Asynchronien: Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne [1 ed.] 9783737014892, 9783847114895


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Asynchronien: Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne [1 ed.]
 9783737014892, 9783847114895

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Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung

Band 27

Herausgegeben von der Redaktion des Forums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Jutta Eming / Johannes Traulsen (Hg.)

Asynchronien Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne

Unter Mitarbeit von Antonia Murath Mit 22 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Visconti Stundenbuch, Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, LF 22, fol. 19r (1388 / 1428). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6223 ISBN 978-3-7370-1489-2

Inhalt

Jutta Eming / Johannes Traulsen Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verschränkte Zeitlichkeiten Christian Freigang Asynchrone Zeitraster: Bildzyklen im Kölner Domchor

. . . . . . . . . .

37

James Simpson Not Yet: Chaucer and Anagogy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Beatrice Trînca aber ietzent. Asynchronie und Außerzeitlichkeit in der Passionspietät (Interrogatio Sancti Anselmi, Minnebüchlein) . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Wolfram R. Keller Die multiplen Zeitlichkeiten des King Lear

. . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Asynchronie und Erzählung Bernd Roling Die asynchrone Logik des Feenhügels: Narrative Strategien der Anderswelt in der mittelalterlichen Artusliteratur . . . . . . . . . . . . . . 129 Lea Braun „Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt.“ Temporale Verschränkungen in der Sibyllenfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Jutta Eming Senemære. Zur Verschränkung von Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

6

Inhalt

Maximilian Benz ‚Asynchronien‘ im Labyrinth der Literatur. Zu Heinrichs von dem Türlin Crône . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Uta Störmer-Caysa Asynchronie und das Ende der höfischen Welt in Konrads Engelhard

. . 205

Epochen, Rezeptionen und Konstruktionen von Vorzeitigkeit Anita Traninger Alte Dialektiker und neue Dichter: Asynchronien im Epochenkonstrukt der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Anna Degler Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Nadine Hufnagel Zeit der Helden? Überlegungen zu temporalen Spezifika in zwei Wiedererzählungen des Nibelungenliedes (Hs. a und Heinrich Steinfests Der Nibelungen Untergang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Bastian Schlüter Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens zwischen Salomon Gessner und Sophie von La Roche . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Johannes Traulsen Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Jutta Eming / Johannes Traulsen

Einleitung

Mit diesem Band werden Ergebnisse des von der Einstein-Stiftung geförderten Einstein-Zirkels „Asynchronien: Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne“ vorgelegt.1 In den Jahren 2016–2019 hat dieser sich unter Federführung der Freien Universität Berlin mit Modellierungen von Zeitlichkeit beschäftigt und im Dezember 2019 zu einer Abschlusstagung eingeladen, auf der viele der hier publizierten Beiträge in der Form von Vorträgen vorgestellt worden sind. Hinzu kommen Ausarbeitungen vorausgegangener Präsentationen, die während der Workshops des Zirkels entstanden sind. Auf diese Weise soll der Band nun einen repräsentativen Einblick in Kerndiskussionen zu ‚Asynchronien‘ im genannten Zeitraum geben. Neuere Arbeiten aus der immer noch intensiv betriebenen Zeitlichkeitsforschung konnten nur noch zum Teil berücksichtigt werden. Der Zirkel führte unter Einbeziehung von Wissenschaftler*innen aus dem Inund Ausland Mitglieder der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Staatsbibliothek zu Berlin und der Berliner Gemäldegalerie zusammen und bündelte somit Kompetenzen im Berlin-Brandenburger Raum und darüber hinaus. Das Ziel der gemeinsamen Arbeit bestand darin, unter der heuristischen Kategorie des ‚Asynchronen‘ Figuren des – vermeintlich – Ungleichzeitigen, Überzeitlichen und Anachronistischen an künstlerischen Produkten und Praktiken zu untersuchen. Dafür wurden die in unterschiedlichen Disziplinen und Wissenschaftstraditionen teils sehr divergenten Zugriffe auf Zeittheorien und -erfahrungen für die Vormoderne systematisch diskutiert. Im Zirkel sollten konkret Verschränkungen, Überlagerungen und Überschneidungen von und Spannungen zwischen Zeitverhältnissen adressiert wer1 Zu den regelmäßig tagenden Mitgliedern gehörten neben den Herausgeber*innen Tina Bawden, Maximilian Benz, Anna Degler, Christian Freigang, Karin Gludovatz, Andrew James Johnston, Wolfram Keller, Elke Koch, Wolf-Dietrich Löhr, Eef Overgaauw, Bernd Roling, Margitta Rouse, Uta Störmer-Caysa, Anita Traninger, Beatrice Trînca. Unser Dank gilt neben den Mitgliedern des Einstein-Zirkels Antonia Murath für ihre Mitarbeit bei der Redaktion der Beiträge in diesem Band und Laura Ginzel für die Unterstützung bei der Einrichtung und Korrektur des Manuskripts.

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Jutta Eming / Johannes Traulsen

den. Die vorgeschlagene Fokussierung auf die Vormoderne wollte einem Forschungsstand kritisch begegnen, der Mittelalter und Früher Neuzeit / Moderne jeweils unterschiedliche Zeiterfahrungen unterstellte. Im Kontext der neuen geisteswissenschaftlichen Konjunktur der Beschäftigung mit Problemen von Zeitlichkeit sollte der Zirkel speziell das Wechselspiel zwischen zeitlichen und ästhetischen Phänomenen in Augenschein nehmen und sich damit einem in dieser Hinsicht bislang vernachlässigten Bereich vormoderner Kunst und Kultur widmen. In der Erinnerungsforschung wird ein Zeitregime verstanden als „Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen, der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deutung steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbstbewusst reflektiert werden“.2 Dem gegenüber wollte der EinsteinZirkel zeigen, dass der Umgang mit Zeit einen integralen Bestandteil ästhetischer Handlungen bildet. Objekte und Texte entstehen, so die These, mittels einer Auseinandersetzung mit dem komplexen Zusammenspiel von Gegenwart, Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung. Texte und Artefakte reflektieren Zeitregime, doch sie konstituieren diese zugleich performativ. Unter dieser Prämisse lassen sich verschiedene Forschungsgegenstände in den Blick nehmen: Objekte, Medien und Narrative; Sprachen und Rhetoriken; literarische Genres; Manuskripteinrichtungen und Editionstraditionen; kunsthistorische ‚Stile‘ und Gestaltungsidiome; die Materialität eines einzelnen Artefakts. Objekte können hinsichtlich der Zeitlichkeit ihrer Handhabe und ihrer Ausstellung untersucht werden, aber auch ihrer spezifischen Zeitlichkeit im Sinn des materiellen Verfalls oder der Genese, die beispielsweise durch die Zusammensetzung aus Teilen, die unterschiedlichen Zeiten entstammen, entsteht (etwa beim Einbau antiker Gemmen in mittelalterliche Schatzkunst).3 Die Mitglieder des Einstein-Zirkels interessierten sich also nicht für die Vielfalt der als ‚vormodern‘ bekannten Zeit- und Geschichtskonzepte als solche – beispielsweise Heilsgeschichte und Eschatologie, translatio imperii oder lokale Geschichtstraditionen – und nur in zweiter Linie dafür, wie sich diese Konzepte in Kunst, Literatur sowie in kulturellen und sozialen Praktiken niederschlagen.4

2 Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 19. 3 Vgl. hier Griffiths, Fiona / Starkey, Kathryn (Hg.): Sensory Reflections. Traces of Experience in Medieval Artifacts, Berlin / Boston 2018 (Sense, Matter, and Medium 1). 4 Vorzüglich dazu etwa der Band: Czock, Miriam / Rathmann-Lutz, Anja (Hg.): ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1750, Köln / Weimar / Wien 2016, der auf ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2011–2019 gefördertes Netzwerk gleichen Namens zurückgeht und in dem die Ebenen von Zeitkonzepten, materieller Kultur und Institutionen besondere Berücksichtigung erfahren.

Einleitung

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Das Augenmerk galt vielmehr der Frage, wie Zeitkonzepte ästhetisch allererst hervorgebracht werden. Darüber hinaus bezog der Ansatz selbst- und metareflexive Strategien der epochentypischen Konfigurationen von Zeitlichkeit ein, die zu den Konstrukten ‚Mittelalter‘, ‚Renaissance‘ und ‚Frühe Neuzeit‘ geführt haben. Damit ermöglicht er einen differenzierten Blick auf Epochenzuschreibungen, die sich auf Konzepte von Temporalität stützen, und zwar auf historische ebenso wie auf gegenwärtige. In historischer Perspektive betrifft dies die Frage, wie mit Phänomenen historischer Rückbezüglichkeit auf Mittelalter und Renaissance in der Vormoderne selbst umzugehen ist und wie sie von analogen Tendenzen der Moderne, die als medievalism oder Mittelalterrezeption bezeichnet werden, abzugrenzen sind. Mit der Frage nach dem Mehrwert ästhetischer Verfahren für die Konzeptualisierung von Zeitlichkeit in der Vormoderne ging der Forschungsansatz über bis dahin vorliegende Untersuchungen zu Zeitstrukturen in Mittelalter und Früher Neuzeit hinaus. Denn zu Temporalitäten hatte die Mittelalter- und Frühneuzeitforschung in den letzten Dekaden schon wichtige Einzelstudien vorgelegt; ein systematischer Zugriff auf die Erforschung von ästhetischer Zeiterfahrung stand jedoch weitgehend aus. Dieser Zugriff musste nach Überzeugung der Mitglieder des Einstein-Zirkels interdisziplinär erfolgen, wofür er auf verschiedenen Ebenen ansetzte: Zum einen war dem Desiderat auf theoretisch-methodischer Ebene zu begegnen. Eine systematische Analyse asynchroner Phänomene war ferner hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Etablierung von Epochensignaturen und Mittelalter-Renaissancen zu beschreiben. Im Sinne einer gezielten Fokussierung künstlerischer Verfahren und Objekte schien es zudem wichtig, den geeigneten Materialbestand in Museen, Sammlungen und Bibliotheken einzubeziehen. Die Bedeutung des Einstein-Zirkels lag daher auch in einer engeren Verzahnung der beteiligten wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Institutionen des Berlin-Brandenburger Raums, die sich in einer gemeinsamen Publikation der wissenschaftlichen Ergebnisse niederschlagen sollte.

I.

Forschungspositionen

Die Publikationen zu Zeit und Zeitlichkeit in den Künsten sind Legion und beziehen gerade in den letzten Jahren zunehmend auch die Vormoderne ein.5 Zu nennen sind etwa die Auseinandersetzungen mit Zukünftigem und Neuem;6 5 Vgl. z. B. Kiening, Christian / Prica, Alexandra / Wirz, Benno (Hg.): Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, Zürich 2011 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 16); Cohen, Simona: Transformations of Time and Temporality in Medieval and Renaissance Art, Leiden / Boston 2014 (Brill’s Studies in Intellectual

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Jutta Eming / Johannes Traulsen

Forschungen zu Gleichzeitigkeit und hybrider Temporalität7 und zu Konzeptualisierungen von ‚Anfang und Ende‘.8 Auch der Germanistentag in Saarbrücken 2019 war dem Thema ‚Zeit‘ gewidmet. Eine umfassende Darstellung des Forschungsstandes ist schon deshalb nicht möglich, weil das Projekt, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist, interdisziplinär ausgerichtet war: Die verschiedenen Forschungslandschaften lassen sich zwar miteinander vergleichen und in einen Dialog rücken, aber in ihren mitunter komplexen disziplinären Voraussetzungen kaum angemessen abbilden. Im Folgenden werden deshalb in erster Linie solche Forschungstendenzen skizziert, welche die Initiator*innen zum Zeitpunkt der Antragstellung und Aufnahme der Arbeit im Einstein-Zirkel aufgreifen oder denen sie begegnen wollten. Zu konstatieren war zum Zeitpunkt der Antragstellung eine allgemeine Hochkonjunktur des Interesses an Zeitlichkeit in der gegenwärtigen Kulturgeschichte, sei es mit Blick auf allgemeine Traditionen und Praktiken von Zeiteinteilung9 oder als Erfahrung10. Ferner bildete die angloamerikanische Literaturund Kulturwissenschaft einen wichtigen Impulsgeber für das Projekt der Asyn-

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7 8

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History, Band: 228/6 / Brill’s Studies on Art, Art History, and Intellectual History, Band: 228/ 6); Engel, Juliane u. a. (Hg.): Zeitlichkeit und Materialität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorien und Phänomene der Präsenz, Bielefeld 2019 (Präsenz und implizites Wissen 4). Die Erforschung vormoderner Vorstellungen von Zukunft ist ein relativ neues Phänomen; lange wurde von der Prädominanz rückwärtsgewandter oder heilsgeschichtlich ausgerichteter Zeitauffassungen ausgegangen, die keinerlei Vorstellungen von Zukunft aufkommen ließen und diese prinzipiell auch nicht planbar machten. Dagegen hat sich in der mediävistischen Literaturwissenschaft inzwischen eine Forschung zur Untersuchung eben solcher Zukunftsauffassungen etabliert, vgl. etwa Hufnagel, Nadine u. a. (Hg.): Krise und Zukunft in Mittelalter und (Früher) Neuzeit. Studien zu einem transkulturellen Phänomen. Festschrift für Gerhard Wolf zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2017; Knaeble, Susanne: Zukunftsvorstellungen in frühen deutschsprachigen Prosaromanen, Berlin / Boston 2019 (Literatur – Theorie – Geschichte 15), außerdem eine Reihe von Beiträgen im Band von Czock / Rathmann-Lutz (s. Anm. 4). Seit 2016 arbeitet zudem die Forschungsgruppe 2305 an der Freien Universität Berlin zu „Diskursivierungen von Neuem“. Dies betrifft insbesondere die unter Leitung von Christian Kiening für die Jahre 2018–2022 angesetzte Forschungsgruppe „Hybride Zeiten. Temporale Dynamiken 1400–1600“ an der Universität Zürich. Mit Akzent auf künstlerisch-literarischer und kultischer Auseinandersetzung mit Endlichkeit vgl. Weitbrecht, Julia / Bihrer, Andreas / Felber, Timo (Hg.): Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2020 (Encomia Deutsch 6). Der Band geht auf ein seit 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Forschungsprojekt zu „Vergänglichkeit und Ewigkeit“ zurück. Vgl. zu literarischen ‚Anfängen‘ im Kontext der theologischen Reflexion über die biblische Schöpfungsgeschichte auch Kiening, Christian: Literarische Schöpfung im Mittelalter, Göttingen 2015. Demandt, Alexander: Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015. Safranski, Rüdiger: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015; Bohrer, Karl Heinz: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, Berlin 2017.

Einleitung

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chronien: In Anlehnung an Kritiker*innen eurozentrischer Periodisierungskonzepte11 hat sie grundsätzliche Kritik am starr chronologischen Zeitmodell als einer Epochensignatur der Moderne formuliert. Sie stellt die Logik eines klaren Vorher und Nachher in Frage, weil diese westliche Fortschrittsgeschichten und ihre jeweiligen Entwicklungsstufen zum universellen Maßstab kultureller Entwicklung erheben. Ähnliche Kritik übten die Queer Studies, insbesondere Carolyn Dinshaws in der angloamerikanischen Forschung einflussreiches, programmatisches Konzept der ‚asynchronous temporalities‘ – eine Anverwandlung von Ernst Blochs ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘.12 Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen steht vielfach im Zusammenhang mit Krisenerfahrungen, insbesondere der Krise der Moderne, dies wurde neben Bloch vor allem von Hegel und Heidegger konzeptualisiert.13 Besondere Bekanntheit erlangte die Formel in ihrer historiographischen Prägung durch Reinhard Kosellek,14 die trotz differenzierter und eurokritischer Ausrichtung insgesamt dem (westlichen) Modernitäts- und Fortschrittsparadigma verpflichtet bleibt.15 Geschichte verläuft, je nachdem, ob sie als Ereignis oder als Struktur und mit Blick auf einmalige oder wiederholte Ereignisse gefasst wird, demzufolge zwar in unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen,16 doch grosso modo schreitet sie voran. Dinshaw propagiert dagegen ein Konzept subjektiver, in Teilen widersprüchlicher Zeiterfahrung im Umgang mit der Kunst des Mittelalters, die sowohl durch gezielt eingesetzte als auch durch unbewusst wirkende Kopräsenzen verschiedener Temporalitäten entstehe und auch auf der Objektebene mittelalterlicher Texte und Artefakte zu beobachten ist. Dinshaws Frage ‚What does it feel like to 11 Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000 (Princeton Studies in Culture / Power / History). 12 Dinshaw, Carolyn: Temporalities, in: Middle English, hg. v. Paul Strohm, Oxford 2007 (Oxford Twenty-First Century Approaches to Literature), S. 107–123; Dinshaw, Carolyn: How soon is now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time, Durham / London 2012. Vgl. mit ähnlichem methodischem Rahmen außerdem Dinshaws Untersuchung zur Geschichte von Sexualität(en) in Dinshaw, Carolyn: Getting Medieval. Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern, Durham / London 1999. 13 Vgl. den Überblick bei Nolte, Paul: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. v. Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 134– 136. 14 Vgl. Koselleck, Reinhard: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989; Koselleck, Reinhard: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003. 15 Kritisch dazu Landwehr, Achim: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34. 16 Zu nennen ist hier auch Fernand Braudels einflussreiche historische Studie zu unterschiedlichen Temporalitäten im (westlichen) Mittelmeerraum, in der er den Begriff der longue durée prägte und die zuletzt wieder für die neueren Mediterranean Studies prägend wurde, vgl. Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., übers. v. Günter Seib, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990 (frz. zuerst 1949).

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be an anachronism?‘ fokussiert zudem die affektive Besetzung von verschiedenen Temporalitäten und bestimmt ‚Multitemporalität‘ als einen Bereich emotionaler Erfahrung.17 Ihre Arbeiten sensibilisieren unter anderem für die Gefahr, ein Artefakt als bloße Zeitkapsel zu verstehen, welche seine als essentiell implizierte Zeitlichkeit in spätere Epochen transferiert. Auch für weitere zentrale Arbeiten der angloamerikanischen Temporalitätsforschung ist kennzeichnend, dass sie den Begriff des Anachronismus aufnehmen und dafür plädieren, ihn positiv neu zu besetzen. Dazu gehörte die Forderung, die wissenschaftliche Abstinenz gegenüber Anachronismen – als einer unzulässigen Abgleichung des Forschungsgegenstands mit der eigenen Erfahrung – aufzugeben.18 Einen wichtigen Aspekt bildet in diesem Zusammenhang außerdem die Frage nach der Interdependenz von (scheinbar) anachronistisch konstituierten Objekten und Strategien der Epochalisierung. So weist Margreta de Grazia die verbreitete Auffassung zurück, dass mit der Renaissance ein modellbildendes Bewusstsein für Chronologie und historische Differenz etabliert wurde.19 Die Unterschiede ‚der‘ Renaissance zu anderen historischen Erneuerungsbewegungen, die mit diesem Begriff in Verbindung gebracht werden – insbesondere der karolingischen und der Renaissance des 12. Jahrhunderts – wurde exakt daran festgemacht, dass letztere keinen Unterschied zwischen ihrer eigenen Zeit und derjenigen der Antike gemacht hätten, während ‚die‘ Renaissance sich als Aufbruch zu Neuem verstand. Für diese Auffassung ist der Kunsthistoriker Erwin Panofsky maßgeblich, der das mangelnde Geschichtsbewusstsein des Mittelalters darüber hinaus mit einem Unvermögen zur Perspektive in Verbindung bringt, als einem Unvermögen, räumliche und zeitliche 17 Vgl. Dinshaw, Carolyn u. a.: Theorizing Queer Temporalities. A Roundtable Discussion, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 13,2 (2007), S 177–195, hier S. 190. 18 Entsprechende Ansätze sind selbstverständlich nicht auf die angloamerikanische Forschung beschränkt. Vgl. etwa die Überlegungen zum „heuristischen Anachronismus“ bei der Applikation moderner Identitätsbegriffe auf vormoderne Person-Konzepte bei von Moos, Peter: Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hg. v. dems. Köln / Weimar / Wien 2004 (Norm und Struktur 23), S. 1–42, hier S. 2. 19 de Grazia, Margreta: Anachronism, in: Cultural Reformations: Medieval and Renaissance in Literary History, hg. v. Brian Cummings / James Simpson, Oxford 2010 (Oxford TwentyFirst Century Approaches to Literature), S. 13–32, hier S. 26. Aus Sicht von de Grazia vertrat niemand energischer als der ansonsten gegenüber herkömmlichen großen Narrativen sehr kritische Historiker Peter Burke die Auffassung, dass in der Zeit zwischen 400 und 1400 kein historisches Bewusstsein bestanden habe, vgl. ebd., S. 27. Einen wichtigen Referenzpunkt für die Arbeiten von de Grazia und weiteren bilden dabei verschiedene Arbeiten von Georges Didi-Hubermann. Vgl. affirmativ zur Einführung der chronologischen Zeitrechnung im Zusammenhang mit neuen Methoden der wissenschaftlichen Quantifizierung auch Crosby, Alfred W.: The Measure of Reality. Quantification and Western Society, 1250–1600, Cambridge 1997, dort das Kapitel „Time“, S. 75–93.

Einleitung

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Distanz zu erkennen.20 Kontrastfolie dieser Setzung war also die vorgebliche Dominanz einer ‚Präsenzkultur‘ des Mittelalters,21 die wiederum eine ‚große Erzählung‘ über epochale Umbrüche in den Zeitregimen motivierte. Dieses Narrativ ließ Figuren des Asynchronen als Indiz eines naiven Zeit- oder inkonsistenten Geschichtsverständnisses in der Vormoderne erscheinen.22 De Grazia plädiert für eine Neubewertung anachronistischer Tendenzen in Literatur, Kunst und Erkenntnistheorie, welche sie vom Mittelalter bis in die Moderne diskutiert. In eine ähnliche Richtung weisen die einflussreichen kunstgeschichtlichen Arbeiten von Alexander Nagel und Christopher S. Wood. Sie betonen, dass gerade die Kunst der Renaissance in dem Sinne ‚anachronistisch‘ verfahren ist, als in ihr keine klare Trennung zwischen Epochen gezogen wurde.23 Nagel / Wood zufolge zeigt die Kunst gerade des 15. und 16. Jahrhunderts die Tendenz, verschiedene europäische Zeit- und Raumebenen einzuholen – vom Heiligen Land über alle Phasen Roms zum christlichen Mittelalter und nach Byzanz. Der Buchdruck erleichtert die Archivierung von Information, neue handelstechnisch-koloniale Netzwerke entstehen.24 Die Kraft eines Kunstwerks, verschiedene Zeitebenen in sich zu vereinen, sei in der Renaissance zwar weder entdeckt noch erfunden worden. Neu zur Zeit der europäischen Renaissance sei vielmehr ein Bewusstsein über die zeitliche Instabilität des Kunstwerks und die Re-Konzeptualisierung von Kunst als einer Stätte der Reflexion über diese Instabilität (instability).25 Auch der Einstein-Zirkel wollte Verschaltungen von Elementen verschiedener Epochen als kreative Reflexionen des Verhältnisses von Zeit und Geschichtlichkeit untersuchen, und zwar über Kunst und Literatur hinaus auch jenen in gelehrter und sozialer Praxis. Dafür waren Forschungstendenzen in allen be20 Vgl. de Grazia: Anachronism (s. Anm. 19), S. 28. 21 Für die Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 2000er Jahren einflussreich war auch Hans Ulrich Gumbrechts phänomenologisch inspirierte Konzeptualisierung von ‚Präsenz‘ und ‚Präsenzkulturen‘, vgl. dazu Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, ferner Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, hg. und mit einem Nachwort von Jürgen Klein, Frankfurt a. M. 2012. 22 Wirkmächtig war dafür bereits Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 111975. Noch Matthew S. Champion begründet seine Studie zur Multitemporalität von Zeitordnungen und -erfahrungen in den Niederlanden des 15. Jahrhunderts mit der Notwendigkeit, Huizingas These vom ‚naiven‘ Zeit- und Geschichtsverständnis zu begegnen, vgl. Champion, Matthew S.: The Fullness of Time. Temporalities of the Fifteenth-Century Low Countries, Chicago / London 2017, S. 1–4. 23 Nagel, Alexander / Wood, Christopher S.: Interventions. Toward a New Model of Renaissance Anachronism, in: The Art Bulletin 87,3 (2005), S. 403–415. 24 Vgl. Nagel, Alexander / Wood, Christopher S.: Anachronic Renaissance, New York 2010, S. 10. 25 Vgl. Nagel / Wood: Anachronic Renaissance (s. Anm. 24), S. 13.

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teiligten geisteswissenschaftlichen Disziplinen (neben Anglistik und Kunstgeschichte auch Germanistik, Romanistik, Latinistik, Religionswissenschaft) zusammenzuführen. Auf Grund der skizzierten intensiven Forschungsdebatte um den Anachronismus schien der Begriff der Asynchronien dafür neutraler und besser geeignet. Der Begriff bezeichnet im weitesten Sinn den nicht gleichzeitigen Ablauf von Prozessen, Ereignissen oder Erfahrungen. Essentialismen in Bezug auf historische Zeiterfahrungen und Epochen-Delineationen wurden nicht zuletzt auch durch den material turn kritisch in den Fokus gerückt.26 Durch ihn werden Periodisierung und Zeiterfahrung über die Frage der ‚Aura‘ des Objekts als historische Zuschreibung problematisiert. Affektbesetzte temporale Zuschreibungen gehören demnach zur Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft, indem sie Teil ihrer sozialen und politischen Praktiken sind bzw. diese erst konstituieren.27 Im Zuge des material turn werden Objekte zwar immer noch mit Blick auf ihren Symbolwert, ob für Herrschaftsrepräsentation oder für poetologische Konzeptionen, gelesen, doch gilt das Interesse nun zunehmend auch ihrer sinnlichen Präsenz und Emergenz. Dies macht die Frage relevant, wie Temporalität nicht nur auf der Ebene der Repräsentationen, sondern auch in der Verwendung vormoderner Objekte wirkt bzw. dort erst geschaffen wird.28

II.

Thesen und zentrale Fragestellungen

Das übergreifende Ziel des Einstein-Zirkels lag also darin, multidimensionale Formen eines ästhetischen Umgangs mit Zeit zu untersuchen, der Chronologie in unterschiedlichen Varianten verfügbar macht und nicht als allgemein verbindliches Ordnungsprinzip voraussetzt. Dafür sollten alternative Formen des Umgangs mit Chronologie ermittelt und ein begriffliches Instrumentarium für seine Beschreibung diskutiert werden. Zum Beispiel können zyklische Elemente in lineare Zeitvorstellungen einbrechen oder umgekehrt. Vor allem jedoch tritt ein asynchroner Effekt ein, wenn historisch aufgetretene Ereignisse oder Gegenstände in der ästhetischen Darstellung als kopräsent erscheinen. Auch Dinge oder Geschehnisse, die in einer Kultur als zeitlich disjunkt wahrgenommen werden, können im Kunstwerk derart miteinander verschränkt sein, dass Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit oder Antike und Mittelalter verwischt, aufgehoben, 26 Vgl. Schwyzer, Philip: Archaeologies of English Renaissance Literature, Oxford 2007. 27 Vgl. Miller, Daniel (Hg.): Anthropology and the Individual. A Material Culture Perspective, Oxford 2009; Miller, Daniel (Hg.): Material Cultures. Why Some Things Matter, London 1998; Miller, Daniel (Hg.): Materiality, Durham / London 2005. 28 Vgl. zum Zusammenhang von material und sensory turn mit Aspekten von Zeiterfahrung auch Griffiths / Starkey (Hg.): Sensory Reflections (s. Anm. 3).

Einleitung

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vor allem aber reflektiert oder problematisiert werden. Wenn, wie in der Forschung zu Anachronismen vorgeschlagen (s. o.), Verschränkungen nicht mehr mit einem ‚naiven‘ Geschichtsverständnis des Mittelalters erklärlich sind, wird der Blick auf solche reflexiven Strategien frei. Gerade weil sie noch keine mechanischen Uhren, dafür aber viele unterschiedliche Zeitlogiken kannten (Mythos, Heilsgeschichte, Ewigkeit und Zeit der Engel,29 Lauf der Gestirne, Kirchenjahr, Fruchtfolge etc.), waren die Paradoxien, die durch die Überschneidung mehrerer Zeitlichkeiten entstanden, immer auch Gegenstand der künstlerischen Darstellung. Das Drama des Mittelalters etwa exponiert die konkrete historische Realität des Theaters und erzeugt zugleich eine imaginäre Präsenz: Zyklische und lineare Zeit werden miteinander verbunden; das geschichtlich-chronologische Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird zu einem räumlichen Nebeneinander, das auch den Zuschauerraum einschließt.30 Grabmäler, Andachtsbilder,31 monumentale Bildzyklen, Handschriftenillustrationen oder Bau-Chronologien aktivieren vielfältige Formen asynchroner Zeitlichkeitsmodelle, die in der Gegenwart auf irdische oder mythische Vergangenheit und Zukunft bezogen sind. In der höfischen und heldenepischen Literatur werden genealogische oder chronologische Reihen zu einer Zeitebene zusammengefasst oder, umgekehrt, über verschiedene Modi der narrativen Organisation von Zeit in ein Spannungsverhältnis gerückt.32 Für viele Gattungen der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters ist kennzeichnend, 29 Zu letzteren vgl. Porro, Pasquale: Angelic Measures: Aevum and Discrete Time, in: The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and its Influence on Early Modern Philosophy, hg. v. dems., Leiden / Boston / Köln 2001 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 75), S. 131–159. 30 Dazu Eming, Jutta: Simultaneität und Verdoppelung. Motivationsstrukturen im geistlichen Spiel, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, hg. v. Ingrid Kasten / Erika Fischer-Lichte, Berlin / New York 2007 (Trends in Medieval Philology 11), S. 46–62; Koch, Elke: Endzeit als Ereignis. Zur Performativität von Drohung und Verheißung im Weltgerichtsspiel des späten Mittelalter, in: Drohung und Verheißung. Mikroprozesse in Verhältnissen von Macht und Subjekt, hg. v. Evamaria Heisler / Elke Koch / Thomas Scheffer, Freiburg i. Br. 2007 (Rombach-Wissenschaften. Reihe Scenae 5), S. 234–262; ferner Herberichs, Cornelia: Zur Zeit des jüngsten Gerichts. Das Berliner Weltgerichtsspiel als Medium von Gleichzeitigkeit, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Susanne Köbele / Coralie Rippl, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14), S. 321–350. Als Ausdruck naiven Zeitgefühls wird diese Technik der Staffelung und gleichzeitigen Entfaltung noch bei Schmid, Rainer H.: Raum, Zeit und Publikum des geistlichen Spiels. Aussage und Absicht eines mittelalterlichen Massenmediums, München 1975, erachtet. 31 Ein weiteres relevantes Feld wäre die mystische Literatur mit ihren spezifischen Zeitformationen und -erfahrungen, vgl. etwa Fuhrmann, Daniela: Konfigurationen der Zeit. Dominikanerinnenviten des späten Mittelalters, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 12). 32 Vgl. Reichlin, Susanne: Nach- oder Nebeneinander? Die Zeitlichkeit des seriellen Erza¨hlens im Rolandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2012), S. 167–205.

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dass historisch zurückliegende oder vorzeitig erzählte Ereignisse mit einem Gegenwartskolorit ausgestattet werden: von Bibeldichtungen, die Jesus als Gefolgsherrn oder Maria als fromme karolingische Adlige zeichnen, über die Ritter, die Troja und Rom bevölkern, bis zu geistlichen Spielen, die heilsgeschichtlichhistorische Ereignisse in ‚Genreszenen‘ spätmittelalterlichen städtischen Lebens situieren.33 Den Mitgliedern des Einstein-Zirkels ging es darum zu untersuchen, wie diese unterschiedlichen Verfahren produktiv miteinander interagieren und wie zum Beispiel scheinbar Statisches und Hieratisches in Konfrontation mit Alltäglichem neue Formen historischen Verständnisses hervorbringt. Im Weiteren wurde die Konstellation von Anachronismen und Epochenzuschreibungen als Frage nach der Interdependenz von asynchron konstruierten Objekten und Verhandlungen von Epochen reformuliert. Das gegenwärtige Bild des Verhältnisses von Mittelalter und Renaissance ist selbst von zumindest drei Aspekten asynchroner Zeitlichkeit geprägt: Erstens durch das humanistische Phantasma einer direkten Anschlussmöglichkeit an die autoritative Vorbildkultur der Antike; zweitens durch die Polarisierung von ‚Humanismus‘ und ‚Scholastik‘, zwei gleichzeitigen Strömungen, die teilweise von sich überschneidenden Personenkreisen getragen sind und deren Verhältnis weniger als ein epochales Nacheinander34 als vielmehr als ein agonales Aushandeln von Disziplinenhierarchien und institutioneller Präsenz zu begreifen ist.35 Drittens durch das wissenschaftliche Epochenkonstrukt der Renaissance, das Jacob Christoph Burckhardt und Jules Michelet als Abwendung vom Mittelalter zeichneten und zugleich anachronistisch in den Bahnen der Episteme der Moderne modellierten.36 Diese verschiedenen, teils gegenläufigen Zeitlichkeitskonzeptionen sind 33 Zu letzterem Olk, Claudia: Performing Transition – Word and Image in the York Cycle, in: Anglistentag 2008, hg. v. Lars Eckstein / Christoph Reinfandt, Würzburg 2009 (Proceedings of the Conference of the German Association of University Teachers of English XXX), S. 149–160. 34 Vgl. Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 21982, S. 11: „Nicht der Zeitpunkt, sondern die durch ihn getrennten Zeiträume beginnen den Epochenbegriff zu bestimmen.“ Dieser Epochenbegriff erweist in seiner Sicht zugleich Fragen der Chronologie als untergeordnet. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. jetzt auch aus philosophiegeschichtlicher Sicht die Forderung von Speer, Andreas: Ein anderer Blick auf das Mittelalter, in: Information Philosophie 2 (2021), S. 8–18, hier S. 18, auf die Epochenzuschreibung Mittelalter gänzlich zugunsten der Anerkennung von „multiplen Temporalitäten“ zu verzichten. 35 Einschlägig dazu Traninger, Anita: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012 (Text und Kontext 33). 36 Vgl. Stierle, Karlheinz: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, hg. v. Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–492; Kablitz, Andreas: Renaissance – Wiedergeburt. Zur Archäologie eines Epochennamens (Giorgio Vasari – Jules Michelet), in: Saeculum tamquam aureum. Internationales Symposion

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zwar sowohl in der Mittelalter- als auch in der Renaissanceforschung beschrieben worden,37 doch erscheint ihre Zusammenschau unter dem Signum ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und ihres Niederschlags in Texten und Artefakten weiterhin als ein Desiderat. Der Zirkel sollte diese in Mittelalter und Früher Neuzeit in unterschiedlichen Diskursen, Künsten und Medien gegebenen komplexen und aus moderner Sicht oft widersprüchlichen Konzepte verschränkter Zeitlichkeit systematisch untersuchen und damit einem Bedarf nach Differenzierung, Theoriebildung und Synthese aus interdisziplinärer Perspektive nachkommen. Drei Leithypothesen wurden als systematische Fragestellungen bearbeitet und am konkreten Beispiel überprüft: 1. Die ästhetische Darbietung, Konzeptualisierung und Modellierung von Zeitwahrnehmung und -wissen ist kein Spezifikum der Neuzeit, sondern in Texten, Artefakten und Performanzkünsten immer gegeben. Die Untersuchung der Konstruktionen von Zeitlichkeit zielt in diesem Sinne nicht allein auf die Analyse von Zeitwissen und Zeiterfahrung in einem abgegrenzten Bereich von Literatur und Kunst, sondern bezieht die genuin ästhetische Dimension der Konstruktion von Zeitwissen und Zeitmodellen systematisch ein. Das kulturelle Potenzial dieser Dimension kann nicht überhistorisch verstanden werden; vielmehr bedarf es eines Blicks auf das Wechselspiel zwischen den Zeitstrukturen ästhetischer Verfahren und ihren jeweiligen historischen Konkretisierungen. Letztere stehen nicht einsinnig in einem rezeptiven Bedingungsverhältnis zu Zeittheorien, die als Epochensignaturen ausgewiesen werden können, sondern in einem produktiven Spannungsverhältnis, das in unterschiedlichen Konstellationen je andere Formen annimmt. Ein Fokus auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bietet sich an, weil diese beiden Epochen als besonders antagonistisch konturiert worden sind. 2. Bereits durch die Traditionslinien europäischer Kulturen sind plurale Zeitkonzepte in jeder Epoche anzusetzen. Mythologische Bearbeitungen und philosophische Diskussionen von Zeit konkurrieren seit der Antike, allerdings gewinnt die Problematik unter dem Vorzeichen christlicher Zeitlichkeit neue Brisanz. Mit dem christlichen Gründungsnarrativ von Geburt, Leben und Erlösungstod des inkarnierten Gottes und der eschatologischen Verheißung wird Zeitlichkeit als ein zentraler Problemkomplex etabliert, der für die europäische Kultur des Mittelalters wie der Neuzeit prägend ist und in zur Italienischen Renaissance des 14.–16. Jahrhunderts am 17. / 18. September 1996 in Mainz. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, hg. v. Ute Ecker / Clemens Zintzen, Hildesheim 1997, S. 59–108. 37 Etwa von Kiening, Christian: Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45/3 (2002), S. 264–277.

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ästhetischen und medialen Formen konfiguriert wird. Zu seiner Erklärung werden in der Forschung bislang primär theologische Konzepte (Heilsgeschichte; Typologie; Allegorese etc.) herangezogen, wodurch tendenziell unterschiedliche ästhetische Verfahren nivelliert und vereindeutigt werden. Es fehlt eine Beschreibungssprache, die theologischen Interpretamenten und ästhetischer Varianzbreite gleichermaßen gerecht wird. 3. Das enge Verhältnis von Text, Artefakt und Verwendungszusammenhang ( je nach Bild- und Objekttypus bzw. Textsorte und medialer oder ritueller Konfiguration), das Kunst und Literatur der Vormoderne prägt, beinhaltet eine spezifische Konfiguration von Zeitverschränkung: eine Aktualisierung, die bislang vor allem auf die Erzeugung von Präsenz bzw. ‚Präsenzeffekten‘ bezogen worden ist. Dies hat einer Vorstellung von der Kultur des Mittelalters als ‚Präsenzkultur‘ und eines naiven historischen Gleichzeitigkeitsverständnisses Vorschub geleistet, die sich zur Konstruktion einer großen Erzählung über epochale Umbrüche in den ‚Zeitregimen‘ eignet. ‚Aktualisierung‘ bildet indes nur einen Typus von Zeitverschränkung, der erst spezifisch zu beschreiben wäre und mit Blick auf Phänomene moderner Mediaevalismen und Renaissanceismen zu relationieren wären. Aufhebung von Zeitlichkeit, Überzeitlichkeit und die Durchbrechung von Synchronie treten zumeist als Verfahren moderner Zeitdarstellung in den Blick.38 Das Disponieren mit Zeitlichkeiten gilt in der Narratologie als spezielle Domäne der (modernen) Literatur.39 Erst wenn solche Verfahren auch in Mittelalter und Früher Neuzeit an unterschiedlichen Texten, Artefakten, Performanzen und medialen Konfigurationen auf breiter Basis untersucht werden, lassen sich historische und mediale Eigenheiten ästhetischer Zeitreflexion und -modellierung erfassen. Weil in der bisherigen Kritik am konventionellen Verständnis von Asynchronien programmatisch der Reflex auf die eigene ‚anachronistische‘ Be38 In letzter Zeit besonders prominent durch das zwischen 2013 und 2021 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“. Das Schwerpunktprogramm arbeitete, kurz gefasst, unter der Prämisse, dass die sich entziehende Zeit durch ästhetische Darstellungsformen erfahrbar wird, und zwar – im Anschluss an Reinhard Koselleck – seit der ‚Sattelzeit‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vgl. https://www.aesthetische-eigenzeiten.de/kon zept/ (letzter Zugriff 1. 2. 2022). 39 Das klassische Beispiel bildet hier Genette, Gérard: Die Erzählung, München 21998, eine Narratologie, die ihrem strukturalistischen Ansatz gemäß einen universalistischen Anspruch vertritt, ihre Paradigmen jedoch vornehmlich aus Prousts Recherche bezieht. Vgl. zu Aporien im Verhältnis von allgemeiner und historischer Narratologie Bleumer, Hartmut: Historische Narratologie, in: Literatur- und Kulturtheorie in der Germanistischen Media¨ vistik, hg. v. Christiane Ackermann / Michael Egerding, Berlin 2015, S. 213–274. Für die mittelalterliche Literatur ist einschlägig Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin / New York 2007.

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schäftigung mit der Vergangenheit eingefordert worden ist,40 schien es an bestimmten Schnittstellen erforderlich, Aspekte von Asynchronie in der Moderne zu untersuchen (medievalism), die spezifische Bezüge zur Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aufweisen. Und zugleich war diese Zuschreibung von Mittelalterrezeption zur Kultur der Moderne zu differenzieren und zu problematisieren: Zahlreiche Bezugnahmen spätestens seit dem Spätmittelalter auf verschiedene historische Vorstufen stellen eigene Formen von ‚Mittelalterrezeption‘ dar, die seit Huizingas Etikettierung als „Ritterromantik“ einer neuen Konzeptualisierung bedürfen41 und die Auseinandersetzung mit bestimmten Texten, Stoffen, Figuren oder Motivkomplexen des Mittelalters eher als historisches Kontinuum erscheinen lassen.42

III.

Zur Projektarbeit und ihren Ergebnissen

Für den Einstein-Zirkel resultierten aus dem Forschungsprogramm Arbeitsfelder, die auf Workshops gemeinsam mit auswärtigen Kolleg*innen diskutiert wurden. Jeder Workshop wurde durch einen Keynotevortrag eingeleitet, der diskussions- und anschlussfähige Thesen entwickelte,43 und um weitere auswärtige Gäste ergänzt, die einschlägige Studien zum jeweiligen Themenbereich

40 Ebenfalls von Dinshaw in ihren Beiträgen von 2007 und 2012 (s. Anm. 12). 41 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Nadine Hufnagel, die Überlieferung des Nibelungenliedes stärker nach Aspekten von Rezeption und Re-Konzeptualisierung zu differenzieren, hier unter dem Begriff des ‚Wiedererzählens‘, dazu: Hufnagel, Nadine: Zum Wiedererzählen des „Nibelungenliedes“ im 15. Jahrhundert (Hs. b, Hs. n), in: Text und Textur: WeiterDichten und AndersErzählen im Mittelalter, hg. v. Peter Glasner / Birgit Zacke, Oldenburg 2020 (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung / Themenheft 5), https://doi.org /10.25619/BmE_H202033, S. 385–408, oder die Untersuchung zum ausgeprägt selbstreflexiven Modus der Aktualisierung höfischer Welten in der Literatur und Buchkunst des 15. Jahrhunderts bei Freigang, Christian: „Fantaisie et Ymaginacion“. Selbstreflexion von Höfischkeit am provençalischen Hof unter René I, in: Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. La culture de cour en France et en Europe à la fin du Moyen Âge, hg. v. dems. / Jean-Claude Schmitt unter Mitarbeit von Chrystèle Blondeau u. a., Berlin 2005 (Passagen / Passages 11), S. 209–243. 42 Vgl. dazu am Beispiel eines Minnelieds von Friedrich von Hausen auch die Überlegungen von Lauer, Claudia: Liebe übersetzt. Friedrichs von Hausen ‚Ich denke underwîlen‘ (MF 51,33) als (vor)modernes Rezeptionsphänomen, in: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität, hg. v. Klaus Ridder / Steffen Patzold, Berlin 2012 (Europa im Mittelalter 23), S. 207–230. 43 Den Auftakt bildete ein Vortrag von James Simpson, der in überarbeiteter Form in den Band aufgenommen worden ist. Weitere Keynotes wurden von Stavroula Constantinou und Carolyn Dinshaw gehalten.

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vorgelegt hatten.44 Zu prüfen war insbesondere, ob sich die thematischen Schwerpunkte bewährten oder die Erkenntnisinteressen sich verschoben, ob zusätzliche Aspekte berücksichtigt oder entkoppelt werden sollten. In den Diskussionen des Zirkels zeigte sich immer wieder, dass Zeitlichkeit in den beteiligten Disziplinen in unterschiedlicher Weise thematisiert und verhandelt wird und dass zum Teil große Unterschiede in den jeweiligen Forschungsansätzen bestehen. Die Beiträge zum vorliegenden Band reflektieren diese unterschiedlichen Bedingungen. Immer galten die Analysen des Zirkels dabei Komplexen, in denen nicht ein einzelnes Zeitkonzept oder eine einzelne Zeitlogik vorherrscht, sondern in denen mehrere Temporalitäten aufeinandertreffen und in Wechselwirkung treten. Ein Kirchenraum etwa kann nicht allein als Ausdruck der theologisch fundierten Verschränkung von Heilszeit und liturgischer Zeit verstanden werden, sondern er verschaltet als künstlerisches Objekt seinerseits die Erfahrung dieser unterschiedlichen Zeitlichkeiten miteinander. Entsprechend sind die hier versammelten Beiträge nicht nach verschiedenen Zeitlogiken (etwa genealogischen, eschatologischen, apokalyptischen etc. Entwürfen) geordnet. Deshalb wurden unterschiedliche kulturelle Produkte (Medien, Objekte, Inszenierungspraktiken) in den Blick genommen und daraufhin befragt, inwiefern und auf welchen Ebenen sie Phänomene von Zeitlichkeit repräsentieren, erzeugen und verknüpfen. Ein Schwerpunkt wurde auf selbst- und metareflexive Strategien von epochentypischen Konfigurationen von Zeitlichkeit gelegt. Die Untersuchungen galten entweder (historischen) Konzepten asynchroner Zeit oder aber Darstellungsformen spezifischer Zeitlichkeiten, Entwürfen von Epochen und Geschichtsnarrativen wie dem Phänomen des Medievalismus.

a)

Asynchronien als Objektstrukturen

In Anbetracht der Tatsache, dass Zeit sowohl ein strukturelles Element der Erzählung als auch ein wesentliches formales Element metrisierter Texte bildet, verwundert es nicht, dass Literatur unter den Künsten einen besonderen Platz bei der Auseinandersetzung mit Zeitlichkeiten einnimmt.45 Das spiegelt sich auch in den in diesem Band versammelten Beiträgen, die mehrheitlich einen literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt aufweisen. Für den Einstein-Zirkel war dabei der 44 Hartmut Bleumer, Susanne Köbele, Kathryn Starkey, Susanna Burghartz; Nadine Hufnagel, Achim Landwehr; auf der Abschlusstagung außerdem Matthew Champion. Allen Gästen sei bei dieser Gelegenheit sehr herzlich für ihre Beiteiligung gedankt. 45 Allein die Musik kann für sich in Anspruch nehmen, noch mehr als die Literatur auf Zeit als Element der Darstellung angewiesen zu sein. Wir hätten es sehr begrüßt, auch einen musikwissenschaftlichen Beitrag in diesem Band zu haben.

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Rekurs auf die wohl wirkmächtigste Konzeptualisierung verschränkter Zeiterfahrungen unerlässlich, die in kaum einer Untersuchung zu Zeit nicht wenigstens Erwähnung findet und nicht zuletzt eine der wichtigsten Erzähltheorien der letzten Jahrzehnte inspiriert hat, nämlich die von Paul Ricœur:46 Augustinus. Im elften Buch der Bekenntnisse setzt sich Augustinus mit der Zeit auseinander, indem er die Ewigkeit Gottes der Zeitlichkeit des Geschaffenen gegenüberstellt. Die aus diesem Gegensatz resultierende Schwierigkeit, den paradoxen Charakter der Zeit dazustellen oder zu erklären, bringt der Kirchenvater in der bekannten Formel auf den Punkt: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“47 Trotz des eigenen Unvermögens der sprachlichen Objektivierung von Zeit ringt er um Darstellung, indem er zahlreiche Beispiele für Widersprüche im Zeitbewusstsein anführt – wie die Beobachtung, dass ein kurzer Vers so lang vorgetragen werden kann, dass er die Dauer des Vortrags eines langen Verses weit überschreitet.48 Sprache hat darin nicht nur einen Platz als Mittel der Beschreibung, sondern auch als Gegenstand der Erörterung und als Maß der Zeit (kurzer / langer Vers etc.). Als besonders prägend für die abendländische Geistesgeschichte erweist sich die Augustin’sche Konzeptualisierung von Zeit als gleichzeitiger Dreiheit von Erinnerung, Gegenwart und Antizipation. Im Anschluss daran lässt sich geltend machen, dass jedwede Zeiterfahrung offensichtlich zugleich eine Kontrasterfahrung bedeutet: Zeit wird immer ‚verschaltet‘ erlebt – als das, was sie ist, im Unterschied zu dem, was sie gerade nicht (oder auch) ist (kurze vs. lange Zeit; Gegenwart – antizipierte Zukunft – erinnerte Vergangenheit). Zeit und Zeitverläufe werden immer in Differenzverhältnissen erkannt und inszeniert. In den historischen, kunstgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen49 Analysen des Zirkels wurden ‚Verschmelzung‘ und ‚Kontrastierung‘ als zentrale Verfahren des Asynchronen erkannt. Sie markieren die Pole zweier Darstellungsinteressen, zwischen denen zugleich Übergänge und Annäherungen bestehen – es sind eben solche, die lange als ‚naive‘ Anachronismen erachtet wurden (s. o.). ‚Verschmelzung‘ neigt dabei dazu, Unterschiede zwischen zeitlichen Ebenen in prägnanten Konstellationen zum Verschwinden zu bringen, während ‚Kontrastierung‘ aus diesen Unterschieden ein internes Span46 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. 3 Bde., München 22007 (Übergänge 18). Vgl. zur Auseinandersetzung mit Ricœur auch Sablotny, Antje: Zeit und âventiure in Wolframs von Eschenbach Parzival. Zur narrativen Identitätskonstruktion des Helden, Berlin / Boston 2020 (Deutsche Literatur Studien und Quellen 34). 47 Aurelius Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse, übers., hg. u. komm. v. Kurt Flasch / Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009, lib. XI, XIV (Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; sie quaerenti explicare velim, nescio […].) 48 Vgl. ebd., XXVI. 49 Vgl. zur Literaturwissenschaft insbesondere die Beiträge in Köbele / Rippl (Hg.): Gleichzeitigkeit (s. Anm. 30).

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nungspotential gewinnt, das der Konturierung ästhetischer Darstellung dienlich ist. Welches Prinzip vorherrscht, ist nicht immer einfach zu entscheiden, wie etwa das Beispiel von Sebastiano: El morte di adone / Sterbender Adonis (Abb. 1), illustriert. Hier werden mythische und Realzeit bildlich dargestellt, da im Hintergrund ein ‚zeitgenössisches‘ Venedig mit Markusplatz identifiziert werden kann; abgetrennt durch einen Graben wird im Vordergrund eine mythische Erzählung vergegenwärtigt.

Abb. 1: Sebastiano del Piombo Morte di Adone, Florenz, Galleria degli Uffizi (1512)

Im literarischen Zusammenhang werden Zeitkonstruktionen immer dort besonders augenfällig, wo Übergänge zwischen ‚Zeitenwelten‘ stattfinden, wie in Jenseitsreisen oder Anderswelten. Ein Wechsel zwischen Zeitbereichen wird narrativ markiert, z. B. im Wechsel narrativer ‚Geschwindigkeit‘ in Schlüsselsätzen, emotionalen Indizes von Glückserfahrungen oder in Anklängen an Dämonisches. Eine Vielzahl weiterer Konfigurationen sind denkbar: Kann zum Beispiel lineare Zeit in simultanen Konstellationen aufgehoben werden? Wie wird Ewigkeit gedacht und ästhetisch eingeholt? Welche ästhetische Eigenzeiten50 werden in der Vormoderne entworfen? Konstituieren literarische Orte wie Anderswelten und Feenhügel eigene Zeitlichkeiten oder sind sie Ausdruck eines bestimmten mythischen Denkens? Welche ästhetischen Verfahren erzeugen

50 In Anlehnung an das erwähnte DFG-Schwerpunktprogramm gleichen Namens (s. o.) und gleichwohl mit dem Anspruch, diese auch für die Vormoderne ermitteln zu können.

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Gegenwartsanmutungen, zum Beispiel in der Lyrik, im geistlichen Spiel oder in der Mystik? Als komplexes produktives Feld erweisen sich asynchrone religiöse Zeitentwürfe, insbesondere Jenseitsentwürfe, in denen zum Beispiel Vorstellungen des Purgatoriums, der Apokalypse und des Jüngsten Gerichts miteinander vermittelt werden. Auch liturgische Zeitlogiken vertreten ein wichtiges temporales Paradigma der Vormoderne, das, wie der Beitrag von Christian Freigang im vorliegenden Band zeigt, hinsichtlich seiner Verschaltungsmechanismen noch eingehend zu erforschen ist. Das Prinzip des vierfachen Schriftsinns mit entsprechenden zeitlichen Implikationen erweist sich weiterhin als zentral für vormoderne Entwürfe, doch es wirkt, wie James Simpsons Beitrag nachweist, auch für moderne literarische Reflexionen von Zeit prägend. Gerade in der mittelalterlichen Literatur können sich zeitliche, räumliche, logische und thematische Syntagmen überschneiden.51 Besonders komplexe Zeitmodellierungen entstehen aus der Verknüpfung mythischer und andersweltlicher Erzählungen. Eine systematische Erfassung der temporalen Dimensionen des Mythischen (zyklisch, selbst-identisch, sprunghaft, kopräsent?) steht grundsätzlich noch aus. Als aufschlussreich dürften sich dafür die Kategorien Emotion (vgl. auch den Beitrag von Jutta Eming im vorliegenden Band), Körper und Sprache erweisen.

b)

Asynchronien im Kontext von Periodisierungsverfahren

Die zweite inhaltliche Phase des Zirkels war dem Thema „Asynchronien im Kontext von Periodisierungsverfahren“ gewidmet. Auf Grundlage der Diskussion von kritischen neueren Beiträgen zur Epochisierung52 und literarischen

51 Eine besondere Stellung könnte hierbei der Lyrik als nicht-narrativem literarischem Genre zukommen. Wenn Gegenwart (mit Augustinus) das sich ewig Verflüchtigende bedeutet, Lyrik auf die Inszenierung des Moments zielt, stellt sich die Frage nach den sprachlich-rhetorischen Strategien, mit denen Momenthaftigkeit inszeniert wird. Welche Rolle spielen Tendenzen der Re-Narrativierung? Vgl. hier etwa: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Bleumer, Hartmut / Emmelius, Caroline, Berlin / Boston 2011 (Trends in Medieval Philology 16). Ein wichtiges Moment ergibt sich aus der im Spätmittelalter zunehmenden lyrischen Gestaltung von Lebensläufen, vgl. dazu Benz, Maximilian / Kiening, Christian: Die Zeit des Ichs. Experimentelle Temporalität bei Oswald von Wolkenstein, in: Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des IchErzählens, hg. v. Sonja Glauch / Katharina Philipowski, Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik 26), S. 99–129. Als nach wie vor wichtiges Analyseinstrumentarium können die Schriften von Michail M. Bachtin gelten, vgl. insbesondere Bachtin, Michail M.: Chronotopos, aus dem Russischen von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008. 52 Vgl. insbesondere Nagel / Wood: Interventions (s. Anm. 23).

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Texten53 erwies sich am Paradigma der Renaissance das Konzept der ‚Epoche‘ einmal mehr als schwierig. Zwar zeichnen sich Kunstwerke der Renaissance durch ein differenziertes Zeitbewusstsein aus, dies geht jedoch nicht mit einem ausgeprägten epochalen Selbstbewusstsein einher.54 Weiter zu diskutieren ist deshalb die Frage, wie sich epochale und historische Zeitentwürfe zueinander verhalten. Es scheint, als ließe sich der Fokus auf der Makrostruktur der ‚Epoche‘ nur um den Preis weitgehender Verallgemeinerungen aufrechterhalten, die den Gegenständen historischer Forschung nicht gerecht werden. Erneut stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit noch von ‚Vormoderne‘, ‚Mittelalter‘ und ‚Früher Neuzeit‘ gesprochen werden kann, ohne diese Begriffe eigens neu zu bestimmen. Weiterführend scheint auch hier ein Ansatz am Gegenstand. Der Begriff der ‚Asynchronien‘ ist dafür einschlägig, da er sich auf Konstellationen von ästhetischer Simultaneität, auf Ko-Präsenzen heterogener und hybrider Zeiten richtet, auf Verschaltungslogiken, und weil er zugleich Differenzen sichtbar machen kann, Kontraste zwischen Zeitebenen und entsprechende Wahrnehmungsstrategien. Im Hinblick auf epochale Umbrüche lässt sich an vielen Objekten – Gemälden, Dichtungen oder gelehrten Diskursen – gerade keine eindeutige Signatur, sondern eher eine Vielschichtigkeit von zeitlichen Ebenen nachweisen. Hinzu kommt, dass auch in der Frühen Neuzeit selbst interne Epochisierungsbestrebungen (etwa von Reformatoren im Hinblick auf die Humanisten) erkennbar sind. Entsprechende Prozesse und Verwerfungen lassen sich in unterschiedlichen Richtungen und an diversen Medien beschreiben, so greifen etwa die Verwaltungsbeamten der Medici auf karolingische Schriften zurück, um aus

53 Der Einstein-Zirkel diskutierte das Beispiel eines bekannten (unvollendeten) Kurzepos’ Polizianos, das im Dienste der Verherrlichung eines Turnierspiels Guiliano de’ Medicis die Auseinandersetzung mit einem goldenen Zeitalter führt und dabei eine Vielzahl intertextueller Bezüge auf die Gegenwart integriert, vgl. Angelo Poliziano: Der Triumph Cupidos: „Stanze“. Übertragen und eingeleitet von Emil Staiger, Zürich 1974, S. 28–117. Vgl. dazu jetzt Elmer, Andrea: „Sola Admiratio Quaeritur“. Das Staunen in der Dichtung der italienischen Renaissance, München 2021 (Poetik und Ästhetik des Staunens 7), S. 1–48. 54 Wie dies etwa Panofsky meinte ermitteln zu können: „Vom 14. bis ins 16. Jahrhundert und von einem Ende Europas bis zum anderen waren die Menschen der Renaissance überzeugt, daß die Epoche, in der sie lebten, ein ‚neues Zeitalter‘ war, das sich so deutlich von der mittelalterlichen Vergangenheit unterschied, wie es das Mittelalter von der klassischen Antike tat, und das sich durch die planvolle Anstrengung auszeichnete, die Kultur der Antike neu zu beleben.“ Panofsky, Erwin: Die Renaissancen der europäischen Kunst, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a. M. 21979, S. 48. Der Umstand, dass der Titel von Panofskys Untersuchung den Epochenbegriff im Plural angibt, verweist auf die Auseinandersetzung, die er mit Kritikern an diesem ‚Alleinstellungsmerkmal‘ ‚der‘ Renaissance führt. Die Vielfalt unterschiedlicher Temporalitäten und Epochenerfahrungen akzentuieren dagegen für den gleichen Zeitraum im Eintrag „Zeitbewußtsein“: Münkler, Herfried / Münkler, Marina: Lexikon der Renaissance, München 2000, S. 430–436.

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diesen die ‚Antiqua‘-Schrift zu entwickeln.55 Gerade an religiösen Artefakten, die mit unterschiedlichen phänomenologischen Ebenen (Immanenz / Transzendenz, Eschatologie etc.) umgehen, lassen sich je spezifische Verschränkungen von Zeitlichkeiten, insbesondere von linearen und nichtlinearen Zeitkonstruktionen, beschreiben.

c)

Medievalism

Als ergiebiges Feld für konkrete Untersuchungen erweist sich ein Gegenstandsbereich, der mit dem Begriff des medievalism – wenn auch sehr breit und unkonkret – abgesteckt ist. Er vermag zugleich den Blick auf disziplinen-, fachund nationalspezifische Periodisierungsgrundsätze zu lenken. Die Diskussionen des Zirkels zu diesem Bereich bildeten nicht zuletzt eine wesentliche Grundlage und Vorbereitung für das Abschlussplenum im Dezember 2019. Medievalism erweist sich bei näherem Besehen als umstrittener und nicht eindeutig festgelegter Begriff. Er impliziert eine politische und eine metatheoretische Dimension und schließt in methodischer Hinsicht an die Post Colonial Studies an. Seine Prämissen eröffnen eine ganze Reihe von Fragen für deutsche Fachdiskurse, auch im Hinblick auf das Verhältnis der Philologien (Germanistik, Romanistik, Mittellatinistik) zueinander. Erweitert werden diese Überlegungen insbesondere durch den Einbezug der namentlich auf Carolyn Dinshaw zurückgehenden Temporalitätsforschung unter Rückgriff auf die Queer Studies. Grundsätzliche Fragen, mit denen der Zirkel sich auseinandersetzte, lauteten: (Inwiefern) unterscheiden sich die Konzepte medievalism und Mittelalterrezeption?56 Und im Weiteren dann auch: Setzt der Begriff der Mittelalterrezeption den Epochenbegriff immer schon voraus? Es zeigte sich, dass medievalism, zum

55 Eef Overgaauw führte aus den von ihm betreuten Beständen an der Staatsbibliothek Handschriften vor, in denen im späten 15. Jahrhundert in einem Kartäuserkloster theologische Texte in Imitation spätkarolingischer / frühgotischer Schriftformen verfasst werden. Offen bleibt in einem solchen Fall häufig, inwiefern solchem Zeitsprung eine bewusste Entscheidung zugrunde liegt bzw. welche dies sein könnte. Versetzt sich der Kartäusermönch in eine frühere Zeit – eine frühere Epoche –, an die er wieder anknüpfen möchte, zu der er mit seinem Text Kontinuität stiften möchte? Dann könnte es darum gehen, dass Texte, Traktate, Theorien, Kunststile eventuell eine longue durée bestimmter Epochen behaupten, insbesondere der höfischen Kultur. Vgl. dazu auch Steinmann, Martin: Von der Übernahme fremder Schriften im 15. Jahrhundert, in: Renaissance- und Humanistenhandschriften, hg. v. Johanne Autenrieth, München 1988, S. 51–62; Gumbert, Johan Peter: Italienische Schrift – humanistische Schrift – Humanistenschrift, in: Renaissance- und Humanistenhandschriften, S. 63–70. 56 Instruktiv hier auch Diebold, William J.: Medievalism, in: Studies on Iconography 33 (2012), Special Issue Medieval Art History Today – Critical Terms, S. 247–256.

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Beispiel bei Richard Utz,57 Stephanie Trigg58 und Carolyn Dinshaw, in der angloamerikanischen Anglistik in einem spezifischen Zusammenhang mit Institutionenkritik steht. Die Bedingungen der Entwicklung und Institutionalisierung volkssprachlicher Philologien waren in Deutschland früher gegeben, woraus eine von Richard Utz kritisierte deutschsprachige Dominanz hervorging. Eine bei Utz dargestellte ‚Eroberung‘ der Anglistik durch andere Nationalphilologien lässt dabei außer Acht, inwiefern die deutsche Romanistik oder Niederlandistik auch Grundlagen dafür geschaffen haben, dass sich diese als Nationalphilologien verstehen können. Eine Gemeinsamkeit liegt darin, dass Diskursbedingungen der Einzelphilologien vielfach darüber verlaufen, dass das Latein des Mittelalters immer schon als mangelbehaftet diffamiert wird: als gegenüber dem klassischen Latein deformiert oder aber gegenüber der Volkssprache ‚verkrustet‘. Carolyn Dinshaw teilt mit dem Einstein-Zirkel eine explizite Bezugnahme auf ‚Asynchronität‘, doch steht diese Bezugnahme bei ihr unter anderen Vorzeichen. Ihr Buch und arrondierte andere Arbeiten, also das Projekt „How Soon is Now“, führen den Konstruktionscharakter von Zeitlichkeit sowie die in Gegenständen sedimentierte Multitemporalität vor Augen. Sie kritisiert nicht zuletzt ein Verständnis solcher Gegenstände als ‚Zeitkapseln‘, die gleichsam keinen gegenwärtigen Zugang mehr erfordern oder erlauben und zu denen keine Kontaktzonen bestehen. Hierin liegt eine gewisse Verbindung zu Achim Landwehrs kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff der historischen Quelle: Die Rede von der ‚Quelle‘ suggeriert seit Generationen, dass historische Erkenntnisse ohne jegliche mediale Formatierung scheinbar aus dem Gegenstand ‚sprudeln‘, und Landwehr plädiert dafür, diese Metaphorik aufzugeben in Richtung eines konstruktivistischen Verständnisses des historischen Gegenstands und einer akteurzentrierten Perspektive im Sinne Bruno Latours.59 Dinshaws Text affirmiert eine dezidiert affektive Haltung gegenüber mediä57 Utz, Richard: Academic Medievalism and Nationalism, in: The Cambridge Companion to Medievalism, hg. v. Louise D’Arcens, Cambridge 2016, S. 119–134. 58 Trigg, Stephanie: Medievalism and Theories of Temporality, in: The Cambridge Companion to Medievalism, hg. v. Louise D’Arcens, Cambridge 2016, S. 196–209. Triggs Aufsatz war auch aus dem Grund für die Fragestellungen des Einstein-Zirkels wichtig, als sie auf den medievalism des Mittelalters selbst hinweist, vgl. ebd., S. 202–204. Medievalism erscheint so als perennierender Rekurs auf bestimmte Kunststile, Dichtungen, Ereignisse des Mittelalters, nicht mehr als ‚Projekt‘ der Moderne. 59 Vgl. Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 56–78. Landwehrs Begriff der Chronoferenz hat im Gedanken der Überblendung von Zeitschichten Ähnlichkeit mit dem Begriff der Asynchronie, richtet sich jedoch speziell auf die Verschaltung von anwesenden und abwesenden Zeiten, auch der Zukunft. Vgl. ebd., S. 149–165. Vgl. zum Wandel von Zeitvorstellungen im Barockzeitalter auch Landwehr, Achim: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014.

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vistischen Gegenständen;60 insbesondere die deutsche Wissenschaftssozialisierung erzeugt auf Anhieb gegenüber solchen Reaktionen Abwehr. In den von Utz und anderen institutionengeschichtlich begründeten Rekonstruktionen der Entwicklung eines ‚amateurism‘ ging es schon um einen ähnlichen, letztlich präsentisch ausgerichteten Impetus. Das von Dinshaw reklamierte now hat als Referenzpunkt (neben der queer time) dabei immer auch den Affekt, das now gilt auch als Reflex auf das eigene Staunen vor dem Gegenstand. Diese Opposition zwischen affektbehaftetem Textzugang des Amateurs vs. ‚kalter‘ wissenschaftlicher Näherung erinnert an Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen“ zur Geschichtswissenschaft: Historiker könnten ihre Objekte nur sezieren, sie vernichten durch ihre Arbeit alles Lebendige der Geschichte.61 Überraschend anschlussfähig und für die Entwicklung eines analytischen Instrumentariums immer noch vielversprechend erschien hingegen Umberto Ecos Kollektion von Aufsätzen „Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen“, die vielfach auf Zeitungsartikel zurückgehen, die schon in den 70er und 80er Jahren entstanden, also durchaus an ein populäres Publikum gerichtet sind. Anregend war zum Beispiel seine Differenzierung von Rekonstruktion und Reparation: Im Gegensatz zur Antike repariere man [d]ie Überbleibsel des Mittelalters […] so gut es geht und benutzt sie dann weiter als Räume, als Gefäße, in die man etwas hineinfüllt, das nie grundverschieden von dem sein kann, was sie einst enthielten. Man repariert die Banken […] nicht, um sie andächtig zu betrachten, sondern um sie weiterhin zu benutzen.62

Solche Thesen führten zu einer Diskussion der Frage, ob auf diese Weise ein Gegensatz zwischen der klassischen Philologie (Rekonstruktion) und der Mediävistik (Reparation) darstellbar wird. Zu beachten ist allerdings, dass für Eco als einem Italiener das Mittelalter ‚ungebrochener‘ nahe erscheint als im deutschen Kontext, schon durch die noch immer präsente Architektur.63 Aus den 60 Pointiert in der Formulierung: „I want more life“, S. 39. 61 Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, Darmstadt 1997, S. 209–285, hier S. 252–253. Vgl. zur Konzeption des ‚Now‘: „I explore forms of desirous, embodied being that are out of sync with the ordinarily linear measurements of everyday life, that engage heterogeneous temporalities or that precipitate out of time altogether – forms of being that I shall argue are queer by virtue of their particular engagements with time. These forms of being show, in fact, that time itself is wondrous, marvellous, full of queer potential. The interrelations between desire, bodies, and the now create a broad framework for my concerns in this book.“ (S. 4). 62 Eco, Umberto: Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, übers. v. Burkhart Kroeber, München / Wien 1988, S. 111–126, hier S. 117. 63 Vgl. zur Nachwirkung der Kathedral-Architektur in Europa und darüber hinaus jedoch auch Freigang, Christian: Die Kathedrale lebt. Zur Aktualität der mittelalterlichen Literatur, in: Modell Mittelalter, hg. v. Victoria von Flemming, Köln 2010, S. 72–94.

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Jutta Eming / Johannes Traulsen

medievalism-Diskussionen ließen sich so insgesamt begrenzte methodische Konsequenzen ziehen.

IV.

Beiträge

Die Beiträge des Bandes sind nach drei Schwerpunkten geordnet. Die Texte im ersten Teil widmen sich künstlerischen Objekten und Texten, die unterschiedliche Zeitlichkeiten miteinander verbinden, und daraus resultierenden Überlagerungs- und Spannungsverhältnissen. Im zweiten Teil finden sich Beiträge, welche die Konstruktion eigener Zeitlichkeiten in narrativen Texten ins Auge fassen. Im dritten Teil des Bandes sind schließlich Texte versammelt, die Phänomene der Epochenbildung und der Rezeption historischer Gegenstände in den Blick nehmen.

a)

Verschränkte Zeitlichkeiten

Ausgehend vom dem durch Alexander Nagel und Christopher S. Wood geprägten Begriff der multiple temporalities analysiert Christian Freigang das Bildprogramm des Kölner Doms (14. Jh.) auf seine zeitlichen Aspekte hin. Er zeigt auf, dass sich an Kreuzungspunkten der unterschiedlichen Darstellungsebenen (Glasmalerei, Skulptur, Wandmalerei, Chorgestühl, Reliquienschrein) unterschiedliche Zeitlogiken (biblisch, heilsgeschichtlich, profangeschichtlich) überlagern, miteinander verbinden und so den gesamten Dom zu einem Raum komplexer Zeitlichkeiten werden lassen. Dabei strukturierten und markierten spezifische Zeitlogiken einerseits einzelne Teilräume des Kirchenraums und ließen sich andererseits auf heilslogische Zeitvorstellungen beziehen. James Simpson stellt sich in seinem Beitrag die Frage, ob Geoffrey Chaucer (14. Jh.) in die Zukunft sehen konnte: Am Beispiel des Romans Uncle Tom’s Cabin und im Rekurs auf das exegetische Prinzip des vierfachen Schriftsinns entfaltet er zunächst das Potential literarischer Texte, anagogisch, das heißt auf eine positive Zukunft hin, zu erzählen. Das gelte insbesondere für vormoderne Texte, deren Betrachtung als Zukunftsentwürfe aus moderner Perspektive aber gerade besonders schwierig sei. Von dieser Beobachtung ausgehend wendet sich Simpson Chaucer und dessen protestantischer Rezeption zu, die in seinen Erzählungen vielfach eine Prophezeiung des Puritanismus gesehen hätten. Diese Rezeption der Texte ließe sich auf Formen anagogischen Erzählens zurückführen, wie Simpson unter anderem am Beispiel des Pardoner’s Tale zeigt, dabei könne durchaus nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Zukunft entworfen werden.

