vervielfachen sich, hybridisieren sich mit anderen Wissensformen, die Verbindungen vermehren sich rasch, die Einheiten beziehen sich zueinander in einer unendlichen Kombinatorik, die diese Idee einer ersten Schau bis zum »Ende« des Horizonts (des Wissens) zerstört. Auch wenn sich das »philosophische Subjekt« selbst von den »philosophischen Sachen«, die ihm greifbar nahe bleiben, abgekapselt hat und sich in die massive Produktion anderer »philosophischer Sachen« in einem Schwindel erregenden Rhythmus stürzt, wird es nie, weder durch den Narzissmus seiner Fachkompetenz noch durch den Fetischismus seiner Produkte, die Leere des Raums füllen, der sich ihm eröffnet. Dieser Raum ist durch die Sinnfrage seines »Handelns« offen und als offener Raum, d. h. als Horizont, besteht er fort – unabhängig von jeder Deklination derselben Frage, gemäß dieser oder jener Individuationsform als »Selbstbeziehung«. Aber wenn die Sinnfrage einen Raum durch ihre Zweideutigkeit öffnet, dann beinhaltet diese Zweideutigkeit jede Deklination desselben Fragens. Und ihrerseits öffnet jede Deklination neue Räume, die in Verbindung mit diesen Deklinationen der Zweideutigkeit selbst (gemäß ihrer eigenen regionalen Form) bleiben. All die Antworten, die das »philosophisches Subjekt« in den Büchern oder in den günstig verkauften Lehren von irgendwelchen »Meistern« finden könnte, dienen nicht zur Erfüllung des Sinnmangels [infra § 43]. Der Sinnmangel oder die Sinnleere entstand in der Erfahrungsform des »philosophischen Subjekts« aus der Unmöglichkeit, auf die Frage »Was ist die Philosophie?« – als Deklination der Sinnfrage – zu antworten. Das Individuum kann sich nur als ein »im Leeren philosophierendes Subjekt« anerkennen. Und noch einmal sollte es, anstatt unmittelbar auf der Suche nach einer Antwort zu sein, in der Situation, die ihm die Frage selbst (als Deklination) geöffnet hat, bleiben. Es sollte und es muss sich zurücknehmen, weil die Kraft seines Denkens gerade allein auf der Fähigkeit beruht, diesen Öffnungszustand zu ertragen, denn nur in diesem Öffnungszustand kann seine Schau verwandelt werden. Diese Metamorphose beruht genau genommen auf der Form der Frage selbst, die tatsächlich selbstverständlich auch eine theoretische Frage ist, aber zunächst die Sinnfrage einer Existenz, die zur Erkenntnis orientiert ist. Für dieses Subjekt, das sich für »philosophisch« hielt und das sich jetzt nur noch 63 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel III Die Dimension der Theorien
für ein »im Leeren philosophierendes Subjekt« halten kann, ist es besser, an dem festzuhalten, was es hat: nämlich der beheimatete und konstitutive Sinnmangel seines Philosophierens. Es ist besser, sich an diesem Mangel festzuhalten, als noch einmal der Versuchung nachzugeben, einfachen Antworten hinterherzulaufen, welche durch diese oder jene Schule, von diesem oder jenem Autor oder Lehrmeister, durch diese oder jene inflationäre Deklination der Philosophie vorgegeben werden. Es ist genau eine solche Vermehrung dieser Deklinationen, die zu Recht und auf unvermeidbare Art und Weise die Leere seines Handelns zur Erscheinung brachte. Die Frage als Nachfrage präsentiert sich im Gegenteil »hier« vor seinen Augen. Die Erfahrung, die man durch sie macht, und die Erfahrung, die man durch ihre Annahme als Gegenstand einer Analyse, einer Schau, macht, ist das Residuum des Zusammenbruchs aller falschen Glaubensrichtungen: illusorische Glaubensrichtungen, da sie wesentlich nur entweder narzisstische oder fetischistische »Escamotages« sein können. Die Sinnfrage – welche die Form einer theoretischen Frage über das Wesen von etwas (»Was ist … ?«) annimmt – hat eine klare Struktur, eine derartig klare Struktur, dass sie durch die hypertrophische Vorgehensweise der sogenannten »technischen« Philosophie niemals bemerkt werden könnte. Was fragt man, wenn man »Was ist die Philosophie?« fragt? Hat man nicht mit einer dieser doppelten, zweideutigen Fragen zu tun, bei der man keine klare Idee von dem hat, was zur Diskussion steht? Ist diese Nachfrage, eben aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit, nicht mit der Nachfrage »Was/wer bin ich?« vergleichbar? Die Antwort lautet nein, weil die Doppeldeutigkeit der Nachfrage »Was/wer bin ich?« als konstitutive Doppeldeutigkeit die Richtung selbst des Fragens verdoppelte, wohingegen hier das Fragen auf etwas ordentlich Bestimmtes, auf die »Philosophie«, gerichtet ist! Gäbe es etwas Eindeutigeres als die erste Wissenschaft bzw. die souveräne Theorie? Genau hinter dieser Klarheitserscheinung verbirgt sich die Doppeldeutigkeit, welche die Frage als solche ihrer eigenen Form nach auftauchen lässt. Warum sollte man die Frage nach der Philosophie stellen, sich selbst (oder, wie man behauptete, die »universelle Vernunft« etc.) über das Wesen der Philosophie befragen, wenn doch die Philosophie selbst absolut klar und evident wäre? Was im Gegenteil evident ist, ist, dass das, wonach man fragt, in sich etwas Zusammengesetztes, etwas Dynamisches ist. Und wenn dies nicht evident oder klar ist, wird es klar aus der einfachen Namenserklärung des 64 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel III Die Dimension der Theorien
Wortes »Philosophie«, die jeder Schüler am Tag seines ersten Philosophiekurses auf dem Gymnasium hört oder die er in einem Wörterbuch oder auf irgendeiner Internetseite findet. Anscheinend ist – Witz der Vernunft – das, was dem »im Leeren philosophierenden Subjekt« bleibt, nur ein Rest an Bedeutung, verankert in einer Sinnfrage, die gerade von den »philosophisch« überspezialisierten oder von den konzeptuell überabstrahierten konventionellen Definitionsversuchen angestoßen wird, in welche er von Beginn an geführt wurde. Demjenigen, der sich als »philosophisches Subjekt« oder ganz einfach als »Philosoph« (durchdringender Name!) bezeichnet hat, bleibt nur das Aufhebungsmoment einer nominalen Definition, die Spur einer Etymologie. Er muss sich an dieser scheuen Spur der Etymologie festhalten, er muss diesen Moment der Not ertragen, um den Weg wieder aufzunehmen und damit seine Schau verwandelt finden zu können. Es geht um die einzige metaphilosophische Schwelle, die man wirklich als solche bezeichnen kann: Jede Metaphilosophie als Lehre ist nur eine Boutade. Die Metaphilosophie als Doktrin, Lehre, bedeutet letztlich nichts anderes als die Bloßstellung einer Disziplin und eines Individuums, die den intimen Sinn der Suche verloren haben, die, um bildlich zu sprechen, Schiffbruch erlitten haben und die in diesen überartikulierten Diskursen die reine Nichtigkeit präsentieren [infra § 46, Fn. 4]! Was man also durch die »Metaphilosophie« erfährt, ist nur dieser extreme Spannungsmoment des Denkens, das sich in der konstitutiven und ursprünglichen Notsituation der Frage nach dem Sinn des Wissens befindet. In diesem extremen Spannungsmoment, auf dieser Schwelle, 1 wird das, was im Herzen der Dass »das Metaphilosophische« lediglich eine Schwelle ist, bedeutet, dass es keine Autorität oder kein Argument auf der Grundlage derjenigen gibt, die a priori die Inhalte oder die theoretischen und stilistischen Ausrichtungen der Philosophie selbst beurteilen könnten. Jemand könnte sagen: »Aber das ist (doch) keine Philosophie!« An diesem Punkt fiele er in dasjenige, das wir als metaphilosophisches elenchos definieren. Denn er müsste sagen, was die Philosophie ist. Und dafür hätte er zwei Mittel: Das erste ist zu sagen, was die Sophia (oder das Wissen) ist, welches als Teilvorstellung im Wort beinhaltet ist. Das zweite ist zu sagen, wie die Philosophie, in einer oder mehreren Formen ihrer Entwicklung, gewesen ist und dass sie derartig bleiben muss. Im ersten Fall muss er eine extensionale Betrachtung der Formen der Sophia, des Wissen, liefern, um zunächst eine allgemeine Idee zu bestimmen, die in die Bestimmung der Philosophie integriert werden kann. Und so liefert er trotzdem eine metatheoretische Betrachtung, indem er zugibt, dass eine metatheoretische Dimension zum Vorgehen der theoretischen Definition der Philosophie selbst gehört. In
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Nachfrage ansässig ist, auf neutrale, scharfsinnige Art und Weise zusammengefasst bzw. betrachtet – außerhalb jeglicher Versprechung und jeglicher Illusion einer souveränen Theorie. Was geschieht also, wenn der Mensch, der weiterhin als das »im Leeren philosophierende Subjekt« fortbesteht, die aufgehobene, neutralisierte Frage durch die intrinsische Artikulierung des Gefragten erkennt? Die Intentionalität, die auf das Wesen des Gefragten hin gerichtet war, orientiert sich jetzt hin zu einer Dynamik von zwei Teilvorstellungen. Diese Dynamik zeigt mehr als eine einfache etymologische Analyse. Die Artikulierung dieser zwei Vorstellungen, dieser zwei Idealitäten, bezeichnet eine Spannung, eine Suche, die versucht, dem menschlichen Wissen Einheit zu geben. Die (erotische) Spannung zu einer »Sophia« als Objekt, als Einheit, ist weder die Auslegung derselben Einheit noch die Erklärung seiner leeren Form noch das Begreifen seines einfachen Inhaltes. Was die Auffassung der Dynamik dieser zwei Teilvorstellungen bezeichnet, ist nur eine Spannung zu »etwas« – die »Sophia«, deren Objektgehalt leer ist. Daher diesem Fall würde er auch von metatheoretischen Gegenständen sprechen, ohne die Aufgabe seines Diskurses klären zu wollen. Und im Ausdrücken von metatheoretischen Gegenständen müsste er die Philosophie inkludieren. Im zweiten Fall müsste man nur auf willkürliche Weise zu einer Philosophiegeschichte voranschreiten, wobei man es nicht wagt, eine konzeptuelle Bestimmung zu liefern und so zur Auswahl einer oder mehrerer Formen der historischen Philosophie zu gelangen, um dadurch den »Stil«, die Methoden, die Ansätze, die Sprache zu legitimieren bzw. zu begründen. Aber indem man von der Philosophie als »etwas« spricht, das sich entwickelt, von seinen Momenten, von seinen historischen Beziehungen mit anderen Wissensformen, vollzieht sich trotzdem eine metatheoretische Betrachtung, indem man zugibt, dass eine metatheoretische Dimension zum Vorgehen der historischen Bestimmung der Philosophie selbst gehört. In beiden Fällen müsste derjenige, der die metaphilosophische Schwelle als Übergang zu einer metatheoretischen Betrachtung verneinen möchte, das Metatheoretische selbst akzeptieren. Das gilt auch für die »gute« Philosophie, weil die Behauptung einer guten Philosophie gegen eine schlechte nur die Explikation der obigen Auswahl sein kann. Über was urteilen wir also? Diese Frage weist darauf hin, obwohl es das nicht zeigt/beweist, dass es besser sei, sich vielmehr an die Bewegung selbst des reinen Denkens zu halten, als sich zu sehr mit Bedenken aufzuhalten, die sich damit beschäftigen, ob man die Philosophie praktizieren kann. Und wenn man diese ursprünglich Hegel’sche Idee von der Bewegung des Wissens nicht akzeptieren will, kann man sich darauf beschränken, all das als eine Lehre des gesunden Menschenverstandes zu betrachten, sobald man man das elenchos selbst erstmals anerkannt hat. Siehe hierzu G. Ryle, Ordinary Language. In: Collected Essays 1929–1968, London, 1971, S. 331: »preoccupation with questions about methods tends to distract us from prosecuting the methods themselves. We run as a rule, worse, not better, if we think a lot about our feet. So let us not speak of it all but just do it.«
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Kapitel III Die Dimension der Theorien
ist in der neutralisierten Frage das Objekt nicht begreifbar, es ist nicht geeignet, um als etwas »Konkretes« genommen zu werden. Indem die neutralisierte Frage die »Sophia« nennt und bezeichnet, bezeichnet sie dieselbe »Sophia« als Fluchtpunkt einer Perspektive. Hier bezeichnet die »Sophia« etwas, das sich nicht dort finden und ergreifen lässt, wo sich das »im Leeren philosophierende Subjekt« befindet und wo es fragt. Dieses Etwas flieht zum Horizont der Schau, des Theôrein, an den Fluchtpunkt der Perspektive jeder menschlichen Suche. Die »Sophia« oder was man auch die Mathesis universalis nannte, lässt sich an der extremen und extrem flexiblen Grenze dessen nieder, was man als menschliche Lehre (la doctrine humaine 2) noch denken kann, der Punkt, zu dem sich jeder Gelehrte oder derjenige, der sich als solcher bezeichnen will, orientieren muss. Die Dynamik der neutralisierten Frage zeigt dem »im Leeren philosophierenden Subjekt« seine reine Situation innerhalb des Horizonts des Wissens. Anders gesagt: Diese Dynamik projiziert, öffnet einen Raum, in dessen Innerem der Mensch, der ein »im Leeren philosophierendes Subjekt« ist, etwas nur gemäß einer eigenen Form des Erfahrens erfahren kann. Was ist dieses »Etwas«? Und vor allem: Was ist die Form dieser Erfahrung? Es handelt sich zunächst um eine neue Erfahrungsform oder eine ursprüngliche Form, die verdeckt vom Götzen einer metaphysischen Erkenntnis (als Gebung bzw. Gabe des allerletzten Sinns) stillschweigend fortbestand. 3 Diese Form ist die Form einer metatheoretischen Erfahrung, ist die metatheoretische Erfahrung selbst, nicht die begriffliche Auffassung bzw. Verfassung einer Metatheorie als Theorie aller Theorien [infra § 55], als ob man die Methode und die Art der Systematisierung wiederholen könnte, welche die Theorien bzw. die Wissensformen über ihre eigenen Gegenständlichkeitsgebiete entwickeln. Der Sinn des Schauens, den die metatheoretische Erfahrung das »im Leeren philosophierende Subjekt« (welches jeglichen illusorischen Anspruchs beraubt ist) wiederentdecken lässt, ist genau der ursprüngliche Sinn des Schauens, dem letztendlich alle Theorien entstammen. Es ist der Sinn einer horizontalen Erfahrung, einer »Öff-
Vgl. G. W. Leibniz, De l’horizon de la doctrine humaine, Paris, 1991. Es gibt weder eine Wahrheit der Phänomenalität im Ganzen noch eine Form (des gesättigten Phänomens), die eine solche illusorische »Wahrheit der Phänomenalität« deutlich machen kann. Vgl. J.-L. Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, 1997, S. 317.
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nung-wohin« man die Theorien selbst erfährt, in der man ihr intimes Leben, ihre Interaktionen, ihre Verhaltensweisen, ihre Entwicklungen usw. erfahren und beschreiben kann. In diesem Sinne erweisen sich die Theorien selbst als Objekte einer Schau, einer Erfahrung, ohne dass das Subjekt einer solchen Erfahrung irgendetwas bezüglich dessen was diese Objekte sein »müssen«, wie sie interagieren müssen, wie sie sich strukturieren müssen, normativ behaupten könnte. Diese Objekte folgen ihrer eigenen Dynamik, welche sich dem Mensch als Beobachter, als Entdecker und nicht als Gesetzgeber eröffnet. Um dies begrifflich zu vereinfachen, nennen wir diese Objekte, »□metatheoretische Gegenstände« und die Schreibweise »□metatheoretisch« bedeutet in diesem Kontext »was sich im metatheoretischen Horizont zeigt«. 4 Das »Wie« der Erscheinung von »Etwas« ist das, was seine besondere und charakteristische Natur aufdeckt: Der »Gegenstand-imWie«, das heißt der Gegenstand, so wie er in der metatheoretischen Erfahrung erscheint, besitzt die Charakteristika eines Etwas als eine Theorie. Dieses »Etwas«, als □metatheoretischer Gegenstand (□MG), kann nur gemäß seiner eigenen Dimensionen, gemäß seiner Entstehung, seiner Entwicklung in der Zeit, gemäß seiner räumlichen Verhaltensweisen, seiner internen und externen strukturellen Verbindungen entdeckt werden. Können und müssen wir den Gegenständen, bevor wir diese selbst erforschen, eine Form bzw. eine Gestalt zuschreiben? Ist es möglich, dass der Gegenstand einer Erfahrung keine Form besitzt? Können wir über einen Erfahrungsgegenstand reden, ohne seine Anschauung zu beschreiben und zugleich eine solche Anschauung als möglich vorauszusetzen? Was ist also eine □metatheoretische Anschauung, das heißt die Anschauung von etwas in Form eines □metatheoretischen Gegenstands? Haben wir die Möglichkeit der Anschauung von etwas, von einem □metatheoretischen Gegenstand, ohne dass dieses Etwas eine Gestalt, eine visuelle Form hat? Die Antwort auf die zweite Frage ist recht leicht und klar. Unsere Erfahrung ist voll von Anschauungsformen, die keinerlei visuelle Form (Gestalt) haben: das Bemerken eines falschen Akkordes beispielsweise oder das Anerkennen einer Gefühlslage im Gesicht eines Freundes, das Bemerken jeder kategorischen und formalen Der kontextuale Operator »□« wird im Folgenden auf alles angewandt, was zum Sich-Zeigen innerhalb des metatheoretischen Horizonts gehört, ohne dass es mit irgendeiner Art von Substantivierung zu verwechseln wäre.
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(nicht geometrischen) Anschauungsform, das Schmecken gewisser Nuancen eines Weins etc. bis hin zu noch komplexeren Anschauungsformen. Doch was ist die □metatheoretische Anschauung? Können wir uns auf die Theorien, auf ihre Teile, auf ihre Interaktionen, auf ihre Beziehungen so beziehen, wie wir uns auf etwas Empfindbares beziehen, als ob solche Theorien angeschaut würden? Die Anschauung konnte als die unmittelbare Art und Weise, sich auf etwas zu beziehen, bestimmt werden. »Sich unmittelbar auf etwas zu beziehen« bedeutet, dass wir den Inhalt des Bezuges, der sich uns auf unmittelbare Art und Weise in dem Moment mitteilt, in dem er selbst zur Erscheinung kommt, nicht leugnen können. Es bedeutet folglich, dass wir diese Präsenzform als von uns unabhängige Instanziierung annehmen müssen und eventuell nur die Auffassung als »ein bestimmtes Etwas« oder jede andere Bestimmung desselben Inhalts bezweifeln können. In welchem Sinne können wir dann einen □metatheoretischen Gegenstand anschauen? Wenn wir von einer Theorie sprechen oder wenn wir anerkennen, dass ein theoretischer Ansatz von einer begrifflich abgesetzten Struktur abhängt, dann beziehen wir uns auf etwas – gleich, ob es der Philosophie, der Mathematik, der Geographie, der Theatergeschichte etc. angehört – in dem klaren Bewusstsein, dass es ein solches »etwas« gibt, dass ein solches »etwas« existiert. Unsere begriffliche Vertrautheit mit diesen Gegenstandsformen lässt uns keinen Moment daran zweifeln, dass es sich um etwas Ausgedachtes bzw. Fiktives handelt. Die Tatsache, dass »etwas« nicht gemäß der Individuationsprotokolle der physikalischen Wissenschaft in seine individuelle Form gebracht worden ist, rechtfertigt die Skepsis oder die Negation seiner Existenz nicht. Können wir legitimerweise die Existenz der Quantenmechanik oder des Strukturalismus in der Mathematik oder der »Phlogistontheorie« leugnen? Müssen wir auf alle Bücher, in denen man davon spricht, zurückgreifen, um sagen zu können, dass es sie gibt? Und warum also nicht auf alle Kopien der Bücher oder auf alle Wörter jeder Kopie desselben Buchs etc.? Das wäre so, als würde man die Existenz einer Wolke als »Gegenstand« nur dann beweisen können, wenn man die Summe aller Wassermoleküle betrachtet. Wie jede Erfahrungsform verlangt die metatheoretische Erfahrung eine gewisse »Positionierung« um etwas, das wir als □metatheoretischen Anschauungsgegenstand erfahren. Die Öffnung des metatheoretischen Horizonts, aufgrund der Dynamik der neutrali69 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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sierten Frage, drückt gerade allein diese Form des »Sehens« klar aus, die sich implizit im Verhalten jedes Wissenschaftlers, der mit den »Sachen selbst« seiner Praktik zu tun hat, wiederfindet. Die theoretischen Strukturen als □metatheoretische Gegenstände sind da. Wir treffen sie innerhalb unserer Suche nach immer vollständigeren und wissenserweiterten Formen, in unseren interdisziplinären Vorgehensweisen, in unserer Orientierung im Inneren dieses Horizonts, welcher derjenige der menschlichen Erkenntnis ist, an. Dieses etwas, dieser Gegenstand einer □metatheoretischen Anschauung, kann also dem Gedanken eines Horizontes folgend durch ein Modell und folglich durch eine visuelle Übersetzung dieses Modells dargestellt werden. Fangen wir zunächst damit an, diese visuelle Übersetzung gemäß den Formen unserer visuellen sinnlichen Erfahrung vorzunehmen. Die □metatheoretischen Gegenstände können durch eine Modellierung eine Form im Sinne einer Gestalt erhalten. Wir nennen diese Form das »□Eidos« eines □metatheoretischen Gegenstandes: Das □Eidos ist die visuelle Modellübersetzung der morphologischen Struktur des Gegenstands, welche die Verbindung zwischen ihren Bestandteilen sehen und entdecken lässt. Wir können dieses □Eidos – unter allen möglichen Modellformen – als einen Graph 5 darstellen:
Man braucht kein großes Vorstellungsvermögen, um eine solche Modellierung »visuell« begreifen zu können. Es genügt schon, z. B. in Berlin auf dem wunderschönen Gendarmenmarkt spazieren zu gehen und die Räume des Max-Planck-Instituts oder seine Webseite zu besuchen, um die graphische Schnittstelle zu sehen, die entwickelt wurde, um – auch fühlbar – eine solche dreidimensionale Struktur des Graphen zu begreifen und zu entdecken (http://max-planck-research-networks.net/). Diese graphische Schnittstelle lässt sich aus der Sicht des Knowledge Engineering visuell nur in einer komplexen Modellierung darstellen, welche die dynamische Struktur eines Gegenstandes repräsentiert. Da die Mathesis eine logica imaginationis ist, können wir eine visuelle Modellierung von »Theorien« entwerfen. Dadurch haben wir Zugang zu anderen Erfahrungsformen. Mit einer ähnlichen Modellierung, die nicht Forschungsnetzwerke, sondern Wissensnetzwerke bzw. □metatheoretische Gegenstände visualisiert, können wir ihre Struktur in (kinästhesische) Erfahrung bringen. Wir können ihr □Eidos erfassen, indem wir die Termini (oder Knoten oder Punkte) isolieren, indem wir sie vergrößern und indem wir versuchen, zu sehen, welches ihre interne Struktur etc., aber auch die Struktur ihres □Logos ist, und indem wir die Struktur und den Gegenstand selbst während seiner Entwicklung in der Zeit suchen.