Einleitung

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Beatrice Trînca widmet sich der Zeitlichkeit in mittelalterlichen lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters (15. Jh.). Sie bezieht sich auf Carolyn Dinshaws Konzept der Asynchronie als Gleichzeitigkeit chronologisch nicht übereinstimmender Zustände, um die in Darstellungen des Leib Christi realisierte Verbindung von vergegenwärtigter Passion und ewigem Jetzt der Auferstehung in den Texten zu beschreiben. Trînca zeigt am Beispiel der Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini und in Seuses Minnebüchlein, dass einerseits die zwei Naturen des Gottessohns nach einer unmöglichen Vermittlung von Überzeitlichkeit (der göttlichen Natur) und Endlichkeit (der menschlichen Natur) verlangen und sich andererseits die zukunftsorientierte Perspektive der Verheißung im Alten Testament mit der vergangenheitsorientierten Perspektive der Erfüllung im Neuen Testament in Passionsdarstellungen berühren. Eine Analyse von Zeitdimensionen und Epochenkonstrukten in der Frühen Neuzeit stellt die Auseinandersetzung Wolfram R. Kellers mit William Shakespeares King Lear dar. Shakespeares Werke ließen sich nicht in einfache Epochenschemata einfügen, sondern spielten vielmehr mit verschiedenen Epochenkonstrukten (multiple temporalities) und griffen dabei nicht nur auf antike, sondern auch auf mittelalterliche Konzepte zurück. Insbesondere die Figuren im King Lear, die mit Autorschaft assoziiert seien (Edmund, Edgar, Narr), bewiesen immer wieder, dass Epochen- und Zeitkonstrukte Produkte perfomativer Akte seien. Die Merlin-Prophezeiung des Narren, den Keller mit Shakespeares hybridem Konzept des ‚Dichter-Dramatikers‘ (poet-playwright) identifiziert, führe vielfache Zeitlogiken gegeneinander und weise damit Asynchronien und die Infragestellung von Epochenbildungen als wesentlichen Aspekt von Shakespeares Autorschaftsmodell des Dichter-Dramatikers aus.

b)

Asynchronie und Erzählung

Den Abschnitt zu narrativen Zeitkonstruktionen eröffnet ein Beitrag Bernd Rolings, der dem Motiv des Feenreichs in lateinischen historiographischen, theologischen und narrativen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewidmet ist. Während Feen vielfach der Sphäre des Dämonischen zugerechnet worden seien, ließen sich ab dem 12. Jahrhundert auch Beispiele für eine neutralere Position finden, wie Roling unter anderem am Beispiel von Walter Maps Nugae curialium und Gervasius’ von Tilbury Otia imperalia zeigt. Der Feenhügel erscheine dabei vielfach als liminaler Ort, welcher der raum-zeitlichen Ordnung entzogen ist. Von dieser Bestimmung des Feenhügels in der Sachliteratur ausgehend wendet sich Roling eher literarischen Darstellungen zu: In der Chanson de geste Huon de Bordeaux werde der Besuch des Feenhügels zur Auszeichnung

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der Heldenfigur, während sich in der Historia Meriadoci zeige, wie stark das Spiel mit der Zeit Teil der narrativen Inszenierung des Feenhügel ist. Dabei ließe sich der Feenhügel als Reich des spiritus mit derjenigen Sphäre identifizieren, in welcher die Dichtungstheoretiker des Mittelalters den Ursprung des Poetischen erkannt hätten, womit dem Feenhügel und seinen Inszenierungen auch eine poetologische Dimension zukomme. Lea Braun geht in ihrem Beitrag temporalen Verschränkungen bei der Darstellung von Sibyllen nach. In ihrer Funktion als Weissagerin sei die Sibyllenfigur insbesondere durch die Verschränkung von Zeitebenen und asynchrone Momente bestimmt. Braun zeichnet die Entwicklung des Sibyllenmotivs seit der Antike nach, um sich dann vor allem auf den mittelhochdeutschen Eneasroman Heinrichs von Veldeke und auf Herborts von Fritzlar Liet von Troye (beide zweite Hälfte des 12. Jh.) zu konzentrieren. Sie zeigt, dass die zeitlichen Marker der Figur (antiker Ursprung, prophetische Gabe, hohes Alter, Unsterblichkeit) in den Texten je unterschiedlich aktualisiert werden und auf diese Weise jeweils ein spezifisches Profil gewinnen: Während im Eneasromen vor allem die Vergangenheitsbezogenheit der Figur aktualisiert und ihr auf diese Weise ein paganer und unheimlicher Charakter verliehen werde, sei die Sibylle im Liet von Troye stärker mit einer christlich geprägten Zukunftsperspektive verbunden. Die Variabilität der asynchronen Temporalität der Sibyllenfigur erweist sich in den Texten, so Braun, als Möglichkeit, auch philosophische und theologische Fragen zu verhandeln. Ebenfalls aus germanistischer Perspektive widmet sich Jutta Eming einer genuin ästhetischen Zeitkonstruktion. Sie analysiert in ihrem Beitrag den Zusammenhang von Temporalität und Emotionalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210). Im Mittelpunkt steht dabei der in der Minnelyrik zentrale Begriff des senens, welcher als künstlerischer Entwurf von Zeitlichkeit zu verstehen sei, der eng mit dem Erzählen (der senemaere) zusammenhängt. Senen versehe das Begehren mit einer zeitlichen Signatur, indem es auf die Fähigkeit ziele, dieses sowohl zu ertragen als auch aufrecht zu erhalten. In Tristan sei nun das senen nicht allein ein mit der Minne assoziierter Zustand, sondern ein zentraler Bestandteil des Minnekonzepts, das insbesondere in der Minnegrotte – aber auch in anderen Teilen des Textes – zum Ausdruck komme. Über das Erzählen von senemaere berühmter Liebender werde die Vergangenheit in die Gegenwart geholt und auf die Zukunft hin perspektiviert. Auf diese Weise trage das senen dazu bei, die Minnegrotte als einen durch Überzeitlichkeit markierten mythischen Raum zu konstituieren. Eine höfische Erzählung in deutscher Sprache nimmt auch Maximilian Benz in den Blick, der sich mit Zeitordnungen im späthöfischen Roman Diu Crône Heinrichs von dem Türlin (1230) befasst. Seinen Ausführungen stellt Benz eine Bestimmung des ‚asynchronen Erzählens‘ im Mittelalter voran, das er als poe-

Einleitung

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tologisch fassbares Gestaltungselement der bloßen Anachronie gegenüberstellt. Er zeigt, dass im Verlaufe des Romans unterschiedliche intra- und extradiegetische Zeitordnungen in Konkurrenz zueinander treten. Am Beispiel der Aufzählung von Gaweins Taten führt Benz aus, dass diese temporale (Un-)Ordnung der Erzählung nicht einfach eine kontingente Anachronie darstelle, sondern vielmehr einem auf Asynchronie beruhendem memorialen Prinzip geschuldet sei, für das die Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht von zentraler Bedeutung sei. Gaweins Tatenkataloge ließen sich als ‚Erinnerungstafeln‘ verstehen, die unabhängig von ihrer Position in der Diegese immer schon einen memorialen Modus aufwiesen, der sich im Rückgriff auf Augustinus’ Zeitkonzept als ein poetisches Prinzip ausweisen lasse. Auch der Beitrag von Uta Störmer-Caysa befasst sich mit Zeitkonstruktionen in der deutschen Literatur des Mittelalters und schlägt dabei eine Brücke zur Auseinandersetzung mit Epochenbildungs- und Rezeptionsprozessen. Störmer-Caysa fragt nach auffälligen asynchronen Zeitkonstellationen im Engelhard Konrads von Würzburg (um 1273) und zwar, indem sie zunächst den Topos Fristsetzung im klassischen höfischen Roman als Verständigung von Figuren über eine positive Zukunft bestimmt und – strukturell gesprochen – als Synchronisation von Figurenzeiten. Im Engelhard würde nun dieses Strukturelement vielfach aufgegriffen und verkehrt. Nicht zuletzt durch die Festlegung der Hauptfiguren auf das Teilen einer negativen Zukunftserwartung (Dietrichs Krankheit und Engelhards Kindertötung) unterlaufe der Text die Zeitformen des Artus- und Gralsromans und schaffe eine Asynchronie von ritterlicher Figur und höfischer Welt, die nur durch eine weitere Asynchronie, nämlich die des Wunders, aufgehoben werden könne. Damit erwiesen sich die Zeitkonstruktionen im Engelhard als wesentliches Merkmal einer überschrittenen Epochengrenze zwischen höfischem und späthöfischem Roman.

c)

Epochen, Rezeptionen und Konstruktionen von Vorzeitigkeit

Die letzte Sektion des Bandes eröffnet ein Beitrag von Anita Traninger, der sich anhand der Renaissance mit temporalen Selbst- und Fremdzuschreibungen befasst. Traninger geht von dem Vorschlag Bruno Latours aus, Zeit nicht per se als Teil einer Linearität zu betrachten, sondern vielmehr eine kreis- oder spiralförmige Entwicklung anzunehmen, in der Vergangenes wieder aufgegriffen wird und der Zukunft sehr nahe zu sein vermag, während vermeintlich Simultanes weit auseinanderliegen kann. Die Ordnung in vergangenes Anderes und gegenwärtiges Eigenes entsteht, so zeigt Traninger für die Renaissance, erst durch diskursive Akte der Epochenbildung. Die Protagonisten des Humanismus lösten demnach keine bereits verfallene Kultur der Scholastik ab, sondern for-

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Jutta Eming / Johannes Traulsen

mulierten den scharfen Gegensatz ihrer Position gerade im Angesicht von deren fortbestehender Existenz und Blüte. Traninger plädiert dafür, ‚Epoche‘ eher als Reflexionskategorie zu behandeln und in Bezug zu ihrem historischen Rahmen zu setzen. Dieses Vorgehen sei dazu angetan, die Konstellationen sichtbar zu machen, die Epochenbildungen bedingen und zugleich historisch Sukzessives und Simultanes ins Verhältnis zu setzen. Der Frage nach der Konstruktion von Vergangenheit im Umgang mit historischen Objekten widmet sich Anna Deglers Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Torso Belvedere. Sie zeigt, wie die in der Frühen Neuzeit wiederaufgefundene antike Statue nicht nur selbst zum Sammlungsobjekt wird, sondern auch vielfach in unterschiedlichen Medien – Skulptur, Zeichnung, Malerei – aufgegriffen und variiert wird, wobei je unterschiedliche Zeitkonstellationen und Asynchronien entstehen. Der Torso werde eben nicht einfach als Objekt der Vergangenheit behandelt, sondern etwa durch Größenänderung und Einbindung in Bildwerke in die gegenwärtige Nähe gebracht. Zugleich rücke in der künstlerischen Auseinandersetzung mit antiken Skulpturen in der Frühen Neuzeit deren Fragmentstatus in den Mittelpunkt, da dieser entweder als Defizit gelte oder aber gerade ein wesentliches Merkmal bilde, worin auch ein je spezifischer Zeitentwurf zum Ausdruck komme. Der Umgang mit den Bruchstellen des Fragments in der Rezeption und im Prozess der Kanonisierung des Torso Belvedere erweise sich daher, so zeigt Degler an einer Reihe von Beispielen, immer wieder als Element, das Asynchronien evoziert und an welchem Zeitlichkeitsvorstellungen entwickelt werden. Wie bereits Uta Störmer-Caysa in ihrem Beitrag richtet auch Nadine Hufnagel den Blick auf die historische Rezeption der mittelhochdeutschen Klassik. Dabei setzt sie sich mit dem Begriff des ‚Wiedererzählens‘ auseinander und fragt danach, inwiefern spätere Rezeptionen ein ihnen eigenes Mittelalter allererst herstellen. Der Beitrag analysiert zwei sehr unterschiedliche Rezeptionen des Nibelungenlieds im Hinblick auf die ihnen inhärenten Zeit- und Epochenkonstruktionen, und zwar den Text der spätmittelalterlichen NibelungenliedHandschrift a (zweite Hälfte 15. Jh.) und den modernen Roman Der Nibelungen Untergang von Heinrich Steinfest. Dabei erweist sich, dass die Bearbeitungen je unterschiedliche Umgehensweisen mit der zeitlichen Signatur ihres Stoffs erkennen lassen: Der Stoff werde im Nibelungenlied a in Richtung historiographischer Logiken entwickelt und sozusagen ‚enthöfisiert‘, wobei zugleich die Heldendichtung als literarisches Phänomen hervortrete. Die moderne Bearbeitung hingegen weise den historischen Stoff im Erzählprozess als ‚Konstruktionsmaterial‘ aus. Steinfests Roman ließe sich deshalb als medievalism verstehen, doch sei der Konstruktionscharakter eben nicht auf die Moderne beschränkt, sondern bereits in der spätmittelalterlichen Handschrift auffindbar, was für eine stärkere Beachtung der Zeitentwürfe gerade auch in vormodernen Texten spreche.

Einleitung

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Der Beitrag von Bastian Schlüter befasst sich mit einer Epochenschwelle, die im Zusammenhang mit Zeitlogiken des Erzählens steht: Er deutet den Übergang zur Empfindsamkeit Mitte des 18. Jahrhunderts als ‚Abschied vom Asynchronen‘, da sich hier eine Tendenz zur Synchronisierung von Erzählung und Rezeption im Sinne eines ‚Mit-Erlebens‘ des Erzählten abzeichne. Schlüter verfolgt diese These an Salomon Gessners Idyllen als einem ersten Beispiel für empfindsames Erzählen und, da dasselbe nicht zuletzt seinen Niederschlag im Brief bzw. Briefroman als idealem Medium erlebnisbezogener Kommunikation finde, an Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim als dem ersten deutschsprachigen Briefroman. Gessners Idyllen schlössen zwar an einen bereits in der Antike existenten Topos an und rückten diesen durch Rekurse auf die Gegenwart in eine Realitätsnähe, die jedoch nicht als Durchgriff auf eine außerliterarische Wirklichkeit zu verstehen sei. Vielmehr werde hier ein Lektüremodus entwickelt und eingeübt, der stark auf Intimisierungs- und Adressierungsstrategien, mithin auf eine Synchronisierung von Erzählung und Rezipient*in, gründe und der auf den Briefroman als wichtige Form der empfindsamen Literatur vorausweise. In diesem wird dann, wie Schlüter am Beispiel von Sophie von La Roche zeigt, die ‚Temporal-Poetik‘ der Synchronisierung von Literatur und Leser*in weiterentwickelt, indem durch die Form des Briefes die Zeitlichkeit des Erlebens von diegetischer und realer Welt zusammengeführt werde. Der historischen Ordnung folgend schließt ein Beitrag von Johannes Traulsen ab, der sich mit der Rezeption vormoderner Legenden in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts befasst. Am Beispiel der Sieben Legenden Gottfried Kellers zeigt er, dass und wie die zeitliche Signatur insbesondere religiöser Ideen ein zentrales Moment solcher Rezeptionen darstellten. Legendarische Texte seien im 19. Jahrhundert vielfach in anachroner Weise reproduziert, dabei vermeintlich in ihrer historischen Form belassen, aber dennoch in ihren Logiken wesentlich umgestaltet worden. Kellers Legenden folgten hingegen dem umgekehrten Weg: Sie betonten immer wieder die Asynchronizität von Stoff und Erzählung und ironisierten die naive religiöse Rezeption der Texte, ohne dabei aber die schon den vormodernen Texten zugrundeliegende Auseinandersetzung mit Fragen des Lebens und der Lebensführung auszuschließen. In dieser ‚Poetik der Asynchronie‘ sieht Traulsen eine kritische Auseinandersetzung mit der historischen Erzählform der Legende und ihrer zeitgenössischen Rezeption.

Verschränkte Zeitlichkeiten

Christian Freigang

Asynchrone Zeitraster: Bildzyklen im Kölner Domchor

Dieser Essay soll untersuchen, wie in dreidimensionalen, architektonisch strukturierten Bilderräumen – dem Kölner Hochchor – Bilderzyklen der Heilsgeschichte in verschiedene Zeitsysteme differenziert, dabei kondensiert und gerichtet oder auch in einer infiniten Repetition aufgehoben werden können.1 Die in den Bildzyklen angelegten Zeitvektoren bzw. ihre Ausgangspunkte markieren liturgische Räume und setzen diese zugleich absichtsvoll von anderen, temporal unterschiedlich definierten Bereichen des Binnenchores, insbesondere im Obergaden und im Bereich um den Hochaltar, ab. Der Essay fügt sich zu Beobachtungen von Alexander Nagel und Christopher Wood zu multiple temporalities, also verschiedenen sich im Bild durchdringenden Zeitschichten.2 In meinem Essay sind aber nicht wie dort differierende historische Referenzebenen angesprochen; vielmehr geht es um die Überlagerung verschiedener zeitlicher Logiken in Bildzyklen, bei denen jeweils temporale Abgrenzung (Anfangs- und Endpunkte), Binnengliederung (Kontinuität und Rhythmus) sowie Zielgerichtetheit (zyklischer Verlauf, Wiederholung, Vektorialität) zu vergleichen sind und auf liturgische Zeitstrukturen (Offizium, Messfeier, Jahreszyklus) und solche der individuellen Rezeption von Bilderreihen zu beziehen sind. Insoweit gliedern sich die Überlegungen in das in diesem Buch verhandelte Oberthema der Asynchronien ein und führen zugleich Analysen komplex miteinander verschränkter Bildzyklen in dreidimensionalen Ordnungen fort, wie sie etwa von Wolfgang Kemp und jüngst von Hanna Christine Jacobs vorgelegt wurden.3 Außer dem 1 Außer den hier reproduzierten Abbildungen s. v. die fotographische Dokumentation auf https://www.koelner-dom.de/erleben/rundgang-durch-denkoelner-dom?tx_positionkey_posit ionfrontendkey%5Baction%5D=listkategories&tx_positionkey_positionfrontendkey%5Bcont roller%5D=Positionen&cHash=0b2b073496f4e19ef52ff9961d43b7f3 (letzter Zugriff 27.1.22). 2 Nagel, Alexander / Wood, Christopher S.: Anachronic Renaissance, New York 2010. 3 Kemp, Wolfgang: Sermo corporeus, die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987; Kemp, Wolfgang: Parallelismus als Formprinzip. Zum Bibelfenster der Dreikönigskapelle des Kölner Doms, in: Kölner Domblatt 56 (1991), S. 259–294; Jacobs, Hanna Christine: Raumerzählung. Narration und räumliche Disposition hagiographischer Bildzyklen des Tre- und Quatrocento, Berlin / München 2019.

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fallweisen Rekurs auf narratologische Begrifflichkeiten nach Gérard Genette4 beziehe ich die Termini „Chronologie / chronologisch“ durchgehend auf historische bzw. historiographische Zeitmessung und -beschreibung.

Abb. 1: Köln, Dom, Binnenchor nach Osten mit Chorgestühl und Chorschranken, © Dombauarchiv Köln

I. Gegenstand der Überlegungen bilden mehrere Bildzyklen im Binnenchor des Kölner Doms, die in horizontaler Staffelung aufeinander abfolgen und allesamt Anfang des 14. Jahrhunderts ausgeführt wurden, so dass sie zur Chorweihe 1322 oder kurz danach vollendet gewesen sein dürften. Unmittelbar über dem hölzernen Chorgestühl mit zahlreichen, nicht in eine logische Ordnung zu bringenden Szenerien und Bildmotiven erstreckt sich in den drei westlichen Jochen des Langchors an den Chorschrankeninnenseiten auf der Nord- und Südseite jeweils eine kleinformatige Reihe von Darstellungen stehender Herrscher. (Abb. 1, 8, 10) Im Süden ist es die Abfolge der Kaiser, schon mit Julius Cäsar 4 Genette, Gérard: Die Erzählung, München ³2010.

Asynchrone Zeitraster: Bildzyklen im Kölner Domchor

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Abb. 2: Köln, Dom, Binnenchor nach Osten mit Hochaltar und Apostelzyklus, © Dombauarchiv Köln

einsetzend, im Norden der Kölner Bischöfe bzw. Erzbischöfe seit Maternus, in beiden Fällen von Ost nach West chronologisch geordnet. Unmittelbar darüber erhebt sich ein großformatiger Bildzyklus, der in gleicher Erzählrichtung im Süden die Viten Mariae, der Heiligen Drei Könige und anderer Kölner Heiliger abbildet, im Norden die Viten von Petrus, Konstantin und Sylvester schildert. Östlich davon steht im Chorpolygon der Hauptaltar, der auf jeder Seite eine Szene aus dem Marienleben sowie viele Heilige zeigt. In der nächsten Höhenschicht folgen, jeweils als elegante Standskulpturen unter einem Baldachin an den Pfeilern angebracht, Apostel, die in variationsreicher Gestik auf die Figuren von Christus und der gekrönten Gottesmutter an dem Pfeilerpaar im Chorscheitel ausgerichtet sind. (Abb. 2) Zugehörig sind die im 19. Jahrhundert erneuerten großformatigen Wandmalereien inzensierender Engel in den Hocharkadenzwickeln. Dieser Zyklus bleibt im Folgenden, da er keine Narration verbildlicht, außerhalb der Diskussion. In den Glasfenstern des Obergadens wird das Thema der Herrscherreihe in monumentaler Form wieder aufgenommen.5 5 Gute Abbildungen auf: https://www.koelner-dom.de/fenster/koenigsfenster-im-obergaden-de s-chores (letzter Zugriff am 27.1.22). Rode, Herbert: Die mittelalterlichen Glasmalereien des

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Abb. 3: Köln, Dom, Obergadenverglasung mit Anbetung der Könige im Scheitelfenster und Herrscherdarstellungen © Dombauarchiv Köln

Über sämtliche Fenster des Langchors und des Polygons reiht sich eine Folge von achtundvierzig gekrönten Herrschern, in deren Mitte, nämlich im Achsfenster im Osten, die Anbetung Jesu durch die drei Magier erscheint. (Abb. 3) Über diesen Scheiben erheben sich zwei vertikale Bahnen, die Brustbilder von Pro-

Kölner Domes, Berlin 1974 (= Corpus vitrearum medii aevi, Deutschland IV, 1); Brinkmann, Ulrike / Lauer, Rolf: Die mittelalterlichen Glasfenster des Kölner Domchores, in: Himmelslicht. Europäische Glasmalerei im Jahrhundert des Kölner Dombaus (1248–1349). Ausstellungskatalog. Köln 1998, hg. v. Hiltrud Westermann-Angerhausen, Köln 1998, S. 23– 33; Oidtmann, Heinrich: Die rheinischen Glasmalereien vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. 2 Bde., Düsseldorf 1912, Bd. I, S. 171–188; Oidtmann, Heinrich: Die Glasgemälde des Obergadens im Hochchor des Kölner Doms, in: Zeitschrift für christliche Kunst 22 (1909), Sp. 99–110 u. 131–138; vgl. a. Hoster, Joseph: Zur Symbolik des Kölner Hochchores, in: Kölner Domblatt 4–5 (1950), S. 65–81.

Asynchrone Zeitraster: Bildzyklen im Kölner Domchor

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Abb. 4: Köln, Dom, Obergaden (nördliches Übergangsjoch zum Polygon), © Dombauarchiv Köln

pheten und Königen zeigen und als priesterliche und königliche Vorfahren Christi zu deuten sind. Das Thema der temporalen Strukturen einleitend sei zunächst auf diese lange waagerechte Herrscherreihe näher eingegangen. (Abb. 3, 4) Ihre ikonographische Benennung ist unklar: Die inschriftlich nicht bezeichneten und einander sehr ähnlichen Figuren könnten sich auf die jüdischen Könige als Vorläufer des Königtums Christi beziehen,6 allerdings bedeutete dies eine eigenartige Variation der Thematik des Achsfensters. Auch eine Kombination aus vierundzwanzig jüdischen Königen und den vierundzwanzig Ältesten der Apokalypse wurde vorgeschlagen, doch weisen die Attribute (Reichsapfel, Szepter und Krone) auf eine Identifizierung mit deutschen Kaisern und Königen hin.7 Dazu tendiert die jüngere Forschung, unter anderem, weil sich dies mit der Politik des Kölner Erzbischofs verbinden lässt, seine Rolle als Koronator bei der Inthronisation des römisch-deutschen Kaisers in Aachen als den eigentlich legitimierenden Akt der Königserhebung herauszustellen, die solchermaßen einer päpstlichen Appro6 Rode: Glasmalereien (s. Anm. 5), S. 102–103; Hoster: Symbolik (s. Anm. 5) interpretiert den Obergadenzyklus als Darstellung des Jüngsten Gerichts. 7 Oidtmann: Glasgemälde (s. Anm. 5).

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bation nicht mehr bedurfte.8 Der um 1200 angefertigte Dreikönigenschrein verbildlicht dieses Selbstverständnis auf seiner Stirnseite, wo sich Otto IV. in die drei biblischen Herrscher einreiht, um Christus als rex regum seine unmittelbare Reverenz zu erweisen.9 Der Obergadenzyklus verstünde sich in diesem Sinne als eine verallgemeinernde Multiplikation der Anbetungsszenerie mit Otto IV. am Dreikönigsschrein. Das sollte umso deutlicher sinnfällig werden, als nur wenige Jahre nach der Einbringung der Fenster der Schrein unter Abänderung seines ursprünglich geplanten Standortes in der Vierung in der zentralen Radialkapelle, also in einer Achse unter dem mittleren Obergadenfenster, aufgestellt wurde, wobei die Frontseite des Schreins wie das Achsfenster nach Westen, in Richtung des Hochchores zeigte.10 Gänzlich unterschiedlich sind allerdings die chronologischen Settings beider Bildzyklen: Die Szene am Schrein verbindet anachron die biblische Anbetungsszene mit einem bestimmten, historisch genau fixierten politischen Akt, nämlich Epiphanias im Jahre 1200, als Otto drei Goldkronen zugunsten des Schreins stiftete. Im Gegensatz dazu bleiben die Herrschergestalten im Obergaden eigenartig anonym und ihre chronologische Einordnung unmöglich. Zwar alterniert monoton ein bärtiger mit einem bartlosen, mithin ein älterer mit einem jüngeren Herrscher, aber ansonsten entziehen sich die Abbilder einer zeitlich-historischen Einordnung. Diese Unbestimmtheit unterscheidet sich von anderen Zyklen weltlicher Herrscher, etwa in Form der skulptierten Königsgalerien in Paris (Notre-Dame und königliche Stadtresidenz), Reims, Chartres, Amiens und Lincoln oder der Glasfensterzyklen in Reims und Straßburg sowie der Herrscherdarstellungen an den Langseiten des Aachener Karlsschreins, auf der Scheide des Reichsschwertes sowie in mehreren illustrierten Herrscherchroniken. Hier sind die Darstellungen 8 Kurmann, Peter: Heinrich II. von Virneburg, der Koronator Friedrichs des Schönen als Donator des Dreikönigsfensters im Hochchor des Kölner Doms, in: Die Königserhebung Friedrichs des Schönen im Jahr 1314. Krönung, Krieg und Kompromiss, hg. v. Matthias Becher / Harald Wolter von dem Knesebeck, Köln / Weimar / Wien 2017, S. 209–228. 9 https://www.koelner-dom.de/bedeutendewerke/dreikoenigenschrein-vorderseite-um-12001 (letzter Zugriff 27.1.22). Stehkämper, Hugo: Könige und Heilige Drei Könige, in: Die Heiligen Drei Könige – Darstellung und Verehrung. Ausstellungskatalog Köln 1982–1983, Köln 1982, S. 37–50; Lauer, Rolf: Der Schrein der Heiligen Drei Könige, Köln 2006 (Meisterwerke des Kölner Doms 6); Ciresi, Lisa Victoria: A Liturgical Study of the Shrine of the Three Kings in Cologne, in: Objects, Images, and the Word. Art in the Service of Liturgy, hg. v. Colum Hourihane, Princeton 2003 (Index of Christian Art, Occasional Papers VI), S. 202– 230; Petersohn, Jürgen: Kaisertum und Kultakt in der Stauferzeit, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen XLII), S. 101–146; Torsy, Jakob: Achthundert Jahre Dreikönigenverehrung in Köln, in: Kölner Domblatt 23–24 (1964), S. 15–162, v. a. S. 26–35. 10 Lauer, Rudolf: Bildprogramme des Kölner Domchores vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, in: Dombau und Theologie im mittelalterlichen Köln, hg. v. Ludwig Honnefelder / Norbert Trippen / Arnold Wolff, Köln 1998 (Studien zum Kölner Dom 6), S. 185–232.

Asynchrone Zeitraster: Bildzyklen im Kölner Domchor

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Abb. 5: Straßburg, Münster, Nordseitenschiff des Langhauses (2. Joch) mit Herrscherdarstellungen, © Velvet / Wikicommons CC BY-SA 3.0

entweder variationsreich individualisiert oder durch Inschriften identifizierbar und damit im Sinne einer Amtsgenealogie chronologisch geordnet.11 Im Zusammenhang mit temporalen Kategorien ist hier insbesondere die Königsreihe in den Glasfenstern im Nordseitenschiff des Straßburger Münsterlanghauses

11 Kurmann: Heinrich II. von Virneburg (s. Anm. 8); Meier, Claudia Annette: Chronicon pictum: von den Anfängen der Chronikenillustration zu den narrativen Bilderzyklen in den Weltchroniken des hohen Mittelalters, Mainz 2005; Nilgen, Ursula: Amtsgenealogie und Amtsheiligkeit. Königs- und Bischofsreihen in der Kunstpropaganda des Mittelalters, in: Studien zur mittelalterlichen Kunst 800–1250. Festschrift für Florentine Mütherich zum 70. Geburtstag, hg. v. Katharina Bierbrauer / Peter K. Klein / Willibald Sauerländer, München 1985, S. 217–234. In Paris gab es im Portalbereich eine Liste der in der Galerie abgebildeten Könige, in Reims war zumindest eine Königsdarstellung, Karl der Große, als Ausgangspunkt des Zyklus klar identifizierbar.

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(1170/80 bzw. 1250/70) zu erläutern12 (Abb. 5). Trotz zahlreicher späterer Veränderungen ist offensichtlich, dass eine chronologische Amtsgenealogie dargestellt wird: Gemäß dem ursprünglichen Konzept waren achtundzwanzig Herrscher wohl in chronologischer Abfolge von West nach Ost angeordnet; teilweise sind genealogische Beziehungen gar in den Inschriften angegeben. Die Bilder zeigen Amtsinhaber, deren – freilich platzbedingt nicht lückenlose – Sukzession auf einen bestimmten Kaiser in der östlichsten Lanzette zulief. Auch wenn dieses Fenster noch im 13. Jahrhundert zugesetzt wurde, kann man annehmen, dass es sich um Friedrich II., also den zu Beginn des Langhausbaus und der Fenstereinbringung regierenden Kaiser handelte. Mit seiner Positionierung am Ostabschluss des Langhauses, gegenüber der Nordwestecke des Lettners, kam sein Bildnis dem Chor als dem liturgischen Zentrum am nächsten, während sich die historisch älteren Herrscher sukzessive nach Westen staffelten.13 Der Herrscherzyklus übernimmt damit – das ist prinzipiell communis opinio – bestimmte Verfahren der mittelalterlichen Weltchronistik, insbesondere die durch AnnaDorothee von den Brincken als series temporum definierten, oft katalogartig listenden Herrscherabfolgen. Gegliedert nach generationes oder den Regierungsperioden münden diese in die Jetztzeit und sind häufig in parallel aufgeführten Reihen von Königen / Kaisern bzw. Päpsten angeordnet.14 Die Chronistik 12 Beyer, Victor / Wild-Block, Christiane / Zschokke, Fridtjof: Les vitraux de la cathédrale de Strassbourg. Paris 1986 (Corpus vitrearum, France Vol. IX-1), S. 141–200, v. a. S. 148–150. 13 Beyer / Wild-Block / Zschokke: vitraux (s. Anm. 12), S. 149; nicht mehr eingearbeitet werden konnte die kritische, für eine ekklesiologische Deutung eintretend Analyse des diffizilen Originalbestandes: Kurmann-Schwarz, Brigitte / Kurmann, Peter: Heilige Kaiser und Könige im Straßburger Münster: staufische Bildpropaganda oder lebendige Steine der Kirche?, in: Federico II e l’architettura sacra tra regno e impero, hg. v. Francesco Gangemi / Tanja Michalsky (Studi della bibliotheca Hertziana, 14), Mailand 2021, S. 95–114. 14 Vgl. mehrere parallel geführte Papst- und Kaiserlisten in Monumenta Germaniae historica, Scriptores, Bd. XXIV, hg. v. Oswald Holder-Egger, Hannover 1879, S. 33–39 und S. 81–149, v. a. die Flores temporum, in: ebd., S. 226–250. https://www.dmgh.de/mgh_ss_24/index.htm #page/226/mode/1up (letzter Zugriff am 12.1.22) s. dazu https://www.geschichtsquellen.de /werk/2272? (letzter Zugriff am 13.1.22). Grundlegend zur Universalchronistik von den Brincken, Anna-Dorothee: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957; s. a. Mensch und Weltgeschichte. Zur Geschichte der Universalgeschichtsschreibung (7. Forschungsgespräch des Int. Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften, Salzburg), hg. v. Alexander Randa, Salzburg / München 1969, hier insb. von den Brincken, Anna-Dorothee: Die lateinische Weltchronistik, S. 43– 77; Krüger, Karl Heinrich: Die Universalchroniken (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, fasc. 16), Turnhout 1976; zentral v. a. die Universalchronik des Martin von Troppau (1268), vgl. von den Brincken, Anna-Dorothee: Martin von Troppau, Chronicon Pontificum et Imperatorum (http://www.mgh.de/ext/epub/mt/index.htm, letzter Zugriff am 27.8.21). Zu den Flores temporum: von den Brincken, Anna-Dorothee: Anniversaristische und chronikalische Geschichtsschreibung in den „Flores Temporum“ (um 1292), in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze,

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wie auch der Straßburger Herrscherzyklus schreiten somit – keineswegs ungewöhnlich – parataktisch vor, weil sie die jeweiligen, realiter unterschiedlich langen Regierungsperioden als je gleiche chronologische Untereinheiten verstehen, die in sich kaum zeitliche Entwicklung, eher eine Auflistung politischer Ereignisse aufweisen.15 Gleich den Gliedern einer Kette entsteht aus der Abfolge der Regierungsperioden eine unterbrechungslose zeitliche Abfolge. Schon Isidor von Sevilla hat, diesem Befund entsprechend, den Begriff chronica als temporum series umschrieben und ins Bild von ‚Girlanden ineinandergreifender Blumen‘ gefasst.16 So ähnlich funktioniert auch der Straßburger Zyklus, der nach vertrauter Manier einander vergleichbare, ‚statische‘ Standfiguren zeigt, die in hieratisierende Rahmen eingestellt sind. Erst die sequenzielle Anordnung der historisch identifizierbaren Herrscherfiguren im Raum des Seitenschiffs indiziert eine klare Gerichtetheit. Diese ist nun auch im Abschreiten, etwa im Rahmen einer Prozession, somatisch, räumlich und zeitlich erfahrbar. Zwei asynchrone Vektoren konvergieren auf dieser Ebene: Das Abschreiten mündet in der liturgisch evozierten Präsenz Christi im Chorbereich, und dieses Ziel stimmt prinzipiell mit demjenigen der historischen Sukzession der Herrscher überein, die chronologisch in die Jetztzeit eines langen Zeitstrahls sowie räumlich in die unmittelbare Nähe Christi mündet. Analog dazu sind im Triforium darüber die Glasbilder der Vorfahren Christi angeordnet, die nach Lukas 3,23–38 in einer Generationenabfolge von Gottvater und Adam bis zu Jesus verliefen und entsprechend in Straßburg von West nach Ost, parallel zum Herrscherzyklus, angeordnet waren.17 Da die christlichen Herrscher im Erdgeschoss die heilsgeschichtliche Epoche sub gratia vertreten, entsteht zusammen mit dem Zyklus der Vorfahren Christi darüber eine typologische Konkordanz zwischen Altem und Neuem Bund. Doch diese beruht nicht wie häufig auf bildmotivischen Übereinstimmungen, sondern auf der asynchronen Parallelisierung der beiden Zeitvektoren bis zur Menschwerdung Jesu bzw. der Zeit des Neuen Bundes, die mit der Parusie Christi im Jüngsten Gericht endet. Das im Triforienzyklus thematisierte historische Erscheinen Christi als genealogischem Endpunkt der Ära sub Sigmaringen 1987 (Vorträgen und Forschungen 31), S. 195–214 (https://journals.ub.uni-hei delberg.de/index.php/vuf/article/view/16151/10005, zuletzt konsultiert 26.07.21); Mierau, Heike Johanna / Sander-Berke, Antje / Studt, Birgit: Studien zur Überlieferung der Flores temporum, Hannover 1996 (MGH, Studien und Texte 14). 15 Müller, Markus: Die spätmittelalterliche Bistumsgeschichtsschreibung. Überlieferung und Entwicklung, Köln u. a. 1998 (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 44), S. 3–4. 16 Isidori Hispalensis Etymologiarum sive Originum Libri XX , hg. v. W. M. Lindsay, Oxford 1911, I, 41, 2 (https://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Isidore/1*.html#41, letzter Zugriff am 20.12.21) und V, 28 (https://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Isidore/5 *.html#28, letzter Zugriff am 20.12.21); von den Brincken: Geschichtsschreibung (s. Anm. 14), S. 196. 17 Beyer / Wild-Block / Zschokke: vitraux (s. Anm. 12), S. 257–283.

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lege entspricht der liturgisch-eucharistischen Präsenz Christi als dem Zielpunkt des Herrscherzyklus in der Erdgeschosszone.18

II. Der Zyklus im Kölner Obergaden scheint zwar mit seinen in architektonisierten Rahmen eingestellten Herrschern der Straßburger Bildnisfolge formal zu entsprechen, impliziert insoweit ebenfalls eine chronologische Ratio, die allerdings anders gerichtet wäre: Als Abbilder der deutschen Könige leiten sie sich einer nach dem anderen von den Heiligen Drei Königen ab, die sich als erste weltliche Herrscher direkt Christus unterstellt hatten. Die Vorschichte wird in den Propheten- und Königsbildern des Achsfensters vermittelt, über die zentrale Episode der Epiphanie verströmt sich sodann die Virtus des Erlösers in die historische Zeit der irdischen Herrscher. Die implizite Leserichtung wäre dann von Ost nach West.19 – Allerdings sind im Kölner Obergaden keine chronologischen oder historischen Indizien für eine solche Sukzession zu erkennen. Die einzelnen Königsdarstellungen erscheinen vielmehr einheitlich als gleichsam farbig gefasste Statuen, die auf Sockeln mit (auf die Stifter der Scheiben zu beziehenden) Wappen stehen. (Abb. 4) Umgeben und überfangen sind die Scheinstandbilder von hohen, aufwendig filigranen Tabernakeln. Damit ist eine bemerkenswerte räumliche Entrückung verbunden, denn wie den Scheinstatuen eine gewisse illusionistische Plastizität eignet, so weisen die Sockel und Architekturrahmen klare perspektivische Verkürzungen auf. Gemeint sind also Nischen mit einer gewissen Räumlichkeit, in die Statuen auf polygonalen Sockeln eingestellt sind. Der enge Bezug zwischen Glasbildern und Architektur manifestiert sich auch in den abgebildeten Baldachinen. In ihrem Formenbestand wie auch ihrer perfekten Einpassung zwischen die Fensterstäbe und die Solbank sind sie vollständig mit der umgebenden steinernen Architektur kommensurabel. Diese setzt sich gleichsam im Medium der Glasmalerei fort, transzendiert dabei deren materi18 Die Langhaussüdseite wies vor ihren spätmittelalterlichen Veränderungen vermutungsweise einen Apostel- und Prophetenzyklus auf, was prinzipiell in die Thematik der Ankunft Christi einzubinden, aber mangels weiterer Informationen nicht argumentativ belastbar ist. 19 Prinzipiell denkbar wäre auch eine Verbindung beider Varianten, nämlich jeweils eine Seite des Zyklus als Sphäre sub lege, die andere als die Periode sub gratia zu interpretieren, was sich aber bildrhetorisch nicht belegen lässt. Dass aber auch solche Lesarten in Drehrichtung prinzipiell nicht auszuschließen ist, macht der Hinweis auf die Glasfenster der Sainte-Chapelle in Paris deutlich, in der ein vollständiger Heilszyklus gegeben wird, der von der Genesis bis in die Gegenwart führt, welcher von der Nordwestseite der Kapelle über die Ostpolygonverglasung bis wieder zurück auf die Südostseite reicht (Kemp: Parallelismus (s. Anm. 3), S. 268–277). Als Scharnier fungiert der Passionszyklus, der bezeichnenderweise im Achsfenster der Kapelle eingebracht ist.

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ellen Status, indem das filigrane Steinwerk nunmehr lichtdurchflutete starkfarbige Helligkeit annimmt und dabei eine illusionistische Räumlichkeit zu öffnen vermag. Der bildräumliche Ort, den die Herrscherdarstellungen in diesem virtuellen Mauerrelief einnehmen, ist präzise zu bestimmen. Denn diese überschneiden teilweise die seitlichen Blendarkaden, scheinen also davor zu stehen. Auch die Sockel und Baldachinbekrönungen scheinen mit ihrer vorderen Hälfte gegenüber den rahmenden seitlichen Blendarkaden nach vorne herauszutreten, während sich die hintere Hälfte als Nische nach ‚außen‘ einzutiefen scheint. Die Figuren stehen mithin in einer um sie illusionierten, eng an die Architektur rückgebundenen Räumlichkeit, aus der sie leicht nach vorne, ins Chorinnere hervorzutreten scheinen. Mit diesem Bildstatus als Statuen im Bildmedium der Glasmalerei erinnern die Figuren formal an die plastischen ‚Denkmäler‘ der französischen Königsgalerien, erhalten aber vor allem eine ambivalente Zeitlichkeit: Es handelt sich um statuenhafte Repräsentationen, die keineswegs vorgeben können, als direkte ‚Portraits‘ verstanden zu werden. Die im Medium der Glasmalerei imaginierten Statuen von Königen – eine mehrfach gebrochene Struktur der Repräsentation – erscheinen in ihrer Gewandung einerseits ganz offenbar gegenwärtig, verweisen aber auf historische Referenten, die anonym und insoweit zeitlich unbestimmbar bleiben. Die einzelnen Königsdarstellungen gleichen sich bis in Details, ja, die Glasmaler haben ganz offenbar mit immer denselben Schablonen für die Köpfe, Armund Handhaltungen, Attribute usw. gearbeitet. Geringe Variationen sind in Fußstellungen und Armhaltungen auszumachen, ohne dass sich das inhaltlich differenziert deuten ließe. Umso mehr fällt auf, dass regelmäßig ein sog. junger, bartloser, mit einem bärtigen, sog. älteren König alterniert. Diese beiden Gesichtstypen gleichen denjenigen der beiden stehenden Magier aus der Anbetungsgruppe im Achsfenster, denen die Herrscher bildkonzeptuell buchstäblich getreu ‚nachfolgen‘. Die beiden Königstypen sind eindeutig als Pendants aufgefasst. Jeweils paarweise in einer Doppellanzette angeordnet, wenden sie sich leicht einander zu, was umgekehrt dazu führt, dass sich benachbarte Paare voneinander abwenden. Analog zu der gängigen Deutung der Drei Könige als Vertreter verschiedener Altersstufen verbildlichen die Paarungen Alt-Jung inhaltlich Generationenzeiten, Vater-Sohn- oder Vorgänger-Nachfolger-Beziehungen. Dabei steht der jüngere in beinahe allen Lanzetten heraldisch rechts, womit eine zeremonielle Favorisierung und insoweit eine legitime Amtsgenealogie indiziert ist. Auch vergleichbare Herrscherzyklen stellen fallweise eine derartige Generationenabfolge heraus, indem in Beischriften Vater-Sohn-Verhältnisse benannt sind oder aber über die Barttracht jüngere von älteren Herrschern differenziert werden.20 20 Vgl. außer dem oben besprochenen Straßburger Zyklus die Miniaturen der Anonymen

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Abb. 6: Köln, Dom, Ornamentverglasung im Obergadenfenster (4. Joch, Nordseite), © Dombauarchiv Köln

Diese Sukzession von Jung auf Alt wird im Kölner Obergaden vierundzwanzig Mal wiederholt. Somit ergibt sich ein beständig erneutes, aber nicht sukzessives Ansetzen dieses kurzen, aber jeweils identischen Zeitimpulses. Es handelt sich also nicht einfach um eine a-temporale Gruppierung von Herrschern, sondern um eine nicht-sequentielle Multiplikation von chronologischen Modulen, die aber gestalterisch engstens auf die Anbetungsgruppe bezogen ist. Die Unterdrückung jeglicher Sukzession zwischen den Bildpaaren geschieht auch durch die architektonische und ornamentale Rahmung der Herrscherdarstellung. Die hierarchisierenden Paarbildungen in den Fensterlanzetten werden zwar einesteils von den Hintergrundfarben und Ornamentmustern der Scheiben unterstützt; so geht das Alternieren von Jung und Alt mit abwechselnden Farben der Hintergründe der Figuren und Baldachinbekrönungen einher. Anderenteils weist jedes Fenster mit seinen (im Langchor) je vier Königsdarstellungen eine eigene, homogene, wiederum eng auf die Architektur bezogene Ornamentierung in maßwerkähnlichen Mustern in den Scheiben oberhalb der figürlichen Bildfelder wie auch in den Fenstern des Triforiums darunter auf. (Abb. 6) In der Großstruktur sind die Fensterscheiben nicht gemäß einer sequentiellen Ratio des Nebeneinanders bzw. der Abfolge angeordnet. Vielmehr entsprechen sich die Kaiserchronik, Cambridge, Corpus Christi College, fol. 373 (1112–1114), passim und die um 1240 entstandene Chronica Regia Coloniensis in Brüssel (KBR ms. 467).

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Abb. 7: Köln, Dom, Schema der Farbmuster in den Obergadenfenstern, nach Rode, Die mittelalterlichen Glasmalereien des Kölner Domes 1974, S. 107

Ornamentteppiche gegenüberliegender Fenster weitgehend, womit brückenartige, durch den Raum des Hochchors reichende Bezugnahmen entstehen. (Abb. 7) Sehr sinnfällig wird hier also der Raum des Hochchormittelschiffs umhegt, der keineswegs als gleichsam gefaltete zweidimensionale Bilderfolge aufzufassen ist. Die in der Königsreihe wirksam werdenden Zeitmodule, die iterativ, nicht sukzessiv orientiert sind, erscheinen demnach eingebettet in eine

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ornamentale bzw. architektonische Großstruktur, die nachdrücklich einen einheitlichen Innenraum konstituiert, dessen Grenze sich materialiter klar konkretisiert, nämlich in derjenigen Ebene, in der die Herrscherdarstellungen illusionistisch eingefügt sind. Hier wird Zeitlichkeit aber keineswegs aufgehoben, im Gegenteil ist sie potentiell in den Herrscherpaaren durchaus angelegt, aber anstatt ein chronologisches Hintereinander zu evozieren, handelt es sich um eine gleichsam pulsierende Belebung, die sich in der Anbetung der Magier beständig, gleichsam ewig ereignet. Die realzeitliche Belebung wird vor allem auch in der je nach Tageszeit und Lichteinfall wechselnden Akzentuierung einzelner Fensterzonen deutlich: Bei Sonnenaufgang erhält zunächst die – inhaltlich zentrale – Anbetung im Ostfenster das meiste Licht, im weiteren Verlauf erstrahlen dann vor allem die Fenster der Südseite. Liturgisch lassen sich für diese rhythmisch pulsierende, keinen Endpunkt indizierende Zeitlichkeit mühelos mehrere Verbindungen erstellen: Die Doxologie, also das liturgische Rühmen der Herrlichkeit Gottes, enthält immer die Beschwörung der zeitüberspannenden Dauer dieser Herrlichkeit. So schließt die Handwaschung bei der Gabendarbringung – die die Heiligen Könige vorbildhaft vertreten! – mit mehrfach verschränkten Temporaliten: am Anfang (Vergangenheit), jetzt und immer (präsentischer Moment und Dauer) und in der multiplizierten Zukunft: Gloria Patri, et Filio, + et Spiritui Sancto. Sicut erat in principio, et nunc et semper, + et in saecula saeculorum. Amen. Zugleich lässt sich die Vervielfachung der verkürzten Herrscherdynastien mit der Liturgie zum Hauptfest der Heiligen Drei Könige verbinden, bei der die Gesamtheit der weltlichen Herrscher redundant metonymisch aufgerufen wird. Das im Obergaden biblisch zentrale Hauptthema der Epiphanie (6. Januar), in Köln als besonders aufwändiges Duplex-Hochfest mit neun Lesungen begangen,21 markiert die durch die Magier vollzogene und durch zahlreiche Herrscher aus allen Ländern bestätigte Anerkennung als König der Könige.22 Ecce advenit dominator dominus et regnum in manu eius et potestas et imperium beginnt der Introitus des Hochamtes.23 Der Vers Isaias 60,3 aus der Festtagslesung Et ambulabunt gentes in lumine tuo, et reges in splendore ortus tui könnte nachgerade die

21 Amberg, Christoph: Ceremoniale Coloniense. Die Feier des Gottesdienstes durch das Stiftskapitel an der Hohen Domkirche zu Köln bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit, Siegburg 1982 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 17), S. 28, 40, 82–87. 22 Nilgen: Amtsgenealogie (s. Anm. 11). 23 Auch wenn die Messteile allgemeine Gültigkeit haben, sei hier auswahlweise auf zeitgenössische Belegstellen in Kölner liturgischen Handschriften verwiesen: Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 226 (Graduale et Antiphonarium officii, 1353–1358), f. 32r (https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/titleinfo/304672, letzter Zugriff am 14.1.22).

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Textvorlage für den Bilderzyklus abgeben.24 Omnes de Saba venient, aurum et thus deferentes, et laudem Domino annuntiantes wird anschließend im Graduale und an diesem Tag mehrfach während des Offiziums gesungen.25 Hier ist auch wie im Festtagsoffertorium gemäß Psalm 71 auf die Könige aus Tharsis, Arabien und Saba Bezug genommen: Reges Tharsis et insulae munera offerent reges Arabum et Saba dona adducent Et adorabunt eum omnes reges terrae, omnes gentes servient ei.26 Solchermaßen wird der Beginn der Zeit sub gratia nachdrücklich zeremoniell herausgehoben und im Kölner Kontext mit dem Sacrum Imperium verbunden: Die Christus huldigenden Herrscher der Welt treten als denkmalhaft gestaltete deutsche Könige auf und unterstellen sich ostentativ und auf immer direkt Christus. Mehrfach schlug sich das rituell in ‚Staatsakten‘ mit königlicher Beteiligung an Epiphanie nieder: Otto IV. stiftete an diesem Tag im Jahr 1200 die Kronen der Heiligen Drei Könige, 1249 überreichte Wilhelm von Holland am Fest der Erscheinung Weihegeschenke zugunsten der Magier, zwei Jahre später feierte er erneut das Dreikönigsfest in Köln, immer gleichsam in Präsenz der liturgisch evozierten und bildlich vermittelten Herrscher der Welt.27

III. Man erkennt, dass sich der Obergadenzyklus hinsichtlich seiner temporalen Kriterien vom historisch argumentierenden Straßburger Zyklus unterscheidet. Mit diesem vergleichbar sind in Köln indessen die beiden Erzählregister auf den Chorschranken28 (Abb. 1, 8, 10). Zunächst zur unteren, recht niedrigen Reihe: 24 Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 209 (Breviarium Coloniense, Anf. 14. Jh.), f. 62v (https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/titleinfo/183581, letzter Zugriff am 14.1.22); Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 151 (Kölner Missale, Ende 15. Jh.), f. 25r (https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/zo om/153706, letzter Zugriff am 14.1.22). 25 Breviarium Coloniense (s. Anm. 24), f. 63r–63v (https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/c ontent/titleinfo/183581, letzter Zugriff am 14.1.22); Graduale (s. Anm. 23), f. 178r–181r. 26 Graduale (s. Anm. 23), f. 32r/v. 27 Stehkämper: Könige (s. Anm. 9), S. 40; Torsy: Dreikönigenverehrung (s. Anm. 9), S. 33–35. 28 Gute Abbildungen auf: https://www.koelner-dom.de/erleben/rundgang-durch-denkoelnerdom/chorschranken (letzter Zugriff 27.1.22). Freigang, Christian: Architektur und Erzählung in den Chorschrankenmalereien des Kölner Doms, in: Kölner Domblatt 86 (2021), S. 79–109; Bornkessel, Katharina: Die Drôlerien der Chorschrankenmalereien des Kölner Domes, 2 Bde., Köln 2019; Wachsmann, Ute: Die Chorschrankenmalereien im Kölner Dom. Untersuchungen zur Ikonologie, 2 Bde. Diss. phil., Bonn 1985; Quednau, Rolf: Zum Programm der Chorschrankenmalereien im Kölner Dom, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 43 (1980), S. 244–279; Schmidt, Gerhard: Die Chorschrankenmalereien des Kölner Domes und die europäische Malerei, in: Kölner Domblatt 44–45 (1979/80), S. 293–340; Haussherr, Reiner: Die Chorschrankenmalereien des Kölner Doms, in: Vor Stephan Lochner. Die Kölner Maler von 1300–1430. Ergebnisse der Ausstellung und des Kolloquiums Köln 1974,

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Abb. 8: Köln, Dom, Dreikönigsschranke auf der Südseite des Hochchors (2. Joch). © Dombauarchiv Köln

Hier sind bzw. waren die Herrscher jeweils inschriftlich inklusive der Regierungszeiten benannt.29 Zwar gibt es immer wiederkehrende Schemata in den Darstellungen, doch fällt eine vielfältige Variation in den Figurendarstellungen auf, deren nummerierte Reihung sich überdies klar mit durchzählenden Kaiserund Bischofskatalogen in Verbindung bringen lässt.30 Die um 1240 anzusetzende Köln 1977 (Kölner Berichte zur Kunstgeschichte 1), S. 28–59; Rode, Herbert: Die Chorschrankenmalereien des Kölner Domes als Abbild des Sacrum Imperiums, in: Kölner Domblatt 6–7 (1952), S. 20–38; Clemen, Paul: Der Dom zu Köln, Düsseldorf 1937 (Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 1,3), S. 158–167; Clemen, Paul: Die gotischen Monumentalmalereien der Rheinlande, 2 Bde., Düsseldorf 1930, Textbd., S. 179–199, Tafelband Tf. 38– 49; Steffens, Arnold: Die alten Wandgemälde auf der Innenseite der Chorbrüstungen des Kölner Domes, in: Honnefelder / Trippen / Wolff: Dombau (s. Anm. 10), S. 99–150 (zuerst in: Zeitschrift für Christliche Kunst 15 (1902), Sp. 129–144, 161–170, 193–206, 225–234, 257–264, 289–298). 29 Rode: Chorschrankenmalereien (s. Anm. 28). Die schlechte Erhaltung verbietet in vielen Fällen eine klare Identifizierung, auch ließ man wohl aus Platzgründen offensichtlich die lange Kaiserreihe auf den Westbereich der Bischofsreihe hinüberlaufen, wo dann sukzessive durch jeweils aktuelle Bischofsbilder übermalt wurde. 30 Für den Kölner Kontext s. v. a. Monumenta Germaniae historica, Scriptores, XIII, hg. v. Georg Waitz u. a., Hannover 1881, S. 282–287 (https://www.dmgh.de/mgh_ss_13/index.h tm#page/282/mode/1up, letzter Zugriff 5.10.20) und XXIV, hg. v. Georg Waitz u. a., Hannover 1879, S. 332–362 (https://www.dmgh.de/mgh_ss_24/index.htm#page/332/mode/1up, letzter Zugriff 5.10.20).

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Abb. 9: Köln, Dom Grundriss des Psallierchores mit Erzählvektoren, © Chr. Freigang, nach Kat. Verschwundenes Inventarium. Ausst.-Kat. Köln 1984, S. 81

Handschrift der Chronica Regia Coloniensis in Brüssel (KBR ms. 467) enthält vergleichbar sieben großformatige Miniaturen, die Karl den Großen und die damals jüngsten deutschen Könige aus der Stauferdynastie thronend oder stehend in Architekturrahmen zeigen.31 Die chronologische Richtung verläuft in Köln – anders als in Straßburg – von Ost nach West, also von Hochaltar weg; die jeweils ältesten Vertreter, Maternus als der erste Kölner Bischof auf der Nord31 Waitz, Georg: Chronica Regia Coloniensis, Annales maximi Colonienses; cum continuationibus in monasterio S. Pantaleonis scriptis aliisque historiae Coloniensis monumentis, Hannover 1880; Monumenta Germaniae historica, Scriptores, XVII, Hannover 1861, hg. v. Georg Heinrich Pertz, S. 729–847 (https://www.dmgh.de/mgh_ss_17/index.htm#page/(7 22a)/mode/1up, letzter Zugriff 5.10.20); dazu Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: (https://www.geschichtsquellen.de/werk/239 letzter Zugriff 5.2.21); Swarzenski, Hanns: Die lateinischen illuminierten Handschriften des XIII. Jahrhunderts in den Ländern an Rhein, Main und Donau, 2 Bde., Berlin 1936, Nr. 9; Meier: Chronicon pictum (s. Anm. 11); Skriver, Anna: Die Taufkapelle von St. Gereon in Köln, Köln 2001 (mediaevalis, Beiträge zur Kunst des Mittelalters 2), S. 117–128 u. 163–168; Skriver, Anna: Pictor et illuminator: die „Aachener Königschronik“ in Brüssel im Vergleich mit den Wandmalereien der Taufkapelle von St. Gereon in Köln, in: Wallraf-Richartz Jahrbuch 60 (1999), S. 25–46.

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Abb. 10: Köln, Dom, nördliches Chorgestühl nach Osten, © Dombauarchiv Köln

bzw. Julius Cäsar auf der Südseite, sind somit dem Hochaltar am nächsten. Den Darstellungszeitraum bildet der ununterbrochene, bis in die Gegenwart bzw. theoretisch an das Jüngste Gericht reichende tempus gratiae.32 Dies entspricht gemäß der mittelalterlichen Chronistik – vor allem der weit verbreiteten Weltchronik des Martin von Troppau33 – der vierten aetas der Weltgeschichte, oder aber nach der augustinisch-orosianischen Definition dem sechsten Weltalter. Dies ist auch in der ebenfalls weit kursierenden dominikanischen Chronik der Flores temporum explizit benannt.34 Da hier die Kaiserreihe wie in Köln mit Julius Cäsar einsetzt, dürfte sich der Bildzyklus eher auf die Tradition der Flores tem-

32 Allerdings musste die Kaiserreihe, die vor allem römische Herrscher zeigt, aus Platzgründen auf der Westseite der gegenüberliegenden Schranke fortgeführt werden. 33 Martin von Troppau – Chronicon Pontificum et Imperatorum, Vorrede (http://www.mgh.de /ext/epub/mt/histrom.htm, letzter Zugriff 5.10.20); vgl. auch die alte Edition in Monumenta Germaniae historica, Scriptores, XXII, Hannover 1872, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1872, S. 377–475 (https://www.dmgh.de/mgh_ss_22/#page/377/mode/1up, letzter Zugriff 5.10.20), hier S. 406–407. 34 Flores temporum (s. Anm. 14), S. 242: „Incipit tempus gracie sive etas sexta, in qua iam sumus et durat usque ad antichristum“. Hierzu von den Brincken: Geschichtsschreibung (s. Anm. 14).

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porum beziehen, zumal deren imperiale Tendenz sich gut in das Selbstverständnis und die Politik des Kölner Hochstifts einfügen lässt.35 Diese chronologische Abfolge ist nun in subtiler Weise mit den Erzählzyklen auf den großen Bildfeldern darüber verklammert: Im Norden (von Ost nach West voranschreitend) erscheinen, in einer Reihe von drei mal sieben, in Scheinarchitekturen gefassten Bildfeldern, die Viten von Petrus, sodann von Papst Sylvester und von Kaiser Konstantin. Das Pendant im Süden, ebenfalls von Osten nach Westen zu lesen, reiht die Viten von Maria – mit der Szene an der Goldenen Pforte beginnend – und der Heiligen Drei Könige, sodann diejenigen von Felix und Nabor sowie von Gregor von Spoleto aneinander. Die historischen Wirkungszeiten von Petrus und Maternus bzw. Cäsar und Maria liegen nach damaliger Auffassung eng zusammen und sind jeweils durch eine Generation miteinander verbunden: Maternus galt als Schüler Petri, und Cäsar als unmittelbarer Vorläufer Oktavians bildet das Pendant zur Geburt Mariae. Jeweils an der Ostkante der Chorschranken werden somit gemeinsame, inhaltlich vielfältig verknüpfte chronologische Initia gesetzt, die ein komplexes räumliches Bezugssystem markieren. Denn in der Rangordnung der Sedilien im Chorgestühl vor den Schrankenbildern erhielt der Erzbischof seinen Platz am Ostende der Nordseite, also in der Nähe von Petrus und Maternus. Hier, am Osteingang des Chorgestühls stand ursprünglich auch die Statue des heiligen Papstes Sylvester.36 Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich als Pendant das Standbild des Hl. Konstantin als vorbildlicher weltlicher Herrscher. Hier befand sich vermutlich auch der Ehrensitz des jeweiligen weltlichen Machthabers. Ähnlich wie es für den Fall der Pariser Kathedrale bekannt ist,37 dürften die Chorherren ihre Stallen nach Dienstalter von Westen nach Osten gestaffelt eingenommen haben: je älter, desto näher am liturgischen Zentrum, dem Hochaltar im Polygon östlich des Kanonikerchores. Die miteinander korrespondierenden Initia bilden also eine symbolische Nord-Süd-Achse, die als Begrenzung des sich nach Westen erstreckenden, in den 35 Rode: Chorschrankenmalereien (s. Anm. 28), S. 34–38; Mierau, Heike Johanna: Die Einheit des imperium Romanum in den Papst-Kaiser-Chroniken des Spätmittelalters, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 281–312, hier S. 293–294. 36 Wachsmann: Chorschrankenmalereien, Bd. I, (s. Anm. 28), S. 286–288; Kroos, Renate: Liturgische Quellen zum Kölner Domchor, in: Kölner Domblatt 44–45 (1979–80), S. 35–202, v. a. S. 63–72; Seidler, Martin / Wolff, Arnold: Der Kölner Domchor und seine Ausstattung zur Zeit des Kölnischen Krieges, in: Verschwundenes Inventarium. Der Skulpturenfund im Kölner Domchor. Ausstellungskatalog Köln 1984, hg. v. Ulrike Bergmann, Köln 1984, S. 79–82; Hilger, Hans Peter: Das mittelalterliche Erscheinungsbild des Kölner Domchores, in: ebd., S. 83–92; Zur Neugestaltung der liturgischen Topographie im späteren 14. Jahrhundert Lauer: Bildprogramme (s. Anm. 10). 37 Wright, Craig: Music and Ceremony at Notre Dame of Paris, 500–1550, Cambridge 1989, S. 98–101.

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Vitenerzählungen evident gemachten Zeit-Raumes fungiert. Diese räumliche Anordnung umschreibt ein gelängtes Rechteck, entsprechend dem Chorgestühl in den ersten drei Mittelschiffsjochen des Langchors und der provisorischen Westwand des Chores auf Höhe der Vierungspfeiler, an deren Stelle sich sicher eine Lettnerwand als Chorabschluss erheben sollte (Abb. 9). Insgesamt ergibt sich ein temporal und chronologisch strukturierter Binnenraum, der prinzipiell homogen und geordnet erscheint. Im Grundriss zeigen sich dabei auffällige formale Parallelen zu den Seitenspiegeln der zeitgleichen Weltchronistik – gerade bei den genannten Martinianen und den Flores temporum – , die in den älteren Redaktionen einer zweispaltigen, einem Rechteck angenäherten Tabellenform folgt, bei der die oberste Zeile historisch synchrone Ereignisse benennt.38 Inhaltlich vermitteln diese Chroniken den Anspruch einer bruchlosen Kontinuität von antikem und deutschem Imperium als spezifischer Schutzmacht der zeitgleich einsetzenden Ära des tempus gratiae mit ihrer geistlichen Macht der Kirche:39 Der Raum der ecclesia universalis vollzieht sich in der temporalen Dimension der aetas sub gratia, von Christi Geburt bis zum Jüngsten Gericht. In dieser (im Einzelnen durchaus unterschiedlich akzentuierenden) Ideologie korreliert die zeitliche Kontinuität der Papst- und Kaiserreihen mit einer idealisierten Homogenität des Herrschaftsraums. Dieser, als Fortsetzung des weströmischem Reichs vermittelt, blendet in der Weltchronistik andere Machtbereiche, selbst des oströmischen und byzantinischen Reichs weitgehend aus.40 Der gewichtige inhaltliche Unterschied zu den Universalchroniken besteht allerdings darin, dass die Chorschrankenmalereien nicht Papst- und Kaiserreihe synchronisieren, sondern jene durch die Abfolge der Kölner Stuhlinhaber ersetzen. Die Tradition solcher Bischofskataloge geht im Falle Kölns mindestens auf um 1200 zurück und verbindet sich bezeichnenderweise auch im Bereich der Kölner Chronistik eben im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert mit der Tradition der Martinianen und der Flores temporum.41 Der Kölner Metropolit, nicht der Papst, vertritt ostentativ die Rolle des Sacerdotiums. 38 Mierau / Sander-Berke / Studt: Überlieferung (s. Anm. 14), S. 22–41. 39 Martin von Troppau – Chronicon Pontificum et Imperatorum, Ende der Vorrede: „Hec sunt duo luminaria magna, que posuit Deus in firmamento celi, id est in universali ecclesia, que sunt pontificalis auctoritas et imperialis potestas.“ (http://www.mgh.de/ext/epub/mt/histro m.htm, letzter Zugriff am 5.10.20). 40 Mierau: Einheit (s. Anm. 35); Breuer, Norbert: Geschichtsbild und politische Vorstellungswelt in der Kölner Königschronik sowie der Chronica S. Pantaleonis, Diss. phil. München 1966, Düsseldorf-Gerresheim 1966, S. 55–61. 41 Holder-Egger: MGH SS XXIV (s. Anm. 14), S. 332–365. (https://www.dmgh.de/mgh_s s_24/index.htm#page/332/mode/1up, letzter Zugriff 26.10.20); Eckertz, Gottfried: Cronica presulum et Archiepiscopum Coloniensis ecclesie, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiöcese Köln 4 (1857), S. 181–250; nochmals in Eckertz, Gottfried: Fontes adhuc inediti rerum Rhenanarum. Niederrheinische Chroni-

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Im Domchor ist diese Denkfigur der zeiträumlichen Kohärenz des Imperiums in die konkrete Binnenräumlichkeit des Kanonikerchors überführt. Dieser ist überdies strukturell streng in die architektonische Gliederung eingepasst, indem die vier Langchorpfeilerpaare die Langseiten in drei Abschnitte einteilen. Aber mehr noch: Die gleichmäßig rhythmisierten Scheinarchitekturen, die die Binnenrahmung der Chorschrankenmalereien abgeben, gliedern jedes Jochfeld in sieben Scheinarkaden sowie je zwei seitliche Lanzetten, eine Gliederung, die sich subtil (aber hier nicht weiter auszuführen) auf den Rhythmus des achtteiligen Triforiums bezieht (Abb. 3, 4, 8). Die sich rhythmisch wiederholenden Scheinarchitekturen der Bildfelder illusionieren insgesamt eine mauerartige Abfolge von Turmaufbauten. Diese öffnen sich scheinhaft in großen Arkaden ins Innere des Binnenchors, bieten somit eine galerieartige Bühne für die hier dargestellten Szenen. An ihren Rückwänden hingegen scheinen die Architekturen geschlossen bzw. mit kostbaren, droleriegeschmückten Wandbehängen ausgekleidet zu sein. Die Arkaden öffnen sich also nachdrücklich nach innen und lassen insoweit den Bereich des liturgischen Chores als eine exklusive, hofähnliche Anlage erscheinen, die in voller Länge durch das Chorgestühl als ausgezeichnetem Ort des Gotteslobs sowie die Chorschrankenmalereien als historische Veranschaulichung des Imperiums zu deuten ist. In diesem architektonisch und bildlich evident gemachten sowie chronologisch durch die Herrscherreihen getakteten Raum des Imperiums ereignen sich nunmehr vielfältige Narrationen. Die Chorschrankenmalereien erzählen die Geschichten der wesentlichen Patrone und Reliquien der Kölner Kirche: Maria, Petrus, Dreikönige, Nabor und Felix sowie Gregor von Spoleto. Die Petrusgeschichte setzt sich in den Viten von Sylvester und Konstantin fort, die ideologisch für die Kölner Kirche wichtig waren. Diese Viten sind auf subtile Weise zu räumlichen und zeitlichen Parallelen und Kontinuitäten buchstäblich verwoben. Dabei fällt zunächst auf, wie markant der gemeinsame Anfang strukturiert ist: Ähnlich einem Auftakt ist auf der Südseite die Verkündigung an Joachim an der Goldenen Pforte wiedergegeben; dem entspricht in der Kaiserreihe Julius Cäsar als Auftakt zu Oktavian. Im Norden wird in analoger Erzählstrategie die nicht häufig verbildlichte Berufung Petri und Andreae dargestellt. Die Petruserzählung verbindet sich inhaltlich mit dem darunter dargestellten angeblichen Petrusschüler Maternus. Somit wird nicht nur eine eindeutige Genealogie erstellt, sondern die Sukzession der Kölner Bischöfe bildet eine ‚Abzweigung‘ aus der Petrusvita. Als Pendants auf der Südseite fungieren Geburt Mariae und der zeitgleich regierende Julius Cäsar, mit dem gemäß der imperialen Geschichtsschreibung die Sukzession der später namensgebenden ‚Cäsaren‘ / ‚Kaiser‘ schon ken 1, Köln 1864, S. 1–52, 54–64 (https://www.geschichtsquellen.de/werk/1046, letzter Zugriff 26.10.20); Müller: Bistumsgeschichtsschreibung (s. Anm. 15), S. 106–111 u. 309–315.

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bereits kurz vor Christi Geburt unter Oktavian eingesetzt habe.42 Ähnlich den Universalchroniken sind also die Vorgeschichten zweier synchroner Narrationen, des Lebens Christi und der Abfolge der Kaiser, geschildert, die sich im Moment von Christi Geburt unter Oktavian / Augustus miteinander verbinden. Somit markiert die Ostkante des Kanonikerchors nicht nur die oben beschriebene räumliche Achse und Grenze, sondern bildet auch die Initialebenen verschiedener, sich verzweigender temporaler Vektoren. Auf der Südseite bezeichnet der Marienzyklus den historischen Beginn des Neuen Bundes und reicht, über die Geburt Jesu bis zur Marienkrönung im 7. Bildfeld, entsprechend der Breite des ersten Großabschnittes (also des dritten Langchorjochs). In Art einer Rückblende zurückspringend auf den Zeitpunkt der Geburt und aus dem Marienzyklus abzweigend setzt in den folgenden Bildfeldern mit der Sternenerscheinung und der Anbetungsszene der Dreikönigszyklus ein; er füllt dieses Joch gänzlich aus und endet chronologisch mit der Reliquienübertragung nach Köln 1164 und der Schreinbettung um 1200 (Abb. 8). Darauf folgen im letzten Großabschnitt (im westlichsten Joch des Langchors), wiederum historisch zurückspringend, die um 300 anzusetzenden Szenen aus dem Leben von Felix, Nabor und Gregor. – Die hierarchisch höherwertigen und zugleich historisch älteren Viten befinden sich also im Osten, gefolgt von den jeweils hierarchisch nachgeordneten und zeitlich späteren nach Westen. Chronologisch richtig ist dabei, wie die Initien der einzelnen Erzählstränge korrekt von Ost nach West hintereinander abfolgen. Die Erzählsequenzen selbst unterscheiden sich aber beträchtlich in Detailliertheit und Länge der Narration, sowohl was die berichtete Erzählung als auch was deren Szeneneinteilung betrifft. Ausführlich-langsame und abkürzend-schnelle Erzählweisen verbinden sich zu Rhythmuseffekten (gemäß Genette: Anisochronien); im Fall des Dreikönigszyklus und der Geschichte ihres Schreins lässt sich die Narration auf die Marienvita rückbeziehen und entfaltet sich sodann detailliert als eigenständige, bis in die Jetztzeit führende Vita der Drei Könige. Der Dreikönigzyklus verbindet also die Vorgeschichte Christi mit der Gegenwart; bezeichnenderweise ist der damals gerade ein Jahrhundert alte reale Schrein, wenige Meter vom Chor entfernt aufgestellt, portraithaft in den letzten beiden Bildfeldern wiedergegeben. Verschiedene längere und kürzere Stränge erscheinen zudem miteinander gleichsam verwoben oder übergreifen sich. Die Dreikönigsgeschichte etwa nimmt sieben, die Sylvestersequenz vierzehn Bildfelder gegenüber zwei für die Vita Gregors von Spoleto ein. Die Zeitspanne der Dreikönigsgeschichte umgreift historisch die eher kurz geschilderten Vitensegmente von Felix und Nabor sowie von Gregor von Spoleto. Sämtliche Szenen können zumindest theoretisch auch chronologisch mit der Kaiserreihe verbunden werden, das gilt selbstverständlich für die Geburt Christi 42 Mierau: Einheit (s. Anm. 35), passim.

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unter Oktavian, aber auch für Gregor von Spoleto sowie für Felix und Nabor, die unter den unmittelbar aufeinanderfolgenden Kaisern Diokletian und Maximian um 300 ihr Martyrium erlitten. Analog gilt dies für die Nordschranke, bei der man Petrusvita und Maternusdarstellung – wie oben benannt – miteinander verbinden kann. In der Chronistik wird Maternus auf Kaiser Hadrian bezogen, welcher – obwohl nicht mehr erhalten – sicherlich in der Kaiserreihe zu rekonstruieren ist.43 Ebenso gilt dies selbstverständlich für die lange Silvestervita, die engstens mit derjenigen Kaiser Konstantins verbunden ist, welcher ebenfalls Teil der Kaiserreihe im Süden bildete.44 Insgesamt sind es also vier Zeitvektoren, die ähnliche Ausgangspunkte haben, kürzer und länger sind, aber immer resolut nach Westen in Gegenwart und Zukunft streben: die beiden großen, mit Maria und Petrus einsetzenden Schrankenzyklen sowie die Herrscher- bzw. Bischofsreihe darunter (Abb. 9). Die Abfolge der römischen Kaiser und der Kölner Bischöfe bildet die chronologische Grundeinteilung der Zeit sub gratia, die sich im Mittelschiff des Langchors scheinhaft ereignet und zusammen mit dem Chorgestühl eine klar umgrenzte Räumlichkeit annimmt. Im Gegensatz zu der kleinformatigen, parataktischen Reihung der Kaiser- und Bischofsregister entfalten sich die Zyklen darüber aber in einer bemerkenswerten narrativen Dichte von variierender Länge und Ausführlichkeit: Es gibt eine durchgehende Kontinuität (Dreikönigszyklus), parallele kurze Vektoren und narrative Verzweigungen, immer konsequent nach Westen gerichtet. Auf absolute Chronologien bezogen sind die Zeiträume höchst unterschiedlich: etwa 1300 Jahre für die Dreikönigsgeschichte, etwa 50 Jahre für die Sylvestervita, nur wenige Tage im Fall des Martyriums von Felix und Nabor. Historisch überschneiden sich die Sylvestervita im Norden und die Lebensläufe von Felix, Nabor und Gregor im Süden: Deren Martyrien fallen in Sylvesters Jugendzeit, die Konstantinsgeschichte schließt historisch an diese Erzählung der Christenverfolgung an. Die teilweise kleinteilig detaillierte Narration bedient sich zahlreicher damals neuer Kunstgriffe, so der bildlichen Illusionierung von Räumlichkeit ‚hinter‘ der gemalten Arkatur. Mehrere Szenerien, z. B. die Berufung Petri und die Errettung aus dem Kerker, erstrecken sich über zwei Bildfelder, ‚hinter‘ den Arkaturstreben entlang, an einigen Stellen ragen Füße und Gewandzipfel in Art eines Trompe-l’oeil über die Bildrahmen, so zum Beispiel im Dreikönigszyklus in der Szene der Bischofsweihe durch den Apostel Thomas. Hinzu kommt eine ungewöhnlich ausdrucksstarke Körperrhetorik der Protagonisten, etwa in den Martyrienszenen, in Verbindung mit einer konsequent eingehaltenen innerbildlichen Leserichtung von Ost nach West. Derartige, fallweise

43 Rode: Chorschrankenmalereien (s. Anm. 28), S. 28. 44 Ebd., S. 28.

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bereits vermerkte und etwa mit analogen Erzählrhethoriken Giottos vergleichbare Strategien können hier nicht weiter vertieft werden.45 Markant tritt die bewegte und in kräftiger Farbigkeit geschilderte Narration der Chorschrankenbilder hervor. Deren asynchrone Parallelisierung mit kleinformatigen Zeitleisten in Form von Herrscherbildern einerseits und die dichte, komplexe, narratologische Kausalität voraussetzende Vitenschilderung in großen Bildern darüber andererseits gehen erneut sehr gut mit den zeitgleichen Tendenzen der Chronistik zusammen. Wie Müller und Johanek herausgestellt haben, dienen die Herrscherkataloge als Grundgerüst für eine detaillierende, argumentierende und kontextspezifische Formung der Geschichtsschreibung, insbesondere auch bei der Bischofschronistik, die mit den sequenziell getakteten Herrscherlisten gleichsam verwoben wird. Für diese Zeitkonzeption asynchroner, aber sich verwebender Zeitsysteme vermittelt der Kompilator der Flores temporum literarisch das Bild eines dicht miteinander verzweigenden Dornbuschs: Die Zeiten und Jahre aller römischen Herrscher habe ich kurz vermerkt, nicht zu ihrem Lob, sondern zum Ruhm und zur Ehre der mit ihnen zugleich lebenden Heiligen, auf dass zwischen den Dornen [bzw. dem Rückgrat – spina] der irdischen Herrscher die himmlischen Rosen und die paradiesischen Lilienzweige der Heiligen hervorsprießen.46

Im Falle des Kölner Zyklus wären es die Blütentriebe der Heiligenviten, die – mal länger, mal kürzer sich miteinander verzweigend und neu austreibend in leuchtender Farbigkeit erblühend – entlang den Herrscherreihen von der Zeit um Christi Geburt in Richtung des Jüngsten Gerichts wachsen. Die von Isidor evozierte, regelmäßige Girlande der series temporum verwebt sich gleichsam mit den sprießenden Ranken der Heiligenviten. Der solchermaßen räumlich und zeitlich verdichtete Raum des liturgischen Chors erhält bei jeder Chormesse, die ja östlich davor am Hauptaltar zelebriert wird und deren Feier von Christi Tod und Auferstehung immer auch den Beginn der Gnadenzeit kommemoriert, eine neue Aktualisierung. Von dort aus ereignet sich der tempus gratiae in den Bildzyklen

45 Nach Kemp: sermo (s. Anm. 3), wird die illusionistische Räumlichkeit nachgerade zum Zweck bildlicher Narration entwickelt; Freigang: Architektur (s. Anm. 28), S. 100–108; Schmidt: Chorschrankenmalereien (s. Anm. 27), passim. 46 Flores temporum (s. Anm. 14), S. 231, Z. 30–35: „… omnium regum Romanorum tempora et annos breviter annotavi, non ad eorum laudem, sed ad sanctorum eisdem contemporaneorum gloriam et honorem, ut inter spinas principum terrenorum celice rose pullulent et lilia beatorum.“ Übersetzung nach Rode: Chorschrankenmalereien (s. Anm. 28), S. 37; Johanek, Peter: Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung im Spätmittelalter, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze, Sigmaringen 1987 (Vorträgen und Forschungen 31), S. 287–330, hier S. 306–308 (https://jour nals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/vuf/article/view/16154/10008, letzter Zugriff 21.11.20); von den Brincken: Geschichtsschreibung (s. Anm. 14); Mierau / Sander-Berke / Studt: Überlieferung (s. Anm. 14), S. 1–4; Müller: Bistumsgeschichtsschreibung (s. Anm. 15), S. 309.

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als virtueller, sich immer erneuernder, klar gerichteter Zeitstrahl in Richtung Gegenwart bzw. das Jüngste Gericht.

IV. Die im Bild des zeitlich strukturierten Wachsens mehrerer Triebe umschriebene Verdichtung von Zeitvektoren kontrastiert indessen markant mit zwei weiteren Bildzyklen in unmittelbarer Nachbarschaft der Chorschranken: Das bilderreiche Chorgestühl zeigt verschiedene Szenen vornehmlich aus dem Alten Testament, sodann Alltags- und Minnethemen, auch Musiker, Tierdarstellungen, groteske Drolerien usw. (Abb. 10). Wenn auch mehrere Motive typologisch auf die Epoche sub gratia bezogen werden können, so gehören die Szenerien aber erkenntlich nicht den Zyklen darüber an.47 Auch herrscht hier trotz vielfältiger Versuche der Forschung, Bildgruppen zu ordnen, ein offenbar nicht systematisierbares Durcheinander ohne temporale oder narrative Systematik, welches erst im gemalten Zyklus aus der Ära sub gratia darüber in eine klare, zielgerichtete zeitliche Kontinuität überführt ist. Auch in der Materialität zeigt sich ein klarer Kontrast: Weist das Chorgestühl die übliche Holzsichtigkeit auf, so setzen sich die Chorschrankenmalereien darüber – eigentlich die gewöhnliche Stelle von hölzernen Dorsalen einnehmend – aufgrund ihrer starken Farbigkeit im Blau-Rot-Gold-Akkord und in ihrem preziösem Farbauftrag klar davon ab.48 Anders verhält es sich mit der ikonographischen Ausstattung des Polygons, die an zwei Stellen die überzeitliche Erfüllung des Heilsplans anzeigt: so im Apostelzyklus der Pfeilerstatuen, die einer Marienkrönung an den Pfeilern des Chorscheitels in höfischer, gleichsam himmlischer Grazie assistieren. Dies nimmt offenbar inhaltlich Bezug auf die Hochaltarmensa (Abb. 2). Diese zeigte ähnlich wie in der heutigen Rekonstruktion auf vier Seiten einen Marienzyklus, mit den Szenen von Verkündigung (Süden), Anbetung der Könige (Osten), Darbringung (Norden) und der Marienkrönung auf der Westseite, jeweils begleitet von Heiligenstatuetten, nicht aber von erzählenden Motiven.49 Die dem Langchor zugewandte Seite veranschaulichte wie der Pfeilerstatuenzyklus also gewissermaßen das Ziel der sich im Psallierchor verdichtenden Zeit sub gratia. Bezeichnenderweise unterscheidet sich die Hochaltarmensa, die nie ein Retabel erhalten hat, auch farblich deutlich von der

47 Bergmann, Ulrike: Das Chorgestühl des Kölner Doms, 2 Bde., Neuss 1987, Bd. I, S. 88–110. 48 Georg, Maul: Geschichte, Konservierung und Technologie der Chorschrankenmalereien, in: Kölner Domblatt 57 (1992), S. 239–260. 49 Beeh, Wolfgang: Die Ikonographie des Hochaltares im Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 18–19 (1960), S. 7–24.

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buntfarbigen Chromatik der Chorschrankenmalereien.50 Der Hochaltar besteht aus schwarzem Marmor, der kontrastreich von den partiell vergoldeten, ansonsten aber nicht polychromierten, in ihrer Nicht-Farbigkeit dem Natürlichen entrückten figürlichen Darstellungen aus weißem Marmor umschlossen wird.51 Man muss abschließend betonen, dass die analysierten asynchronen Überlagerungen verschiedener Zeitlichkeiten nur im Zusammenwirken mit der architektonisch-räumlichen Struktur des Binnenchors gelesen werden können. Wenn im Obergaden die Könige als eng auf die architektonische Struktur bezogene Scheinstatuen in zwei Lebensalterstufen wiedergeben sind, dann geht es um die Omnipräsenz der Unterwerfung weltlicher Herrschaft unter Christus. Im Andeuten von Amtsgenealogien sind Zeitlichkeiten durchaus präsent, aber als Multiplikation von Zeitmodulen ausformuliert, die sich in keine temporale Reihung eingliedern lassen, entsprechend keinen Anfang und kein Ende aufweisen, sondern als räumliche Gegenüber ebenso wie als Nebeneinander erscheinen. Freilich wird die Rolle dieser idealen weltlichen Herrscher entsprechend der Kölner Krönungstheorie anschaulich durch deutsche Könige ausgefüllt, aber diese sind nicht – wie etwa in Straßburg – als kontinuierliche Abfolge im Sinne einer chronikalisch-historischen Zeitlichkeit, sondern eher als Veranschaulichung von Ewigkeit zu verstehen. Ganz im Gegenteil dazu kreieren die Chorschrankenmalereien räumliche und zeitliche Markierungen, insbesondere in der subtilen topographischen Herausstellung des Zeitpunktes des Erscheinen Christi an der Ostkante des Kanonikerchors und der Ausweitung der temporalen Dimension in den drei folgenden Langchorbinnenjochen, die an eben diesem Ort buchstäblich einen homogenen Zeit-Raum bilden, der sich in dieser Qualität von den umgebenden Räumen, also etwa den Seitenschiffen, absetzt und auch nur vom Inneren des Kanonikerchors nachvollzogen werden kann. Die hier veranschaulichte historische Zeit vergegenwärtigt den tempus gratiae in vielfältig verwundenen und verdichteten asynchronen narrativen Vektoren innerhalb einer illusionistischen, gleichwohl fest in den architektonischen Raster eingefügten Räumlichkeit. Hier, und nur hier, öffnen sich die verzweigten Viten der Kölner Heiligen, vielfältig und in kräftigen Farben, gleichsam als die „Blüten der Zeiten“ – flores temporum.

50 Michler, Jürgen: Die Einbindung der Skulptur in die Farbgebung gotischer Innenräume, in: Kölner Domblatt 64 (1999), S. 89–108. 51 Vgl. Krieger, Michaela: Grisaille als Metapher: zum Entstehen der Peinture en Camaieu im frühen 14. Jahrhundert, Wien 1995 (Wiener kunstgeschichtliche Forschungen 6).

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Chapter 22 of Harriet Beecher Stowe’s Uncle Tom’s Cabin (1852) represents the child Evangeline’s Bible reading to the adult slave Tom. Evangeline, we learn, prefers “Revelations and […] Prophecies.” These Biblical books are not wholly intelligible either to Evangeline or to Tom, but both characters are drawn to these genres in particular, since they “spoke of a glory to be revealed, – a wondrous something yet to come, wherein their soul rejoiced, yet knew not why”: For the soul awakes, a trembling stranger, between two dim eternities, – the eternal past, the eternal future. The light shines only on a small space around her; therefore, she needs must yearn towards the unknown; and the voices and shadowy movings which come to her from out the cloudy pillar of inspiration have each one echoes and answers in her own expecting nature. Its mystic imagery are so many talismans and gems inscribed with unknown hieroglyphics; she folds them in her bosom, and expects to read them when she passes beyond the veil.2

Stowe imagines a scene of Biblical reading in the here and now of the novel, but that reading is for the moment unintelligible to both Evangeline and Tom. Only when the soul “passes beyond the veil” will the text become clear. For the moment, the souls of our readers are alert and aroused between two eternities, yearning for futurity. Stowe is working from within a tradition of biblical reading here, whereby the Biblical narrative points not only to the past event (the literal sense); not only to the fulfillment of that past event in the intermediate past (the allegorical sense); 1 This essay was originally published in: Studies in the Age of Chaucer 37 (2015), pp. 31–54. It is republished here, in slightly revised form, with permission. I warmly acknowledge the many responses I received in Reykjavik, 2014 to the New Chaucer Society Biennial Lecture from which this essay was developed; Penelope Buckley, Stephen Clingman and Jeffrey Robinson also each offered astute and welcome comment. I also warmly thank members of the Einsteinzirkel, Freie Universität Berlin for comments on a version of this paper delivered in November 2017. 2 Beecher Stowe, Harriet: Uncle Tom’s Cabin, ed. by Elizabeth Ammons, New York 22010, pp. 236–238.

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and not only to the applicability of those senses to the present (the moral, or tropological sense).3 Evangeline and Tom are also, however uncertainly, imagining their way into the future here, where the future is a higher version of the broken present. They inhabit an interim state, suspended between implicit rejection of the present and uncertain perception of a future that drives that rejection. Dogma of any kind is in flux: that of the present is losing its legitimacy, even as the dogma of the new dispensation remains unclear. Tom and Evangeline are, in short, practicing an anagogical reading, or a “leading up.” That anagogical posture simultaneously underlines two key aspects of this novel. On the one hand, Stowe implicitly recognizes the novel’s present as wounded, a provisional and damaged shadow of better things to come, from which one can only desire a different future. On the other hand, more positively, Stowe uses her own book as a reading prophecy of sorts. Uncle Tom’s Cabin not merely represents anagogical reading, but enacts it. Stowe pitches her own book, that is, into the future, from a present that confronts only “unknown hieroglyphics,” and is itself the locus of “voices and shadowy movings.” Even if the present from which her novel derives is provisional and wounded, that is, it prophecies a future in which its own intelligibility will become clearer through readers’ responses to it. Biblical prophecy leans into a messianic future of the New Jerusalem; Stowe’s own novel leans into an uncertain, but imagined, secular future in which Evangeline and Tom’s relations will no longer be underwritten by slavery. The novel itself attempts to activate this future: by reading it, we ourselves are prompted to participate in the construction of that future – a massively incomplete future, which is, as yet, not yet.4 That a novel occupying such a wounded present should have had such very mixed reception history is perhaps unsurprising, from President Lincoln’s famous and admiring (though likely apocryphal) comment about it in 1862 (“the little woman who wrote the book that started this great war”) to the fiercely negative response from anti-slavery writers and activists from 1910 or so.5 First published in 1852, the book was an instant bestseller both within the United 3 For which terms, see especially de Lubac, Henri: Exégèse médiévale: les quatres sens de l’Écriture, vols. 41, 42 and 59 of Théologie, 2 vols in 4, Paris 1959–64, translated as Medieval Exegesis, trans. Marc Sebanc and E. M. Macierowski, 2 vols, Grand Rapids 1998; Smalley, Beryl: The Study of the Bible in the Middle Ages, Notre Dame 1964; and Dahan, Gilbert: L’Exégése Chrétienne de la Bible en Occident Médiéval XII–XIV siècle, Paris 1999. 4 I say this, even if Stowe cannot herself imagine “an integrated future nation […] Uncle Tom’s Cabin participates in the construction of a national future that remains shadowy even to Stowe, who in some sense is writing from behind a veil.” Spingarn, Adena, private communication, 3 September 2014. 5 For the reception history of Uncle Tom’s Cabin, see Spingarn, Adena: Uncle Tom: From Martyr to Traitor, Stanford 2018. For the likely apocryphal remark by Lincoln, see pp. 10–11. I am extremely grateful to Adena Spingarn for her guidance in this matter.

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States and internationally.6 As it entered the tumultuous history of the United States, leading up to and away from the Civil War, the novel and its many theatrical versions met both adulation and fierce opposition. From abolitionists and reconstructionists, the reception remained powerfully positive until the 1910s. From roughly that date, in the context of Reconstruction’s many failures, the appalling violence of the Jim Crow era, and the new possibilities opened by the Great Migration from 1890, the model of Uncle Tom swung, among enemies of slavery, from martyr to traitor, producing the slur “an Uncle Tom.”7 From Southern proponents of slavery, the reaction was no less negative pre- and postbellum.8 Stowe’s novel implicitly recognizes, then, that it will remain incompletely intelligible until the conditions that have brought it into being are resolved. Such a “not yet” temporal posture in fact characterizes many novels and movies. E. M. Forster’s A Passage to India (1924) ends by underlining the impossibility of a romance ending, an ending in which futurity is satisfactorily absorbed “happily ever after.” Instead, Aziz and Mrs Moore’s son recognize that they cannot yet themselves be friends, because, as Aziz says, “the two nations cannot be friends.” To this Moore replies “I know. Not yet.”9 Like Uncle Tom’s Cabin, A Passage to India has been a lightning rod for widely differing judgments across time.10 If, however, we fully understand the provisionality of what I am calling an anagogical posture, then we also understand how these novels recognize their own inadequacy, their own wounded, lapsarian and provisional state in time. They are themselves, it might be said, martyrs of sorts, suffering history even as they help bring an alternative future into being. I’m sure that we can all think of other “not yet” narratives. These narratives are not tragic: they do not disallow a future (e. g. as does King Lear); neither are they elegiac: they do not express the irredeemable victimhood of the narrator in someone else’s possibly triumphant history (e. g. the letter of Dido in Ovid’s Heroides). These are, instead, usually unfulfilled romances, where the yearning for just community is somewhere in the future, as in Barry Levinson’s Good Morning Vietnam (1987), or Ridley Scott’s Gladiator (2000), whose final scene 6 7 8 9 10

Spingarn: Uncle Tom (s. note 5), pp. 10–14, 17, 22–23. Spingarn: Uncle Tom (s. note 5), pp. 131–133, 142–155, 199–208. Spingarn: Uncle Tom (s. note 5), pp. 21–23, 36, 97–100, 103–105, 107. Forster, Edward M.: A Passage to India, New York 1952, p. 311. Compare, for example, the liberal account of Lionel Trilling (“Great as the Problem of India is, Forster’s book is not about India alone; it is about all of human life”), with that of the anti-imperialist Edward Said: “Forster’s India is so affectionately personal and so remorselessly metaphysical that his view of Indians as a nation contending for sovereignty with Britain is not politically very serious, or even respectful”). See, respectively Trilling, Lionel: A Passage to India in: E. M. Forster’s A Passage to India, ed. by Harold Bloom, New York 1987, pp. 11–27, and Said, Edward: Culture and Imperialism, New York 1993, p. 204.

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has the black slave citing Forster with another “not yet.”11 Each of these narratives not only predicts, or desires, a future in which that which has been lost will be found, that which has been divided united. Additionally, they help bring that transformed community into being, by changing the consciousness of their own readers. Such texts say to us “not yet,” where the incompletion is double: not only is the ideal city state outside the work, whether Jerusalem or Rome, incomplete.12 So too is the reader’s consciousness, which will help bring that state into being, incomplete. In this essay I look to Chaucer as an anagogical writer, a writer who leans into the future and who challenges us as readers to see ourselves in time, participating in the shaping of the future. The future I have in mind is constituted by the central issue of the European Reformation, which is how humans are justified before God. Chaucer, I argue, foresees that terrible challenges lie not far ahead. Despite his skepticism about prophecy, Chaucer leans into the future with foreboding, less confidently foreseeing a future resolution, than uncertainly seeking alternatives to a dark future prophesied. Reading that is attentive to a work’s projection into the future is necessarily diachronic and possibly improper. Diachrony permits us to see texts as processual rather than end-stopped; as part of a movie rather than as a still photograph. It is certainly a historicist reading practice, but the historicism is diachronic. As such, reading of this kind runs against the grain of our deep set, synchronic philological and historicist persuasions. To understand anagogy, we need to think diachronically. Such reading is also prepared to ask an unusual, possibly improper question within the protocols of synchronic historicism: was Chaucer really a prophet of sorts? The last decade has seen a powerful set of Chaucer Nachleben studies.13 These studies have looked at Chaucer’s future as from our present; in this essay I 11 http://www.youtube.com/watch?v=OFVk5xVK7vs, consulted 7 October 2014. 12 As my friend Jeffrey Robinson astutely pointed out after the oral version of this essay, the status of a work as “not yet” is in part determined by the radically fallen state of its extraliterary, “real world” environment. 13 See, for example (in chronological order): Ruggiers, Paul G. (ed.): Editing Chaucer: The Great Tradition, Norman, Oklahoma 1984; Morse, Ruth / Windeatt, Barry (ed.): Chaucer Traditions: Studies in Honour of Derek Brewer, Cambridge 1990; Lerer, Seth: Chaucer and his Readers: Imagining the Author in Late-Medieval England, Princeton 1993; Krier, Theresa M. (ed.): Refiguring Chaucer in the Renaissance, Gainesville 1998; Pinti, Daniel J. (ed.): Writing After Chaucer: Essential Readings in Chaucer and the Fifteenth Century, New York 1998; Simpson, James: Chaucer’s Presence and Absence, 1400–1550, in: A Chaucer Companion, ed. by Jill Mann / Piero Boitani, Cambridge 2003, pp. 251–269; Gillespie, Alexandra: Print Culture and the Medieval Author: Chaucer, Lydgate and their Books 1473– 1557, Oxford 2006; and Cooper, Helen: Fame, Chaucer and English Poetry, in: Cultural Reformations: Medieval and Renaissance in Literary History, ed. by Brian Cummings / James Simpson, Oxford 2010, pp. 361–378.

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attempt to turn the telescope around, and look as from Chaucer’s present to his future. Are Chaucer’s works prophetic? To ask the question is to imply a sense of history that synchronic historicism has tended to avoid, if not proscribe.

I First, though, let me delineate anagogy. I begin with an account of why I found myself wanting to talk about it. As a graduate student in the early 1980s I fell upon Beryl Smalley’s Study of the Bible in the Middle Ages and Henri De Lubac’s Exégèse Médiévale (1959), just as I was gripped by the debate in Middle English Studies about how exegesis played out in vernacular literature.14 I could understand how three of the four senses of Scripture dynamically informed medieval English writing: the literal, the allegorical and the tropological, or moral. What, though, of the fourth sense, the anagogical? It left me either puzzled or bored. I was told, by reading Aquinas for example, that when the Biblical text points to “things that lie ahead in eternal glory,” that is called the anagogical sense.15 I could very well see the literal, allegorical and moral meanings of the story of Abraham and Isaac, for example, but how was I to understand that narrative as pointing to the heavenly Jerusalem? That was the puzzle. Perhaps the salvation of Isaac was to be understood as pointing thematically to salvation, but that universally applied theme struck me as simplistic and uninteresting. The standard mnemonic was, at that stage, of no more help: “The literal sense teaches you the events of history; the allegorical what you should believe; the moral sense how you should conduct yourself; and the anagogical where you are headed.”16 I just didn’t get anagogy, or didn’t get excited by it. So I actively pursued each of the first three senses in my texts, and left the fourth, anagogy, discreetly aside. In my work over the last fifteen years or so, however, I have gradually become aware that I need to revisit anagogy. For, despite my earlier commitment to synchronic historicism, I increasingly found myself working, along with many other scholars, diachronically, persuaded as I was that interpretation had to take its own history, and its own place in history, into account. We are preoccupied by 14 Smalley, Beryl: The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1941; de Lubac, Henri: Exégèse médiévale; and in particular the essays by Talbot Donaldson, E. / Kaske, R. E.: Patristic Exegesis in the Criticism of Medieval Literature, in: Critical Approaches to Medieval Literature: Selected Papers from the English Institute 1958–59, ed. by Dorothy Bethurum, New York 1960. 15 Thomas Aquinas: Summa Theologiae, ed. by Thomas Gilby, London 1964, 1a.1.10, 1:39. 16 “Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.” See, for example, Aquinas, Summa Theologiae, ed. by Thomas Gilby (s. note 15), 1a.1.10, 1:39. The translation is mine.

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history precisely because we are ourselves in history, necessarily part of history’s problem and therefore part of its solution.17 And so I increasingly found myself reading Middle English works as a premature Reformation,18 prophetic of the convulsions of early modernity to come. The very fact that our periodic divisions wish to block and neutralize narratives of this projective kind provoked me to question “Medieval Studies,” and any other tightly policed periodic schema.19 The fact, too, that the classical practice of philology aims to fix and still texts synchronically also prompted me to question that practice.20 For, understanding texts wholly in their own terms, wholly in their own place and time, and wholly in their radical alterity, forbids understanding of how texts lean into their futures, and so lean towards us. And, furthermore, the very fact that the historicism dominant since the 1980s was intensely synchronic provoked me to question that historiographical mode, however immensely productive New Historicism had been. Like classical philology, and possibly for the same revolutionary reasons (both wish to seal off one period from another as tightly as possible), New Historicism aimed to understand texts in their own, tightly bounded chronological context. That fertile movement was wonderfully promiscuous in its discursive purview, but severe in its refusal to challenge chronological periodization.21 On the contrary, New Historicism was driven in part by Foucauldian, French revolutionary historiographical persuasions, the premise of which is that history can be stopped, and started afresh. For Foucault, historical periods were hermetically sealed, and so participated in a larger 17 For which see Gadamer, Hans Georg: Truth and Method, trans. Joel Weinsheimer / Donald G. Marshall, London 21989, and the recent, profound reflection on Gadamerian hermeneutics by Pfau, Thomas: Minding the Modern: Human Agency, Intellectual Tradition and Responsible Knowledge, Notre Dame 2013, pp. 9–34. See also Simpson, James: Cognition is Recognition: Literary Knowledge and Textual ‘Face’, in: New Literary History 44 (2013), pp. 25–44. 18 I am of course mindful the example of Hudson, Anne: The Premature Reformation: Wycliffite Texts and Lollard History, Oxford 1988. 19 Simpson, James: Diachronic History and the Shortcomings of Medieval Studies, in: Reading the Medieval in Early Modern England, ed. by David Matthews / Gordon McMullan, Cambridge 2007, pp. 17–30. 20 For which see Grafton, Anthony: Defenders of the Text: The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800, Cambridge 1991: some early modern humanists, he says, “put the ancient texts back into their own time, admitting […] that success may reveal the irrelevance of ancient experience and precept to modern problems” (pp. 26–27). For the classic example of philology putting artifacts back into their precise temporal context, see Lorenzo Valla: On the Donation of Constantine, trans. G. W. Bowersock, Cambridge MA 2007. For a revisionist account of Valla scholarship, see: de Grazia, Margreta: A Story of Anachronism, in: Cultural Reformations, pp. 13–32. 21 For an account of the shape and force of New Historicism, see: Montrose, Louis: New Historicisms, in: Redrawing the Boundaries: The Transformation of English and American Literary Studies, ed. by Stephen Greenblatt / Giles Gunn, New York 1992, pp. 392–418.

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project of denying the intelligibility of one period to another.22 I found myself wishing to pursue a different philology, where the comparator texts are less synchronic and more diachronic, and where the accent was less on absolute alterity and more on connectedness. I did not want to identify wholly with texts from the past, in a loving embrace, but I did want to befriend them.23 I certainly did not want to treat them as complete strangers. For all these reasons, I found myself thinking about the way in which texts lean passionately into the future, whether the passion be of hope or fear. Great works of literature are, I found myself thinking, prophetic as they manifest what has been called symptoms of culture, and symptoms of where a culture is going. As I made these reflections, it occurred to me that medieval Biblical exegesis had a concept already prepared for me – the very concept I had rejected in the 1980s: the concept of anagogy. I therefore revisited anagogy. For I think I now understand how profoundly fertile this fourth sense might be in cultural understanding. Anagogy, that is, is less a kind of meaning to be extracted from a text, and primarily a process towards a future place or time, through which that meaning will be understood in time. Anagogy does not so much point to the theme of the heavenly Jerusalem, as point to a modality and a temporality of reading. It points to the heavenly Jerusalem as a utopian, future communitarian intelligibility, led up to by a process of understanding in time. The end of anagogy is the timeless place in which the reading community will be ready to read fully, and so fully understand a text as it has unfolded across history. To be sure, high medieval exegetes do rehearse the standard, and rather unilluminating thematic definition of anagogy, as heavenly reward. Thus Richard of St Victor in his Benjamin Minor (written before 1162) says this about anagogical understanding: For what do we call anagoge but the mystical and upward directive understanding? In the two previously mentioned [senses: i. e. allegory and tropology] there is sought a teaching of customs and of the mysteries. To anagoge belongs an advance insight into the rewards to be hoped for.24 22 For Michel Foucault’s understanding of historical periods as utterly distinct “epistemes” see Foucault, Michel: The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences, London 1970. At least one broadly New Historicist medievalist himself wrote about the ways texts point beyond their present: see Strohm, Paul: Chaucer’s Troilus as Temporal Archive, in: Theory and the Premodern Text, ed. by Paul Strohm, Minneapolis 2000, pp. 80–96. 23 See Watson, Nicholas: Desire for the Past, in: Studies in the Age of Chaucer 21 (1999), pp. 59–97, and, for an alternative account of friendly, not erotic relations with texts of the past, see Simpson, James: Confessing Literature, in: English Language Notes 44 (2006), 121–126. 24 Quid enim dicimus anagogen nisi mysticam et sursum ductivam supercoelestium intelligentiam? In praedictis duobus quaeritur doctrina morum et mysteriorum. Ad anagogen spectat sperandorum praevidentia praemiorum (Richard of St Victor: Benjamin Major, Patrologia

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Richard points, then (like any number of exegetes) to anagogical thematics of a simple kind. His teacher Hugh of St Victor (d. 1141), however, defines the much richer psychological and temporal modalities of anagogical reading: For the ascension or lifting up of the mind to the contemplation of things above is called anagoge. Such contemplation is anagogically veiled, in order that it shine all the more strongly; it is thus covered that it appear all the more clearly; its wrapping our elevation.25

Hugh’s account of anagogy, that is, is a way of reading. It is psychological and processual: the mind is certainly illuminated and raised, but the illumination is gradual. It happens in time (“that it shine all the more strongly … that it appear all the more clearly”). So powerfully is the ignorant beginning of the process related to its illumined end, that the dark beginning is itself transformed: “the shadowing of this truth is our illumination.” This kind of reading experience is premised on the idea that the utopian futurity of reading is to dispense with the need for reading altogether. Not only will the lapsarian conditions of present reading be transformed, but reading itself will be rendered otiose. Augustine imagines this surpassing of reading in his commentary on the gospel of John: But the fruit of faith is understanding, so that we may arrive at eternal life, where the Gospel would not be read to us, but he who has given us the Gospel would now appear with all the pages of the reading and the voice of the reader and commentator removed.26

This utopian position of reading is, of course, premised on the historicist persuasions of Christian eschatology, in which events in time also point to the end of time itself. Within this scheme we can have no access to, or example of, anagogical reading, since it’s possible only in the eschaton. That said, might we have access to Latina, ed. by Jaques-Paul Migne, 221 vols., Paris 1844–1864, 196, Col. 0200D.) Cited in and translation drawn from de Lubac: Medieval Exegesis (s. note 3), 2:181. 25 Anagoge enim, sicut dictum est, ascensio mentis, sive elevatio vocatur in contemplationem supernorum. Anagogice igitur circumvelatur, quia ad hoc velatur ut amplius clarescat; ob hoc tegitur ut magis appareat. Ejus igitur obumbratio nostri est illuminatio; et ejus circumvelatio nostri elevatio. (Hugh of St Victor, Commentariorum in hierarchiam coelestem…libri x, Patrologia Latina, ed. by Jaques-Paul Migne, 175, Col. 0946B), my translation, discussed in de Lubac, Medieval Exegesis, 2:183. De Lubac himself distinguishes between the ways in which anagogy prompts abstract theorization about final ends on the one hand, and the ways in which anagogy transports its subject into a contemplative state not reliant on signs. See de Lubac: Medieval Exegesis (s. note 3), 2:188–197. 26 Sed…fidei fructus intellectus, ut perveniamus ad vitam aeternam, ubi non nobis legatur Evangelium; sed ille qui nobis modo Evangelium dispensavit, remotis omnibus lectionis paginis, et voce lectoris et tractatoris, appareat. (Augustine, In Joannis evangelium, Tractatus 22, Patrologia Latina, ed. by Migne, 35, Col. 1575, discussed and translated in de Lubac: Medieval Exegesis, 2:188–189).

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more moderate and secular forms of the temporal unfolding of meaning and meaning making in humanly made books, “quo tend[imus]”? And might anagogy also apply to vernacular literature, whereby, as Chaucer says, new learning emerges from old books?: For out of olde feldes, as men sey, Cometh al this newe corn fro yeer to yere; And out of olde bokes, in good fey, Cometh al this newe science that men lere.

feldes fields corn grain fey faith science knowledge; lere teach27

Dante would agree. In one of his most intense poetic claims, affirms that he writes not only for present readers, but also for “coloro / Che questo tempo chiameranno antico” (“those who will call this time antique”] (Paradiso, 17, 119–20).28 Reading of this kind necessarily leaves contemporary readers with a sense of not having fully grasped a text. In Middle English writing, the most profound and explicit statement of such anagogical reading is made by Julian of Norwich (c. 1343-after 1416). Thus in the final chapter of her Revelation of Love (?1393), Julian declares that her text is “begonne by Goddes gifte and his grace, but it is not yet performed, as to my sight.”29 For, she goes on, “truly I saw and understode in our lords mening that he shewde it for he will have it knowen more than it is.” The text as we have it is only a start: Julian surprisingly declares in her final chapter that her text is “begonne [my emphasis].” The gradual fulfillment of visionary meaning is activated in Julian’s own two versions (anagogical texts will likely have more than one version), but there is more to come. More profoundly, the text’s completion, or “performance,” involves us as readers. Julian wants us to receive this text as “common and general.” It will be become applicable to all of us commonly and generally only, however, insofar as each of us is potentially and ideally unified with each other. For, says Julian, her visions are “common and general even as we are all one.”30 The existential state of the readership, that is, determines the ongoing reception and understanding of the text – its performance and its eventual obsolescence – through time. The 27 Chaucer: Parlement of Fouls, lines 22–25, cited from Geoffrey Chaucer: The Riverside Chaucer, ed. by Larry D. Benson, Oxford 1987. All further citations from the works of Chaucer will be drawn from this edition. The passage points itself to the ways in which books will be renewed in future readings. This is, aptly, used as the epigram to the second imprint of Thomas Speght’s 1598 edition of Chaucer’s works: The works of our antient and learned English poet, Geffrey Chaucer, newly printed, London 1598, STC 5079, image 1. 28 Dante Alighieri: La Divina Commedia, ed. by Natalino Sapegno, Florence 1979, Paradiso, 17.120. 29 Watson, Nicholas / Jenkins, Jacqueline (ed.): A Revelation of Love, in The Writings of Julian of Norwich, University Park, Pennsylvania 2006, Ch. 86, p. 379. 30 Watson, Nicholas / Jenkins, Jacqueline (ed.): A Vision Showed to a Devout Woman, in The Writings of Julian of Norwich, Section 6, p. 73.

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manuscript of the longer version declares the text to have ended: “The book of revelations of Julian the anchorite of Norwich ends”;31 Julian herself would take issue with that standard formula: on the contrary, her text has hardly started its hermeneutic and ethical unfolding – its performance – in time.

II Is, however, Julian’s exact contemporary Chaucer an anagogical and prophetic writer? We can define Chaucer as an anagogic author more precisely by looking to the exaggerated ways in which Protestant readers received him as a prophet. Protestant polemicists in the sixteenth and seventeenth centuries did indeed see Chaucer as a prophet, and as part of a small group of clear sighted pre-Reformation figures who understood the truth. Thus John Bale, in his Laboryouse Journey (1549), declares that, although the majority of pre-Reformation writers were “wholly given to serve Antichristes affectes in the parelouse ages of the Churche,” Yet were there som amonge them, whiche refusynge that office, sought the onlye glorye of their Lorde God. In the middest of al darkenesse, have some men by all ages, had the livynge sprete of Goddes children, what though they have in some thynges erred. Gal.iiii. Never yet were the spelunkes of Abdias wythoute the true Prophetes of God.32

That perspective generates post-Reformation literary history, as when, for example, Bale says that Langland, “on account of various and happy similitudes […] prophetically foresaw many things, which we have seen come to pass in our own days.”33 Chaucer was crucial to this self-confirming Protestant story, and Chaucer had to be remade to serve that crucial need. Thus the stridently anti-Papal The Ploughman’s Tale, first printed separately in 1535, was by 1542 incorporated in editions of Chaucer, and, by 1550, inserted in the Canterbury Tales, just before the

31 “Explicit liber revelationum Juliane anacorite Norwiche.” A Revelation of Love, ed. by Watson / Jenkins (s. note 29), Ch. 86, p. 381. 32 John Bale: The laboryouse Journey and serche of Johan Leylande for Englandes Antiquitees, London 1549, RSTC, 15445, C1v. 33 John Bale: Scriptorum illustrium maioris brytannie, quam nunc angliam et scotiam uocant, catalogus (John Oporinus, 1559) (Both the 1557 and the 1559 volumes are printed in this book, rpt. in facsimile, 2 vols., Farnsworth 1971, p. 474. My translation. See also the edition of Piers Plowman published in 1550, with a second edition, and reprinted in 1561: e. g. The vision of Pierce Plowman nowe the second time imprinted by Roberte Crowlye, London 1550, STC 19907, image 2.

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Parson’s Tale.34 1542 was also the year of the statute that banned, and ordered the destruction of, all books published before 1540 except the Bibles in English not translated by Tyndale, and the following: the King’s “proclamations, injunctions, translations of [some religious matter], Chronicles, Canterbury Tales, Chaucers bokes, Gower’s bokes, and stories of mennes lieves.”35 Post-1550 readers were, then, almost certain to have read Chaucer in editions that presented him as a true prophet of the Protestant present. Some post-1600 evangelical readers were no less concerned to see Chaucer as a prophet of the puritan present. In the second and third decades of seventeenthcentury England, revolutionary modernity started to take irreversible shapes in response to issues of how Christians might achieve pardon. This was the period when Puritanism became locked into the status of both party and sect. It was also the moment at which the uneasy but just manageable coalition of higher and lower in the English Calvinist Church, which had held since the Elizabethan Settlement of 1563, broke apart.36 The Puritanism that came into programmatic opposition to the English Church and monarch in this period produced, on the one hand, Presbyterian parliaments and the English Revolution, and, on the other, the flight of Independents to America. These mighty revolutionary forces, which would reshape English Constitutionalism and, no less, world history, were united above all, paradoxically, by predestinarian, Calvinist repudiation of free will in the matter of achieving divine pardon.37 What brought such active and intransigent concentration of Calvinist force into more programmatic shape was the arrival, from the Netherlands, of doctrines defending a moderated exercise of free will, in the form of Arminianism. With that qualified defense of free will suddenly available, particularly with the publication of Richard Montagu’s New Gag in 1624, the new king Charles I (reg. 1625–1649) effectively broke the Calvinist consensus: he proscribed any discussion of predestination after the York Conference of 1626. Oddly, we have a situation in which the reactionary, absolutist king defends free will, while his new-world, revolutionary opponents deny it. 34 For the history of Thynne’s inclusion of the Ploughman’s Tale in the Canterbury Tales, see Hudson, Anne: John Stow (1525?–1605), in: Editing Chaucer, ed. by Paul E. Ruggiers, Norman, Okla. 1984, pp. 53–70, at p. 59. 35 Tomlins, Thomas E. et al. (ed.): Statutes of the Realm, 11 vols., Dawsons, 1810–1828; repr. 1963, 34 Henry VIII, Chapter I.I, 3:895. 36 See Tyacke, Nicholas: Puritanism, Arminianism and Counter-Revolution, in: The Origins of the English Civil War, ed. by Conrad Russell, London 1973, pp. 119–143; and Tyacke, Nicholas: Anti-Calvinists: The Rise of English Arminianism, c. 1590–1640, Oxford 1987; and Wallace, Dewey D.: Puritans and Predestination: Grace in English Protestant Theology, 1525–1695, Chapel Hill 1982. 37 See Simpson, James: Permanent Revolution: The Reformation and the Illiberal Roots of Liberalism, Cambridge, MA 2019, pp. 98–99.

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In this extraordinary and pre-Revolutionary seventeenth-century moment, Chaucer was there, and thought to be prophesying all that came to pass. Chaucer’s works, duly Protestantized, had of course been published by Thomas Speght in 1598 (three editions) and 1602 (two editions).38 Calvinist Archbishop of Canterbury George Abbot, who was Archbishop from 1611 to 1633, cited Chaucer emphatically at least twice. Abbot isolates Chaucer as one of his own, a fellow evangelical. Thus he says, in his Treatise of the Perpetuall Visibilitie, and Succession of the True Church in all Ages (1624), that Chaucer “did at large paint out the pride, lascivious, vicious and intolerable behaviour of the Pope, Cardinals, and Clergy, even applying the name of Antichrist diverse times vnto the Romane Bishop,” for evidence of which he cites the Ploughman’s Tale.39 More extensively, in another text, Abbot enlists Chaucer as ahead of his time in promoting the key evangelical doctrine of predestination. For, in 1618 Abbot reissued an edition of the fourteenth-century De Causa Dei Contra Pelagium, by predestinarian Thomas Bradwardine (c. 1300–1349),40 himself also briefly Archbishop of Canterbury in 1349. In the preface Abbot cites Chaucer as a committed predestinarian, with citation of Chaucer’s putative approbation, “more suo iocis seria intertexens,” of Bradwardine in the Nun’s Priest’s Tale.41 One could also cite Simon Birckbek’s treatise The Protestants evidence taken out of good records (1634).42 The aim of the text is to prove that the True (evangelical) Church had always existed. Birckbek’s evidence is taken from a wide chronological range, but his intent is to affirm the continuous, visible existence of the True Church. When he comes to the fourteenth century, Birckbek cites what he takes to be Chaucer’s Ploughman’s Tale and the anti-fraternal Jack Upland

38 For 1598: The works of our antient and learned English poet, Geffrey Chaucer, newly printed (London 1598), reprinted three times: RSTC 5077, 5078, 5079. For 1602: The works of our ancient and lerned English poet, Geffrey Chaucer, newly printed (London 1602), reprinted twice: RSTC 5080, 5081. Both editions include the Ploughman’s Tale; the 1602 edition adds Jack Upland. See Pearsall, Derek: Thomas Speght ca. 1550–?, in: Editing Chaucer, ed. by Paul G. Ruggiers, pp. 71–92. 39 George Abbot: A treatise of the perpetuall visibilitie, and succession of the true church in all ages, London 1624, STC 39.3, image 40. 40 Thomae Bradwardini Archiepiscopi olim Cantuariensis: De causa Dei, contra Pelagium […]: iussu reverendiss. Georgii Abbot Cantuariensis Archiepiscopi, London 1618, STC 3534. 41 “Mixing, in his way, serious with playful matters.” Thomae Bradwardini Archiepiscopi olim Cantuariensis: De causa Dei (s. note 40), image 4. 42 Simon Birckbek: The Protestants evidence taken out of good records; shewing that for fifteene hundred yeares next after Christ, divers worthy guides of Gods Church, have in sundry weightie poynts of religion, taught as the Church of England now doth, London 1635; first published 1634, STC 3083. Neither Abbott nor Birckbek are mentioned by Spurgeon, Caroline F. E.: Five Hundred Years of Chaucer Criticism and Allusion 1357–1900, 3 vols., Cambridge 1925, or in: Brewer, Derek (ed.): Chaucer: The Critical Heritage, 2 vols., London 1978.

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(also attributed to Chaucer in the edition printed 1536).43 The weight of his citations falls, however, upon the authentically-Chaucerian Pardoner’s Tale. Birckbek summarizes his comments about the Pardoner with this citation from False Seeming’s speech in Chaucer’s Romance of the Rose translation, revealing in the process a wide reading of Chaucer’s oeuvre, and a well-informed reading of Chaucer’s sources for the Pardoner’s Prologue: Of Antichrist’s men am I, Of which that Christ sayth openly; They have habite of holinesse, And living in such wickednesse.44

Chaucer, that is, by this account, perfectly understood the total hypocrisy of the Catholic Church, as a harbinger of last days, via the hypocrisy of the Pardoner. To sign Chaucer up as a member of the True Church, and as a prophet in his own dark days, is to describe Chaucer as a prophet almost fully possessed of the truth, “what though,” as Bale says, “[he has] in some thynges erred.” For evangelical readers, God’s interventionist action in the world is immanent and legible to the elect in each moment, pre- or post-Christ. That produces less an account of historical unfolding and progressive revelation, and more a sequence of moments, each of which legibly replays the same intense drama. Thus the reading habits of Lutherans and, later, Calvinists effectively abolished anagogy proper, not only because they abolished four-fold-exegesis, but also because they abolished futurity. They did so by their insistence that the fullness of Scriptural meaning is permanently and fully available to the Elect at any given moment in history.45 Evangelicals thus read from the vantage point of the eschaton, and so render the unfolding of anagogical reading obsolete. They already know absolutely what the text means, as if from the end of time. They can enjoy certain knowledge because they already inhabit that totally visible future. That position legitimates their own assumption of the prophet’s mantle, as, for example, when William Tyndale (c. 1494–1536) encourages his clerical readers to model themselves on Old Testament prophets. Just as “many holy prophetes […] in the olde testamente dyd call the people backe and brought them agayne in tyme of aduersyte,” 43 Jack vp Lande compiled by the famous Geoffrey Chaucer, London 1536, STC 5098. The title page clearly signals the Chaucerian text as prophetic, with a quotation from Ezechiel: “Woe be unto you that dishonor me to the people for an handful of barley and for a piece of bread” (Ezechiel 13:19). 44 Birckbek: The Protestants evidence, image 177. The citation is drawn from Chaucer’s translation, The Romant of the Rose, Fragment C, lines 7009–7012 (the text as cited by Birckbek differs slightly from the Riverside text). 45 For which see Simpson, James: Burning to Read: English Fundamentalism and its Reformation Opponents, Cambridge, MA 2007, Chapter 6.

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so too did the “kynge in Goddes stede […] toke an oth of them, to be the lordes people and to turne agayn to the lordes couenaunte.”46 Such an evangelical account of permanent visibility contrasts with a more truly anagogic account of scriptural unfolding as given, for example, by Thomas More, in his Confutation of Tyndale’s Answer (1532–33): For God doth reveal his truths not always in one manner, but sometime he sheweth out at once […] Sometime he sheweth it leisurely, suffering his flock to come and dispute thereupon, and in their treating of the matter, suffereth them with good mind and scripture and natural wisdom, with invocation of his spiritual help, to search and seek for the truth, and to vary for the while in their opinions, till that he reward their virtuous diligence with leading them secretly in to the consent and concord and belief of the truth by his Holy Spirit […]. So that in the mean while the variance is without sin.47

Evangelicals, then, saw Chaucer as a prophet, but a prophet in their own image, as fully in possession of the truth. His texts do not unfold, but, like scripture as read by evangelicals, declare their incontrovertible and salutary truth literally. For evangelicals, the reader’s soul cannot be said to awake as a “trembling stranger, between two dim eternities,” since the reader’s soul is already in full and confident possession of the saving truth and a brightly-lit eternity. The reader’s soul already reads as from the eschaton. Chaucer was clearly not the kind of prophet Protestant readers would have had him be. For the most part, on the contrary, Chaucer expresses skepticism about prophecy, and avoids utopianism. In comic mode, Pertelote counsels the wouldbe visionary prophet Chaunticleer to dismiss his visionary dreams as merely the product of humoral imbalance, and to “taak som laxatyf” (Canterbury Tales VII.2943). In tragic mode, Chaucer also underlines the sheer difficulty of rising above the complex opacity of earthly existence to see beyond or above it. Thus in Book 2 of Troilus and Criseyde, Pandarus finds Criseyde reading a book with her women companions. “Is it of love?” Pandarus asks (2.97), to which Criseyde replies that it was in fact the narrative of the siege of Thebes, and that they had just got to point where Amphiorax, the one figure who does foresee the destruction of the multiple catastrophes that await all the Theban players, “fil thurgh the ground to helle” (2.105). Chaucer’s follower Lydgate gives full voice to prudential prophets in his narratives of both Thebes and Troy. These figures from within the text (e. g. Helenus, Amphiorax) courageously articulate the de-

46 William Tyndale: An exposycyon vpon the v.vi.vii. chapters of Mathewe, ?London 1536, STC 24441.3, image 92. 47 More, Thomas: The Confutation of Tyndale’s Answer, ed. by Louis A. Schuster / Richard Marius, et al., The Complete Works of St Thomas More, 8, 3 Parts, New Haven 1973, 1:248.

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struction that will ensue on going to war.48 But in Troilus and Criseyde this hairraising narrative of a prudential figure dying in spectacular horror is evoked only to be displaced by the edgy social comedy of Pandarus’s amatory manipulations. Chaucer’s classical epic forebears (Virgil and Statius) no less than England’s great epic poet Milton, all, in their different ways, shape poetic structures that point history forward into a future, and all write poems with explicitly prophetic passages. For Chaucer, by contrast, history appears to be one damn thing after another, whose only constant is the inconstancy of Fortune. Chaucer writes by natural order; unlike the epic poets he knows well, and, unlike Milton, he does not enter the dynamic of history by starting in the middle of things. Except for its self-interested prophet Calchas, its rhetorically brutal prophet Cassandra, and its far-sighted if mocking Epilogue, Troilus and Criseyde is embedded in the opacities of history. So embedded is it in history as lived that it can gain no secure foothold from which to mount clear-eyed prophecy. The poem instead occupies the lapsarian space of “fals and sooth [truth] compouned,”49 of experience as lived, whether the unpredictable lived experience be that of brutal war or of painful personal experience within Troy. Not only Criseyde, but the poem itself, with its ever-shifting, earth-bound temporal perspectives, has only two of Prudence’s three eyes – it can see past and especially present with exceptional clarity, but, as Criseyde says, “future tyme, er I was in the snare, / Kould I nat sen.”50

III Evangelicals, then, were clearly mistaken about the kind of prophecy Chaucer made, and the commitment to prophecy he entertained. In making such an argument, I operate like paid-up synchronic historicist. For the synchronic historicist, that is, all texts are only intelligible within their own terms and their own time. So, for such a historicist, any claim that a text is prophetic is by default wrong; synchronic historicist Nachleben studies are histories of mistaken presentism, of self-interest, and of error. Before we leave the matter there, however,

48 For which see Simpson, James: “Dysemol daies and Fatal houres”: Lydgate’s Destruction of Thebes and Chaucer’s Knight’s Tale, in: The Long Fifteenth Century: Essays in Honour of Douglas Gray, ed. by Helen Cooper / Sally Mapstone, Oxford 1997, pp. 15–33. 49 Chaucer, House of Fame, line 2108. 50 Chaucer, Troilus and Criseyde, 5.748–5.749. For a brilliant account of the delusions of prophetic hope as invested in the prophecies of Apollo in Chaucer’s Troilus and Criseyde, see Fumo, Jamie C.: The Legacy of Apollo: Antiquity, Authority, and Chaucerian Poetics, Toronto 2010, especially Chapter 3.

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what if we were to pause and ask whether or not evangelical readers like Abbot and Birckbek might be right in describing Chaucer as a prophet, of sorts? Does Chaucer draw on anagogy as I have defined it? Does Chaucer, that is, practice a form of prophetic writing, from a wounded present, that calls on its readership to contribute collaboratively to its resolution in time? That Chaucer was writing prophetically is not at all historically implausible, for he was surrounded by vernacular religious texts that did precisely this, even if none participates in Joachite millenarian traditions.51 In addition to Julian of Norwich, whose anagogy we have already considered, one could point to Piers Plowman, another anagogic text with many versions. This is a poem whose narrative through Biblical time, from past into present and then into prophetic future, cannot in my view be resolved as a text until all its readers identify with its narrator to become one will, the will of the long land.52 The greatest obstacle to that collaborative ethical effort is the damage being done to the sacrament of penance. That damage is so grave as fundamentally to weaken the Barn of Unity, so much so that the poem ends, prophetically in my view, with an isolated Conscience figure leaving the institution and crying tragically after grace, all sacramental resources having failed. Perhaps the readiest case for anagogical writing contemporary with Chaucer can be made for the “verray avision” of Pearl (?1390s).53 In that poem the dreamer witnesses the heavenly Jerusalem, but his premature yearning for incorporation in that timeless and utopian city sends him painfully back into the saeculum and into history. The painfully abrupt ending of the poem is not, however, without its promise of “quo tend[imus] [where we are headed],” since we are implicitly called upon as readers to make the utopian city possible. The poem’s first line is echoed yet altered by the pluralized last: “Perle, pleasaunte to prynces paye” (line 1), “And precious perlez unto his paye” (line 1212). The first line expresses devotion to a single pearl, possessed by the father, whereas the last marks the narrator’s acceptance of his identity with every other Christian soul. The referent of the pearl shifts across the poem, from the earthly to metaphorical to spiritual. In so doing, those referents imitate the constant upward and forward move in Scriptural exegesis, from “carnal,” literal readings to ultimately anagogic meanings. The crit-

51 For which see Aers, David: Beyond Reformation? An Essay on Langland and the End of Constantinian Christianity, Notre Dame, IN 2015, Section 12, and Kerby-Fulton, Kathryn: Reformist Apocalypticism and Piers Plowman, Cambridge 1990. 52 Simpson, James: The Power of Impropriety: Authorial Naming in Piers Plowman, in: William Langland’s Piers Plowman: A Book of Essays, ed. by Kathleen M. Hewett-Smith, New York 2001, pp. 145–165. 53 Andrew, Malcom / Waldron, Ronald (ed.): The Poems of the Pearl Manuscript, revised edition, Exeter 1987, line 1184. Letter forms have been modernized.

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ical turning point is made by reference to the parable of the pearl of great price (Matt. 13. 45–46), ‘the joueler gef fore alle hys god’: For it is wemlez, clene, and clere, And endelez rounde, and blythe of mode, And commune to alle that ryghtwys were. (lines 737–739)

wemlez spotless blythe of mode radiant in spirit ryghtwys righteous

This is the pearl of salvation that must be “bought” by the dreamer himself. The poem has, however, now made it clear that all readers are part of this utopian project, since the pearl is, like Julian’s vision, “commune to alle that ryghtwys were.”54 What, though, of the texts chosen by our early seventeenth-century evangelical to exemplify Chaucer as prophet? Abbot’s choice of the Nun’s Priest’s Tale as evidence of Chaucer’s belief in predestination is clearly vulnerable. But Abbot might, however, prompt us to start with that opaque and amusing passage as a symptom of culture; once we do that we also turn to a passage in which Chaucer clearly does take predestination dead seriously. In Book 4 of Troilus and Criseyde, Troilus delivers a dark, 19-stanza, unabsorbed meditation on divine “predestine” (4.953–1082), when he is “so fallen in despeyr…That outrely [certainly] he shop him [prepared himself] for to deye” (4.954–55). This a pre-play of the psychic drama of any number of evangelicals in the sixteenth and seventeenth centuries.55 Secondly, we might reflect that when we as scholars explicate this philosophical passage, we tend, not unreasonably, to turn backwards, to the authors Chaucer himself mentions, particularly Augustine, Boethius and Bradwardine.56 We tend not to look forwards, to the fact that the issue of predestination is, in evangelical culture, twinned with the dismissal of the sacrament of penance. Both these issues, which energize each other, will exert mighty, worldchanging pressure within just over a century of this passage’s composition.57 Chaucer’s despairing Troilus, no less than his suffering Criseyde, might be looking forward as much as backwards as he endures both emotional and theological pain. Birckbek’s choice is the Pardoner’s Tale. Is it prophetic? Is it anagogic? Does Chaucer imagine the “anagoge,” or “leading up” of a utopian reading?

54 I warmly acknowledge the work of Michelle de Groot, whose Ph.D. dissertation persuasively develops this aspect of Pearl. 55 For which see the brilliant book by Stachniewski, John: The Persecutory Imagination: English Puritanism and the Literature of Religious Despair, Oxford 1991. 56 As, for example, Gordon, Ida L.: The Double Sorrow of Troilus: A Study of Ambiguity in Troilus and Criseyde, Oxford 1970, Chapter 2. 57 See Wallace, Puritans and Predestination (s. note 36).

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The Canterbury Tales do offer at least one clear example an anagogical narrator. Thus the Parson encourages us, by citation of the prophet Jeremiah, to “stand upon the weyes”; he commands us accordingly “seeth and axeth of olde pathes,” so as to make out the future of “Jerusalem celestial,” where “ye shal fynde refresshynge for youre soules.”58 As Chaucer’s pilgrimage nears Canterbury Cathedral in the saeculum, the Parson encourages the pilgrims to a raised, spiritual, anagogic journey to the celestial Jerusalem. That upward journey can be undertaken only by the ethical collaboration of the pilgrims, however, since “This wey is cleped penitence.” Penitence, however, is precisely the sacrament that is fundamentally damaged in the Canterbury Tales (1390s), as it is in Piers Plowman (written in at least three versions c. 1367–?1388). The Friar and Summoner abuse it, but no one more so than the Pardoner. In his tale and its surrounds, pardon and therefore penitence is impossible, since, inside and outside the tale itself, the vortex of sin is so aggressive, so rapid, so decided as to disallow the reflective intervention of repentance and restitution. The Pardoner himself derives, of course, from a powerfully prophetic, ecclesiological conception. William of St Amour’s self-consciously prophetic De periculis novissimorum temporum (1256) is the ultimate source for the figure of the hypocrite ecclesiast as expressed by Chaucer. William directed his moral attack on the friars as “pseudo” preachers, but, as the title of his work suggests, his larger scheme is ecclesiological and temporal. The friars are signs of the last times, forerunners of Antichrist, who “are false; it even appears that through such men the dangers of the last times will threaten or already are threatening the entire church.”59 When, then, the Pardoner begins his tale by declaring that the revelers “doon the devel sacrifise / Withinne that develes temple in cursed wise” (VI.469–470), he evokes a very much wider attack, not so much on tavern doings, as on the Church itself, the very Church that is populated not only by rapacious friars (and we have already seen on of these in the Tales), but also by Pardoners bearing their authorization of “bulles of popes and of cardynales” (VI.342). This is the Church described 130 years later by evangelicals as essentially and lethally hypocritical, and a Church whose relics were never anything but fraudulent brica-brac, with nothing but a broken and irreparable connection to a dynamic past. The “devil’s temple” of the tale threateningly predicts what some readers nearly contemporary with Chaucer were already prepared to declare – that the Church itself had become the Devil’s Church, populated by “sellers of sacramentis,” institutionally authorized by a “special lettir of lisence, that is clepid the 58 The Parson’s Tale, lines 77–81. 59 William of Saint-Amour: De periculis novissimorum temporum, ed. by G. Geltner, Paris 2008, p. 59.

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mark of this beest antichrist,” as the Lollard, not to say Donatist Lantern of Light (c. 1410) puts it.60 In the 1390s the appalling possibility that the Church was wholly hypocritical and murderous has a large, long and violent future ahead of it. Anagogical narratives will not be wholly absorbable into their own present. That inability to be absorbed is most powerfully expressed from within the Pardoner’s Tale by the old man whom the young rioters meet when first they set out to find and kill Death. The old man, despite longing for Nature to let him die, cannot die.61 Like Spenser’s figure of Despair,62 constantly trying and failing to kill himself, the old man can only forever diminish, “vanish[ing], flesh and blood, and skin” (VI.732). In a purely material, death dominated world deprived of sacramental renewal of any kind, the old man articulates a searing state of existential loneliness. He must forever walk “lik a restelees kaityf [wretch],” since “Deeth, allas, ne wol nat han my lif!” (VI.726–727). The old man (Chaucer’s addition to the tale) stands in searing isolation from both the scheme of generation and from sacramental renewal of any kind.63 That isolation evokes the Pardoner himself. For, just as the isolated old man cannot be absorbed by the tale itself, so too the Pardoner cannot be absorbed at the end of his tale-telling. He remains profoundly, prophetically isolated, in his open hypocrisy, from all his fellow, vernacular-reading pilgrims. The Pardoner refuses to speak, and the Host refuses to “pley” any more with the Pardoner (lines 956–959). The Knight intervenes at this crucial moment of potential collapse (the only such moment in the entire Canterbury pilgrimage) to reconcile Pardoner and Host. The Pardoner’s extrusion from the pilgrimage is prophetic, but so too is the attempt to reabsorb him. For that reabsorption is itself, also prophetically, full of danger. In the first place, it’s significant that only a secular figure, the Knight, is capable of intervening effectively. The ecclesiastical figures of Friar and Summoner are, for example, too imbricated in the system corrupted by the Pardoner, or too marginal, like the Parson, to exercise authority. The intervention of secular authority in the secular person of the Knight itself points to a future for the English Church, which will soon be incapable of resolving its internal dissention.

60 Swinburn, Lilian M. (ed.): The Lanterne of Light, EETS, 151, London 1917, p. 132 and p. 14 respectively. 61 See Patterson, Lee: Chaucer’s Pardoner on the Couch: Psyche and Clio in Medieval Literary Studies, in: Speculum 76 (2001), pp. 638–680, at p. 657. Patterson’s essay is an exemplary instance of synchronic historicism. 62 Edmund Spenser: Faerie Queene, ed. by Thomas P. Roche, London 1987, Book 1, canto 9. 63 See Correale, Robert / Hamel, Mary: Sources and Analogues of the Canterbury Tales, 2 vols., Cambridge 2002–2005, for the sources of the old man (Elegy 1 of Maximianus), 1:312– 19.

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More darkly, the Knight’s apparent reconciliation replicates some of the most threatening features of the Pardoner’s tale. Host and Pardoner draw near at the Knight’s instigation, in order to reinstate the festive order of the pilgrimage, whereby they “laughe and pleye.” And so “Anon they kiste, and ryden forth hir weye” (VI. 967–968). The very attempt of readers to exercise an ethically restorative and communitarian act is, however, pregnant with danger. For the pardoning embrace of the Pardoner, to re-establish the “pleye” of the Canterbury Tales, has a murderous, hypocritical exemplum within the tale. The two revelers plan to murder the third; when the third arrives back, says one reveler to another, Aris as though thou woldest with him pleye; And I shal ryve him thurgh the sydes tweye Whil that thou strogelest with him as in game. (VI.827–829)

ryve stab

Embracing the hypocrite is potentially to participate in his hypocrisy. To forgive and to accept a hypocrite, as in Jean de Meun’s Roman de la Rose (c. 1370), and as in Langland’s Piers Plowman (c. 1365–1380s), is to step onto a fraught and very treacherous line.64 In the Roman de la Rose, the God of Love accepts False Seeming into his entourage (line 1093), who will later murder the figure, Malbouche (Evil Tongue) who trusts in him. In Piers Plowman Conscience fatally weakens the Church by admitting the flattering, hypocritical friar into the building (B.20.356). By forgiving the hypocrite, we become the hypocrite’s victim. But by badmouthing the hypocrite, we also become the hypocrite’s victim.65 Chaucer’s Pardoner’s Tale is prophetic, then, in a variety of ways. It is also anagogic insofar as it adumbrates a future. The fact that this tale, like Piers Plowman, was drawn upon or referred so often in the following 150 years or so,66 itself points to its engagement with futurity (anagogical texts will often have a rich and contested Nachleben as they ripple forward in history).67 The Pardoner’s Tale is also anagogical insofar as we as readers are involved in resolving the profound failings represented by its narrator. Anagogical texts will also represent a readership in dispute about a text’s meaning, precisely because the text cannot be absorbed into its own present, and requires a future for resolution. In all these 64 For the example from Piers Plowman, see Simpson, James: Piers Plowman: An Introduction to the B-Text, second, revised edition, Exeter 2007, p. 211. 65 See Guillaume de Lorris / Jean de Meun: The Romance of the Rose, tr. Frances Horgan, Oxford 1965, lines 12097–12380. 66 A very partial list: Lydgate’s Siege of Thebes (c.1420); the pseudo-Chaucerian Tale of Beryn (c. 1420); John Heywood: The Pardoner and the Frere (published 1533); Thomas More’s Dialogue Concerning Heresies (1529), and the seventeenth-century authors cited in this essay. 67 For the contested afterlife of Piers Plowman, see Simpson, James: Grace Abounding: Evangelical Centralization and the End of Piers Plowman, in: Yearbook of Langland Studies 14 (2000), pp. 1–25.

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ways, the tale is properly anagogic. It certainly does not adumbrate a utopian future, since the viciousness of the Host’s response (VI.946–955) tells us that these issues will prompt convulsion and vicious civil war, involving many abused martyrs and secular intervention, before they are properly, or at least partially, resolvable. Chaucer is an anagogical writer in all but utopianism. His passion for the future is the passion of fear.

IV Anagogy, as defined by medieval exegetes, and as practiced by Harriet Beecher Stowe, is inexplicit and visionary. To draw on Macrobius’ early fifth-century neoPlatonic genres of prophetic dream writing with which Chaucer was certainly familiar, the anagogic writer produces visio rather than oraculum.68 If Chaucer disowns prophecy on the Biblical model, and if he certainly does not write oracular prophecy, I suggest nonetheless that some of his texts are prophetic, where the “light shines only on a small space around [him].” Whereas anagogy classically expresses a profound desire for the future from a broken and wounded present, “yearn[ing] towards the unknown,” Chaucer foresees, though recoils from, a sacrament-deprived future, in which the soul, “lik a restelees kaityf,” faces existential loneliness and irresolution.69 In conclusion, we can say that many Middle English texts say, as Christ says in another great anagogical text, “My time has not yet come” [Tempus meum nondum advenit] (John 7:6). The anagogic text will most likely exhibit some or all of these characteristics: it is, as defined by medieval exegetes, and as practiced by Harriet Beecher Stowe, inexplicitly prophetic (the anagogic writer produces visio rather than oraculum, and we meet textual resistance as we descry the embedded future); an extra-literary crisis; different versions; crises of representation; unabsorbed narrative and/or formal features that cannot be accommodated in the here and now of the text; a sense of its own woundedness; an appeal to readers to make or avoid the future predicted by the text; and a significantly divergent, contested reception history. Anagogy classically expresses a profound desire for the future from a broken and wounded present, “yearn[ing] towards the unknown.” In the Pardoner’s Tale, however, as in many other works of the late fourteenth-century premature Reformation, Chaucer foresees, though recoils from, a sacrament-deprived future. 68 For which terms, see Spearing, Anthony C.: Medieval Dream Poetry, Cambridge 1976, Chapter 1. 69 For a parallel argument with regard to Langland, see Simpson: Grace Abounding (s. note 67).

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Anagogical texts, then, are in some ways prophetic of things to come, even if they sometimes prophesy unwanted futures. They are premised on history not having stopped. Instead they capture and channel historical currents so as to produce a rippling effect across history. The job of the diachronic philologist is to trace the shape and intensity of those ripples, and thereby to reactivate many of the narratives neutralized and prohibited by the periodic strictures of our disciplinary categories.

Beatrice Trînca

aber ietzent. Asynchronie und Außerzeitlichkeit in der Passionspietät (Interrogatio Sancti Anselmi, Minnebüchlein)

Einen toten Gott sucht man im Mittelalter meist vergeblich.1 Der Sohn Gottes vereint aber in seiner Person Divinität und Humanität.2 Sein Sterben – in der Spätantike ein Skandal (1 Kor 1,23f.) –3 führte man sich vor allem in der spätmittelalterlichen Hochphase der Passionsfrömmigkeit stets vor Augen: in einem drastischen anatomischen Realismus,4 der den Menschen Christus betrifft, und im Bewusstsein, dass seine göttliche Natur intakt bleibt. Denn sie ist ein wort des vatter, ein ende und ein anevang aller dinge (554,17f.), wie es das Minnebüchlein in einem Apokalypse-Zitat (Offb 22,13)5 formuliert.

1 Vgl. aber Pluta, Olaf: „Deus est mortuus“ – Nietzsches Parole „Gott ist tot!“ in einer Geschichte der Gesta Romanorum vom Ende des 14. Jahrhunderts, in: Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance, hg. v. Friedrich Niewöhner / dems., Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 12), S. 239–270. 2 Zur Zwei-Naturen-Lehre vgl. etwa Markschies, Christoph: Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München 2016, S. 19f., 398. 3 Vgl. Grillmeier, Alois: Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christlichen Überlieferung, in: Zeitschrift für katholische Theologie 71 (1949), S. 1–53, hier S. 28 und Köpf, Ulrich: Passionsfrömmigkeit, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Horst Robert Balz u. a., Bd. 27, Berlin / New York 1997, S. 722–764, hier S. 723: „Der Gedanke an menschliche Schwächen und Leiden des Gottessohnes ist der frühen Christenheit schwer erträglich. In dieser Haltung wirken wohl verschiedene Motive zusammen: Rücksicht auf die heidnische Umwelt und ihr religiös-ästhetisches Empfinden, die logische Plausibilität der antiken Vorstellung von der Apathie Gottes, Ehrfurcht vor der Majestät des göttlichen Logos und die Sorge um eine Gefährdung der eigenen Erlösung durch Schwächen des Erlösers.“ 4 Vgl. dazu Trînca, Beatrice: Mehrfach Gethsemane. Einsamkeit in Christi Leiden in einer Vision geschaut, in: Kulturen der Einsamkeit, hg. v. Ina Bergmann / Dorothea Klein, Würzburg 2020 (Würzburger Ringvorlesungen 18), S. 97–113. 5 Die Bibel wird zitiert nach Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch, hg. v. Andreas Beriger / Widu-Wolfgang Ehlers / Michael Fieger, 5 Bde., Berlin / Boston 2018. Das Minnebüchlein findet sich in: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 537–554.