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Dieses □Eidos stellt den Gegenstand einer möglichen Erforschung dar, einer detaillierteren Auffassung jener Bestandteile, die ihrerseits ein thematischer Gegenstand werden können, indem man die allgemeine Struktur in den Hintergrund rückt und sich auf diese Termini (oder Punkte oder Knoten), auf ihre örtlichen Verbindungen etc. fokussiert [infra §§ 56–60]. Aber als sedimentiertes Produkt menschlicher Tätigkeit, als hergestellte spirituelle Form [infra §§ 58–61], haben diese □metatheoretischen Gegenstände auch ihre »Geschichte«, ihre Sedimentierung und ihre diachronen, phylogenetischen Entwicklungen. Wir nennen diese Dimension den »□Logos« des □metatheoretischen Gegenstands. Wenn der □metatheoretische Gegenstand einen Innenhorizont hat, den wir erforschen können, dann können wir eine immer genauere und noch bestimmtere Erfassung seiner Struktur und all seiner Bestandteile haben. Und in jedem Moment seines □Logos, nämlich gemäß allen morphologischen Beschaffenheiten, die er angenommen hat, ist er auch mit einem Außenhorizont ausgestattet, weil die systematische Verbindung dieser zwei Dimensionen der me71 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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tatheoretischen Erfahrung sich nicht auf die Erfahrung des □metatheoretischen Gegenstands als Singularität begrenzt, sondern sich vor allem durch seine Verbindungen zu anderen Gegenständen, d. h. zu seinem Außenhorizont ausdehnt. Der □metatheoretische Gegenstand, der sich im Brennpunkt der Schau befindet, ist von einem teilweise bestimmten, teilweise unbestimmten metatheoretischen Horizont umgegeben: Wir können unseren Blick auf die □metatheoretischen Gegenstände richten oder auf gewisse strukturelle Ähnlichkeiten. Wir können auch der Entwicklung dieser einzelnen besonderen Verbindungen im Laufe ihrer Sedimentierung und ihrer Entstehung, ihrem Verschwinden etc. folgen. Doch bis zu welchem Punkt kann man von einem □metatheoretischen Gegenstand sprechen? Wenn wir auf das »Etwas« als □metatheoretischen Gegenstand abzielen: Bis zu welchem Punkt hin kann dieser »groß« bzw. ausgedehnt sein? Bis zu welchem Punkt hin kann er im Gegenteil »klein« bzw. elementar sein? Eine Verbindung zwischen zwei □metatheoretischen Gegenständen (Theorien, Theorieteilen oder Aggregaten von Theorien) ist ihrerseits ein □metatheoretischer Gegenstand. Irgendeine Sachlage zwischen □metatheoretischen Gegenständen ist ein □metatheoretischer Gegenstand. Irgendeine Instanziierung eines neuen □metatheoretischen Gegenstands durch eine besondere Dynamik zwischen □metatheoretischen Gegenständen ist ein □metatheoretischer Gegenstand [infra § 66]. Unsere metatheoretische Erfahrung gliedert sich, wie andere Erfahrungsformen auch, gemäß der Auffassung von Situationen, von statischen oder dynamischen Verbindungen, von Sachlagen, von Ereignissen etc. Bis zu welchem besonderen Punkt jedoch ist ein Teil eines □metatheoretischen Gegenstands, durch die Entdeckung seines Innenhorizonts aufgefasst, noch ein □metatheoretischer Gegenstand? Ein Terminus (ein Punkt oder ein Knoten) ist noch ein □metatheoretischer Gegenstand, sofern dieser ein Knoten einer strukturellen Verbindung zwischen anderen nicht-atomaren □metatheoretischen Gegenständen ist und sofern dieser funktional für das Bestehen dieser Verbindung fortbesteht. Ein Terminus, der auf spezifische Art und Weise – das heißt konstitutiv – zu einer theoretischen Struktur gehört, ist noch ein □metatheoretischer Gegenstand, den wir als »atomar« definieren würden, d. h. dass dieser von sich selbst nicht sic et simpliciter, sondern als Teil-von-etwas aufgefasst wird [infra § 64–65]. Er ist es nur, wenn er innerhalb eines □metatheore72 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel III Die Dimension der Theorien
tischen Gegenstands als sein konstitutiver Teil, als Bestimmungsteil struktureller Verbindungen, die dem Gegenstand seine charakteristische strukturelle Morphologie verleihen, bezeichnet werden kann. Die Schau – die sich im Kontext des metatheoretischen Horizonts bewegt – kann einen bezeichneten Terminus (der in anderen Kontexten als Begriff, als Funktion oder als eine ganz andere Sache verstanden wird) als einen □metatheoretischen Gegenstand, in seiner eigenen und charakteristischen Gegenständlichkeitsform anerkennen. Das Projekt einer solchen morphologischen Beschreibung breitet sich nun zur Maßlosigkeit und genau genommen bis hin zu dem Punkt, an dem es Wissen gibt, aus. An diesem Punkt könnte man also auf eine Art nostalgische Rückkehr der Ambitionen der souveränen Theorie hoffen, welche besagt, dass die beschriebene und durch dieses Projekt zum Ausdruck gebrachte metatheoretische Dimension in einer vollständigen Schau des menschlichen Wissens enden könnte, indem sie die Möglichkeit eröffnet, jede Theorieform und jede theoretische Strukturform zu modellieren und zu systematisieren. Diese Hoffnung wurde aber zerstört in Anbetracht bzw. vor dem Hintergrund jener konstitutiven Horizontalität dieser Erfahrungsform und ihrer Dimensionalität. Die Idee selbst einer Horizontalität, die keine absolute Vertikalisierung annimmt, könnte schon die Naivität solcher Ambitionen beweisen. Aber es gibt innerhalb dieser metatheoretischen Dimension (selbst dort, wo sie als flächenhaft vollständig bezeichnet werden könnte) eine eigene und charakteristische Unvollständigkeit und eine Form von »Imprädikativität«. 6 Denn auch wenn man die □metatheoretischen Charakteristika vermittels Beschreibung und Idealisierung als regionale Charakteristika erhalten könnte, so hängt die Bestimmung der formalen Charakteristika des □metatheoretischen Gegenstands (wie zum Beispiel diejenigen, die den erwähnten Zusammenhang zwischen Ganzen und Teilen formal festlegen) von einem anderen □metatheoretischen Gegenstand in Form einer Gegenstandstheorie oder Ontologie ab. Das ist so, als ob der Raum und die metatheoretische Dimension in sich selbst gekrümmt seien, sodass eine Delle, eine Leere, eine andere privative Situation erscheint.
6 Siehe hierzu St. C. Kleene, Introduction to Metamathematics, Amsterdam – NY, 1971, S. 36–42.
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Kapitel IV Jenseits des Sinnes von Sein
Am Ende unserer vorangegangenen Reflexionen hatte sich die idyllische Perspektive der Metatheorie durch den Verdacht, durch die Möglichkeit, dort eine Leere zu finden, eine Unvollständigkeitsform oder eine Form des Mangels, verdunkelt. Ist es wirklich möglich, dass sich unter dem Namen »Metatheorie«, extrem faszinierend und aufgeblasen, noch die Ängste der Unvollständigkeit, der Schatten des konstitutiven Fehlers verstecken? Werden wir nicht wie Sisyphos für unsere Suche nach einem Vorrang der Schau bestraft? 1 Geht es nicht um eine ungewöhnliche Situation? So wie man es geschafft hat, sich vom notgedrungenen Fehler einer Form der Schau zu befreien, und man zu einer neuen Form der Erfahrung gelangt, die man für definitiv hält, charakterisiert sich diese Form selbst erneut durch den Mangel, durch den Fehler und durch die Unvollständigkeit. Es scheint tatsächlich so, dass dies wohl die Strafe ist, welche aus der Verweigerung jedes Götzen des Denkens und all dieser Götzen des Wissens, unter denen sich auch die gefährlichsten verbergen, folgen muss. Dies scheint die Strafe des Absoluten und des Allerletzten, auch dieses Allerletzten à bon marché, auf dessen Versuchung man sich nur einlässt, weil »es sinnvoll ist, etwas Allerletztes zu haben«, zu sein. Aber man sollte sich nicht über diese Situation beschweren – ganz einfach, weil es ein schlecht ausgebildetes »Absolutes« oder »Allerletztes« nicht schaffen würde, das Gewicht unserer Nachfragen zu stemmen –, sondern sich an der »Situation« festhalten. Die Situation betrifft genau genommen die Möglichkeit, eine vollständige Charakterisierung der Gegenstände hervorzubringen, die im Inneren des Horizonts (oder der Dimension) der Theorien in Erscheinung treten: das, was wir □metatheoretische Gegenstände nennen. Um diesen BeVgl. A. Camus, Der Mythos des Sisyphos, Leipzig, 2004, S. 50 f.: »Der Mensch integriert das Absurde und läßt damit sein eigentliches Wesen verschwinden, das Gegensatz, Zerrissenheit und Entzweiung ist. Dieser Sprung ist ein Ausweichen.«
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Kapitel IV Jenseits des Sinnes von Sein
griff des □metatheoretischen Gegenstandes begreifen zu können, um zu seiner innerlichsten Struktur gelangen zu können, müssen wir von dem vollständig unbestimmten Begriff des »Etwas« ausgehen. Wenn uns »etwas« betrifft, sich als □metatheoretischer Gegenstand zeigt, sich in den Vordergrund stellt, sind es eben genau genommen diese Charakteristika, die er mit anderen Gegenständen derselben Gattung teilt, welche die Erscheinungsform im Inneren einer besonderen Region unserer Erfahrung bestimmen. Das »□metatheoretische« Wesen von »etwas« – die Tatsache, dass es im Inneren des metatheoretischen Horizonts in Erscheinung tritt – ist nur ein Ausdruck, der uns eine Vielfalt typischer Formen, Entwicklungen, Ereignisse, Sachverhalte, Verhältnisklassen etc. eröffnet. Das »□metatheoretische« Wesen macht also nichts anderes, als einen Raum anzugeben oder zu beschreiben, als eine Region des Erfahrungshorizonts (der wir sind), in dessen Innerem die Erfahrung der Gegenstände selbst eine gewisse Form annimmt. Doch damit diese Bestimmung vollständig oder umfassend ist, müssen wir nun versuchen, das Wesen des »Etwas« festzulegen, das unabhängig ist vom □metatheoretischen Wesen des »Etwas« und wodurch sich dieses □metatheoretische Etwas nur als besondere Deklination erweist. Nun ist die formale Charakterisierung des □metatheoretischen Gegenstands gerade in der Eigenschaft als »Etwas« von einer besonderen »Theorie« abhängig, welche ihrerseits, als Theorie (Gegenstandstheorie), selbst ein □metatheoretischer Gegenstand ist. Dies aber ist nichts Schlimmes! Zumindest wenn man die theoretische Vorsicht besitzt, zu bekräftigen, dass, wenn man das Wesen des □metatheoretischen Gegenstands »formal« – als Wesen jedes Gegenstands – charakterisiert hat, die metatheoretische Erfahrung nicht mehr tätig ist, und dass sogar wenn man das □metatheoretische Wesen der Gegenstandstheorie (oder der Ontologie) betrachtet, man sich nicht in der Vorgehensweise der formalen Ontologie befindet. Man kann die Kontexthaftigkeit der zwei Erfahrungsformen koexistieren lassen. Jedenfalls stellt diese doppelte Beziehung Probleme dar, wenn man von dem □metatheoretischen Ansatz verlangt, zu einer vollkommenen Position des Denkens zu gelangen – vollkommen als unabhängig von der Kontexthaftigkeit, die jede Erfahrungsform und jede Lebensform charakterisiert. Wenn man sich in der Perspektive der vollständigen Bestimmung der Strukturen positioniert, die unsere metatheoretische Erfahrung festlegen – was als unvermeidbar für irgendeine Wissensent75 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel IV Jenseits des Sinnes von Sein
wicklung erscheint –, krümmt sich die metatheoretische Dimension, ab einem gewissen Spannungspunkt, über sich selbst. Das □metatheoretische »da, wo« das Individuum, das metatheoretisch erfährt und nach der vollständigen Bestimmung seiner Erfahrungsform verlangt, sich positioniert, das »da, wo« der Suche einer Vollständigkeit der □metatheoretischen Erfahrung, ist zugleich der Eröffnungspunkt eines anderen thematischen Raumes. Dieses »da, wo« selbst stellt sich als Loch dar, als das »da, wohin« das Individuum durch seine Vollständigkeitsnachfrage und durch die Nachfrage eines Vorrangs der Schau gelockt wurde, weil die Nachfrage einer solchen Vollständigkeit eine Art und Weise, aus der Relativität seiner Erfahrung zu entkommen, ist. In diesem Raum – bisher kaum angedeutet und nur auf ungewisse und verschwommene Art und Weise erfasst – stellt sich die Gegenstandstheorie (die Ontologie) selbst in Frage, weil sie nicht nur ein »Problem« bezüglich der Überheblichkeit einer vollkommenen Metatheorie darstellt, nämlich einer Theorie der Theorien, als axiomatisches und vollständiges Wissen, als System der durch die Theorien erfahrenen Welt, aufgefasst. Sie stellt vielmehr auch ein Problem »an sich selbst« und »in sich selbst« dar, weil es ihr gelingen müsste, sich durch sich selbst in der Eigenschaft der Gegenständlichkeit und genau genommen in der Eigenschaft der □metatheoretischen Gegenständlichkeit zu bestimmen. Wenn man so will, erlebt man hier eine Situation wie diejenige, die am Ende der allerersten Beschreibung der metatheoretischen Dimension auftauchte. Ihr Sein als »□metatheoretischer Gegenstand« zeigt nur, dass die Gegenstandstheorie selbst zugleich ein formal bestimmbarer und regional charakterisierter Gegenstand [infra § 70] ist. Wer könnte leugnen, dass die Ontologie oder die Gegenstandstheorie ein »Etwas« ist? Die Theorie ist aus der Sichtweise dieser besonderen Charakterisierungen demnach ein »Etwas«, das durch die allererste Artikulation der Gegenstandstheorie (der Ontologie) in den Bereichen der formalen und regionalen Ontologie bestimmt werden kann. Die Gegenstandstheorie fügt sich also nicht der □metatheoretischen Relativität, die jede dogmatische Stiftung einer Theorie der Theorien als erste Philosophie 2 aufhebt, sie sollte sich dieser jedoch fügen. Entweder akzeptiert sie ihre Relativierung, indem sie jeden Anspruch auf das Prestige des ersten Wissens aufgibt, oder sie akzeptiert ihre interne 2
Siehe hierzu E. Husserl, Erste Philosophie, II, Hua. 8, S. 195.
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Zirkularität und eo ipso ihre wesentliche Unvollständigkeit. Was ist nun mit all den Hoffnungen, die wir schon seit Jahrtausenden nährten und von denen wir selbst uns nähren werden, um in etwas Erstem, Solidem, derartig Reinem zu enden, um diesen schon immer gesuchten Vorrang der Schau zu erhalten? Gerade erst durch die metaphysische Unmöglichkeit der Metatheorie geöffnet, scheint der Raum der Ontologie sich wieder zu schließen. Was ist mit dem System des ganzen Wissens? Was ist mit dieser Hypothese eines allerletzten (oder ersten) Standpunktes des Schauens selbst, wenn sich dieser Punkt letztendlich nur als eine zirkuläre Bewegung des Theôrein (der theoretischen Schau) ohne Anfang und ohne Ende erweist? Vielleicht müsste man sich, anstatt dieser Bewegung und dieser Erscheinung der Unmöglichkeit zu widerstehen, von dieser Bewegung tragen lassen – mit dem Risiko unterzugehen. »Sich selbst von dieser Bewegung tragen lassen« bedeutet, zu suchen, was sich am Ende dieser äußerst engen Passage befindet, zu entdecken, »how deep the rabbit hole goes«. Es ist besser, dies ohne die Furcht, diese »Leere« anzustreben, zu suchen. Diese Leere ist der Unsinn der Idee einer ersten Schau selbst als souveräne Theorie, die Leere einer Angst vor der Unmöglichkeit, einen Sinn durch und mittendurch das Wissen finden zu können. Tun wir uns selbst Gewalt an und begreifen wir diese Leere als dasjenige, woraus diese souveräne und allerletzte Theorie (die, wie wir gelernt haben, die Ontologie oder die Gegenstandstheorie ist) besteht. Leugnen wir jede heilige Aura dieses Gegenstands, um den Gegenstand selbst wie die Anatomen oder die Geographen zu untersuchen. Nun, die einzige Möglichkeit, die wir haben, eine solche Untersuchung zu unternehmen, ist eine metatheoretische Analyse der Gegenstandstheorie (oder Ontologie) durchzuführen, indem wir nur dem Bewusstsein ihrer Relativität und vor allem ihrer »Erdhaftigkeit« folgen. Versuchen wir also, diesen Götzen einer »ersten Philosophie«, dieser illusorischen Antwortform auf unsere Nachfrage und Suche nach dem Vorrang der Schau, und wenn möglich dessen Vakuum, dessen inneren Raum, zu betrachten und genauer zu erforschen. Jetzt finden wir diesen vor uns liegenden □metatheoretischen Gegenstand, der die Namen der prôtê Epistêmê, »Ontologie« und »Gegenstandstheorie« angenommen hat [infra § 77]: Zum Zwecke der metatheoretischen Schau werden dieser Gegenstand und all die »theoretischen Versprechungen«, die er repräsentiert oder repräsen77 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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tiert hat, neutralisiert werden müssen. Dieser Gegenstand stellt nun nur noch eine strukturelle und genetische Einheit dar. Und gerade innerhalb dieser Einheit gelingt es, seine »Leere« zu begreifen: diejenige Leere, die ihn von Beginn an antreibt und die ihn bis zu seinen letzten Entwicklungen begleitet. Es ist diese Leere (oder dieses Vakuum), die seit ihren Ursprüngen die Idee der Metaphysik als Ergänzung und Erfüllung dieser Leere aufkommen lässt. Versuchen wir also diese Leere mit unseren Fingern zu berühren. Versuchen wir, die erste, niemals verheilte Wunde des theoretischen Narzissmus des Wissens zu untersuchen, ohne Angst vor einem Mangel an historischer und theoretischer Strenge zu haben. Woher entstammt dieser »Gegenstand«, der die Gestaltungen der prôtê Epistêmê im klassischen griechischen Denken, der prima philosophia sive metaphysica im modernen Denken und seit Meinong der Gegenstandstheorie annimmt? Es würde uns nicht genügen, alle alten Bücher der Ontologiegeschichte zu durchschweifen oder diejenigen aktuellen, die jetzt noch auf detaillierte Art und Weise die ontologischen Fragen weiterentwickeln, um auf diese Frage eine Antwort zu geben. Diese Frage ist transversal. Sie ist zuerst eine innere Frage 3 und damit typisch für ein »technisches« Vorgehen des Denkens, das sich mit spezifisch theoretischen Problemen beschäftigt. Sie ist aber auch eine äußere Frage, die der Frage nach dem Sinn eine andere Gestaltung verleiht. Woher stammt also dieser überwältigende, majestätische und elegante Versuch, einen Seinsgedanken weiterzuentwickeln? Entstammt dieser Versuch vielleicht etwa aus der Besorgnis, welche die Menschen im Leben haben, in einer Wirklichkeit sich zu befinden, deren Reichtum und Komplexität unerschöpflich sind? Entstammt dieser etwa aus dem Willen, zu glauben, eine allerletzte Struktur höherer Ordnung finden zu können, die auch für die wissenschaftlichen Strukturen als Fundament, als Prinzip dienen sollte? Geht es also nicht um eine Art theoretischer – äußerst lyrischer – Sublimierung des Fetischismus, der uns glauben lässt, die Stabilisierung unserer Existenz, aufgrund dessen, was wir »besitzen«, was wir »berühren« (selbst wenn dies nur Träger eines symbolischen Wertes ist 4) gefun3 Vgl. R. Carnap, Empiricism, Semantics and Ontology. In Meaning and Necessity, Chicago, 1947, S. 206. 4 Vgl. F. Nietzsche, Die Götzen-Dammerung. In Sämtliche Werke, VI.3, Berlin, 1969, S. 70.