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Der transzendente Logos verlässt – darauf bestand man seit der Spätantike – zu keinem Zeitpunkt den Christuskörper.6 Diese Prämisse führt in der Passionspietät zu wiederholten Perspektivenwechseln zwischen zeitloser Vitalität und historischem Tod, die, dies soll folgende Analyse exemplarisch demonstrieren, Meditationstexte und ihre komplexe Zeitstruktur bestimmen. Mein Interesse gilt dem rhetorischen Umgang mit Zeit im ideen- und kulturgeschichtlichen Kontext der spätmittelalterlichen Frömmigkeit. Das Opfer Christi7 wird an der Schnittstelle verschiedener Zeitordnungen gedacht. Die Evangelien, die in Lesung und Meditation aktualisiert werden, legen im Passionsabschnitt ein starkes temporales Bewusstsein an den Tag. Dieses integriert eine massive Störung, als das nahe Ableben des Gottessohnes den Tagund-Nachtrhythmus außer Kraft setzt und es tagsüber finster wird.8 Dieser Tod verfügt über kosmische Resonanz. Die Exegese sieht wiederum das Opfer alttestamentlich – in der Genesis, im Hohelied, im Psalm 21 etc. – präfiguriert und eruiert seine eschatologischen Konsequenzen, so dass es zum zentralen Geschehen in der Makrostruktur der Heilsgeschichte wird. Passionstraktate, die die Leidensgeschichte rekapitulieren, fassen den Tod Christi zwar als Wiedergutmachung der Ursünde auf,9 aber auch als Pervertierung des Schöpfungsaktes. Der Sohn dessen, der den Menschen nach seinem bzw. Christi10 Ebenbild erschuf, verkommt in der Passion zur Un-Gestalt – um dann in Vollkommenheit aufzuerstehen. Um der Analogie und des Kontrasts willen bewegt man sich gedanklich vor- und rückwärts auf der Zeitachse des Heils zwischen Genesis und Apokalypse.11 Die Passionstraktate gehören zudem in den größeren Kontext einer religiösen Praxis, die das historische Opfer in Liturgie und Meditation, im gemeinschaftlichen Ritual, insbesondere in der Eucharistiefeier, und in wiederholter persönlicher Einkehr, imaginär und zeichenhaft in verbindlichen Zyklen vergegenwärtigt.12

6 Vgl. Grillmeier, Alois: Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christlichen Überlieferung (Fortsetzung und Schluß), in: Zeitschrift für katholische Theologie 71 (1949), S. 184–203 und Beinert, Wolfgang: Inkarnatorischer Radikalismus. Die Ausgestaltung der Descensus-Lehre im Abendland, in: Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos, hg. v. Markwart Herzog, Stuttgart 2006, S. 53–86, insbes. S. 69f. 7 Vgl. dazu etwa Bynum, Caroline Walker: Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007, S. 229–256. 8 Vgl. Mt 27,45, Mk 15,33, Lk 23,44. 9 Vgl. Röm 5,12–14; 5,18f. 10 Vgl. Markschies: Gottes Körper (s. Anm. 2), S. 406f. 11 Insofern erstere aus der Ewigkeit hervorgeht und letztere in Ewigkeit mündet, vollzieht der Geschichtsverlauf eine Kreisbewegung. 12 Der Passionstraktat Christi Leiden in einer Vision geschaut weist zum Beispiel die Struktur des Stundengebets auf.

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Passionsliteratur exponiert darüber hinaus immer wieder den Hiat, aber auch – auf Grund der Zwei-Naturen-Lehre oder in Wunder-Narrativen – die Interferenz von Atemporalität und Immanenz,13 die im Folgenden im Fokus steht. Als Inkarnierter partizipiert Christus bis zu seinem Tod am immerwährenden Wandel der geschaffenen Erscheinungsformen, der Zeiträume sichtbar werden und entstehen lässt.14 Er ist gleichzeitig Gott. Im Auferstehungskörper, der seinen materiellen Ursprung im Augenblick der Fleischwerdung sowie – durch den Tod hindurchgegangen – endlos Bestand hat, unterliegt er dem Regime der Ewigkeit und kann sich im Diesseits offenbaren. Als Überforderung der Chronologie, fortwährendes Jetzt, „Allgleichzeitigkeit“,15 Fülle der Zeit16 und Stillstand17 lässt sich Ewigkeit nur in Relation zur Dimension Zeit begreifen, der sie sich entzieht. 13 Zur Inkommensurabilität zwischen Transzendenz und Immanenz vgl. Strohschneider, Peter: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Alexius, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, hg. v. Gert Melville / Hans Vorländer, Köln u. a. 2002, S. 109–148. 14 Vgl. Aurelius Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse (Lateinisch / Deutsch), übers., hg. u. kommentiert v. Kurt Flasch / Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009, XII,8, S. 634f. Zum Zeitkonzept Augustins vgl. Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2016 [1993] und Dinshaw, Carolyn: How Soon is Now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time, Durham / London 2012, S. 12–16. 15 Koch, Elke: Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik), in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Susanne Köbele / Coralie Rippl, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14), S. 75–99, hier S. 87. Zur „Gleichzeitigkeit im Zeichen der Heilsgeschichte“ vgl. v. a. auch Herberichs, Cornelia: Zur Zeit des Jüngsten Gerichts. Das Berliner Weltgerichtsspiel als Medium von Gleichzeitigkeit, ebd., S. 321–350, S. 322 (Zit.) und Kohnen, Rabea: Dezente Synchronisierung und asynchrone Präsenz. Zur Gestaltung der Gleichzeitigkeit im Orendel, ebd., S. 235–254. Zur Zeitlichkeit von Anderswelten vgl. Klinger, Judith: Anderswelten, in: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch, hg. v. Tilo Renz / Monika Hanauska / Mathias Herweg, Berlin / Boston 2018, S. 13–39. 16 Meister Eckhart spricht von einem Nun, das „alle Zeit in sich“ begreift: Nime ich aber nû, daz begrîfet in im alle zît. Meister Eckhart: Werke I. Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. und kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008, Pr. 9, S. 104f. Vgl. dazu auch Werke II, S. 810f. und Largier, Niklaus: Time and Temporality in the ‚German Dominican School‘. Outlines of a Philosophical Debate Between Nicolaus of Strasbourg, Dietrich of Freiberg, Eckhart of Hoheim, and Ioannes Tauler, in: The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and its Reception in Early Modern Philosophy, hg. v. Pasquale Porro, Leiden u. a. 2001, S. 221–253. 17 Bei Gott ist laut Augustinus „alles ewig und zugleich“, simul ac sempiterne omnia. Augustinus: Confessiones (s. Anm. 14), XI,9, S. 576f. Das bedeutet Stillstand: Quis tenebit cor hominis, ut stet et videat, quomodo stans dictet futura et praeterita tempora nec futura nec praeterita aeternitas? „Wer nimmt das Herz des Menschen in die Hand, dass es zur Ruhe komme und sehe, wie die Ewigkeit in ihrem Stillstand das Zukünftige und das Vergangene bestimmt, ohne selbst zukünftig oder vergangen zu sein?“, ebd., XI,13, S. 582f.

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Überzeitlichkeit und temporal strukturiertes Diesseits begründen mithin eine Asymmetrie, die in den Traktaten besonders beim toten Christus vor der Grablegung virulent wird.18 Dass man sich in der Konfrontation mit dem Toten zeitgleich den Ewigen vergegenwärtigt, bildet, soweit ich sehe, eine Konstante in ausführlichen Retextualisierungen der Leidensgeschichte, die insofern von den Evangelien abweichen.19 Diese Interferenz wird durch ein temporales Gerüst zur Geltung gebracht, welches den Gegenstand folgender Analyse bildet. Passionsnarrative dienten, wie auch Bildmedien, als Anregung und Partitur für den empathischen Nachvollzug des Erlösungsgeschehens.20 Sie bildeten die Grundlage für compassio-Übungen, die mitunter ihrerseits innertextlich zur Sprache kommen. Geübt wurde die imaginäre Aktualisierung vergangener21 Heilsereignisse (die den eigenen Körper einbeziehen konnte) mit Blick auf die zukünftige individuelle Erlösung. In den Texten verleihen Detailliertheit und Auftritte von Augenzeugen, allen voran Marias, dem Leidensweg Christi affizierende Plastizität. Gläubige können auf diese Weise die Passion als geistige Zeugen miterleben sowie ggf. die textinterne Meditation und die in diesem Zuge zur Schau gestellte emotionale Überwältigung nachahmen. Sie können sich insbesondere den Passionschristus vor Augen führen, dem sie affektiv verbunden sind.22 Dass compassio Vergegenwärtigung bedeutet, macht sie zu einem aussagekräftigen Beispiel für temporale Verschränkung, für das, was Carolyn Dinshaw als Asynchronie konzeptualisiert. Gemeint ist eine Simultaneität verschiedener Zeitmomente (‚-synchronie‘) im Bewusstsein, dass sie chronologisch 18 Dazu, dass sich „das Wesen Christi […] im triduum mortis besonders enthüllt“, vgl. Grillmeier: Der Gottessohn (s. Anm. 3), S. 23 (Zit.) und passim. 19 Selbst der vielleicht düsterste Traktat, Christi Leiden in einer Vision geschaut, thematisiert die Auferstehung im Moment des Todes. Vgl. auch den Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen. 20 Vgl. Largier, Niklaus: Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007, insbesondere S. 31–123; Largier, Niklaus: Gloria passionis. Zur Affektkultur der christlichen Mystik des Mittelalters, in: Handbuch Literatur & Emotionen, hg. v. Martin von Koppenfels / Cornelia Zumbusch, Berlin / Boston 2016, S. 244–260. Zu Meditationskonzepten der Zeit vgl. Karpov, Kirill V.: Lectio divina, meditatio, oratio, contemplatio as Basic Categories of Medieval Spirituality, in: European Journal for Philosophy of Religion 7 (2015), S. 125–136, insbes. S. 127, 129–135. 21 Christian Kiening sieht darin eine temporale Verschränkung, die zu einer „Entdifferenzierung von Vergangenheit und Gegenwart“ führt. Kiening, Christian: Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi, in: Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, hg. v. dems. / Aleksandra Prica / Benno Wirz, Zürich 2011, S. 121–137, hier S. 133. Vgl. auch Kiening, Christian: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016 und ders.: Erfahrung der Zeit. 1350–1600, Göttingen 2022. 22 „[D]esire can reveal a temporally multiple world in the now“. Dinshaw: How Soon (s. Anm. 14), S. 5 (Herv. i. Orig.).

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nicht übereinstimmen, worauf sich das Präfix ‚A-‘ bezieht.23 Indem sie in frommer Betrachtung Aktualität gewinnt, kann die Passion Christi unter Umständen Reaktionen hervorrufen wie diejenige der begnadeten Margery Kempe, die bei Anwesenden Befremden auslöste.24 Dem Book of Margery Kempe, dessen ältester Überlieferungsträger um 1440 entstand, entnimmt Dinshaw eine extreme Form der compassio als Beispiel für Asynchronie: Margery sees an image of the Blessed Virgin Mary holding the dead Christ – a pietà – and is absolutely overcome by this sight: „And thorw [through] the beholdyng of that pete [pietà] hir mende [mind, B.T.] was al holy ocupyed in the Passyon of owr Lord Ihesu Crist & in the compassyon of owr Lady, Seynt Mary, be [by] whech sche was compellyd to cryyn ful lowde [loud] & wepyn [weep] ful sor, as thei [though] sche xulde a [would have] deyd“ (148). The good lady’s priest holds a more distanced perspective, however: „Damsel,“ he says to the convulsed Margery, „Ihesu is ded long sithyn“ [Jesus is long since dead] (148). Provoked by this dismissal, Margery responds to his cool detachment with a scorching rebuke: „Sir, hys deth is as fresch to me as [as if] he had deyd this same day, & so me thynkyth it awt [ought] to be to yow & to alle Cristen pepil. […]“ (148). […] Margery, in his view, is a pathetic anachronism […]. Her time, her present, her now, is invaded or infused by the other: the pietà out there becomes the pity in her. That’s what it feels like to be asynchronous […].25

Sich die Passion Christi lebensecht vor Augen zu führen, bedeutet, asynchron zu werden. In ihrer Immersion ins Vergangene scheint Margery das Bewusstsein für die Überlappung zweier Zeitmomente (Zeit der Passion und Zeit der compassio) abhanden zu kommen. Sie vergisst weithin ihre eigentliche Gegenwart, die Leserinnen und Leser sind sich aber der temporalen Verschränkung, der Asynchronie bewusst. 23 Vgl. Dinshaw: How Soon (s. Anm. 14), insbes. S. 5. Das Verdienst des Konzepts von Dinshaw besteht vor allem darin, dass es den Blick für temporale Vielschichtigkeit schärft. Dinshaw hebt insbesondere zwei Modelle von Asynchronie hervor: die Verschränkung verschiedener Zeitmomente (z. B. das, was bereits Augustin beschäftigt: die Erinnerung an Vergangenes und die Zukunftserwartung zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt) und die Überschneidung verschiedener Zeitregimes (z. B. agrarische, genealogische, heilsgeschichtliche und liturgische Zeit). Vgl. ebenda, S. 5–16. Vgl. zu den Zeitregimes auch Friedrich, Udo / Hammer, Andreas / Witthöft, Christiane: Anfang und Ende, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. v. dens., Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 3), S. 11–27, insbes. S. 13. Zu ‚asynchron‘ im Sinne von ungleichzeitig vgl. Kohnen: Dezente Synchronisierung (s. Anm. 15). 24 Zum Book of Margery Kempe als kirchlich anerkanntem und offiziell tradiertem Text sowie zu den Verbindungen des Textes zum deutschsprachigen Raum vgl. Kügeler-Race, Simone: Frauenmystik im europäischen Kontext: The Book of Margery Kempe und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts, Wien 2020 (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 2). 25 Dinshaw: How Soon (s. Anm. 14), S. 105–107 (Kursivierungen i. Orig.). Dinshaw zitiert die Ausgabe von Sanford B. Meech / Hope Emily Allen von 1940, weil es ihr auch um Wissenschaftsgeschichte geht.

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Dinshaw sieht in Margerys „present, her now […] invaded or infused by the other“ schon eine „absorption in the everlasting now of divine eternity“.26 Ewigkeit hätte Margery absorbiert. An der Unterscheidung zwischen (häufiger) Vergegenwärtigung der Passion und fortwährendem Jetzt der Ewigkeit würde ich allerdings gerade mit Blick auf die im Folgenden analysierten Texte festhalten. Sie stellt die Differenz zwischen Asynchronie und Außerzeitlichkeit dar. Durch die Konzentration auf den Leichnam, auf Marias und vor allem auf Margerys compassio blendet die zitierte Episode die überzeitliche Realität aus. Andere umfangreichere Retextualisierungen der Leidensgeschichte lassen indes die erweiterte Perspektive auf die ewige Existenz des toten Christus zu, der gleichzeitig der Ordnung der Transzendenz angehört. Passionsnarrative zeugen häufig von einer Frömmigkeit, die sich bereitwillig auf die Grausamkeit des Leidens einlässt, dann aber ungeduldig und zuversichtlich die Auferstehung vorzieht oder zumindest im Blick behält – wie folgende Beispiele belegen. Der fingierte Dialog Anselms von Canterbury mit der Heiligen Maria, die anonyme Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini, bildet eine wirkmächtige Quelle späterer Passionstraktate.27 Sie entstand vermutlich im deutschsprachigen Raum. „Älteste lateinische H[andschriften] stammen wohl aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts“.28 Im Deutschen war der Text bis ins 16. Jahrhundert weit verbreitet, „mit einem deutlichen Schwerpunkt im 15. Jahrhundert“.29 Marias Befragung findet im Rahmen einer Vision statt (beata Virgo ei apparuit et dixi […], Sp. 271).30 Über das Gespräch berichtet eine zurückhaltende heterodiegetische Instanz, die den Dialog fast ohne inquit-Formeln wiedergibt. Die Ereignisse werden vermittelt durch Maria als glaubwürdige Zeitzeugin präsentiert, die sich nun, im Augenblick der Vision, als Glorifizierte einer ewigen Existenz erfreut (und nicht 26 Dinshaw: How Soon (s. Anm. 14), S. 107 (Herv. i. Orig.). 27 Vgl. Steer, Georg: Anselm von Canterbury, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearb. Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Kurt Ruh u. a., Bd. 1, Berlin / New York 2010 [1978], Sp. 375–381, hier Sp. 378 und Kemper, Tobias A.: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006, S. 67. 28 Wegera, Klaus-Peter: Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini, deutsch. Überlieferung – Edition – Perspektiven der Auswertung, Paderborn 2014, S. 36. 29 Vgl. Wegera: Interrogatio (s. Anm. 28), S. 5 (Zit.). Zu Verwechslung, Kompilation, Kontamination mit dem Planctus Bernhardi vgl. ebenda S. 8. Zur früheren Tradition vgl. Cardelle de Hartmann, Carmen: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium, Leiden / Boston 2007, S. 202f. Edierte deutsche Textzeugen der Interrogatio finden sich unter: https://linguistics.rub.de/anselm/corpus/german.html (letzter Zugriff 28. 11. 2020). 30 Pseudo-Anselm von Canterbury: Dialogus Beatæ Mariæ et Anselmi de Passione Domini [Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini], in: S. Anselmi ex Beccensi abbate Cantuariensis archiepiscopi opera omnia, hg. v. Gabriel Gerberon, Paris 1854 (Patrologia Latina 159), Sp. 271–290.

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mehr weinen kann, quia glorificata sum, flere non possum, Sp. 271). Der Dialog als „Ort stärkster Präsenz“31 stellt seinerseits Unmittelbarkeit her. Das schriftlich Festgehaltene gewährt wiederum in der späteren Betrachtung (als erwünschter Rezeptionsform) beinahe unvermittelten Zugang zur Berichterstatterin. In die Leidensgeschichte selbst bricht die Atemporalität der Transzendenz ein. Im Verlauf des Dialogs erinnert sich Maria, dass Christus nach der Kreuzabnahme von ihr, Maria Magdalena und den Aposteln beweint wurde. Ihr entstellter (deformatu[s], Sp. 282) Sohn bzw. Lehrer, der früher wie Jacobus aussah, war im Tod dem Apostel (wie dieser selbst in wiedergegebener direkter Rede feststellt) ganz und gar unähnlich: multum dissimilis, Sp. 287. Auf die Beweinung reagiert der Verstorbene unmittelbar, Maria erzählt: Tunc cæteri discipuli accurrebant et lamentabantur super eum; et filius meus ad consolationem meam et discipulorum glorificatus fuit ibi coram suis: ita quod nulla plaga aut livor in corpore suo apparuit præter quinque vulnerum cicatrices, quas reservaturus est usque in diem judicii, et adeo sanus apparuit in corpore ac si nunquam passus fuisset. De quo ego et discipuli immensam consolationem recepimus. (Sp. 287) Dann eilten alle anderen Apostel herbei und beklagten ihn. Und mein Sohn, um mich und die Apostel zu trösten, wurde in ihrer Gegenwart verherrlicht: sodass weder Wunde noch Bluterguss an seinem Körper sichtbar waren außer den Narben der fünf Wunden, welche er bis zum Tag des Gerichts behalten wird. Und sein Körper erschien vollständig wiederhergestellt, als hätte er nie gelitten. Dadurch empfingen ich und die Apostel unermesslichen Trost.32

Der Zeitpunkt der Rede (im Dialog mit Anselm) deutet sich nebenbei im Futur des Hinweises auf das Jüngste Gericht an. Der Fokus richtet sich aber auf ein Wunder in der Vergangenheit. Zum Zweck der consolatio signalisiert Christus in diesem außerkanonischen Mirakel vor der Grablegung, dass er als Gott nicht gestorben ist. Er zeigt sich augenblickshaft in einem Auferstehungskörper, der seiner Zeit voraus ist. Die Transzendenz schaltet sich in einer Epiphanie ein, die die Todeszeitspanne im triduum mortis unterbricht. Die verfrühte Verherrlichung konterkariert die temporale Linearität bzw. die Teleologie des Geschehens, das der biblischen Vorlage folgt und nun angehalten wird. Das Wunder, in dem sich die göttliche Allmacht behauptet, die sich in der humanitas Christi dem Tode gebeugt hat, soll in der Rezeption affizieren. Es führt vor Augen, dass die Kontrahenten des Passionschristus anmaßend handelten, indem sie keinen ge-

31 Haug, Walter: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur, in: Das Gespräch, hg. v. Karlheinz Stierle / Rainer Warning, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251–279, hier S. 266. 32 Die neuhochdeutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angemerkt, von der Verf.

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wöhnlichen Menschen, sondern den ehrfurchtgebietenden Gottessohn leiden und sterben ließen. Vor allem aber bedeutet es Hoffnung. In der für das Medium Sprache spezifischen Diachronie33 kommt also in der Interrogatio die Vergangenheit eines unzeitigen Wunders zum Ausdruck, bei dem die Atemporalität der Transzendenz in die Leidensgeschichte einbricht. Außerdem thematisiert der Text die Gegenwart eines visionären Gesprächs, die für den Berichterstatter in der Vergangenheit liegt und die später in Lektüre und Meditation jeweils neu zu aktualisieren sein wird,34 sowie die Perspektive des Jüngsten Gerichts. Alle diese Zeitmomente lassen sich a-synchronisieren. Aber die Asynchronie stellt nicht nur ein Phänomen der Rezeption dar. Im von Maria erzählten Wunder überlagern sich asynchron die Zeit des Todes und diejenige der Auferstehung. Oder anders formuliert: Der Blickwinkel weitet sich hin zur Außerzeitlichkeit, die im Eindringen in die Immanenz eine bestimmte Zeitspanne einnimmt. Je nach Textzeugen kann sich die Erzählung temporal weiter auffächern, wie zum Beispiel in der Mitteldeutschen Reimfassung der Interrogatio Sancti Anshelmi aus dem 15. Jahrhundert. Unsere − nun gereimte − Passage weist dort einen zusätzlichen Sünder und eine amplificatio des Emotionalen auf: Ouch quamen andir iungir dar, Dy ouch clayten offinbar, Das sy hetten iren herren vorloren Und hatten alle vroude vorloren. Do tet myn lybes kint czart Nach synir gotlichin art, Der alle czyt dy synen trœst Und von allen betrupnisse lœst. Er lys clar irschinen synen lichenam, Also synir gotheit wol geczham, Das keyn mal noch wunde an ym irscheyn Wen dy vunff wunden alleyn, Dy er haben wil an dem iungistin tage, Dem sunder zcu eyner grœssin clage, Do von wir alle wurden getrœst Und von etlichin leide erlœst. (v. 889–904)35

33 Dazu vgl. Augustinus: Confessiones (s. Anm. 14), XI,8f., 33−36, S. 574−577, 608−617. 34 Hier kommt die Differenz zwischen Außerzeitlichkeit und Asynchronie zum Tragen: zwischen der Ewigkeit des Auferstandenen und der stets möglichen Aktualisierung der Beweinung in der Andacht. 35 Mitteldeutsche Reimfassung der Interrogatio Sancti Anshelmi [St. Anselmi Fragen an Maria], hg. v. Drahoslava Cepková, Berlin 1982. Der hier edierte Text ist in der Dessauer Handschrift Cod. 24,8° überliefert. Kursivierungen, hier und in den folgenden Zitaten, im Original.

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Auch kamen andere Jünger hin, die auch sichtlich klagten, dass sie ihren Herren und alle Freude verloren hatten. Da handelte mein liebes, teures Kind, das stets die seinen tröstet und von jeder Schwermut befreit, in seiner göttlichen Natur. Er ließ, wie es seiner Gottheit angemessen war, seinen Leichnam herrlich leuchten, sodass weder Fleck noch Wunde an ihm sichtbar waren außer allein den fünf Wunden, die er am Jüngsten Tag haben will, damit der Sünder laut klagt. Dadurch wurden wir alle getröstet und von viel Leid erlöst.

Diese Rede Marias gibt eine anonyme Erzählinstanz wieder, die sich auf eine Vorlage beruft, die Anshelm verfasst haben soll. Ihr fingierter Vortrag lässt Produktions- und Rezeptionszeit in eins fallen. Die Erzählinstanz verweist durch inquit-Formeln ständig auf sich selbst (Do irschein ym dy mait reyne. / Sy sprach: ‚Anshelme […]‘, v. 21f., Dy werde mait sprach alsus, v. 37 etc.). Das Sprecher-Ich zählt sich gemeinsam mit seinem Publikum zu einem erlösungsbedürftigen wir. Und es bittet Maria um Beistand: […] Vorlye mir sulche synne, / Das ich betrachten und tychten müsse / Dyne not, frauw suesse […] (v. 2–4), „verleihe mir solche Fähigkeiten, dass ich deine Not, süße Herrin, betrachten und darüber dichten kann“. Die religiöse und poetische Begabung für die unmittelbar anstehende literarische Unternehmung stammt aus dem zeitlosen Jenseits. Der Text soll der Andacht dienen, die zur Buße führt in der Hoffnung auf einen guten Tod und auf das Himmelreich. Das gedencken (v. 970) der Marter Christi sieht vor, dass man sich in die Gegenwart der Leidensgeschichte hineinversetzt. Als Maria in blutiger Kleidung das Grab Christi verlässt, wird sie von den Bewohnern Jerusalems bemitleidet. Anschließend verspricht das Ich − anders als im überlieferten lateinischen Text −36 die Vereinigung mit Christus und das ewige Leben demjenigen, der nu ist an dissir schar / Und hat gehort offinbar / Unsers herren martir mit ynnigkeit, der „sich nun in dieser Schar befindet und die Marter unseres Herren deutlich und andächtig gehört hat“ (v. 960−963). Das nu, in dem Leidensgeschichte und Zeit des Hörens zusammenfallen (wobei das Präsens ist die Aktualität der ersteren akzentuiert, während über letztere im Perfekt hat gehort berichtet wird), entspricht Margerys asynchronem „now“. Man soll sich sowohl − als Zeitzeugin oder Zeitzeuge37 − in Jerusalem aufhalten als auch dem mittelalterlichen Publikum angehören. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung lässt das Medium, das sie ermöglicht hat, gerade nicht in Vergessenheit geraten: die poetische Leistung der Erzählinstanz.

36 Auf die Rückkehr Marias in die Stadt und auf den Bericht über die Zerstörung Jerusalems folgt dort ein lyrisches Stück (Sp. 288), in dem Christus, der gleichzeitig leidet und gelitten hat, seine Braut (die Seele) zur imitatio einlädt. Die genaue Vorlage der Mitteldeutschen Reimfassung der Interrogatio Sancti Anshelmi ist unbekannt. 37 Vgl. zu dieser Vorstellung auch Iohannis de Cavlibvs Meditaciones vite Christi, hg. v. M[ary] Stallings-Taney, Turnhout 1997 (CCCM 153).

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In der Diachronie ihrer Rede formiert sich ein temporales Cluster, das aus früherer Passion besteht, die sich hin zur Außerzeitlichkeit öffnet. Hinzu kommen frühere Vision mit einem Dialog, der durch inquit-Formeln im Präteritum deutlich der Vergangenheit angehört, genauso wie die Niederschrift durch Anselm, Präsens der Dichtung und des Zuhörens, Ausrichtung auf die baldige Andacht mit Blick auf den Tod und die Perspektive wiederholter Aktualisierung aller dieser Zeitmomente (insbesondere der Leidensgeschichte im nu) in der religiösen Praxis. Ähnliche Strukturen zeichnen sich auch in anderen Meditationstraktaten ab. Die doppelte Perspektive auf den Toten und den allzeit Lebenden wird im Minnebüchlein (minnebuͤ chelin[], 537,1) ausgestaltet. Es handelt sich vielleicht um eine frühe Schrift Heinrich Seuses († 1366), um einen „‚Mosaiktraktat‘, der aus verschiedensten passionsmystischen Quellen schöpft“38 – wohl auch aus der Interrogatio, ohne sie direkt zu übersetzen. Das Minnebüchlein ist in einer einzigen alemannisch-schwäbischen Handschrift des 14. oder 15. Jahrhunderts überliefert und im Gebets- und Meditationsduktus39 ohne übergeordnete Erzählinstanz formuliert. Ein Ich, dessen compassio erotisch eingefärbt ist, kommt im Präsens, dem Tempus der Unmittelbarkeit, zu Wort. Es führt sich im KlageGestus40 die Leidensgeschichte Jesu vor Augen. Dabei spricht es sein Publikum direkt an und lässt es unmittelbar an der Adoration teilhaben. Im Monolog konvergieren Textgenese und vorausgesetzte Rezeption. Als Vorlage, allerdings nicht nur für die fromme Rede, sondern für seine Religiosität im Allgemeinen, dient dem Sprecher direkt der Logos: Lege alle min kunst an din wunden und min wisheit an din wundtmaͮ l, daz ich fúrbas in dir allein, waͮ res minnebuͦ ch, und dinem tode zuͦ neme […]. (537,11–13)41 [I]ch […] wil an dir allein, du zartens minnebuͦ ch, studieren […]. (553,23f.) Lege mein ganzes Können an deine Wunden und meine Weisheit an deine Wundmale, sodass ich fortan in dir allein, wahres Minnebuch, und in deinem Tod wachse […]. Ich […] will dich allein, geliebtes Minnebuch, studieren […].

38 Haas, Alois M. / Ruh, Kurt: Seuse, Heinrich OP, in: Verfasserlexikon (s. Anm. 27), Bd. 8, 2010 [1992], Sp. 1109−1129, hier Sp. 1114. Auf Grund der möglichen Autorschaft Seuses gehe ich von einem männlichen Sprecher aus. 39 „Als Kommunikation mit Adressaten, die zugleich präsent und absent sind, stellt das Gebet ambivalente Anforderungen an die imaginatio der Betenden.“ Breitenstein, Mirko / Schmidt, Christian: Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets, in: Das Mittelalter 24 (2019), S. 275–282, hier S. 279. Das gilt genauso für die Meditation. 40 Zum Texttypus Klage vgl. etwa Eming, Jutta: Marienklagen im Passionsspiel als Grenzfall religiöser Kommunikation, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Peter Strohschneider, Berlin / New York 2009, S. 794–816. 41 In lateinischer Sprache findet sich diese Passage in Seuses Cursus de aeterna sapientia, vgl. Heinrich Seuses Horologium sapientiae, hg. v. Pius Künzle, Freiburg (Schweiz) 1977, S. 608.

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Gängige Vorlagen geraten nach dem Abschluss des neuen Textes (zunächst) aus dem Blick; dieses Buch soll dem Ich stets präsent bleiben. Sind dabei frische oder vernarbte Wunden, der Passions- oder der Auferstehungschristus gemeint? [K]unst und wisheit assoziieren jedenfalls Bernhards von Clairvaux Neudefinition der Philosophie in der sogenannten Myrrhenbüschelpredigt, einem Gründungstext der Passionspietät (Hl-Predigt 43): haec mea subtilior, interior philosophia, scire Iesum, et hunc crucifixum, „dies ist meine scharfsinnigere innere Philosophie: Jesus zu kennen, und zwar als Gekreuzigten“ (S. 100f.).42 Die Formulierung waͮ res und zartens minnebuͦ ch verweist nicht nur auf den Logos, sondern gleichermaßen auf den Schmerzensmann. In einer häufigen Metapher der Zeit hat Jesus einen durch Verletzungen beschrifteten Körper.43 Das sekundäre minnebuͦ ch, der überlieferte Passionstraktat, beginnt mit dem Ausruf 44 O sapiencia eterna! O ewigú wisheit (537,2). Er exponiert schon zu Beginn die vertikale Perspektive, die er komplementär zur Dominanz der Leidensgeschichte bis zum Schluss beibehält. Der Text endet dann mit der Formulierung einer Zukunftserwartung: Unserú minn muͤ ss von ir kraft den tod úberwinden, und dis minnebant, ach gemintter min, muͤ sse iemer me von ewen ze ewen zwúschen uns beiden also staͤ te beliben. Amen. (554,28–31)

Unsere Liebe möge aus ihrer Kraft heraus den Tod überwinden, und dieses Minneband, ach mein Geliebter, möge stets von Neuem, von Ewigkeit zu Ewigkeit zwischen uns beiden sehr beständig bleiben. Amen.

Die Zeitlosigkeit zerfällt in zwei Ewigkeiten und setzt eine Pseudo-Chronologie in Kraft, welche die Festigkeit der Liebesverbindung betont, die sich in Beständigkeit erneuert. Dieser Eros ermöglicht den Wechsel des Sprechers in die Außerzeitlichkeit Gottes, in der Zeit nach seinem Tod. Zwischen Text-Anfang und -Schluss liegt der Akzent deutlich auf dem Schmerz der Erlösungstat, den sich Sprecher und Publikum in einer Jetztzeit des 14. Jahrhunderts vergegenwärtigen. So legt das Minnebüchlein offen, wie gravierend der Passionstod war, weil er den

42 Zitiert nach Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler u. a., Innsbruck 1995, Bd. VI, S. 96–103, hier S. 100f. Übersetzung modifiziert. 43 Vgl. Küsters, Urban: Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller / Horst Wenzel, Stuttgart / Leipzig 1999, S. 81−109, hier S. 83f.; Lentes, Thomas: Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie, in: Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, hg. v. Ludolf Kuchenbuch / Uta Kleine, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), S. 133–148. 44 Er steht am Anfang eines längeren übersetzten Zitats aus dem Matutin-Gebet des Cursus de aeterna sapientia. Vgl. Heinrich Seuses Horologium (s. Anm. 41), S. 607.

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Gottessohn getroffen hat. Das Schreckliche wird im gleichen Zuge abgeschwächt, da es nur den Menschen Christus betraf, nicht die ewigú wisheit. Im ersten Kapitel fasst das Ich die Leidensgeschichte in Worte, die es – stark mitgenommen von den Ereignissen – an Christus adressiert. Anlässlich verschiedener Stationen, die er im Präteritum erzählt, geht der meditierende Sprecher vereinzelt auf die göttliche Natur ein: O ein glantz des ewigen liehtes (539,30f.), als dem Verhafteten die Augen gebunden werden und als er bespuckt wird; spiegel der ewikeit (540,7)45 nach der Verleugnung des Petrus; orthaber des lebens („Urheber des Lebens“, 541,17), als Jesus sein Todesurteil erhält. Er berichtet vom mit Dornen gekrönten Haupt als einem himelschen paradis (542,8) und spielt auf die jenseitige Abstammung Christi an, indem er auf eine Hyperbel der descriptio-Topik rekurriert. Mit den Worten O claͮ res lieht des mittentages und der sunnen loͮ ffes hoͤ chstes zil (542,30f.), „O klares Mittagslicht und höchster Punkt des Sonnenlaufs“, die den Glanz der Auferstehung und der Transzendenz assoziieren, wird Jesus am Kreuz angerufen, kurz bevor die zeitwidrige Finsternis eintritt. Das zweite Kapitel, ebenfalls als Klage-Gebet formuliert, fokussiert Maria als Begleiterin auf dem Todesweg, die in der Rede des Ich an das Erlebte erinnert wird. Auch hier weitet sich der Blickwinkel punktuell durch die Einbeziehung der göttlichen Metaebene. Als man Christus von Hannas zu Kaiphas führte, versuchte Maria, wie es heißt, ihn zu umarmen, und wurde harsch zurückgewiesen. Der Trost kommt an dieser Stelle nicht wie in der Interrogatio durch eine mirakulöse Verherrlichung, sondern von der betenden Stimme, die den Zeitpunkt ihres Sprechakts – ca. 1300 Jahre nach der Auferstehung – ins Gedächtnis ruft: Aber nu sihest du in eweklich in siner glorie richsen (544,29), „Aber nun siehst du ihn ewig in seiner Glorie herrschen.“ Die mitherrschende Maria trägt noch die Spuren der Passion: eine Blutreliquie im Jenseits. Sie wird darum gebeten, das Ich schützend unter ihren bluͦ tfarwen mantel, der von dines eingebornen kindes bluͦ t ward ubergossen (547,28f.), zu nehmen. Die Verweise auf die göttliche Natur Jesu nehmen im dritten Kapitel zu, das den Titel trägt: Ein liepliches kosen der sele under dem crútze mit irem gemahel, dem abgeloͤ sten Christo, „Ein liebevolles Gespräch der Seele unter dem Kreuz mit ihrem Gemahl, dem vom Kreuz abgelösten Christus“. Eigentlich handelt es sich um einen Monolog als „Ort stärkster Präsenz“. Das Gegenüber ist bereits gestorben. Das kosen […] under dem crútze setzt voraus, dass das Ich eine Zeitreise im Geist unternimmt. Es spricht aber – in einem multitemporalen Präsens – nicht nur seinen Geliebten, sondern auch das ihm gegenwärtige Publikum an. Dieses

45 Die Spiegel-Bildlichkeit stammt wohl aus Weish 7,26 und findet sich auch in der Interrogatio, Sp. 289.

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soll an der Meditation teilhaben. Zukünftige gläubige Leserinnen und Leser des Minnebüchleins werden diese Gegenwart rekapitulieren. Das Kapitel setzt den historischen Augenblick des Stillstands vor der Grablegung in Szene, für den das jetzige Lamento anberaumt wird: Ich will mit minem geminten kosen, wan das beger ich von hertzen, e daz er minen oͮ gen werd undergezogen und e daz er in daz grab mit salbe werd verborgen. (548,25–28) Ich will mit meinem Geliebten sprechen, denn das wünsche ich mir von Herzen, bevor er meinen Augen entzogen wird und bevor er eingesalbt im Grab verborgen wird.

Der Sprecher hält sich einen späteren, in der Todeszeit Christi in Kürze eintreffenden Moment der Trennung vom geliebten Körper vor Augen, der ein akutes Zeitempfinden hervorruft und ihn in Eile versetzt. In seiner asynchronen Gegenwart richtet er sich nach der baldigen Grablegung, die historisch lange zuvor stattgefunden hat. In diesem zeitlichen Rahmen sieht das Ich seinen geminten under eim wilden o oͤ pfelboͮ me ruwen (548,18),46 seinen „Geliebten unter einem wilden Apfelbaum ruhen“, liebeswund und schwach (lass von minnewunden, 548,19), aber understútzet mit den bluͦ men der gotheit (548,20f.), „gestützt mit den Blumen der Gottheit“. In der Schilderung vermischen sich Hohelied-Impressionen: Ja sag mir du, den mein Atem liebt, wo wirst du weiden, wo lagern zu Mittag? (Hl 1,7) Wie ein Apfelbaum unter Waldbäumen, so, ja ist mein Liebster unter den Söhnen, In seinen Schatten sehn ich mich und setz mich […]. (Hl 2,3)47

46 Vgl. dazu Trînca, Beatrice: Fragmentierter locus amoenus: „Wie ein Apfelbaum unter Waldbäumen…“ (Hl 2,1−6) in Hermeneutik und Mystik, in: Lyrische Kohärenz im Mittelalter. Spielräume – Kriterien – Modellbildung, hg. v. Susanne Köbele u. a., Heidelberg 2019 (GRM-Beiheft 94), S. 167–186, hier S. 184–186. 47 Auf Grund der besseren Lesbarkeit wird hier die Übersetzung von Klaus Reichert aus dem Hebräischen zitiert: Das Hohelied Salomos. Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Klaus Reichert, Frankfurt am Main 2003 (dtv 12545). Die Vulgata lautet: indica mihi quem diligit anima mea ubi pascas ubi cubes in meridie (Hl 1,6); sicut malum inter ligna silvarum sic dilectus meus inter filios | sub umbra illius quam desideraveram sedi […] (Hl 2,3).

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Auch der Vers „Stützt mich mit Blumen, umgebt mich mit Äpfeln, denn ich bin schwach vor Liebe“ (Hl 2,5)48 zählt dazu. Der Rekurs auf das Hohelied verleiht nicht nur dem spirituellen Eros Gewicht, sondern auch der Klage typologische Tiefenschärfe. Die Hohelied-Anleihen verorten den Geliebten in der alttestamentlichen Vergangenheit und präfigurieren den neutestamentlichen Passionsmoment, von dem de facto die Rede ist. Christus – leblos, aber als Schlafender wahrgenommen – verweigert sich in dieser Szenerie (die in ihrer amoenitas einem Euphemismus gleicht) einer expliziten Einordnung in die Zeit der Passion. Im Vordergrund steht der scheinbar außerzeitliche Stillstand der Mittagsruhe49 (mit andächtigem Zuschauer). Der Körper, der dieser Ordnung der Stagnation angehört und eigentlich nicht mehr lebt, und die Ewigkeit (in einer Genitiv-Allegorese) sind sich räumlich nahe: understútzet mit den bluͦ men der gotheit. Die Idylle wird unterbrochen durch die Mitteilung, dass Christus gleich ins Grab verschwindet (e daz er in daz grab mit salbe werd verborgen, 548,27f.). Die Hohelied-Assoziationen verdrängen kurzzeitig, aber unübersehbar den Tod – wie im Wunder der Interrogatio, aber nunmehr in der Rhetorik des Ich. Es ist schließlich die Rede von der claͮ ren und zarten ewikeit und wisheit (548,24f.), die es unter dem Apfelbaum sieht. Auch das Gegenteil kommt (in Übereinstimmung mit Bernhard von Clairvaux) zur Geltung: Ich suͦ chte din gotheit, ich vinde din mentscheit (550,8f.).50 Der Sprecher bleibt aber nicht dabei: Sieht er seinen Geliebten als einen toten mentschen vor sich liegen, richtet er sein Auge, dies möchte er unbedingt festhalten, ze der hohen magenkraft diner gotheit, „auf die hohe Majestät deiner Gottheit“ (550,26–28). Auch im weiteren Verlauf des Kapitels wechselt der Blick zwischen Dies- und Jenseits. Der Sprecher setzt neu an und wünscht sich Konzentration. Er richtet eine Bitte an die unsteten Gedanken: laͮ nt mir bi im werden joch ein einiges stuͤ ndelin (551,4f.), „lasst mich noch ein einziges Stündchen bei ihm sein“. Die Verwendung des Diminutivs suggeriert, der Sprecher würde bescheiden um eine Kleinigkeit bitten, die anvisierte Meditation erscheint von kurzer Dauer. In dieser

48 Hier variiert die Vulgata stark gegenüber dem hebräischen Text und wird aus diesem Grunde in der modifizierten Übersetzung von Christine Schmitz und Stefan Stirnemann, in: Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata (s. Anm. 5), zitiert. Das lateinische Original lautet: fulcite me floribus stipate me malis quia amore langueo (Hl 2,5). [A]more langueo liegt dem lass von minnewunden zu Grunde. Die Wunden gehen wohl auf die Versio antiqua zurück. Dort lautet die gleiche Stelle: vunerata dilectionis ego sum. Bibliorum Sacrorum latinæ versiones antiquæ seu Vetus Italica. Tomus secundus, hg. v. Pierre Sabatier, Reims 1743, S. 377. 49 Zum Schlaf im Kontext der Reflexion über Zeit vgl. Dinshaw: How Soon (s. Anm. 14), insbes. S. 8. 50 Vgl. auch 1 Kor 2,2 und Ruh, Kurt: Der Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen, Thayngen 1940, S. 75f.

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Zeit richtet er seine (hier abschnittsweise zitierten) Worte alternierend an Christus und an das Publikum: O aller suͤ ssester Jhesu Christe, wie selig die oͮ gen sint, die dich lebenden in dem libe sahent und dinú aller suͤ sesten wort horten! Wan du bist der minnenclich, den allein ane glich disú welt haͮ t fúr braͮ ht; din hoͮ pt von siner sinwelen lútselikeit gelichet sich des himels gestalt in siner hohen schonheit, wol wirdig ist es, daz es sy ein hoͮ pt der welt, und des hoͮ btes glider sind alle die usserwelten. Die falwen loͤ cke des schoͤ nen hoͮ ptes sint gedrungen sam die wunnenclich heide, die wol geziert ist mit bluͤ ygenden studen und mit den gruͤ nen zwygen; aber ietzent ist es von den wessen dornen jemerlich zerzert allenthalb und ist vol bluͦ tiges towes und der nahttropfen. Ach mir! sine oͮ gen, die als claͮ r waͮ rent, daz sú der sunnen glast sam des adlers saͮ hent aͮ n alles wenken und sam der claͮ r karfunkelstain lúchten, eya, die sich ich nu erloͤ schen und umbbekert als eins andern toten […], sin roͤ selechten wangen, die da brunnen als die rosen, sint nuͦ von unfletikeit entschoͤ pfet und erbleichet und gar magerlich gestellet. O min geminter, wie bist du dir selben so gar ungelich worden! Wan din zarten lefftzen, die da sint gewesen als die roten roͤ seli, die noch nút us geschloffen [sic] sint […] – der munt ist nu gar verdorret […]. Ach mir, we! wie ist verdorben din wunnencliches antlút, zemal lútseliges als ein paradis aller wunne, an dem alle oͮ gen suͤ sseclich geweidet wurdent! (551,9–552,21) Oh allersüßester Jesus Christus, wie selig sind die Augen, die dich lebend im Leibe sahen und deine allersüßesten Worte hörten! Denn du bist der Liebenswerte, den allein ohnegleichen diese Welt hervorgebracht hat. Dein Haupt in seiner runden Anmut gleicht der Gestalt des Himmels in seiner hohen Schönheit, es ist ganz und gar würdig, ein Haupt der Welt zu sein, und die Glieder des Hauptes sind alle Auserwählten. Die blonden Locken des schönen Hauptes sind dicht wie die herrliche Heide, die schön geschmückt ist mit blühenden Stauden und mit den grünen Zweigen, aber jetzt ist es [dein Haupt] von den scharfen Dornen jämmerlich verletzt überall und voll blutigen Taus und voller Nachttropfen. Weh mir, seine Augen, die so leuchtend waren, dass sie wie Adleraugen, ohne sich abzuwenden, den Sonnenglanz ansahen und wie der glänzende Edelstein leuchteten, oh weh, die sehe ich nun erloschen und nach innen gewendet wie die eines anderen Toten […]. Seine rosenroten Wangen, die wie die Rosen glühten, sind nun von Unflat entstellt, erbleicht und ganz mager. Oh mein Geliebter, wie bist du dir selbst so ganz ungleich geworden! Denn deine feinen Lippen, die wie die roten Röschen waren, die sich noch nicht geöffnet hatten […] – der Mund ist nun ganz verdorrt […]. Oh weh mir, wie ist dein liebliches Antlitz zerstört, früher wohlgefällig wie ein Paradies aller Freude, an dem sich alle Augen süß weideten!

Der Sprecher sagt sich zunächst – historisch korrekt – von tatsächlicher Zeitgenossenschaft ab. Dass er mit Christus auf Golgota deutsch spricht, erzeugt dadurch gerade keinen Anachronismus. Er ist ja nur im Geist in der Zeit zwischen Kreuzabnahme und Grablegung anwesend. Dann adressiert er im Präsens einen Christus, dessen Anmut und Ähnlichkeit mit dem Himmel den glorifizierten, ab dem Zeitpunkt der Auferstehung zeitenthobenen Körper aufleben lassen. Gläubige bilden die Glieder dieses ansehnlichen Ober-Haupts (1 Kor 12,27). Der Schönheit schreibt ein Vergleich einerseits kosmische Ausmaße zu (Haupt wie

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Himmel), andererseits die amoenitas frühlingshafter Natur (Locken wie Heide). Sie erinnert an die (im eigentlichen und übertragenen Sinne) stets blühenden Landschaften und Körper im Jenseits, eben an den Messias, cuius caro seminata est in morte, refloruit in resurrectione. „Sein Fleisch, das im Tod gesät worden ist, blühte neu auf in der Auferstehung“.51 Diese von Bernhard von Clairvaux im wirkmächtigen Traktat De diligendo Deo formulierte Metapher setzt sich im Minnebüchlein im Vergleich mit der frühlingshaften Heide fort. In der Diachronie der Rede unterbricht der Sprecher daraufhin die transzendente Idylle mit den Worten aber ietzent. Kein zeitentrückter Auferstehungskörper als Manifestation göttlicher Natur, sondern der versehrte Mensch im triduum mortis drängt sich ietzent der Wahrnehmung auf. Dieser Gedankengang kehrt die Interrogatio-Abfolge (Defiguration-Glorifizierung) um, die uns beschäftigt hat. Der Kontrast zum majestätischen Porträt (Wan du bist der minnenclich etc.) lässt im Sinne angestrebter Affizierung der Leserinnen und Leser die Verletzungen umso gravierender erscheinen. Die Schönheit des Geliebten wird ab hier – ihrer jenseitigen Dauer zum Trotz – nur in der Retrospektive (Ach mir! sine oͮ gen, die als claͮ r waͮ rent […]) Bestand haben.52 Die Apfelbaum-Passage thematisiert Todeszeit und Ewigkeit. An dieser Stelle kommt ein weiterer Zeitraum hinzu, derjenige der erinnerten irdischen Anmut. Die Zeit des Passionschristus überblendet von einem Augenblick auf den anderen in der Wahrnehmung des Sprechers die Ewigkeit dessen, der minnenclich, ane glich etc. ist. In der Ordnung der Rede, aber nur dort (und nicht in einer objektiven Realität), verändert die vergangene Leidensgeschichte die gegenwärtige Herrlichkeit. Das temporale Verhältnis von Passion und Auferstehung steht kopf. Adversative Konjunktion und Temporaladverb aber ietzent ersetzen die heilsgeschichtlich vorgegebene Simultaneität zwischen Herrscherchristus und Zeitpunkt der Betrachtung durch eine Asynchronie: Das ietzent postuliert eine Gleichzeitigkeit von vergangenem Tod und Gegenwart des Sprechaktes.

51 Bernhard von Clairvaux: De diligendo Deo, in: Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990, Bd. 1, S. 88f. Vgl. 1 Kor 15,42: sic et resurrectio mortuorum | seminatur in corruptione | surgit in incorruptione, „So [ist] auch die Auferstehung der Toten: Es wird in der Vergänglichkeit gesät, erhebt sich [aber] in der Unvergänglichkeit“, Übersetzung von Caecilia-Désirée Hein, in: Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata (s. Anm. 5). Vgl. dazu Bynum, Caroline Walker: The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336, New York 1995. 52 Zur „retrospektive[n] Position der Klage“ in der weltlichen Lyrik, d. h. ohne die Dimension zeitfreier Ewigkeit vgl. Emmelius, Caroline: Zeit der Klage. Korrelationen lyrischer Präsenz und narrativer Distanz am Beispiel der Minneklage, in: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius, Berlin / New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 215–241, hier S. 222.

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Versteht man hingegen die Konjunktion aber kopulativ im Sinne von ‚und‘ oder ‚auch‘,53 dann schließen sich die zwei temporalen Formationen nicht aus. Auferstandener und Passionschristus rücken in diesem Falle (der Abfolge sprachlicher Zeichen zum Trotz) simultan in den Fokus. Das ietzent vereint nun in sich Leidensgeschichte, Ewigkeit der Auferstehung und Meditationsgegenwart. Die Temporalität geht aber nicht in Außerzeitlichkeit auf. Das ietzent bleibt vielschichtig und erfährt weder für den Sprecher noch für das Publikum eine „absorption in the everlasting now of divine eternity“, die zur Entdifferenzierung führen würde. Das nach aber ietzent beibehaltene Tempus Präsens gewährt dem Publikum direkten Zugang zu beiden Schwerpunkten der Meditation: Herrlichkeit und Tod. Hinzu kommt ein weiterer Zeitraum, derjenige der erinnerten irdischen Schönheit. Im Jetzt ist sie versehrt und erloschen. Die scharfen Dornen bilden eine leise Anspielung auf Hl 2,2 „Wie eine Lilie zwischen Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern“.54 Tau und Nachttropfen erinnern deutlich an Hl 5,2: Mach mir auf, meine Schwester, meine Liebste, meine Taube, meine Vollkommene. Mein Kopf – voller Tau, meine Locken – voll Tropfen der Nacht.55

In der früheren oͤ pfelboͮ m-Passage erfüllt das Hohelied eine euphemistische Funktion und versetzt den Toten in einen harmloseren Erschöpfungszustand an einem locus amoenus. Hier wird die frühlingshafte Natur, die kurz zuvor in einem Vergleich die Haarpracht des zeitüberlegenen Christus zur Schau stellte, von Versehrungsspuren infiltriert. Das Haupt Christi ist blutig zerkratzt, Risse und Tropfen figurieren als Indiz unmittelbar zurückliegender Agonie. Der konkrete Tau des Hohelieds, der sich gut in die amoene Landschaft auf der Vergleichsebene fügt, färbt sich unnatürlich rot und wird zur Metapher für vergossenes Blut,

53 Vgl. http://www.mhdwb-online.de/wb.php?buchstabe=A&portion=240&link_lid=1020000# 1020000 (letzter Zugriff 20. 7. 2021). 54 sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias, Hl 2,2, Übersetzung von Christine Schmitz und Stefan Stirnemann, in: Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata (s. Anm. 5). Im hebräischen Text ist die Rede von einer „Hyazinthe / unter dem Dorngestrüpp“. Übersetzung von Klaus Reichert. 55 Übersetzung von Klaus Reichert aus dem Hebräischen, die Vulgata lautet an dieser Stelle: […] aperi mihi soror mea amica mea columba mea inmaculata mea | quia caput meum plenum est rore et cincinni mei guttis noctium, Hl 5,2.

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ebenso wie im Anschluss die Tropfen der Nacht. Das Ausharren vor dem Haus der Geliebten im Hohelied findet sich in Christus patiens wieder. Der Text synchronisiert ein weiteres Mal Altes und Neues Testament und erzeugt dadurch eine weitere Asynchronie. Der vitale Eros der Liebeslieder vermischt sich mit der Imagination des vor Kurzem mit Dornen Gekrönten und erreicht darin „seine gesteigerte Erfüllung“.56 Das Denkmuster der Typologie verfügt über eine eigene temporale Struktur: „die hermeneutische Struktur von Typus-Antitypus impliziert einerseits eine Teleologie, anderseits eine Chronologie simultangültiger Voraus- und Rückbezüglichkeit“.57 „Voraus- und Rückbezüglichkeit“ entfalten sich im Minnebüchlein auf kleinstem Raum, in einem halben Satz, der das Hohelied evoziert, nach aber ietzent. Die „Rückbezüglichkeit“ wird im Nacheinander von Blut (Neues Testament) und Tau (Altes Testament) in der Formulierung vol bluͦ tiges towes ausgestellt. Im Anschluss deckt die Klage immer mehr Zeichen vergangener Qualen auf, in einem Oszillieren zwischen nostalgischem Rückblick und Entsetzen. Die descriptio konzentriert sich auf den Kopf des Geliebten, auf die rückgängig gemachte Schöpfung (wangen […] von unfletikeit entschoͤ pfet, wie bist du dir selben so gar ungelich worden!). Toposhafte vegetabile Motive repräsentieren nun Schönheit im Präteritum oder Perfekt (sin roͤ selechten wangen, die da brunnen; lefftzen, die da sint gewesen als die roten roͤ seli). Sie assoziieren die zuvor angepriesene permanente Schönheit des Glorifizierten, die ebenfalls im Regime des Pflanzlichen zur Geltung kam. Der Vergleich als ein paradis aller wunne für vergangene irdische Anmut ruft die Zugehörigkeit des jungen Mannes zum jenseitigen Lustort wieder in Erinnerung. Dass infolge der Leidensgeschichte das Paradiesische aus seinem menschlichen Aussehen verschwindet, zieht tentativ, auf der Bildebene, auch seine ewige Existenz in Mitleidenschaft. Das Minnebüchlein verweist mithin auf eine Fülle von Zeitmomenten: auf die im Alten Testament präfigurierte Passion, auf das Leben Christi, das ihr vorausgeht, auf die Gegenwart der aktualisierten Leidensgeschichte und des Glorifizierten, auf das Präsens der Rede vor Publikum sowie auf die Todeserwartung des Ich und seinen Eintritt in die Ewigkeit. In der andächtigen Rezeption können sie asynchron konvergieren. Temporale Irritationen im Text konstituieren ihrerseits Asynchronien: Das Ich beeilt sich (im 14. Jahrhundert) zu sprechen, bevor Christus im Grab verschwindet, und es adressiert gleichzeitig sein mit56 Suntrup, Rudolf: Zur sprachlichen Form der Typologie, in: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Klaus Grubmüller u. a., München 1984, S. 23–68, hier S. 37. 57 Köbele, Susanne / Rippl, Coralie: Narrative Synchronisierung: Theoretische Voraussetzungen und historische Modelle. Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Gleichzeitigkeit (s. Anm. 15), S. 7–25, hier S. 17. Vgl. auch Kiening, Christian: Einleitung, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. v. dems. / Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013, S. 7–20, insbes. S. 12.

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telalterliches Publikum. Das ietzent setzt vergangenen Passionstod und Rede simultan, die wiederum in der Gegenwart des Auferstehungschristus formuliert wird. Meditationstraktate des Spätmittelalters weisen eine außergewöhnliche und auch widersprüchliche Akkumulation auseinanderliegender Zeitmomente auf, die sich zudem hin zur transzendenten Außerzeitlichkeit öffnet. Sowohl das Minnebüchlein als auch die Interrogatio Sancti Anselmi dokumentieren, dass das Repertoire meditativer Praxis im Spätmittelalter über einen janusköpfigen Jesus verfügt: den leidenden und den verherrlichten. Passions- und Auferstehungschristus repräsentieren – ermöglicht durch seine zwei Naturen – zwei aufeinanderfolgende Phasen der Heilsgeschichte. Sie werden simultan oder konsekutiv wahrgenommen. Die doppelte Sichtweise kommt zum Zeitpunkt der Textgenese und -rezeption zustande: Jahrhunderte nach der Auferstehung. In den descriptiones färben die zwei somatischen Zustände des Gottessohnes aufeinander ab. Immer wieder daran zu erinnern, dass es sich beim Schmerzensmann, zum Schluss als defiguriertem Leichnam, auch um den ewigen Gott handelt, gilt Gläubigen einerseits als Trost, andererseits als implizite, aber nachdrückliche (Selbst-)Anklage, haben doch ihre Sünden den Tod des Inkarnierten verursacht. Indem man Christus im triduum mortis nicht tot sein lässt oder die Realität der Auferstehung stets in Betracht zieht, kommt man im Hinweis auf seine Vitalität dem Gedanken eines bis in den Tod geschwächten Gottes zuvor.

Wolfram R. Keller

Die multiplen Zeitlichkeiten des King Lear1

Auf die Frage, was charakteristisch für die (nach Auffassung der älteren Forschung verspätet einsetzende) englische Renaissance sei, antworten Studierende der englischen Literaturwissenschaft wie auch viele Anglist*innen typischerweise mit einem Verweis auf das Theater, auf die Gattung des Dramas, auf William Shakespeare. Letzteres ist ein Allgemeinplatz: Die Institutionalisierung und Popularisierung des Theaters im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die in erster Linie mit dem Werk Shakespeares verbunden ist, gilt als d i e E r f i n d u n g der englischen Renaissance schlechthin. In einer der populärsten Ausgaben des Gesamtwerks Shakespeares, dem von Stephen Greenblatt, dem sicherlich bekanntesten Shakespeare-Forscher unserer Zeit, herausgegebenen Norton Shakespeare, werden Shakespeares Gedichte – Venus and Adonis, The Rape of Lucrece, The Sonnets und A Lover’s Complaint – lediglich am Ende des Bandes abgedruckt, quasi als eine Art Appendix. Im Vergleich zu der Bedeutung, die Shakespeares dramatischem Schaffen zugeschrieben wird, erscheinen sie bestenfalls randständig. So steht auch in Greenblatts Einleitung zum Norton Shakespeare zu lesen, dass Shakespeare eben zuvörderst ein Mann des Theaters war, ein „working dramatist“.2 Sich der Dichtung zu verschreiben, sei schließlich, so Greenblatt weiter, eine höfische Tätigkeit für Aristokraten mit zu viel Freizeit gewesen. Und Shakespeare, der nun dezidiert kein Höfling oder Aristokrat gewesen sei („Shakespeare was decidedly not a courtier or an aristocrat“3), habe sich somit lediglich dann als Dichter verdingt, wenn die Theater aufgrund der in London wütenden Pest geschlossen waren, als Shakespeare

1 Für anregende Diskussionen und konstruktives Feedback danke ich Carolyn Dinshaw, Andrew James Johnston, Jocelyn Keller, Lea von der Linde sowie den Herausgeber*innen dieses Bandes. 2 Greenblatt, Stephen: General Introduction, in: The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition, hg. v. dems. et al., New York 1997, S. 1–76, hier S. 1. 3 Greenblatt, Stephen: Will in the World. How Shakespeare Became Shakespeare, London 2005, S. 249.

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folglich Zeit hatte, sich seiner ‚romantischen Seite‘ zu widmen.4 Nicht nur Filme wie Shakespeare in Love (1999) perpetuieren ein solches Shakespearebild. Auch in der anglo-amerikanischen Shakespeare-Forschung blieb die Konstruktion von Shakespeare als Dramatiker (und nicht als Dichter und Dramatiker, wie er von zeitgenössischen Autoren wahrgenommen wurde) vorherrschend.5 Mit dem Bild von Shakespeare als ‚Mann des Theaters‘ verband sich in der anglo-amerikanischen Forschung, Shakespeare als einen an literarischem Ruhm gänzlich uninteressierten Autoren zu sehen – eine Annahme, die allerdings zu Beginn dieses Jahrtausends nachhaltig hinterfragt wurde. Mit jeweils sehr unterschiedlicher Schwerpunktsetzung konnten beispielsweise Lukas Erne und Patrick Cheney zeigen, dass Shakespeare sehr wohl an der (posthumen) Rezeption seiner Werke interessiert war, was allerdings genau deshalb nicht erkannt wurde, weil Shakespeare zum Zwecke seiner ‚Eigenwerbung‘ ein Modell literarischer Autorschaft entwickelt habe, das darauf zielte, seinen Griff nach Ruhm zu verschleiern. Mit Bezug auf Shakespeares Interesse an seinem literarischen Nachleben argumentiert Lukas Erne in seiner Monographie Shakespeare as Literary Dramatist (2003), dass Shakespeare eben nicht nur für die Bühne (stage) schrieb, sondern auch für einen Buchmarkt (page), in dem Autoren zunehmend eine Rolle gespielt haben.6 Dies ist ein Punkt, der unweigerlich auch zu Fragen der heutigen Rezeptionsgewohnheiten führt: Shakespeares Dramen liegen bekanntermaßen in verschiedenen Formaten vor, in Quarto-Ausgaben und in der FolioAusgabe von 1623. Viele der derzeit populären Editionen von Shakespeares Gesamtwerk – wie beispielsweise der bereits genannte Norton Shakespeare, der sich seinerseits des Textes des Oxford Shakespeare bedient7 – unterliegen der Versuchung, auf der Basis der Quarto-Ausgaben, die teilweise nur bruchstückhaft vorliegen, eine Version der Stücke zu rekonstruieren, die der Aufführungspraxis der Zeit am nächsten kommt, da die Quartos in der Theaterszene entstanden sind. Demgegenüber steht der Text der von John Heminge und Henry Condell sieben Jahre nach dem Tod Shakespeares herausgegeben Folio-Ausgabe, dem die Shakespeare-Forschung des zwanzigsten Jahrhunderts überwiegend mit Skepsis begegnete, da er zeitlich von den ersten Aufführungen so weit entfernt ist.8 4 Siehe z. B. Holden, Anthony: William Shakespeare. His Life and Work, London 2000, S. 105. 5 Ein kurzer Überblick der (anglo-amerikanischen) Rezeption von Shakespeares Gedichten findet sich in Cheney, Patrick: Introduction. Shakespeare’s Poetry in the Twenty-First Century, in: The Cambridge Companion to Shakespeare’s Poetry, hg. v. dems., Cambridge 2007, S. 1–13. 6 Erne, Lukas: Shakespeare as Literary Dramatist, Cambridge 2003. 7 Wells, Stanley et al. (Hg.): William Shakespeare. The Complete Works, Oxford 1986. 8 Für einen kurzen Abriss über die Veröffentlichung der Folio-Ausgabe und deren literaturwissenschaftliche Bewertung, siehe Egan, Gabriel: The Provenance of the Folio Texts, in: The Cambridge Companion to Shakespeare’s First Folio, hg. v. Emma Smith, Cambridge 2016, S. 68–85.

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Mit Blick auf Shakespeares Autorschaftskonzeption sind für die nachfolgenden Ausführungen zum King Lear eine Reihe von Arbeiten Patrick Cheneys besonders wichtig. Cheney hat sich nicht nur intensiv mit der Rezeption und Transformation literarischer Karrieremodelle in der Frühen Neuzeit allgemein befasst,9 sondern auch nuanciert poetologische Verhandlungen einer auf Nachruhm zielenden Autorschaft in den Werken Shakespeares herausgearbeitet. In zwei Monographien – Shakespeare, National Poet-Playwright (2004) und Shakespeare’s Literary Authorship (2008) – zeichnet Cheney akribisch die poetologische Inszenierung eines sich selbst verschleiernden Modells literarischer Autorschaft nach. Anders als andere frühneuzeitliche Dichter und/oder Dramatiker, wie zum Beispiel Edmund Spenser oder Ben Jonson, nimmt Shakespeare in keinem seiner Werke direkt auf sich selbst Bezug – und auch die Paratexte sind letztlich zu uneindeutig, um daraus ein literarisches Programm abzuleiten. Erstaunlicherweise ist die Forschung über einen mittelalterlichen Autor wie Geoffrey Chaucer sehr viel besser informiert als über die Ikone des englischen Renaissancetheaters.10 Alvin Kernan spricht in diesem Zusammenhang von einem Shakespeare, der sich stets unseren Blicken zu entziehen wisse: „Shakespeare was not an autobiographical poet, at least not in any simple, direct sense. Anything but. He remains, in fact, the most anonymous of our great writers – we seem always to glimpse only the back of his head as he slips around the corner“.11 Für Cheney bedeutet diese Anonymität Shakespeares aber keinesfalls, dass dieser nicht doch nach Möglichkeiten suchte, seine Konzeption literarischer Autorschaft in seinen Dramen und Gedichten zur Darstellung zu bringen. Shakespeares Tendenz, sein Karrieremodell zu verschleiern, veranlasst Cheney daher dazu, eher von einer Art Gegen-Autorschaft (einer counter-authorship) denn von einer Autorschaft im unmittelbaren Sinne zu sprechen: If Shakespeare is the first major author in the Western tradition who conspicuously avoids presenting himself, we might come to speak of his ‚counter-authorship.‘ Counterauthorship is an oblique literary form of self-presentation that allows the author to hide behind the veil of his fictions, while allowing us to follow him, through tracks he himself 9 Für einen Überblick über Konzeptionen literarischer Karrieremodelle von der Antike bis zur Frühen Neuzeit siehe die Aufsätze in Cheney, Patrick / de Armas, Frederick A. (Hg.): European Literary Careers. The Author from Antiquity to the Renaissance, Toronto 2002. Siehe auch: Cheney, Patrick: Spenser’s Famous Flight. A Renaissance Idea of a Literary Career, Toronto 1993; Cheney, Patrick: Marlowe’s Counterfeit Profession. Ovid, Spenser, Counter-Nationhood, Toronto 1997; Cheney, Patrick: Marlowe’s Republican Authorship. Lucan, Liberty, and the Sublime, Basingstoke 2009; Cheney, Patrick: English Authorship and the Early Modern Sublime. Fictions of Transport in Spenser, Marlowe, Jonson, and Shakespeare, Cambridge 2018. 10 Siehe z. B. Brewer, Derek: Chaucer and His World, Cambridge 1978, S. 1. 11 Kernan, Alvin: Shakespeare, the King’s Playwright. Theater in the Stuart Court, 1603–1613, New Haven, CT 1997, S. 179.

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leaves – in his diction, images, myths, and so forth – some of them presumably ‚conscious‘ but hardly all of them.12

Was ‚hinter dem Schleier‘ in den vielen meta-dramatischen und meta-poetischen Momenten in Shakespeares Werk aufscheine, schreibt Cheney, sei die systematische Entwicklung eines Modells literarischer Autorschaft, das die Welten von Theater und Dichtung bewusst und strategisch miteinander verschmelze, wobei Cheney ‚Theater‘ und ‚Dichtung‘ – bei einer Engführung von Gattung und Medium – als scharf voneinander abgegrenzte, metaphorische Konstrukte nutzt, um die frühneuzeitlichen Autoren zur Verfügung stehenden (antiken) Modelle literarischer Autorschaft zu kennzeichnen. Anders formuliert: Anstatt sich für eines der beiden Karrieremodelle zu entscheiden – also entweder das Theater, wie Shakespeares Zeitgenossen Thomas Heywood oder Thomas Kyd, oder die Dichtung, wie der bereits genannte Edmund Spenser –, entscheide sich Shakespeare für beides zugleich und trete in seinen Werken als etwas in Erscheinung, das Cheney poet-playwright nennt, also als ein ‚Dichter-Dramatiker‘. Ein solches, die scheinbar konträren Prinzipien von Drama und Dichtung vereinendes Autorschaftsmodell manifestiere sich Cheney zufolge insbesondere an meta-dramatischen und meta-poetischen Scharnierstellen, an denen immer wieder Figuren auftreten, die in der konzeptuellen Welt des Theaters ebenso zuhause sind, wie sie in der lyrischen und narrativen Dichtung zu brillieren wissen.13 Einerseits inszenieren solche Figuren Stücke-im-Stück, einschließlich sogenannter godgames.14 Andererseits singen sie Lieder oder tragen Gedichte und Sonette vor, schwingen poetologische Reden. Die Figuren verkörpern somit ästhetisch-darstellerische Prinzipien, die für die beiden Gattungen als charakteristisch betrachtet werden. Während das Modell des Dichter-Dramatikers (besonders) am Ende des sechzehnten und zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts eine Neuheit zu sein scheint, erläutert Cheney, dass es letztlich doch auf antike Karrieremodelle rekurriere. Shakespeare gestalte seine Konzeption von literarischer Autorschaft vorwiegend in der Auseinandersetzung mit den Werken Ovids, der neben seiner dichterischen Arbeit eben auch für die Bühne geschrieben hatte – Ovids Drama Medea war in Mittelalter und Früher Neuzeit zumindest dem Namen nach bekannt. Ovids literarische Laufbahn werde dabei, so Cheney weiter, als ein bewusstes Gegenmodell zur Autorschaftskonzeption Vergils verstanden, also als Gegenmodell zu einem dichterischen Karriereverlauf, der sich von der Pastoral12 Cheney, Patrick: Shakespeare’s Literary Authorship, Cambridge 2008, S. 14. 13 Cheney, Patrick: Shakespeare, National Poet-Playwright, Cambridge 2004, S. 1–73. 14 Für frühneuzeitliche godgames, siehe v. a. Kuester, Martin: Godgames in Paradise. Educational Strategies in Milton and Fowles, Anglia 115.1 (1997), S. 29–43; Kuester, Martin: Milton’s Prudent Ambiguities. Words and Signs in His Poetry and Prose, Lanham 2009, S. 121–127.

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dichtung bis zum imperialen Epos aufschwingt, von den Eklogen bis zur Aeneis.15 Während sich ein Renaissancedichter wie Spenser in seinen Werken ganz unbescheiden als Englands Vergil feierte, verschleierte Shakespeare seine Ambitionen auf literarischen Ruhm, indem er sich Ovids Karriere zum Vorbild nahm, dessen Werke immer auch danach strebten, aristokratische und national-imperiale Ansprüche à la Vergil (und Spenser) zu unterlaufen. Wie auch Christopher Marlowe, der sich neben seiner Arbeit für die Bühne auch als Übersetzer von Ovids Amores hervorgetan hatte (und somit explizit das literarische Erbe Ovids beanspruchte), setzte Shakespeare einer imperialen Herrschaftsansprüchen dienenden Konzeption vergilischer Dichtung ein Autorschaftsmodell entgegen, das die Prinzipien von Drama und Dichtung hybridisiert. In den Worten Cheneys: „[Shakespeare] invents his famed authorship – self-concealment, complementarity, undecidability, negative capability – by countering the idea of the laureate or national poet“16. Die Figuren in Shakespeares Dramen und Gedichten, die Konzeptionen von Autorschaft verkörpern, welche den Sphären von Bühne und Dichtung gleichermaßen angehören, zeugten somit stellvertretend für Shakespeares Absage an Spensers unverhohlenem Griff nach vergilischem Ruhm. Stattdessen mache sich Shakespeare die ovidische Hybridisierung von Dichtung und Drama zum Zwecke der Selbstautorisierung als Englands führender Autor zunutze: Shakespeare forges his career in the following way: onto a fiction of Spenser’s Virgilian pastoral and epic, he superimposes a fiction of Marlowe’s Ovidian poetry and drama. Repeatedly, that is, characters sing songs and perform roles along a narrative path connecting court and country. This intertextual representation forms the primary frame for Shakespeare’s attempt to authorize himself as one of England’s leading authors.17

Was an Cheneys eindrucksvoller Herausarbeitung von Shakespeares Konzeption literarischer Autorschaft allerdings auffällt, ist, dass seiner Interpretation letztlich ein sehr traditionelles Periodisierungsschema zugrunde liegt, nämlich ein quasi-Burckhardt’sches Narrativ von einer durch die Wiederentdeckung der Antike ermöglichten Modernisierung in der Renaissance, von der Ablösung einer von der imitatio geprägten mittelalterlichen Kultur durch eine innovationsfreudige Renaissance. Wie Cheney jedoch selbst (wenngleich in einem anderen Zusammenhang und eher implizit) feststellt – nämlich mit Blick auf das im Werk Shakespeares häufig zu beobachtende Zusammenprallen von auktorialer Be15 Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright (s. Anm. 13), S. 17–48. Für die literarischintergenerischen Interdependenzen in den Werken Ovids und Vergils, siehe v. a. Hardie, Philip: Contrasts, in: Classical Constructions. Papers in Memory of Don Fowler, Classicist and Epicurean, hg. v. S. J. Heyworth, Oxford 2007, S. 141–173. 16 Cheney: Shakespeare’s Literary Authorship (s. Anm. 12), S. 19 (Hervorhebung im Original); siehe auch Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright (s. Anm. 13), S. 17–48. 17 Cheney: Shakespeare’s Literary Authorship (s. Anm. 12), S. 44.

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scheidenheit und aggressiver Selbstautorisierung18 –, lässt sich Shakespeares hybride Konzeption literarischer Autorschaft nicht ganz ohne das Mittelalter denken. Seit den 1990er Jahren ist das Burckhardt’sche Epochenmodell in der angloamerikanischen Mediävistik zunehmend revidiert worden.19 Und auch die anglistische Frühneuzeitforschung hat sich im Zuge dessen verstärkt auf die Untersuchung von Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Renaissance kapriziert. Helen Coopers so kurze wie bündige Beobachtung, dass Shakespeare letztlich in einer mittelalterlichen Welt lebte – „The world in which Shakespeare lived was a medieval one“20 – bringt gut ein in den letzten zehn Jahren entstandenes Forschungsparadigma auf den Punkt: die ‚Mittelalterlichkeit‘ Shakespeares. In den vielen in dieser Zeit veröffentlichten Einzelstudien zur Rezeption des Mittelalters durch frühneuzeitliche Autoren allgemein und speziell im Werk Shakespeares kommt allerdings lediglich am Rande in den Fokus, dass (und wie) Shakespeares Werke selbst die Konstruktion der Epochenschwelle, den Umbruch von Mittelalter in Renaissance, konstruieren. Wieder und wieder inszenieren (und unterlaufen) Shakespeares Werke fortschrittsteleologische Erzählungen, denen zufolge eine mittelalterliche Welt in die Moderne katapultiert wird. Eine Analyse von Shakespeares strategischem Spiel mit multiplen Zeitlichkeiten im Dienste der Konstruktion (und gleichzeitigen Dekonstruktion) von Epochenschemata ermöglicht dabei einen differenzierteren Blick auf Shakespeares Rückgriff auf mittelalterliche Konzeptionen literarischer Autorschaft und deren Relevanz für Shakespeares Modell eines sich selbst verschleiernden Dichter-Dramatikers. Eine wichtige Grundlage für das Herausarbeiten von Kontinuitäten und Brüchen in Phasen epochalen Wandels ist die – bislang noch zu wenig in den 18 In seiner Analyse von Geoffrey Chaucers The Parliament of Fowls als mögliche Vorlage für Shakespeares Gedicht The Phoenix and the Turtle, schlussfolgert Cheney: „The paradox of an authorial voice clarified yet displaced results […], because Shakespeare lets collide the two major English models of authorship then available: Chaucerian self-effacement and Spenserian self-crowning.“ Cheney, Patrick: The Voice of the Author in The Phoenix and the Turtle, in: Shakespeare and the Middle Ages, hg. v. Perry Curtis / John Watkins, Oxford 2009, S. 103–125, hier S. 112–113 (Hervorhebungen im Original). 19 Siehe u. a. Simpson, James: Reform and Cultural Reformation, Oxford 2002; Summit, Jennifer / Wallace, David (Hg.): Medieval / Renaissance. After Periodization, Sondernummer des Journal of Medieval and Early Modern Studies 37 (2007); Davis, Kathleen: Periodization and Sovereignty. How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia 2008; Cummings, Brian / Simpson, James (Hg.): Cultural Reformations. Medieval and Renaissance in Literary History, Oxford 2010. 20 Cooper, Helen: Shakespeare and the Medieval World, London 2010, S. 1. Für Diskussionen von Shakespeares Rückgriff auf Mittelalterliches siehe u. a. Perry, Curtis / Watkins, John (Hg.): Shakespeare and the Middle Ages, Oxford 2009; Morse, Ruth / Cooper, Helen / Holland, Peter (Hg.): Medieval Shakespeare. Pasts and Presents, Cambridge 2013; Wald, Christina (Hg.): Medieval Shakespeare, Sondernummer von Shakespeare 8.4 (2012).

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entsprechenden literaturwissenschaftlichen Diskussionen berücksichtigte – Tatsache, dass literarische Texte ihre eigenen Zeitlichkeiten modellieren. Andrew James Johnston hat sowohl für mittelalterliche Texte (bspw. Beowulf oder Chaucers Knight’s Tale) wie auch für Shakespeares Othello herausarbeiten können, wie diese ihre ‚Mittelalterlichkeit‘ bzw. ihre ‚Modernität‘ ausstellen und damit einem zeitlichen othering des Mittelalters Vorschub leisten. Wie Johnston zeigt, kartiert ein Drama wie Othello eine Fortschrittsteleologie – vom Mittelalter zur Geburt des Renaissance-Menschen –, die Kontinuitäten mit mittelalterlichen Textbeständen zumindest oberflächlich zu überdecken vermag.21 Die Konstruktion und gleichzeitige Dekonstruktion fortschrittsteleologischer Narrative ist aber keineswegs auf Othello beschränkt: In Stücken unterschiedlichster dramatischer Gattungen und Schaffenszeiten inszeniert Shakespeare immer und immer wieder Fortschrittsteleologien, die den Fokus vom Mittelalter weg lenken, um ihre eigene Modernität zur Schau zu stellen, zugleich aber – indem sie ihre eigene Konstruiertheit ausstellen – eben diese Modernität auch wieder hinterfragen. Dies betrifft auch die Mittelalterlichkeit von Shakespeares Konzeption literarischer Autorschaft, die immer wieder verschleiert wird, aber letztlich in bestimmten poetologischen Passagen z w i s c h e n vermeintlich Mittelalterlichem und vorgeblich Modernen durchscheint.22 Zentral für die Verschleierung wird damit das Spiel mit der strategischen Konstruktion von multiplen Zeitlichkeiten (multiple temporalities), von Asynchronien.23 Im Folgenden möchte ich dies am Beispiel von King Lear zeigen, einer Tragödie, die sehr bewusst die Problematiken der Konstruktion multipler Zeitlichkeiten – insbesondere mit Blick auf Fragen von Autorschaft – verhandelt.24 Vordergründig findet die Handlung des King Lear zunächst in einer feudalen 21 Johnston, Andrew James: Performing the Middle Ages from Beowulf to Othello, Turnhout 2008, S. 225–312. 22 Für die ‚Mittelalterlichkeit‘ von Shakespeares Autorschaftskonzeption siehe ferner Keller, Wolfram: Shakespearean Medievalism. Conceptions of Literary Authorship in Richard II and John Lydgate’s Troy Book, in Medievalism, hg. v. Ute Berns / Andrew James Johnston, Sondernummer des European Journal of English Studies 15.2 (2011), S. 129–142; Keller, Wolfram: Arrogant Authorial Performances. Criseyde to Cressida, in: Love, History and Emotion in Chaucer and Shakespeare. Troilus and Criseyde and Troilus and Cressida, hg. v. Andrew James Johnston / Russell West-Pavlov / Elisabeth Kempf, Manchester 2016, S. 141–156. 23 Für die Konstruktion multipler Zeitlichkeiten und deren Relevanz für Fragen der Epochisierung, insbes. der Epochenschwelle, siehe Dinshaw, Carolyn: Temporalities, in Middle English, hg. v. Paul Strohm, Oxford 2007, S. 107–123; Dinshaw, Carolyn: How Soon Is Now. Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time, Durham 2012. 24 Vorarbeiten zur Konstruktion multipler Zeitlichkeiten in Shakespeares King Lear finden sich in Keller, Jocelyn / Keller Wolfram R.: „Now is the Time“. Shakespearean Temporalities in Akira Kurosawa’s Ran, in: The Medieval Motion Picture. The Politics of Adaptation, hg. v. Andrew James Johnston / Maggie Rouse / Philip Hinz, Houndmills 2014, S. 19–40.

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Zeit statt, die dann aber sehr schnell in die „Moderne“ geworfen wird. Auf einen zweiten Blick jedoch entlarvt King Lear solcherlei Epochensetzung als Illusion, insofern immer wieder das „Mittelalterliche“ ins „Moderne“ und die „Modernität“ ins „Mittelalterliche“ kippt. Das Stück eröffnet so den Blick auf diejenigen Strategien, mithilfe derer sich das Moderne als Inversion des vermeintlich Mittelalterlichen konstruiert, als all das, was die vorangehende Epoche nicht gewesen sei. Dabei offenbart King Lear einerseits die Sinnlosigkeit einer Nostalgie für ein (nie gewesenes) feudales Zeitalter, während die Tragödie andererseits hinterfragt, wie erstrebenswert scheinbar moderne bzw. modern konnotierte Formen der Performanz (z. B. machiavellistische Dissimulation) zum Zwecke der erfolgreichen Umsetzung politischer Zielsetzungen sind. Die Tragödie legt darüber hinaus auch die Konstruiertheit ästhetischer Wertung dar, die dem Jonglieren mit Asynchronien inhärent ist. Mit Blick auf das Stück und Shakespeares Autorschaftsmodell betrifft dies besonders die Inszenierung eines Umbruchs von mittelalterlicher Dichtung zum frühneuzeitlichen Theater. Dieser scheinbare Bruch ist in der Figur des Narren verkörpert, der als wichtigster Dichter-Dramatiker des Stücks Shakespeares Karrieremodell eines als Dramatiker u n d Dichter tätigen Autors auf die Bühne bringt.25 Seine ‚Prophezeiung Merlins‘ steht im Zentrum der Tragödie und bringt die verschiedenen im King Lear repräsentierten Zeitverläufe pointiert zur Darstellung. Was dieser Annahme zunächst entgegenzustehen scheint, ist die (vermeintliche) Tatsache, dass die Handlung von King Lear nicht im Mittelalter angesiedelt ist. Die von Shakespeare herangezogenen Quellen, zuvörderst die im zwölften Jahrhundert verfasste Historia regum Britanniae von Geoffrey of Monmouth, datieren das Leben King Lears in eine Zeit vor der Geburt Christi. Die Forschung ist sich jedoch darüber einig, dass das vorchristliche Setting als solches nicht wirklich konsistent ist.26 Grigori Kozintsev ist beispielsweise der Meinung, dass Shakespeare verschiedene Epochen und Orte im King Lear miteinander verschmelze, um so bestimmte Konfigurationen miteinander zu vergleichen, hervorzuheben oder zu verallgemeinern (s. u.).27 Darüber hinaus hat die Forschung ausführlich diskutiert, dass die ‚alten‘ Figuren des Stücks einer feudal-scholastischen Welt zu entstammen scheinen, einer von kollektiven Denkstrukturen geprägten Welt, die durch den Renaissance-Individualismus, wie er vom Bastard 25 Für die verschiedenen Dichter-Dramatiker im King Lear siehe insbes. Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright (s. Anm. 13), S. 34, 205–206; Cheney: Shakespeare’s Literary Authorship (s. Anm. 12), S. 103. 26 Für einen kurzen Überblick der Vorlagen für Shakespeares King Lear, siehe die Einleitung zur im weiteren Verlauf zitierten Ausgabe des Stücks: Foakes, R. A. (Hg.): King Lear, Walton-onThames 1997, S. 92–110. 27 Kozintsev, Grigori: Shakespeare. Time and Conscience, übers. v. Joyce Vining, London 1967, S. 61, 67.

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Edmund verkörpert wird, aus den Fugen gerät. So schreibt Jan Kott, Edmunds neue Art zu denken treffe ein kollektiv-feudales Universum wie ein Blitzschlag („fire of lightening“), das verbunden sei mit der neuen Herrschaft der ‚Lady Habsucht‘ („Dame Avarice“). Der im King Lear besonders zu Beginn evozierte mittelalterliche Feudalismus werde somit von einer Welt abgelöst, in der ‚Renaissance-Monster‘ sich gegenseitig auffressen wie Raubtiere („huge Renaissance monsters, devouring one another like beasts of prey“).28 John Danby ist etwas gnädiger, was die moralische Bewertung von Edmunds kapitalistisch-individualistischer Attitüde angeht. Für ihn ist Edmund ein normaler, vernünftiger, rationaler, aber eben auch emanzipierter Kerl („a normal, sensible, reasonable fellow: but emancipated“), eine Mischung – im positiven Sinne – eines Machiavellisten und eines Renaissance-Wissenschaftlers („politic machiavel and renaissance scientist“). Danby sieht in Edmund einen Stellvertreter Shakespeares, einen Karrieristen auf dem besten Weg ‚nach oben‘ („a careerist on the make“).29 Trotz ihrer unterschiedlichen Bewertungen stellen Kott und Danby im King Lear dieselbe zeitliche Dynamik fest: Edmunds Machtstrategie, schlussfolgert Danby, durchbreche mittelalterlich-feudale Strukturen und entwickle eine neue Form des Individualismus, die mittelalterliche Weltordnung weiche dem aufkommenden Kapitalismus („nascent capitalism“). Am Ende scheint aber auch Danby in seiner Bewertung etwas unsicherer, wenn er feststellt, dass Shakespeare zwar die alte Ordnung bevorzugt haben möge, aber er dennoch auch die neue Welt („New Men“) mit Sympathie porträtiere.30 Ein kurzer Blick auf die Art und Weise, wie die Figuren des Stücks selbst ihre Welt verzeitlichen, scheint die Konstruktion einer solchen Fortschrittsteleologie – die bruchhafte Ablösung des Mittelalters durch die Moderne – zunächst zu bestätigen. Gleich zu Beginn des King Lear, in der Szene, mit der die Tragödie ihren Lauf nimmt – und zwar dadurch, dass ausgerechnet Lear von gegebenen Traditionen abweicht –, konstatiert Cordelia, dass in der feudalen Welt, in der sie aufgewachsen ist, alles genau so war, wie es auch den Anschein hatte, während nun eine neue Zeitordnung beginne, in der eine aalglatte Rhetorik vorherrsche, bei der das Gesagte nicht dem Gemeinten entspräche („glib and oily art / To speak 28 Kott, Jan: Shakespeare Our Contemporary, übers. v. Boleslaw Taborski, Garden City 1964, S. 110. Siehe darüber hinaus auch Muir, Edwin: The Politics of King Lear, Glasgow 1947, S. 19–24; Spencer, Theodore: Shakespeare and the Nature of Man, New York 21949. Ein bündiger Überblick über die Nachkriegsforschung zu King Lear findet sich in Foakes, R. A.: Hamlet vs. Lear. Cultural Politics and Shakespeare’s Art, Cambridge 1993, S. 51–54. 29 Danby, John F.: Shakespeare’s Doctrine of Nature. A Study of King Lear, London 1951, S. 34– 35, 41. 30 Danby: Shakespeare’s Doctrine of Nature (s. Anm. 29), S. 46, 52. Eine kritische Einordnung von Danbys einflussreicher Interpretation findet sich in Halpern, Richard: The Poetics of Primitive Accumulation. English Renaissance Culture and the Genealogy of Capital, Ithaca, NY 1991, S. 216, 305–306 Fn. 5.

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and purpose not“ [1.1.226–227]). Die Welt Edmunds ist hiermit bestens beschrieben: Es ist eine Welt der Illusion, der rhetorischen Performanz und des Schauspielerns, der Verstellung und der Dissimulation – Strategien, die Edmund als äußert zweckdienlich und legitim darzustellen weiß. Damit findet der Umbruch von Mittelalter zu Moderne, der auf den ersten Blick inszeniert wird, auch eine poetologische Entsprechung, die sich in Danbys Ausführungen bereits andeutet: Eine mittelalterliche Welt imitativer Dichtung wird von der Moderne eines innovativen Theaters verdrängt, von der Welt des „working dramatist“ William Shakespeare.31 In der Tat scheint das professionelle Theater mit all’ seinen Möglichkeiten, alternative Realitäten zu erschaffen und verschiedenste Rollen zu erproben, im King Lear am deutlichsten mit Edmund assoziiert zu sein, bei dem es sich, wie bereits gesagt, um einen veritablen Machiavellisten handelt. Darüber hinaus verkörpert er aber auch die Zeit als solche – nicht nur, weil er das Kommen einer neuen Epoche repräsentiert, sondern auch, weil er in der Lage ist, anderen Figuren ihre Zeit zuzuweisen.32 Dies ist wiederum möglich, da Edmund in die Rolle des Regisseurs einer zu seinen Gunsten umgeformten Realität schlüpft. Anders formuliert: Nicht nur ist Edmund dank seiner rhetorischen Finesse in der Lage, sich in anderer Leute Rollen zu imaginieren, darüber hinaus vermag er es auch, anderen in einer von ihm gestalteten Welt ihre Rolle zuzuteilen. Zu Beginn des King Lear erläutert Edmund sich selbst und dem Publikum seine Gedanken zur Rechtmäßigkeit von Erbfolgen, aus denen er als uneheliches Kind ausgeschlossen bleibt: Who in the lusty stealth of nature take More composition and fierce quality Than doth within a dull stale tired bed Go to creating of a whole tribe of fops Got ’tween a sleep and wake. Well, then, Legitimate Edgar, I must have your land. ….……………………………………… Well, my legitimate, if this letter speed And my invention thrive, Edmund the base Shall top the legitimate. I grow, I prosper […] (1.2.11–16, 19–21)33 31 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Shakespeares Dramen häufig Dichtung mit Mittelalter assoziieren, während dies bei seinen Zeitgenossen nicht zwangsläufig der Fall war; wie Patrick Cheney zeigt, wird Shakespeare selbst im literarischen Diskurs der Zeit vielmehr häufig als Poet referenziert. Siehe Cheney: Introduction (s. Anm. 5), S. 6–10. 32 Kozintsev: Shakespeare (s. Anm. 27), S. 94. Siehe ferner Bloom, Harold: Shakespeare. The Invention of the Human, New York 1998, S. 488. 33 „[Warum brandmarken sie uns mit ‚niedrig‘?…] die wir bei der lustvollen Verstohlenheit der Natur eine vollständigere Mischung und mehr feuriges Temperament mitbekommen, als in einem langweiligen, schalen, müden Bett auf die Schaffung eines ganzen Stammes von

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Edmunds Erklärung, dass ihm Gloucesters Besitztümer trotz seiner unehelichen Geburt genauso zustünden wie seinem Halbbruder Edgar, ist von Bezugnahmen auf kreative Prozesse durchsetzt, die darin gipfeln, dass Edmund aufgrund seiner invention, seines Einfallsreichtums, mit seinem Plan Erfolg haben werde, den der Tradition nach ‚rechtmäßigen‘ Erben Edgar auszubooten. Er wachse und gedeihe, sagt Edmund schließlich über sich selbst, ein evolutionär-teleologisches Bild bemühend. Wie aus diesen – metadramatisch aufgeladenen und die eigene Innovationskraft heraufbeschwörenden – Aussagen hervorgeht, ist Edmund äußerst begabt darin, wie David Bevington feststellt, andere dadurch zu täuschen, dass er Rollen einnehmen und ablegen kann wie ein talentierter Schauspieler („superbly adept at fooling others by his ability to don roles as a skilled actor does“); das mache ihn zum Hauptverschwörer der Tragödie, zum Dramatiker des King Lear („master plotter of King Lear, fulfilling the role of dramatist“),34 was wiederum unterstreicht, dass die Bühnenkunst zu einer Institution der Modernisierung wird (siehe hier auch 1.2.181–182). So überzeugend Interpretationen von King Lear im Sinne einer Inszenierung des bruchhaften Übergangs von Mittelalter zu Moderne, von einem Paradigma des Dichterischen zu einem des Theatralen, auch sein mögen, gibt es doch einige Momente in der Tragödie, die dieser fortschrittsteleologischen Auslegung zu widerstreben scheinen. Auch hier gilt Danbys – in einem anderen Zusammenhang getätigte – Aussage, dass King Lear allerorten Entweder-Oder-Interpretationen zuwiderlaufe.35 In einer beeindruckend detailreichen Analyse der Mittelalter-Moderne-Dichotomie in King Lear beginnt auch Richard Halpern mit der Feststellung, dass es in der Tragödie wenigstens teilweise um den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus geht: „[King Lear] is at least partly ‚about‘ the transition from feudalism to capitalism“. Allerdings kommt auch Halpern nicht umhin, einige Probleme mit fortschrittsteleologischen Auslegungen zu konstatieren, die selbige angreifbar machten („[the] transitional thesis enfolds a number of implicit assumptions, many of them contestable“). Edmunds angeblich proto-kapitalistische Charakteristika zeigten bei genauerer Betrachtung Überbleibsel der vorangehenden feudalistischen Ordnung. Wie sehr Edmund Gecken geht, gezeugt zwischen Schlafen und Wachen? Also dann, rechtmäßiger Edgar, ich muss Dein Land haben. […] Nun, mein Rechtmäßiger, wenn dieser Brief ankommt, und meine List sich gut entwickelt, wird Edmund, der Niedere, den Rechtmäßigen unterkriegen –: ich wachse, ich gedeihe…“. Zitiert wird hier (und im Folgenden) aus Shakespeare, William: King Lear / König Lear, übers. v. Raimund Borgmeier et al., Ditzingen 2015. 34 Bevington, David: This Wide and Universal Theatre. Shakespeare in Performance, Then and Now, Chicago 2007, S. 160. Für Edmunds schauspielerisches Talent und seine Fähigkeiten im Bereich der Regieführung siehe ferner Reibetanz, John: The Lear World. A Study of King Lear in Its Dramatic Context, Toronto 1977, S. 58–59. 35 Danby: Shakespeare’s Doctrine of Nature (s. Anm. 29), S. 47–48. Für Widersprüchlichkeiten in Danbys Darstellung siehe Foakes: Hamlet vs. Lear (s. Anm. 28), S. 54.

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auch die Rolle eines neuen Renaissance-Menschen („the Renaissance new man“) übernehme, schreibt Halpern weiter, verweise diese immer wieder auf eine kulturell vorgängige Struktur („a culturally anterior form“). Diese Argumentation weiter ausbauend formuliert Halpern schließlich als Fazit, dass dem inszenierten Übergang vom Mittelalter zur Renaissance eine geradezu abstruse Gegen-Chronologie entgegenstehe, nämlich die Inszenierung des Übergangs von Kapitalismus zu Feudalismus („the transition from capitalism to feudalism“).36 Eine solche Umkehrung des bruchhaften Fortschreitens von Feudalismus zu Kapitalismus, von mittelalterlicher Dichtung zu modernem Bühnenspiel, scheint besonders mit den Figuren assoziiert zu sein, die Shakespeares Karrieremodell des Dichter-Dramatikers verkörpern und deren Relevanz für die Konstruktion multipler Zeitlichkeiten ich mich im Folgenden widmen werde. Während Edmund von Anfang an als ‚Modernisierer‘ aufzutreten scheint und sein Halbbruder Edgar zunächst als konservatives, die Werte der abtretenden Generation bewahrendes Opfer machiavellistischer Strategien auftritt, wird zur Mitte des King Lear hin vorgeführt, wie sich solch teleologische Anliegen in ihr Gegenteil verkehren lassen. Edgar versteht zunehmend, welche Rolle ihm Edmund zugewiesen hat. Als scheinbar vormoderner Charakter eignet er sich dann aber immer mehr die modernisierenden Fähigkeiten Edmunds an, die ihn von einem Dichter zu einem Dichter-Dramatiker werden lassen. In einem anderen Zusammenhang bringt Harold Bloom dies auf den Punkt, wenn er von Edgar als Edmunds unfreiwilliger Schöpfung spricht („Edmund’s unintended creation“).37 Dies deutet sich bereits im zweiten Akt an, als Edgar, nachdem sein Vater ihn aufgrund von Edmunds Intrige enterbt hat, sich als Irrer verkleidet und durch die Heidelandschaft geistert, in welcher er schließlich auf Lear und Kent trifft. Besonders eindrücklich wird Edgars Bühnentalent dann im vierten Akt vorgeführt. Hier versteht er es, den Selbsttötungsversuch seines Vaters zu verhindern, indem er die Fäden in die Hand nimmt und den (erfolglosen) Freitod für Gloucester inszeniert. Der mittlerweile seines Augenlichts beraubte Gloucester bittet Edgar, der in dieser Szene als Bauer in Erscheinung tritt („in peasant’s clothing and with a staff“ [4.6., Bühnenanweisung, Hervorhebung im Original]), ihn zur Steilküste Dovers zu begleiten. Gloucesters Selbstmordabsichten sind offenkundig seiner Unzufriedenheit mit dem Verlust der feudalen Ordnung im Lichte der heraufziehenden neuen Zeit geschuldet, deren unverblümtester Kritiker er von Anbeginn an ist: „We have seen the best of our time. Machinations, hollowness, tre36 Halpern: Poetics of Primitive Accumulation (s. Anm. 30), S. 216, 243, 247. 37 Bloom: Shakespeare (s. Anm. 32), S. 489. Für Edgars ‚Mittelalterlichkeit‘ siehe Cooper: Shakespeare (s. Anm. 20), S. 168. Insbesondere auch für die inhärenten religiösen Dynamiken siehe ferner Wilson, Richard: Secret Shakespeare. Studies in Theatre, Religion and Resistance, Manchester 2004, S. 271–293.

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achery and all ruinous disorders follow us disquietly into our graves“ (1.2.112– 114). Gloucester möchte an den höchsten Punkt der steilen Klippen („Horrible steep“ [4.6.3]) geleitet werden, und Edgar tut sein Bestes, den Anschein zu erwecken, dem Wunsch seines Vaters nachzukommen. Schließlich erklimmen sie den Rand des Abgrunds, wenn auch nur rhetorisch – in Edgars Beschreibung von dem, was er zu sehen vorgibt: Stand still: how fearful And dizzy it is to cast one’s eyes so low. The crows and choughs that wing the midway air Show scarce so gross as beetles. Half-way down Hangs one that gathers samphire, dreadful trade; Methinks he seems no bigger than his head. The fishermen that walk upon the beach Appear like mice, and yon tall anchoring barque Diminished to her cock, her cock a buoy Almost too small for sight… (4.6.11–20)38

Gloucester will sich sogleich von der imaginären Klippe in die Tiefe stürzen: „This world I do renounce and in your sights / Shake patiently my great affliction off“ (4.6.35–36). Da es dort aber gar keinen Abgrund gibt, schlüpft Edgar nun in die Rolle eines Strandspaziergängers am Fuße der fiktiven Steilküste und äußert mit verstellter Stimme seine Verwunderung darüber, dass Gloucester wie ein Wunder einen solchen tiefen Fall unverletzt überleben konnte: „but thou dost breathe, / Hast heavy substance, bleed’st not, speak’st, art sound“ (4.6.51–52). Wie diese geschickte Inszenierung zeigt, hat Edgar von seinem Halbbruder Edmund Einiges über ‚Regie‘ und Schauspielerei gelernt. Sein ‚Theaterwissen‘ verwendet Edgar aber eben nicht, um seine (und Gloucesters) Lebenswelt zu modernisieren, sondern – ganz im Gegenteil –, um die Zeit wieder zurückzudrehen, um mit Gloucester einen der letzten verbliebenen (noch halbwegs rational denkenden) Vertreter einer vermeintlich überkommenen feudalen Epoche am Leben zu halten. Dabei ist es Edgar offenkundig wichtig, sein Handeln als machiavellistischer ‚Dramatiker‘ von dem Edmunds und der ‚neuen Welt‘ zu unterscheiden, denn seine Verkleidung und das damit verbundene Handeln ändere nichts an seinem Wesenskern – er bliebe stets ‚der alte‘, betont er: „in nothing am I changed / But in my garments“ (4.6.8–9). Cheney interessiert sich an dieser Stelle besonders für 38 „…steh still. Wie furchtbar und schwindelerregend es ist, die Blicke so tief hinabzuwerfen! Die Krähen und Dohlen, die die Luft auf halber Höhe durchschwingen, zeigen sich kaum halb so groß wie Käfer; halbwegs unten hängt einer, der Fenchel sammelt, schreckliches Handwerk! Ich glaube, er scheint nicht größer als sein Kopf. Die Fischer, die auf dem Strand gehen, erscheinen wie Mäuse, und die große ankernde Barke dort hinten verkleinert zu ihrem Boot, ihr Boot eine Boje, fast zu klein für den Blick“.

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das ‚Nichts‘, das sich bei Edgar (nicht) verändert. Ein solches ‚Nichts‘, schreibt Cheney, sei an dieser Stelle (aber auch in vielen anderen Shakespeare-Dramen) Ausdruck von Shakespeares literarischer Autorschaft, die sich bei Edgar in einer sehr dunklen und generisch fragmentierten Form äußere: „When he does sustain the pressure, no one disappears so darkly into his authorial role, complete with mad snatches of ruined song, borrowed and invented“39. Die auktoriale Relevanz von Nothing – in Edgars Fall, aber auch im King Lear allgemein – führt überdies zum Beginn des Konflikts zurück, der die Tragödie allererst ins Laufen bringt: die Selbstautorisierung Cordelias in ihrer Verweigerung, der absurden Erbverfügung ihres Vaters viel Zeit und Emotion zu schenken. Auf Lears Frage, welche Tochter ihn denn am meisten liebe, sodass er entsprechend große Teile seines Vermögens vererben könne – „Which of you [daughters] shall we say doth love us most / That we our largest bounty may extend“ (1.1.51–52) –, antworten Cordelias Schwestern Regan und Goneril ausufernd. Als sie selbst an der Reihe ist und Lear wissen möchte, was Cordelia für sich ins Feld führen könne, entgegnet sie mit einem „Nothing“, das einem Echo gleich durch das gesamte Drama verhallt: CORDELIA LEAR CORDELIA

Nothing, my lord. Nothing? Nothing. (1.1.87–89)

Lears Versuch, traditionelle Formen der Erbfolge mit einem affektiven Wertediskurs in einer Weise zu koppeln, die durchaus auch im Sinne einer Modernisierung gedeutet werden kann,40 setzt Cordelia, sich selbst treu bleibend, ein „Nichts“ entgegen, das letztlich aber dem Lauf der Dinge keinen Einhalt gebieten kann, sondern das Aufziehen einer neue Ära nur beschleunigt. Edgars Rückgriff auf die performativen Mittel der neuen Welt, um die Uhren rückwärts in eine Zeit laufen zu lassen, in der sich ‚nichts‘ verändert, ist von etwas mehr Erfolg gekrönt – indem er den Selbstmord seines Vaters verhindert, aber potentiell auch am Ende des Stücks, bei dem allerdings aufgrund unterschiedlicher Ausgestaltungen der Quarto- und Folio-Texte nicht ganz klar ist, ob Edgar als Vertreter der alten Ordnung die Krone in Empfang nehmen will. In der Folio-Ausgabe spricht Edgar die entsprechenden Schlussworte (in der Quarto-Ausgabe ist es Albany), welche die Transparenz in Handeln und Denken lobpreisen, die für die Zeit vor Einsetzen der Handlung des King Lear charakteristisch war: The weight of this sad time we must obey, Speak what we feel, not what we ought to say. 39 Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright (s. Anm. 13), S. 205–206. 40 Eine Zusammenfassung der Erbfolge-Problematik und King Lears Abweichung von gängiger Tradition findet sich in Restivo, Giuseppina: Inheritance in the Legal and Ideological Debate of Shakespeare’s King Lear, in: Shakespeare and the Law, hg. v. Paul Raffield / Gary Watt, Oxford 2007, S. 159–172.

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The oldest hath borne most; we that are young Shall never see so much, nor live so long. (5.3.322–25)41

Aber zwischen den Zeilen wird auch hier deutlich, dass die Uhren sich nicht ganz zurückdrehen lassen. Darüber hinaus hat Edgars Selbstinszenierung als DichterDramatiker einen hohen Preis: in dem Moment, in dem er sich seinem Vater gegenüber als Schauspieler und ‚Regisseur‘ zu erkennen gibt, stirbt Gloucester an den Folgen eben dieser Offenbarung. Wie die Beispiele Edmund und Edgar zeigen, ist das Spiel mit verschiedenen Konstruktionen von Zeitlichkeit bis hin zum Außer-Kraft-Setzen oder gar Umkehren chronologischer Abfolgen zuvörderst eine Angelegenheit von Figuren, die mit literarischer Autorschaft assoziiert werden. Dies ist auch bei dem wohl erfolgreichsten Dichter-Dramatiker des King Lear, dem Narren, der Fall. Im Gegensatz zu Edmund und Edgar ist der Narr nicht auf eine zeitliche Bewegung (vorwärts-chronologisch, rückwärts-antichronologisch) aus, sondern kommentiert vielmehr diese gegensätzlichen zeitlichen Dynamiken, die er letztlich auflösen kann – sein Jonglieren mit multiplen Zeitlichkeiten erlaubt es ihm schließlich, sich aus der Zeit ‚herauszuschreiben‘, das eigene Schaffen komplett zu verschleiern und seine Existenz damit abzusichern. Der Narr verschwindet in der Que(e)rung zeitlicher Differenz, in einer multitemporalen Unendlichkeit. Wie Cheney gezeigt hat, ist auch der Narr ein Dichter-Dramatiker: Er kommentiert das Geschehen mit Liedern und Gedichten, übernimmt aber auch dramaturgische Verantwortung für den zunehmend verwirrten King Lear42. Darüber hinaus ist der Narr, wie Harold Bloom einst feststellte, von der Zeit befreit („free of time“) und treibt aus der Tragödie hinaus in eine andere Ära („drift[ing] out of the play into another era“).43 Meiner Meinung nach ist der Narr nicht so sehr von der Zeit befreit, sondern er ent- und verwirft Zeitlichkeiten mühelos. So kann er mit unbedingter Relevanz für die gesamte Tragödie den Gegensatz von mittelalterlicher Vergangenheit und moderner Zukunft gänzlich dekonstruieren. Die Prophezeiung des Narren, die buchstäblich zentral für die Tragödie in der Mitte des dritten Akts platziert ist, stellt die im King Lear sorgfältig konstruierten multiplen Zeitlichkeiten nicht nur aus, sondern lässt sie sogleich ineinander fallen. Wie an keiner anderen Stelle in der Tragödie werden in der Prophezeiung des Narren anschaulich zeitliche und meta-dramatische Aspekte enggeführt, wobei die Unmöglichkeit der Differenzierung von Epochen 41 „Dem Gewicht dieser traurigen Zeit müssen wir gehorchen; aussprechen, was wir fühlen, nicht was wir sagen sollten. Der Älteste hat am meisten getragen: wir, die wir jung sind, werden niemals so viel sehen, noch so lange leben“. 42 Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright (s. Anm. 13), S. 205, vor allem mit Bezug auf 1.4.144–147. 43 Bloom: Shakespeare (s. Anm. 32), S. 499.

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als bewusstes ästhetisches Mittel ins Spiel gebracht wird, um just solche epochalen Setzungen geschickt für die Verschleierung der Quellen und der Genealogie eines Autorschaftsmodells zu nutzen, das eben solche temporalen Reflexionen überhaupt erst ermöglicht. In seiner Prophezeiung, die sich lediglich in der Folio-Ausgabe findet, bietet der Narr einen Einblick in seine Sicht auf das Geschehen, während King Lear wie von Sinnen ziellos in einem Sturm durch die Heidelandschaft irrt und den Verlust seiner Sinne beklagt: FOOL 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

This is a brave night to cool a courtesan. I’ll speak a prophecy ere I go:

When priests are more in word than matter, When brewers mar their malt with water, When nobles are their tailors’ tutors, No heretics burned but wenches’ suitors; When every case in law is right No squire in debt, nor no poor knight; When slanders do not live in tongues, Nor cut-purses come not to throngs, When usurers tell their gold i’the field, And bawds and whores do churches build, Then shall the realm of Albion Come to great confusion: Then comes the time, who lives to see’t, That going shall be used with feet. This prophecy Merlin shall make, for I live before his time. (3.2.79–96)44

Eine skizzenhafte Deutung dieser Prophezeiung bezüglich ihrer zeitlichen Dynamiken nimmt sich wie folgt aus: Die ersten vier Verse umreißen die kläglichen Gegebenheiten, wenn dem Schein der Dinge mehr Wert beigemessen wird als ihrer Substanz. Im King Lear ist dies die mit Edmund assoziierte Zeitlichkeit machiavellistischer Performanz, die Epoche der Bühnenkunst. Dahingegen wird in den darauffolgenden sechs Versen eine Zeit heraufbeschworen, in der alles den rechten Platz findet, die Zeit einer feudal-hierarchischen Epoche, die der 44 „Dies ist eine prächtige Nacht, um eine Kurtisane abzukühlen. Ich will eine Prophezeiung sagen, ehe ich gehe: Wenn Priester im Wort mehr sind als in der Sache; wenn Brauer ihr Malz mit Wasser ruinieren; wenn Adlige die Lehrer ihrer Schneider sind; keine Ketzer verbrannt werden, sondern Dirnenfreier; wenn jeder Rechtsfall richtig ist; kein Junker verschuldet, und auch kein armer Ritter, wenn Verleumdungen nicht in Zungen leben; und Taschendiebe auch nicht zu Menschenmassen kommen; wenn Wucherer ihr Gold auf freiem Feld zählen; und Zuhälter und Huren Kirchen bauen; dann wird das Reich Albion in ein großes Chaos kommen. Dann kommt die Zeit – wer es erlebt –, wo Gehen mit Füßen das Übliche sein wird. Diese Prophezeiung wird Merlin machen; denn ich lebe vor seiner Zeit“.

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Handlung des King Lear vorangegangen zu sein scheint und in nostalgischer Verklärung fortlebt. Die Verse elf und zwölf fassen dann die Konsequenz der in den ersten vier Versen beschriebenen Zustände zusammen: Die insulare Welt versinkt angesichts des Regimes von Schein über Sein im Chaos. Demgegenüber schildern die letzten beiden Verse der Prophezeiung dann das Resultat aus den in den Versen fünf bis zehn geschilderten Zuständen: Es folgt eine unaufgeregte Zeit, in der die Ratio stets obsiegt. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass diese Korrelationen allerdings strukturell nicht folgerichtig abgebildet sind, da es ja zunächst so scheinen muss, als bezöge sich die Aussage, dass das Land im Chaos versinke, auf die zuvor geäußerten Zustände – entweder die direkt vorangehenden, positiv konnotierten Zustände oder aber eine vorangehende Koexistenz von Zuständen, die sowohl positiv wie auch negativ zu deuten sind. Die Shakespeare-Forschung hat durchaus Wege gefunden, dieses offensichtliche Problem zu umschiffen. In der Editionspraxis und in philologisch orientierten Studien ist die problematische Chronologie häufig mit dem Verweis auf die nicht ganz einfache Überlieferungssituation schlicht ‚repariert‘ worden. Die Prophezeiung wurde entsprechend anders gedruckt: Die Verse elf und zwölf, die das entstehende Chaos referenzieren, werden als Verse fünf und sechs eingefügt und fertig ist ein – zumindest in sich stimmiges – Zeitgefüge. Dieses ist jedoch nur sehr bedingt mit dem Handlungsverlauf des King Lear in Einklang zu bringen. Andere Arbeiten wiederum stören sich nicht weiter an der merkwürdigen Zeitstruktur der Prophezeiung, handelt es sich doch, wie Terence Hawkes betont, um eine sogenannte ‚Prophezeiung Merlins‘ (merlinesque prophecy), eine spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Gattung, die üblicherweise den Niedergang einer staatlichen Ordnung voraussage und deren zentrales Gattungsmerkmal es gerade sei, keiner Logik zu folgen.45 Eingedenk der hier aufgezeigten zeitlichen Dynamiken des King Lear erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die der Prophezeiung des Narren zugrundeliegende, scheinbar unlogische zeitliche Ordnung durchaus in genau dieser Form intendiert ist, denn schließlich korrespondiert sie mit der Inszenierung zweier gegenläufiger Zeitverläufe, einerseits chronologisch-zukunftsgewandt und andererseits gegen-chronologisch-rückwärtsgewandt. Die durcheinander gewirbelte ‚Chronologie‘, die letztlich in der Restitution einer von Rationalität und hierarchischen Beziehungen geprägten Epoche mündet, findet 45 Hawkes, Terence: The Fool’s ‚Prophecy‘ in King Lear, in: Notes and Queries 7.9 (1960), S. 331–332. Siehe ferner die kurze Diskussion der Arden-Ausgabe, Foakes (Hg.): King Lear (s. Anm. 26), S. 268–269nn. Am Rande muss vermerkt werden, dass die Figur des Narren selbst eine mittelalterlich-literarische Genealogie aufweist; der Narr entstammt sozusagen aus der Zeit, aus der sich auch das Autorschaftsmodell heraus entwickelt, das er letztlich repräsentiert. Siehe hierzu Wenzel, Siegfried: The Wisdom of the Fool, in: The Wisdom of Poetry, hg. v. Larry D. Benson / Siegfried Wenzel, Kalamazoo 1982, S. 225–240.

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ihre Entsprechung in der von Halpern herausgearbeiteten ‚gegen-chronologischen‘ Auslegung: Die ‚neue‘ und chaotische Welt eines von Dissimulation charakterisierten Kapitalismus, wie sie vor allem von Edmund repräsentiert wird, fällt in feudalistische Gesellschaftsformen zurück, wie sie von der älteren Generation (insbes. Gloucester) verkörpert werden oder verkörpert sein sollten (insbes. Lear). In diese rahmende Makrostruktur – von kapitalistischem Chaos (Verse 1–4) zu feudalistischer Ordnung (Verse 13–14) – wird der gegenläufige Zeitverlauf – von feudalistischer Ordnung (Verse 5–10) zu kapitalistischem Chaos (Verse 11–12) – quasi ‚eingefaltet‘. Dadurch entsteht eine Zirkularität in der Abfolge von chaotischen und geordneten Zeitabschnitten, die teleologische Auslegungen prinzipiell in Frage stellt. Die Prophezeiung des Narren repräsentiert hier also verschiedene Zeitlichkeiten in einer Art und Weise, die dem Bild des zusammengeknüllten Taschentuchs gleichkommt, mit dem Michel Serres das nicht-lineare Aufeinandertreffen verschiedener Zeitlichkeiten visualisiert und das Jonathan Gil Harris (als Palimpsest unterschiedlichster Temporalitäten) für die Analyse der Kultur der Shakespeare-Zeit aufgreift.46 Dies wird umso deutlicher, wenn weitere zeitliche Bezugnahmen der Prophezeiung in den Blick genommen werden, welche die geschilderten Konstruktionen der gegensätzlichen zeitlichen Abfolgen irritieren. Das Auftreten des Narren auf einer frühneuzeitlichen Bühne birgt an sich bereits ein zeitliches Problem, das im Rahmen der ‚Prophezeiung Merlins‘ in seiner ästhetischen Relevanz weiter aufgeblättert wird. Wie Stephen Greenblatt betont, wird der Narr im King Lear (insbesondere auch aufgrund seiner Requisiten) dezidiert als eine ‚mittelalterliche‘ Figur eingeführt. Der Narr wird so zu einem wandelnden Anachronismus, schreibt Greenblatt, mit dessen Hilfe zeitgleich zeitliche Distanz wie Simultanität ausgedrückt werde („simultaneous [historical] distance and contemporaneity“)47. Solcherlei zeitliche Überlagerungen von Mittelalterlichem und Modernem finden sich auch in der Prophezeiung selbst und unterstreichen damit die poetologische Relevanz der Passage. 46 Im Gespräch mit Bruno Latour erläutert Michel Serres am Beispiel eines zusammengeknüllten Taschentuchs, wie diverse Zeitlichkeiten ineinander ‚gefaltet‘ sind: „If you take a handkerchief and spread it out in order to iron it, you can see in it certain fixed distances and proximities. If you sketch a circle in one area, you can mark out nearby points and measure far-off distances. Then take the same handkerchief and crumple it, by putting it in your pocket. Two distant points suddenly are close, even superimposed. If, further, you tear it in certain places, two points that were close can become very distant.“ Serres, Michel mit Bruno Latour: Conversations on Science, Culture and Time, übers. v. Roxanne Lapidus, Ann Arbor 1995, S. 60. Für eine Analyse solcher zeitlicher Interferenzen in frühneuzeitlicher englischer Literatur, siehe Harris, Jonathan Gil: Untimely Matter in the Time of Shakespeare, Philadelphia 2009. 47 Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley, CA 1988, S. 116–117.

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Ein besonders anschauliches Beispiel betrifft gleich die ersten Verse der Prophezeiung sowie die Verse elf und zwölf. Der Narr bzw. Shakespeare könnte den Text aus George Puttenhams The Art of English Poesy (1589) entliehen haben, einer der wichtigsten Poetiken der englischen Renaissance: Sir Geoffrey Chaucer, father of our English poets, hath these verses following in the Distributor: When faith fails in priests’ saws, And lords’ hests are holden for laws, And robbery is ta’en for purchase, And lechery for solace, Then shall the Realm of Albion Be brought to great confusion.48

Puttenham schreibt diese Zeilen Geoffrey Chaucer zu; und sie finden sich auch in dieser Form in der von William Thynne 1532 besorgten Ausgabe der Werke Chaucers. (Der eigentliche Urheber dieser Verse war allerdings der mittelalterliche Dichter Thomas of Erceldoune)49. In jedem Fall jedoch findet die von machiavellistischer Dissimulation und Performanz geprägte neue Welt beim Narren schriftlichen Ausdruck in einem mittelalterlichen Zitat, wodurch erneut die Epochengrenze von Mittelalter und Moderne aufgehoben wird. Solche epochalen Hybridisierungen werden darüber hinaus aber auch in der vom Narren selbst konzeptualisierten ‚literarischen‘ Sprechsituation manifest. Der Narr spricht seine Prophezeiung in vermeintlich vorchristlicher, wenngleich offensichtlich ‚mediävalisierter‘ Zeit aus, wobei er voraussagt, dass genau diese Prophezeiung eigentlich erst noch zu artikulieren wäre, nämlich von Merlin und damit in der Hochzeit des Artushofs, also einige hundert Jahre später. Die innerhalb der Prophezeiung – und offenbar auf die Verhandlung von Zeitlichkeiten auf der Handlungsebene der Tragödie gemünzten – konstruierten Temporalitäten multiplizieren sich an dieser Stelle folglich erneut: Eine mittelalterlich-feudale Ordnung, die allererst noch entstehen muss und die mit den Worten Chaucers (also zeitlich nach dem Niedergang der Tafelrunde) beschrieben wird, wird sodann in die Zeit Merlins (also weiter ins Mittelalter hinein) transponiert. Merlin wird folglich (aus der zeitlichen Perspektive des Narren: in der Zukunft) den Verlust einer Weltordnung beklagen, die zu diesem Zeitpunkt lediglich kurz in ihrem Untergang greifbar wird bzw. sich für die Protagonist*innen des Stücks gar nicht erst materialisieren wird – eine utopische Welt, die im King Lear unerreichbar erscheint, außer vielleicht für den Narren selbst. 48 Puttenham, George: The Art of English Poesy by George Putttenham. A Critical Edition, hg. v. Frank Whigham / Wayne A. Rebhorn, Ithaca, NY 2007, S. 309. 49 Siehe hierzu ferner Cooper: Shakespeare (s. Anm. 20), S. 167; Foakes (Hg.): King Lear (s. Anm. 26), S. 268–269nn.

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Die Prophezeiung des Narren zeigt eindrücklich, wie aussichtslos es im Universum des King Lear ist, Zeitlichkeiten und Epochen kategorisieren oder, um mit Latour zu sprechen, ‚purifizieren‘ zu wollen.50 Mit Modernisierung assoziierte Purifizierungsversuche laufen in der fiktionalen Welt der Tragödie stets in Leere. Aus der Perspektive des Narren heraus läuft die Zeit gleichzeitig vorwärts wie rückwärts, Modernes erweist sich als Mittelalterliches, Konstruktionen epochalen Wandels verfangen nicht. Der Narr ist dabei aber keineswegs nur ein Betrachter dieser Phänomene. Vielmehr ist er, wie bereits erwähnt, ein DichterDramatiker, der die Tragödien-Realität nicht nur treffend beschreibt, sondern auch selbst mit konstruiert. Als solcher steht er in besonderem Maße für das literarische Autorschaftsmodell Shakespeares ein, insofern kaum an einer anderen Stelle im Oeuvre des Barden die Relevanz mittelalterlicher Autorschaftskonzeptionen so deutlich sichtbar wird. Die Dekonstruktion jedweder Versuche zeitlicher Purifizierung vollzieht sich in einer Prophezeiung, die gleichsam auch literarhistorische und generische Differenzierungen verunmöglicht. Als mittelalterliche Figur auf der frühneuzeitlichen Bühne macht der Narr sich ein mittelalterliches Genre zunutze – die ‚Prophezeiung Merlins‘ –, das allerdings formal in eine der Gattungen der Renaissance schlechthin gegossen wird: Mit ihren vierzehn Versen nimmt die Prophezeiung unweigerlich Bezug auf die Form des Sonetts. Für einen kurzen Augenblick blitzt also an einer zentralen Stelle im King Lear ein poetologisches Programm auf, in dem die für Shakespeares literarisches Schaffen charakteristische Verbindung von Dichtung und Theater nicht nur inszeniert, sondern auch in ihrer zeitlichen Dimension erhellt wird. Dabei wird nicht nur die mittelalterliche Vorgeschichte des präferierten Autorschaftsmodells sichtbar, sondern es wird auch deutlich, dass die Strategie der auktorialen Selbstverschleierung eng verwoben ist mit der Fähigkeit, Asynchronien zu konstruieren. Direkt im Anschluss an seine in faszinierender Weise multitemporale Prophezeiung schreibt sich der Narr sodann aus der Zeit des Stücks heraus. Fortan ist er nur noch als eine Art intertextuelles Phantom fassbar, beispielsweise in Bezugnahmen auf ihn in den Reden Lears und Edgars, oder potentiell auch aufführungspraktisch in Form eines Schauspielers: Da der Narr und Cordelia nicht gleichzeitig auf der Bühne erscheinen, wäre es möglich, dass ein und derselbe Schauspieler beide Rollen übernommen hat.51 Insofern als King Lear gleichzeitig mehrere, teilweise gegenläufige Temporalitäten (vom Mittelalter in die Moderne wie von der Moderne ins Mittelalter) 50 Für Latours Differenzierung zwischen Prozessen der Hybridisierung und Purifizierung siehe v. a. Latour, Bruno: We Have Never Been Modern, übers. v. Catherine Porter, Cambridge, MA 1993, S. 39–48. 51 Siehe hier insbes. Abrams, Richard: The Double Casting of Cordelia and Lear’s Fool. A Theatrical View, in: Texas Studies in Literature and Language 27.4 (1985), S. 354–368.

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inszeniert, bietet die Tragödie einen tiefen Einblick in Prozesse der Konstruktion und Dekonstruktion von Epochenschwellen, in Prozesse der Verzeitlichung der eigenen Gegenwart. Dabei wird nachdrücklich die Gegenwärtigkeit des vermeintlich Mittelalterlichen im vorgeblich Modernen hervorgehoben. Darüber hinaus wird in der Prophezeiung des Narren durch die Engführung von Konstruktionen von Zeitlichkeit und Gattung ein Schlaglicht auf die temporalen Strategien geworfen, mit deren Hilfe Autoren wie Shakespeare scheinbar ‚neue‘ Formen literarischer Autorschaft erproben können. An wenigen Stellen im Werk Shakespeares wird dabei meines Erachtens so explizit vorgeführt, wie DichterDramatiker zugleich mittelalterliche und frühneuzeitliche, mit verschiedenen Genera korrelierende Zeitlichkeiten konstruieren, um sich aus Zeit und Werk zu schreiben, um in einem asynchronen Nirgendwo – oder besser ‚Nirgendwann‘ – zu verschwinden.

Asynchronie und Erzählung

Bernd Roling

Die asynchrone Logik des Feenhügels: Narrative Strategien der Anderswelt in der mittelalterlichen Artusliteratur

I.

Einleitung

Wer sich mit Feen beschäftigt, gerät schnell in Versuchung, bei Tinker-Bell zu beginnen, um dann seine Untersuchung behutsam mit Prinzessin Lilli-Fee zu einem Ende kommen zu lassen. Vergleichbare Exordialtopik aus dem Handbuch der Populärkultur, versehen vielleicht noch mit einem drittmittelrelevanten Impactfaktor, der den Bogen zu den Quengelregalen der Gegenwart schlägt, werden hier im Weiteren ignoriert. Behandelt wird der Feenhügel im Folgenden in der Geisteswelt des Mittelalters auf zwei Ebenen, zunächst der historiographischen, dann der literarischen, gleichsam narratologischen Ebene. Die Situierung des Feenreiches in der Geschichtsschreibung und der theologischen Fachliteratur des Hochmittelalters, also der Domäne der Textproduktion, die man gemeinhin eher dem Faktischen zurechnet, wird dabei helfen, seine Rolle in der eher fiktionalen Literatur zu bestimmen, die nicht durchgehend den Anspruch hat, historische Ereignisse zu schildern. In der Sachliteratur nahm der Feenhügel einen größeren Raum ein, als man vielleicht vermuten würde. Ohne ihre Vertreter lässt sich auch die literarische Umsetzung des Phänomens und seine Funktion in zumindest einigen der vielen möglichen Beispiele, die sich auswählen ließen, nicht zur Gänze begreiflich machen. Die nachfolgende Untersuchung gliedert sich daher in zwei Teile. Der erste Teil gebührt einer Reihe von Geschichtsschreibern und fragt, welche Attribute das Feenreich eigentlich auszeichnen, welche Eigenschaften seine Bewohner besitzen und welche Stellung sie in der Hierarchie der Geschöpfe einnehmen konnten.1 Der zweite Teil wendet sich der im weitesten Sinne fiktionalen, erzählenden Literatur zu. Hier werde ich mich nach einer kurzen Hinführung auf zwei Exempel beschränken, von denen 1 Der erste Teil dieser Studie schließt sich an ältere Ausführungen von mir an, nämlich Roling, Bernd: Das bedrohliche Arkadien: Der Feenhügel in der Theologie und Geschichtsschreibung des Mittelalters, in: Das Mittelalter 16 (2011), S. 72–84. Mein Dank geht an Eva von Contzen für die Diskussion.

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Bernd Roling

das zweite, ein weniger bekannter Text der Artus-Literatur, die Historia Meriadoci, in dieser Studie ausführlicher besprochen wird und im Zentrum stehen soll. Nahezu paradigmatisch wird dieser Text zeigen, wie das Motiv des Feenhügels einem Erzähler die Möglichkeit gab, unterschiedliche Zeitschichten und ihre Bezugssysteme auch erzählerisch aufeinander treffen zu lassen. Realiter hatte der Feenhügel gleichsam als Erfahrungswirklichkeit unter Beweis gestellt, dass Raum-Zeit-Systeme fluide waren und jederzeit ein Wechsel von einem Bezugssystem in das andere möglich sein konnte. Auf der Seite des Textes war es die Person des Dichters, wie deutlich werden wird, die Herrin über diese Dimensionen war. Sie konnte die materia nach Belieben den Gesetzen unterwerfen konnte, die sie selbst bestimmt hatte. Unter dieser Voraussetzung konnte der erzählte Feenhügel, der die Asynchronie seines Bezugssystems ausdrücklich zum Thema machte, zum Paradigma der Transzendierung temporärer Logiken werden, die Voraussetzung einer poetischen Freiheit war, die der Verfasser eines Artus-Romans für sich in Anspruch nehmen konnte. Zum Ende wird daher versucht, einige allgemeinere Beobachtungen folgen zu lassen, die auf die narrative Rolle vergleichbarer Episoden abzielen und diesen Aspekt besonders hervorheben.

II.

Zwischen Dämonologie und Anderswelt: Die Erfahrungswirklichkeit der Feen

1.

Die Fee als Dämon

Wenden wir uns zunächst den im weitesten Sinne dämonologischen Aufarbeitungen des Feenhügels zu.2 Eine Schlüsselszene der christlichen Aufarbeitung des Feenhügels und zugleich seine symbolische Zerstörung liefert eine Begebenheit aus dem Leben des Heiligen Collen, einem Heiligen aus dem 7. Jahrhundert, dem 2 Einen Überblick über die Dämonisierung der Feen in Mittelalter und der Frühen Neuzeit und ihre Identifikation mit den antiken Naturgottheiten geben mit einem Teil der hier genannten Autoritäten z. B. Latham, Minor White: The Elizabethan Fairies. The Fairies of Folklore and the Fairies of Shakespeare, New York 1930, ND New York 1972, S. 44–64; Spence, Lewis: British Fairy Origins, London 1946, S. 132–155; Purkiss, Diane: At the Bottom of the Garden. A Dark History of Fairies, Hobgoblins, and Other Troublesome Things, New York 2000, S. 85– 115; und Briggs, Katharine Mary: The Anatomy of Puck. An Examination of Fairy Beliefs among Shakespeare’s Contemporaries and Successors, London 1959, S. 8–43. Als allgemeine Einführung in das Phänomen auch Ostling, Michael: Introduction: Where’ve all the Good People gone?, in: Fairies, Demons and Nature Spirits. ‚Small Gods‘ at the Margins of Christendom, hg. v. dems., London 2018, S. 1–53. Eine sehr gute Zusammenschau gibt jetzt auch Hutton, Ronald: Queens of the Wild. Pagan Goddesses in Christian Europe. An Investigation, New Haven 2022, S. 75–109.

Die asynchrone Logik des Feenhügels: Narrative Strategien der Anderswelt

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Patron von Llangollen, die im 12. Jahrhundert im Kontext der walisischen Gralslegende aufgezeichnet wurde. Als sich Collen schon lange als Einsiedler zurückgezogen hatte, hört er in seiner Zelle zwei Männer über Gwyn ap Nudd reden, den König der Elfen. Collen wendet sich an die Bauern und stellt sie zur Rede; nicht vom Herrscher des Feenreiches hätten sie gesprochen, sondern von den Teufeln. Dreimal erscheint im Anschluss ein Bote des Königs von Annwn vor der Eremitage des Heiligen und fordert ihn auf, sich auf den Hügel des Gwyn ap Nudd zu begeben. Nach dem dritten Besuch versieht sich der Heilige mit Weihwasser und besteigt den Feenhügel. Collen sieht sich einer vollkommenen Burg gegenüber, in der überirdische Musik erklingt, und einer Fülle von Dienern in blauroten Uniformen. Frauen mit höfischem Äußeren huldigen dem König, der auf einem goldenen Thron sitzt. Die Diener fordern den Heiligen auf, sich niederzulassen, von den Speisen und Getränken zu kosten, die ihm gereicht werden, und versprechen ihm allen erdenklichen Luxus und alle Unterhaltung, die ein Hof nur aufbieten kann. Collen jedoch verweigert sich, nimmt die Weihwasserflasche und vergießt den Inhalt über den Köpfen der Anwesenden. Mit einem Schlag lösen sich Burg, liebreizende Frauen, Musik und Bankette in ein Nichts auf und nur eine karge Wiese bleibt zurück.3 Unversöhnlich scheinen sich in dieser Episode das Paradies des andersweltlichen Feenkönigs und das Normensystem des Christentums gegenüberzustehen. Die Dämonisierung der Feen hatte eine lange theologische Vorgeschichte, die bis weit in die Zeit der Karolinger reicht, ja es ist zuvorderst der dämonologisch bekämpfte Feenhügel, der uns überhaupt mit der Topographie des Feenreiches vertraut macht. Kirchenväter wie Augustinus oder Martin von Braga hatten die Nymphen und Dryaden ebenso zu Erscheinungen des Teufels erklärt wie die Satyrn, deren Gestalt den Dämonen helfen sollte, einen incubus zu provozieren.4 Ihre Autorität sollte in den nachfolgenden Debatten wieder und wieder herangezogen werden. Es waren verführerische Wesen, die den unbedarften Landmann um seine Seele bringen konnten. Einst waren sie als Naturgottheiten verehrt worden, wie der Katechet Martin von Braga konstatiert, doch 3 Abgedruckt in Y Greal sev cynnulliad o orchestion ein hynaviaid, a llofion o amryw van-govion y cyn-oesodd, London 1805–07, Rhiv VIII, Alban Eilir, S. 337–341, die entsprechende Passage S. 339f. Eine englische Übersetzung der Episode, entnommen dem ‚Greal‘, findet sich in den Anmerkungen der von Lady Guest besorgten Ausgabe und Übertragung der ‚Zweige des Mabinogi‘, The Mabinogion from the Llyfr Coch o Hergest and other Ancient Welsh Manuscripts. With an English translation and notes by Lady Charlotte Guest (2 Bde.), London 1838–42, Bd. 2, Part IV, Istori Kulhwch ac Olwen, Kommentar S. 325f., zum Text, walisisch S. 206, englisch S. 259. 4 Martin von Braga: De correctione rusticorum, in: Opera omnia, hg. v. Claude W. Barlow, New Haven 1950, § 7–8, S. 186–189; Aurelius Augustinus: De civitate Dei libri XXII, hg. v. Bernhard Dombart / Alphons Kalb (2 Bde.) (CCSL 47/48), Turnhout 1955, Bd. 2, Liber XV, c. 23, S. 488f.

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in Wirklichkeit hatten sie nur die Handlangerdienste Satans erfüllt. Die kirchenrechtliche Beurteilung der Feen greift auf die Entscheidung der Kirchenväter zurück, die numinosen Kräfte der alten Welt komplett zu dämonisieren. Eine domina nocturna, eine Fee, die für sich genommen im Volksglauben sicher wertneutral sein konnte, musste durch den Rückbezug auf die antiken Nymphen zu einer deckungsgleich konnotierten Erscheinungsform des Bösen werden. Beide Kreaturen konnten sich auf diese Weise wechselseitig diabolisieren; die Abwertung der antiken Glaubenswelt konnte sich in der Degradierung der agrarischen Glaubenswelt der eigenen Zeit bruchlos fortsetzen. Die Theologen waren berufen, den Kreuzzug der Kirchenväter gegen das bäuerliche Heidentum weiterzuführen. Schon Hinkmar von Reims, ein Theologe des 9. Jahrhunderts, warnt vor den Dusii, romanischen Naturgottheiten, die als phantasmata diabolica Geschlechtsverkehr provozieren und ihre Opfer ins Verderben stürzen.5 Im Liber decretorum des ottonischen Legisten Burchard von Worms stoßen wir auf die erste direkte Erwähnung des Feenreiches. Inmitten eines Strafkatalogs, der auch den Gebrauch von Straponen, Kopulation mit Zugtieren und die Verwandlung in einen Werwolf in direkter Nähe hat, warnt Burchard davor, die feminae agrestes und sylvaticae aufzusuchen, die aus dem Nichts erscheinen konnten, um sich im Anschluss wieder im Nebel aufzulösen. Wer ihnen nachfolgt, ihnen Opfergaben darbringt und in Ritualen huldigt, wird seine Seele, wie Burchard unterstreicht, dem Teufel überantworten.6 Der Pariser Theologe Wilhelm von Auvergne, der mit seiner Schrift De universo sicher eine der komplexesten Auseinandersetzungen mit magischen und superstitiösen Phänomenen aller Art vorgelegt hatte, kann diese fatatae, diese Schicksalsfrauen und deae fatales, noch näher bestimmen; zugleich erteilt er Auskunft über ihren zwischen Diesseits und Jenseits schillernden Wohnort. Wilhelm hat keinen Zweifel, dass es sich bei den Feen um diabolische Kreaturen handelt und um satanische Trugbilder. Als Nymphen und Dryaden spiegeln sie eine falsche Wirklichkeit vor, als wäre ihnen das Naturreich als Domäne zugeteilt worden. Die dominae nocturnae erscheinen an besonders lieblichen Orten, in Wäldern oder idyllischen Hainen unter wohlgeratenen Bäumen, in ihren Händen tragen sie Fackeln oder Kerzen. Ihre Weiblichkeit verbindet sich, wie Wilhelm vermerkt, mit Triebhaftigkeit und Schwäche, Eigenschaften, die auch den Dämon selbst auszeichnen.7 Ein anderer Text, der zwar frühneuzeitlicher Herkunft ist, 5 Hinkmar von Reims: De divortio Lotharii regis et Tetbergae reginae (MPL 125), Paris 1879, Interrogatio XV, Sp. 717f., D–A. Zu den Dusii der romanischen Tradition z. B. Martineau, Anne: Le nain et le chevalier. Essai sur les nains français du Moyen Âge, Paris 2003, S. 116f. 6 Burchard von Worms: Decretorum liber (MPL 140), Paris 1880, Sp. 970–972. 7 Wilhelm von Auvergne: De universo, in: Opera omnia (2 Bde.), Paris 1674, ND Frankfurt 1963, Secunda pars, pars III, c. 5, S. 1022b–1023b, und c. 24, S. 1066af. Ebenso auch schon Alcher von Clairvaux: De anima et spiritu liber (MPL 40), Paris 1887, c. 28, Sp. 799.

Die asynchrone Logik des Feenhügels: Narrative Strategien der Anderswelt

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doch Vorgänge der Karolingerzeit beschreibt, geht in die gleiche Richtung. Cornelius Kempius, ein friesischer Humanist, schildert, wie im neunten Jahrhundert zur Zeit Königs Ludwig des Frommen in Friesland albae nymphae ihr Unwesen treiben, die in der Region witte wywen genannt werden.8 Sie bringen nächtliche Wanderer vom Weg ab, entwenden Vieh und entführen schwangere Frauen. Ihre Heimat besitzen diese nymphae infernales in unterirdischen Regionen, in denen ihr verlockender concentus Musarum erklingt, die aber zugleich auch das Wehklagen der geraubten Frauen erahnen lassen. Der Heilige Odulphus sieht sich genötigt, wie Cornelius berichtet, Schutzgebete gegen diese dämonischen Illusionen zu verfassen, die er in seinem Text mitabdruckt.9 Die frühen Zeugnisse der lateinischen Literatur lassen deutlich werden, dass Feen in der Theologie ebenso diabolisiert wurden wie ihr Wohnort, der Feenhügel, der trotz seiner bukolischen Elemente und seiner Verwandtschaft mit den loci amoeni der Antike in einem satanischen Kontext stand. Spätere Zeugnisse aus dem Umfeld der Historiographie des Hoch- und Spätmittelalters schließen sich dieser Wertung an. Auch hier sei nur eine kleine Reihe von etablierten Beispielen ins Gedächtnis gerufen. Gottfried von Auxerre legt in seinem Apokalypsen-Kommentar eine Variante der Melusinensage vor.10 Ein junger Mann kollidiert im Wasser, während er schwimmt, mit einer ungewöhnlichen Frau, nimmt sie mit und heiratet sie. Als er das bekannte Feentabu bricht und sie nach ihrer Herkunft fragt, verschwindet sie und nimmt das gemeinsame Kind mit sich. 8 Zur weiteren vor allem frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte der ‚Weißen Frauen‘ auch Roling, Bernd: Our White Ladies on the Graves: Historicisations of the Nymphs in Early Modern Antiquarianism, in: The Figure of the Nymph in Early Modern Culture, hg. v. Anita Traninger / Karl A. E. Enenkel, Leiden 2018, S. 445–462, hier S. 449–453. 9 Cornelius Kempius: De origine, situ, qualitate et quantitate Frisiae et rebus a Frisiis olim praeclare gestis, Köln 1588, Liber III, S. 341f. 10 Eine Übersicht über die recht bekannten Melusinen-Figuren, die auch die hier besprochenen Episoden zum Teil mit einschließen, geben z. B. Harf-Lancner, Laurence: Les fées au Moyen Âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées, Genf 1984, S. 119–154; GuerreauJalabert, Anita: Des fées et des diables. Observations sur le sens des récits mélusiniens au Moyen Age, in: Mélusines continentales et insulaires, hg. v. Jeanne-Marie Boivin / Proinsias MacCana, Paris 1999, S. 115–127; Roblin, Sylvie: Le sanglier et la serpente: Geoffrey la Grant’dent dans l’Histoire des Lusignan, in: Métamorphose et Bestiaire fantastique au Moyen Age, hg. v. Laurence Harf-Lancner, Paris 1985, S. 247–285; und Walter, Philippe: La Fée Mélusine. Le serpent et l’oiseau, Paris 2008, S. 61–87; und daneben kurz Steinkämper, Claudia: Melusine – vom Schlangenweib zur ‚Beauté mit dem Fischschwanz‘. Geschichte einer literarischen Aneignung, Göttingen 2007, S. 64–73; Kellner, Beate: Melusinengeschichten im Mittelalter. Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. v. Ursula Peters, Stuttgart 2001, S. 268–295, hier S. 276–281; und schon Briggs, Katharine: The Fairies in Tradition and Literature, London / New York 2002, S. 6–11. Eine neue Zusammenschau liefert ausgehend von der niederländischen Tradition auch: Meluzine. Die erste niederländische Fassung (Antwerpen, 1491), hg., übers. u. eingel. v. Rita Schlusemann, Stuttgart 2022, dort die ausführliche Einleitung.

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Welcher Kreatur war der Jüngling begegnet? Die mulier phantastica, so die Erklärung Gottfrieds, war eine satanische Intrige, eine Illusion, die dem jungen Aristokraten eine reale Frau vorspiegelte.11 Wilhelm von Newburgh schildert in seiner Geschichte Englands, wie sich ein Bauer aus dem Süden Schottlands während der Regentschaft von König Stephen auf dem Heimweg verirrt und auf eine seltsame Feengesellschaft stößt, die im Inneren eines Berges zu feiern scheint. Der Landmann betritt den Feenhügel und wird wie St. Collen aufgefordert, von den Speisen der gewaltigen Tafel zu kosten. Auch diese Gesellschaft genügt den Attributen eines idealen Hofes, die Männer sind prachtvoll gekleidet, ihre Tische sind reich gedeckt. Der Bauer kostet zum Schein, doch ergreift er bei nächster Gelegenheit die Flucht und stiehlt einen magischen Becher, der später, wie Wilhelm noch hinzufügt, dem Kronschatz des schottischen Regenten übergeben wird. Wilhelm schließt an die Episode eine Bewertung, die keinen großen Deutungsspielraum zulässt. Feenhügel wie der geschilderte, so ideal sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, haben in der Wirklichkeit keine Entsprechung. Es handelt sich um Phantombilder, um Phantasmata, die dem menschlichen Vorstellungsvermögen von Dämonen eingeflößt werden. Mitunter, wie der Fall des entwendeten Trinkbechers zeigt, bediente sich der Teufel auch realer Gegenstände, um diesen Bildern noch mehr Nachdruck zu verleihen und sie gleichsam an die Realität anzubinden.12 In der Frühen Neuzeit wiederholen eine ganze Reihe von Dämonologen das Urteil Wilhelms. Fast topisch wird in diesen Werken, die vor allem dem angelsächsischen Kulturkreis angehören, auf den teuflischen Charakter des Feenhügels hingewiesen und die trügerische Natur seiner idealen Landschaft. Der Inquisitor Ulrich Molitor brandmarkt den Hof der Diana und der Herodias, der des Nachts von Frauen zur Zelebration okkulter Riten aufgesucht wird.13 Sein Zeitgenosse Reginald Scot beklagt sich über die rituellen Gastmähler und Tänze, die unter Führung der Lady of Fayries auf den Feenhügeln eingenommen werden.14 Für König James VI. von England, den wohl ranghöchsten Dämonologen der Epoche, lassen sich diese Hügel, wie er ausdrücklich betont, in ihrem Glanz den elysischen Feldern der Antike an die Seite stellen. Der Hof der Diana bemächtigt sich Unschuldiger, zwingt sie zu Gelagen und Tänzen und lässt sie an gemein11 Gottfried von Auxerre: Super Apocalypsim, hg. v. Ferruccio Gastaldelli, Rom 1970, Sermo XV, S. 183–185. 12 Wilhelm von Newburgh: The History of English Affairs, Book I, ed. and translated by P. G. Walsh / M. J. Kennedy, Warminster 1998, c. 28, §§ 4–5, lateinisch und englisch, S. 118–121. 13 Ulrich Molitor: De lamiis et phitonicis mulieribus teutonice unholden vel hexen, Reutlingen 1489, fol. 12r. 14 Reginald Scot: The Discoverie of Witchcraft, proving that the compacts and contracts of the witches with devils and all infernal spirits or familiars are but erroneous novelties and imaginary conceptions, London 1665, Liber IV, c. 2, S. 23.

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samen Feiern auf den Feenhügeln teilhaben. In Wirklichkeit jedoch, so der englische König, beruhen dieser Hofstaat und die elysischen Gefilde, die ihn umgeben, auf den Sinnestäuschungen, die von Seiten der uncleane spirits verbreitet werden, um den Menschen für die Partei des Teufels zu gewinnen.15 Ähnlich wie Wilhelm von Newburgh erzählt Richard Bovet, ein weiterer englischer Dämonologe, in seinem Pandaemonium von einem aktuellen Fall, den er sofort mit der entsprechenden Deutung versieht. In der Nähe von Blackdawn gerät ein junger Mann durch Zufall in eine Gesellschaft der Fayries, eine gewaltige Gesellschaft in grüner Kleidung, die sich zu Tanz und Gastmahl versammelt hat. Beim Herannahen des Jünglings löst sich die Gesellschaft der Feen und mit ihr gemeinsam ihr magisch schöner Hügel in Luft auf. Der Landmann flieht, wird jedoch von den Feen bestraft und kehrt mit schweren Verletzungen heim. All dies konnte nur, wie Bovet als Fazit unterstreicht, das Werk von Dämonen sein.16

2.