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den zu haben? Ist es also möglich, dass jede strukturelle Entwicklung bzw. Gestaltung dieses Gegenstandes (der mehrere Namen annimmt) nur eine der verschiedenen Konkretionen bzw. historischen Gestaltungen ein und desselben Versuchs ist? Worin sollte ein solcher Versuch bestehen? Ist es nicht der Versuch, dieses unterschwellige Bewusstsein des Erratischen unseres Seins innerhalb des Wirklichen durch eine »allerletzte« Struktur oder durch seine allerletzte, apodiktische Verankerung zu einer Struktur zu verdrängen? In diesem Sinne wären die »Leere« und die Formen, die diese Leere innerhalb der metatheoretischen Entwicklung der Ontologie annimmt, nichts anderes als das Zeichen, nichts anderes als der Beweis des illusorischen Charakters eines solchen Versuchs. Tatsächlich können wir diese Formen der Leere bzw. des Vakuums ebenso gut in der klassischen Form, wie auch in der modernen und postmetaphysischen Form der Ontologie oder Gegenstandstheorie individuieren. Für eine Ontologie, die sich in die Metaphysik zu integrieren drängt, ist die möglichst allgemeine Bestimmung des »Etwas« nicht ausreichend, um die Struktur des Realen zu erklären – vom Standpunkt seiner Bewegung, beispielsweise bei Aristoteles, oder des nicht illusorischen Charakters seiner Kohärenz bei Descartes. Die einzige andere mögliche Gestaltung einer Ontologie ist die Behauptung einer Ontologie, die versucht, sich in einer Metaontologie selbst zu überwinden, beispielweise bei Meinong oder bei Quine, wobei aber diese Geste des Überwindens noch ungewiss bleibt [infra §§ 78–81]. Eine solche Metaontologie muss entweder ein streng physikalisches Kriterium zur Individuation des Realen auswählen, beispielweise bei Quine (und in diesem Fall kann sich mindestens ihr Sein selbst nicht als Theorie festlegen), oder muss sich bis zum Undefinierten ausweiten, beispielweise bei Meinong (und in diesem letzten Fall verliert sie die Kontrolle und die Fähigkeit, zwischen dem Gedachten und dem Existenten zu unterscheiden). Jedenfalls schafft es eine Theorie des »Etwas«, die sich auf jedes »Etwas« als solches ausbreiten will, die jeden Gegenständlichkeitscharakter systematisieren will, niemals, alles in dieses metaontologische Gebiet einzuschließen, insbesondere nicht das Grundaxiom selbst jeder allgemeinen Ontologie als solcher. Dieses Axiom kann folgendermaßen leicht formuliert werden: »Alles ist gemäß den formalen Charakteristika des Etwas definierbar.« Das Axiom selbst, ein »Etwas«, muss notwendigerweise außerhalb des Anwendungsbereichs der Definition (der Definitionsmenge) bleiben. 79 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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Oder noch schlimmer: Dieses Axiom würde zum Bereich der holistischen Gegenstandstheorie sowohl gehören als auch nicht gehören. Wir befinden uns hier an einem Nicht-Ort. Da das Axiom der Gegenstandstheorie, wenn es alles im »Etwas« einschließen will, sein eigenes Bestimmungsfeld übersteigt, muss es für uns also etwas Selbstverständliches sein, ohne dass wir seine ontologische Bestimmung erfassen könnten. Statt eine erste Schau zu bekommen, finden wir uns in einem Paradoxon wieder. Wenn wir folglich behaupten, dass dieser Ungewissheits- bzw. Unvollständigkeitscharakter sich in einer ersten Schau verwandeln kann, werden wir nur in einer dogmatischen Vision enden. Wenn wir im Gegenteil behaupten, dass die Gegenstandstheorie oder auch nur ihr Axiom, durch eine andere Theorie begründet werden muss, durch eine Metaontologie höherer Ordnung, die ihrerseits notwendig nochmal »Etwas« sein muss, verfangen wir uns in einem regressus in infinitum. Wenn die Gegenstandstheorie sich durch sich selbst bestimmen würde, wären wir hingegen in einer zirkulären Situation. Noch allgemeiner ausgedrückt scheint das Axiom der Gegenstandstheorie zum universalen ontologischen Bereich, den es beschreibt, sowohl zu gehören als auch nicht zu gehören. Es weist darüber hinaus, ohne uns Auswege aus diesem erstickenden Mangel zu weisen. In diesem Sinne könnte keinerlei konfigurierte Metaontologie als Gegenstand (höherer Ordnung), das heißt als eine Theorie, diese Leere erfüllen, die auf konstitutive Art und Weise diesen □metatheoretischen Gegenstand charakterisiert, den wir »Ontologie« oder »Gegenstandstheorie« nennen. Diese Leere, diese Situation, ist nur die theoretische, vielleicht extreme Entwicklung der privativen Situation, welche die Nachfrage des Individuums und die Nachfrage des im Leeren philosophierenden Subjekts charakterisiert hat. Diese Situation gleicht, wenn man es noch enger fassen mag, derjenigen, in der man sich durch die Behauptung wiederfinden kann, dass »es Gegenstände (gibt), von denen gilt, dass es dergleichen Gegenstände nicht gibt«. 5 Hier gibt es etwas, das im Bereich des »Etwas« dazugehörig erscheint und nicht dazugehört! Um also genau zu diesem »Jenseits« eines solchen ungewissen, unvollkommenen Hinweises zu gelangen, muss man bis zu dem Ursprung selbst zurückzukehren, dem Moment, ab dem diese privative Situation der Ontologie aufzubrechen scheint. Es geht um die ErVgl. A. Meinong, Über Gegenstandstheorie – Selbstdarstellung, Hamburg, 1988, S. 8.
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scheinung der Frage, welche die Frage selbst nach dem Sinn, die Suche eines letzten Ankers des erratischen Lebens, in die Grammatik des Etwas übersetzt. Man müsste also in der Nachfrage nachforschen, welche die Suche nach einer ersten Schau als Theorie des Seins antreibt, die Öffnung einer anderen Dimension, die sich in der negativen Situation des Unsinns einer Metatheorie als souveräner Theorie kaum abgezeichnet hat. Was uns jetzt bleibt, ist nur die theoretische Deklination der Nachfrage, nur die Deklination in ihrer ontologischen Form. Ihr ursprünglicher Ausdruck »τί τὸ ὄν« 6 verleiht ihr Form, verleiht dieser Frage der allerletzten Befürwortung eine Stimme. Dieses »Stimme-Verleihen« macht tatsächlich nichts anderes, als eine andere Form der privativen Situation entstehen zu lassen. Doch gerade das erweist sich als Problem: Benennt die Frage in ihrer ursprünglichen theoretischen Form nur das »Etwas« oder fixiert sie etwas Komplexeres, Labyrinthartiges? Nehmen wir die Nachfrage also so, wie sie geworden ist, an, indem wir ihrem □Logos und ihren morphologischen Veränderungen des □metatheoretischen Gegenstands folgen, wovon sie zugleich Teil und Ursprung ist. Diese Nachfrage erweist sich zunächst als ein doppeldeutiger »Gegenstand«. Denn einerseits ist – und bleibt – sie ein Akt und als Akt ist sie mit einer konstitutiven Sacherfahrungsstruktur ausgestattet. Eine solche Sacherfahrungsstruktur wird hier in der Form der Frage dekliniert, gemäß der privativen Situation, die jeder Frage eigen ist. Doch andererseits ist sie gerade die Sache einer Erfahrung: Sie muss dieser □metatheoretische Gegenstand bleiben, ausgestattet mit all ihrer Bedeutung als □metatheoretischer Gegenstand. Sie erscheint als ein Moment in der Geschichte des Denkens, der Moment, in dem etwas geboren wird, unwichtig, ob aus einer Zweideutigkeit oder aus einem linguistischen Gewaltakt [infra § 92, Fn. 29]. Wie viele Dinge sind im Hintergrund der menschlichen Geschichte auf diese Art geboren worden? Derjenige, der die Frage mit neutralem, theoretischem Blick annimmt, muss sie zugleich stellen und als □metatheoretischen Gegenstand betrachten. Er muss zuerst die Frage stellen (um die Nachfrage in der theoretischen Form, in der sie ursprünglich dekliniert wurde, erneut zu formulieren), das heißt sie wiederholen, selbst wenn sie als Sacherfahrung neutralisiert ist. Aber er muss auch die Frage als Ge6
Wir könnten sie in die Form »Was kann ein gewisses Etwas sein?« rückübersetzen.
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genstand, als einen □metatheoretischen Gegenstand ansehen. Es ist nicht nur so, als ob wir irgendeine Erfahrung neutralisieren würden, beispielsweise eine Wahrnehmung, deren Inhalt ungewiss ist, oder eine mathematische Formel, um mit erhöhter Aufmerksamkeit genauer zu schauen, wovon sie die Erfahrung ist. Wir finden hier das Moment der Frage als Sacherfahrung mit dem Moment der Sacherfahrung der Frage selbst als □metatheoretischem Gegenstand verbunden. Es handelt sich hier nicht einfach um das Begreifen der neutralisierten Frage, sondern um das Begreifen der Frage als □metatheoretischer Gegenstand gemäß ihrem Seinscharakter. Die Frage erscheint nicht nur als Sacherfahrung, sondern gleichzeitig auch als die Sache einer anderen Erfahrung. Sie erscheint nicht mehr in der Form der theoretischen Nachfrage, sondern als Gegenstand einer metatheoretischen Erfahrung. Die Erfahrung verdoppelt sich, verzweigt sich, bricht die typische Symmetrie der Sacherfahrung: Die einfache theoretische Frage als Sacherfahrung steht in einem Spiegelungsverhältnis mit der Sache der metatheoretischen Erfahrung als □metatheoretischer Gegenstand. Das Individuum, das diesen □metatheoretischen Gegenstand erkennt, kann nur auf eine neue Stellung der theoretischen Frage selbst zurückverwiesen werden, und der Mensch, der diese Frage erneut stellt, um die Sache, wovon diese Erfahrung handelt, besser begreifen zu können, kann nur auf die Auffassung dieser Frage in der Form des □metatheoretischen Gegenstands zurückverwiesen werden. Wir befinden uns innerhalb einer anderen Erfahrung, die sehr wahrscheinlich ihre eigenen Formen hat, ihre eigenen Koordinaten, die sich nur durch unseren Willen, in dieser Erfahrung zu bleiben, abzeichnen können. Was erfährt man innerhalb dieser (und durch diese) Spiegelungsdynamik? Geht es nur um ein »Etwas«, das man, sehr einfach gesagt, durch die Präsenz in den Büchern von Aristoteles oder in anderen Ontologiebüchern wiedererkennen kann? In diesem Fall handelt es sich um eine, ehrlich gesagt, sehr flüchtige Präsenz! 7 Oder geht es womöglich nur um eine andere Form, um eine andere Deklination der Sinnfrage, also um die verwandelte Erfahrung desselben Sinnmangels? Beides trifft auf einmal zu. Diese Spiegelungsdynamik Die Nachfrage präsentiert sich bei Aristoteles tatsächlich ein einziges Mal in der Metaphysik (Metaph., 7, 1028 b 2–4) und die Ungewissheitssituation, in der sie auftritt, übrigens auch nur einmal (De Soph. El., 33, 182 bb 22).
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ist das Zeichen einer Nicht-Korrespondenz. Genauer gesagt ist diese Dynamik der Ausdruck einer grundlegenden Unmöglichkeit: die Unmöglichkeit, die Erfahrung von dem, was sich sehen lässt (phaínesthai), auf einen bestimmten einzelnen Begriff, auf eine substantivische Form des »Etwas« zu reduzieren. Dieses »Etwas« kann nicht einfach begriffen werden, da es ein Horizont, eine Dimension ist, die man erkunden muss. Durch diese Spiegelungserfahrung und spekulative Erfahrung haben wir verstanden, dass genau dieses »ὄν«, wonach man im Modus des »was ist?« fragt, ein Schnittpunkt von Dimensionen ist, die unsere Erfahrung innerhalb dieses Horizonts strukturieren. Man möchte nicht wissen (oder nachfragen), ob das Erscheinen aussagbar oder erfahrbar sei, sondern ob das Erscheinen in das »ὄν« übersetzt werden kann. Die spekulative Erfahrung der Frage in ihrer □metatheoretischen Form und in ihrer neutralisierten Form [τί τὸ ὄν;] zeigt, dass dies ganz einfach deshalb unmöglich ist, weil das »ὄν« hier trivalent ist. Wenn die Existenz nicht als klar formulierter Begriff im griechischen Denken hervortritt, 8 dann gerade deshalb, weil die Substantivierung des Seins im Begriff des »ὄν« es nur schafft, die dimensionalen Koordinaten einer Polysemie zu zentrieren. Durch die Frage »τί τὸ ὄν;« fragt sich der griechische Mensch, der durch sein Theôrein« fast auf archetypische Art und Weise charakterisierte Mensch, viele Sachen auf einmal: 1. 2. 3.
Wie muss man das »Etwas« (oder einfach »irgendeinen Gegenstand«) verstehen? Wie muss man den »Gegenstand« als »präzisen Gegenstand« oder »bestimmten Gegenstand« verstehen? Wie muss man den »konkreten Gegenstand« (oder einfach das »dies«, den »instanziierten Gegenstand«) verstehen?
Diese drei Übersetzungsversuche – gewissermaßen ungewiss (doch dies ist typisch für alle ersten Schritte, welche unbekannte Dimensionen betreten haben) – sind nur die ersten kinästhetischen Momente (Orientierungsmomente unserer Schau) innerhalb dieses Horizonts. Sie sind der erste Versuch, diesen Horizont durch unsere theoretische Schau, gemäß ihrem Azimut (der Vertikalisierung der allgemeinsten und abstraktesten Dimension des »Etwas«), ihrer Reichweite (der Varietät der charakteristischen Form der Gegenstände) und ihrer Tiefe Vgl. Ch. H. Kahn, Existence Does Not Emerge as a Distinct Concept in Greek Philosophy. In Essays on Being, Oxford, 2012, S. 63–74.
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(der Stärke der Instanziierungen, der Stärke des individualisierten Konkreten) zu erfassen. Innerhalb dieses Horizonts erfährt der Mensch durch die Spekularität zwischen der theoretischen Sinnfrage als »τί τὸ ὄν;« und seiner □metatheoretischen Natur nicht nur seine kosmische Nudität. Er beginnt auch eine theoretische Dimension zu erkunden, im Inneren derer der Kosmos erscheint, ohne einen Sinn in diesem Kosmos selbst feststellen zu können. Hieraus entstammt das erneuerte Bewusstsein dieser Nudität und das Bewusstsein der Grobheit aller Versuche, den Kosmos noch zu einem Uni-versum reduzieren zu wollen. Es geht um drei aufeinander irreduzible Dimensionen als Spuren einer Polysemie des »ὄν« – eingeschrieben in die Spekularität selbst zwischen Akt (in der Eigenschaft als Frage) und □metatheoretischem Gegenstand. Die Öffnung der metaontologischen Horizontdimensionen erweist die Frage in ihrer theoretischen Deklination als etwas Mehrdeutiges. Wenn wir sie von dieser Perspektive aus gemäß ihrer konstitutiven Spekularität in völliger Transparenz betrachten, kann die Frage nur mehrdeutig erscheinen und sich als solche, als entscheidendes Moment, erweisen. Sie erweist sich als Festigungsmoment der unüberwindbaren Trennung zwischen dem Denken – der intentionalen Sprache anhand derer wir der Erscheinung eine (ebenso epistemische) Stabilität verleihen – und der Erscheinung selbst. Welche Antwort könnte tatsächlich auf nicht illusorische Art und Weise befriedigen, unabhängig von der sanften Illusion einer allerletzten Struktur, die als Antwort solch mehrdeutigen Fragens dienen sollte? Doch gerade in dem Moment der Bewusstwerdung dieser Mehrdeutigkeit gelingt es, die Zweideutigkeit der Ontologie selbst zu begreifen. Die Lehre des Seins ist jetzt als Antwortsystem anerkannt. Sie erscheint nur als illusorische Befriedigung des Bedürfnisses, an eine allerletzte Struktur (oder an eine allerletzte Schau) zu glauben, die als Struktur unsere Erschließung der Welt regieren soll. Eine solche Lehre muss sich aber notwendigerweise verändern. Sie muss unbedingt eine Metaphysik werden. Viel zu konzentriert, diese Fortführung der Ontologie in der Metaphysik zu vollenden, viel zu beschäftigt, eine definitive Antwort für die menschliche (allzu menschliche) Beunruhigung der Abwesenheit eines Sinns zu schnitzen, hat sich das Denken niemals gefragt, von »was« die Ontologie und die Metaphysik herstammen: ein Angstzustand, ein horror vacui. Wenn wir diese Bewegung als neutralisierte mit Abstand betrachten, sehen wir auch, aus welcher Leere dieser Götze einer Meta84 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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physik als Antwort, als Bezeichnung des allerersten Grundes, als Ansatz einer Letztbegründung der Phänomenalität in ihren drei (meta-) ontologischen Koordinaten oder ganz einfach als Auffassung des Sinns des Seins geschaffen ist. Der Raum, der sich aus der neutralisierten Frage eröffnet hat, ist als metaontologischer Horizont das, in dem sich jede Metaphysik als illusorische Erfüllung einer Leere bewegen kann. Wem könnte es tatsächlich gelingen, den Horizont zu sättigen, der die Voraussetzung jeder Handlung darstellt und folglich jeder Erfüllung? Man sättigt niemals auf irgendeine Art und Weise den Horizont, in dem die Sättigung wirkt: Seine Beschreibung wäre immer Beschreibung vom Inneren aus. Wie der Horizont, der wir sind, jederzeit offen und unabhängig von unseren Absichten bleibt (und auch von unseren theoretischen Absichten), so bleibt der metaontologische Horizont jederzeit offen und unabhängig von jeder metaphysischen Absicht, weil er ihre condicio sine qua non ist. Aus diesem Grund erschien die Frage in dem Moment, da sie zum ersten Mal auftrat, als Öffnung eines (metaontologischen) Horizonts, der von den historischen Gestaltungen der Ontologie und der Metaphysik unabhängig ist. In diesem Sinne beginnt man auch die Leere des Götzen der Metaphysik tiefer zu begreifen. 9 Doch diese Leere zeigt sich noch viel deutlicher, wenn man am Ende der Metaphysik die Frage in einer modernen Sprache umformuliert, jedoch mit der expliziten Absicht, zu wissen, was man dadurch wirklich fragt: »What is there?«. 10 Die bekannte einzige mögliche Antwort lautet: »Everything«, »alles«! Das beweist nichts anderes als die Zweideutigkeit der Frage. Aber sie zeigt auch, unabhängig von ihrer Sprache, die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Ontologie und Metaphysik mit ihren relativen, eigenen Aufgaben in Frage zu stellen. Und es ist gerade die Zweideutigkeit der Aufgabenbereiche, die trotz der Absurditätserscheinung die gegenwärtige Debatte bestimmt: Was passt zur Metaphysik? Was passt zur Ontologie? Und es liegt gerade an diesen Fragen in ihrer Eigenschaft als theoretische (innere und äußere) Fragen, dass diese Debatte ihren Aufschwung erlebt. Muss man der Ontologie die Frage »What is there?« zuschreiben und der Metaphysik die Frage »What is what there is?«. Oder eher Vgl. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, Frankfurt a. M., 1978, S. 199. 10 W. v. O. Quine, From a logical point of view, Cambridge (MA), 1964, S. 1. 9
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das Gegenteil hiervon? Diese Debatte ist angesichts ihrer Leere eine ausschließlich nominale Debatte, weil die Zuschreibung der Aufgaben gar nicht die Situation ändert, die vor dieser Zuschreibung weiter besteht, das heißt weder die metaontologische Situation noch die Probleme, welche die zwei unterschiedlichen Möglichkeiten der programmatischen Zuschreibung mit sich führen [infra § 98]. Entweder sagt uns der »Ontologe« einerseits, was existiert – ein recht komisches Bild des beruflichen bzw. professionellen Ontologen, der die Bestandsaufnahme der Welt machen würde, wie ein Logistikchef eines Depots oder einer Fabrik am Ende des Jahres – und der »Metaphysiker« sagt uns andererseits, was das ist, was existiert. Oder es ist der »Ontologe«, der eine deskriptive Annäherung an das, was existiert, entwickelt und der arrogante Metaphysiker sagt, was auf der Welt existieren kann. Jedoch wäre in beiden Fällen die Korrespondenz zwischen der Frage und der Antwort nicht wichtig, weil das Auswahlkriterium selbst des Existierenden auf jeden Fall dogmatisch bleibt. Das Problem besteht gerade darin, diese Wahl nicht vorab zu treffen, sondern eine deskriptive Annäherung bzw. die vollständige Abbildung der Mannigfaltigkeit von Gegenständlichkeitsformen zu entwickeln. Solche Gegenständlichkeitsformen sind uns durch unsere Wissensformen (die □metatheoretischen Gegenstände) ebenso wie durch unsere alltägliche Erfahrung, durch das Imaginäre, durch die Dokumentalitätsformen, durch die Informatik, durch die Emergenz von sozialen, ökonomischen und politischen Systemen etc. präsentiert. In diesem Sinne wäre die Ontologie keine Bestandsaufnahme dieser Welt, sondern die Beschreibung der Gegenständlichkeitsformen, von denen aus man – mehr oder weniger legitim, aber niemals auf eine völlig legitime Art und Weise – sich verpflichten könnte, zu behaupten, welche Form warum existiert, dass sie nicht existiert und warum oder dass sie reduzibel auf eine andere Form ist und warum. Doch selbst wenn man, in diesem Fall, die Aufgabe der Ontologie festgelegt hätte, wird man eine andere innere Verzweigung in der ontologischen Aufgabe finden. Es geht um die Artikulation/Zweideutigkeit zwischen der formalen Ontologie (der Struktur des Etwas als solche) und den regionalen Ontologien, 11 die nur aus der Beschreibung selbst der GegenDie formale Ontologie ist, in diesem Sinne, eine »apriorische Gegenstandslehre«. Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Hua 17, S. 82. Die regionale bzw. materiale Ontologie kann als »Logik
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ständlichkeitsformen entstehen können. Ausgehend von dieser inneren Artikulation können wir die metaontologische Öffnung erstmals erblicken: Diese Öffnung zeigt den immer notwendigerweise willkürlichen Charakter jedes metaphysischen Ansatzes, jeder Entscheidung oder Vorgehensweise, die bestimmt, welche regionale Ontologie die Wirklichkeit beschreibt und welche nicht. Ganz offensichtlich existieren die Nebelflecken und der Zodiakus nicht! Das gilt zumindest dann, wenn man eher an der Astronomie als an der Astrologie festhält. Doch um dies zu entscheiden, brauchen wir keinerlei ontologische Ansätze: Wir müssen einfach nur die gegenwärtigen Entdeckungen und Ergebnisse der Wissenschaft kennen und sie als Verpflichtungskriterium akzeptieren (oder im Falle der Hoffnungslosen, die noch an Horoskope und die Astrologie glauben, die Astrologie). Aber selbst der überzeugteste Wissenschaftler, der anspruchsvollste Rationalist – sind wir hier nicht auf der Suche nach den Mathesis-Formen? – kann eine Sache leicht erkennen: Innerhalb des Horizonts der metaontologischen Situation muss eine solche Einteilung in letzter Instanz für willkürlich gehalten werden (auch wenn es um die Indikation der Aufnahmen des Hubble-Teleskops geht). Doch das Problem ist noch umfangreicher. Wenn es innerhalb des metaontologischen Horizonts, so wie es notwendig ist, die formale Ontologie und die regionalen Ontologien gibt, wo finden wir sodann ein nicht-willkürliches Kriterium, um zu behaupten, dass es nur die Gegenstände gibt, die durch 1, 2, 3, n regionale Ontologien beschrieben sind? Warum können wir nicht vielmehr behaupten, dass es gleichzeitig in der Welt die Strukturen der formalen Ontologie plus die Gegenstände der 1, 2, 3, n regionalen Ontologien gibt? In diesem Sinne lässt die Öffnung der metaontologischen Situation noch keinerlei Vorrang zwischen den sich dort befindlichen Ontologien zu. Das heißt, dass die metaontologische Situation keinerlei Hinweis bezüglich des Vorrangs auf die einzugehenden existentialen Aussagen (das heißt ontologischen Verpflichtungen) gibt, die eine Metaphysik benutzen könnte, um ihre Bestandsaufnahme aufzuzeichnen. Es würde nichts bringen, den Horizont des Realen mit all den Ontologien (die man innerhalb des metaontologischen Horizonts anerkennt) auszufüllen, oder ganz im Gegenteil, das Reale auf die kleinsten je entdeckten, subatomaren Teilchen zu reduzieren. Der des sachhaltigen Seins« bestimmt werden. Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Prag, 1939, S. 435; Ideen I, Hua. 3, S. 27.