Ohne die Hypothek der Heilsgeschichte: Feen als Geistwesen und Feenhügel als liminale Zonen

War man sich über die Beurteilung des Feenhügels weitgehend einig gewesen? Seine überirdische Schönheit, der Glanz seiner tanzenden Elfen, seine schlaraffenlandartigen Zusammentreffen konnten sich nur auf die Intrigen Satans zurückführen lassen. Tatsächlich war das Urteil, das über den Mons Veneris ausgesprochen wurde, nicht so einheitlich, wie die Einlassungen der Theologie nahelegen. Es war diese Ambiguität, die auch zum Ausgangspunkt der literarischen Instrumentalisierung des Feenhügels werden musste. Seit dem 12. Jahrhundert lassen sich in der lateinischen Geschichtsschreibung Äußerungen finden, die in eine andere Richtung gehen. Hier war der Feenhügel ein Ort, dessen Natur mehrdeutig sein konnte, ja der wie eine ideale Gegenwelt erschien, deren Verlassen sogar als Verlust begriffen wurde und nicht als Befreiung, und der nicht das eindeutige Bedrohungspotential besaß, das ihm die Dämonologen unterstellen wollten. Es handelte sich um ein räumlich kaum lokalisierbares Zwischenreich, das eine eigene Wirklichkeit konstituierte, eigene Gesetze besaß und, wie nahegelegt wird, sogar eine eigene Geschichte, die vom Menschen unabhängig geblieben war und seinen Einfluss ignorieren konnte. Zugleich versuchen Autoren, die antike Dämonologie, die keine natürliche Trennung von Gut und 15 King James VI: Minor Prose Works: Daemonologie, The True Lawe of Free Monarchies, A Counterblaste to Tobacco, A Declaration of Sports, hg. v. James Craigie / Alexander Law, Edinburgh 1962, Daemonologie, c. 5, S. 51–53. 16 Richard Bovet: Pandaemonium or the Devil’s Cloyster in two Parts, London 1684, Part II, Ninth Relation, S. 207–210.

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Böse kannte, sondern wertneutrale und willensfreie Genien, mit neuem Leben zu erfüllen. Aus dem Kreis dieser Genien, einem Produkt der Schöpfung, das sich nicht einfach als weitere menschliche Variante begreifen ließ, aber auch nicht den Maximen der christlichen Dämonologie unterworfen war, mussten sich die Bewohner der Feenhügel rekrutieren lassen.17 Ein weitgehend wertneutrales Bild der Feenhügel zeichnet Walter Map in seinen Nugae curialium.18 Ein bretonischer Ritter, so Walter, verliert seine Frau, begegnet der Verstorbenen jedoch einige Zeit nach ihrem Tod durch Zufall auf einem Feenhügel wieder, umgeben von einem chorus feminarum. Der Aristokrat entreißt seine Gattin ihren Begleiterinnen, nimmt das gemeinsame Leben mit ihr wieder auf und zeugt weitere Kinder. Es gibt unter den Zeitgenossen noch immer ausreichend Zeugen für diese Begebenheit, wie Walter hinzufügt, auch wenn sie den Gesetzen der Natur zu widersprechen scheint.19 Ähnlich gelagert scheint eine zweite Episode in den Nugae Walters, die dem Raster des klassischen Feentabus verpflichtet ist. Eadric Wilde, Lord von Lydbury, gerät in der Nacht in ein ghildhus, das eine tanzende Feengesellschaft beherbergt. Der Aristokrat erinnert sich an die Warnungen, die man zu ihm über die phalanges nocturnae daemonum ausgesprochen hatte, doch erweisen sich die Anziehungskraft der makellosen Frauen und ihre Musik als stärker. Er dringt in das Gebäude ein und raubt eine der Feen. Sie willigt in die Heirat ein, solange er sie niemals wegen ihrer Herkunft und ihrer Feennatur tadelt. Zunächst nimmt die Ehe einen glücklichen Lauf und ein Sohn wird dem Paar geboren, doch eines Tages lässt sich der Adelige doch zu einer entsprechenden Rüge hinreißen und bricht das Tabu. Die Fee entschwindet wieder, auch die Versuche Eadrics, den Feenhügel ein zweites Mal aufzusuchen, greifen ins Leere. Das Feenreich, das er nur aufgrund von kontingenten Rahmenbedingungen hatte aufsuchen können, entzieht sich ihm nun zur Gänze. Zurück bleibt jedoch sein Sohn Alnoth, wie die Zeitgenossen bezeugen können, der sich zu einem stattlichen Jüngling entwickelt.20 Erstaunlich ist, dass sich Walter im Unterschied zu Gottfried von Auxerre oder Wilhelm von Newburgh jeder Wertung der Ereignisse enthält. Zwar ist bekannt, so Walter, dass der Teufel im incubus diverse Strategien wählt, um sich menschliche Föten 17 Die Umwertung der Fee in der Dämonologie, wie sie in der frühen Neuzeit von den Anhängern des Paracelsus vorgenommen wird, rekonstruiert mit anderen Quellen auch Roling, Bernd: Elfi, fate e silfidi. La rielaborazione accademica delle creature intermedie paracelsiche nelle università tedesche e scandinave, in: Gli illuministi e i demoni. Il dibattito su magia e stregoniera dal Trentino all’Europa, hg. v. Riccarda Suitner, Rom 2019, S. 145–166. 18 Eine ausführliche Interpretation der Melusinengeschichten Maps gibt Roberts, Brynley F.: Melusina: medieval Welsh and English analogues, in: Boivin / MacCana: Mélusines continentales (s. Anm. 5), S. 281–296. 19 Walter Map: De nugis curialium, edited and translated by M. R. James, revised by C. N. L. Brooke / R. A. B. Mynors, Oxford 1983, Dist. IV, c. 8, lateinisch und englisch, S. 344f. 20 Ebd., Dist. II, c. 12, lateinisch und englisch, S. 154–159, Dist. IV, c. 10, S. 348–351.

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zu verschaffen. Doch hat Eadric mit der Fee, die er dem Hügel der fantasiae entrissen hat, einen Nachkommen zeugen können. Der Widerspuch war offenkundig. Kein Dämon könnte hierzu in der Lage sein. Muss der Feenhügel in seiner Natur doch anders beurteilt werden? Die Werke des Schöpfers können den Verstand des Menschen übersteigen, wie Walter betont.21 Ähnlich ambivalent wie Walter Map beurteilt auch sein Landsmann Gervasius von Tilbury in seinen berühmten Otia imperalia den Feenhügel. Seine Natur kann sich nicht in den Erklärungen der Dämonologie erschöpfen. Gervasius jedoch schlägt einen Lösungsweg vor, der über die Unsicherheit Walters hinausgeht: Es könnte sich bei den Feen um ein Zwischenreich handeln, das von neutralen Geistwesen bewohnt ist. Immer wieder geht Gervasius in seinem monumentalen Werk auf Geisterphänomene ein. Als er auf die ‚Wilde Jagd‘ zu sprechen kommt, scheinen für ihn Dämonen die Verantwortungen für vergleichbare Heimsuchungen der Landbevölkerung zu tragen. Doch haben antike Philosophen wie Apuleius nicht gezeigt, wirft Gervasius ein, dass auch spiritus existieren können, die als feinstoffliche Wesen in der Hierarchie der Schöpfungsordnung zwischen Mensch und Engel ihren Platz finden können?22 Auch andere koboldhafte Wesen, die neptuni, die in den Häusern, in die sie eindringen, kleinere Arbeiten verrichten oder sich auf harmlose Neckereien verlegen, lassen die strengen Kategorien der Dämonologie fragwürdig erscheinen, wie Gervasius feststellt.23 Kann es sich bei diesen Wesen, die so offenkundig nicht komplett böse waren, noch um gefallene Engel handeln?24 Mit Blick auf die Feen müssen die gleichen Fragen gestellt werden. Immer wieder, wie Gervasius weiß, werden Männer zu Geliebten der fadae, bis sie ein Tabu brechen und allein zurückbleiben. Könnten nicht Wesen mit luftartigen Körpern existieren, die ein Interesse am Menschen besitzen, sich entführen lassen oder selbst Menschen entführen? Seltsam erscheint es vor allem, so Gervasius, dass diese Kreaturen körperliche Lust empfinden, eine Eigenschaft, die einem Dämon versagt sein müsste.25 Die Erklärungen des Gervasius werden nachvollziehbar, wenn sie in den Zusammenhang von Überlegungen gestellt werden, für die sich in dieser Zeit die Vertreter der Schule von Chartres verantwortlich zeigen. Wilhelm von Conches 21 Ebd., Dist. II, c. 13, lateinisch und englisch, S. 160f. 22 Gervasius von Tilbury: Otia imperalia, ed. and translated by S. E. Banks / J. W. Binns, Oxford 2002, Liber III, c. 86, lateinisch und englisch, S. 724–727, und c. 86, lateinisch und englisch, S. 727–729; dazu Apuleius von Madaura: De philosophia libri, hg. v. Paul Thomas, Leipzig 1921, Liber de deo Socratis, §§ 12–14 (S. 20–23). 23 Zu den neptuni des Gervasius, die die romanische Variante der Heinzelmännchen bilden, und zu ihrer Genese die Studie von Gerhardt, Mia I.: Old men of the sea. From Neptunus to Old French ‚luiton‘. Ancestry and character of a water-spirit, Amsterdam 1967, S. 27–50; und Martineau: Le nain (s. Anm. 5), S. 83, S. 116f. 24 Gervasius von Tilbury: Otia imperalia, Liber III, c. 61, lateinisch und englisch, S. 674–677. 25 Ebd., Liber III, c. 86, lateinisch und englisch, S. 728–731.

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hatte in der Mitte des zwölften Jahrhunderts mit dem auch von Gervasius angeführten Apuleius und Chalcidius, dem lateinischen Timaios, die Auffassung vertreten, ein Dämon der unteren Kategorie sei als animal humectum in der Lage, sich in Gemeinschaft mit einem Menschen fortzupflanzen.26 Dass er den Maßgaben des Christentums damit widersprochen hatte, musste Wilhelm bewusst gewesen sein, auch wenn er sein Unbehagen nicht artikuliert.27 Hermann de Carinthia greift die Äußerungen Wilhelms auf: auch nimphae, driades, fauni und satyri, die sich als Geistwesen einem Element, der Erde, dem Wasser oder der Luft zuordnen lassen, verfügten über einen feinstofflichen Leib. Mit Hilfe dieses Körpers waren die Naturgeister als spiritus nicht nur in der Lage, mit dem Menschen Kontakt aufnehmen, sondern der Mensch konnte ihnen, wie Hermann glaubt, darüber hinaus zur Reproduktion als Werkzeug dienen.28 Im 12. und 13. Jahrhundert bestand also die Möglichkeit, Feenhügel mit geistigen Wesen zu bevölkern, mit Kreaturen von vollkommener ätherischer Natur, die keine diabolische Natur besaßen. Es konnte sich um freie Wesen handeln, weder gut noch schlecht, die ihren eigenen Entscheidungen und Trieben folgten. Vergleichbare Spekulationen mochten als Legitimation ausgereicht haben. Zumindest einige lateinische Berichte entwerfen das Panorama eines Feenhügels als einer möglichen Gegenwelt zur bestehenden. Als Domäne unterliegt diese Welt einem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum, ihre Bewohner wirken wie Menschen, doch derart in eine der gewöhnlichen Welt enthobene Ebene entrückt, dass sie anderen Naturgesetzen zu gehorchen scheinen. In beiden Fällen setzt sich das Bild einer paradiesischen Ideallandschaft durch, wie es die pastorale Dichtung entwickelt hatte, und lässt die Dämonologie in den Hintergrund treten. 26 Zur enormen Bedeutung des Chalcidius in der Philosophie der Schule von Chartres und ihrer Dämonologie z. B. Dronke, Peter: The Spell of Chalcidius. Platonic Concepts and Images in the Medieval West, Florenz 2008, S. 3–34, oder Gersh, Stephen: Middle Platonism and Neoplatonism. The Latin Tradition (2 Bde.), Notre Dame 1986, Bd. 2, S. 422–434, und Ratkowitsch, Christine: Die Timaios-Übersetzung des Chalcidius: Ein Plato Christianus, in: Philologus 140 (1996), S. 139–162. Als Grundlage Chalcidius’: On Plato’s Timaeus, edited and translated by John Magee, London 2016, §§ 127–136, lateinisch und englisch S. 330–347, und öfter. Als systematische Sichtung z. B. auch O’Neill, Seamus: The Demonic Body: Demonic Ontology and the Domicile of the Demons in Apuleius and Augustine, in: Philosophical Approaches to Demonology, hg. v. Benjamin W. McCraw / Robert Arp, Routledge 2017, S. 39–58. 27 Wilhelm von Conches: Dragmaticon Philosophiae, hg. v. Italo Ronca, Turnhout 1997 (CCCM 152), Liber I, c. 4, §§ 3–4, S. 15f.; Wilhelm von Conches: Glosae super Platonem in Timaeum, hg. v. Édouard Jeaneau, Paris 1965, § 110, S. 199f.; oder Wilhelm von Conches: Philosophia mundi, hg. v. Gregor Maurach, Pretoria 1980, Liber I, c. 5, § 15, S. 23f. Einen Überblick über die Anthropologie Wilhelms von Conches gibt Speer, Andreas: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ‚Scientia naturalis‘ im 12. Jahrhundert, Leiden 1995, S. 192–205. 28 Hermann of Carinthia: De essentiis. A critical edition with translation and commentary by Charles Burnett, Leiden / Köln 1982, Liber II, S. 188.

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Zugleich erscheinen die Bewohner dieses paganen Sehnsuchtsortes als physisch vollkommene Menschen, wie sie von den Philosophen der Epoche im Paradies angesiedelt worden waren. Der Feenhügel dieser Elfen offenbart sich für den Verfasser als Reich eines Geschlechtes von Naturkindern, die im Einklang mit der ursprünglichen Schöpfungsordnung zu leben scheinen, ja die vom Sündenfall noch nicht berührt worden waren. Die klassische, lineare, an Augustinus orientierte Heilsgeschichte, die Fall, Menschwerdung, Umkehr und Erlösung als Wegmarken ihrer historischen Epochen kannte, schien für sie keine Bedeutung zu haben; im Gegenteil, die Bewohner des Feenhügels schienen in einer permanenten Gegenwart zu leben, wie sie die Welt vor dem Sündenfall ausgezeichnet hatte. Gerald von Wales, Giraldus Cambrensis,29 schildert in seinem Itinerarium Cambriae, wie ein zwölfjähriger Junge am Ufer eines Flusses von feenartigen Wesen aufgefordert wird, in ihr gemeinsames Reich hinabzusteigen.30 Die Feen entführen den Jüngling in ein Territorium, das in allen Teilen einer Ideallandschaft entspricht. Das unterirdische Tal ist lieblich, blumenreich und voller Frieden, auch wenn die Sonne in ihm nur spärlich leuchtet. Auch die Bewohner entsprechen einem menschlichen Idealbild. Zwar sind sie von etwas kleinerer Statur als gewöhnliche Menschen, doch von großer Schönheit, wie Gerald erfährt, und mit einer ungewöhnlich hellen, blonden Haarpracht versehen. Sie ernähren sich vegetarisch, lügen und schwören nie, wie Gerald betont, auch wenn sie über keine explizite Religion verfügen. Ihre Sprache ähnelt dem Griechischen, doch klingt sie, als wäre sie von noch älterer Herkunft. Alle Normen scheinen den Bewohnern des Feenreiches wie ein Naturgesetz präsent, ja die Bewohner wirken auf den Betrachter, als befänden sie sich noch im status innocentiae. Als der Junge ein Feentabu bricht und einen Ball entwendet, bleibt ihm der Zugang in die Welt der Feen versperrt. Erst Jahre später findet er, wie Gerald berichtet, den Mut, einem Priester über seine Abenteuer Rechenschaft abzulegen. Ähnlich wie 29 Zu Gerald von Wales und seinen ethnographischen Werken im allgemeinen Bartlett, Robert: Gerald of Wales. 1146–1223, Oxford 1982, passim; Gransden, Antonia: Historical Writing in England c. 550 to c. 1307, London 1974, S. 240–246, S. 310–311, oder Davies, Robert R.: Conquest, Coexistence and Change. Wales 1063–1415, Oxford 1987, passim; Richter, Michael: Giraldus Cambrensis: The Growth of the Welsh Nation, Aberystwyth 1976, passim; und Pryce, Huw: Gerald of Wales and the Welsh Past, in: Gerald of Wales. New Perpectives on a Medieval Writer and a Critic, hg. v. Georgia Henley / A. Joseph McMullen, Cardiff 2018, S. 19–45. 30 Zu Geralds Erzählung vom Elfenkönig im Besonderen Briggs, Katharine Mary: The Vanishing People. Fairy Lore and Legends, New York 1978, S. 157–159; Harward, Vernon J.: The Dwarfs of Arthurian Romance and Celtic Tradition, Leiden 1958, S. 11f.; und Gwyndaf, Robin: Fairylore: Memorates and Legends from Welsh Oral Tradition, in: The Good People. New Fairylore Essays, hg. v. Peter Narváez, New York / London 1991, S. 155–195, hier S. 158f. Zu ähnlichen Geschichten z. B. Parry-Jones, Daniel: Welsh Legends and Fairy Lore, London 1953, S. 30–42.

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Gervasius bewertet Gerald, der sonst mit kritischen Urteilen keineswegs sparsam haushaltet, die Erlebnisse des jungen Walisers nicht weiter: Die Mirakel Gottes lassen sich bewundern, doch entziehen sie sich jeder Erklärung. Über mögliche Dämonen verliert Gerald kein Wort.31 Die zweite Skizze eines Feenreiches, das nicht der Domäne der Fiktionalität angehört, liefert der Historiker Radulphus von Coggeshall in seinem Chronicon Anglicanum.32 Bei Southfolk, wie Radulphus berichtet, werden zum Ende des 12. Jahrhunderts in der Nähe eines Waldes zwei seltsame Kinder aufgegriffen. Beide sind von völlig grüner Hautfarbe und zu keiner sprachlichen Artikulation imstande. Man schafft diese infantes virides, ein Junge und ein Mädchen, in den Haushalt eines benachbarten Ritters, doch gelingt es dem Gesinde nicht, den Kindern Nahrung einzuflößen. Auch sie scheinen wie ihre Entsprechungen bei Gerald nur vegetarische Speisen zu sich nehmen zu wollen. Erst als man grüne Bohnen herbeibringt, wie Radulphus erfährt, beginnen die beiden Kinder zu essen. Während der Junge gleichwohl nach kurzer Zeit an Auszehrung stirbt, wächst das Mädchen heran, verliert langsam seine grüne Hautfarbe und erlernt die menschliche Sprache. Auf die Frage nach ihrer seltsamen Herkunft erzählt die junge Frau ihrer Umgebung am Hof des Ritters vom Feenreich, ihrer Heimat. Unter der Erde lag ihre Welt, vollständig grün und beschienen von einem dämmerigen Licht, das offensichtlich in seiner Kontinuität dem regulären Ablauf der Tageszeiten nicht unterworfen war. Alle übrigen Dinge hatten in der oberen Welt ihr Gegenstück. Als die beiden Kinder entlaufenem Vieh hinterherjagten, hörten sie das Geläut einer Kirchenglocke, folgten dem Klang und betraten eine Höhle, durch die sie unbeabsichtigt in die Welt der Menschen gerieten. Vom grellen Sonnenlicht der oberen Welt betäubt, gelang es ihnen im Anschluss nicht, wie das Mädchen berichtet, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Wie Radulphus hinzufügt, bewahrt sich das Feenmädchen eine seltsame Wildheit, die sie von den übrigen Mitgliedern des Gesindes unterscheidet.33 Von Dämonen ist bei Radulphus nicht die Rede, ja mehr noch, der organische Charakter der Ankömmlinge aus der Anderswelt liegt auf der Hand. Auch diese beiden Feenkinder scheinen wie die Elfen des Giraldus einen Zustand ante lapsum zu verkörpern, im Einklang mit den Gesetzen Gottes und ohne Wissen um das Böse. Mehr noch, die Kinder scheinen erst zu altern, nachdem sie den Feenhügel verlassen haben und genötigt waren, menschliche Nahrung zu sich zu nehmen. Erst jetzt waren sie den Gesetzen der menschlichen Zeit unterworfen. Hatte den vorangegangenen Zustand 31 Giraldus Cambrensis: Itinerarium Kambriae, in: Opera omnia (7 Bde.) (Rolls Series 21), Bd. 6, hg. v. James F. Dimock, London 1868, ND Wiesbaden 1964, Liber I, c. 8, S. 75–78. 32 Ausführlich zu dieser Episode und ihren Motiven Purkiss: At the Bottom of the Garden (s. Anm. 2), S. 62–65. 33 Radulphus von Coggeshall: Chronicon Anglicanum, hg. v. Joseph Stevenson (Rolls Series 66), London 1875, S. 118–120.

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der Kinder, wie Radulphus nahelegt, eine ideale Synkrasie ausgezeichnet, ein Gleichgewicht der Körpersäfte, das ihre Temperamente neutralisiert hatte? Unter dieser Voraussetzung wären sie den Bewohnern des Paradieses in ihrer physischen Unsterblichkeit noch deutlicher gleichgesetzt gewesen, denn Naturphilosophen wie Wilhelm von Conches oder Hermann von Kärnten, die sich für die Definition des genius verantwortlich gezeigt hatten, hatten in einer solchen physischen Konstitution ein entscheidendes Merkmal Adams gesehen.34

III.

Der Feenhügel als fiktionale Aufhebung des Raum-Zeit-Kontinuums

1.

Der Feenhügel als liminale Zone

Die Feenhügel der Historiographie sind in ihrem Wesen sicher nicht homogen wie deutlich geworden sein dürfte, doch weisen sie einige gemeinsame Merkmale auf, die wir festhalten sollten. Feenhügel und verwandte Orte begründen ein Zwischenreich, einen Raum, in dem die gewöhnlichen Naturgesetze nicht mehr gelten oder sie noch keine Gültigkeit beanspruchen dürfen. Sie unterliegen anderen physikalischen Rahmenbedingungen, sie fordern auch eine andere Form von Moralität ein. Es handelt sich um Orte, an denen die Zeit schneller oder langsamer verlaufen konnte als in der gewöhnlichen Welt, um Liminalzonen, die sich durch Normen auszeichneten, deren Eigengesetze dem Ankömmling oft unbekannt waren. Hier hatte das Feentabu seine Gültigkeit; seine Verletzung konnte zum Verlassen des Hügels führen, schloss aber auch die Gefahr mit ein, fortan an das Zwischenreich gebunden zu bleiben. Der Feenhügel lieferte damit ein Alternativszenario zur kreatürlichen Welt, eine zweite Welt, in der Bewährung, Reflektion und Eigengesetzlichkeit ihren Ort haben konnte. Es war ein Territorium, das von der Logik der Heilsgeschichte ausgenommen war und für das die Normen der linear verlaufenden christlichen Zeit, wie deutlich geworden ist, nur bedingt Gültigkeit einfordern konnten. Weder die Folgen des Alters, ja überhaupt das Älterwerden, noch die Torpedierung der menschlichen Natur durch die Konsequenzen des Sündenfalls, das wichtigste Merkmal der linearen Zeit, konnten den Feenhügel in Mitleidenschaft ziehen. Bewohnt war diese Welt von Wesen, deren Physis auf spiritus beruhte, auf einer pneumatischen Substanz, 34 Wilhelm von Conches: Dragmaticon Philosophiae (s. Anm. 27), Liber VI, c. 13, S. 227–229; Hermann a Carinthiis: De essentiis (s. Anm. 28), Liber II, lateinisch und englisch, S. 230–233; oder auch Daniel von Morley: Liber de naturis inferiorum et superiorum, hg. v. Karl Sudhoff, in: Archiv für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 8 (1918), S. 1–40, hier S. 8f.

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die zwischen körperlicher Materialität und Geistigkeit, reiner Seelenform, oszillierte; der Feenhügel war also auch auf epistemischer Ebene ein Ort der Imagination und Vorstellungskraft, die von diesem spiritus und seinen Bildern, eben den phantasmata, dominiert wurde. Auch die Feen erschienen ihren Betrachtern als Kreaturen der Phantasia, doch waren sie auf der Ebene des spiritus zugleich real. Nur am Rande sei hier angemerkt, dass Feenhügel unter dieser Voraussetzung für die Denker des Mittelalters vergleichsweise viele Gemeinsamkeiten mit einer Region aufwiesen, die als liminale Zone schlechthin gelten durfte, dem Fegefeuer. Gefragt werden soll nun, wie sich diese Ausgangsvoraussetzungen in eine narrative Strategie transformieren ließen. Welchen Ort konnte ein Feenhügel im Handlungsstrang eines mittelalterlichen Romans oder Epos einnehmen, und wichtiger noch, welche Funktion konnte er angesichts der Eigenschaften, die ihn auszeichneten, dort ausüben? Eine durchgehend systematische Antwort auf diese Frage fällt schwer. Stattdessen soll hier ein Blick auf Texte geworfen werden, die vielleicht eine Ahnung geben, und sie mit einer Hypothese verbinden. Eine der berühmtesten literarischen Verarbeitungen des Feenhügel-Motivs entstammt der französischen Chanson de Geste, die Abenteuer des Huon de Bordeaux, die im 13. Jahrhundert entstanden waren, später in diversen Sprachen und Fassungen kursierten, und zudem wiederholt fortgesetzt wurden.35 Selbst Prequels dieses Stoffes lagen vor.36 Kaum ein Text aus der Karlstradition war damals weiterverbreitet und ist heute geläufiger als dieser, der noch Christoph Martin Wieland als Grundlage seines ‚Oberon‘ gedient hatte,37 vor allem weil spätmittelalterliche Prosafassungen des Werkes als Volksbücher in England oder Frankreich dafür gesorgt hatten, dass auch Shakespeare mit diesem Text vertraut 35 Eine kurze Zusammenfassung und Würdigung des Werkes gibt z. B. Jones, Catherine M.: An Introduction to the chansons de geste, Gainesville 2014, S. 125–135. Zur Auberon-Figur z. B. Engelhart, Hillary: Auberon’s Gracious Presence in Huon de Bordeaux, in: In Limine Romaniae. Chanson de geste et épopée européenne, hg. v. Carlos Alvar / Constance Carta, Bern 2012, S. 219–228, und vor allem Rossi, Marguerite: Huon de Bordeaux et l’evolution du genre épique au XIIIe siècle, Paris 1975, S. 329–358. 36 Fortsetzungen finden sich gedruckt z. B. als Esclarmonde, Clarisse et Florent, Yde et Olive. Drei Fortsetzungen der Chanson von Huon de Bordeaux, hg. v. Max Schweigel, Diss. Marburg 1889, oder der erste Text noch einmal als Chanson d’Esclarmonde. Erste Fortsetzung der Chanson de Huon de Bordeaux, hg. v. Hermann Schäfer, Worms 1895. Ein Prequel war der ‚Roman d’Auberon‘, gedruckt z. B. als Le roman d’Auberon, prologue de Huon de Bordeaux, hg. v. Jean Subrenat, Genf 1973, der die bis in die Römerzeit reichende Jugend des Feenkönigs erzählt. 37 Eine Übersicht über die frühneuzeitliche Rezeptionsgeschichte gibt z. B. Cazanave, Caroline: D’Esclarmonde à Croissant. Huon de Bordeaux, l’epique médieval et l’esprit de suite, Besançon 2007, S. 247–260. Den möglichen Einfluss auf Shakespeare untersucht z. B. Vial, Claire: De la fée épique à la fée elfique. Oberon, de Huon de Bordeaux au Midsummer Night’s Dream, in: Shakespeare et le Moyen Âge, hg. v. Patricia Dorval, Paris 2002, S. 203– 222.

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gemacht wurde.38 Auch hier stoßen wir auf einen magischen Wald und eine Konfrontation mit der Anderswelt, noch bevor die eigentliche Biographie oder die Aventiure einsetzt. In den Prosafassungen wird die Begebenheit, die uns interessiert, noch konsequenter ausgestaltet als in den Versfassungen.39 Nachdem Huon von Bordeaux, der Held des Werkes, unwillentlich den Sohn Karls des Großen erschlagen hatte, stellt man dem jungen Ritter zur Wiedergutmachung eine Galerie eigentlich unlösbarer Aufgaben. Huon macht sich auf den Weg ins Heilige Land. Auf der Weiterreise von Jerusalem nach Babylon trifft er in der Wüste auf den weisen Eremiten Gériame, der ihn davor warnt, statt der vierzig Tagesreisen zum Zielort die Abkürzung durch den Feenwald zu nehmen.40 Hier hauste Oberon, der Feenkönig, drei Fuß hoch, und von angelischer Schönheit. Wer ihn ansprach, so Gériame, dem drohte die ewige Gefangenschaft; versagte man ihm jedoch die angemessene Ehrerbietung, würden gewaltiges Unwetter und ein reißender Fluss den Ritter hinwegtragen, selbst wenn es sich bei den Erscheinungen nur um Trugbilder, um Phantasmata handelte.41 Natürlich nimmt Huon das Abenteuer gemeinsam mit den Rittern, die ihn begleitet hatten, auf sich. Die ersten beiden Begegnungen mit dem Feenkönig, der ihnen in seiner goldenen Pracht und mit einem magischen Bogen bewaffnet gegenübertritt, verlaufen wie angekündigt. Huon verweigert sich dem Gruß Oberons und ein gewaltiges Unwetter treibt sie einem brausenden schwarzen Gewässer entgegen. Ein magisches Schloss erscheint flimmernd am Horizont und schon glauben die Beteiligten, sie seien dem Feenkönig in seinem Wald entronnen, dann findet sich Oberon ein drittes Mal ein, mit der impliziten Drohung, die Ritter bei erneuter Verweigerung des Grußes

38 Unter den frühneuzeitlichen Ausgaben z. B. in französischer Sprache: Les Prouesses et faictz du tres preulx noble et vaillant Huon de Bordeaulx, Lyon 1545; in niederländischer Sprache: Een schoone en noyt wonderlijker Historie van Huyghe van Bourdeus, Antwerpen 1584; oder in englischer Sprache: The ancient, honorable, famous and delightfull historie of Huon of Bourdeaux, one of the peeres of Fraunce, and Duke of Guyenne, London 1601. Französische Drucke erschienen noch 1626, 1683, 1679 oder 1726. 39 Als basale Versfassung z. B. Huon de Bordeaux, édité par Pierre Ruelle, Brüssel 1960, V. 3210–3950, S. 187–208; oder Huon de Bordeaux. Chanson de geste du XIIIe siècle, publiée d’après le manuscript de Paris BNF fr. 22555 (P), ed. William W. Kibler / François Suard, Paris 2003, V. 3187–3939, mittel- und neufranzösisch, S. 176–219; in seiner niederländischen Variante Huyge van Bordeus. Ein niederländisches Volksbuch, hg. v. Friedrich Wolf, Stuttgart 1860, S. 16–24. 40 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle, ed. by Michel J. Raby, New York 1998, c. 15, S. 62–68; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux, done into English by Sir John Bourchier, Lord Berners, and printed by Wynkyn the Worde about 1534, ed. by S. L. Lee, London 1887, c. 21, S. 58–64. 41 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle (s. Anm. 40), c. 16, S. 68–70; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux (s. Anm. 40), c. 22, S. 65–67.

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kein weiteres Mal am Leben zu lassen.42 Die Gesetze der gewöhnlichen Logik waren außer Kraft gesetzt, der Feenkönig konnte sich, wie der Erzähler nahelegt, über die konventionelle Kausalität der Naturordnung schon deshalb leicht hinwegsetzen, weil er in seinem Reich jederzeit Zugriff auf das Vorstellungsvermögen seiner Delinquenten hatte und es nach Belieben manipulieren konnte. Breit erzählt Oberon aus seinem Leben; er sei der Sohn, den Julius Caesar mit einer Feenkönigin hatte, und zugleich ein Nachkomme Alexanders des Großen. Er kenne das Schicksal und die Mission Huons und weiß auch, dass die Reisenden hungrig sind. Und endlich erweist ihm Huon die Ehre.43 Drohte dem Helden nun die ewige Gefangenschaft in der Anderswelt? Nein, Oberon, geleitet ihn ins golddurchwirkte, mit allen Attributen des Paradieses, wie es heißt, ausgestattete Schloss und bewirtet die Ritter aufs Prächtigste. Gériame und die übrigen Ritter wagen die Speisen nur verhalten und schweigend zu sich zu nehmen, denn die Angst, bei entsprechendem Konsum zum dauerhaften Verbleib im Feenreich genötigt zu sein, ist immer noch zu groß.44 Huon jedoch erhält Geschenke von Oberon, ein magisches Gefäß, aus dem nur trinken kann, wer ohne Todsünde ist, und ein Horn aus Elfenbein, mit dem der Feenkönig herbeigerufen werden kann, wenn Gefahr im Verzug ist. Die Krieger verlassen den magischen Wald, zurück in der Wüste bläst Huon ins Horn und der Feenkönig erscheint aus dem Nichts. Der falsche Alarm verdrießt ihn nicht zur Gänze, doch weint Oberon bitterlich, weil er weiß, wie er bekennt, welche Gefahren dem jungen Ritter in Zukunft noch drohen werden.45 Das weitere Geschehen kann seinen Lauf nehmen; Huon steht im Fortgang unter dem Schutz des Feenkönigs.

2.

Erzählte Asynchronie: Die Historia Meriadoci

Vergleichbare Feenwald- und Zauberschlossepisoden ließen sich im 13. Jahrhundert vermutlich noch reichlich zusammentragen. Man denke hier nur an die zahlreichen Schlösser und Wälder, durch die sich Gawain, Lancelot und die Helden der späteren Artusromane, also zum Beispiel dem Perlesvaus-Roman und anderen Fortsetzungen Chrétiens, zu arbeiten hatten.46 Dass Episoden aus 42 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle (s. Anm. 40), c. 17, S. 70–72; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux (s. Anm. 40), c. 23, S. 67–69. 43 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle (s. Anm. 40), c. 18–19, S. 72–77; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux (s. Anm. 40), c. 24–25, S. 69–74. 44 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle (s. Anm. 40), c. 19, S. 77–80; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux (s. Anm. 40), c. 25, S. 74–77. 45 Le Huon de Bordeaux en prose du XVème siècle (s. Anm. 39), c. 20, S. 80–85; im englischen Volksbuch The Boke of Duke Huon de Burdeux (s. Anm. 40), c. 26, S. 77–82. 46 Le Haut Livre du Graal Perlesvaus, edited by William A. Nitze / T. Atkinson Jenkins (2 Bde.), New York 1972, dort z. B. Bd. 1, c. XI, S. 369–377.

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dem Feenreich in der mittelfranzösischen Dichtung dieser Zeit bereits Gegenstand ironischer Zitate werden konnten, zeigt ein im gleichen Zeithorizont entstandenes Großgedicht wie die Merveilles des Rigomer, die den Feenwald, die Zauberwiese und das magische Schloss in ihren 15.000 Versen fast seriell inkorporieren konnten.47 Dass Lanzelot hier zeitweilig während seiner Heldenkarriere als Küchenhilfe sein Dasein fristen darf, zeigt vielleicht, dass dieser Zeuge der Artusdichtung wie so manch anderer Text seine Helden nicht mehr zur Gänze ernst nehmen wollte.48 Das eigentliche Beispiel, das hier für eine literarische Umsetzung des Feenhügels vorgelegt werden soll, wird weniger bekannt sein. Der Text entstammt der kaum geläufigen lateinischen Artus-Tradition, die – lange nach Geoffrey von Monmouth – im 13. Jahrhundert ebenfalls einige Vertreter vorweisen kann; er enthält mit entsprechender Variation und neuer Rollenverteilung die gleichen Motive, die auch die Feenwelt des Huon de Bordeaux charakterisiert hatten, ein enthobenes Raum-Zeitgefüge, die verbotenen Fragen, das magische Schloss, das Gastmahl und vor allem die Phantasmata, die Domäne der Anderswelt; zugleich kehrt auch in diesem Fall der Held gekräftigt und gestärkt aus dem Reich der Phantasmen in die Welt zurück. Selbst Fluss und Unwetter treten in Erscheinung. Die sogenannte Historia Meriadoci ist in der Mitte des 13. Jahrhunderts verfasst worden; als ihr Urheber galt lange Zeit Robert von Torigny.49 Sie erzählt die Abenteuer des Prinzen von Wales, Meriadoc im 5. Jahrhundert nach Christus. Auch Meriadoc gehörte, so die Erzählung, zu den Rittern der Tafelrunde, doch verlässt er England, um sich in der Bretagne ein eigenes Herrschaftsgebiet zu verschaffen. Den Weg dorthin umsäumt eine Serie einschlägiger Aventiuren, Mutproben und Riesenkämpfe, in denen der Prinz von Wales Gelegenheit hat, seine dem Parcival verwandte naive Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Den Hintergrund der Geschichte formte die Einwanderung der Briten in den gallischen Raum, die auf die Eroberung Englands durch die An-

47 Les Merveilles de Rigomer. Altfranzösischer Artusroman des 13. Jahrhunderts nach der einzigen Aumale-Hs. von Jehan in Chantilly, hg. v. Wendelin Foerster / Hermann Breuer (2 Bde.), Dresden 1908–15, Text, Bd. 1, dort z. B. V. 409–524, S. 9–13, V. 2285–2642, S. 67–77. 48 Ebd., Bd. 1, V. 6101–6502, S. 177–189. Dass der Verfasser des Textes sein Gedicht als Parodie verstanden haben könnte, diskutieren z. B. Latimier-Ionoff, Adeline: Les ‚Merveilles de Rigomer‘. Un ‚conte ridicule‘?, in: Parodies courtoises, parodies de la courtoisie, hg. v. Margarida Madureira / Carlos Clamote Carreito, Paris 2016, S. 77–90; und Trachsler, Richard: Lancelot aux foumneaux: des éléments de parodie dans les Merveilles de Rigomer?, in: Vox Romanica 52 (1993), S. 180–193. 49 Als gebräuchlichste Edition mit englischer Übersetzung, nach der hier zitiert wird, Historia Meriadoci regis Cambriae, in: Latin Arthurian Literature, hg. v. Mildred Leake Day, Cambridge 2005, dort S. 122–207, und eine sehr wertvolle Einleitung S. 25–41. Als ältere Edition Historia Meriadoci and De ortu Walvanii: Two Arthurian Romances of the XIIIth Century in Latin Prose, hg. v. James Douglas Bruce, Göttingen 1913, dort S. 1–54.

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gelsachsen gefolgt war. Der Handlungsbogen der Historia ist dennoch zur Gänze sagenhaft.50 Nach der Schilderung der Kindheit und einer Reihe von sondierenden Zweikämpfen am Artus-Hof macht sich Meriadoc auf den Weg nach Gallien. Bevor es ihm jedoch gelingt, die Tochter des Königs der Alemannen zu befreien, und er an den Kämpfen zwischen Franken, Alemannen und Gallo-Romanen teilnimmt, hat der Erzähler für ihn noch eine Bewährungsprobe vorgesehen; sie erinnert in ihrer Inszenierung wohl nicht zufällig an die entsprechende Episode aus dem Huon de Bordeaux. Meriadoc trifft auf die Göttin Fortuna, in einem Zwischenreich, das alle Züge eines Feenhügels trägt, zugleich aber dem Erzähler die Gelegenheit gibt, die Logik der divergenten Raum-Zeit-Systeme souverän zu entfalten. Im Dienst des Alemannenkönigs verfolgt Meriadoc dessen Kontrahenten, einen Ritter mit Namen Sagentinus, der ihm und seinen Mitstreitern jedoch über einen Fluss in Richtung eines dichtgewachsenen Waldes entkommt. Meriadoc lässt die Mehrzahl seiner Truppen bei den Freunden, die er aus früheren Zweikämpfen gewonnen hat, zurück und beschließt, dem flüchtigen Gegner mit einer Gruppe von etwa zweihundert Bewaffneten im Walde nachzusetzen.51 Schon bald stellen die Ritter fest, dass sie keinen gewöhnlichen Forst betreten haben. Gewaltige Tiere bewohnen ihn, wie es heißt, und bizarre phantasmata treten in Erscheinung, die niemand passieren konnte, ohne von ihnen in ihren Bann gezogen zu werden. Diese phantasmata übten auf den Betrachter, so weiß es der Erzähler zu berichten, eine dreifache Wirkung aus; sie erzeugten Angst, generierten Halluzi50 Zu anderen Teilaspekten der Historia Meriadoci, die hier nicht besprochen werden, z. B. Leake Day, Mildred: Historia Meriadoci and Arthur and Gorlagon: Two Arthurian Tales in a Unique Fiftheenth-Century Collection of Latin Romances, in: Fifteenth Century Studies 17 (1990), S. 67–72; Porter, David W.: The Historia Meriadoci and Magna Charta, in: Neophilologus 75 (1991), S. 1–20; Dietl, Cora: Insula tres in partes digesta. Länder, Städte und Räume zwischen historiographischer und fiktionaler Tradition in der Historia Meriadoci, in: Studies in the role of cities in Arthurian literature and the value of Arthurian literature for a civic identity, hg. v. ders., Lewiston 2009, S. 49–69; mit Parallelen zum lateinischen Ruodlieb Archibald, Elizabeth: Variations on Romance Themes in Historia Meriadoci, in: Journal of the International Arthurian Society 2 (2014), S. 3–19; Echard, Siân: De ortu Walvanii and Historia Meriadoci. Technologies in/of Romance, in: Handbook of Arthurian romance. King Arthur’s court in medieval European literature, hg. v. Leah Tether / Johnny McFadyen, Berlin 2017, S. 493–504; oder zur Autorenfrage Shove Morriss, Margaret: The Authorship of the De ortu Waluuanii and the Historia Meriadoci, in: Publications of the Modern Language Association 23 (1908), S. 599–645; Brugger, Ernst: Zur Historia Meriadoci und De Ortu Walwanii, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 46 (1923), S. 247–280, S. 406–440; und mit einem neuen Vorschlag Larkin, Peter: A suggested Author for De ortu Waluuanii and Historia Meriadoci: Ranulph Hidgen, in: Journal of English and Germanic Philology 103 (2004), S. 215–231. 51 Historia Meriadoci regis Cambriae, in: Day: Latin Arthurian Literature (s. Anm. 49), Zeile 30– 34, lateinisch und englisch, S. 164f. Die lateinischen Zeilen sind mit jeder Seite neu nummeriert.

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nationen, transformationes, und sorgten für eine Variante der Ekstase, einen raptus, der den Zuschauer in eine andere Welt zu tragen schien.52 Die Domäne der Ratio hatten die Ritter also, so lässt es der Verfasser deutlich werden, verlassen, sie betraten ein Reich der kreativen Imagination, im dem die gewohnten Gesetze von Raum und Zeit keine Gültigkeit mehr beanspruchen konnten. Im Fortgang der Erzählung ist von entscheidender Bedeutung, dass, ganz wie bei den historischen Feenhügeln, die konventionelle Norm der Zeit in Fluss gerät; sie schien mit rasender Geschwindigkeit voranzuschreiten. Die Besucher des Feenhügels bewegten sich wie Hamster in einem Rad, das sich mit ihrer eigenen Bewegung im Raum immer schneller zu drehen schien. Während des ganzen bizarren Aufenthaltes im Feenreich, dem apostrophierten Reich der Fortuna, muss daher die Zeit als fluktuierende Größe ständig in Erinnerung gerufen werden. Meriadoc hatte den Wald gerade betreten, so heißt es, schon hatte die Sonne am Himmel die Position des frühen Nachmittags eingenommen. Als der Abend sich, zur allgemeinen Irritation, ähnlich zügig einstellt, versorgen der Ritter und seine Gefährten ihre Pferde und betten sich im grünen Gras, um sich, wie es heißt, vom ersten Licht des neuen Tages wieder wecken zu lassen. Kaum jedoch haben die Ritter ihre Augen geschlossen, war es wieder taghell und Meriadoc wird von seinen Gefährten unsanft geweckt. Domine surge, es ist schon Tag! Meriadoc weiß nicht, wie ihm geschieht. Was war der Nacht nur widerfahren? Entweder, so gibt er zu bedenken, war er auf mehr Schlaf angewiesen, als er bisher vermutet hatte, oder die Nächte waren kürzer geworden: Vix somnum cepi, et nunc dies est? Ubi est ergo nox? Certe aut ego prolixiori solito sompno indigeo aut nox solito brevior est!53 Die Pointe gewinnt im Weiteren einen leitmotivartigen Charakter, man könnte auch von einem running gag sprechen. Die Ritter bewegen sich also weiter in den Wald hinein. Das Tageslicht breitet sich zügig aus und fast abrupt steht die Sonne am Himmel, als wäre es die vierte Stunde des Tages. Unvermittelt stehen die Krieger vor einem gewaltigen Schloss aus Marmor und Porphyr, umsäumt von verzierten Säulen und Fresken, und umgeben von einem großen und in jeder Hinsicht repräsentativen Burggraben. Die Verblüffung ist groß, denn, so der Held, noch vor kurzem war man auf einer Jagdpartie in die Nähe des Geländes vorgedrungen und kein vergleichbares Gebäude war zu sehen gewesen. Wiederum ohne Vorankündigung stehen dreißig Diener in prachtvollen Gewändern vor den Rittern; sie nehmen die Gefährten in Empfang und veranlassen sie, scheinbar ohne Worte, eine Einladung zum Gastmahl anzunehmen. Meriadoc folgt ihnen aus Neugierde, obwohl er weiß, dass er seinen flüchtigen Gegner nun wohl nicht mehr erreichen wird.54 52 Ebd., Zeile 5–8, lateinisch und englisch, S. 166f. 53 Ebd., Zeile 8–18, lateinisch und englisch, S. 166f. 54 Ebd., Zeile 18–4, lateinisch und englisch, S. 166–169.

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Das Innere der Burg imponiert, wie zu erwarten, durch seinen opulenten Reichtum. Auf einem mit chinesischer Seide ausgekleideten Sofa liegt die Dame des Hauses, die, wie es heißt, Fortuna, prachtvoll gekleidet und von erhabener Schönheit. Edelleute und Ritter umgeben sie wie einen Hofstaat. Rund um die Hausherrin wird augenscheinlich gespielt, Schach- und Würfelbretter finden sich allerorts. Die Dame des Hauses lässt sich die Ergebnisse der Partien mitteilen. Dann begrüßt sie Meriadoc: „Gut, dass Du gekommen bist, Meriadoc, schon lange hatte ich Dich kennenlernen wollen“. Aber, so die Replik des Ritters, woher kannte sie seinen Namen? Und wie war es ihr gelungen, diesen Palast in so kurzer Zeit aus dem Boden zu stampfen, auf einem Landstück, auf dem sich vor wenigen Wochen noch kein Stein auf dem anderen befunden hatte?55 Auch Fortuna antwortet. Sie kennt ihn schon lange. Was das Schloss betraf, war es hier von altersher (a priscis temporibus). Nur handelte es sich hier nicht um den Ort, von dem Meriadoc eigentlich ausgegangen war. Jetzt freilich sollte er mit ihrem Hofstaat essen und es sich gut gehen lassen. Meriadoc erhält die Erlaubnis, neben der Dame des Hauses erhöht zu sitzen, die Ritter drapieren sich in der Halle entlang der übrigen Tische. Gewaltige Mengen an Speisen in kostbaren Schüsseln werden aufgetragen, doch rechte Freude will nicht aufkommen, denn niemand der Anwesenden sagt ein Wort.56 Der Prinz von Wales ist irritiert und als sich die edle Herrin des Hauses für einen Augenblick abwendet, beschließt er, den Seneschall des phantastischen Hofstaates zu fragen. Mit wem hatte man es zu tun, wer war die edle matrona, die das Hausrecht hatte, war sie verheiratet, und vor allem: Warum verharrten die Hofleute in Schweigen, statt, wie es Gastrecht und Höflichkeit einfordern würden, die Fremden mit Konversation zu unterhalten? Statt einer Antwort legt der Seneschall den Finger an die Nase und zieht eine Grimasse. Meriadoc hat kaum zufällig den Eindruck, man halte ihn zum Narren, und stellt seine Frage ein zweites Mal, mit gebührender Höflichkeit. Statt einer Antwort steckt ihm der Seneschall nun, wie es heißt, wie ein Hund die Zunge bis zum Kinn heraus, und kichert demonstrativ. Dem Ritter erscheint die Situation kurios, noch immer hat er den Eindruck, einem Spiel beizuwohnen, dessen Regeln er nicht kennt, und er versucht es ein drittes Mal, nun deutlicher im Ton. Hoher Herr, was treibt ihn um? Er hatte höflich gefragt, und statt einer Antwort verzieht sein Gegenüber das Gesicht? Ich bitte um eine Antwort! Wieder folgt statt einer Replik eine Grimasse, nun jedoch von anderer Art. Der Seneschall beugt sich über ihn, die Hände wie Eselsohren an die Schläfe gelegt, mit glühenden Augen und einem weit über jedes natürliche Maß hinaus aufgerissenen Maul, als wollte er ihn verschlingen. Längst hatte er den Anschein eines Menschen verloren, so der Erzähler, und glich einem 55 Ebd., Zeile 4–25, lateinisch und englisch, S. 168f. 56 Ebd., Zeile 25–39, lateinisch und englisch, S. 168f.

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Dämon. Die Dame des Hauses weist ihn zurecht und fordert den Seneschall auf, die Grobschlächtigkeiten, die rusticitas, zu unterlassen.57 Die Situation jedoch ist eskaliert. Meriadoc und seine Gefährten überkommt gewaltiger Schrecken, sie reißen sich von der gemeinsamen Tafel los und von kalter Angst getrieben, stürmen sie aus dem Schloss. Draußen war es, man ahnt es bereits, abermals mit abrupter Geschwindigkeit Abend geworden. Als die Krieger versuchen, ihre Pferde zu besteigen, bricht schon die Nacht über sie herein. Die Panik der Ritter überträgt sich auf ihre Reittiere, in heillosem Durcheinander ergreifen sie die Flucht. Als sie sich in scheinbar sicherer Entfernung wähnen, stellen sie fest, dass 45 ihrer Ritter im Getümmel der Dunkelheit abhandengekommen waren. Meriadoc bilanziert die Ereignisse mit den Worten: O comites, dies phantastica nos deliciis pavit.58 Unglück wird sie fortan verfolgen. Tatsächlich, so stellt sich im Weiteren heraus, haben sie den magischen Wald noch nicht verlassen. Ein gewaltiges Unwetter stellt sich ein und treibt die Krieger mit Donner und Blitz in die Nähe einer zweiten Burg. Zumindest einer der Ritter Meriadocs scheint schon von ihr gehört zu haben, und rät davon ab, sie zu betreten. Keiner verlässt das Gebäude, wie es heißt, ohne Schande. Meriadoc jedoch, von der schlechten Witterung getrieben, beschließt die Burg zu betreten, um, wie es heißt, seine Fortuna anzugehen. Auch dieses Schloss ist von gewaltiger Pracht, Teppiche hängen an den Wänden, ein Feuer brennt in der Mitte der Halle. Ställe und Futter stehen bereit.59 Man beschließt zu bleiben, dennoch bleibt ein Unbehagen. Je länger die Ritter am Feuer sitzen, so heißt es, desto größere Angst befällt sie. Draußen tost der Sturm und nach und nach verschlägt es noch weitere der Gefolgsleute Meriadocs in die Burganlage. Niemand ist mehr in der Lage, ein Wort herauszubringen, was Meriadoc mit Erstaunen bemerkt: Qua causa, o socii, sic obmutescitis?60 Schließlich steht Meriadoc auf und macht sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Ein Zimmer des magischen Schlosses nach dem anderen wird geöffnet, dann steht der Ritter im Schlafgemach einer jungen Dame, auf deren Lager sich Speisen und Wein befinden. Meriadoc greift nach Brot und Weinschläuchen und rennt aus dem Raum, auf der Treppe wird er von einem Mann rücklings niedergeschlagen, der ihn einen Dieb schimpft. Als der Ritter wieder zu sich kommt, fehlt ihm sein Schwert und voller Scham, pre pudore, wie es heißt, wagt es Meriadoc nicht zu seinen Gefährten zurückzukehren. Schließlich erscheint der Mann, der ihn auf der Treppe niedergestreckt hatte, ein zweites Mal, drückt ihm wie in einer Traumsequenz die Waffe wieder in die Hand und nennt ihn einen Feigling.61 57 58 59 60 61

Ebd., Zeile 1–22, lateinisch und englisch, S. 170f. Ebd., Zeile 22–9, lateinisch und englisch, S. 170–173. Ebd., Zeile 9–35, lateinisch und englisch, S. 172f. Ebd., Zeile 36–30, lateinisch und englisch, S. 172–175. Ebd., Zeile 30–16, lateinisch und englisch, S. 174–177.

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Der seltsamen Ereignisse ist damit noch nicht genüge getan, denn die Odyssee durch die Räume des scheinbar weitläufigen Gebäudes setzt sich fort. Meriadoc stolpert in die Küche, wo er abermals Speisen aller Art vorfindet und sich endlich an seine hungrigen Mitstreiter erinnert. Abermals versucht der Ritter, so viel an Speisen wie möglich wegzuschaffen, als ihn ein zweiter, wie es heißt, zur Gänze kahler Mann aufgreift und für den Diebstahl zur Rechenschaft ziehen will. Es kommt zu einem Handgemenge, und Meriadoc gelingt es nicht, den Mann bei seinen nichtvorhandenen Haaren zu fassen. Nach erheblichen Schlägen glückt es dem Helden jedoch, den Angreifer aus der Küche in einen Brunnen innerhalb der Burg zu werfen und sich seiner auf diese Weise zu entledigen. Mit Brot und Wein kehrt er zu seinen Gefährten zurück und fordert sie auf, doch möglichst schnell zu essen.62 Nachdem die Ritter eine kurze Pause genießen konnten, erscheint ein dritter, nun vollends riesenhafter Mann und erschlägt, wie es lakonisch heißt, zwanzig der Kämpfer Meriadocs mit einem Knüppel. Erneut kommt es zum Kampf, der für Meriadoc noch an Gefahr zunimmt, als dem Riesen weitere Mitstreiter zu Hilfe kommen. Diesmal erweist sich Meriadoc jedoch als Held, schlägt die Mehrzahl der Angreifer nieder und erhält freien Abzug aus dem Schloss. Seine Gefährten hatten zu diesem Zeitpunkt schon lange die Flucht ergriffen.63 Wie zu erwarten, war es draußen in Zwischenzeit mit großer Geschwindigkeit wieder hell geworden. Die Prüfung hatte jedoch jetzt ein Ende gefunden. Meriadoc irrt noch eine Weile durch den Wald und stößt zuerst auf die Männer, die ihn nicht ins Schloss begleitet, sondern draußen das Ende des Sturms abgewartet hatten, schließlich trifft er auch die übrigen Überlebenden wieder. Als sie gemeinsam auf andere Ritter stoßen, die ihnen unbekannt waren, denken sie zunächst, es könnte sich um ein weiteres Phantasma handeln, dann jedoch erkennen sie, dass sie den magischen Wald mit all seinen Begleiterscheinungen endlich verlassen haben.64 Die eigentliche Kette der Eroberungen, die Kämpfe mit den Galliern, an deren Ende die Herrschaft Meriadocs und die Heirat mit der Prinzessin stehen, können nun ihren Anfang nehmen. Was hat es nun mit dieser Episode, die ich auch aus Entertainmentgründen so ausführlich berichtet habe, auf sich, und was verrät sie uns über die mögliche narrative Funktion eines Feenhügels? Dass Meriadocs Wald, Schloss und Schlossherrrin alle Merkmale eines solchen Hügels, wie er in der Historiographie skizziert wurde, auf sich vereinigen, liegt sicher auf der Hand. Motivgeschichtlich entspricht die Erzählung in ihrem Ablauf, wie die spärliche Sekundärliteratur zur Historia Meriadoci festgestellt hat, der ‚Dame an der Quelle‘, einer Romanze aus den Mabinogion, deren Grundzüge auch Chrétien in seinem Yvain verarbeitet 62 Ebd., Zeile 16–28, lateinisch und englisch, S. 176f. 63 Ebd., Zeile 28–4, lateinisch und englisch, S. 176–179. 64 Ebd., Zeile 4–25, lateinisch und englisch, S. 178f.

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hatte.65 In ihrer Genese war sie sicher ungleich älter als die Handschrift des Red Book of Hergest aus dem 14. Jahrhundert, in dem sie zu finden war. Der Ritter Kynan, ein Mitglied der Tafelrunde, berichtet seinem Gefährten Owain hier von einem prächtigen Schloss in einem magischen Wald, das er nur durch Zufall gefunden hatte. Bewohnt war auch dieses Schloss von feenhaften Figuren, die den Ritter schweigend im Empfang nehmen und denkbar opulent bewirten. Auch hier wird, wie bei Meriadoc, zunächst beharrlich geschwiegen, dann erklärt Ritter Kynan, dass er kämpferische Herausforderungen suche, um seine Unbesiegbarkeit unter Beweis zu stellen. Die Bewohner beginnen endlich zu sprechen und schicken ihn in den Wald zurück. Ein barbarischer homo silvestris, dem Kynan im Anschluss im Feenwald begegnet, erklärt ihm, wie er den sagenhaften schwarzen Ritter aus einer Quelle hervorbeschwören kann, einen würdigen Gegner. Es glückt ihm, doch verschafft ihm der schwarze Ritter eine schändliche Niederlage, er schlägt Kynan, wie auch Meriadoc, zu Boden und entfernt sich mit dessen Pferd, während Kynan, wie es heißt, zu Fuß und in Schande zum genannten Schloss zurückkehrt. Für Owain ist der Bericht seines Gefährten Grund genug, sich im Anschluss dann selbst auf den Weg zu Schloss und Quelle zu machen.66 Unschwer lässt sich hier erkennen, dass die Mehrzahl der erzählerischen Elemente auch in dieser Geschichte gereiht waren, wenn auch, wie im Huon de Bordaux, mit leichter Variation. Dass der Verfasser von dieser Grundlage Gebrauch gemacht haben könnte, ist zumindest nicht unplausibel. Jenseits dieser augenfälligen Parallelen fällt in der Geschichte von Meriadoc jedoch auf, wie leicht es dem Verfasser gelingt, auch auf andere Texttraditionen Bezug zu nehmen, auf Referenzen, die dem Text eine allegorisch-philosophische Dimension verleihen und die eigentliche Erzählung gleichsam überformen. Meriadocs Fortuna manifestiert nicht nur die erwartbare Fee, sie artikuliert auch eine der Personifikationen aus dem Repertoire der philosophischen Dichtung des 12. Jahrhunderts, wie sie im Gefolge der Philosophia des Boethius die Werke eines Bernard Silvestris oder Alanus ab Insulis bevölkert hatten.67 Gemeinsam 65 Harf-Lancner: Les fées au Moyen Âge (s. Anm. 10), S. 347–357; und Leake: Latin Arthurian Literature (s. Anm. 49), Introduction, S. 31–33. 66 The Mabinogion from the Llyfr Coch o Hergest (s. Anm. 3), Bd. 1, Part I, S. 39–70. Als jüngere Edition des kymrischen Textes Owein or Chwedyl Iarlles y Ffynnawn, hg. v. R. A. Thomson, Dublin 1968. 67 Zu den allegorischen Personifikationen in den Großgedichten des Bernardus Silvestris, die paradigmatisch für die Nachfolgewerke wurden, als Beispiele zwei Übersichtsschemata der Schöpfungsinstanzen der ‚Cosmographia‘ Huber, Christoph: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, München 1988, S. 425; und Tauste Alcocer, Francisco: Opus Naturae. La influencia de la tradición del Timeo en la Cosmographia de Bernardo Silvestre, Barcelona 1995, S. 407. Einen entsprechenden Überblick gibt auch Bezner, Frank: Vela veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts, Leiden 2005, S. 444–448.

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Bernd Roling

mit Schloss und Wald als ihrer Heimstatt ruft sie darüber hinaus das Grundgerüst der einschlägigen Minne-Allegorien in Erinnerung, das ‚Chateau d’Amour‘ und seine Bewohnerin, die ideale, oft mariologisch überhöhte Donna.68 In vielen zeitgleich entstandenen französischen und provenzalischen Minneallegorien, deren Echo bis weit über den Rosenroman hinaus reicht, waren Fin d’amour, la deesse Venus oder andere weibliche Figurationen, die als Liebes- und Schicksalsmacht apostrophiert wurden, in vergleichbaren Szenerien in Erscheinung getreten, in waldumsäumten Schlössern und paradiesartigen Gärten.69 Meriadocs Fortuna präsentiert sich, wie deutlich geworden war, zugleich als eine Schicksalsmacht; sie ist von Spielern umgeben, den manifesten Repräsentanten des Zufalls. Sie residiert in einer Domäne, die mit eigenen physikalischen und moralischen Gesetzen versehen war, eben dem Feenhügel. Gerade der Kraft dieses Schicksals, der Instanz unterhalb der göttlichen Vorsehung, hatte sich der Heroe Meriadoc noch vor seinen eigentlichen Heldentaten zu vergewissern, nicht anders als eine Gestalt wie Huon von Bordeaux, als er seinem Beschützer Oberon gegenübertritt. Erzähllogisch positioniert sich der Feenhügel deshalb kaum zufällig noch am Anfang der ganzen Erzählung, als erste wirkliche Aventure, kompositorisch bewusst zwischen Adoleszenz und Mannbarkeit angesiedelt, und noch bevor die eigentliche Kette der Abenteuer ihren Anfang nimmt.

IV.

Fazit: Der Feenhügel als epistemischer Grenzraum?

Über die Quellenfrage hinaus scheint es jedoch, dass sich der Historia Meriadoci und ihrem magischen Wald noch eine weitere erzähllogische Dimension abringen lässt, die wieder zum Feenhügel und seinen geschilderten Eigenschaften zurückführt. Sie war zu Beginn bereits angedeutet worden. Vielleicht ist es sinnvoll, den Feenhügel nicht nur in der Erzähllogik zu würdigen, sondern ihn aus einer Perspektive zu betrachten, die den Verfasser des Textes und sein Selbstverständnis in die Reflektion miteinbindet. Seine etablierten Attribute, die Eigenzeitlichkeit, seine Unabhängigkeit gegenüber den verbindlichen Gesetzen der Heilsgeschichte und ihrem Zeithorizont, schließlich aber auch der pneu68 Zur Burgallegorie in der englischen und französischen Literatur des Hochmittelalters noch immer der Überblick von Cornelius, Roberta D.: The Figurative Castle. A Study in the Medieval Allegory of the Edifice with especial Reference to Religious Writings, Diss. Bryn Mawr 1930, S. 58–72. 69 Unter vielen möglichen Beispielen The Cort d’Amor. A thirteenth-century allegorical art of love, hg. v. L. E. Jones, Chapel Hill 1977, V. 835–840, provenzalisch und englisch, S. 144f.; oder Le fablel dou dieu d’amors, hg. v. Irville Charles Lecompte, in: Modern Philology 8 (1910/ 11), S. 63–86, dort Str. 6–11, S. 72; und Stierle, Barbara: Untersuchungen zur Formgeschichte der ‚kleinen Liebesallegorie‘: Die ‚Complainte d’amours‘ aus B. N. und ihre Vorläufer, Diss. masch., Konstanz 1973, dort Text V. 594–623, S. 202f.

Die asynchrone Logik des Feenhügels: Narrative Strategien der Anderswelt

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matisch-spirituelle Charakter seiner Bewohner, auf den die Naturphilosophen einen so großen Wert gelegt hatten, können hierauf einen Hinweis geben. Wenn das Feenreich in seiner ontologischen Verfasstheit ein Reich des spiritus war, bewohnt von Kreaturen, die als phantasmata fungierten; warum sollte es dann im Erzählfluss nicht auch als Ganzes das Reich der Imagination repräsentieren, das von diesem spiritus dominiert wurde? Die Phantasie setzte sich über die historisch-lineare Zeit hinweg, sie rekombinierte die phantasmata, ihr Bildmaterial, nach Belieben und ordnete sie neu. Ihre kreative Kraft war nicht an der Sinneswahrnehmung ausgerichtet, sondern im Gegenteil, ihre Illusionen konnten auf die Sinne übergreifen. Warum sollte der Feenhügel nicht eben jene liminale Domäne anvisieren, in der sich für die Dichtungstheoretiker des Mittelalters die eigentliche Kraft des Poeten verortet hatte? Dass schon die kosmologischen Dichter des 12. Jahrhunderts, also Bernhard Silvestris oder Alanus ab Insulis, mit ähnlichen Motiven gespielt hatten, sei nur am Rande in Erinnerung gerufen; die Ausgestaltung der poetischen materia, das Wiedererzählen, das durch die Inventio des Dichters mit neuem Ornat versehen wurde, war schon hier im allegorischen Gefüge ihrer Verse in ähnlich entrückten Szenarien angesiedelt worden;70 der Dichter war an die Seite Gottes getreten, der in einem Paradiesgarten vor der Zeit den Helden des Werkes, den Menschen, ausgestalten durfte.71 Noch bevor die Heldenerzählung also mit der großen Ausfahrt des Heroen ihre ersten Höhepunkte erreichte, postierte die narrative Logik im Erzählfluss eine Episode, wie eine Metaebene, die zumindest mittelbar die schöpferische Freiheit selbst zum Gegenstand hatte, die kreative Phantasie. Sie war, wie der Feenhügel zeigte, nicht an Raum und Zeit gebunden, sie war wie die domina der Historia Meriadoci ihre eigene Gesetzgeberin, ihre Kreaturen decamouflierten sich, wie der Ritter erfahren musste, aus dem Nichts und konnten nach Belieben in Erscheinung treten. Ihre Aufgabe war es, kraft ihrer Bilder Furcht und Schrecken, Schauer und Angst, aber auch Begeisterung zu verbreiten. Sie war Herrin des Spiels, Unglück und Glück, Niederlage und Sieg, wie die Burgepisoden Meriadocs zeigen können, lagen in ihrer Hand. Ihrer gestalterischen Hoheit unterworfen, durfte sich das weitere Geschehen dann entfalten, das Schweigen, das den Denkprozess zunächst

70 Zum Schöpfungsparadies bei Bernardus Silvestris Jolivet, Jean: Les principes féminins dans la ‚Cosmographia‘ Bernard Silvestre, in: L’homme et son univers au moyen âge, hg. v. Christian Wenin, Louvain-la-Neuve 1986, S. 296–305, bes. S. 304f.; Dronke, Peter: Eriugena’s Earthly Paradise, in: Begriff und Metapher. Sprachform des Denkens bei Eriugena, hg. v. Werner Beierwaltes, Heidelberg 1990, S. 213–229, hier S. 227–229; und auch Roling, Bernd: Das Moderantia-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 167–258, hier S. 173f. 71 Bernardus Silvestris: Cosmographia, hg. v. Peter Dronke, Leiden 1978, Microcosmos, c. 9, S. 138–142.

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begleitet hatte, die Kontemplation, hatte ein Ende gefunden, die Geschichte konnte beginnen.

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„Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt.“ Temporale Verschränkungen in der Sibyllenfigur

Die Sibyllen sind aus der Geschichte der europäischen Prophetie nicht wegzudenken. Ihre Prophezeiungen bestimmten die politischen Geschicke Roms und warnten Juden und Christen vor dem Ende der Welt. Im Mittelalter standen sie als weibliche Gotteskünderinnen neben den männlichen Propheten der Bibel, und selbst in der gegenwärtigen Popkultur besetzt Sibyll Trelawney in der „Harry Potter“-Reihe die Rolle einer prominenten literarischen Wahrsagerin.1 Eine der einflussreichsten Sibyllenfiguren ist die Sibylle von Cumae, die seit der Antike meist als alte Frau dargestellt wird,2 und deren Inszenierung mit einer Überblendung der Zeitebenen von Gegenwart und Zukunft einhergeht. Durch ihr übermenschlich hohes Alter verkörpert die Figur darüber hinaus eine Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die asynchrone narrative Effekte produziert. So wird die Sibyllenfigur, wie ich im Folgenden zeigen werde, narrativ funktionalisiert, um temporale Verschränkungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Diese Verschränkungen können histoire- und discours-Ebene betreffen und so auch Weltwissen und Zeit des impliziten Publikums miteinbeziehen. Um diese temporalen Verschränkungen in der sibyllinischen Figurentradition soll es im folgenden Aufsatz gehen. Zunächst soll ein knapper Überblick über die Tradition der Sibylle(n) gegeben und dann sollen anhand zweier mittelhochdeutscher Antikenromane, dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke und dem Liet von Troye Herborts von Fritzlar, die in der Figur der Sibylle von Cumae 1 Für einen Gesamtüberblick der Sibyllenrezeption vgl. Galley, Micheline: La Sibylle de l’Antiquité à nos jours, Paris 2010; Hülsmann, Bettina: Sibylle, in: Verführer, Schurken, Magier, hg. v. Ulrich Müller / Werner Wunderlich, St. Gallen 2001 (Mittelalter-Mythen 3), S. 877–902. 2 Vgl. für diese Darstellungstradition Abed, Julian: La vieillesse de la Sibylle: devenir d’un stéréotype antique, du Moyen Âge à l’époque moderne, in: Réception et représentation de l’Antiquité. Actes du colloque du Centre d’Étude Médévales et Dialectales de Lille 3, hg. v. Aimé Petit, Villeneuve d’Ascq 2006 (Bien dire et bien aprandre), S. 25–38, der das hohe Alter der Sibylle von Cumae als „proverbiale à Rome“ bezeichnet (S. 25).

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entworfenen und verhandelten Temporalitäten detailliert diskutiert werden. Zu Beginn möchte ich die asynchronen Besonderheiten dieser Figur aber mit Hilfe eines Zeitsprungs ins 20. Jahrhundert skizzieren. 1907 verfasste Rainer Maria Rilke in Paris das folgende Gedicht, das er Eine Sibylle betitelte: Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt. Doch sie blieb und kam dieselbe Straße täglich. Und man änderte die Maße, und man zählte sie wie einen Wald nach Jahrhunderten. Sie aber stand jeden Abend auf derselben Stelle, schwarz wie eine alte Citadelle hoch und hohl und ausgebrannt; von den Worten, die sich unbewacht wider ihren Willen in ihr mehrten, immerfort umschrieen und umflogen, während die schon wieder heimgekehrten dunkel unter ihren Augenbogen saßen, fertig für die Nacht.3

Rilke veröffentlicht diesen Text 1908 in den Neuen Gedichten: Anderer Teil und stellt die Sibylle hier in engen texträumlichen Zusammenhang mit v. a. biblischen – und männlichen – Propheten, wie Jeremia, Samuel und Elia.4 Rilkes Sibyllenkonzeption greift eine Reihe von Darstellungskonventionen dieser berühmten und überaus wirkmächtigen Figur auf,5 unter anderem die durch den unbe3 Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Bd. 2: Gedichte, zweiter Teil, hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1975, S. 568. 4 Die Abfolge der Gedichte stellt inhaltliche Zusammenhänge sowohl zum alttestamentlichen Prophetendiskurs als auch gesellschaftlich marginalisierten Figuren her: Klage um Jonathan; Tröstung des Elia; Saul unter den Propheten; Samuels Erscheinung vor Saul; Ein Prophet; Jeremia; Eine Sibylle; Absaloms Abfall; Ester; Legende von den 3 Lebendigen und den 3 Toten; der König von Münster. Zum Prophetentum in Rilkes „Neuen Gedichten“ vgl. Por, Peter: Die orphische Figur. Zur Poetik von Rilkes „Neuen Gedichten“, in: Zeitschrift für Germanistik 3,3 (1993), S. 501–515; Henley, Grant H.: Aus der Fülle des Herzens: Rilke’s biblical poetry in the „Neue Gedichte. Anderer Teil“, in: Neophilologus, 84,4 (2000), S. 609–626; Sander, Gisela Maria: Unter dem Diktat der Kunst: Propheten im Spiegel der Gedichte Rainer Maria Rilkes, Ostfildern 2015 (Theologie und Literatur 29); Szendi, Zoltán: Berufung, Verzweiflung und Vergewisserung der Erwähltheit. Zu Rilkes Prophetengestalten, in: Konnte Rilke radfahren?, hg. v. Imre Kurdi / Ferenc Szász, Frankfurt a. M. 2009, S. 165–177. 5 Zur Sibyllenkonzeption Rilkes vgl. Lane, Tora: A sibyl of Two Voices: „Sivilla“ by Marina Cvetaeva and „Eine Sibylle“ by Rainer Maria Rilke. A Comparative Reading, in: Scando-Slavica 52,1 (2006), S. 19–33. Rilke kann auf eine Fülle literarischer Quellen der Neuzeit zurückgreifen, vgl. hierzu Altenhöner, Ingrid: Die Sibylle als literarische Chiffre bei Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Johann Wolfgang Goethe, Frankfurt a. M. u. a. 1997 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, 1646).