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metaontologische Horizont zeigt, dass jede Metaphysik nur auf etwas Willkürlichem begründet ist. Nichts lässt uns aus dieser ontologischen Relativität entkommen, nichts verspricht uns, einen Platz für eine erste Philosophie zu finden: Die Präsenz einer einzigen materialen (oder regionalen) Ontologie würde ausreichen – und somit die Präsenz einer formalen Ontologie, die ihre Gegenständlichkeiten strukturiert –, um die ontologische Verpflichtung dem Verdacht der Willkür zu unterwerfen. Wofür entscheiden wir uns? Für die einzige regionale bzw. materiale Ontologie oder die einzige formale Ontologie oder für alle beide? Die regionalen bzw. materialen Ontologien sind als kontextuelle Sprachen in ihrer Vielzahl genau auf demselben Niveau, genau horizontal zueinander: Sie machen nichts anderes, als die Art und Weise zu strukturieren, durch die wir uns auf Gegenständlichkeitssysteme beziehen. Es ist folglich unmöglich, zu entscheiden, welche Klasse von existentialen Aussagen (bzw. ontologischen Verpflichtungen) eine Metaphysik bestimmen kann und muss, um ihre Bestandsaufnahme aufzuzeichnen [infra § 101]. Es würde auch nichts bringen, die Verantwortung der ontologischen Verpflichtung auf die Anschauung zu übertragen, denn wenn man den relativen und relativierten Ontologien den Status eines kontextuellen »Anzeigers« gewisser, anschaulich auffassbarer Singularitäten (bzw. gewisser wirklich existierender Individuen) zuerkennt, wiederholt oder gestaltet sich das Problem in Bezug auf die Anschauung und die Vielzahl ihrer Formen um. Denn wenn man der Erfahrung auf der Grundlage der ontologischen Relativität eine kontextuelle Beschaffenheit zuerkennt, durch die sich die anschauliche Auffassung, die Anschauung, genau wie die Ontologie deklinieren und vervielfachen kann, dann geschieht es in der Tat auf der Grundlage dieser regionalen Ontologie. Die regionale Ontologie bestimmt kaum das Hervortreten der Anschauung, sondern lässt uns das »dieses hier« als angeschaut (und als »so und so angeschaut«) anerkennen. Die Sacherfahrung ist hier nur die Übersetzung oder die kontextuelle Aktivierung einer gewissen relativen Ontologie im Inneren des »anschaulichen« Erfahrungsfeldes. Sowohl vom Standpunkt einer Arbeit an den relativierten Ontologien als auch vom Standpunkt einer Arbeit an den Singularitäten, die durch Instanziierungsformen entstehen, her betrachtet, kann der neue Metaphysiker das Existierende nur auf der Grundlage einer theoretischen Gewalt bestimmen. Die Ausdehnung der Singularitäts88 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel IV Jenseits des Sinnes von Sein
formen im Horizont unserer (immer noch) kontextuellen Erfahrung entscheidet niemals, was überhaupt existiert, was es im allerletzten metaphysischen Sinne überhaupt gibt. Um die metaontologische Öffnung auf eine ontologische Bestandsaufnahme zu reduzieren, braucht man die Gewalt der Metaphysik, man muss ein willkürliches pou stô 12 akzeptieren oder behaupten und zugleich ihren willkürlichen Charakter verstecken. Doch eine solche Handlung funktioniert nicht im Denken und die Metaphysik –auch jede hinter überraffinierten, konzeptuellen Begründungen verschleierte Metaphysik der unmöglichen Welten – kann nur über die allerletzte Verfassung der Welt fabulieren.
Vgl. W. v. O. Quine, Speaking of Objects. In Ontological Relativity and Other Essays, New York – London, 1969, S. 6.
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Kapitel V Über die Topoi des Wissens
Auch wenn wir uns mit all unseren Kräften wünschen würden, dass sich die Metaphysik von ihrem willkürlichen und arroganten Gestus befreit, so wird ihr dies dennoch nicht gelingen. Die metaphysische Brechung des horizontalen metaontologischen Gleichgewichts, welches unter allen Bestimmungsformen des »Etwas« weiterbesteht, ist ohne einen theoretischen Gewaltakt unmöglich. Was auch immer der Metaphysiker macht – völlig fixiert auf seine Bestandsaufnahmen, stolz darauf, uns sagen zu können, woraus die Welt in Wirklichkeit besteht –, so kann er doch nicht den Fehlschluss seines Entscheidungsaktes verbergen. Er wird immer wieder von der faktischen Wahrheit einer Situation, der metaontologischen Situation, eingeholt, aus der er nicht entkommen kann, ohne den Preis der willkürlichen Entscheidung zu zahlen. Doch diese Situation ist nicht leicht zu ertragen – sowohl für den Metaphysiker als auch für jeden Menschen, welcher sich als Gelehrter versteht, der sich die Grundfrage nach der allerletzten Struktur der Welt stellt. Der metaphysische Geist, der uns beherrscht – weil die Metaphysik (und nicht ihr Entscheidungsgestus) keine willkürliche Erfindung ist, sondern auf eine Nachfrage antwortet –, ist frustriert und durch die Öffnung der Ontologien, die durch die Entwicklung des menschlichen Wissens entstehen und dementsprechend wuchern, desorientiert. Die Metaphysik, die uns als Tendenz angeboren ist, manifestiert sich letztlich doch nur als Frustration, als Verwirrung. Diese beiden emotiven Zustände bestimmen jeden metaphysischen Versuch der Beantwortung derjenigen Sinnfrage, die sich (in) jedem von uns stellt, wenn wir das fast unendliche und unfassbare Ausmaß der Erscheinung erfahren. Wohin wenden sich unsere Wissenspraktiken, wenn nicht zum allerletzten Punkt hin, der uns Antwort – und Sicherheit – darauf geben kann, woraus die Welt bzw. das Reale besteht? Spiegelt sich dieser Punkt nicht völlig in demjenigen, von welchem aus jede 90 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel V Über die Topoi des Wissens
menschliche Nachfrage ihren Anfang findet – und zwar die Sinnfrage, so wie sie ursprünglich als »Was/wer bin ich?« gestellt wurde? In dieser Spiegelung zwischen beiden Fragen stehen sich das Epistemische und das Existentiale gegenüber. Die existentiale Dimension des Lebens verlangt dabei von dem Epistemischen eine Antwort oder eine Antwortform, als allerletzte Struktur des Realen der Erscheinung verstanden. Die epistemische Dimension des theoretischen Lebens kann nur den Hinweis auf den willkürlichen Charakter jeder allerletzten Antwort liefern. In diesem Sinne ist die metaontologische Situation noch eine privative Situation: dieselbe privative Situation, die sich im Epistemischen sublimiert hat. Aus dieser Situation heraus kann nur innerhalb des Horizonts eine andere Nachfrage entstehen. Innerhalb dieses Horizonts – dessen Erfüllung durch die mannigfaltigen Ontologien zwar keine endgültige Antwort gibt, aber dennoch den Sinn der Verwirrung verstärkt – zeigt sich eine andere Frage: »Was ist real/das Reale?« Die Nachfrage ist und kann nur zweideutig sein, weil »real« als adjektivische Form und »das Reale« (bzw. »das Wirkliche«) als substantivische und kollektive Form einen gegenseitigen Rückbezug haben, wenn sie gemeinsam das Gefragte einer radikalen und intim metaphysischen Frage bilden. Entweder ist die erfragte Antwort im Wesentlichen von lokaler, punktueller Natur – das heißt, die Bestimmung eines Etwas als real innerhalb seines eigenen Realitätscharakters – oder aber die erfragte Antwort ist von globaler Natur, die ebenso gut eine ganz einfache holistische oder eine metaphysische Antwort sein kann. Diese letztgenannte Antwort setzt die Auffassung einer Struktur der Welt voraus, die unsere Erkenntnisse über die Realia in ihrem Realitätscharakter systematisiert. Wir fragen uns nicht, weil wir uns nicht in einem postmodernen hermeneutischen Autismus befinden, ob es das Reale an sich gibt. Es geht nicht um die Leugnung des Realen oder der Realia selbst, um die metaphysische Tendenz, die jedes Streben zum Wissen beherrscht und belebt, zu überwinden. Wir fragen »Was ist real/das Reale?«, weil wir seiner Existenz bewusst sind. Wir haben, aufgrund seines eigenen Realitätscharakters, ein starkes Bewusstsein des Realen, entweder als Singularis oder als Kollektivum von Singularia. Man verlangt auf unvermeidbare Art und Weise die Überwindung einer zirkulären Situation, die aus unserer Erschließung der Erfahrung entsteht, durch eine Wissensform. Erfahrung ist immer Erfahrung von Singularitäten (bzw. Singularia), die sich miteinander zusam91 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel V Über die Topoi des Wissens
menschließen und die, weil sie von unserem identischen HorizontSein zusammengehalten werden, als das Reale erscheinen. Diese zirkuläre Situation wird hier durch die Öffnung des metaontologischen Horizonts sublimiert und richtet sich nach einer Wissensform, die eigentlich genau genommen diesen Horizont in etwas Strukturiertes, in einen geschlossenen, normierten, geregelten Ort verwandeln sollte. Doch die Art und Weise, in der man diese Struktur denkt, lässt den Fehlschluss und den Zirkularitätsfehler der Frage selbst entstehen. Die Frage stellt uns vor eine klare Alternative. Entweder setzt man voraus, dass diese Struktur als »Ganzes« ohne eine Zusammensetzung oder irgendeine Arbeit auskommen kann (Arbeit im Sinne unseres wissenschaftlichen Vollzuges über die Wirklichkeiten in ihrem eigenen Realitätscharakter) und befindet sich somit im Mystizismus 1 bzw. in einer wahnsinnigen Metaphysik, oder man setzt die Möglichkeit einer solchen Zusammensetzung voraus und erträgt all das beiläufige Gewicht der Widersprüchlichkeiten. Die Hoffnung, eine Position unabhängig von der ontologischen und allerletzten vielfaltigen Relativität erreichen zu können, die Position einer vollständigen Bestimmung von dem, was es gibt, verblasst. Und was der impliziten Metaphysik unseres Wissens schlussendlich bleibt, ist, den Sinn der (metaontologischen) Situation ebenso wie den Sinn der Lokalität bzw. Situationalität und ihrer Erforschung, ihrer Entdeckung und ihrer Studie wiederzugewinnen. In diesem Sinne ist das Residuum der pompösen Metaphysik – welche sich für die Verwahrerin der allerletzten Struktur der Welt hielt – nur eine besser bemessene Aufgabe der deskriptiven Aufgabe der Metaontologie. Die Metaphysik wird, als Residuum ihres visionären Holismus, nur zu einer deskriptiven bzw. protokollarischen Metaphysik [infra § 105]. Diese residuale Metaphysikform ist dadurch, dass sie protokollarisch ist, jedoch nicht weniger stark, weil sie die Aufgabe der Beschreibung und der Analyse von Individuationsprotokollen erfüllt. Was sind Individuationsprotokolle? Nennen wir »Individuationsprotokolle« Teile oder Unterstrukturen von □MG, die hervorheben, was – innerhalb der epistemischen (und eventuell der nicht-epistemischen) Praktiken – für »real« zu halten ist, und nach welchen Charakteristika etwas als real zu klassifizieren ist. Siehe hierzu B. Russell, Mysticism and Logic. In Mysticism and Logic and Other Essays, London, 1917, S. 18.
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In welchem Sinne wäre sie also noch eine Metaphysik? Nicht im Sinne der Rhetorik, welche die Metaphysik umkreist hat, in der man das »Meta-« der Meta-Physik als etwas ontologisch Würdigeres als die »Physik« interpretiert hat. Wohl aber, wenn man dieses »Meta-« insofern als ein Jenseits im horizontalen Sinne denkt, das heißt als Jenseits von dem, was strikt an die Individuationsform der gegenwärtigen Physik gebunden ist (die in Wirklichkeit oft raffinierter als die Metaphysik gewesen ist). Der engere und notwendig »horizontale« Sinn dieser deskriptiven Metaphysik ähnelt dem Forschungstrieb des menschlichen Wissens. Die Metaphysik als protokollarische Disziplin verwirklicht sich zunächst a) durch die Erforschung der Formen des »epistemischen Habitus« als »rationale Vorgehensweisen« 2 des Wissens, welche einem Realen eine genaue Form in seinem Realitätscharakter zuschreiben, und b) durch die kritische Rekonstruktion der Emergenz, der Variation oder des Verschwindens dieser Vorgehensweisen innerhalb des Horizonts des Wissens (in diesem Sinne kann sie zugleich eine Archäologie des Wissens sein). 3 Doch eine solche deskriptive Metaphysik verwirklicht sich auch c) durch eine konstruktive Metaontologie. Eine konstruktive Metaontologie zielt darauf ab, sowohl diese Individuationsformen miteinander als auch mit unserem epistemischen und nicht-epistemischen Zugang zum Realen in eine dynamische Verbindung zu bringen. Erst durch die Schau dieser drei methodischen Perspektiven des Wissens qua Bewegung von Wissensformen – die nur horizontale sein können – zeichnet sich die Perspektive der Mathesis ab. Aus der Perspektive, innerhalb derer eine solche deskriptive Metaphysik vonstatten geht (auch als konstruktive Metaontologie), hat es überhaupt keinen Sinn, vom Skeptizismus oder einem Verlust des Realen in der Modellierung zu sprechen, als ob die konstitutive theory ladenness jeder Wissensform, jede Reibung zwischen unserem Wissens und dem Realen selbst auflösen würde. Es ergibt jedoch auch keinen Sinn mehr, von der »Anschauung« oder vom »Gegebenen« zu sprechen, wenn man dadurch, implizit und ahnungslos, den mythischen Vorrang der Wahrnehmung innerhalb der Erfahrung annimmt. Dieser ist sicherlich ein genetischer Vorrang, der jedoch kein episte2 Vgl. R. Carnap, Empiricism, Semantics and Ontology, cit. Siehe hierzu § 109. Protothese-(p) und Regionalisierung der Anschauung. 3 Vgl. § 58, Fn. 12.
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mischer Vorrang mehr ist (ohne dass sich das menschliche Wissen sofort wieder in einen dogmatischen Idealismus verwandelt). Es geht hier grundsätzlich um den Übergang von einem Notzustand (in welchem das Wissen seine eigene Aufgabe und seine Einheit nicht mehr begreifen kann) zu einem spekulativen Erforschungszustand (in welchem seine Möglichkeiten für die menschliche Erkenntnis und für die Gemeinschaft der Menschen klar erkennbar sind). Ein solcher Übergang kann nur durch eine Verwandlung der Schau, eine Metabasis tês Dianoias« geschehen. Es handelt sich hier um die Entwicklung einer neuen Grammatik der Schau, welche die veralteten Dichotomien hinter sich lässt. Allein diese Schau, welche im Sinne der perspektivistisch-dioptrischen Schau (de specula prospicere) und gleichzeitig der spekulativ-katoptrischen Schau (per speculum videre) 4 eine spekulative ist, kann den Individuen, die zwecks Erkundung (bzw. Untersuchung) zusammenkommen, das Bewusstsein darüber geben, wohin sie gehen und was sie tun. Diese neue Fähigkeit, das »Meta-« innerhalb der Wissensformen zu begreifen, schließt weder einen platonischem Realismus noch einen Wahrnehmungsrealismus als einzige Individuationsform des Realen ein. Diese zunächst »deskriptive« Aufgabe verfährt und besteht in der Situation des »radikalen Empirismus« als Moment des konstanten, latenten und allgemeinen Bezugs (generalis) auf das Reale fort – was wir Protothese-(G) nennen [infra § 107]. Es geht hier um dasselbe Reale, das sich phänomenologisch, auf der Seite des Existentialen, zum Ausdruck gebracht hat, als wir von den aufschlussreicheren Phänomenen des Horizonts, der wir sind, gesprochen haben. Eine solche ursprüngliche oder einfach erste These (Setzung) eines Realen, welche sich vor jedem Anzeige- und Setzungsmoment der Singularität zeigt, lässt weder die Singularität verschwinden noch kann sie die Singularität verschwinden lassen oder sie auf einen festgelegten Charakter (das heißt nur die Setzungs- oder Anerkennungsmodalität von etwas Realem in der Wahrnehmung) reduzieren. Alle Deixis-Momente einer Singularität, als Individuationsform eines Reales, haben aufgrund ihrer Sedimentierung (sagen wir: von ihrer »Morphogenese«) einen ebenfalls proto-thetischen Charakter. Es handelt sich dabei um einen Charakter von ursprünglicher Setzung, Vgl. u., Vom Spekulativen Denken [5. Das relative Spekulativ] und Bd. II, § 32, Fn. 6.
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der sich nicht auf das Reale als unterschiedlich auftauchenden und bestimmbaren Bestand, aber auf das »dieses hier« (particularis) als so und so Anerkanntes bezieht [infra §§ 108–109]. Diesen Moment nennen wir Protothese-(p). Das »so und so« des Anerkannten als »instanziiert« (bzw. »individuiert«) ist das, was die Singularität (epistemisch oder nicht) mit einer Ontologie verbindet. Das »so und so« ist das, was durch die anschauliche Auffassung der individualisierten Singularität diejenigen Eigenschaften, die ihr angehören, als »diese Form von Realität« entstehen lässt. In diesem Sinn regionalisiert sich – besser formuliert: regionalisiert sich ontologisch – die Anschauung und folglich die Individuation insofern, als sie notwendigerweise mit einer regionalen Ontologie (bzw. mit einem begrifflichen Schema) in ein Spiegelungsverhältnis gestellt sein muss. Dieses Spiegelungsverhältnis lässt ihre intrinsischen Strukturen als »so und so bestimmtes Etwas« hervortreten. Doch gleichzeitig gibt diese Regionalisierung der Anschauung den Teil, den Ort des Horizonts des Realen an, an welchem ihre eigenen und charakteristischen epistemischen Verhältnisse zu suchen sind. Wie wenn wir einen Gegenstand durch eine Spiegelverzerrung anschauen, beschreibt der Spiegel einen optischen (katoptrischen) Raum kopräsenter mitgegebener Gegenstände oder Charakteristika der angeschauten Gegenstände selbst, die auf den ersten (dioptrischen) Blick als unzugänglich erscheinen. Wir können uns auch aus unserer ursprünglichen Stellung herausbewegen, indem wir unseren Blick auf den Spiegel gerichtet lassen, und wir werden sodann andere mitgegebene Gegenstände sehen, die andere Verhältnisse haben, und könnten so die Erscheinung anderer Dinge erfahren. Gleichwohl ist dieses Spiegelungsverhältnis, das diese Gegenstände und die (epistemische) Rückseite ihrer Erscheinungen zusammenhält, nicht unendlich variabel oder unendlich ausdehnbar in der Form eines allgemeinen Weltbildes epistemischer Rückseiten. Der erfasste Gegenstand ist durch die Regionalisierung, gerade in der Eigenschaft als »dieses Reale hier, so und so anerkannt«, in einem Rahmen der ontologischen Bedeutsamkeit eingefasst. Der Rahmen ist und kann nicht allgemeingültig sein, gerade aufgrund seiner Bedeutsamkeit. Diese ontologische Bedeutsamkeit schreibt dem Gegenstand zunächst seine Struktur als »Ganzes« vor (oder lässt diese hervortreten): eine Gliederung der Teile, die nicht vollständig als materielle Teile, d. h. als partes extra partes, zu betrachten sind. Sie sind auch 95 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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die (unabhängigen oder abhängigen) Momente der Auffassung und jeder möglichen Auffassung, d. h. Figuren des »dieses Reale hier, so und so individualisiert und epistemisch konstituiert«. im Vergleich zum Wahrnehmungsraum ist diese Räumlichkeit unendlich reicher und plastischer. Aus diesem Grund kann nur die Ontologie (das begriffliche Schema) kraft der Komplexität ihrer Räumlichkeit die Individualisierung regionalisieren. Die Regionalisierung kann ihrerseits in einer »Topologie« oder mindestens in einem topologischen Raum stattfinden [infra §§ 110–111]. In diesem topologischen Raum wird dieses Reale hier, so und so anerkannt, so und so konstituiert, in eine epistemischen Dimension der Bedeutsamkeit eingeschrieben. Der Spiegel ist – wenn man ein ernsthaftes Wortspiel machen möchte – ein topologischer Spiegel. Wir versuchen also in diesem topologischen Spiegelbild vergeblich, die Möglichkeit eines »Weltbilds« in seinem monolithischen Bestand zu finden. Die Möglichkeit eines universalen und vollständigen Spiegels, der das ganze Bild, den Horizont der Phänomene in seiner Gesamtheit (oder ganz einfach das der Natur) widerspiegeln könnte, wird durch das Wesen dieses Spiegels aufgelöst. Im Gegensatz zur Idee eines »Weltbilds«, das im Rückschluss das Bild der Metaphysik als vollständiges System des Wissens und der Wirklichkeit wäre, ist das durch diesen topologischen Spiegel partiell gegebene Bild nur ein der ontologischen Relativität und der Relativität der □metatheoretischen Gegenstände unterworfenes Modell. De facto ist dieses Spiegelbild ein □metaontologisches Modell. Dies ist zunächst so, weil es sich im metaontologischen Horizont – innerhalb dessen wir Zugang zu den regionalen (bzw. materialen) Ontologien und der formalen Ontologie haben – auffassen lässt. Doch dieses Modell ist nicht die regionale Ontologie, auf die es notwendigerweise zurückgreift, weil es auch die formal ontologischen Elemente zusammenfasst (die das Sein des Individualisierten allgemein, ihre neutrale Form der Gegenständlichkeit von »Etwas« strukturiert) und weil es zudem die Individuationskoordinaten innerhalb des Erfahrungsbodens zusammenfasst. Das Modell bezieht sich nicht nur auf die (regionalen und formalen) Ontologien, die ihm als Vorbild dienen, sondern auch auf den □metatheoretischen Gegenstand (die Wissensform), welcher sozusagen das Verhältnis der Spekularität selbst einsetzt und sich auf natürliche Art und Weise zum Träger einer Individualisierung macht. Folglich kann man ad libitum ontologische frameworks bilden. Doch diese ontologischen frame96 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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works können für die menschliche Erkenntnis nur einen Sinn haben, wenn sie sich in gewissen Individuationsprotokollen implementiert befinden. Solche Individuationsprotokolle können nur einer Wissensform, darunter einem □metatheoretischen Gegenstand, zugehörig sein. Wir könnten auf provisorische Art und Weise dieses □metaontologische Modell als System denken, das aus der Implementierung einer Ontologie (eines ontologischen Schemas) in gewisse Individuationsprotokolle entsteht [infra § 116, Fn. 15]. Aufgrund dieser Implementierung kommen wir zu demjenigen, was wir Protothese-(p) nennen können. Eine solche Protothese kann nur innerhalb eines □metatheoretischen Gegenstands (bzw. in sedimentierten Erfahrungsformen der Lebenswelt) stattfinden. Wir können sozusagen ein □metaontologisches Modell als Teil bzw. Unterstruktur eines □metatheoretischen Gegenstands bezeichnen [infra §§ 112–113]. Eine solche Unterstruktur ist nicht nur die Menge von Termini (oder Punkte oder Knoten), die eine gewisse Ontologie beschreiben. Dies aus dem einfachen Grund heraus, dass ein bloßes ontologisch-regionales »Konkretum« noch keine individualisierte Gegenständlichkeit, keine richtige Singularität ist, sondern ein Eidos. Ein □metaontologisches Modell ist die implementierte Gesamtheit solcher Termini und anderer Termini (oder Punkte, Knoten), die eigene Protokolle in der Festlegung der Singularität repräsentieren. 5 Wenn wir an der Metapher des Spiegels noch ein wenig länger festhalten, wäre das □metaontologische Modell also nur die katoptrische Oberfläche, die zwischen einem □metatheoretischen Gegenstand und dem Erfahrungsboden fortbesteht. Diese katoptrische Oberfläche beschreibt innerhalb des Erfahrungsbodens eine Region bzw. einen Teil seines Raumes. Wenn man von einer Metapher zu einer anderen übergehen möchte, liefert der □metatheoretische Gegenstand selbst – der sich in halber Höhe hält, der sich vom Erfahrungsboden aufgrund seiner idealisierenden Entwicklung und seiner Genese als »Wissensform« gelöst hat – durch sein □metaontologisches Modell die Topographie einer Region des Erfahrungsbodens. Auf diese Region projiziert sich der »theoretische Blick« eines epistemischen Ansatzes. In diesem Sinne können wir die Mathesis zunächst als eine Topographie des Erfahrungsbodens annehmen [infra §§ 114–115]. Diese Topographie könnte auch durch die Interaktion mehrerer 5
Vgl. E. Husserl, Ideen I, cit., Hua. 3, S. 35.
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□metatheoretischer Gegenstände entweder einzeln oder zusammen weiterentwickelt werden. Im Fall einer wechselseitigen Interaktion entwickeln sie eine modulare topographische Beschreibung. Leben wir nicht im Zeitalter der Interdisziplinarität? Und was wäre diese Interdisziplinarität, wenn nicht eine solche wechselseitige Interaktion? Was bedeutet eine solche Interaktion für das Wissen selbst? Sie bedeutet nicht eine vollständige und systematische Beschreibung des Erfahrungsbodens. Eine solche vollständige Pflasterung des Erfahrungsbodens ist eo ipso unmöglich, weil der Erfahrungsboden ein anderer Name für dasjenige ist, was letztendlich der Erfahrungshorizont selbst ist. Doch man braucht offensichtlich nicht viel Feinsinnigkeit, um zu erkennen, dass diese metaphorische Darstellung – welche nur die Idee einer dreidimensionalen Wirklichkeit ergibt – sich im Konflikt mit demjenigen Begriff befindet, welchen wir zuallererst verwendet haben: nämlich dem Begriff eines »topologischen Spiegels«. Die Topologie ist vom Standpunkt des Spektrums, der Mannigfaltigkeit an Räumlichkeiten, welche sie vorschlägt und zulässt, reicher als die Topographie. Wenn wir eine Figur auf einer euklidischen Ebene zeichnen, dann ist diese Figur linear, d. h. nicht hyperbolisch. Deshalb kann eine Topographie nur in einem drei-dimensionalen Raum wirken, mit denjenigen Beschränkungen, die von der partikulären Raumkonstitution vorgegebenen sind. In der Topologie hingegen gibt es eine Unendlichkeit an Riemann’schen Mannigfaltigkeiten, 6 in denen wir unendlich variable Figuren (oder geometrische Gebilde) in zahlreichen Dimensionen denken und bestimmen können. Wenn wir es also schaffen wollen, die Form oder die Formen der Mathesis zu durchdenken – weil dies die Aufgabe eines spekulativen Denkens ist, das sich im extremen Spannungsmoment einer Philosophie, die ihren Sinn verloren hat, zeigt –, dann müssen wir es schaffen, das Verhältnis zwischen diesen Varietätsformen und den □metaontologischen Modellen zu durchdenken. Was man nicht im Voraus machen konnte, das heißt, diese Mannigfaltigkeiten (Varietäten) als streng intrinsisch für die Auffassung der Mathesis anzunehmen, können wir jetzt tun. In der Unwissenheit über die konzeptuellen Möglichkeiten, welche dem reinen Denken durch die universelle Bewegung des Wissens zur Verfügung stehen, Vgl. B. Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, Göttingen, 1868.
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blieb diese Betrachtung der Mannigfaltigkeit vorher nur ein analogischer Hinweis. Denn das □metaontologische Modell, das wir als einen topologischen Spiegel (der uns zur epistemischen Seite und zur epistemischen Individuation Zugang gewährt) charakterisiert haben, ist nicht nur deshalb topologisch, weil es die Struktur »GanzesTeile« bestimmt. Wir können in der Tat jedes □metaontologische Modell 7 als einen algebraischen, topologischen Raum denken. Der durch ein □metaontologisches Modell definierte Raum kann mindestens ein 3-Raum sein, ein Raum mit drei Dimensionen: die Dimension der formalen Ontologie, die Dimension einer regionalen Ontologie und die Dimension einer Menge an Individuationsprotokollen. Doch es ist nicht gesagt, dass es notwendigerweise ein 3-Raum sein muss, weil die Modellierung ex principio variieren kann, indem sie der Natur des □metatheoretischen Gegenstands folgt: Ein □metaontologisches Modell ist nur die ontologische Nachbildung des □metatheoretischen Gegenstands, dem es angehört und aus dem es entstammt. Ebenso kann die Modellierung leicht eine Menge von ontologisch-regionalen Dimensionen wie auch eine Anzahl von Individuationsprotokollen annehmen. Und es ist auch leicht zu verstehen, dass die Variationen der einen oft proportional zur Variation der anderen ist. In den Wissenschaften, die sich hinsichtlich der Beschreibung und Modellierung komplexer Phänomene Mühe geben, ist es häufig so, dass es in der Modellierung für die Fixierung der »Sache selbst« und ihrer »Individuation« der Zusammensetzung mehrerer regionaler Ontologien bedarf. Doch halten wir jetzt an der Struktur oder an der »Sache selbst« fest, die diese □metaontologischen Modelle darstellen. Wir können letztere als algebraische Räume denken, die mit einer Topologie versehen sind. Doch wir können sie auch in ein strukturelles Verhältnis setzen. Aber das Verhältnis denken heißt den Dynamismus denken, den sie als □metaontologische Modelle im intimen Leben des Wissens entwickeln, weil die □metaontologischen Modelle nicht etwas sind, was für sich selbst besteht, sondern etwas, das sich in kontinuierlicher Interaktion mit dem Horizont der Phänomene einerseits und dem Horizont der Theorien anderseits befindet. Die Grammatik der Für den Ausdruck »□metaontologische Modelle«, »□MOM«, gilt das, was man (auch) für »□MG« gesagt hat, nämlich, dass der kontextuelle Operator darauf hinweist, dass sie sich im Inneren des metaontologischen Horizonts verorten.
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Interaktion dieser Strukturen hat uns eine der größten Entdeckungen des letzten Jahrhunderts beschert: die Kategorientheorie, die von Mathematikern entwickelt wurde, nicht um die allerletzten Gründungssorgen der Mathematik zu lösen, sondern um sich gegenseitig in der alltäglichen Praxis zu helfen [infra § 119, Fn. 28]. In dieser Grammatik – die auch eine Grammatik der Schau ist – gibt es keinerlei Hypostase eines Ganzen oder eines axiomatischen Ganzen der Mathematik, sondern nur die mögliche Beschreibung von lokalen Verhaltensweisen (bzw. Bewegung) der Strukturen. Diese Lokalität der Strukturen, die wir vom kategorialen Standpunkt durch (Iso-) Morphismen in Interaktion setzen, konkretisiert sich in der Idee eines Topos. Der Topos stellt ein geometrisches Universum dar, ohne dadurch grob auf den »Ort«, den ein dreidimensionaler materieller Gegenstand im physikalischen Raum unserer Wahrnehmung besetzt, reduziert werden zu können. Dieser topos ist der Ort der Gesamtheit struktureller Korrespondenzen. Diese □metaontologischen Modelle lassen uns die Verhaltensweisen, die Affinitäten oder die Analogien zu anderen Gegenständlichkeiten oder Modellen desselben Typs fixieren. Wenn wir es also schaffen, die □metaontologischen Modelle als die strukturellen Formen der Gegenständlichkeit wiederzuerkennen, dann hätten wir zum Horizont der Mathesis freien Zugang. Dieser Horizont – weder kumulative Sammlung noch architektonischer Aufbau – ist das synoptische und dynamische Ganze der □metaontologischen Modelle. Dieser Horizont ist der Ort der Bilder, welche die Spekularität zwischen dem Realen (das wir alle erfahren) und den □metatheoretischen Gegenständen verwirklichen. Er ist der Ort, in welchem die Bilder, die in der Spiegelung zwischen dem Existentialen unserer Erfahrung und dem Epistemischen – nämlich der Erfahrung, so wie sie sich in den Praktiken unseres Wissens zeigt – auftauchen. Es geht hier noch einmal um die Erfahrung eines spekulativen Verhältnisses. Dieses Verhältnis kann zuerst durch eine dialektische Situation fixiert werden. Es geht um die dialektische Reibung zwischen zwei entgegengesetzten Tendenzen: zwischen dem menschlichen, fetischistischen Willen, das Spiegelverhältnis auf »etwas« Konkretes zu reduzieren – sei es existential (oder ein Existentiales) oder epistemisch (oder ein Epistemisches) –, und dem Bewusstsein der Unmöglichkeit der Reduktion. Nun tritt genau in dieser dialektischen Reibung die Idee einer neuen Form der Mathesis hervor. Jemand könnte sich fragen: Wie kommt man dazu, die Idee der 100 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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Mathesis universalis zu behaupten? Wie kann man diese Lossagungsgeste gegen den Kult des Technizismus und der konzeptuellen Mikro-Spezialisierung ausführen? Wie und auf welcher Basis, mit welchem Recht können wir das tun? Wir können das gerade aufgrund der Entstehung der Idee selbst tun, ohne Furcht irgendwelcher Selbstzensur. 8 Denken wir darüber nach, was eine solche Mathesis ist und was sie uns erlaubt zu tun. Die Individuen, auch wenn sie in einem Raum und in einer einfach genannten »physikalischen« Zeit leben, leben mit dem Gefühl einer spirituellen und kosmischen Nudität. Gleichzeitig ist dieser Spaltungszustand das Zeichen von etwas, das nicht im metaphysischen Sinne, indem es jenseits oder außerhalb fortbestände, ein »Höheres« ist. Dieses Etwas besteht in den Falten fort, in dem irreduziblen »Meta-« der Falten, wo sich die Ideen und ihre eigene Dimension (be)finden. Es geht um eine Dimension, die nicht von der Logik des Fetischismus, der Materialisierung (bzw. der Monetarisierung) kontaminiert werden kann. In Bezug auf diese Dimension ist jene Logik – die all das, was das Menschliche und die Natur betrifft, zu kontaminieren sucht – unbrauchbar. Von den Falten des Horizonts (der wir alle sind) aus erstrahlen die Ideen, die nicht für Ideen im technischen Sinne gehalten werden sollten (in diesem Sinn glaubte die Philosophie ab einem gewissen Punkt ihrer jüngsten Geschichte, einen exklusiven Sinn verleihen zu können und dessen Verwahrerin sein zu müssen). Es geht im Gegenteil darum, diese Ideen zu bezeichnen, zu erfahren, ausgehend von dem Sinnmangel, der entsteht und in allen Aspekten unseres Verhaltens erstrahlt: Wünsche, Projekte, Forschungen, Fragen sowie Nach-Fragen eingeschlossen. Die Ideen sind lebende, überzeugende Kräfte, Fäden, die den Horizont, der wir sind, durchqueren, unabhängig vom Kulturniveau, das wir haben. Wir sind, was wir sind – d. h. Horizonte, deren Reichtum unerschöpflich ist, unmessbar, ausdehnbar, nicht festlegbar –, weil diese Fäden nur die Ideen sind, die uns durchfließen. Das wahre Gesicht der Horizonte, die wir sind, wird weder durch somatische oder psychologische Beschreibungen noch durch anthropologische, sozia8 Das klassische Alibi einer ignava ratio wird oft in dieser Weise formuliert: »Einmal war es möglich, für die großen, alten, berühmten Philosophen, nicht heute – nicht mit einer solchen Erweiterung des Wissens – und darüber hinaus … nicht für uns!« Es ist ein banales Alibi, es geht nur um »Einflüsterungen unserer Eitelkeit« (vgl. dazu F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I. In Nietzsche Sämtliche Werke, Bd. IV. 2, Berlin, 1967, S. 153).
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Kapitel V Über die Topoi des Wissens
le, moralische, politische oder wirtschaftliche Paradigmen begriffen, durch die man die Horizonthaftigkeit, die wir sind, verringern und einsperren will. Das wahre Gesicht des Horizonts, der wir sind, wird auch nicht durch das, was die religiösen Codes besagen – was der Mensch sein muss im Vergleich zu dem, was er niemals sein wird – begriffen. Dieses wahre Gesicht ist das Gewebe der Ideen, die uns durchfließen und die uns verbinden. Diese »jenseitige« Realität, dieses horizontale »Meta-«, durch das die Individuen herangezogen werden – obwohl man sie in allen Lebensbereichen (und selbst in der technisierten und nichttechnisierten Denkpraxis) zu Masthühnern erziehen will –, bewahrt die Idee des Wissens gegenüber dem Fetischismus der unverzüglichen Errungenschaften, gegenüber dem Impact-Factors-System als Hysterie der Forschung unserer Zeit. Dieses »Meta-« selbst gibt uns, aufgrund der immer gleichen Form des Muts der Wahrheit, das Recht zur Lossagung dieser falschen, laizistischen und unflätigen Religion. 9 Dieses »Meta-«, dieses »Weitere« offenbart die Notwendigkeit, noch einmal ab interiore mathesi 10 per exteriorem ad ulteriorem vorzugehen und durch die Erforschung des Horizonts (der wir sind) zu begreifen, dass diese Bewegung keine persönliche ontologische Singularität betrifft, sondern die Öffnung des Wissens selbst. Das ab intus ist also nur der Anfang einer Bewegung, die sich über den Wissenshorizont selbst bis zur Idee der Mathesis ausbreitet. Diese Idee gewährt uns Zugang zu einer Öffnung, die weder der Horizont der konkreten Wissensformen ist (das heißt der metatheoretische Horizont, der Horizont des Epistemischen als solchem) noch der Horizont der Phänomene, so wie sie erlebt werden (die Lebenswelt oder der Horizont des Existentialen als solches [infra § 115]). Diese Öffnung ist der Raum ihrer Spiegelungen, der sich nur durch das »weder-noch« charakterisiert, gerade aufgrund der reziproken Rückspiegelung zwischen dem Existentialen und dem Epistemischen. Innerhalb dieses Raumes treten – durch die kategoriale Arbeit der Entdeckung und der Hervorhebung der Interaktionen zwischen
9 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986, S. 404: »Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten«. 10 Vgl. G. W. Leibniz, Elementa rationis. In Opuscules et fragments inedits, Hildesheim – Zürich – New York, 1966, S. 347.
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Kapitel V Über die Topoi des Wissens
□metaontologischen Modellen (als topologische algebraische Räume bezeichnet) – die Topoi der Mathesis selbst hervor. Es geht um die Topoi, die das geometrische Multiversum des Wissens selbst sind. 11 Und gerade ihre Vielzahl demaskiert die Überheblichkeit der Konstruktion eines absoluten oder vollständigen Wissens. Denn die Topoi sind die Emergenz selbst, wenn nicht gar die spekulative Erscheinung eines Multi-versums. Aus diesem Grund sind die Topoi dieses Raums, als besondere Formen der Mathesis, weder physikalische Regionen noch Strukturen oder ideale Räume (daher keine einfache formalisierte regionale Ontologien mehr). Das Verständnis des Wesens des topos als besondere Konfiguration der Mathesis ist entscheidend dafür, um jede mögliche Idee des Absoluten abzulehnen. Ausgehend vom Verständnis dieses Wesens, wird jegliche Hypostase als solche verweigert. Ein Topos im spekulativen Sinne der □metaontologischen Modellierung ist nicht der Ort, an welchem man einfach verstandene Gegenstände als »Dinge« finden kann. Im Übrigen wäre dieser Ort, als Träger einer Lokalität verstanden, schon für jede mögliche Ablehnung des Absoluten ausreichend. Ein topos ist aber die Gesamtheit einer gewissen Anzahl von Verhältnissen, die zwischen gewissen □metaontologischen Modellen als topologische Vektor-Räume bestehen. Wo könnte man hier jenes Universum wiederfinden, das aus der Lehre des Seins entstanden war? Diese Topoi als Formen der Mathesis, sind genau genommen nirgends. Doch sie sind zahlreich und vermehren sich, sind Varietäten von dynamischen Verhältnissen. Sie sind weder innerhalb unserer Erfahrung (mehr oder weniger gewöhnlich) noch innerhalb unserer Wissensformen als solche (als ausdrückliche Komponenten ihres Theôrein ihres Schauens). Sie sind nirgends, sie resultieren, entstehen durch die kontinuierliche Tätigkeit des Wissens, das festzulegen und umzuwandeln (durch immer neuere und allgemeinere Modelle) versucht, was uns in jedem Moment unserer Erfahrung und Existenz erscheint. Es wäre also unnötig, sich noch auf ontologischer, metaphysischer und vielleicht auch noch philosophischer Art und Weise über ihre Stellung »irgendwo«
Vgl. § 120. Die □MO Topoi und das Spekulativ. Man darf die Idee der Topoi des Wissens als Multiversum nicht mit den Theorien oder der Idee des Multiversums in der Superstring Theory, wie sie in der zeitgenössischen Physik ausgearbeitet ist, vergleichen. Diese lässt sich ausgehend von der Struktur der Topoi des Wissens einfügen und verstehen, obgleich die letzte sich nicht auf eine solche Theorie reduzieren lässt.
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Kapitel V Über die Topoi des Wissens
im Universum, über ihre Analogie zu den platonischen Ideen etc. zu befragen. 12 All das würde wirklich keinen Sinn haben. Was man von den Topoi erfragen muss, ist nicht, »Wo sind sie?«, sondern vielmehr »Was machen sie?«, »Was stellen sie für unsere intrinsische Erschließung des Realen dar?«. Sie sind ein Mittel, um einen Sinn der Wirklichkeit zu erblicken und ihre Schönheit zu begreifen. Die Rolle, die diese Topoi und ihre Kategorisierung für die Mathesis spielen, ist zwiefältig: positiv (das heißt konstruktiv) und negativ (das heißt dekonstruktiv). Erstens funktionieren sie als Leitfäden der Modellierung der Dynamik des Wissens selbst. Es geht um die Modellierung der Verbindungen, die zwischen den □metatheoretischen Gegenständen und gleichzeitig zwischen solchen Gegenständen und dem Erfahrungsboden bestehen. Die Topoi sind in diesem Sinne selbst das Gewebe einer Mathesis, die sich jeder dogmatischen Hypostase widersetzt (die für dieselbe intrinsisch wäre, wenn sie sich für den Ausweg in Form einer souveränen Theorie halten würde). Als formal konkreter Ort, im Inneren dessen sich die Relativität des Seins und die Relativität des Wissens aufteilen, sind die Topoi auch der Anfangspunkt für jede Dekonstruktion jedes Absoluten, das aus der Trägheit der Menschheit resultiert (wir könnten sagen: auf fast unvermeidliche Art und Weise). Eine solche Trägheit entsteht ihrerseits aus der Feigheit, sich den neuen Entdeckungsformen nicht zu verpflichten, oder aus dem Zurücktreten der Individuen vor der Situation des Fragens, da die Individuen denken, dass sie sich außerhalb der Situation des Fragens und des Suchens an ein konkretes à bon marché gewöhnen können. Doch nicht nur »die Operationen«, sondern auch einfach die Erforschungen, die manchmal unmöglich bzw. nutzlos erscheinen, wie die Suche einer Mathesis universalis, können »zur Entstehung von Gegenständen« oder zu menschlichen Projekten, »deren Konstruktion möglich ist« 13, führen. Seien wir zu uns selbst aufrichtig: Warum müsste man den Individuen vorgeben, im klaren und beständigen Bewusstsein zu leben, dass ihre einzige Identität die horizontale Öffnung ist, die sie sind? Warum sollten die Individuen, welche die Sinneswüste ihrer Existenz zumindest einmal in ihrem Leben ästhetisch bzw. asketisch erfahren haben, immer wieder diese Sinneswüste neu erkunden? Die Aufgabe einer Mathesis, die schließlich immer weiter und immer wieder die 12 13
Vgl. Platon, Phaidr., 247 c 3. Vgl. G. W. Leibniz, Opuscules et fragments inédits, cit., S. 350.
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Kapitel V Über die Topoi des Wissens
Erforschung unternimmt, besteht nur darin, diese Individuen daran zu erinnern, dass sie Götzen, die man ihnen modelliert, akzeptieren, sie daran zu erinnern, aus welcher Leere solche Götzen gemacht sind, aber nicht nur auf rhetorische, sondern auch auf methodische Art und Weise. Das Ziel besteht darin, zu zeigen – ohne vorzugeben, sie im Namen eines unaussprechlicheren und raffinierter ausgebildeten Götzen zu zerstören –, dass dieser Götze hier oder jener Götze dort letztlich nur ein Kaleidoskop ist. Solche Kaleidoskope – der Mensch, das Gender, die Person, die Seele, die Familie, die Realität, die allumfassende Geschichte, die Zivilisierung, die Weltordnung, das Schicksal, das Heil, Gott – sind nur eine Zusammensetzung kleiner Restteile desjenigen Spekulativen, das in allen Individuen ist und von dem sie sich befreien wollten. Diese Kaleidoskope sind ihnen günstig verkauft worden, um sie glauben zu lassen, dass es Sinn gibt und dass sich dieser Sinn in den illusorischen Spiegelmyriaden ihres trivialen Lebens versteckt, um sie zwischen einem Einkauf und einem anderen, zwischen einem Tag und einem anderen und so weiter, für die wenige Zeit, die man hat, nicht nachdenken zu lassen. Allerdings sind diese kleinen magischen Entzücken nur die welken Kopien des unendlich reichen, komplexen, erhabenen und vor allem wahren, originalen dioptrisch-katoptrischen Spiel der Epiphanie des Realen. Was die Untersuchung über die Formen der Mathesis den Individuen also vermittelt, was sie innerhalb des Horizonts, der wir alle sind, eröffnet, ist eine neue Schau, die in Wirklichkeit doch die älteste und allererste Form der Schau ist. Es geht um die Fähigkeit – im Sinne der Refraktion, der Rückstrahlung, der störenden Nähe, des Mysteriums und der Schönheit, der prekären Gleichzeitigkeit dieser Epiphanie, des Hell-Dunklen der Falte –, das Reale der Erscheinung aufzufassen. Das Ziel der Rückkehr zur Idee einer Mathesis universalis, das Ziel der Untersuchungen über ihre Formen innerhalb des Lebens der Individuen bedeutet also nicht die Fähigkeit, etwas ein für alle Mal zu begreifen, als geschlossene harmonische Konfiguration, etwas als die letzte Ordnung des Wissens bzw. des Lebens. Es geht darum, innerhalb des Horizonts, der wir alle sind, dieses allgemeingültige katoptrische und dioptrische Spiel zu enthüllen, das unser Spekulativ beherrscht, ein schwindelerregender Wirbelsturm von Strahlen, Feuer, Spektren und Spiegelbildern. Nur diese Grammatik der Schau kann den Individuen das Bewusstsein verleihen, keine Besitzer (der Dinge, einer metaphysischen Identität, eines Seins, eines Bodens, eines ius sanguinis, einer 105 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Kapitel V Über die Topoi des Wissens
akzeptierten und kodierten Sexualität, einer Stellung in der Gesellschaft, einer Seele, eines Schicksals etc.) zu sein. Es geht doch nicht nur um die Fähigkeit, miteinander zusammenzuleben, sondern auch in Harmonie mit allem, was uns umgibt.
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Schlussfolgerung
Was man uns vermittelt hat (»Wahrheit wird euch frei machen« 1), muss von dem Anspruch befreit werden, diese Wahrheit in etwas finden zu können, in einem Gesicht oder in einem mysteriösen und unaussprechlichen Code (etwa einer Offenbarung). Das Bewusstsein des intimen anti- und meta-philosophischen Verhältnisses zwischen Freiheit und Wahrheit wird wieder – wie es ursprünglich bei der ersten menschlichen Erforschung war – das Marschgepäck des menschlichen Aufenthaltes im Horizont der Phänomene sein. Doch was ist diese Wahrheit, wenn nicht das »Sich-im-Spiegel-Betrachten«? Das reine Denken erkennt, gerade wie bei einer Epiphanie, dieses »Sichim-Spiegel-Betrachten« als seine eigene spekulative Dimension wieder. Eine solche Dimension entsteht nicht nur aus der ursprünglichen Öffnung eines jeden Menschen zu den Phänomenen hin, sondern auch aus dem Willen (von uns allen … wie könnte es anders sein?), diesen Horizont zu erkunden: »Considerate la vostra semenza, fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e canoscenza.« 2
Joh., 8, 32. Vgl. D. Alighieri, Die göttliche Komödie, Berlin, 1922, Gesang XXVI, vv. 118–120: »Bedenkt, wozu dies Dasein euch gegeben; nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein, um Wissenschaft und Tugend zu erstreben.«
1 2
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Nachwort Vom spekulativen Denken
»a knowledge still in transitu« W. James
1.
Das Residuum einer Philosophie als Metaphysik
Die Metaphysik war für den größten Teil der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie als die einzige Möglichkeit eines spekulativen Denkens betrachtet worden. Was bleibt von der Idee eines spekulativen Denkens nach dem Ende bzw. dem Zusammenbruch der Metaphysik in ihrer klassischen Form und nach der Nivellierung aller philosophischen Arbeit über technische Argumente, die nichts mehr mit der Bewegung des Wissens zu tun haben? Aber vor allem: Was bleibt von der Philosophie selbst ohne die Idee eines spekulativen Denkens? Was also nun von der Philosophie in dieser Situation und unabhängig von ihrem institutionellen Lebensunterhalt bleibt, ist streng genommen ein bloßes Residuum, nur die Gewissheit, dass sie als Metaphysik die Illusion der Menschen gewesen war, von irgendwoher die Antwort auf ihre Sinnfrage zu bekommen. Das Problem äußert sich folgendermaßen: Um sich als Quelle der Antwort auf die Sinnfrage präsentieren zu können, müsste sie oder muss sie den Sinn einer solchen metaphysischen Frage voraussetzen. Es ist genau diese Voraussetzung, die ihre trügerische Natur charakterisiert. Diese kritische Gewissheit jedoch entspricht nicht der jämmerlichen Leier vom Ende der Philosophie oder der Idee einer Philosophie als einfache Sprachanalyse. 1 Man muss nicht sehr philosophisch gelehrig oder intelligent sein, um zu verstehen, dass man 1 Siehe hierzu R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton, 1980; J. Kim, Rorty on the Possibility of Philosophy, Journal of Philosophy, 77, 1980: 588– 97; Q. Skinner, The End of Philosophy, New York Times Review of Books, 23, 4, 1981:
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Nachwort
nur innerhalb eines philosophischen Diskurses das Ende der Philosophie bestärken kann und somit die These, von der man behauptete, sie zu bestärken, widerlegt wird. 2 Man kann eine Überwindung der Philosophie nur im Inneren einer philosophischen Entwicklung bestärken: Das Überwinden erscheint folglich immer wieder unmöglich, weil die Überwindung selbst durch eine paradoxale Teleologie charakterisiert ist. Es gibt also kein »Ende der Philosophie«. Die Leier vom Ende der Philosophie, die dennoch (explizit oder implizit) in mehreren zeitgenössischen Ansätzen gedreht wird, ist durch eine falsche anti-teleologische Voraussetzung affiziert. Alles geschieht in der vollständigen Unwissenheit darüber, was die Natur charakterisiert und folglich die menschliche Natur, aus der sie als Epiphänomen hervorgeht: die Metamorphose, die Hybridisierung, die Mutation. 3 Jede Rede über das Ende der Philosophie als Tod oder freiwilliger Überwindung der Philosophie ist müßig und besteht aus nichts anderem als einer unendlichen selbstbezüglichen Wiederholung des eigenen philosophischen Narzissmus. Letztlich ist die leere Rede über das Ende der Philosophie als Tod oder Überwindungsprojekt eine Rede, deren Leere aus der Voraussetzung des unveränderlichen Wesens der Philosophie entstammt. Nun, etwas völlig anderes ist das Bewusstwerden von Mutation und Hybridisierung, von der Endlichkeit der Form von allem, was erscheint – umso mehr, wenn es menschlich ist. Die Gewissheit der Metamorphose ist im Prinzip die Erweiterung des Horizonts, indem man begreift, dass sich die Hülle der Welt verändert hat. Die phänomenale Welt schält sich ununterbrochen von den erworbenen Formen ab und vernichtet jeden Götzen des Absoluten und Endgültigen. Im Angesicht der angeborenen Tendenz des Menschen zum Wissen bedeutet eine solche Horizonterweiterung, dass das, was narzisstisch als wissende Antwort auf die Sinnfrage gehalten wurde, nicht mehr als ein Bruchstück ist.
46–48; gegen solche Ansätze vgl. H. Putnam, Realism with human face, Cambridge (MA), 1990, S. 18–21. 2 Vgl. Aristoteles, Protreptikos oder Einführung zur Philosophie, Fr. 38, Schneeweiss (Hg.), Darmstadt, 2005, S. 93. 3 Vgl. M. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, GA 14, Frankfurt a. M., 2007, S. 70–71.
109 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
2.
Das Auftauchen der Komplexität
Das Scheitern dieses proportionalen Mittels zwischen dem reinen Denken und den Wissenschaften, was die Philosophie als Metaphysik ausmachte, übersetzt sich heute in die Unfähigkeit der Philosophie, diese Spekularität auf eine Art und Weise zu fixieren, die nicht in der einfachen Wiederholung von wissenschaftlichen Begriffen oder alten, etwas versteckten metaphysischen Begriffen bestehen kann. Eine solche Spekularität besteht woanders, und zwar genau in der reinen Öffnung des Denkens zu der Entwicklung des Wissens. Als offene, plastische Spekularität entwickelt und erweitert sie sich durch das Auftauchen gewisser Wissensformen, welche die Idee selbst eines metaphysischen Systems der Welt tatsächlich widerlegen. Diese vom Joch der Metaphysik befreite Spekularität nahm den Namen Komplexität an. Aber wenn die Komplexität des Realen und unserer Zeit sich keine bestimmte und paradigmatische (ontologische) Form zuschreiben lässt, scheint es so, als ob das Wissen keinen Zugriff mehr auf das Reale selbst hätte, weil eine solche Komplexität ihre Bedürfnisse nach »Stabilität« und »Ordnung« lächerlich macht. Die Komplexität der Phänomene wirkt sich auf die Fähigkeit des Denkens aus, mit dem Wissen in die Spekularität zu geraten, weil das, was sich aus der Festsetzung der positiven Erkenntnisse heraushebt, sich nur im Inneren einer Mannigfaltigkeit von entwickelnden Netzwerken sehen lässt. Die Handlung des Erkennens wurde im Inneren des kaleidoskopischen Wechsels von Erkenntnissen, Wirkungen, Rückwirkungen, Emergenzen und Bifurkationen dieses Netzwerksystems eingegliedert, 4 was – nicht ohne Naivität – noch »die Welt« genannt werden kann. Denn was »die Welt« genannt wurde, hat sich als ein solches nicht-metaphysisches System herausgestellt, als ein Multiversum, in dem die Erkenntnis als ein Räderwerk oder nur als das bewusste Epiphänomen des Realen selbst erscheint. Eine solche Eingliederung der positiven, objektiven Erkenntnis in diesem Multiversum schwächt ihren Stabilitätscharakter kaum ab und im Grunde genommen zeigt die Erkenntnis etwas extrem Dynamisches und Abweichendes. Sie ist dermaßen schwierig zu erfassen geworden, dass der Mensch – degradiert zum Hersteller, Verkäufer oder Käufer von Erkenntnissen à bon marché – darauf verzichtet, sich selbst über den Sinn der »Erkenntnis« oder des »Wissens« zu be4
Vgl. E. Morin, Introduction à la pensée complèxe, Paris, 2005, S. 22.
110 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
fragen. Und in der heute weit verbreiteten Tendenz, gemäß der ein solcher Verzicht für einen Schritt in die Richtung der »richtigen wissenschaftlichen Philosophie« gehalten wird, erscheint eine Untersuchung über den einheitlichen Sinn der Erkenntnis und des Wissens, die wir unter dem noblen Namen des spekulativen Denkens bzw. der Mathesis universalis fassen, nicht nur als oberflächlich, sondern auch als arrogant. Angesichts des plötzlichen Auftauchens der Komplexität nach der Grundlagenkrise der Wissenschaften, haben einige Pioniere, deren Mut Beachtung finden muss und denen man zu Dank verpflichtet sein sollte, jedoch gedacht, dass die Lösung darin bestünde, sich völlig, wie in einem Kampf, dem Mathesis-Gedanken zu widersetzen und die gesamte systematische Strenge zu kritisieren, welche die galiläisch-kartesische Methode und die daraus entstandenen paradigmatischen Wissenschaftsformen charakterisierte. Diese Blendung angesichts der Komplexität des Realen, dieser Enthusiasmus, hat die Menschen manchmal dazu gebracht, Methoden umformulieren zu wollen, ohne jedoch zu wissen, was »methodisch« noch bedeuten kann. Denn der Enthusiasmus für das Ausmaß der wissenschaftlichen Änderungen, denen sie assistierten, hinderte sie daran, Abstand zu gewinnen. Mit diesem Rückzug haben sie so die Möglichkeit verloren, eine gleichgültigere Position einzunehmen, um ein echtes Untersuchungsprojekt über die Formen der Mathesis in Angriff zu nehmen, welche im Übrigen in den historischen (oder noch schlimmer »antiquarischen«) Untersuchungen der Philosophen verschachtelt und eingesperrt geblieben war.
3.
Der Verlust des Vorrangs
Wenn die Komplexität unsere Idee des Wissens erreicht, wenn die Erkenntnis- und Wissensformen in das Netzwerksystem eingefügt sind, ohne dass die Philosophie der Komplexität eine bestimmte und paradigmatische (ontologische) Form zuschreiben könnte, kann die Philosophie sich nicht mehr als Verwahrerin eines Vorrangs bzw. eines Überschusses behaupten: Die Möglichkeit, die Ontologie (Seinslehre) als allerletzte Vereinheitlichung des Realen zu bewahren, löst sich auf. Anders gesagt: Das Überleben der holistischen Ontologie hat nach dem Ende der Metaphysik tatsächlich eine stark begrenzte Dauer und so erscheint die Idee einer ersten Philosophie als 111 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
Ontologie zunächst sinnlos. Das ist aber nicht zu befürchten. Die Anerkennung des Ontologischen nicht als Scheitelstein, sondern als der wahre Mangel einer architektonischen 5 oder enzyklopädischen 6 systematischen Philosophie ist nicht zu befürchten, weil eine solche Anerkennung zugleich die Auffassung einer Illusion ist. Dieser Schein greift schon seit langem das reine (oder spekulative) Denken an sich ebenso in seiner Akzeptanz wie auch in seiner Ablehnung an. Jegliche Vorgehensweise zu einer oder gegen eine erste Philosophie als Ontologie könnte also nur illusorisch sein, ein Kampf gegen Windmühlen. Wenn die Erkenntnis in das Netzwerksystem eingefügt ist, ohne dass die Philosophie sich als Verwahrerin eines Vorrangs, einer Überschreitung behaupten kann, dann verändert sich auch die Aufgabe des reinen Denkens und die Art und Weise, das Verhältnis zwischen der »Wissenschaft« der Menschen und den Antworten, die sie auf die Sinnfrage geben kann, zu begreifen. Was müsste man halten von einer Wissenschaft des reinen Denkens in dem Moment, wo sie die Aufnahme des »Seins« verliert, das der Prüfstein gegen jede Form des Sinnmangels der Existenz sein sollte? Und gerade das »Sein«, was, einem heuchlerischen Fetischismus nach, als Prüfstein des Wissens der Menschheit geschätzt wurde, erscheint heute im Gegenteil nur der Stolperstein einer Menschheit zu sein, die, verloren in ihrer Totalkonsumbulimie, niemals eine wahre spekulative Vorgehensweise entwickeln kann. Eine solche Vorgehensweise konfiguriert sich gerade als eine völlig unterschiedliche thematische Öffnung, wie ein Horizont, in dem die Menschheit sich nicht mehr darauf beschränkt, von der Welt eine Bestandsaufnahme zu machen oder irrsinnige hypertechnische Spekulationen über ihre letzte Struktur zu entwickeln, sondern eine Topographie von neuen, zu entdeckenden Landschaften zu unternehmen. Um dies umzusetzen, wird man eine mehrdimensionale Topologie der Erfahrung des Realen benötigen. Man könnte natürlich wohl daran denken, sich vom Gewicht einer spekulativen Vorgehensweise (um welche es in diesem Buch geht) zu befreien. Man könnte auch meinen, jeden spekulativen Ansatz als klassischen Versuch einer metaphysischen Philosophie – der darin besteht, das Wissen als systematische Antwort auf die Grundfragen der Menschen zu halten – identifizieren zu können. Es handelt sich genau genommen um das Gegenteil: Es handelt 5 6
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, cit., A 832/B 860. Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, cit., § 14.
112 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
sich um die Öffnung einer neuen Befragung der Formen, welche die Mathesis annimmt, konkret ausgehend von der systematischen Betrachtung des Un-Sinns, der Äquivozität der (angeblichen) Grundfragen, was auf radikale Art und Weise anders ist und was aus diesem Ansatz kein System, aber eine besonnene, nicht naive Erkundung macht. Was für eine Philosophie, die vollständig in der Akzeptanz ihrer eigenen sozialen Behauptung und in ihren leeren Wiederholungen einschlossen ist, unmöglich erscheint, ist das Bewusstwerden einer absolut kritischen Schwelle. Es geht um die Schwelle eines spekulativen nicht-metaphysischen Denkens, das nach einer neuen Schau verlangt. Diese Schau schaut durch das Bild einer Philosophie hindurch, durch ein Bild, dessen begrifflicher Stoff als ausgezehrt, transparent und lichtdurchlässig erscheint. Es geht nicht um Un-Sinne wie die verschiedenen Formen der Behauptung des Endes der Philosophie. Es geht jedoch um den Moment der extremen Spannung, in welchem der Un-sinn der Philosophie uns zu einer neuen Idee der Mathesis universalis bringt, welche die invariante Struktur und Dynamik des intimen Lebens des Wissens wiederzuerkennen weiß. Demnach ist das »Metaphilosophische« keine Überphilosophie im Sinne einer Philosophie höherer Ordnung oder eines Residuums des Endes der völlig leer gewordenen Philosophie [infra § 45]. Das »Metaphilosophische« ist ein Zustand, der spekulative Zustand des Denkens, welcher – jenseits der Thesen einer räumlichen und/oder diachronen Erweiterung – der Aufhebung und der Annahme der Nicht-Sache [infra § 43] der Philosophie entstammt. Wie gesagt bezeichnen solche Thesen eine Metatheorie der Philosophie oder einer Nach-Philosophie als Ausweg, im besten Fall durch eine teleologische Bewegung oder im schlimmsten Fall durch preisreduzierte Produkte, welche auf dem Markt der Ideen angeboten werden.
4.
Die Spekularität und die metaphysische Form des Spekulativs
An diesem Punkt angelangt, geht es nun gleichermaßen um die Unmöglichkeit der Begründung des Spekulativs durch die Ontologie. Es zeigt sich eine freie, offene Spekularität zwischen dem Denken einerseits und »dem Realen« bzw. »dem Wirklichen« andererseits. Im Grunde genommen hebt die Entstehung der kritischen Schwelle des Metaphilosophischen die Unabhängigkeit eines spekula113 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
tiven Denkens, das eine solche Spekularität auffassen will, von jeglicher prädikativen Form hervor. Man darf sich an diesem Punkt bewusst werden, dass diese Unabhängigkeit nicht bedeutet, dass das spekulative Denken außerhalb der Logik oder jedes argumentativen, absolut strengen Diskurses liege. Es geht um die problematische Verbindung zwischen Denken einerseits und der Kopplung Logik-Ontologie andererseits. Der Horizont des spekulativen Denkens ist die Öffnung der Schau, worin logische Strukuren auf eine problematische Art und Weise mit der Ontologie verbunden sind. Doch da das Spekulativ weder die (ontologische) Struktur des Realen noch der Moment ist, in welchem das Denken diese Struktur in seiner vollen Rationalität auffasst, muss ein spekulatives Denken eine solche Korrespondenz zwischen Denken und Phänomenalität als offenes und grundsätzlich problematisches Verhältnis etablieren, das heißt als fähig, immer neue Gestaltungen anzunehmen. Ohne die Möglichkeit eines Bruchs oder einer Verwandlung dieses Isomorphismus zwischen dem Vernünftigen und dem Realen (dem Wirklichen) könnte ein nicht-metaphysisches Spekulativ nie aufgefasst werden. 7 Das Wesentliche eines nicht-metaphysischen spekulativen Denkens besteht in der Auffassung der Spekularität zwischen logischen Strukturen und Phänomenen in ihrer räumlich-diachronen Lokalität und Relativität. Die Befreiung des Spekulativs von der Einzigkeit einer prädikativen Struktur bedeutet die Überwindung des metaphysischen Glaubens, gemäß dem 1)
2)
das Reale (das Wirkliche) gefügig, zähmbar, mitwesentlich zu einer logischen oder mathematischen Form (die Subjekt-Prädikatsform, 8 die Kategorienlehre, die Arithmetik erster Ordnung, die Mengenlehre, die Modallogik usw.) ist. das Vernünftige in einer normativen Kontrolle über die inflationäre Entwicklung von Erkenntnis- bzw. Wissensformen und über die Schöpfung von Formen im Hinblick auf eine zukünftige epistemische Normativität besteht.
Es geht wesentlich um die Idee eines spekulativen Satzes, in dem die Wirklichkeit sich spiegeln müsste, weil dieser Satz doch etwas Meta7 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg, 2013, S. 14; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, cit., § 6, S. 36. 8 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1987, S. 51 [Vorrede. Der spekulative Satz].
114 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
physisches gemäß seiner Struktur wäre, das vollständig die mondänen und nicht mondänen Figuren des Geistes einordnen könnte. Trotz der schwindelerregenden Höhe der Hegel’schen Philosophie wurden seine Logik und das sklerotische Wesen seiner Logik durch dieselbe List der Vernunft aufgehoben. Die Idee eines solchen metaphysischen Isomorphismus zwischen dem Vernünftigen (d. h. dem Logischen) und dem Wirklichen würde zerbrechen: Die Logik erscheint als unendlich reicher als die prädikative Logik, das Wirkliche erscheint unendlich komplexer als ein Wirkliches, das sich durch eine (krypto-syllogistische) Dialektik betonte. Es gibt keine Möglichkeit, das Reale in den Rahmen eines propositional prädikativen Spekulativs zurückzubringen. Es geht vielmehr darum, das Spekulativ zwischen mannigfaltigen logischen Formen und demjenigen, was aus der Verwendung dieser logischen vielfaltigen Erkenntnisformen in den Systemen der Welterkenntnis hervortritt (durch die der Mensch ein Bild seines Aussehens zurückerhält), zu erkennen.
5.
Das relative Spekulativ
Das Spekulativ von dem Mythos einer einzigen allumfassenden prädikativen Struktur zu befreien, Platz frei zu machen für eine Spekularität, die variable Geometrien (in verschiedenen variablen geometrischen Universen als Topoi 9) annehmen kann, entspricht schlussendlich der Befreiung des Spekulativs von der Metaphysik, in welche es eingewoben war. Nun wird es dadurch möglich, den wichtigen Unterschied zwischen dem Spekulativ und dem spekulativen Denken zu verstehen. In seiner letzten und elementaren Konsistenz betrachtet, ist das Spekulativ nur die invariante Struktur, durch die jede thematische Öffnung des Denkens zu einem Inhalt ein notwendigerweise lichtundurchlässiges Bild ergibt, worin das »Schauende« als solches sich (an)erkennen kann. Das Spekulativ gehört notwendigerweise zugleich zur thematischen (dioptrischen) Öffnung und zur reflexiven (katoptrischen) Selbstbeziehung, in jeder Hinsicht oder Erfassung des orientierten und horizonthaft situierten Denkens. Diese strukturelle Mitzugehörigkeit ist dasjenige, was gleichzeitig den Mythos der Innerlich-
9
Vgl. u. §§ 120–121.
115 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
keit 10 und den Mythos des Gegebenen 11 aufhebt, wobei diese zwei Mythen nur metaphysische Hypostasen und symmetrische Versuche sind, um die variable Geometrie der Spekularität zwischen Denken und Wirklichkeit zu stabilisieren (und unnachgiebig, sicher zu machen). Jenseits dieser mystischen Ausgliederungen, jenseits der Fixierung des Denkens, welche eine sklerotische Idee der Erkenntnis als Subjekt-Objekt-Beziehung trägt, zeigt sich wesentlich jede thematische Öffnung des Denkens als etwas Spekulatives. Denn das Spekulativ ist weder die normative Anordnung des Wissens in seinem intimen und autonomen Leben noch der mystische Vorrang des reinen Denkens, das sich von jeder Form der Wissenschaftlichkeit trennt. Es ist das vorhergegangene Strukturelle, das jedes Denken und jede Erfahrung als solche charakterisiert. Hieraus ergibt sich notwendigerweise, dass jedes Spekulativ – als Zustand des Denkens in jeder Erfahrung – relativ ist, da es eingeordnet ist. Denn es setzt eine Perspektive und eine thematische, perspektivische Öffnung von Gegenständen voraus, von denen aus man im Gegenzug ein lichtundurchlässiges Bild bzw. eine unvollkommene Spiegelung hat. Jedoch: Als »relativ« schwächt das Spekulativ den reinen Gedanken nicht. Ganz im Gegenteil: Es bringt ihn in Sicherheit vor dem Wahn der View from nowhere, die einem nicht eingeordneten, einem horizontlosen Beobachter entspricht, was einen Widersinn darstellt. In diesem Sinne kann das Denken nur den Zustand des Spekulativen zurückgewinnen, jenseits seiner Abweisung durch die unterschiedlichen Formen der metaphysischen Mythomanie, wenn es die elementare Situation des Lebens, des Erfahrens und des Wissens als Leitfaden einer systematischen Untersuchung anerkennt. Das relative Spekulativ – das ein wesentlich horizonthaftes (oder kontextuelles) Spekulativ oder die Relativität jedes spekulativen Zustands ist – verhindert dennoch nicht, sondern bereitet den progressiven Gewinn an Denkformen deren Schau ungezwungen ist und vollständig am Horizont projiziert wird, wo die konkreten Komponenten des menschlichen Lebens und Erfahrens nicht verschwinden, jedoch im eigenen Hinblick un-thematisch werden. Nun aber sind der Wanderer, der das Nebelmeer bewundert, ebenso wie der Vgl. J. Bouveresse, Le mythe de l’interiorité. Expérience, signification et langage privé chez Wittgenstein, Paris, 1976. 11 Vgl. W. Sellars, Empiricism and Philosophy of Mind, Cambridge (MA), 1977, S. 14, 77. 10
116 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
Mönch am Meer stark eingeordnet, obwohl ihr relatives Spekulativ nicht den faktischen Erfahrungen entspricht und obwohl die thematische Öffnung nicht dasselbe Bild zurückgibt. Was man vom Spekulativen in der Metaphysik gedacht hat oder den Bedeutungen, die man dem Spekulativen jetzt beimisst, oft um es auf abwertende Art und Weise zu verstehen, ist nicht mehr als die Hypostase einer passiven angenommenen Entscheidung: Das Spekulativ ist prospicere de specula, d. h. die höchste und absolut getrennte Schau (welche zugleich, im pejorativen Sinn, als leere Spekulation verstanden werden kann). Diese Wahl bringt eine falsche theologische Dichotomie mit sich: die Dichotomie zwischen dem prospicere de specula und dem videre per speculum. 12 Diese Idee des Spekulativen ist nichts anderes als ein falsches, einseitiges Münzgeld, das infolgedessen keinerlei Wert hat. Es ist nur das Ergebnis einer Fälschung. In diesem Sinne darf das spekulative Denken – da es überschüssig im Vergleich zu den sklerotischen Formen der Philosophie ist – weder als schattenhaft reflexives Denken noch als Bestimmung des Realen nach einer logischen Form (die es begrenzt und in eine ziemlich naive Form der Begriffsbildung einrahmt) verstanden werden.
Aurelius Augustinus, Fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, XV, 8: »Jetzt sehen wir im Spiegel und in Rätselbildern, dann aber von Angesicht zu Angesich (I Kor. XIII, 12). Wenn wir fragen, wie und was dieser Spiegel ist, dann stoßen wir sicherlich auf die Feststellung, daß man im Spiegel nur ein Bild sieht. Das also haben wir zu verwirklichen gesucht, daß wir durch das Bild, das wir selbst sind, irgendwie jenen sehen, von dem wir geschaffen sind, gleichwie in einem Spiegel. Das Gleiche will das Wort desselben Apostels besagen: Wir schauen aber mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn und werden dadurch in das nämliche Bild umgewandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, eben durch den Geist des Herrn (II Kor. III, 18). Wir schauen, heißt es in dem Sinne, daß wir durch einen Spiegel schauen, nicht in dem Sinne, daß wir von einer Anhöhe herabschauen [Speculantes dixit, per speculum videntes, non de specula prospicientes]. Im Griechischen, aus dem die apostolischen Schriften ins Lateinische übertragen wurden, fehlt diese Doppelsinnigkeit. Dort ist nämlich das Wort für Spiegel, in dem die Bilder der Dinge erscheinen, von dem Worte für Warte, von deren Höhe aus wir etwas in weiterer Entfernung sehen, auch schon rein klanglich durchaus verschieden, und es ist so hinlänglich klar, daß der Apostel bei dem Worte: ›Wir schauen die Herrlichkeit des Herrn‹ den Spiegel, nicht die Warte meinte.«
12
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Nachwort
6.
Das Spekulativ und die Epistêmê jenseits der Ontologie
Das Spekulativ ist zunächst die Einstellung der Epistêmê 13 selbst, die vor-philosophische Stimmung, die jeden Versuch aufhebt, einem solchen Spekulativen eine Form durch eine besondere philosophische Orientierung zu verleihen. Das Spekulativ ist die Form des im Existentialen verwurzelten Epistemischen selbst, vor jeglicher seiner Deklinationen, und ist die »Sache selbst« der Öffnung des Denkens im Realen vor den philosophischen Konfigurationen, welche die Grundlegung einer Wissenschaft entweder im Realen oder im Gedanken anstreben. Das Epistemische und das Existentiale sind notwendigerweise hier zwei provisorische Namen für zwei verschiedene Aspekte derselben Situation. Und diese Situation ist nicht, entgegen dem, was man glauben könnte, eine ontologische Situation, wenn man dadurch eine metaphysische Urtatsache oder etwas, was in jedem Fall das Sein betrifft, vermeint. Diese Situation ist ursprünglich eine Öffnung: Es geht um die Öffnung der existentialen problematischen Dimension des Lebens (und des Erfahrens), die vom Epistemischen (vom Wissen) eine Antwort abverlangt. Wenn man glaubt, diese Öffnung auf eine Idee der Subjektivität reduzieren zu können (als ob die Öffnung eine besondere Eigenschaft des Subjekts oder die Wirkung seiner Tätigkeit wäre) oder dass sie dem Subjekt von außen beigemessen wurde, dann hat man noch mit wesentlich philosophischen Hypothesen zu tun. Dennoch ergreifen diese Hypothesen nicht das vor- und meta-philosophische Wesen dieser Öffnung, weil sie genau aus der Schwelle des »Metaphilosophischen« entsteht: Die Öffnung ist das Epistemische selbst des Existentialen, da das Epistemische nur eine Horizonthaftigkeit ist. Anders gesagt: Wenn man die Waage der Identität zwischen Denken und Sein benutzt, fällt man in den trügerischen Glauben, die Epistêmê auf eine philosophische Orientierung reduzieren zu können, indem man glaubt, dass das Gewicht der Epistêmê auf dieser kleinen antiken Waage gewogen werden könnte. 14 Nun ist die Epistêmê etwas Irreduzibles zu diesem Schmiedeakt, vielleicht poetisch, aber in dieser
Vgl. M. Heidegger, Was ist das – die Philosophie? In Identität und Differenz, GA 11, Frankfurt a. M., 2006, S. 16; Id., Die Zeit des Weltbildes, in Holzwege, Frankfurt a. M., 1950, S. 76. 14 Vgl. Parmenides, Fr. B 3. In Fragmente der Vorsokratiker, Berlin, 1956, Bd. 1, S. 105–126, S. 106: »to gar auto noein estin te kai einai«. 13
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Nachwort
Hinsicht auch komisch und nostalgisch (Plato docet). Es ist gerade diese Stellungnahme, das heißt diese ontologische Stellungnahme, die auf vollkommen illusorische Art und Weise den Schluss zulässt, dass man die Situation des Spiegelungsverhältnisses auf eine Definition reduzieren könne, als ob es darum ginge, etwas als die Öffnung der menschlichen Existenz per genus et differentiam festzulegen. 15 Die Situation der Öffnung, das heißt das Spekulativ des Spiegelungsverhältnisses des Existentialen und des Epistemischen, ist eine privative Situation: Sie ist die ursprüngliche Öffnung jedes Individuums, das die Frage nach dem Sinn seiner Existenz stellt, auf welche das Wissen (oder eine Form des Wissens) antworten könnte. Doch der ontologische Ansatz bezüglich dieser privativen Situation löst den Reichtum und die spekulative Komplexität der Situation selbst auf. Jeder ontologische Ansatz verbirgt die »Sache selbst« der Spiegelung eines Epistemischen und eines Existentialen. Und darin besteht der Mangel der Metaphysik (oder irgendwelcher neuen Ontologie) in Form des Glaubens, dass in der Tat die (Ver-)Spiegelung, die Äquivokation von dem, was als das Epistemische und das Existentiale genommen wurde, sich noch einmal in Termini des »Seins« auflösen könnte. Das Ontologische ist das wahre Privativ, die Synthese und das intime Inkrement des Fehlers des klassischen Ansatzes der Metaphysik. Von dort zeigt sich, obwohl auf eine sublimierte Art und Weise, die illusorische Notwendigkeit des Besitzens, des »in den Händen Habens«, um leben bzw. um erkennen und wissen zu können. Genau eine solche Notwendigkeit ist es, die in dieser Illusion von Konkretheit (auch der Konkretheit des Seins oder irgendwelcher modal-ontologischer Struktur) die Dispersion des intimen Lebens eines jeden charakterisiert, weil diese Konkretheit schlussendlich lediglich bloß eine Handvoll Mücken darstellt.
7.
Der offene Raum des Wissens
Die vor- und meta-philosophische Untersuchung über die Formen der Mathesis beginnt also in dem Zustand einer Menschheit, die ohne Angst die Spekularität zwischen der Sinnfrage und der wachsenden Vielzahl des Wissens (die wissenschaftlichen Errungenschaften) erkennt, ohne die Situation (den Horizont selbst des Schauens) zu einer 15
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, cit., § 10, S. 61–68; § 54, S. 355–359.
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Nachwort
Objektivität reduzieren zu wollen, um so ihren Bedarfsumstand zufriedenzustellen. In diesem Sinne verursacht das Auftauchen der Komplexität nichts anderes als das Gefühl der Hilflosigkeit jeglichen metaphysischen Gestus, der voraussetzt, dass es irgendwo eine allerletzte ontologische bzw. erkenntnistheoretische Struktur gibt. Dadurch, dass man die ontologischen Götzen einer letzten Antwort als Götzen einer wesentlich fetischistischen Konzeption der Erkenntnis zerstört, zerstört das Auftauchen der Komplexität der phänomenalen Welt ebenfalls den existentialen (und narzisstischen) Götzen eines Sinns. Nach dieser »Fabel« der Metaphysik könnte am Ende der Systematisierung einer Mannigfaltigkeit von Wissensformen (und ihrer Ergebnisse) ein Weltbild entstehen. Oder es könnte nach der »Fabel« einer theologisch orientierten Philosophie, in der Verwirrung des Menschen im Labyrinth seines endlichen Wissens eine Enthüllung bzw. Offenbarung der Wahrheit (man weiß nicht, welche) gegeben werden. Diese Idee einer Enthüllung bzw. Offenbarung der Wahrheit selbst zeigt das Laster auf, hoffnungslos »ontologisch« zu sein. Und wenn die Enthüllung keine Enthüllung der Wahrheit ist (das heißt, wovon oder wie die Welt und alle Dinge, die »sind«, geschaffen sind), aber die Enthüllung bzw. die »Offenbarung der Liebe«, ändert dies nicht allzu viel, da man sehr wohl sieht, dass der Mensch »in Erwartung Seiner Antwort« die Überwindung seiner Situation der kosmischen Einsamkeit und Nudität pathetisch sublimiert bzw. transfiguriert hat. 16 Das Auftreten der Komplexität lässt einfach nur die Leere widerhallen, aus dem der Götze der metaphysischen Erkenntnis bzw. des theologischen Denkens gemacht ist: eine Idee des Erkennens als »Antwort« oder als »Befriedigung« einer Grundfrage als Nachfrage, die den Sinn des Seins des Individuums ebenso betrifft wie den der Menschlichkeit (da jeder, der die Sinnfrage begreift, sie niemals für sich selbst begreift, aber für eine Individualität, die sich immer in einem vorausgesetzten Wesen des Menschen verspiegelt). Das reine Denken kann sich also nur beschränken, um sozusagen eine Morphologie (bzw. Morphonomie) der Erkenntnis- und Wissensformen im Komplexitätsregime zu definieren, das heißt die Festlegung von invarianten Strukturen des Verhaltens des Wissens. Eine solche »Beschränkung« ermöglicht eo ipso die Öffnung des freien Raumes des R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Hamburg, 2004, S. 104–108 [Metaphysik als Ausdruck des Lebensgefühls].
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Nachwort
Wissens selbst. Eine solche Morphologie erlaubt auch, die Geschichte desselben Wissens zusammenzusetzen als etwas, das mit einer gut definierten Dynamik ausgestattet ist, das aber keiner linearen Teleologie entspricht. Und dies endet keineswegs im Relativismus. Die Erkenntnisbzw. Wissensformen haben überhaupt einen relativen und ziemlich klaren Fortschritt. Was sie nicht haben, ist der Sinn einer teleologischen Vollendung, der die Richtung des menschlichen Wissens als solches vorschreibt. In diesem Sinne bringt, wenn die Einfügung der Erkenntnis in dieselbe Komplexität, deren Dekodierung sie andeutet, den theologischen Götzen einer Offenbarung zerbricht, wenn dieselbe Einfügung die metaphysische Tendenz eines architektonischen oder vervollständigten Systems des Wissens demütigt, sie dann nur die Notwendigkeit eines spekulativen Ansatzes, welcher sich außerhalb jeglichen Paradigmas befindet, zur Klarheit. Die Aufgabe einer solchen morphologischen Beschreibung im offenen Raum des Wissens, welche die Vorstufe einer Mathesis universalis ist, kann nicht mehr die Errichtung eines Paradigmas ins Auge fassen, gerade weil das Paradigma nur im Willen besteht, eine Form oder eine Normvorstellung von dem, was das Wissen sein muss, zu schaffen. An diesem Punkt erscheint der Einwand der Skepsis unumgänglich. Wie ist es möglich, eine Mathesis ohne den paradigmatischen Charakter eines bestimmten Wissens ins Auge zu fassen? Noch einmal setzt der Einwand nur eine Form des Wissens als die Form des Wissens voraus, die durch die Philosophie vorgeschrieben werden sollte, wobei es nicht darum geht, dem Wissen seine eigene Form zu diktieren, vorzuschreiben oder zurückzuweisen, nur weil man erfahren hat, dass es sich grundsätzlich keiner monistischen Form zuschreiben lässt. Es geht vielmehr darum, die Spekularität zu festigen, die sich als Spiegelung der zwei Termini der Illusion eines Normvorstellungsverhältnisses erwiesen hat. Es ist nicht die Zuwendung zu den Wissensformen einer architektonischen Einheit, um so einen Götzen der absoluten Wissenschaft bzw. der Offenbarung zu formen, was dem reinen Denken seinen Adel oder seine geistige kosmische Bedeutung verleiht. Es geht im Gegenteil um die Fähigkeit, sich die Struktur der Spekularität zwischen Denken einerseits und Erkenntnis- bzw. Wissensformen andererseits selbst bewusst zu machen. So kann man außerhalb des metaphysischen Narzissmus von einem spekulativen Denken in einem von der Metaphysik befreiten Raum sprechen. 121 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
8.
Mathesis und Enkyklios-paideia
Aber schon eine strukturalistische Wissenschaftstheorie könnte die Aufgabe einer morphologischen bzw. morphonomischen Beschreibung von Erkenntnis- bzw. Wissensformen erfüllen. Sie könnte aber nicht jene entscheidende Spekularität entwickeln sowie das tiefe Bewusstsein der Angehörigkeit dieser Aufgabe zu einem weiten Horizont bekommen. An diesem Punkt erscheint die Unverzichtbarkeit des spekulativen Denkens, das durch die Betrachtung der Grundfragen seine Entstehung findet. Wie wir schon gesehen haben, besteht das spekulative Denken nicht darin, eine Antwort auf all die Fragen zu geben – die der Mensch aufgrund seiner kosmischen Einsamkeit stellt –, sondern darin, die systematische Abhängigkeit und die Verkettung zwischen den Grundfragen zu konfigurieren, die aus der Bewegung des Wissens entstehen. Was sind die »Grundfragen« und woher stammt ihre Unverzichtbarkeit für ein spekulatives Denken? Die Grundfragen sind diejenigen Fragen, die ex principio keine Sättigung durch die Auffassung einer (ontologisch-metaphysischen sowie empirischen) Sachlage oder durch eine logisch-formale Analyse erreichen können. Es ist auch möglich, dass manche Grundfragen (wenn nicht alle) ausdrücklich sinnlos sind, weil das Dasein ihres Gefragten nur eine Projektion ist. Im zweiten Band werden wir dies systematisch in detaillierten Analysen unter die Lupe nehmen. Was aber an diesem Punkt wichtig ist, ist eine andere Frage zu beantworten: Warum sind die Grundfragen so wichtig, wenn sie doch sinnlos oder von einer konstitutiven Zweideutigkeit affiziert sind? Wenn das Dasein ihres Gefragten nur eine Projektion ist, wäre es nichts besser, sich einfach auf eine wissenschaftstheoretische Beschreibung von Erkenntnis- und Wissensformen zu begrenzen? Die Antwort lautet nein. Das, was entscheidend ist, ist nicht, dass das Dasein ihres Gefragten eine Projektion ist – das kann nur als propädeutische Aufhebung der Metaphysik dienen –, sondern die Dynamik der Projektion selbst. Was die ständige grundlegende Dynamik der Grundfragen zeigt, unabhängig von ihrer Sinnlosigkeit bzw. Zweideutigkeit, ist, dass das Denken irgendwie eine Einheit projizieren muss, um in seinem Wissen Sinn und Relevanz für das menschliche Dasein finden zu können. Auch wenn das Sein des Gefragten eine Projektion ist, besteht die Projektion fort und zeigt sich ipso facto als die Projektion einer hori122 https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
Nachwort
zontalen Einheit des Sinnes des menschliches Erfahrens und des menschlichen Wissens. Was nach der Dämmerung aller metaphysischen Götzen bleibt, die durch die metaphysische Auffassung des Grundfragens entstehen konnten, ist kein ärmeres Residuum, sondern der Reichtum eines spekulativen Denkens, das jetzt ursprünglich in Verbindung mit seiner Horizontalität erscheint. Die Tatsache, dass die Grundfragen eine systematische Verbindung haben und dass sie sich einer klassischen epistemischen bzw. logisch-wissenschaftstheoretischen Erfüllung entziehen, bedeutet »nur«, dass durch eine solche dynamische Verbindung sich die intrinsische Dynamik einer Erweiterung des Horizonts des Denkens verwirklicht. In diesem Horizont kann das Wissen immer feiner, tiefer und weiter vom spekulativen Standpunkt betrachtet werden und dadurch seinen Sinn für das Menschliche als solches finden. Das spekulative Denken entflieht also aufgrund einer solchen Verbindung dieser Fragen und ihrer Natur zu jeglicher positivistischen wissenschaftlichen Reduktion sowie zu jeglicher Reduktion, durch die man das Spekulativ entweder als Korollar der Geschichte der Metaphysik (bzw. der Religionen) oder als Irrung der Logik betrachten wollte. In diesem Sinne definiert sich der Überschuss des spekulativen Denkens durch seine privilegierte Beziehung mit den Grundfragen (die weder eine historische Figur noch eine einfach logische Struktur sind), als Beziehung der Öffnung des reinen (und nackten) Denkens zum Horizont des menschlichen Wissens. Diese Beziehung besteht schlussendlich darin, den Horizont der Epistêmê selbst durch das methodische Ins-Licht-Setzen des Un-Sinns der (angeblich) grundlegenden Fragen 17 und durch ihre strukturelle Verbindung zu öffnen und zu beschreiben, weil nur das spekulative Denken, das in dem Unsinn dieser Fragen die Öffnung eines Horizonts entdeckt, die Verbindung selbst explizit machen und ihre dynamische Entwicklung in eine Schau verwandeln kann. Die methodische Dekonstruktion des scheinbar einheitlichen Sinns der Grundfragen als grundlegender Rückgang verwandelt den Freiraum von Erkenntnis- bzw. Wissensformen im Horizont der Paideia, als Fähigkeit, diejenigen Problemen, die eine epistemische Siehe hierzu L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, cit., § 119, S. 345; Vgl. auch M. Schlick, Unanswerable Questions?, In M. Meyer (Ed.), Question and Questioning, Berlin – New York, 1988, S. 36–40. Vgl. auch Th. Nagel, Über das Leben, die Seele und den Tod, Hain, 1984 [Kap. II, Das Absurde].
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Nachwort
Rechtfertigung erfordern, und diejenigen, die keine Möglichkeit epistemischer Rechtfertigung zeigen, anerkennen zu können und in eine konstitutive Verbindung zu setzen: »Denn Mangel an Bildung ist es, wenn einer nicht zu unterscheiden vermag, wofür man sich nach einem Beweis umzusehen hat und wofür nicht.« 18 Nur in diesem Sinn ermöglicht eine solche Dekonstruktion die Beschreibung der möglichen Formen der Mathesis als strukturelle Beschreibung von Gestaltungen, welche die Wissensformen im Horizont eines spekulativen Denkens annehmen können. Die Paideia, die durch das spekulative Denken erfasst wird, ist nichts anderes als der Horizont, in dem ein solches Denken auf die Fixierung, die Beschreibung und die Kategorisierung der Dynamik aller möglichen Wissensformen als Mathesis universalis abzielt (im Hinblick auf ihre Übertragung qua Bildungsform). Die spekulative Öffnung des reinen Denkens zu den Formen der möglichen epistemischen Strukturen (als Antwort auf legitime Fragen), als Aufenthalt des Denkens im Horizont der Paideia und seine progressive Erkundung 19, ist gleichwertig mit der Ausräumung der Schau von dieser versteckten Metaphysik, bei der sich die Grundfragen weitertragen. Dieser Vorgang gibt die Idee der Enkyklios-Paideia originalgetreu als Vorbereitung eines bewohnbaren Gebietes des menschlichen Geistes und einer Bildung wieder, die nicht zur Philosophie gehört und die sie jedoch a parte ante überholt. Spekulativ betrachtet ist die Idee der Enkyklios-Paideia selbst eine Tautologie, weil die Paideia nur ein Horizont sein kann, der Horizont, in dem das menschliche Wissen und seine Formen immer einen Sinn haben bzw. finden sollen und der Horizont, in dem das spekulative Denken sich spiegeln kann. Es geht nur darum, zu einer Schau zurückzugelangen, einer Form der Schau, die fähig ist, die Sachen, die weder zur Verfügung stehen noch à bon marché sind, als Orientierungspunkte eines Lebens und eines Wissens anerkennen zu können. Allerdings ist vom nicht-metaphysischen Standpunkt des spekulativen Denkens die Enkyklios-paideia weder ein Besitz noch das Ideal einer Kollektion, eines Korpus – d. h. eine dem Ideal des Objekts noch unterworfene Idee. 20 Aristoteles, Metaphysik, IV, 1006 a 8. Vgl. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des Griechischen Menschen, Berlin, 1934, S. 373: »die Betrachtung des Kosmos sich Schritt für Schritt dem Problem des Menschen nähert, das sich immer unwiderstehlicher in den Vordergrund drängt.« 20 Genau aus diesem Grund verwenden wir das griechische Wort Enkyklios-paideia anstelle des Wortes Encyclopédie (in ihrer neuzeitlichen Bedeutung als Sammlung 18 19
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Nachwort
Die Enkyklios-paideia, das heißt die Horizonthaftigkeit der Mathesis selbst – als thematische (strukturelle und genetische) Öffnung zu den Formen des menschlichen Wissens – gehört nicht zum Objektgebiet, das heißt, dass sie sich weder durch das Paradigma des Objekts, noch durch das, was die Form (der Korpus) betrifft, charakterisieren lässt, noch durch die Materie (das heißt die Weltdinge, die sie zusammenfassen sollte). Der Kreis, in dem die Paideia besteht, ist der Horizont der Befragung. Dies entspricht nicht dem Wiederholen eines leeren Sokratismus als Übung des theoretischen Fragens, als Ethos des Fragens (oder als Frömmigkeit des Denkens 21). Dieses Befragen hat sicherlich ein Ethos, aber was die Horizonthaftigkeit der Mathesis charakterisiert, ist nicht nur eine zufällige theoretische Befragung, sondern die spekulative Dimension, die den Horizont der Paideia durch die Entwicklung einer Mathesis universalis artikuliert und zuerst erkundet. Die Horizonthaftigkeit, in der die Mathesis wirkt, ist also die Öffnung der Schau zu einem offenen Horizont von Erkenntnis- bzw. Wissensformen durch das strukturelle Zusammenfügen und die scharfsinnige Analyse der sogenannten Grundfragen. In diesem Horizont spiegelt sich die Menschheit in ihrem Wissen und sieht aus dieser Perspektive, was sie, als rechtmäßig zur epistêmê gehörend, wissen kann (unabhängig von jeglichem metaphysischen Wahn vom »Aufbau der Welt«). Die Struktur der Fragen und die systematische Betrachtung der Ergebnisse ihrer Analyse konfiguriert die spekulative Dimension, die nicht als ein Puzzle, Stein für Stein, vervollständigt werden kann, weil sie vieldimensional ist. Aber es wäre auch unmöglich, dass dieser spekulative Charakter der offenen mehrdimensionalen Öffnung noch an der klassischen Idee des Spekulativs oder an der minimalistischen Aufgabe einer lokalen, fordistischen Beschreibung festhielte. Die klassische Idee des Spekulativs, als Blick von nirgendwo, wie ebenfalls von Erkenntnissen verstanden) oder »allgemeine Wissenschaft« bzw. »scientia universalis« (in ihrer neuzeitlichen Bedeutung). Diese zwei Ideen setzen einerseits die Möglichkeit einer Sammlung und andererseits die Idee einer Welt, eines Universums voraus. Vgl. Gulielmus Budaeus, Annotationes in XXIV pandectarum libros, Paris, 1508: »omnes disciplinas inter se conjunctionem rerum et communicationem habere, unde encyclopaedia dicta, quasi orbiculata disciplinarum series«. 21 Siehe hierzu M. Heidegger, Die Frage nach der Technik. In Vorträge und Aufsätze, GA 7, Frankfurt a. M., 2000, S. 36. Siehe hierzu auch J. Derrida, De l’esprit. Heidegger et la question, Paris, 1987, S. 24–25.
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Nachwort
die platte Idee einer geregelten (von wem?) Arbeitsteilung im Denken, wird durch das Auftreten der Komplexität der Welt und der Idee eines Multiversums aufgelöst. Erstens, weil es in einem Multiversums kein »nirgendwo« gibt, zweitens, weil die Aufgabe selbst, die Komplexität der phänomenalen Welt zu verstehen, die Lächerlichkeit eines Denkens zeigt, das sein spekulatives Wesen gegen eine geregelte Arbeit in sicherer und bequemer Mikrodomäne eingetauscht hat. Was dieses Auftreten nicht gelöst oder zerstreut hat, ist das Streben des menschlichen Denkens nach einer Einheit der Schau als spekulative Dimension seines Aufenthalts in der phänomenalen Welt. Die spekulative Dimension – das, worin die Mathesis universalis an einer immer besseren, zugleich feineren topologischen Anordnung von Erkenntnis- bzw. Wissensformen und ihren Modellen ständig arbeitet – ist der Ort der Spiegelung zwischen dem Epistemischen und dem Existentialen, wohin jedes zum Wissen orientierte Leben sich befinden soll. Die gesuchte prôtê Epistêmê ist die immer feinere und weitere Artikulation, d. h. die Auffassung, vom Denken, der spekulativen Dimension. Eine solche Dimension überschreitet und antizipiert jedes mögliche geschichtliche, ökonomische Paradigma und öffnet, immer wieder, die Perspektive jeder menschlichen Untersuchung.
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Personenregister
Acquist, L. 159 Adler, M. J. 297 Albert, H. 458 Albertazzi, L. 513 Albertini, F. 222 Alighieri, D. 107, 307 Amman, P. 602 Arendt, H. 202 Aristoteles 82, 109, 137, 237, 419, 426, 437, 443, 446, 453, 477, 494, 531, 614 Armstrong, D. M. 36, 426 Asperti, A. 603 Aubenque, P. 248, 479–480 Augustin 117, 202, 232
Camus, A. 74 Carnap, R. 78, 93, 120, 131, 186, 532, 542, 619 Casari, E. 562 Casati, R. 246 Cassirer, E. 61 Castañeda, H.-N. 377, 426 Chalmers, D. 544, 559 Chisholm, R. 512 Chomsky, N. 251 Clauberg, J. 427 Cohen, F. S. 182 Courtine, J.-F. 445, 474 Cresswell, M. 159 Cruse 389
Badiou, A. 643 Barbaras, R. 290 Bardohl, R. 318 Beckett, S. 52 Benoist, J. 141, 199, 448, 472, 586, 644 Bergmann, G. 512 Bertanlaffy, L. von 597 Bianchi, C. 511 Bollinger, D. 160 Bolzano, B. 16 Bottani, A. 511 Bouveresse, J. 116 Braun, D. 377 Bricmont, J. 643 Budaeus, G. 125 Bühler, K. 257, 314 Burwood, S. 297
De Buzon, F. 18 de Lara, J. 318 Dennett, D. 253 Derrida, J. 125, 617 Descartes 508 Descartes, R. 16, 33, 35, 203, 228 Diogenes Laertios 334 Dodd, J. 426 Dyson, F. 20
Cameron, R. 426
Eckart 464 Ehrig, H. 318 Eilenberg, S. 604 Eklund, M. 544 Eliade, M. 645–646 Elienberg, S. 603 Evans, G. 257–259 Farkas, S. 602 Feuerbach, L. 622
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Fodor, J. 252 Foucault 352 Foucault, M. 14, 59, 132, 326, 332, 631, 635 Frassen, B. van 132 French, St. 40 Freud, S. 27 Gabriel, M. 519 Gadamer, H.-G. 161 Galilei, G. 609 Gauss, C. F. 399 Geldsetzer, L. 294 Gilbert, P. 297 Gire, P. 464 Goethe, J. W. 41, 193, 589 Gracia, J. J.E. 512 Grossmann, R. 512 Hacker 511 Hamblin, C. L. 159 Hanson, N. R. 136 Harrah, D. 159 Harris, Z. 183 Hawking, St. 20 Heath, T. L. 398 Hegel, G. W.F. 29, 102, 112, 114, 206, 334, 455, 622 Heidegger 540 Heidegger M. 61 Heidegger, M. 34–35, 85, 109, 118– 119, 125, 130, 158, 188, 202, 204, 207, 230, 280, 295, 429, 434–435, 445, 462, 464, 484, 494, 507, 628, 652 Henry, M. 146–147, 217, 226, 500 Herbart, J. F. 141 Hintikka, J. 129, 161, 496 Hooker, C. 18, 594–595 Husserl, E. 41, 76, 86, 97, 131, 142, 148, 150, 152, 155, 158, 165, 168, 181, 185, 188–189, 192, 195, 200, 208, 213, 227, 241, 264, 309, 311, 318, 323, 334, 338, 341, 355, 358, 384, 406, 422, 425, 434, 488, 513, 522, 531, 545–547, 550, 556, 561, 588, 591, 619, 647, 653
Ingarden 512 Jacquette, D. 449 Jaeger, W. 124, 647 James, W. 108, 179, 192, 553 Johansson 389 Johansson, I. 512 Johnston 389 Kahn, Ch. H. 83, 496 Kant, I. 33, 112, 130, 141, 200, 216, 227, 267, 448, 526, 619, 635 Kaplan, D. 313 Kaushik, K. 602 Kiefer, F. 169 Kleene, St. C. 73, 417 Koppelberg, D. 352 Koschorke, A. 180 Kotarbinski, K. 219 Kubinski, T. 159 Lehmann, K. 483 Leibniz, G. W. 16, 26, 32, 67, 102, 104, 222, 227, 596, 644 Levi, P. 27 Levinas, E. 223 Lewis, D. 377 Llewelyn, J. 159 Lobacevsky, N. I. 399 Longo, G. 603 Lowe, E. J. 36, 426 Luckner, A. 483 MacLane, S. 603–604 Mansion, A. 445 Marion 203 Marion, J.-L. 67, 139, 176, 181, 184, 447, 479, 527 Maurin, A.-S. 426 McDowell, J. 257, 546 Meillassoux, Q. 141 Meinong, A. 80, 246, 434, 441, 443, 448, 512 Meinong, A. v. 134 Meister Eckart 464 Melissos 495
https://doi.org/10.5771/9783495817841 .
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