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stimmten Artikel implizierte Verwendung des Namens als Titel, ihre anderweltliche und unheimliche Färbung bis zur Charakterisierung von Prophetie als leidvoll, „wider ihren Willen“. Im Zentrum des Textes steht jedoch die temporale Inszenierung der Sibyllenfigur, die in mancherlei Hinsicht eine summa der Sibyllentradition bildet.6 Rilkes Gedicht beginnt mit einer Häufung von temporalen Begriffen – „einst“, „vor Zeiten“, „alt“, „täglich“, „Jahrhunderte“. Sie etablieren eine Opposition zwischen zyklischen Zeitprozessen und einer extrem in die Vergangenheit ausgedehnten linearen Zeit, beides miteinander verknüpft durch Enjambements. Das temporal repetitive und räumlich monoton gestaltete Verhalten der Sibylle – sie kommt täglich dieselbe Straße entlang, steht jeden Abend auf derselben Stelle – stellt einen Wiederholungszwang dar, der das Vergehen von Zeit aufzuheben scheint. Zugleich übersteigt die diachrone Dimension ihrer Existenz menschliche Kategorien und deren temporale Bedingtheiten. Dass sie „vor Zeiten“ alt genannt wurde, diese Maße nun aber nicht mehr angemessen für ihre Langlebigkeit sind, hebt sie auf eine vor- und überzeitliche Ebene. Die Vergleiche mit Wald und Zitadelle verschieben sie aus dem Geltungsgebiet herkömmlicher Zeitrechnung in die Nichtmenschlichkeit extremer Dauer. Interessant ist, dass sich diese temporalen Operationen bei Rilke ausschließlich auf Vergangenheit und Gegenwart beziehen. Die Zukunft, also der eigentliche Kernbereich prophetischer Asynchronien, bleibt auf die als Vögel imaginierten und mit eigenem Agens ausgestatteten Worte beschränkt, deren Inhalt ausgespart ist. Die Sibylle erzeugt so den Eindruck einer zyklischen Gegenwärtigkeit, die durch extreme Repetition Zeitmaßstäbe und -konzepte aushöhlt und verschränkt. Diese temporalen Verschränkungen unterschiedlicher Zeitmaßstäbe, -ebenen und -modi sind, das ist die These meiner folgenden Überlegungen, ein spezifisches Merkmal der Sibyllenfigur. Sie bilden sich im Rahmen einer seit der Antike zu beobachtenden Arbeit an der Darstellungstradition heraus, die Narrateme unterschiedlicher Erzähltraditionen, intersektionale Identitätsmarker von Gender bis Lebensalter, antike Prophetiediskurse und christliche Eschatologie auf komplexe Weise verknüpft. Die Breite und zugleich Stabilität dieser Erzähltradition ermöglicht ihre flexible Anpassung durch die Aktualisierung jeweils relevanter Elemente. Für das christliche Mittelalter besonders wirkmächtig wird die Scharnierfunktion Sibylles als prächristliche Künderin des Kommens Christi, deren Herausbildung im Folgenden kurz skizziert werden soll. 6 Zur Rolle von Zeit und Zeitkonzeption in Rilkes Werk vgl. Allemann, Beda: Zeit und Figur beim späten Rilke: ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961; Fischer, Norbert: „Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?“: Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes, in: Rilkes Paris, 1920–1925, hg. v. Erich Unglaub / Jörg Paulus, Göttingen 2010, S. 283–304.

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I.

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Die Sibyllentraditionen und ihr Weiterwirken im Mittelalter

Die Ursprünge der Sibyllentradition sind ungeklärt.7 Die ersten Erwähnungen in der griechischen Literatur des 5. Jhs. vor Christus, z. B. in Platons Phaedrus und Aristophanes’ Komödien, verweisen jedoch auf eine bereits etablierte Tradition der sibyllischen Prophetie. Die einzelne Sibylle-Figur werden in der Tradition multipliziert und der Name zum Titel gemacht. In den Divines Institutiones argumentiert Lactantius mit einer Etymologie, die den Titel „Sibylle“ von dem aeolischen sioi (Götter) und bule (Rat) herleitet.8 Diesen vervielfältigten Sibyllen – Lactantius nennt mit Verweis auf Varro zehn – werden durch ihre Beinamen konkrete Ursprungs- und Weiheorten zugeordnet, sie weisen teilweise starke lokale Bindungen auf. Sibylle wird als ekstatische Prophetin dargestellt, die also nicht in Reaktion auf die Fragen von Bittstellern, sondern durch göttliche Inspiration und eigenen Anstoß weissagt.9 Ihre Prophetie bezieht sich von Beginn an weniger auf individuelle Schicksale als auf die Belange ganzer Völker, ist also eher herrschaftlich und politisch orientiert. Sammlungen von sibyllinischen Sprüchen werden früh verbreitet. Die in der Antike wirkmächtigste Sammlung sibyllinischer Weissagungen sind wohl die sibyllinischen Bücher, die einen eigenen Kult in Rom begründen.10 Lactantius zufolge habe die Sibylle von Cumae, ursprünglich aus Babylon stammend, um 520 v. Chr. dem römischen König Tarquinius Superbus Bücher mit ihren Orakelsprüchen zum Verkauf angeboten, die er auch nach einigen Schwierigkeiten in Teilen erwarb.11 Nachgewiesen ist der römische Kult um die sibyllinischen Bücher seit spätestens dem 2. Jh. v. Chr. Sie wurden im Jupitertempel des Kapitols 7 Vgl. zum Folgenden die ausführlichen Überblicksdarstellungen bei Malay, Jessica L.: Prophecy and sibylline imagery in the Renaissance. Shakespeare’s Sibyls, New York, NY u. a. 2010 (Routledge studies in Renaissance literature and culture); Holdenried, Anke: The Sibyl and her scribes. Manuscripts and interpretation of the Latin Sibylla Tiburtina c. 1050– 1500, Aldershot u. a. 2006 (Church, faith, and culture in the Medieval West); Parke, Herbert W.: Sibyls and sibylline prophecy in classical antiquity, hg. v. Brian C. McGing, London 1992; sowie die anderen Beiträge in McGing, Brian C. (Hg.): Sibyls and sibylline prophecy in classical antiquity, London u. a. 1988 (Croom Helm classical studies). 8 Divines Institutiones I,6. 9 Vgl. Malay: Prophecy (s. Anm. 7), S. 4. 10 Vgl. Buitenwerf, Rieuwerd: Book III of the Sibylline oracles and its social setting, Leiden u. a. 2003 (Studia in Veteris Testamenti pseudepigrapha 17); Potter, David S.: Prophecy and history in the crisis of Roman Empire: a historical commentary on the Thirteenth Sibylline Oracle, Oxford 1990 (Oxford classical monographs); Geffcken, Johannes: Komposition und Entstehungszeit der Oracula Sibyllina, Leipzig 1902 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 23,1). 11 Lactantius zitiert hier Varros komplizierten Bericht über den Erwerb der Bücher (Divines Institutiones I,6).

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aufbewahrt und von männlichen Priestern konsultiert, um die Geschicke Roms zu lenken; Kenntnis über ihren Inhalt wurde streng kontrolliert.12 Zwar verbrannten die Bücher im frühen 5. Jh.,13 aber die enge Verknüpfung mit der römischen Herrschaft wurde zu einem bedeutenden Teil der Sibyllentradition bis in die Frühe Neuzeit, exemplifiziert durch den zentralen Auftritt der Sibylle in Vergils Aeneis, wo sie den Vorvater Roms durch die Unterwelt führt und ihm so eine Schau seiner berühmten Nachfahren ermöglicht.14 Die zweite und für das christliche Mittelalter noch bedeutsamere Traditionslinie betrifft die sibyllinischen Orakel und andere Weissagungen, in deren Darstellung die Sibylle zur Verkündigerin eschatologischer Prophezeiungen stilisiert wird.15 Wohl ursprünglich mit jüdischen Spruchsammlungen beginnend, zirkulieren ab dem 2. Jh. v. Chr. meist an die tiburtinische Sibylle gebundene Prophezeiungen, die das messianische Heilskonzept verbreiten und bald christlich überformt und mit eschatologischen Inhalten ergänzt werden. Die frühesten überlieferten Sammlungen stammen aus dem späten 6. und 7. Jh., aber schon Lactantius setzt sich ausführlich mit den sibyllinischen Orakeln auseinander. Augustinus festigt die Rolle der Sibylle als Gotteskünderin und fügt in De civitate Dei16 Teile der sibyllinischen Orakel ein, u. a. das sogenannte Erythräische Achrostikon, das auch Theologen wie Quodvultdeus und Hrabanus Maurus in ihre Werke aufnehmen. So wird die Figur auch in die Patristik und theologische Diskurse eingeschrieben.17 Unzählige Bilddarstellungen, Heilsspiegel, Weltchroniken und andere Erzeugnisse vielfältiger Diskurse treten hinzu.18 12 Vgl. Dionysius von Hallikarnassos: Antiquitates Romanae IV,62. 13 Die einzigen überlieferten Fragmente finden sich in Phlegons von Tralleis Buch der Wunder (vgl. Malay: Prophecy [s. Anm. 7], S. 9). 14 Vergil: Aeneis VI. Horaz: Carmen Saeculare, in Auftrag gegeben von Augustus, nimmt ebenfalls Bezug auf die Sibylle von Cumae und verbindet sie mit dem Appollo- und Dianakult sowie mit dem kommenden goldenen Zeitalter. 15 Vgl. Lightfoot, Jane L.: The Sibylline oracles. With introduction, translation, and commentary on the first and second books, Oxford u. a. 2007; Sibyllinische Weissagungen: griechisch-deutsch / auf der Grundlage der Ausg. von Alfons Kurfeß, neu hg. u. übers. von Jörg-Dieter Gauger, Darmstadt 1998; vgl. auch für das Folgende Holdenried: Sibyl (s. Anm. 7). 16 De civitate Dei XIII, 217–243. Vgl. auch Kurfeß, Alfons: Die Sibylle in Augustins Gottesstaat, in: Theologische Quartalschrift 117 (1936), S. 532–542. 17 Vgl. Altaner, Berthold: Augustinus und die neutestamentlichen Apokryphen, Sibyllinen und Sextussprüche, in: Kleine patristische Schriften, hg. v. dems, Berlin 1967, S. 204–215; McGinn, Bernard: „Teste David cum Sibylla“. The significance of the Sibylline tradition in the Middle Ages, in: Apocalypticism in the Western tradition, hg. v. dems., Aldershot 1994, S. 7–35; McGinn, Bernard: Oracular Transformations. The Sibylla Tiburtina in the Middle Ages, in: Sibille e linguaggi oracolari. Mito, Storia, Tradizione. Att del convegno, MacerataNorcia, settembre 1994, hg. v. Ileana Chirassi Colombi / Tullio Seppili, Pisa 1998, S. 603– 644; Prümm, Karl: Das Prophetenamt der Sibyllen in kirchlicher Literatur mit besonderer Rücksicht auf die Deutung der 4. Ekloge Virgils, in: Scholastik 4 (1929), S. 498–533.

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Insbesondere die Vergil’sche Sibylle von Cumae wird als protochristliche Prophetin verstanden, die das Kommen des Herrn ankündigt. Diese Verbindung wird allerdings nicht über die Darstellung der Sibylle in der Aeneis hergestellt, die im Folgenden genauer betrachtet werden soll, sondern vermittels der vierten Ekloge der Bucolica, die aufgrund ihres Beginns als Rede der Sibylle verstanden und im christlichen Mittelalter als Vorausdeutung des Kommens Christi gedeutet wurde.19 Hier heißt es in der Einleitung einer Prophezeiung, die sich auf das Goldene Zeitalter unter Kaiser Augustus bezieht: Ultima Cumaeni venit iam carminis aetas, | magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. (Schon ist die letzte Zeit des cumaeischen Liedes gekommen, | neu wird die große Reihe der Weltzeitalter geboren.)20 Der Augustus-Bezug wird bekanntermaßen umgedeutet zur Ankündigung des Kommens Christi; der literarische Text wird zur protochristlichen Prophetie. Insgesamt ist auffällig, wie eng die Diskurse von Literatur, Politik und Theologie in der Entwicklung der Sibyllentradition ineinandergreifen und einander informieren. Mit Hilfe dieser Traditionslinien werden die Sibyllen zu weiblichen Äquivalenten der alttestamentlichen Propheten aufgewertet, die das Kommen Jesu ankündigen. Im Mittelalter werden die zehn Sibyllen sogar um weitere zwei ergänzt, die europäische und die Sibylla Agrippina, sodass sie als zwölf Sibyllen der Anzahl der jüdischen Propheten entsprechen. In ihrer christologischen und eschatologischen Funktion spielen sie eine prominente Rolle in den Bildprogrammen christlicher Kunst. Im Deckenprogramm der Sixtinischen Kapelle beispielsweise sind die alttestamentlichen Propheten und die Sibyllen abwechselnd als Ensemble angeordnet. Von besonderem Interesse ist auch hier die Sibylle von Cumae, die von Michelangelo als alte, muskulöse Frau mit eher männlichen Gender-Merkmalen dargestellt wird. Fragen von Temporalität und Asynchronität spielen eine zentrale Rolle in der Darstellung und Funktion insbesondere der Sibylle von Cumae. Schon früh wird

18 Vgl. die Beiträge in Bouquet, Monique / Morzadec, Françoise (Hg.): La Sibylle: parole et représentation, Rennes 2004 (Collection Interférences); sowie Dronke, Peter: Medieval Sibyls: Their Character and their „Auctoritas“, in: Forms and imaginings: from antiquity to the fifteenth century, Rom 2008 (Storia e letteratura 243), S. 13–46; Dronke, Peter: Hermes and the Sibyls: Continuations and Creations, in: Intellectuals and poets in medieval Europe, hg. v. dems., Rom 1992 (Storia e letterature 182), S. 219–244; Coote, Lesley Ann: Prophecy and public affairs in later medieval England, Suffolk 2000. 19 So auch von Augustinus in De civitate Dei, X, 27. Vgl. Austin, Roland G.: Virgil and The Sibyl, in: The Classical Quarterly 21,2 (1927), S. 100–105, der zeigt, dass Vergil neben der direkten Erwähnung der carminis Cumaeni weitere Verweise auf die sibyllischen Weissagungen in die Ekloge eingestreut hat. 20 Übersetzung zitiert nach: Publius Vergilius Maro: Bucolica. Georgica. Lateinisch-deutsch, hg. u. übersetzt v. Niklas Holzberg, Berlin 2016 (Sammlung Tusculum), V. 4f.; Vgl. Clausen, Wendell: A commentary on Virgil: Eclogues, Oxford 1994, S. 131.

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ihr hohes Alter zum Teil der Darstellungstradition.21 Heraklit betont bereits im 6. Jh. v. Chr., sie sei 1000 Jahre alt, Vergil bezeichnet sie in der Aeneis wiederholt als longaeva sacerdos, und oft wird sie als alte Frau dargestellt, mit verhüllten oder wirren, offenen Haaren. Während dieses hohe Alter ihre Weisheit und Autorität unterstreicht, wird es zugleich aber oftmals mit Leid, Verlust und einer Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft verbunden, wie sie auch in Rilkes Gedicht entworfen wird. Ovid lässt die Sibylle in den Metamorphosen erzählen, sie habe, als Apollo sie begehrte, sich einen Wunsch von ihm erfüllen lassen: So lange wie eine Handvoll Staub solle ihr Leben währen.22 Da sie aber nicht daran gedacht habe, auch um ewige Jugend zu bitten, altere sie nun seit 700 Jahren und werde es noch weitere 300 Jahre tun: […] ego pulveris hausti ostendi cumulum: quot haberet corpora pulvis, tot mihi natales contingere vana rogavi; excidit, ut peterem iuvenes quoque protinus annos. […] tempus erit, cum de tanto me corpore parvam longa dies faciet, consumptaque membra senecta ad minimum redigentur onus, nec amata videbor nec placuisse deo […]. „Ich schöpfte eine Handvoll Staub, streckte sie ihm hin und bat, ich Törin, mir möchten so viele Geburtstage zuteil werden, wie Staubkörner im Staube seien. Ich vergaß dabei zu erbitten, es möchten Jugendjahre sein. […] Die Zeit wird kommen, da werden mir die langen Jahre meine jetzige Größe nehmen und mich klein machen, die altersschwachen Glieder werden kaum noch Gewicht haben, und man wird mir nicht mehr ansehen, daß ich einst geliebt wurde und einem Gott gefiel […].“23

Im Bild der Handvoll von Staub fällt eine ins Unzählbare ausgedehnte Lebenszeit mit Vergänglichkeit in eins. Ein sich der Unsterblichkeit annäherndes Alter wird mit zunehmendem Leid und körperlichem Verfall verknüpft; der Zunahme an Wissen korrespondiert der Verlust körperlicher Kraft. Diese temporale Verschränkung von Ewigkeit und Hinfälligkeit, von überlegenem Zukunftswissen und leidvollem linearen Fortschritt in der Zeit ist in der Sibyllentradition außerordentlich wirkmächtig geworden und setzt sich bis zum anfangs zitieren Gedicht Rilkes fort. Der Sibyllenfigur, und in besonderem Maße der Sibylle von Cumae, eignet also in dreierlei Hinsicht eine Temporalität, die zeitliche Ebenen verschränkt und

21 Vgl. Abed: Vieilesse (s. Anm. 2). 22 Vgl. Malay: Prophecy (s. Anm. 7), S. 11f. 23 Übersetzung zitiert nach: Ovid: Metamorphosen. Lateinisch / Deutsch, übersetzt und hg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, XIV, 136–150.

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Effekte der Asynchronie erzeugt: erstens als göttlich inspirierter Prophetin, die in der Gegenwart Wissen über die Zukunft verkörpert und mediatisiert. Zweitens dient sie als Mittlerfigur zwischen zwei durch eine scharfe Zäsur getrennten Zeiten: der Zeit vor dem Kommen Christi, sub lege, und nach der Erlösung durch seinen Opfertod, sub gratia. Und drittens wird sie als Wesen inszeniert, das durch übernatürliche Mächte der menschlichen Zeitlichkeit enthoben ist. Ihre Ausstattung mit übernatürlichen oder anderweltlichen Merkmalen und das damit korrespondierende othering setzen sie von menschlichen Gemeinschaften und Beziehungen ab.24 Zugleich erfüllt sie als Grenzgängerin und Vermittlerin zentrale Funktionen für die in der temporalen Linearität gefangenen Menschen. So oszilliert sie gerade aufgrund ihrer spezifischen Temporalität zwischen Erzählwelten und Zeitebenen, ist zugleich Helferin und unheimliche Fremde, charismatische Prophetin und hässliche alte Frau. Wie sich diese komplexe Inszenierung ihrer temporalen Verschränkungen im mittelalterlichen Erzählen niederschlägt und welche Effekte sie hat, soll im Folgenden am Beispiel zweier Antikenromane gezeigt werden.

II.

Die Sibylle im Eneasroman

Heinrichs von Veldeke Eneasroman wurde zwischen 1170 und 1188 verfasst und wird in der Forschung oft als der erste höfische Roman in deutscher Sprache identifiziert. Er ist eine Bearbeitung des altfranzösischen Roman d’Eneas, wohl kurz nach 1160 entstanden, der wiederum Vergils Aeneis wiedererzählt.25 Die Sibylle von Cumae tritt im Kontext des 6. Buches der Aeneis, der berühmten Unterweltfahrt auf. Die Unterweltfahrt stellt im lateinischen Text und in den volkssprachigen Bearbeitungen eine Scharnierepisode dar. Hier wird Aeneas 24 Vgl. auch Kinter, William L. / Keller, Joseph R.: The Sibyl: Prophetess of Antiquity and Medieval Fay, Philadelphia, Pa. 1967, die die mittelalterliche Darstellung der Figur als anderweltliche „fay“ diskutieren. 25 Es existieren eine Reihe von detaillierten Vergleichen der verschiedenen Versionen. Vgl. u. a. Henkel, Nikolaus: Vergils Aeneis und die mittelalterlichen Eneas-Romane, in: The classical tradition in the Middle Ages and the Renaissance: proceedings of the first European Science Foundation Workshop on „The Reception of Classical Texts“, (Florence, Certosa del Galluzzo, 26–27 June 1992), hg. v. Claudio Leonardi / Birgit Munk Olsen, Spoleto 1995 (Medioevo latino), S. 123–141; Fisher, Rodney W.: Eneas. A comparison with the Roman d’Eneas, and a translation into English, Bern 1992 (Australisch-neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 17); Brandt, Wolfgang: Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der „Eneide“. Ein Vergleich mit Vergils „Aeneis“, Marburg 1969 (Marburger Beiträge zur Germanistik 29); Kern, Peter: Der Gang durch die Unterwelt in Vergils „Aeneis“, im „Roman d’’Eneas“ und in Veldekes „Eneasroman“, in: Kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert, hg. v. Katharina Boll / Katrin Wenig, Würzburg 2011, S. 115–130.

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über seine Nachfahren und ihr großes Schicksal informiert und erhält konkrete Anweisungen, die sein künftiges Handeln bestimmen.26 Sibylle wird zunächst dem Aeneas im Traum von seinem toten Vater Anchises als Führerin durch die Unterwelt anempfohlen. Schon vor ihrem ersten Erscheinen wird sie so in einen anderweltlichen Bezugsrahmen gerückt. Bei Vergil dient das Wort „Sibylle“ als Titel der Deiphobe, die in ihrer Funktion als Priesterin in die soziale Gemeinschaft von Cumae eingebunden ist, auch wenn sie zugleich als horrenda (Verg. Aeneis VI, 10) beschrieben wird. Sie ist Priesterin sowohl des Apollo – in dieser Rolle weissagt sie – als auch der Hekate, die ihr Wissen über die Unterwelt vermittelt hat und deren Hain sie hütet. Dementsprechend ist ihren Anweisungen für die Reise in die Unterwelt – sie wird Aeneas führen und ihm das Gesehene erklären – eine Prophezeiung vorgeschaltet, die in ihren intensiven körperlichen Effekten detailliert ausgeführt wird: At Phoebi nondum patiens inmanis in antro Bacchatur vates, magnum si pectore possit Excussisse deum: tanto magis ille fatigat Os rabidum, fera corda domans, fingitque premendo. (Aber noch nicht dem Phoebus gefügig, tobt in der Grotte | wild die Prophetin, ob von der Brust den gewaltigen Gott sie | abschütteln könne: doch härter nur zäumt er den rasenden Mund und | bändigt ihr wildes Herz und zwingt sie durch strafferen Zügel.)27

Der Schwerpunkt dieser Beschreibung liegt auf der Interaktion zwischen dem Gott und der sich zunächst verweigernden Prophetin. Sibylle wird als wildes und ungefüges Reittier inszeniert, das von seinem Herrn in den Dienst gezwungen wird. Diese animalische Inszenierung produziert einerseits einen Effekt des otherings – Sibylle erscheint als ein Hybridwesen, nicht gänzlich immanentmenschlich. Andererseits hebt es ihre Mittlerinnenfunktion hervor: Sie ist das Medium, mit dem Apollo Zukunftswissen in die Welt trägt. Sonst finden sich kaum körperliche descriptiones der Sibylle, bis auf die wiederholte Erwähnung ihres hohen Alters – sie wird mehrfach als longaeva sacerdos (Vergil, Aeneis VI, 321; 628), casta (keusch, 735)28 und virgo (Jungfrau, passim) beschrieben und 26 Zur Sibyllenfigur in der Aeneis vgl. Gowers, Emily: Virgil’s Sibyl and the ‚Many Mouths‘ Cliché (Aen. 6.625–7), in: The Classical Quarterly 55,1 (2005), S. 170–182 und den dortigen Forschungsüberblick; Quiter, Raimund J.: Aeneas und die Sibylle. Die rituellen Motive im sechsten Buch der Aeneis, Königstein / Taunus 1984 (Beiträge zur klassischen Philologie 162). 27 Vergil: Aeneis VI, 77–80. Übersetzung hier und im Folgenden zitiert nach: Vergil: Aeneis. Lateinisch – deutsch. In Zusammenarbeit mit Maria Götte hg. u. übersetzt von Johannes Götte, Berlin 82014 (Sammlung Tusculum); vgl. auch Horsfall, Nicholas: Virgil, „Aeneid“ 6. A Commentary. Volume I, Introduction, text and translation, Berlin 2013. 28 […] huc casta Sibylla | nigrarum multo pecudum te sanguine ducet (Verg. Aeneis V, 735f.) ([…] Dich führt die keusche Sibylle | her, wenn reichlich Blut schwarzwolliger Schafe verströmte).

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sonst mit dem Begriff vates bezeichnet, der ihre prophetische Kompetenz und Autorität fokussiert. Im Roman d’Eneas dagegen wird die knappe Aufforderung von Vater Anchises, die Sibylle als Führerin in Anspruch zu nehmen, erheblich durch eine Charakterisierung dieser Sibylle und ihrer Fähigkeiten erweitert: Sibilla t’i porra conduire, une femme ki set d’auguire; de Cumes est devineresse, et molt i a sage prestresse. El set quant qu’est et qu’est a estre, de deviner ne sai son maistre […]. (Sibylle wird dich dort hinführen können, | eine Frau, die der Weissagung mächtig ist; | sie ist die Seherin von Cumae | und eine sehr weise Priesterin. | Sie weiß alles was ist und was sein wird, | ich kenne niemanden, der besser als sie weissagen kann […].)29

Ihr Priesterinnenstatus wird zwar erwähnt, genauso wie ihre prophetischen Kompetenzen, aber die Götter, denen sie dient, und damit die Quellen ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten, werden ausgespart. Gleichzeitig wird ihr Wissen generalisiert – Prophetie und damit Verfügung über die Zukunft wird zu einer umfassenden Gelehrtheit und Weisheit – „Sie weiß alles was ist und was sein wird“.30 Über diese einführende Beschreibung von Anchises hinaus wird Sibylle allerdings nicht als Prophetin dargestellt;31 ihre Rolle im Text ist ausschließlich die einer Führerin und Beraterin des Eneas. Anders als die Aeneis legt der Roman d’Eneas großen Wert auf eine detaillierte Beschreibung ihres Äußeren: Ele seeit devant l’entree, tote chenue, eschevelee; la face aveit tote palie et la char et neire et froncie; peor preneit de son reguart, femme senblot de male part.

29 Roman d’Eneas, V. 2199–2207. Original und Übersetzung zitiert nach: Le roman d’Eneas, hg. v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben). 30 Der Roman d’Eneas verschiebt ihr Wissen zudem stärker von einer prophetisch-theologischen in eine Gelehrtensphäre, denn Sibylle ist Kennerin der wichtigen wissenschaftlichen Diskurse der Zeit: del soleil set et de la lune | et des esteiles de chascune, | de nigremance et de fusique, | de retorique et de musique, | de dialectique et gramire (Sie weiß über die Sonne Bescheid und über den Mond | und über jeden Stern, | sie kennt sich in der schwarzen Kunst aus | und in der Heilkunst, | in der Rhetorik und der Musik, in der Dialektik und der Grammatik) (Roman d’Eneas, V. 2208–2212). 31 Vgl. auch Kern: Gang (s. Anm. 25), S. 123.

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(Sie saß vor dem Eingang [einer Höhle] | ganz schneeweiß, mit wild herabhängendem Haar; | ihr Gesicht war völlig bleich | und ihr Fleisch schwarz und runzlig; | Furcht ergriff einen bei ihrem Blick, | sie schien eine Frau der Hölle zu sein.)32

Dass sie wild und furchterregend erscheint, ist aus der Aeneis übernommen. Darüber hinaus wird die Erwähnung ihrer longaeva aber körperlich umgesetzt, und das in einer Weise, die nicht Weisheit und Erfahrung, sondern körperlichen Verfall betont und sie scharf abgrenzt von den höfischen, schönen Frauen, die sonst im Roman auftreten. Insbesondere die starken Farbkontraste von weiß und schwarz, die mit höfischen Farbenideal von weiß/rot kontrastieren, setzen sie von den höfischen Figuren des Textes ab. Das wirre Haar greift die Vergil’sche Beschreibung des ekstatisch-wilden Agierens im Kontakt mit dem Gott auf, wird hier aber zu einem grundsätzlichen Charakteristikum der Figur, das noch einmal ihre Verwilderung und ihre Ferne von der Zivilisation betont. Die Identitätsmarker ‚Alter‘ und ‚nicht-zivilisiert‘ negieren wesentliche Charakteristika des idealisierten weiblichen genderings. Ihr Körper ist explizit nicht höfisch und begehrenswert, stattdessen wird eine Annäherung an nichtmenschliche und anderweltliche Kategorien vollzogen, die Furcht und Grauen erweckt. In der mittelalterlichen Tradition wird die Figur ihres sozialen Status als Priesterin in zweierlei Hinsicht entkleidet: Sie tritt nicht länger in dieser Funktion auf und sie erhält keinen sozialen Ort innerhalb einer Gemeinschaft, denn anders als in der Aeneis trifft Eneas sie im altfranzösischen und mittelhochdeutschen Roman allein und ohne Begleitung an. Vielmehr ist sie das Andere, Fremde, Furchterregende, das jenseits der höfischen Zivilisation existiert. Dirk Jürgen Blask hat gezeigt, wie im Roman d’Eneas die religiös-mythologischen Elemente „weitgehend der qualitativen Bestimmtheiten entkleidet bzw. aufs äußerste verkürzt und verdichtet“ werden,33 sodass eine besondere Göttersphäre nicht mehr zur Darstellung kommt und das Konzept des Fatums und der damit verbundene Determinismus in den Hintergrund treten.34 Bei der 32 Roman d’Eneas, V. 2267–2272. 33 Vgl. Blask, Dirk Jürgen: Geschehen und Geschick im altfranzösischen Eneas-Roman, Tübingen 1984 (Romanica et comparatistica 2), S. 84f. 34 So gibt es nur ein singuläres Auftreten des Wortes providence (Roman d’Eneas, V. 1624) im ganzen Roman (vgl. Blask: Geschehen [s. Anm. 33], S. 85). Eine ähnliche Entwicklung hat Anette Gerok-Reiter für den Eneasroman beobachtet und festgestellt, dass durch diese Anpassung Spielräume der Kontingenz in den Text treten (vgl. Gerok-Reiter, Anette: Die Figur denkt – der Erzähler lenkt? Sedimente von Kontingenz in Veldekes Eneasroman, in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Cornelia Herberichs / Susanne Reichlin, Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 131–153). Vgl. zu diesem Thema auch Fischer, Hubertus: Götterwille, Menschenwille oder Wie „rettet“ der mittelalterliche Dichter den freien Willen gegen das antike Fatum? Versuch über Heinrichs von Veldeke „Eneasroman“, in: „Radix totius libertatis“. Zum Verhältnis von Willen und Vernunft in der mittelalterlichen Philosophie; 4. Hannoveraner Symposium zur Philosophie des Mittelalters, Leibniz Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2008, hg. v.

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Sibyllenfigur wird zwar die prophetisch-providentielle Ebene deutlich reduziert, statt einer reductio findet sich aber eine Verschiebung der Figur hin zur anderweltlichen/unterweltlichen Sphäre, die ihre Unheimlichkeit verstärkt und dämonische Assoziationen weckt.35 Von diesen Änderungen abgesehen weicht die Darstellung der Sibylle im Roman d’Eneas nur unwesentlich von der der Aeneis ab.36 Der Eneasroman37 nun nimmt diese Veränderungen des Roman d’Eneas auf und setzt sie weit radikaler um. Erstens wird die initiale Beschreibung der Sibylle durch Anchises – und damit die Darstellung ihrer Fähigkeiten – komplett gestrichen. Dieser weist Eneas nurmehr an, sich zu der Sibylle zu begeben, die ihn zu Anchises in die Unterwelt führen und auf dem Weg beschützen werde.38 In der Unterwelt werde Anchises selbst ihm die Zukunft voraussagen.39 Sibylles prophetische Aktivitäten werden getilgt, ebenfalls ihr außergewöhnliches Wissen und ihr Status als Priesterin.40 Deutlich ausgedehnt wird dagegen ihre descriptio, vor allem im Hinblick auf die erschreckenden oder abstoßenden Elemente ihrer

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Günther Mensching, Würzburg 2011 (Contradictio ARRAY), S. 99–110; Kottmann, Carsten: Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im „Eneasroman“ Heinrichs von Veldeke, in: Studia neophilologica 73 (2001), S. 71–85. Vgl. hierzu für die altfranzösischen Darstellungen Kleinhans, Martha: Gotterfülltheit oder Teufelsbesessenheit? Cumäische Sibylle und Pythia Phemonoe in altfranzösischen Texten, in: Romania una et diversa. Philologische Studien für Theodor Berchem zum 65. Geburtstag, Bd. 2: Literaturwissenschaft, hg. v. Martine Guille / Reinhard Kiesler, Tübingen 2000, S. 655–678. Allerdings wird dem Anchises des Eneasromans im Vergleich weit mehr prophetische Kompetenz zugewiesen. Er informiert Eneas nicht nur über dessen Geschlechterfolge, sondern auch über die nahenden Ereignisse während seiner Regierungszeit. Original und Übersetzung im Folgenden zitiert nach: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch – neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, durchgesehene und bibliografisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1997. var zû Sibillen. | ze Îcônjen is ir hûs, | niht enzwîvele dûs, | dû salt si wole vinden. | sie sal sich dîn underwinden | und sal dich geleiten | unde wol bereiten | zallen disen dingen | und sal dich wider bringen | lebendich unde wol gesunt. | Aldâ getûn ich dir kunt | unde lâze dich gesehen | allez, das dir sal geschehen | dir und dînen nâchkomen („Gehe zur Sibylle. | Sie wohnt in Cumae [/Iconium], | zweifle nicht daran, | dort wirst du sie finden. | Sie wird sich deiner annehmen, | dich begleiten und gehörig vorbereiten | auf alle diese Dinge | und dich gut und wohlbehalten | zurückbringen. | Dort werde ich dir prophezeien | und dich sehen lassen | alles, was dir widerfahren wird, | dir und deinen Nachkommen“) (Eneasroman, V. 82,14–27). Diese Verschiebung der Prophetie auf Anchises geht einher mit der Tilgung antiker religiöser Konzepte wie dem der Metempsychose und einer Transformation der Unterweltstopographie (vgl. Fromm, Hans: Die Unterwelt des Eneas. Topographie und Seelenvorstellung, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur u. Geschichte d. Mittelalters. Festschr. für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Ludger Grenzmann / Hubert Herkommer / Dieter Wuttke, Göttingen 1987, S. 71–89). Vgl. auch kursorisch Keilberth, Thomas: Die Rezeption der antiken Götter in Heinrichs von Veldeke „Eneide“ und Herborts von Fritzlar „Liet von Troye“, Diss. masch., Prag 1975, S. 371.

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Körperlichkeit. Bei ihrem Anblick empfindet Eneas angest, denn, so urteilt der Erzähler: si was vil freislîche getân. […] sine was einer frouwen niht gelîch noch einem wîbe. hern hete in allem sîme lîbe nie niht solhes gesehen […]. Sie ne mohte niht wesen egeslîcher dan si was. Sie sah furchterregend aus. […] | Sie sah weder einer vornehmen | noch einer einfachen Frau ähnlich. | Er hatte in seinem ganzen Leben | noch nie so etwas gesehen […]. | Sie hätte nicht | schauerlicher aussehen können, als sie wirklich war.41

Sibylles Aussehen sprengt die Darstellungsnormen, die im höfischen Roman für Frauen vorgesehen sind – sie ist weder vrouwe noch wîp, entzieht sich also jeder Standeszuordnung.42 Im ersten Eindruck Eneas’, vom Erzähler ausführlich wiedergegeben, dominiert ihre überwältigende Hässlichkeit alle anderen Aspekte. Diese Hässlichkeit wird durch eine bemerkenswerte descriptio ihres Körpers weiter ausgeführt. Sie ist außerordentlich lang (48 Verse), detailliert als Personenbeschreibung in dieser Form einmalig im Eneasroman. Sibylle, so beschreibt der Erzähler mit Verweis auf seine Quelle Virgiliûs (V. 84,40), hat offenes, langes graues Haar, das harde verworren (ganz verwirrt bzw. verfilzt, V. 85,3) ist, wie eines pharîdes mane (die Mähne eines Pferdes, V. 85,5). Heinrich macht so die animalische Charakterisierung der Figur explizit und verweist zugleich auf die Prophetieszene in der Aeneis, ohne die prophetische Rede aufzunehmen. Sibylles Kleidung ist vil unfrouwelîch („gar nicht damenhaft“, V. 85,7). Lockiges Moos hängt ihr aus den Ohren, sodass sie kaum hören kann. Ihre Augen sind tiefliegend, ihre Brauen lang und grau und über die Nase hängend. Ihr Leib ist grûwelîch (greulich, V. 85,21), ihr Mund schwarz und kalt, ihre Zähne lückenhaft, lang und gelb, Hals und Kehle sind schwarz und runzlig. Insgesamt ist sie gescrumphen (geschrumpft, V. 85,32), was an die Beschreibung der im Alter immer kleiner und runzliger werdenden Sibylle bei Ovid erinnert. Neben all diesen Charakteristika, die Eneas außerordentlich wunderlîche (merkwürdig,

41 Eneasroman, V. 84,27–37. 42 Betont wird dagegen ihre für höfisch-weibliches gendering eher untypische Gelehrtheit, denn sie liest in einem Buch. Das Buch als Attribut der Sibylle findet sich häufig auch in der bildenden Kunst, meist als Verweis auf die sibyllinischen Bücher, die für die Geschichte Roms so bedeutsam sind. Die Implikationen von Tempel und Buch tilgt Heinrich jedoch, denn anders als der Roman d’Eneas führt er ihre Kompetenzen in den artes nicht aus.

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wunderbar, V. 95,23) erscheinen, betont der Erzähler auch Leid und Freudlosigkeit dieser unheimlichen Figur: si saz in der gebâre, alse ir leben wâre ân aller slahte wunne. Sie saß da, | als ob ihr Leben | ohne allen Reiz sei.43

Es werden vor allem die körperlichen Auswirkungen ihres hohen Alters fokussiert, die Angst, Grauen und Abscheu hervorrufen, da sie nicht nur Alterserscheinungen, sondern zugleich auch Zeichen von Verwahrlosung und Verfall sind.44 Wiederholt wird markiert, dass sie aus den üblichen Gender-Kategorien des höfischen Romans herausfällt; sie ist für eine erotische Fokussierung gänzlich ungeeignet und damit funktionslos im Rahmen des höfischen Gender-Diskurses. Stattdessen wird an ihr eine Form der Verwilderung weg von menschlichen Kategorien vorgeführt – Haare, Brauen, ja sogar Zähne wachsen über das normale Maß hinaus, sie sind verfilzt und verfärbt, ihre Kleidung verlumpt, ihre Ohren mit Moos gefüllt. Diese überbordende Wachstumsprozesse demonstrieren Alter als einen körperlich fortschreitenden Prozess, der die Sibylle der menschlichen Zeit und Verfasstheit enthebt und sie – wie auch in Rilkes Gedicht – den pflanzlichen und tierischen Sphären annähert.45 Dieser grauenhafte Eindruck absoluter Andersartigkeit, den die Sibylle erweckt, rückt sie stattdessen in den Bereich der Unterweltfiguren, denen Eneas bald darauf unter ihrer Führung begegnen wird. Dies umso mehr, als Heinrich von Veldeke Elemente der Beschreibung von Charon, dem Fährmann am Eingang der Unterwelt, aus dem Roman d’Eneas übernimmt und auf Sibylle überträgt: Caro esteit reis del passage, icil guardot le notonage; vielz ert et laiz et regroniz et toz chenuz et toz fronciz; le vis ot maigre et confondu, le chief mellé et tot bossu, oreiles grandes et velues, sorcilles grosses et mossues, roges les oilz come charbons, la barbe longue et les grenons.

43 Eneasroman, V. 85, 25–27. 44 Vgl. Hülsmann: Sibylle (s. Anm. 1), S. 897, die diese Darstellung als Hinweis auf ein religiösasketisches Leben versteht. 45 Hülsmann: Sibylle (s. Anm. 1), S. 896 deutet den Tiervergleich als Zeichen der Ehrfurcht vor dieser Frauengestalt; die das Grauenhafte der Figur betonenden Darstellung scheint mir aber weit ambivalenter.

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Charon war der Herr der Überfahrt, | er überwachte das Steuern; | er war alt, häßlich und verhutzelt, | und ganz schneeweiß und völlig runzlig; | sein Gesicht war mager und gebräunt, | das Haupt fahlgrau und ganz mit Beulen bedeckt, | er hatte große, zottige Ohren, | dichte und bemooste Augenbrauen, | seine Augen waren rot wie Kohlen, | sein Bart und sein Schnurrbart waren lang.46

Charon ist verhutzelt, alt und hässlich, seine Ohren sind zottig, seine Haut ist verrunzelt und seine Augenbrauen sind vermoost – diese Elemente finden sich bei Heinrich in der Sibyllenbeschreibung wieder, was das gendering der Passage im Vergleich zu den anderen Frauenfiguren des Textes unikal macht. In der Transformation durch den Roman d’Eneas und dann in noch höherem Maß durch den Eneasroman wird also die prophetische Kompetenz gänzlich zurückgefahren, wohingegen ihr Alter und der damit einhergehende körperliche Verfall stark betont werden. In einem Prozess des othering, der nicht nur ihr Geschlecht und damit mögliche Bezüge zur männlichen Figur Eneas, sondern auch ihre Zugehörigkeit zur Kategorie „Mensch“ durch vegetale Bezüge in Frage stellt, wird ihr zugleich jegliche Lebensfreude abgesprochen. Alter wird als Last und Leid dargestellt, die Sibylle als vereinsamtes Schreckenswesen, dessen Unheimlichkeit sie aus der sozialen Sphäre ausschließt. Unmenschliches Alter und Fremdheit werden hier zusammengeschaltet, sodass Sibylle wie ein anderweltlicher Einbruch in die Realität des höfischen Romans erscheint, nicht, indem sie die Zukunft in die Gegenwart holt, sondern indem sie wie ein lebendes Fossil auftritt. Zugleich werden ihre Fähigkeiten ausschließlich auf die Gegenwart und Vergangenheit bezogen – sie liest in einem Buch, sie kennt sich in der Unterwelt aus, wird auch hin und wieder vom Erzähler als prophetesse bezeichnet,47 verfügt jedoch im Text über keinerlei relevantes Zukunftswissen und wird statt als Priesterin oder Seherin meist als frouwe apostrophiert.48 Dies betont ihren hohen sozialen Stand, tilgt aber die spezfische Kompetenz und soziale Situation der Priesterin. Der Roman d’Eneas und der Eneasroman aktualisieren also innerhalb der Sibyllentradition den Aspekt des hohen Alters und des damit verbundenen Leids. Sie reduzieren die temporalen Verschränkungen der Figur somit auf Vergangenheit und Gegenwart. Diese Loslösung aus menschlichen Zeitmaßstäben hin zu einer isolierten, ewigen und gerade deshalb unheimlichen Figur findet sich auch in Rilkes Konzeption der Sibylle wieder.

46 Roman d’Eneas, V. 2441–2450. 47 Vgl. Eneasroman, V. 96,30; 101,35. 48 Die Götter haben ihr noch nicht einmal wie im Roman d’Eneas angekündigt, dass Eneas kommen wird, sie muss sich also auf von ihm gegebenen Informationen verlassen (vgl. Eneasroman, V. 86,16–20).

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Veldeke verzichtet hier auf die christologische und eschatologische Traditionslinie, auch wenn der Erzähler des Eneasromans in anderen Kontexten mehrfach diesen Ausblick auf das Kommen Christi eröffnet. Er folgt also nicht der mittelalterlichen Tradition, die Sibylle als Gotteskünderin und Protochristin zu präsentieren. Nicht ihr Zukunftswissen und dessen Relevanz für intradiegetische Figuren und extradiegetisches Publikum wird in den Mittelpunkt gestellt. Vielmehr wird sie als uralte Schreckensgestalt inszeniert, die nicht Teil der menschlichen Gemeinschaft und der höfischen Kultur ist. Ihr Platz ist in der vorchristlichen Erzählwelt, nicht in dem christlichen, höfischen Zeitalter, das mit Eneas’ Nachkommen seinen Anfang nimmt.

III.

Die Sibylle im Liet von Troye

Herbort von Fritzlar wählt in seinem Liet von Troye eine ganz andere Inszenierung der Sibyllenfigur, und zwar auf der discours-, nicht auf der histoire-Ebene. Seine Bearbeitung des zwischen 1155 und 1160 verfassten Roman de Troye von Benoît de Sainte-Maure entstand im Umfeld des Eneasromans und wird von der Forschung als Reaktion auf Heinrichs Roman angesehen; er liefert gewissermaßen die Vorgeschichte oder das Prequel zum Eneasroman.49 Sibylle ist ursprünglich nicht Teil dieser Stofftradition; vielmehr gibt es eine andere prophetische Frauenfigur, die ebenfalls erhebliche Wirkmächtigkeit für die westliche Kultur entwickelt hat: Kassandra, Tochter des Königs Priamos von Troja, sagt angesichts der von ihrem Bruder Paris geplanten Entführung Helenas den Untergang Trojas voraus. Wie in der Erzähltradition der Kassandrafigur üblich, glaubt ihr niemand am trojanischen Hof.50 In den antiken, mittellatei49 Vgl. zum Entstehungskontext und dem Verhältnis zum Eneasroman Fromm, Hans: Herbort von Fritslar: Ein Plädoyer, in: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 115,2 (1993), S. 244–278; Mayer, Hartwig: Erzählerfigur und Kommentar in Herborts von Fritzlar Liet von Troye, in: De consolatione philologiae. Studies in honor of Evelyn S. Firchow, hg. v. Anna Grotans / Heinrich Beck / Anton Schwob, Göppingen 2000 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 682), S. 245–254; Worstbrock, Franz Josef: Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar, in: Ausgewählte Schriften Franz Josef Worstbrock Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters, hg. v. Andreas Krass / Susanne Köbele, Stuttgart 2004, S. 157–182. Eine umfassende Diskussion des Romans und der relevanten Forschung bietet Herberichs, Cornelia: Poetik und Geschichte. Das „Liet von Troye“ Herborts von Fritzlar, Würzburg 2010 (Philologie der Kultur 3); vgl. auch Schmid, Elisabeth: Der bewegliche Text. Zur Erzähltechnik in Herborts von Fritslar „Trojanerkrieg“, in: Der philologische Zweifel. Ein Buch für Dietmar Peschel, hg. v. Sonja Glauch / Florian Kragl / Uta Störmer-Caysa, Wien 2016 (Philologica Germanica 38), S. 253–278. 50 Vgl. zur Tradition der Kassandrafigur Neblung, Dagmar: Die Gestalt der Kassandra in der antiken Literatur, Stuttgart 1997 (Beiträge zur Altertumskunde 97); Pillinger, Emily J.: Cassandra and the Poetics of Prophecy in Greek and Latin Literature, Cambridge 2019.

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nischen und französischen Versionen wird dieser Unglaube durchgängig kritisiert und die Korrektheit von Kassandras Prophezeiungen auf histoire-Ebene vorgeführt oder durch den Erzähler betont. Herbort von Fritzlar jedoch wählt im Liet von Troye einen anderen Weg, um die Rechtmäßigkeit von Kassandras Handeln und die Glaubwürdigkeit ihrer Voraussagen zu bekräftigen. Kassandra wird auf histoire-Ebene wiederholt als Seherin und Prophetin dargestellt, die das kommende Schicksal Trojas beklagt und auch Agamemnon seinen baldigen Tod vorhersagt.51 Zusätzlich zu diesen wiedergegebenen Figurenreden beglaubigt der Erzähler ihre Prophetie in zwei Erzählerkommentaren, die Kassandra als Künderin Christi, als Sibylle, identifizieren. Bei ihrer erstmaligen Erwähnung in V. 1694–1708 berichtet der Erzähler, die wunderschöne Jungfrau habe herte vil gesaget | Wenne sie vil wiste | Von unserme herren criste.52 Diese Prophezeiungen beträfen seine göttliche und menschliche Natur, sein Erlösungshandeln und die Verdammung der Bösen am jüngsten Tag. Knapp 2.000 Verse später wird Kassandra in einer langen Reihe von Figurenbeschreibungen noch einmal als dritte Tochter des Priamus eingeführt: Cassandra die dritte was Die an den buchen daz las Und vor kunde gesehen Waz den von troyge solte geschehen Von der enspreche ih nicht fort Ir hat von ir vil gehort Beide ir weinen und ir klagen Ie doch hore ich daz sagen Daz sie manige tugent hete Milde kusche und stete Sybilla was dise selbe magit Von der ich nu habe gesaget Von Christo sie harte vil sprach Bis an den iungesten tach Daz hette sie vor gesehen Swaz da solde geschehen Kassandra war die dritte, die in den Büchern das las und vorhersehen konnte, was den Trojanern geschehen sollte. Von der spreche ich nicht weiter. Ihr habt von ihr viel gehört, ihr Weinen und ihr Klagen. Doch ich habe erzählen gehört, dass sie viele Tugenden hatte, Großzügigkeit, Keuschheit und Stetigkeit. Diese Jungfrau war Sibylle, von

51 Vgl. Liet von Troye, V. 1694–1708; V. 2756–2780; V. 3261–3276; V. 6129–6188; V. 9598–9601; V. 16773–16799. Zitiert nach der Ausgabe: Herborts von Fritslâr Liet von Troye, hg. v. Georg Carl Frommann, Quedlinburg / Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit). Übersetzungen von mir. 52 Abkürzungen aufgelöst.

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der ich Euch nun erzählt habe. Von Christus hat sie sehr viel vorausgesagt, bis zum Jüngsten Tag. Das hatte sie vorausgesehen, was da geschehen soll.53

Wie bei den anderen Töchtern werden auch Kassandras Tugenden genannt: Sie ist großzügig, keusch und beständig und vereinigt damit wesentliche höfische und weibliche Tugenden auf sich, auch diese Sibylle aber liest an den buchen, wird also als gelehrt dargestellt in einer möglichen Anspielung auf die sibyllinischen Bücher. Der Erzähler setzt voraus, dass seinen Rezipient*innen Kassandras Rolle und Prophetie bekannt sind. Diese bereits bekannte Rolle wird durch die Verben weinen und klagen charakterisiert. Beides sind tatsächlich wiederholte Handlungen Kassandras, mit denen sie zunächst Aufmerksamkeit auf die Gefahr lenkt, in der sich Troja befindet, und dem drohenden Untergang emotionale Intensität verleiht. Gegen diese bekannte Rolle, über die er niht fort sprechen will, setzt der Erzähler allerdings eine Identifikation der Jungfrau mit Sibylle. Diese Identifikation verläuft über das tertium comparationis der Prophetie – Kassandra weissagt den Ausgang des Krieges und das Schicksal Trojas, Sibylle sagt das Kommen Christi und den Jüngsten Tag voraus. Während beide Prophetinnen im Mittelalter wohlbekannt sind und diese Sibyllenrolle, wie gezeigt, fest in theologischen Diskursen verankert ist, mag die Ineinssetzung der beiden Frauenfiguren zunächst überraschen.54 Sie steht aber fest in der Erzähltradition um die Sibylle von Tibur, die laut mittelalterlicher Überlieferung zu Kaiser Augustus’ Regierungszeit nach Rom gerufen wurde, um einen Traum zu deuten. In dieser Traumdeutung leistet Sibylle einen Überblick über die kommende Weltgeschichte bis zum Jüngsten Tag.55 Diese für die eschatologische Imagination des Mittelalters ungeheuer wichtige Sibyllenfigur wird wiederholt als Tochter des Priamus identifiziert.56 Herbort schreibt sich also ebenfalls in die reiche Sibyllentradition ein, fokussiert aber eine ganz andere Traditionslinie als Heinrichs von Veldeke Sibyllendarstellung. Welche Funktionen und Effekte hat diese Ineinssetzung der Figuren auf discours-Ebene? Ricarda Bauschke-Hartung interpretiert die Verknüpfung von 53 Liet von Troye, V. 3261–76; Abkürzungen aufgelöst. 54 Worstbrock: Zur Tradition (s. Anm. 49), S. 165 findet diese Verbindung „befremdlich“, schlägt aber eine mögliche Verknüpfung über eine Passage in Tibull 2,5 vor, die mir wenig überzeugend scheint. 55 Vgl. Holdenried: Sibyl (s. Anm. 7); Kampers, Franz: Die Sibylle von Tibur und Vergil, in: Historisches Jahrbuch 29 (1908), S. 1–29, 241–263. 56 Vgl. Kampers: Sibylle (s. Anm. 55), S. 1; vgl. auch Dorninger, Maria Elisabeth: Aspekte der Mutter und Tochter-Beziehung in der mittelhochdeutschen Epik. Beobachtungen zu den Trojanerromanen Konrads von Würzburg und Herborts von Fritzlar und dem „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach, in: Love, marriage, and family ties in the later middle ages. Leeds International Medieval Congress 2001, hg. v. Isabel Davis, Brepols 2003 (International Medieval Research 11), S. 157–180, hier S. 161.

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Kassandra und Sibylle als Authentifizierungsstrategie, mit der Herbort die christliche Wahrheit in seinem historischen Stoff offenlegt: Wenn Kassandra-Sybilla das Erlösungswerk Christi vorhersagt, müssen auch ihre Prophezeiungen des Trojanischen Untergangs wahr sein, und dies bedeutet wiederum, in der textinternen Logik gedacht, daß Herbort im ‚Liet von Troye‘ erstens Authentisches berichtet und zweitens nur das Authentische als historisch Wahres ein würdiger Erzählgegenstand sein kann.57

Diese Authentifizierung und Nobilitierung durch die auctoritas der tiburtinischen Sibylle ist sicherlich ein wichtiger Aspekt der Identifikation von Kassandra und Sibylle. Sie ist aber darüber hinaus auch im Kontext der Voraussagenstruktur des Liet von Troye zu betrachten. Hartwig Mayer hat darauf hingewiesen, dass der Erzähler des Liet von Troye, anders als die Erzählerfigur des Eneasromans, wenig eigene Prolepsen vornimmt, sondern Voraussagen vornehmlich in Träume und Prophezeiungen intradiegetischer Figuren verschiebt.58 Cornelia Herberichs arbeitet in ihrem Aufsatz zu „Kontingenzreflexionen“ bei Herbort heraus, dass die im Text vorgeführte Vervielfachung und Vielschichtigkeit von Voraussagen einen paradoxen Effekt hat: Die mehrfachen Prophezeiungen schließen also nicht, sie eröffnen Horizonte der Kontingenz, die sich mit der fortlaufenden Erzählung – indem sich die kausalen Begründungen verändern – wiederum verschieben.59

Cornelia Herberichs geht nicht explizit auf die kassandrischen Weissagungen und die Implikationen der Identifikation mit Sibylle ein. Ihre und Ricarda Bauschkes Beobachtungen weiterdenkend lässt sich aber argumentieren, dass Kassandras Prophezeiungen durch die im discours markierte Sonderstellung aus der Symphonie von Voraussagen des Liet von Troye herausgehoben werden, und zwar durch einen Wechsel einerseits der Erzähl-, andererseits der temporalen Ebene. Die Wahrheitsbekräftigung auf discours-Ebene hat einen anderen Glaubwürdigkeitsstatus als intradiegetische Wahrheitsbeteuerungen; sie richtet sich aber erstens nicht an das intradiegetische Publikum Kassandras, sondern exklusiv an das extradiegetische implizite Publikum und stellt so ein klares Wissensgefälle zwischen Figuren und Rezipient*innen her. Zweitens verknüpft 57 Bauschke-Hartung, Ricarda: Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar: Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution im „Liet von Troye“, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 347–365, hier S. 364. 58 Vgl. Mayer: Erzählerfigur (s. Anm. 49), S. 247. Dies stelle auch einen deutlichen Unterschied zur altfranzösischen Vorlage dar. 59 Herberichs, Cornelia: „so muz ich gut gelucke han“. Kontingenzreflexionen im „Liet von Troye“ Herborts von Fritzlar, in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Susanne Reichlin / Cornelia Herberichs, Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 154–173, hier S. 158.

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die Identifikation von Kassandra und Sibylle zwei verschiedene Phänomene prophetischer Asynchronie, indem disparate Zeitebenen zum Überlappen gebracht werden: Kassandra weissagt der intradiegetischen Gegenwart über eine Zukunft, die für das extradiegetische Publikum bereits bekannte Vergangenheit ist. Sibylles Weissagung aber geht über die Gegenwart der Rezipient*innen hinaus in eine zwar heilsgeschichtlich zugesicherte, jedoch noch nicht eingetretene Zukunft: Bis an den iungesten tach. Die verschmolzene Figur Kassandra / Sibylle wird zum Nexus eines asynchronen Erzählmoments, in dem Vergangenheit, intra- und extradiegetische Gegenwarten und Zukünfte ineinander fallen. Der von Herberichs beobachteten Öffnung von Horizonten der Kontingenz wird hier extradiegetisch eine klare Sicherheit gegenübergestellt: die des christlichen Glaubens, des Kommens Christi und des bevorstehenden Weltendes. Aus temporaler Perspektive betrachtet verschränkt Herbort hier durch den Knotenpunkt der Sibylle und ihre Prophezeiungen mehrere Zeitebenen: Erstens die des historischen Stoffs vom Untergang Trojas. Zweitens die lange Lebenszeit der weissagenden Sibylle, die durch diese Identifikation Troja mit der Geburt Christi verknüpft und, angesichts der engen Verbindung mit dem Eneasroman, unter Umständen auch mit der Geschichte des Eneas. Drittens verschränkt er hiermit den Zeitpunkt der Rezeption des Liet von Troye und bindet damit ein Publikum ein, das die eine Geschichte, die von Kassandra, schon kennt, und nun in Ergänzung von ihrer Identität als Sibylle erfährt. Viertens nimmt er den eschatologischen Ausblick auf den Jüngsten Tag mit auf, den auch das Publikum Herborts intensiv erwartet. In diesem erzählerischen Kunstgriff fallen also zwei Vergangenheiten und zwei Gegenwarten (die der intradiegetischen Figuren- und der extradiegetischen Rezipient*innenebenen) mit einer Zukunft zusammen, die beide Gruppen teilen. Hatte Heinrich im Eneasroman unter Konzentration auf die Körperlichkeit der Sibylle eine Entzeitlichung bei gleichzeitigem hohen Alter inszeniert, die sich ganz auf Gegenwart und Vergangenheit konzentriert, so holt Herbort mit diesem Vergleich die Zukunft in die Vergangenheit und die Vergangenheit in die Gegenwart seiner Rezipient*innen. Sibylle ist hier nicht das unheimliche anderweltliche Wesen, das nicht mit menschlichen Maßstäben zu greifen ist, sondern eine jungfräuliche Königstochter, die ihre Wahrheiten zu einem aufmerksamen Publikum spricht. Dieses Publikum ist jedoch nicht ihre eigene Familie und Zeit, die ihr nicht glauben will, sondern es existiert in einer extradiegetischen Zukunft und rezipiert ihre Worte durch Herborts Vermittlung. Dem lebenden, grauenhaften Fossil, das sub lege keine Zukunftsperspektiven bietet, steht eine weise Prophetin gegenüber, die die Zäsur von sub lege zu sub gratia überbrückt und Hoffnung verkündet.

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IV.

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Fazit

Die Sibyllenfigur ist aufgrund ihrer besonderen Rolle als Voraussagende, als vorchristliche Christuskünderin und als ewig Alternde prädestiniert für die Verhandlung komplexer temporaler Bezüge. Heinrich von Veldeke und Herbort von Fritzlar setzen sie im Rückgriff auf verschiedene Stränge der sibyllinischen Erzähltradition auf ganz unterschiedliche Weise ein. Beide aber nutzen sie, um im Moment der Figurenbeschreibung temporale Verschränkungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Dies geschieht auf histoireEbene durch eine Charakterisierung und auf discours-Ebene durch die Anbindung an den Troja-Stoff, womit implizit auch die Frage der Legitimität von Prophetie generell erörtert wird. Die lange wirkmächtige Sibyllentradition weist diese Figur als Knotenpunkt aus, um unterschiedliche Zeitebenen zu überblenden, gegeneinander auszuspielen und semantisch zu verbinden. Gerade durch ihren schillernden Status zwischen Unsterblichkeit und Vergänglichkeit, zwischen vorchristlicher Vergangenheit und eschatologischer Zukunft, zwischen Menschlichkeit und unheimlicher Anderweltlichkeit, werden auch ganz grundlegende theologische und philosophische Fragen über den Nexus ihrer asynchronen Temporalität verhandelbar.

Jutta Eming

Senemære. Zur Verschränkung von Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

Das Interesse dieses Beitrags gilt einem komplexen Phänomen: Verschränkungen von Temporalität und Emotionalität in literarischen Texten. Dem Thema des Bandes gemäß werden sie hinsichtlich gleich mehrerer zeitlicher Ebenen, Asynchronien, untersucht. Meinem Interesse liegt die Hypothese zugrunde, dass Emotionen und Zeitlichkeit sich im Kontext ihrer literarischen Vergegenwärtigung in unterschiedlicher Weise wechselseitig stützen: Die Darstellung von Emotionen ist demnach über zeitliche Dimensionen strukturiert, und emotionale Valenzen unterstützen umgekehrt die Vermittlung und Reflexion von Zeit. Mit Paul Ricœur ließe sich Letzteres sogar pointieren: Sie ermöglichen die Erfahrung von Zeit.1 Zeitliche Aspekte von Emotionen spielen für ihre Konzeptualisierung grundsätzlich eine wichtige Rolle; ihre Länge oder Kürze bildet zum Beispiel ein zentrales Klassifikationskriterium für die Unterscheidung zwischen Emotionen, Affekten und Gefühlen.2 Darüber hinaus sind einige Emotionen oder emotional tingierte Zustände dadurch gekennzeichnet, dass sie über unterschiedliche Haltungen zu Zeit konstituiert werden. Zu ihnen gehören Hoffnung, Vertrauen oder Angst, die emotionalen Haltungen zur Zukunft Ausdruck geben, oder Reue, die sich auf die Vergangenheit bezieht. Ein Beispiel für eine Emotion, welche dezidiert asynchrone Strukturen aufweist, ist Trost, ein Zustand, dessen temporale Konstruktion so charakterisiert werden könnte, dass ein gegenwärtiger Mangel oder Schmerz mit früheren und künftigen Zuständen kontrastiert wird.3 1 Vgl. zur These einer Erfahrung von Zeit durch Erzählungen Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 22007 (Übergänge 18/I), S. 87 et passim. 2 Typisch für Emotionen ist tatsächlich ihre Kürze, vgl. Ben Ze’ev, Aaron: The Subtlety of Emotions, Cambridge / London 2000, S. 40–41 et passim; oder Frevert, Ute: Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013. 3 Vgl. auch die Ausführungen zur Zukunftsperspektive von trost in der Melusine Thürings von Ringoltingen bei Knaeble, Susanne: Zukunftsvorstellungen in frühen deutschsprachigen Prosaromanen, Berlin / Boston 2019 (Literatur – Theorie – Geschichte 15), S. 168–171 et passim.

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In modernen Theoriebildungen von Emotionen als heterogen strukturierten Erlebensmustern zeigt sich eine klare Affinität zur grundsätzlich heterogenen Zeiterfahrung;4 Emotionalität und asynchrone Temporalität arbeiten ihrer Verknüpfung in diesem Sinne also durchaus zu. Zugleich ist das Nachdenken über die Zeitlichkeit von Emotionen jedoch alt: Aristoteles stellt im Zusammenhang seiner Ausführungen zum Zorn, seinen Ursachen und gegensätzlichen Prinzipien fest, dass Zeit dem Zorn ein Ende bereitet.5 Dies nimmt Thomas von Aquin in seiner Affektenlehre wieder auf und bestimmt Hass als eine ‚Befindlichkeit‘ des Menschen (dispositione hominis) im Unterschied zum Zorn als einer Gemütsbewegung, welche wieder vergeht.6 Je andere Formen der Verknüpfung von Zeiterfahrung und Emotionen im literarischen Text könnten ein poetologisches Kriterium für die Differenzierung literarischer Gattungen bieten. Entsprechende Untersuchungen müssten wahrscheinlich im mindesten bei Aristoteles’ Bestimmung der Tragödie einsetzen und darüber hinaus immanente Poetiken der Gattungen herauszuarbeiten.7 Diese würden eine Ebene einschließen, auf der literarische Texte nicht nur Erfahrungen auf der intradiegetischen Ebene gestalten, sondern die ihrer Rezipient*innen emotional-temporal modellieren. Die Frage, unter welchen Bedingungen reales Erleben von Zeit und Emotionen mit dem von literarischen Figuren korreliert werden kann, ist allerdings ebenso kompliziert wie das Problem, wie sich Zeitempfinden zur Lektüre verhält, pointiert: Ob wir Zeit überhaupt anders als durch Erzählungen erleben können? Letzteres ist das Thema der umfangreichen Studie von Paul Ricœur zu Zeit und Erzählung. Von Konzeptualisierungen emotionaltemporaler Konfigurationen im literarischen Text zu ihrem realen Erleben führt zwar kein unmittelbarer Schritt, schon deshalb nicht, weil das Verhältnis zumeist komplizierter verläuft als über einfache Analogie, Identifikation oder ‚Einfühlung‘. Entsprechende Einflüsse sind trotzdem unabweislich und literaturwissenschaftlich wie kulturgeschichtlich auch immer wieder analysiert worden. Dass literarische Texte ihre Leser*innen emotional so involvieren können, dass diese darüber buchstäblich die ‚Zeit vergessen‘, ist ein Topos, der insbesondere die

4 Wie in der Einleitung ausgeführt, vgl. S. 20f. 5 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, München 1980, S. 92 (1380b). 6 Thomas von Aquin: Die menschlichen Leidenschaften, kommentiert von Bernhard Ziermann, Heidelberg u. a. 1955 (Summa Theologica 10), S. 400. Die Unterschiede in der Dauer der Emotionen gehen auf die Unterschiede ihrer Ursachen zurück, vgl. ebd.: Odium autem provenit ex permanentiori causa quam ira. 7 Vgl. für die mittelalterliche Literatur hier Mertens Fleury, Katharina: Dîns sanges wort, diu hânt den tag ze fruo uns kunt getân. Zum Verhältnis von Zeit und Begehren im Tagelied, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 147 (2018), S. 181–197.

Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

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Romankritik seit der Frühen Neuzeit begleitet hat.8 Auch Theorien literarischer oder ästhetischer Spannung sind in Prämissen einer emotionaler Formung von Zeit zu fundieren.9 Ein einschlägiges Beispiel bietet die Melancholie: ein Bündel von Emotionen, die sich auf den Umstand beziehen, dass Zeit abläuft, gerade vergangen oder unwiederbringlich ist.10 Melancholie gilt zumindest für die Frühe Neuzeit als eine in hohem Maße durch Kunstwerke, literarische Texte und wissenschaftliche Abhandlungen stilisierte ‚Mode‘-Emotion.11 Die schwierige Frage, in welchem Maße sich reale Menschen emotional an literarischen Texten orientiert haben, kann in den folgenden Ausführungen zwar unberücksichtigt bleiben. Doch wird es darum gehen, Semantiken herauszuarbeiten, durch welche die Rezipient*innen literarischer Texte in die Erfahrungen von Protagonist*innen auf der Handlungsebene eingebunden – und zwar so eingebunden werden, dass ‚Zeitsprünge‘ entstehen.

I.

Asynchrone Emotionalität im Tristan

An Gottfrieds von Straßburg Tristan, dem mittelalterlichen Roman, der im Folgenden im Zentrum der Analyse stehen wird, lässt sich eine Tendenz zur Verschränkung zeitlicher Dimensionen mit der Darstellung von Emotionen und emotionalen Zuständen auf mehreren Ebenen beobachten. Ein Beispiel bildet die Episode um den Minnetrank, dessen Einnahme im Inneren der männlichen 8 Einführend knapp Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 2002/1998, S. 11–32. 9 Vgl. zum Verhältnis von Spannung und Emotionalität Anz: Literatur und Lust (s. Anm. 8), S. 150–171; für die mittelalterliche Literatur Baisch, Martin: Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman, in: Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven, hg. v. Harald Haferland / Matthias Meyer, Berlin / New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 205–230. 10 Vgl. die klassische Studie von Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1993. 11 Interessanterweise ist das nicht für die von Klibansky et al. (s. Anm. 10) diesbezüglich als epochales Kunstwerk geltend gemachte Melencolia, I von Albrecht Dürer nachzuweisen, vgl. dazu Büchsel, Martin: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. Zeichen und Emotion – Logik einer kunsthistorischen Debatte, München 2010. Vgl. ebd., S. 167–190, hier S. 168. Vgl. generell auch die Beiträge im Katalog: Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, Ostfeldern-Ruit 2006. Der Einfluss, der für die Nobilitierung und Kultivierung der Melancholie lange auf den Florentiner Neuplatonismus um Marsilio Ficino zurückgeführt wurde – wesentlich begründet wiederum durch Klibansky et al. (s. Anm. 10) – wird mittlerweile kritischer gesehen, vgl. dazu Beiweis, Susanne: Allmacht, Ohnmacht und Magie. Saturn als Kippbild bei Marsilio Ficino, in: Marsilio Ficino in Deutschland und Italien. RenaissanceMagie zwischen Wissenschaft und Literatur, hg. v. Jutta Eming / Michael Dallapiazza, Wiesbaden 2017 (Episteme 7), S. 55–66.

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Jutta Eming

Figur als sich allmählich ausbreitende Liebe Reflexionen über Vergangenheit und Zukunft in Gang setzt und schließlich ein eigenes Gefühlskonzept einführt, die erbeminne.12 Diese markiert das Erbe nicht nur von Tristans Eltern, sondern aller Menschen, die richtig lieben, und in diesem Sinne eine mythische Ebene mit bestimmten zeitlichen Implikationen.13 Auf die Frage, wie diese mythische Ebene konstituiert wird, komme ich im Folgenden zurück. Ein weiteres Beispiel für die Verschränkung zeitlicher Dimensionen im Tristan bilden die Abschiedsmonologe von Tristan und Isolde in der Situation der Trennung: In Tristans Rede lassen sich Versuche erkennen, nach der Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit und angesichts der nicht gegebenen Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft die Beziehung gleichsam ‚auf Anfang zu stellen‘ im Sinne eines Neuanfangs, der zugleich das Ende ihrer Liebe bedeuten könnte. Isolde setzt dem umgekehrt in einer rhetorischen Einheitskonstruktion von Vergangenheit, Künftigem und gegenwärtigem Abschied gerade die Unauflöslichkeit der bestehenden Bindung entgegen.14 Typisch für den Tristan sind Formulierungen, in denen gleichsam vor oder zurück in der Zeit auf eine Emotion geschaut wird. Das folgende Beispiel dafür betrifft die Ankunft Tristans und Isoldes in Cornwall und die erste Begegnung mit Marke, also eigentlich einen Moment ‚aufgeladener‘ Gegenwart. Da heißt es zu Marke und der angemessen freundlichen Stimmung, in der er die beiden empfängt:

12 Vgl. meine Analyse in Eming, Jutta: Emotionen im ‚Tristan‘. Untersuchungen zu ihrer Paradigmatik, Göttingen 2015 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 20), S. 72–78. 13 Eine grundlegende Diskussion unter dem Aspekt, ob das Konzept der erbeminne mit der mittelalterlichen Erbsündenlehre korreliert werden kann, hat Ralf-Henning Steinmetz geführt. Sehr kurz gefasst lautet sein Ergebnis, dass die Tristanminne in diesem Kontext nicht kritisiert, sondern verteidigt wird, vgl. Steinmetz, Ralf-Henning: Tristans erbeminne. Versuch über vier Hapax legomena bei Gottfried von Straßburg, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 388–408. Köbele, Susanne: Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Udo Friedrich / Bruno Quast, Berlin / New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 219–246, hier S. 229–237, erweitert diese ‚Erbe‘-Diskussion um mythische Dimensionen. Es wäre in diesem Sinne unerheblich, ob die Tristanminne von den Eltern vererbt oder durch den Minnetrank erzeugt wird, weil sie als mythisches Element immer schon gegeben ist (vgl. ebd., S. 233). Vgl. zu mythischen Anteilen des Tristan generell Hammer, Andreas: Mythische Erzählelemente im Tristan Gottfrieds von Straßburg und im Iwein Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007. 14 Vgl. Eming, Jutta: Weiterlieben, weitererzählen. Der Abschiedsmonolog Isoldes und die Verwerfung der poetologischen Alternative, in: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Reflexion von Kunst, hg. v. Martin Baisch / Beatrîce Trinca, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalterund Frühneuzeitforschung 6), S. 189–211, ferner Eming: Emotionen im Tristan (s. Anm. 12), S. 179–209.

Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

daz ergeste und daz beste, daz Marke an disen zwein enpfie, mit den sîn leben ouch hine gie, daz selbe enpfienc er alse wol, als ein man daz enpfâhen sol, daz ime vor allen dingen ist.

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Das Schlimmste und das Beste nahm Marke mit diesen beiden in Empfang, mit denen er sein ganzes Leben verbringen würde, das empfing er eben so liebenswürdig, wie ein Mann das empfangen soll, das ihm wichtiger als alles andere ist.15

In dieser Passage wird kein einziges Emotionswort angeführt, weder ein typisch mittelhochdeutsches wie minne oder leit noch ein Tristan-spezifisches wie erbeminne. Dennoch wird ein emotional vielschichtiger Moment vergegenwärtigt, der daraus besondere Intensität bezieht, dass er mit wenigen Strichen die leidvolle lebenslange Liebesbeziehung skizziert und antizipiert, die Marke sowohl zu Isolde als auch zu Tristan unterhalten wird. Formulierungen dieser Art finden sich im gesamten Roman. In jedem einzelnen Fall ließen sich Funktionen und Aussageweisen der asynchronen Konfigurationen mit Blick auf die grundlegende Anlage der Dichtung entfalten. Im Folgenden steht jedoch nur eine Emotion im Fokus, genauer ein emotionales Konzept. Es weist eine eindeutige zeitliche Signatur auf, und zugleich lassen sich seine asynchronen Bezüge auf die Poetologie der gesamten Dichtung beziehen: senen. In Gottfrieds von Straßburg TristanRoman hat es einen ähnlich prominenten Stellenwert inne wie Liebe bzw. minne.

II.

Senen / Sehnen

Wird Sehnsucht als Kompositum mit Blick auf seine zwei Elemente wörtlich genommen als Sehn-Sucht, Sucht, sich zu sehnen, gehört es am ehesten in die Romantik, insbesondere in die Spätromantik zu Richard Wagner.16 Senen, mittelhochdeutscher Vorläufer der modernen Begriffe von Sehnsucht und SichSehnen, beschreibt in der Literatur des Mittelalters ein semantisches Feld, das

15 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hg. v. Walter Haug / Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, Band I, Berlin 2012, V. 12538–12543, meine Übersetzung. Im Folgenden erscheinen die Zitatangaben direkt im laufenden Text. 16 Mit Blick auf Wagners Oper hat Christoph Huber in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass der ‚Sehnsuchtsgedanke zu einem Leitmotiv neuzeitlicher Tristanrezeption‘ werde: Huber, Christoph: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe, in: Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago di Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. v. dems. / Victor Millet, Tübingen 2002, S. 339–356, hier S. 339. Vgl. dazu jetzt auch Barton, Ulrich: Zurück zur Gesellschaft. Die Rezeption des Waldlebens und der Minnegrotte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, in: tristan mythos maschine 20. Jh.ff., hg. v. Robert Schöller / Andrea Schindler unter Mitarbeit von Pema Bannwart / Nathanael Busch / Michael Dallapiazza, Würzburg 2020, S. 23–45.

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Eigenschaften einer ästhetischen Eigenzeit aufweist:17 Dies gibt zum Beispiel der Eintrag im Grimmschen Wörterbuch zu erkennen: senen, sich senen heiszt sich grämen, härmen, nach etwas verlangen, besonders wird es auf die pein und verlangen der liebe bezogen und mit seiner sippe in der minnepoesie bis zur abnutzung gebraucht.18 ‚Minnepoesie‘, im engeren Sinne Minnelyrik, ist der Kontext, in dem sich senen literarisch zuerst entfaltet und in dem es reflexiv wird. Es geht dort bereits rekurrente und relativ konventionelle Verknüpfungen mit der Liebe/Leid-Konfiguration ein, die das besondere Merkmal der Tristan-Minne darstellt. Bislang ist senen/sehnen in der Tristan-Forschung in erster Linie mit Blick auf die Liebe/ Leid-Thematik, hinsichtlich möglicher Anspielungen auf Ovid und Übernahmen aus der Mystik sowie der französischen Vorlage, teilweise auch mit Blick auf die mythische Dimension des Tristan behandelt worden.19 Von besonderer Bedeutung sind ferner Begriffsbildungen um senen, insbesondere senedære, senedærîn, sowie senemære und die Frage danach, wie ihre Gehalte im Roman prozessiert und poetologisch signifikant werden. Auf einer ersten Ebene wird senen in Gottfrieds Tristan als Verlangen nach der Gegenwart des- bzw. derjenigen greifbar, die oder der geliebt wird. Im Hintergrund steht das vormoderne medizinische Konzept von Liebe als Krankheit, das körperlich gedacht ist und den gesamten Organismus in Mitleidenschaft zieht, weil die Liebe nicht regelmäßig konsumiert werden kann.20 Tristans und Isoldes Leid steigert sich in solchen Phasen der Trennung dramatisch, was die Dichtung mit zeitlichen Markern betont: ietwederem begunde / von stunde ze stunde / herze unde craft geswîchen (V. 14315–14317); Tristan und Isolde werden also stündlich schwächer und mutlos, ferner blass und kraftlos (V. 14318–14324). Dieser Zu-

17 Unter dem Titel „Ästhetische Eigenzeiten“ wurde zwischen 2013 und 2019 ein DFGSchwerpunktprogramm von Michael Gamper und Reinhard Wegner durchgeführt, das die Tendenz literarischer Eigenzeitlichkeit in erster Linie für die Frühe Neuzeit und die Moderne geltend machte. Dies regt Überlegungen an, wie sich die Literatur der Vormoderne zu dieser These verhält. Vgl. dazu auch die Einleitung, S. 18. 18 https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#1 (letzter Zugriff 06. 04. 2021). 19 Vgl. insbesondere Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16), S. 343, zur sprachgeschichtlichen Entwicklung, insbesondere bei weiteren mhd. Dichtern und zu Entsprechungen bei Thomas von Britannien (desirer und languir). Als wesentlichen Unterschied zwischen Thomas und Gottfried arbeitet Huber heraus, dass desirer eher aktivisch ausgerichtet sei, senen eher ein passives Leiden bezeichnet. Dies kritisiert Layher, William: Sô süeze was der schellen klanc. Music, Dissonance and the Sweetness of Pain in Gottfried’s ‚Tristan‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 133 (2011), S. 235– 264, hier S. 237, senen sei nicht unidirektional, sondern reziprok angelegt. Und dabei ähnele es Klang, Musik, wie man sie im 12. Jh., verstanden hat, mit Blick auf Harmonie und Dissonanz. 20 Grundlegend dazu Wack, Mary: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries, Philadelphia 1990.

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stand nimmt ihre Zeit in Beschlag: si triben die zît mit sorgen hin (V. 14307); Isolde wird darüber, in den Worten Tristans, zur seneden sorgærîn (V. 14484). Doch das ist nicht die einzige Dimension von senen. Gerade durch seine temporalen Valenzen bekommt das Verlangen eine eigene Wertigkeit, ja eine eigene Ethik: senen meint auch die Fähigkeit, Begehren in der Zeit mehr oder weniger sowohl auszuhalten als auch zu erhalten.21 Bereits Tristans Vater Riwalin wird im Kontext des Abschieds von Blanscheflur, auf den eine gefährliche Aventiurefahrt folgen wird, deshalb als der getriuwe senegenôz (V. 1430) bezeichnet, als derjenige also, dessen Liebe auch in der Zeit der Trennung nicht nachlassen wird. Unterschiedliche Aspekte zeitlichen ‚Aushalten-Könnens‘ der Abwesenheit des Anderen strukturieren den Roman und färben Liebe in ihren unterschiedlichen Stadien und Qualitäten,22 und dies auch insofern, als sich hier Unterschiede zwischen zwei Protagonist*innen offenbaren, deren Liebe im Roman grundsätzlich immer wieder in Metaphoriken der Einswerdung gefasst wird.23 Dissonanzen offenbart insbesondere die Petitcreiu-Episode, eine Erzählsequenz um einen kleinen Hund, den Tristan für Isolde erwirbt, weil dieser auf Grund seines Aussehens und einer um seinen Hals befestigten Schelle Glücksgefühle erzeugen kann. Tristan schenkt Isolde das Hündchen Petitcreiu, damit es mit Hilfe seiner besonderen Attribute ihre Sehnsucht in den Zeiten ihrer Trennung lindert: durch daz ir senede swære / al deste minner wære (V. 15903f.). Tristan zeigt damit eine affirmative Einstellung zur Möglichkeit, sich emotional temporär ablenken zu lassen, während Isolde dies gerade verweigert: war umbe wirde ich iemer vrô / dekeiner stunde und keine frist, / die wîle er durch mich trûric ist (V. 16370–16372)? Isolde imaginiert eine durch die Erfahrung von vröude (V. 16380) gefüllte Zeit für sich selbst mit einer parallel verlaufenden (die wîle) Zeitsequenz, in der Tristan unter der Trennung leidet, weil das Hündchen bei ihr ist und nicht bei ihm. Dieser emotionale Kontrast konstituiert eine Asynchronie der Emotionen, die für Isolde ganz und gar unhaltbar ist. Für sie ist gerade Zeichen ihrer Liebe zu Tristan, Sehnsucht nicht durch Freude ersetzen, sondern beständig ertragen zu können: si’n wolte doch niht vrô sîn: / diu getriuwe stæte senedærîn (V. 16399f.) Hier wird – implizit – ein Problem mit verhandelt, das für 21 Dies ist die offenkundigste, semantische und konzeptionelle Ebene. Vgl. zu den verschiedenen, auch ästhetischen Ebenen Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16). 22 Dazu gehört der Gedanke, dass das Gefühl (die Erinnerung, die Phantasie) an die Stelle der sexuellen Handlung treten könne, vgl. V. 16411ff. In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht von senen die Rede. Wichtigste Episoden, in denen Sehnen eine Rolle spielt, sind die Elternvorgeschichte, die Baumgartenszene, Petitcreiu-Episode, der huote-Exkurs, die Trennung. 23 Vgl. dazu auch Eming: Emotionen im Tristan (s. Anm. 12).

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das Verhältnis von Emotionalität und Temporalität von grundlegender Bedeutung ist: Zeit, indem sie vergeht, verändert Emotionen und gefährdet so die Identität und Stabilität einer Liebesbeziehung.24 Senen als emotional-temporales Prinzip, das in immer neuen Handlungskonstellationen und Reflexionen alle Phasen von Leid, Trennung und verschiedenen Prüfungen bestimmt, buchstabieren die Tristan-Romane aus, in erster Linie Gottfried von Straßburg. Christoph Huber hat Sehnsucht mit Blick auf Gottfrieds Tristan deshalb als „Pendeln zwischen resignierender Rückwendung und antizipierendem Vorgriff“ bezeichnet.25 Die dabei entwickelten emotionaltemporalen Facetten ließen sich nicht zuletzt in poetologischer Hinsicht als Vermögen reflektieren, der Sehnsucht nach einer Kontinuität der Liebes-Geschichte zu genügen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich jedoch auf ein Spezifikum von senen als emotional-temporaler Konfiguration: auf den Umstand, dass senen von einer Sehnsucht nach der geliebten Person in eine Qualität der Liebe selbst umschlagen kann. Das ist etwas anderes als die Programmatik, auf die sie zumeist bezogen wird, nämlich die Verflechtung von Liebe und Leid.26 Ferner ist zu zeigen, dass auf diese Weise ein Element der Prozesshaftigkeit in einem Roman konstituiert wird, dem für manche Passagen ein mythenanaloger Stillstand attestiert worden sind. Und sie verfährt asynchron, indem sie Vergangenes und Gegenwärtiges auf eine überzeitliche Ebene hebt. Wie tut sie das?

III.

Die ‚Gemeinde der edelen herzen‘

Um die skizzierten Tendenzen zu verdeutlichen, ist wenigstens kurz auf den Prolog des Romans einzugehen, in dem senen als Thema bereits angeschlagen wird. Ein Ausschnitt muss hier genügen, um die Bedeutung des Konzepts für die Dichtung zu erhellen, die auch klanglich und mit allen Neologismen und semantischen Derivationen27 zur Geltung gebracht wird: Von diu swer seneder mære ger, der’n var nit verrer danne hierher. ich wil in wol bemæren von edelen senedæren,

Wen es nach Liebesgeschichten verlangt, braucht nicht mehr weiter als hier zu fahren. Ich will ihn mit einer wohltuenden Geschichte von edlen Liebenden bedenken,

24 Eine Tendenz, auf die der hellenistische Roman, wie Bachtin gezeigt hat, mit dem Chronotopos der ‚Abenteuerzeit‘ reagiert. Vgl. dazu Bachtin, Michail M.: Chronotopos, aus dem Russischen von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank / Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008. 25 Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16), S. 356. 26 Zuletzt vor allem von Layher (s. Anm. 19). 27 Vgl. dazu Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16), S. 342.

Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

die reiner sene wol tâten schîn: ein senedære unde ein senedærîn, ein man ein wîp, ein wîp ein man, Tristan Îsolt, Îsolt Tristan. (V. 123–130)

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die reine Liebe zu erkennen gaben: ein Liebender und eine Liebende, ein Mann – eine Frau, eine Frau – ein Mann, Tristan – Isolde, Isolde – Tristan.

Reim, Metrik und Wortwahl machen die Rolle des senens für die Dichtung und zugleich das Schillern seiner Semantik deutlich: Im Mittelpunkt der im Folgenden zu erzählenden Geschichte stehen ein senedære und eine senedærîn, wörtlich übersetzt: ein Mann und eine Frau, die sich in vorbildlicher Weise sehnen können, was in modernem Deutsch indessen nicht besonders sinnvoll klingt und die Bedeutung an der vorliegenden Passage auch nicht trifft. Deshalb übersetzen mediävistische Germanist*innen diese Stellen – hier – treffender häufig mit ‚Liebende‘. Das bringt allerdings wichtige Bedeutungsnuancen wieder zum Verschwinden. Denn womöglich nimmt der mittelhochdeutsche Text etwas sehr Spezifisches in den Blick, nämlich eine emotionale Qualität oder ein Vermögen, Liebe in ihren zeitlichen Dimensionen erfassen und ermessen, sie ebenso in ihren problematischen Auswirkungen ertragen wie aus ihr Befriedigung, ja Glück beziehen zu können. Das macht insbesondere der wirkungs- und rezeptionsästhetische Aspekt deutlich, der in der Erzählung gespiegelt wird. Diese Dimension wurde in der Übersetzung etwas forciert, in dem wol in der dritten Verszeile als ‚wohltuend‘ übertragen wurde. Seneder mære, insbesondere senemære, meint hier also die Geschichte von Tristan und Isolde selbst, als Geschichte, die von Figuren, die sich sehnen, erzählt und damit eine Sehnsucht der Hörer*innen befriedigt, also zwischen Figuren und Rezipient*innen eine überzeitliche Gemeinde derjenigen stiftet,28 die auf die richtige Weise lieben. Das ist eigentlich unstrittig. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist jedoch noch eine weitere Stelle, weit fortgeschritten in der Romanhandlung, einzubeziehen: 28 Albrecht Schöne vertrat die seinerzeit neue These, dass der Erzähler die Protagonist*innen und die Rezipient*innen des Romans über die Zeit hinweg zu einer einzigen Gemeinde der edelen herzen zusammenfasse, vgl. Schöne, Albrecht: Zu Gottfrieds „Tristan“-Prolog, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 447–474, hier S. 468. Dies wird umgesetzt in Wortwiederholungen von leben, tot und brot. Schöne verweist in diesem Zusammenhang auf „Strukturgleichungen“ (S. 471) zur Eucharistie und vor allem zur Sakramentslehre (inhaltliche Analogie, analogia entis, zur Mystik Bernhards von Clairvaux). Dagegen wandte sich Köbele: Mythos und Metapher (s. Anm. 12), S. 229. Sehr erhellend an der Untersuchung von Schöne sind Analysen zu Wortwiederholungen und Neologismen, vgl. zu zitic und gewerldet sein, S. 458f. Um das Wortfeld um senen und die daran gebundene Liebe- und Rezipient*innenkonzeption geht es ab S. 463. Wie Kragl, Florian: Gottfrieds Ironie. Sieben Kapitel über figurenpsychologischen Realismus im ‚Tristan‘, mit einem Nachspruch zum ‚Rosenkavalier‘, Berlin 2019, zu Recht betont, ist die Integration der Rezipient*innen als komplexer Prozess der Abstimmung im Verlauf der Tristan-Lektüre zu begreifen, vgl. ebd., S. 280–282.

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Jutta Eming

swaz ieman schœner mære hât von vriuntlîchen dingen, swaz wir mit rede vür bringen von den, die wîlent wâren vor manegen hundert jâren, daz tuot uns in dem herzen wol und sîn der selben state sô vol, daz lützel ieman wære getriuwe unde gewære und wider den vriunt âne âkust, er’n möhte sus getâne lust, von sîn selbes sachen in sînem herzen machen. (V. 12320–12332)

Was jemand mittels schöner (Liebes) Geschichten an Angenehmem darbietet, was wir erzählen von denen, die vor vielen hundert Jahren ihr Leben verbracht haben, das tut uns im Herzen gut, und wir werden davon so erfüllt, dass es kaum jemanden geben dürfte, der treu und aufrichtig und gegenüber dem Geliebten ohne Arg ist, der sich eine solche Freude über solche Dinge nicht gerne bereiten würde.

Was hier als wol tun, vol werden bezeichnet wird, meint eine spezifische emotionale Qualität, die poetologisch konfiguriert ist. Sie besteht daraus, dass im Erlebnis hochwertiger Dichtung eine Kontaktzone zu Liebenden entsteht, welche die Tiefe der Zeiten überbrückt. Diese Erfahrung ist hoch befriedigend – die Rede vom ‚erfüllt sein‘, ausgefüllt werden, weist darauf hin. Und die Aufgabe und Funktion von Literatur oder von Dichtung liegt darin, solche Erfahrungen zu ermöglichen. Rezipient*innen des Tristan-Romans werden sie über die Jahrhunderte immer wieder machen können. Doch auch die Protagonist*innen des Romans selbst haben diese Erfahrung kennengelernt. Sie wird in der Minnegrotten-Episode ausgestaltet.

IV.

Zur ‚mythischen Zeit‘ in der Minnegrotte

Die Minnegrotten-Episode war schon immer Prüfstein für Untersuchungen zum senen ebenso wie für die Liebeskonzeption des Romans. Denn in der Minnegrotte ist von senemæren die Rede, obwohl hier dem konventionellen Verständnis von senen gemäß dazu gar kein Anlass besteht: Das Paar ist in der Minnegrotte ungestört, es ist, wie ausdrücklich gesagt wird, immer zusammen. Die Zeit der Minnegrotte ist ferner in verschiedenen Hinsichten eine mythische – es ist unklar, wie lange die beiden dort bleiben, die Grotte reicht in eine „unvordenkliche Vergangenheit“ zurück, lässt sich nur zufällig auffinden, setzt Kausalitäten der bekannten Welt außer Kraft; sie eröffnet eine Zeit des Stillstands.29 Es ist viel 29 Müller, Jan-Dirk: Zeit im „Tristan“, in: Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago di Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. v. Christoph Huber / Victor Millet, Tübingen 2002, S. 379–397, hier S. 385; vgl. ferner Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 439.

Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

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darüber nachgedacht worden, ob es sich bei der Minnegrotte um einen utopischen Ort handelt, wie sich die Minne-Allegorese bei der Beschreibung der Grotte zur Liebesbeziehung auf der Ebene der Diegese verhält und warum dieser Ort sich möglicherweise letztlich als doch nicht-ideal erweist.30 Denn das Paar verlässt ihn freiwillig wieder und trifft auch von Beginn an Vorkehrungen dafür, indem es entsprechende Absprachen mit Vertrauten für den Fall der Rückkehr trifft, mit Brangäne und Kurvenal. Was also stimmt nicht im Paradies? Anhaltspunkte zur Lösung dieser Frage wurden auch in dem Umstand gesehen, dass das Paar sich in der Phase des Minnegrottendaseins senemære vorträgt, d. h. sich Geschichten erzählt von Liebenden, die unglücklich endeten. Nach verbreiteter Auffassung indiziert dieser scheinbar morbide Hang zum Unglück einen Mangel. Huber zufolge habe man hinsichtlich des Entwurfs der Tristanminne deshalb zu akzeptieren, dass „das Sehnsuchtsgesetz des unstillbaren Verlangens in den momenthaft erfüllten Höhepunkt der Liebe“31 hineingeschrieben sei. Aber von unstillbarem Verlangen ist an der betreffenden Stelle gerade nicht die Rede: dâ sâzen si z’ein ander an die getriuwen senedære und triben ir senemære von den, die vor ir jâren von sene verdorben wâren: si beredeten unde besageten, si betrûreten unde beclageten, daz Villîse von Trâze, daz der armen Canâze in der minnen namen geschach; daz Biblîse ir herze brach durch ir bruoder minne, daz ez der küniginne von Tîre und von Sidône, der seneden Didône durch sene sô jæmerlîche ergie.

Da setzten sie sich zueinander, die treuen Liebenden und erzählten sich Geschichten von denen, die vor vielen Jahren an ihrer Liebe gestorben sind. Sie erinnerten daran und sprachen darüber und bedauerten und beklagten, was Phyllis von Thrakien und der armen Canace im Namen der Liebe geschehen war, dass Biblis das Herz brach auf Grund der Liebe zu ihrem Bruder, dass die Königin von Tyrus und Sidonien, die verlassene Dido, auf Grund ihrer Sehnsucht so elend zugrunde ging.

30 Vgl. zur Grottenallegorese die klassische Studie von Kolb, Herbert: Der Minnen hus. Zur Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan, in: Euphorion 56 (1962), S. 229–247, in Verbindung mit utopischen Potentialen insbesondere Tomasek, Tomas: Die Utopie im ‚Tristan‘ Gotfrids von Straßburg, Tübingen 1985 (Hermea NF 4), zuletzt wieder Becker, Rebekka: Muße im höfischen Roman. Literarische Konzeptionen des Ausbruchs und der Außeralltäglichkeit im ‚Erec‘, ‚Iwein‘ und ‚Tristan‘, Tübingen 2019, S. 397–401. 31 Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16), S. 354. Ähnlich Trînca, Beatrice: Amor conspirator. Zur Ästhetik des Verborgenen in der höfischen Literatur, mit 5 Abbildungen, Göttingen 2019, S. 225–231, die neben der Ambivalenz der Liebe zudem die ambivalente Wirkung von Literatur in der Szene akzentuiert sieht, vgl. insbesondere S. 230.

188 mit solhen mæren wâren s’ie unmüezic eteswenne. (V. 17182–17199)

Jutta Eming

Mit solchen Geschichten vertrieben sie sich manchmal die Zeit.

Die Textstelle vergegenwärtigt eine Situation großer Nähe, Harmonie und nicht zuletzt ästhetischen Genusses. Tristan und Isolde erzählen sich Geschichten von den großen Liebenden der Antike, deren Schicksal sie affiziert. Denn, wie gebildete Liebende wissen, endeten die Geschichten tödlich bzw. damit, dass zurückgelassene Partner an ihrer Sehnsucht vergingen. Natürlich lässt sich fragen: Warum geht es ausgerechnet um Paare, die nicht langfristig miteinander glücklich geworden sind?32 Hartmut Bleumer gibt zu bedenken, dass die beiden hier „über die erzählten Geschichten die Dynamik von Zeitabläufen gerade an den Ort zurück[holen], der außerhalb der Zeit liegt.“33 Die ‚Zeit des Stillstands‘ in der Minnegrotte wird damit temporal dynamisiert. Ferner kommt hier eventuell das Problem zur Geltung, dass ein so perfekter Zustand wie derjenige in der Minnegrotte eines Gegengewichts bedarf, um als solche erlebt werden zu können – so eine viel vertretene Auffassung zum Sinn der Passage.34 Signifikant und der scheinbaren Morbidität des Szenarios zu widersprechen scheint mir jedoch die lebhafte Rezeptionssituation, die in Bezug auf Tristan und Isolde geschildert wird, die Performanz des Erzählens und der damit einhergehenden Emotionen (beredeten unde besageten, betrûreten unde beclageten). Mittelhochdeutsch direkt übersetzt lassen sich die Vorgänge so deuten, dass die beiden die literarischen Liebespaare betrauern. Ich verstehe es jedoch so, dass Tristan und Isolde mit den Geschichten emotional mitgehen, dass sie mitfühlen, nachvollziehen, Empathie empfinden: Mimikry betreiben an die Erzählungen.35 32 Möllenbrink, Linus: Person und Artefakt. Zur Figurenkonzeption im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg, Tübingen 2020, S. 144–158, hebt, wie in der älteren Forschung häufiger, den paradigmatischen Charakter der literarischen Vorgänger für die Tristan-Minne hervor, vgl. vor allem S. 154–155. Ähnlich argumentiert Becker, S. 417–418 (s. Anm. 30). Das Interesse von Beckers Studie liegt in ihrem Ansatz, das Minnegrottendasein als Ort der Muße und damit der gesteigerten Wahrnehmung und (ästhetischen) Erfahrung zu deuten, vgl. ebd., S. 383–422. 33 Bleumer, Hartmut: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2000), S. 22–61, hier S. 54. 34 Vgl. Müller: Zeit im Tristan (s. Anm. 29), S. 393, ferner die differenzierten Kommentare von Scholz, auch hinsichtlich der Bezüge zu Ovid: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hg. v. Walter Haug / Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, Band II, Berlin 2012, S. 669–673, sowie FleckenBüttner, Susanne: Wiederholung und Variation als poetisches Prinzip. Exemplarität, Identität und Exzeptionalität in Gottfrieds ‚Tristan‘, Berlin / New York 2011, S. 231–251. 35 Mit dem Mimesis-Begriff als Element einer Theoriebildung realistischen Erzählens hat sich jüngst Florian Kragl auseinandergesetzt. Dabei bezieht er sich in erster Linie auf Auerbach, in einer Fußnote hingegen auch auf das Mimesis-Konzept von Gebauer / Wulf, das für das in Bezug auf Tristan und Isolde gerade beschriebene Szenario einschlägig wäre. Vgl. Kragl: Gottfrieds Ironie (s. Anm. 28), S. 381.

Emotionalität und Temporalität in Gottfrieds von Straßburg Tristan

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Es bedarf also einiger Trennschärfe hinsichtlich der hier denkbaren emotionalen Haltungen und Wahrnehmungsmodi: Dass Tristan und Isolde das vergangene Unglück der Protagonist*innen der Erzählungen nachempfinden, heißt weder, dass sie selbst unter ihrer Liebe leiden,36 noch, dass sie in ihrer gegenwärtigen Lebensform irgend einen Mangel empfinden oder mit Leid etwas kompensieren. Weil die Bedeutung von senen schillert, sich im Verlaufe des Romans verschiebt und erweitert, aber auch frühere Positionen spiegelt und spätere antizipiert,37 ließe sich sogar weiter vermuten: Dass Tristan und Isolde sich senemæren erzählen, indiziert keinen Mangel, sondern Glück. Und dieses Glück resultiert aus eben dem Bewusstsein, dass sie durch ihre Beziehung eine emotionale Gemeinschaft mit den überlebensgroßen Liebenden der Kulturgeschichte bilden können.38 Glück resultiert aus dem Umstand, die eigene Liebe dadurch in diesem Kontext zugleich in der Zeit erfahren zu können, und zwar ebenso als Berührung mit der Vergangenheit, wie als ihre Aufhebung, durch ihre Aktualisierung in der Gegenwart. Schließlich eröffnet die Gemeinschaft im Kontext des mythischen Lebens in der Minnegrotte insofern eine überzeitliche Perspektive, als sie den Liebenden die Möglichkeit bietet, ihre Liebe als in der Zeit unsterblich zu erfahren und zu reflektieren. Die Geschichten gerade von Liebenden, die Selbstmord begangen haben, können diese Unsterblichkeit in besonderer Weise zur Geltung bringen. Gert Hübner hat zu der Stelle bemerkt, dass Tristan und Isolde „[sich] die klassischen Liebesopferexempel offenbar nicht [erzählen], weil aus ihnen etwas zu lernen wäre, sondern aus identifikatorischen Gründen.“39 Dieses ‚identifikatorisch‘ hat eine emotional-temporale Valenz. Sie spiegelt das wol sein, das in Bezug auf die ‚Gemeinde der Sehnsüchtigen‘ angesprochen 36 Vgl. Kommentar Scholz: Tristan und Isold II (s. Anm. 34), S. 669. 37 Dies zeigt Köbele, Susanne: iemer niuwe. Wiederholung in Gottfrieds „Tristan“, in: Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago di Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. v. Christoph Huber / Victor Millet, Tübingen 2002, S. 97–115. 38 Der in mancherlei Hinsicht angreifbare, an begrenztem Material entwickelte Begriff der emotional community von Rosenwein, Barbara H.: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca / London 2006, hat hier tatsächlich eine gewisse Berechtigung, denn es handelt sich zunächst um eine „textual community“ (S. 25), die mit dem Anspruch verbunden wird, auf Rezipient*innen übergreifen zu können: „We cannot know how all people felt, but we can begin to know how some members of certain ascendant elites thought they and others felt or, at least, thought they ought to feel. That is all we can know. But it is quite a lot.“ (S. 196). Hinzu kommt, dass emotional communities in Rosenweins Konzept Sets von Emotionen beinhalten, nicht ein oder zwei (S. 26). Dies ist für die Komplexität von senen zutreffend. Vgl. als eine der letzten Untersuchungen zur gemeinschaftsstiftenden Funktion mit einem Akzent auf die Tristan-Lektüre leitenden, die Minne-Konzeption differenzierenden Rezeptionssignalen auch Lembke, Valeska: Minnekommunikation. Sprechen über Minne als Sprechen über Dichtung in Epik und Minnesang um 1200, Heidelberg 2013 (Studien zur Historischen Poetik Band 14), S. 151–206. 39 Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“, Tübingen / Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 364.

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worden war und bezieht sich darauf, dass es eben jene Verbindung zu Liebenden in der Zeit herstellt, die Liebende brauchen, um ihre Liebe völlig erfahren und auskosten zu können. Die Tristanminne scheint mir dadurch eine neue Dimension zu erhalten: Sie wäre dann auch dadurch ausgezeichnet, dass sie Vergangenheit und Zukunft zugleich aufruft und nivelliert. Daraus ergibt sich folgende asynchrone Konstellation: Tristan und Isolde beziehen große Befriedigung, ja Glück, aus dem Umstand, dass sie mit ihrer Beziehung an vergangene Liebende anschließen. Senen wird so als transpersonaler Zustand kenntlich, der dem individuellen Paar vorausgeht und über dieses hinausweist, und zwar in beide zeitlichen Vektorrichtungen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das schließt das Ausgreifen auf die Rezipient*innen als einer tendenziell infiniten Ebene ein.40 Dass „Liebe ewig und damit endlos sein [will]“,41 scheint mir keineswegs selbstverständlich. Die Tristan-Liebe aber will es ganz offensichtlich. Dafür wird insbesondere die Zeit des Paars in der Minnegrotte als einer Zeit vorgeblichen Stillstands temporal dynamisiert: Fluchtpunkt einer „beständige(n) Synchronisation von Ungleichzeitigem“ ist dann allerdings nicht nur die Herstellung von einem „emphatischen Gegenwartsbezug“,42 sondern die Konstitution einer mythischen Ebene. Diese mythische Ebene ist paradoxerweise zugleich eine, die im Text nicht einfach gegeben, sondern immer wieder erst hergestellt werden muss. Wenn das Mythische durch eine Aufhebung von Zeitlichkeit gekennzeichnet ist, wird das an den beschriebenen Stellen dann über asynchrone Zeit und synchrone Emotionen (senen) erreicht.

40 Vgl. dazu auch Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe (s. Anm. 16), S. 355. 41 Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ (s. Anm. 33), S. 55. 42 Köbele: Mythos und Metapher (s. Anm. 13), S. 229.

Maximilian Benz

‚Asynchronien‘ im Labyrinth der Literatur. Zu Heinrichs von dem Türlin Crône Uta Störmer-Caysa zugeeignet

I.

Bedingungen und Probleme der Analyse von ‚Asynchronien‘ in mittelhochdeutscher Literatur

‚Zeit‘ gehört zu den Grundkonstituenten des Erzählens, weswegen schon die Frage nach der ‚Zeit eines Texts‘ und erst recht die nach ‚Asynchronien‘ erfordert, dass man über Literatur-, Text- und Erzählkonzept reflektiert, jedenfalls den systematischen Ansatzpunkt der dann notwendigerweise historisch prozedierenden Analyse benennt. Das ist allerdings nicht ganz einfach. Zunächst wird jeder zustimmen, dass innerhalb des Mediums Sprache poetische Rede von Alltagskommunikation unterschieden werden muss. Literatur beansprucht einen rhetorisch grundierten Sonderbezirk und setzt sich von dominant funktional gebundener Kommunikation ab, die ja durchaus auch ‚gestaltet‘ sein kann. Man könnte für die poetische Rede einen Überschuss gegenüber der Mitteilungsfunktion von Sprache ausmachen, der Effekt ihrer Künstlichkeit ist. Das will sagen: Wenn ‚Form‘ und ‚Struktur‘ nicht nur den propositionalen Gehalt der Äußerung wirkungsvoll zum Ausdruck bringen, sondern auch für sich etwas aussagen, ja auch der Inhalt nach ‚eigenen‘ Parametern betrachtet, jedenfalls nicht unumwunden auf Vorstellungen von empirischer Wirklichkeit bezogen und gerade die Verknüpfung von Form, Struktur und propositionalem Gehalt als ihrerseits bedeutungshaft erkannt werden soll, ist Abweichung – im Sinne von ‚Künstlichkeit‘, ‚Markiertheit‘ u. ä. –, sofern diese Abweichung auf eine Gestaltungspräsumption zurückgeführt werden kann, ein wesentliches Stichwort zur Beschreibung von Dichtung.1 Ein solches abweichungssensibles Verständnis hat nicht nur Konsequenzen für die Bestimmung des Status von Literatur in geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Konstellationen, sondern auch für die

1 Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981.

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konkreten Darstellungsweisen, also für die Fragen der narrativen Verknüpfung, der Figurenzeichnung, der Raum- und eben auch Zeitgestaltung. Natürlich muss die Norm, von der aus kommend die Abweichung identifiziert wird, benannt werden. Auch das ist nicht trivial. Aber eine solche Methode ist heuristisch wertvoll und verhindert, dass kontingente Aspekte eines Texts allein durch die literaturwissenschaftliche Analyse als poesiologisch wertvoll ausgewiesen werden: Das Verfahren ist bekannt. Auch der einfachste Text und eine ganz usuelle Form der Zeitgestaltung können durch Deutungsoperationen als ‚überkomplex‘ ausgewiesen werden. Oder (mit Blick auf die hier in Rede stehende Kategorie): Was ist keine Asynchronie? Mit einem abweichungssensiblen Verständnis in Verbindung zu bringen sind durchaus auch Vorstellungen von Literatur, die vom Konzept der Nachahmung ausgehen, wobei die Referenzgröße der Mimesis sowohl literarische Texte als auch die ‚Natur‘ sein können – im letzteren Fall spielen dann freilich wieder die genauen historisch-spezifischen Vorstellungen von Natur eine wesentliche Rolle. Mimesis dient im aristotelischen Sinne der „Differenzierung von Literatur nach ihren Mitteln, ihren Gegenständen sowie der Art und Weise ihrer Darstellung“;2 Nachahmung meint demnach auch hier keine Entsprechung zur ‚Wirklichkeit‘, sondern erweist sich gerade in den spezifischen Bezugnahmen auf sie. Dennoch sind die Grade der Abweichung skalierbar. Mit Blick auf die Kategorie der Zeit: Sowohl den kommunikativen Usancen einer Zeit nach usuelle wie spezifisch literarisch vorgeprägte (etwa gattungsbezogene) Zeitvorstellungen können in Texten prägnant zum Ausdruck gebracht werden, Texte können diese aber auch gezielt hintergehen oder unterlaufen. Deshalb möchte ich den systematischen Einsatz meines Raisonnements wie folgt formulieren: Wo verschiedene Darstellungsweisen und Konzeptionen von Zeit im Sinne einer künstlerischen Ausdrucksabsicht miteinander auf widersprüchliche Weise verschränkt werden, wird man von ‚Asynchronien‘ sprechen können, deren Status dann allerdings immer noch zu klären ist, jedenfalls über bloß kontingente anachrone Anordnungen hinausgehen muss: Dies jedenfalls wäre mein Vorschlag, um anachrone Anordnungen, die ja auch in Alltagsrede vorkommen, von ‚Asynchronien‘ abzugrenzen. Mit diesen notwendig gewundenen Worten will ich die fruchtbare Fragestellung des Einstein-Zirkels „Asynchronien“ für mich vor dem Hintergrund robuster (und eben nicht idiosynkratischer) Adäquatheitskriterien nochmals formulieren, die wir im Rahmen aller Treffen stets diskutiert haben. Frappierend ist in diesem Zusammenhang, dass – wie ja 2 Erhart, Walter: Mimesis2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. v. Harald Fricke u. a., Berlin / New York 2000, S. 595–600, hier S. 597. Vgl. grundlegend Feddern, Stefan / Kablitz, Andreas: Mimesis. Prolegomena zu einer Systematik der Geschichte ihres Begriffs, in: Poetica 51 (2020), S. 1–84.

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schon bei den Vorarbeiten Uta Störmer-Caysas deutlich wurde – die Ansatzpunkte für eine ‚robuste‘ Theoriebildung nicht einfach zu finden sind.3 Das Dilemma lässt sich mittels eines einfachen Befunds unterstreichen: Die mittellateinischen Poetiken, die neben Prologen und Exkursen der volkssprachigen Literatur bedeutende poesiologische Explikationen gerade auch für die Produktion mittelhochdeutscher Adaptationen lateinischer und französischer Literatur um 1200 liefern, legen kein dezidiert auf dem (von der Theoriebildung her modernen) Prinzip der Abweichung fußendes Konzept zugrunde. Anders als Matthäus von Vendôme, der nach Gert Hübner Ausdrucks- und Inhaltsform der Dichtung gegenüber dem Gegenstand differenziere und somit Ansätze zu einer ‚autoreflexiven‘ Dichtungskonzeption liefere,4 verfolgt Galfrid von Vinsauf ein dezidiert ‚mimetisches‘ Modell, das Implikationen für die Adäquatheit von Darstellungsverfahren hat. Die Hand der Kunst (manus artis) und die Hand der Natur (manus naturae) sollen ununterscheidbar werden.5 Diese Forderung erstreckt sich aber nicht auf die makrostrukturelle Zeitanordnung, denn hier setzt Galfrid einen ordo artificialis von einem ordo naturalis ab.6 Somit gibt es am historischen Ort in einer eher mimetisch orientierten Dichtungslehre dezidiert abweichungsbasierte Elemente, was gerade mit Blick auf die Zeit – hier im Sinne einer anachronen Ordnung – die Normen gelungener Darstellung schwierig werden lässt.

3 Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin / New York 2007. Die theoretischen Voraussetzungen in Theologie und Philosophie und die literarischen Texte lassen sich nicht direkt in Verbindung bringen. 4 Vgl. Hübner, Gert: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen / Basel 2000, S. 416, der den Gegensatz meiner Ansicht nach zu sehr presst. 5 Galfrid von Vinsauf: Poetria Nova, in: Edmond Faral: Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Recherches et Documents sur la Technique Littéraire du Moyen Age, Paris 1958, S. 194– 262, hier V. 258–263 (S. 205): […] hic est / Formula subtilis juncturae, res ubi junctae / Sic coeunt et sic se contingunt, quasi non sint / Contiguae, sed continuae quasi non manus artis / Junxerit, immo manus naturae. Plus habet artis / Hic modus, est in eo longe sollemnior usus. 6 Hans Jürgen Scheuer hat darüber hinaus einen ordo discretus bei Galfrid ausgemacht, vgl. Scheuer, Hans Jürgen: Sichtbarkeit und Evidenz. Strategien des Vor-Augen-Stellens im Mauritius von Craûn und in der Poetria Nova Galfreds von Vinsauf, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hg. v. Ricarda Bauschke / Sebastian Coxon / Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 192–210, hier S. 203: Der ordo discretus „erfordert einen doppelten Blick: den auf die facies verbi […], die nach außen sichtbare, bruchlose Oberfläche des Erzählens, und gleichzeitig den auf die mens verbi […], die den tiefen sinnen der Imagination zugeordnete Evidenz des Vor-die-AugenStellens. Deren intensitätssteigernde Operationen laufen verdeckt ab, treten aber punktuell als colores (rhetorische oder topische Überschüsse, die wie Farben wieder ins Auge fallen) oder als bestimmte Negationen der ‚natürlichen‘ Folgerichtigkeit an die Erzähloberfläche. Im ordo discretus der elocutio greifen ordo naturalis und ordo artificialis so ineinander, dass die geradlinige und die retrograde Erzählweise simultaneisiert werden und in einer Kohärenzebene zusammenschießen.“

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Dies trifft umso mehr zu, als vormoderne und d. h. hier auch mittelalterliche Erzählungen noch in weiteren Hinsichten, wie immer wieder gezeigt wurde, sowohl von einem einfachen linear-progressiven wie auch von einem zyklischen Zeitverständnis abweichen, wobei Mischformen bereits einkalkuliert sind. Was ist dann in diesem Zusammenhang ‚asynchrones‘ Erzählen? Seit Hegel wurde die Besonderheit eines nicht linearen Zeitverständnisses immer wieder gerade an epischen Texten gezeigt. Besonders einflussreich war das von Bachtin allerdings am hellenistischen Roman entwickelte Konzept der ‚Abenteuerzeit‘, ein komplexes Ineinander von zeitlich konsequent organisierten Ereignisfolgen einerseits und Suspensionen des damit ‚eigentlich‘ notwendig einhergehenden zeitlichen Progredierens andererseits,7 das auch für die Analyse mittelhochdeutscher Texte fruchtbar gemacht wurde. In letzter Zeit hat JanDirk Müller die eigenwillige Zeitgestaltung im deutschsprachigen epischen Erzählen des Mittelalters untersucht.8 Über diese gattungsspezifischen Beobachtungen hinaus lässt sich für die volkssprachige Literatur insgesamt eine eigenwillige, Inkohärenzen scheinbar problemlos hinnehmende Zeitmessung voraussetzen, wie Uta Störmer-Caysa auch unter Rekurs auf Schwierigkeiten der Zeitmessung im Mittelalter gezeigt hat.9 Das aber schließt wiederum nicht aus, dass man gelegentlich einen Kalender neben den Text legen muss, um etwa zu erkennen, dass Parzival an Pfingsten zum Gralkönig berufen wird.10 Aspekte der Zeitgestaltung führen zu Anschlussfragen etwa nach der Handlungsmotivierung oder -kausalität, sollten aber nicht mit diesen von vornherein vermischt werden, um Befund und Deutung methodisch kontrolliert auseinanderhalten zu können. Der Umgang mit Zeit als narrativer Größe unterliegt komplexen Voraussetzungen, ja ist für eine Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive vielleicht sogar eine größere Herausforderung als der Umgang mit Raum – in Armin Schulz’ Erzähltheorie tritt ein entsprechendes Bias deutlich zutage.11 Eine basale, zunächst einmal rein phänomenologisch orientierte Herangehensweise an das Problem geht von der Frage nach der erzählerischen Anordnung von in der erzählten Welt aufeinanderfolgenden Ereignissen aus und fokussiert auf kotextuell entstehende Störungen, das heißt zunächst einmal auf Anachronien, 7 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008. 8 Müller, Jan-Dirk: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017, S. 295–350 („Zeit: irgendwann, immer, jetzt“). Siehe dazu unten mehr. 9 Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen (s. Anm. 3), S. 76–96. 10 Vgl. Haferland, Harald: Parzivals Pfingsten. Heilsgeschichte im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Euphorion 88 (1994), S. 263–301; vgl. dazu nun auch Haferland, Harald: Christliche Weltherrschaft im ‚Parzival‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 142 (2020), S. 548–615. 11 Vgl. Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. v. Manuel Braun u. a., 2. Aufl., Berlin / Boston / München 2015, S. 292–321.

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deren Status sodann mit Blick auf historische Konzepte zu definieren ist, um zu klären, ob es sich um einen auf Deutung – ein tieferes Verstehen – abzielenden Effekt der ‚künstlichen‘ Gestaltung handelt. Sofern sich diese Zeitverwirrungen, Störungen, Inkompatibilitäten als strukturell bedingt erweisen und einen poesiologisch rückbindbaren Mehrwert offenbaren, könnte man sie, wie bereits angedeutet, im Sinne des Zirkels als ‚Asynchronien‘ bezeichnen. Als Beispieltext für die Komplexität der Deutung anachron angeordneter Erzählelemente, die in einem Konzept der ‚Asynchronie‘ funktional werden, ist Heinrichs von dem Türlin Crône prädestiniert. Lange vernachlässigt, hat der Text gerade aufgrund seiner in sich widersprüchlichen, ja mitunter bizarren Faktur seit geraumer Zeit Konjunktur, wobei eben die Kategorien, die nun zur Nobilitierung führen, in früheren Zeiten zur Abwertung des Texts führten – freilich nicht überall: Arno Schmidt (!) charakterisierte, in diesem Punkt der Altgermanistik seiner Zeit weit voraus, die Crône als „prachtvoll realistisch zuweilen, geil und groß“. Wohl zwischen 1215 und 1230 entstanden, rund 30.000 Verse lang und damit der „umfänglichste mhd. Artusroman in Versen“,12 erzählt die Crône zwar einerseits von einer Tugendprobe, die die Verfehlungen etlicher Figuren des arthurischen Erzählbezirks zu Tage treten lässt; darüber hinaus aber ist die Handlung, die um Gawein, den arthurischen Musterritter kreist, ambivalent. Dass Artus gegenüber dem Minneritter Gasozein in ein schlechtes Licht gerückt wird, ist das eine; aber dass sich Gawein in der Minnegefangenschaft bei Amurfina selbst verliert, sich zwar auch in Aventiuren bewährt, aber zusehends auch in jenseitig anmutenden Gegenden zu merkwürdiger Passivität verurteilt zu sein scheint, ja zum „Beobachter“13 wird, überrascht. Durch Gaweins Aufenthalte und Taten im ‚Palast der Saelde‘ und auf der Gralburg wird er als arthurischer Heilbringer ausgewiesen, doch zieht sich über alles ein Schleier von Ambivalenz, bei der zum einen nicht klar ist, ob sie intendiert oder unterlaufen ist, und bei der sich zum anderen (die Intentionalität vorausgesetzt) fragen lässt, worauf die Ambivalenz zielt.

12 Bleumer, Hartmut: Heinrich von dem Türlin, in: Killy Literaturlexikon, 2. Aufl., Bd. 5, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. a., Berlin / New York 2009, S. 211–213, hier S. 211. 13 Keller, Johannes: „Diu Crône“ Heinrichs von dem Türlin. Wunderketten, Gral und Tod, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 81.

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II.

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Das Beispiel der Crône Heinrichs von dem Türlin. Anachrone Elemente in Gaweins ‚Tatenkatalogen‘

Seit jeher hat die Forschung große Probleme mit den offensichtlichen Anachronien bzw. zeitlichen Inkohärenzen: Im Prolog angekündigt wird die Kindheits- und Jugendgeschichte von Artus, doch ist im Folgenden davon nicht mehr die Rede. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich um die Geschichten junger Männer handelt,14 gerät man spätestens bei der ersten Tugendprobe in hermeneutische Nöte, die die einzelnen Figuren jeweils diesseits einer biographischlinearen Logik mit den an sie gebundenen Geschichten verbindet. Darüber hinaus lassen sich in der Erzählung viele Zeitangaben finden, die sich nicht oder nur schwer verknüpfen lassen.15 Bestimmte, für den Gang der Handlung offenbar wesentliche Aspekte, wie das Geschehen um den Gürtel des Fimbeus, stehen zerstreut über den gesamten Text verteilt und sind teilweise disparat, lassen sich nicht homogenisieren zu einem Zusammenhang. In dieser Hinsicht fallen besonders krass die zahlreichen Hystera protera auf, wobei hier wiederum zum Teil nicht einmal erwiesen ist, dass tatsächlich auf dasselbe Geschehen referiert wird; es könnte auch sein, dass hier Heinrichs Tendenz zur Doppelung die Erklärung liefert, also von Verschiedenem auszugehen ist. Verglichen mit den Usancen des arthurischen Erzählens liegt ein besonders hohes Maß an ‚Inkonsistenzen‘ vor. So stellt sich die Frage, welches Zeitkonzept im Text vorliegt oder ob hier nicht verschiedene Zeitkonzepte ineinander spielen und ob man Prinzipien der Zeitgestaltung im Sinne einer alteritären Poetik zu besonderen Ehren promovieren will und kann. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die interpretative Einsicht Christoph Cormeaus, dass lineare Zeitkonzepte in der Crône insofern keine Rolle spielen, als der Text im Wesentlichen – das heißt, von heute aus gesprochen, auch unter Absehung von der doch gesteigerten Unverbindlichkeit des Texts – Geschichten über die Vorbildlichkeit Gaweins enthält,16 also makrostrukturell gleichsam eine rubrizierende Logik der Anordnung dominiert. Uta Störmer-Caysa hat, Christoph Cormeaus Ergebnisse aufgreifend, herausgearbeitet, dass sich linear-progressive Elemente nebst kalendarisch genauen Messangaben durchaus 14 So der Vorschlag von Kaminski, Nicola: „Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt“. Abgründiges Erzählen in der Krone Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005. 15 Zur Zeitgestaltung (mit einer zeitorientierten Darstellung der Handlung auf einem Leporello) vgl. Wagner-Harken, Annegret: Märchenelemente und ihre Funktion in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Ein Beitrag zur Unterscheidung zwischen ‚klassischer‘ und ‚nachklassischer‘ Artusepik, Bern u. a. 1995, S. 198–207. 16 Cormeau, Christoph: ‚Wigalois‘ und ‚Diu Crône‘. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, Zürich u. a. 1977, S. 124–241, zu den Tatenkatalogen Gaweins und der zeitlichen Logik S. 130–132.

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im Sinne einer Kausalität durch den Roman ziehen, die allerdings in sich (Stichwort: Vorgeschichte des Gürtels des Fimbeus) Widersprüche aufweisen können und denen darüber hinaus kontingente Erzählelemente entgegenstehen, die sich einer temporalen Koordinierung widersetzen (wie die Hystera protera).17 Störmer-Caysa folgert daraus, dass sich Heinrich in der Crône mit dem im höfischen Roman wichtigen Prinzip der Kausalität auseinandersetze, ja „dessen Rechte relativier[e] und den Einfluß des Kontingenten und Akausalen beton[e]“.18 Doch geht es nicht nur um Kausalität. Um ein prägnantes Beispiel für die Anachronien der Crône einigermaßen angemessen darstellen zu können, greife ich auf die erste markante Verdichtung von Hystera protera zurück. Ein ungeheurer Riese, Assiles, hat schon zehn Könige zinspflichtig gemacht, die ihm einen Ritter jährlich als Zins schicken müssen. Dieser Ritter muss gegen einen Verwandten des Riesen (Galaas) kämpfen; bewährt er sich, wird er aufgenommen – unterliegt er, verliert er seinen Ritterstatus und muss als Knecht dienen. An das Reich des Riesen grenzt das Land des König Floys, das zwar von Assiles verheert wurde, Floys aber widersetzt sich, verschanzt in einer Burg auf dem Meer. In zunehmend auswegloser Lage sendet Floys einen Boten an den Artushof mit der Bitte um Hilfe. Dieser trifft auf dem Weg zufällig Gawein, der sich – der Artushof ist ausgezogen, Artus nur mit drei Mannen zurückgeblieben – sofort selbst auf den Weg macht. Bei der entscheidenden Grenzübertretung Gaweins versucht der letzte Pförtner ihn im Wissen um die Gefahr davon abzuhalten, sich der Aventiure zu stellen, kann sich aber ihm gegenüber, den er nicht erkennt und mit „her gast“ anredet,19 nicht durchsetzen. Nach dem Abendessen sprechen sie über die Aventiure. Wenn ein Ritter sich unabsichtlich in das Land verirre, müsse er seine Rüstung als Zoll zurücklassen und ansonsten gegen vier Männer kämpfen, wobei schon der erste regelmäßig den Fremden besiege. Gaweins Entschlossenheit setzt der Zöllner eine Mahnung über das Gelück, das „sinewel“ (V. 5965) sei, entgegen. Er illustriert die sentenzhafte Aussage mit drei Beispielgeschichten: Mit einem weder bei Chrétien noch bei Wolfram zu findenden Kampf zwischen Parzival und einem gewissen Orgoylos; mit einer Anspielung auf Chrétiens Chevalier de la Charette, nämlich auf Me-

17 Vgl. Störmer-Caysa, Uta: Der Gürtel des Fimbeus und die Chronologie. Versuch über die lineare Zeit in der Crone Heinrichs von dem Türlin, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft, hg. v. Nine Miedema u. a., Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 209–224. 18 Störmer-Caysa: Der Gürtel des Fimbeus (s. Anm. 17), S. 224. 19 Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. v. Gudrun Felder, Berlin / Boston 2012, V. 5858.

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leagant, den Ginover-Entführer, der Lanzelet schließlich unterliegt; und dann noch mit der Konfrontation von Lohenis und Gawein:20 sam het sich Lochnis überdâht, / dô er als ein bœs listic man / Gâwein sîn ors an gewan / und wând in gwinnen dâ mit, / ob er dar nâch mit im strît: / dô wart er dar an betrogen. (V. 5992–5997) Auf dieselbe Weise hatte sich Lohenis übernommen, als er wie ein böser, hinterhältiger Mann Gawein sein Pferd abgewonnen hatte und glaubte, ihn damit zu besiegen, wenn er später mit ihm kämpfen würde. Dabei wurde er eines besseren belehrt.21

Die entsprechende Szene ‚ereignet sich‘ erst im zweiten Teil des Romans (V. 19346–20149) im Zuge einer deutlich an Chrétien ausgerichteten Erzählsequenz, in der Gawein auf die Gralsuche verpflichtet wird. Hinter Lohenis verbirgt sich die Gestalt des Greorreas (Conte du Graal, V. 6816ff.) bzw. Urjans (Parzival, 504,7–507,26 u. 521,19–543,29):22 eine zwar erinnerbare Gawein-Erzählung, allerdings mit verändertem Antagonistennamen und mit Blick auf discours und histoire von Heinrichs Text an späterer Stelle. Ein Hysteron proteron. Doch dabei bleibt es nicht: Im weiteren Verlauf des Gesprächs und als Reaktion darauf, dass sich der immer noch namenlose Gast mit Gawein vergleicht, stellt der Zöllner Gaweins einzigartige Tapferkeit heraus und rekurriert dabei nicht nur auf den Gürtel des Fimbeus, also ein Ereignis der Vergangenheit, sondern auch (neben Unbekanntem) auf weitere Geschehnisse, die im Roman an späterer Stelle geschehen werden, etwa das Blumenbrechen auf der Wiese „ze Colurment“ (V. 6106). Der Mädchenname Leygormon allerdings wird später, wie andere Details, nicht aufgegriffen, stattdessen wird Gawein im Auftrag von Mancipicelle handeln. Derlei spielt an dieser Stelle freilich keine Rolle: Nachdem sich Zöllner und Gast verständigt haben, dass Gawein diese Aventiure bestehen könne, gibt sich Gawein schließlich zu erkennen: „ich bin ez selp, Gâwein“ (V. 6213). Der ‚Tatenkatalog‘ ist an die Figur Gaweins gebunden, seine Identität wird durch sie begründet, und hier mag in der Tat – mit Cormeau – die Linearität der Ereignisse hinter der Figur zurücktreten. Dies ist ein strukturell anachrones Arrangement, das ja bereits bei der ersten Tugendprobe zu beobachten ist, in der die Figuren zwar in einer konkreten Situation – dem Weihnachtsfest – am Artushof versammelt sind, ihre Identität aber ‚überzeitlich‘ begründet wird; mit Blick auf die ‚Figur‘ wäre also von ‚Asynchronien‘ zu sprechen: Es liegt nicht nur eine nach Maßgabe linear ablaufender Zeit merkliche Vertauschung vor; diese 20 Felder, Gudrun: Kommentar zur ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, Berlin / New York 2006, S. 180. 21 Heinrich von dem Türlin: Die Krone, unter Mitarbeit v. Alfred Ebenbauer ins Neuhochdt. übers. v. Florian Kragl, Berlin / Boston 2012, S. 90. 22 Vgl. Felder: Kommentar (s. Anm. 20), S. 521.

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erweist sich vielmehr als durch ein Element der ‚künstlichen‘ Gestaltung indiziert. Im Folgenden wird der ‚Tatenkatalog‘ aufgegriffen: Denn ganz ähnlich wiederholen sich die anachronen Referenzen im Bewusstsein der Figur selbst, wenn Gawein nach seinem Identitätsverlust in der Minnegefangenschaft bei Amurfina über die Erinnerung seiner Handlungen wieder ‚zu sich kommt‘. Nachdem er von Amurfina – man beachte den offensichtlich sprechenden Namen und die damit verbundenen Implikationen23 – durch einen Liebestrank in Minnegefangenschaft genommen worden ist und kurzzeitig sich selbst (und das raumzeitliche Orientierungsgefühl) verloren hat,24 wird er mittels einer Schüssel, auf der ein siegreicher Kampf Gaweins mit expliziter Nennung seines Namens dargestellt ist, an seine arthurische Identität erinnert. Wenn sich Gawein daraufhin seine Taten in Erinnerung ruft, kommt es erneut zu einem Hysteron proteron (in Bezug auf den später erzählten Gralbesuch) sowie zu Rückblenden, etwa der Bestrafung des Lohenis und der Vorgeschichte des Gürtels des Fimbeus. Was ist nun aus diesen Anachronien interpretativ zu schließen? Gudrun Felder hat in ihrem Kommentar verschiedene Deutungsangebote zusammengefasst: Sie reichen von einer genetischen Erklärung, nach der die Hystera protera stehengebliebene Elemente einer früheren Fassung sind,25 über eine dispositionelle Funktion, nämlich die Verknüpfung der beiden Romanhälften,26 und über die Annahme eines starken Fiktionssignals27 bis hin zur These, dass hier Charakteristika der fantastischen Literatur vorliegen.28 Den an sich plausiblen, aber auch diskussionswürdigen Erklärungen muss nicht unbedingt eine weitere hin23 Vgl. Störmer-Caysa, Uta: Liebesfreude, Tod und andere Nebenfiguren. Probleme mit dem allegorischen Verständnis der ‚Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, in: Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter, hg. v. Freimut Löser / Ralf G. Päsler, Hamburg 2005, S. 521– 541. 24 Vgl. Schnyder, Mireille: Die Angst vor der Ernüchterung. Liebestrunkenheit zwischen Magie und Rhetorik in Heinrichs von dem Türlin ‚Diu Crône‘, in: Trunkenheit. Kulturen des Rausches, hg. v. Thomas Strässle, Amsterdam u. a. 2008, S. 193–204; Lechtermann, Christina: Momente des Vergessens. Immersion als Erwartung in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 167 (2012) [Immersion im Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer], S. 104–123. 25 Knapp, Fritz Peter: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahr 1273, Graz 1994, Bd. 1, S. 553. 26 Mentzel-Reuters, Arno: Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ‚Crône‘ des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 187f. 27 Meyer, Matthias: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretation und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, S. 81f. 28 Dick, Ernst S.: Tradition and Emancipation. The Generic Aspects of Heinrich’s ‚Crône‘, in: Genres in Medieval German Literature, hg. v. Hubert Heinen, Göppingen 1986, S. 74–92. Den Forschungsüberblick einschl. aller vorgenannten Titel findet man bei Felder: Kommentar (s. Anm. 20), S. 181.

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zugefügt werden, doch lohnt es sich, den Blick auf die temporale Struktur beider Passagen (‚Tatenkataloge‘) zu lenken.

III.

Erzählte Erinnerungstafeln. Bildzentrierte Präsenzeffekte im Labyrinth des Textes

In den diskutierten Fällen handelt es sich nämlich nicht nur um Hystera protera oder um anachrone Reihungen, sondern den F i g u r e n r e d e n liegt jeweils ein dreigliedriges Modell zugrunde. Von einem Gegenwartszeitpunkt wird Vergangenes wie Zukünftiges aufgerufen; die Zeitstufen werden nicht unterschieden, alles stammt gleichermaßen aus der memoria, die zwar einerseits einzelmenschlich rückgebunden ist, andererseits aber – selbst im Fall des sich auf sich besinnenden Gawein – keine kontingenten Bewusstseinsinhalte, sondern allgemein Gültiges aufruft, nämlich das, was ‚man‘ über Gawein weiß.29 Das ist ein Grundzug memorialen Erzählens, wie Jan-Dirk Müller pointiert hat: Die memoria, obwohl auf einmal Wahrgenommenes, Gehörtes, Gedachtes, Erlebtes gerichtet, ist weniger an seinem Vergangen-sein [sic] und seinem Platz in einem chronologischen Ablauf von Geschichte interessiert, als an seiner Bedeutsamkeit für die Gegenwart der Erinnernden. Zeit, ausgefaltet in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [, …] ist deshalb paradoxerweise für die memoria eine nachrangige Kategorie.30

Insofern sind die Tatenkataloge ‚Erinnerungstafeln‘ im Müller’schen Sinne, die isoliert im narrativen Kontext mit seinen Linearitäten und Kausalitäten stehen.31 Eine solche Festlegung muss notwendigerweise die Dynamiken des Erzählprozesses und seiner Bezugspunkte zurückstellen – dies liegt nicht zuletzt am spezifischen Zeitkonzept, mit dem die ‚Erinnerungstafeln‘ verbunden werden. Denn zugleich rekurriert diese Vorstellung auf das augustinische Zeitkonzept – das Uta Störmer-Caysa ein ‚philologisches‘ nennt32 und demzufolge Zeit als distentio animi gedacht wird und Vergangenes sowie Zukünftiges nur als Gegenwärtiges ‚ist‘ (im ontologischen Sinne): quod si nondum ualeo, scio tamen, ubicumque sunt, non ibi ea futura esse aut praeterita, sed praesentia. nam si et ibi futura sunt, nondum ibi sunt, si et ibi praeterita sunt, iam non ibi sunt. ubicumque ergo sunt, quaecumque sunt, non sunt nisi praesentia. quamquam praeterita cum uera narrantur, ex memoria proferuntur non res ipsae, quae 29 Die unbekannten / sonst nicht überlieferten Erzählungen stellen hier natürlich ein besonderes Problem dar, ändern aber nichts am Grundzug, dass es Geschichten von Gaweins Mustergültigkeit sind. 30 Müller: ‚Episches‘ Erzählen (s. Anm. 8), S. 57. 31 Vgl. Müller: ‚Episches‘ Erzählen (s. Anm. 8), S. 58 u. ö. 32 Störmer-Caysa: Grundstrukturen (s. Anm. 3), S. 11.

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praeterierunt, sed uerba concepta ex imaginibus earum, quae in animo uelut uestigia per sensus praetereundo fixerunt. pueritia quippe mea, quae iam non est, in tempore praeterito est, quod iam non est; imaginem uero eius, cum eam recolo et narro, in praesenti tempore intueor, quia est adhuc in memoria mea. utrum similis sit causa etiam praedicendorum futurorum, ut rerum, quae nondum sunt, iam existentes praesentiantur imagines, confiteor, deus meus, nescio. illud sane scio, nos plerumque praemeditari futuras actiones nostras eamque praemeditationem esse praesentem, actionem autem, quam praemeditamur, nondum esse, quia futura est; quam cum aggressi fuerimus et quod praemeditabamur agere coeperimus, tunc erit illa actio, quia tunc non futura, sed praesens erit. (Aug. Conf. XI,23) Obwohl ich das noch nicht sagen kann, weiß ich doch, daß sie dort, wo immer sie sein mögen, nicht zukünftig oder vergangen, sondern gegenwärtig sind. Denn wenn sie auch dort zukünftig sind, sind sie dort noch nicht; wenn sie auch dort vergangen sind, sind sie dort nicht mehr. Wo immer sie also sind, was sie auch sind: sie sind nur, wenn sie gegenwärtig sind. Wenn man Wahres erzählt, holt man Vergangenes aus dem Gedächtnis hervor. Das sind aber nicht die Sachen selbst, die vorübergegangen sind, sondern Worte, die man aus Bildern der Sachen aufgenommen hat. Diese Sachen haben beim Vorübergehen im Geist durch die Sinne Spuren in das Gedächtnis eingeprägt. Meine Kindheit, die nicht mehr ist, ist gewiß in der vergangenen Zeit, die nicht mehr ist. Rufe ich sie mir jedoch ins Gedächtnis und erzähle von ihr, so schaue ich ihr Bild in der Gegenwart, weil sie mir noch im Gedächtnis ist. Ich gestehe, mein Gott, nicht zu wissen, ob auch die Vorhersage von Zukünftigem eine ähnliche Ursache hat. Dann könnten Bilder von etwas, was noch nicht ist, im voraus wahrgenommen werden, als ob diese schon existierten. Wohl weiß ich, daß wir unsere zukünftigen Handlungen meist im voraus bedenken und daß das Vorbedenken gegenwärtig ist. Erst wenn wir herangetreten sind und zu tun begonnen haben, was wir bedacht haben, wird die Handlung sein, weil sie dann nicht zukünftig sein wird, sondern gegenwärtig ist.33

In Heinrichs Crône scheint die Gegenwärtigkeit des Vergangenen und Zukünftigen mit einem memorialen (und daher präteritalen) Erzählgestus der Erinnerungstafel gekoppelt zu sein: Die praemeditatio wird so der memoria einverleibt, womit freilich die augustinische Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft einkassiert wird. In diesem Sinne lassen sich die historischen Bedingungen und Anspielungshorizonte des Erzählens ausmessen: Vor diesem Hintergrund erfahren die strukturalistisch feststellbaren Anachronien eine ‚semantische‘ Füllung, aus Abweichung kann zumindest partiell Bedeutung werden.34 Die Zeitgestaltung in Heinrichs Crône lässt ein historisch fundiertes Prinzip ‚künstlicher‘ Gestaltung erkennen, es handelt sich um ‚Asynchronien‘. Hierzu wäre noch ei-

33 Aurelius Augustinus: Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11), eingel., übers. u. m. Anm. vers. v. Norbert Fischer, 2. Aufl., Hamburg 2009, S. 30–33. 34 Eine alternative Deutung bei Kaminski: Abgründiges Erzählen (s. Anm. 14), S. 38–40; für Kaminski ist die Spaltung der Gawein-Figur von zentraler Bedeutung.

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niges auszuführen, was in den Bereich der Intertextualität führt,35 möglicherweise auch zur Einflussangst – wie sie von Harald Bloom gedacht wurde –, aber dafür ist hier nicht der Ort. Es ist in der Forschung mehrfach bemerkt worden, dass Heinrich auch ‚gelehrtes Wissen‘ in wie auch immer camouflierter Form in seinen Roman aufgenommen hat.36 In der anzitierten Episode mit dem Zöllner etwa weist die mit Antonymen operierende Reflexion Gaweins über die Widersprüchlichkeit der Fortuna (V. 6017–6082) frappierende Ähnlichkeiten zu einer entsprechenden Passage im Anticlaudianus des Alanus ab Insulis auf.37 Die augustinische Theorie liefert nun nicht nur ein historisch adäquates Modell für das Ineinsfallen vergangener und künftiger Taten in präsentisch zu imaginierenden, präterital erzählten imagines, sondern enthält auch einen wichtigen Hinweis für die poetischen Implikationen der spezifisch anachronen Erzählweise. Bei Augustinus wird Vergangenes als nicht mehr Seiendes konzeptualisiert, wie Zukünftiges noch nicht Seiendes ist. ‚Sein‘ kommt damit nur der Gegenwart zu. Innerhalb der so hervorgehobenen Gegenwart muss es allerdings weitere Differenzierungen geben: Vergangenes als Gegenwärtiges hat, wie Zukünftiges als Gegenwärtiges auch, den Status von imagines. Nicht nur in Gaweins Selbstreflexion wird ein Imaginationsprozess durch einschlägige Ausdrücke wie versan, gedâht und verdâht ebenso wie durch das Bildmotiv in der Schüssel – allerdings in Kombination mit der Schrift38 – nahegelegt. Das Evozieren von Bildern, von starken, einprägsamen, kraftvollen Bildern, gegenüber dem vielleicht vorderhand erkenntnistheoretisch angenommenen Vorrang empirischer Wirklichkeit ist in der Konsequenz der augustinischen Zeitkonzeption die poesiologisch wirksame Pointe der Crône. In äußerster und kühner Zuspitzung enthalten die sogenannten Wunderketten, erneut mit Gawein als Fokalisator, eine Abfolge ungeordneter, tendenziell unverständlicher Bilder,39 die gleichwohl als imagines 35 Vgl. Bleumer, Hartmut: Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997, der Brüche mit dem Prinzip der Kausalität auf figurale Muster und Überblendungen zurückführt. 36 Vgl. Reuvekamp, Silvia: Verborgen schatz und wistuom. Transformationen gelehrten Wissens in der Crône Heinrichs von dem Türlin, in: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos, hg. v. Manfred Eikelmann / Udo Friedrich, Berlin 2013, S. 99–115. 37 Vgl. de Boor, Helmut: Fortuna in mittelhochdeutscher Dichtung, insbesondere in der ‚Crone‘ des Heinrich von dem Türlin, in: Verbum et signum (FS Friedrich Ohly), Bd. 2: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, hg. v. Hans Fromm u. a., München 1975, S. 311–328, hier S. 324f. 38 Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin / New York 2003, trennt die Analyse des „visuellen Bilddenkmals“ (S. 275–278) von der Inschrift (S. 299f.) ab. 39 Vgl. zum Gesamtkomplex Däumer, Matthias: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013, S. 212–294.

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agentes aus dem kulturellen Haushalt der höfischen Kultur stammen und in sich als heterogene Elemente rezeptionsseitig hermeneutische Prozesse auslösen. Auch die asynchronen Tatenkataloge lassen sich im Großen und Ganzen – in Übereinstimmung mit theologischem Wissen und zugleich in Abweichung von usuellen Formen der Weltwahrnehmung – als funktional im Sinne von freilich präterital medialisierten, bildzentrierten Präsenzeffekten im Labyrinth eines Textes deuten, in dem sich Figuren wie Rezipienten fasziniert staunend verirren.40

40 Vgl. Vollmann, Justin: Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die ‚Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, Tübingen / Basel 2008. Vollmann nimmt sowohl eine ‚zeitliche‘ wie eine ‚räumliche Tiefe der erzählten Welt‘ Heinrichs an; vom Rezipienten sind Synchronisierungs- und Diachronisierungsleistungen gefordert. Wo Widersprüche vorliegen, handelt es sich um Interessenkonflikte und moralische Unentscheidbarkeiten.

Uta Störmer-Caysa

Asynchronie und das Ende der höfischen Welt in Konrads Engelhard

I.

Die Aufgabe

In diesem Aufsatz soll, vorwiegend an Konrads von Würzburg Engelhard, Asynchronie als eine Möglichkeit narrativer Codierung von Beziehungsproblemen von Figuren mit anderen Figuren oder erzählten Personenverbänden diskutiert werden. Die Idee entspringt der Beobachtung, daß im Engelhard (ebenso wie in Gottfrieds Tristan, mit dem die Erzählung viel zu tun hat) die Unverträglichkeit der Liebe des Helden zum Hof in eine programmatische Asynchronie gegenüber dem Kalender des Hofes1 gefaßt ist: Engeltrud bestellt Engelhard, als sei sie Herrin über eine unsichtbar machende Anderwelt wie Meliur in Konrads Feenroman, blind gegenüber jeder Möglichkeit zeitlicher Synchronisation mit einer anderen Figurenzeit außer der Engelhards, am hellen Mittag (ed. Gereke / Reiffenstein 1963, danach auch alle folgenden Angaben, V. 2922–2954) in ihren Baumgarten, während Ritschier so wenig schläft wie Marke an der entsprechenden Stelle; er kommt ebenso wie Marke durch eine zufällig nicht geschlossene Tür (V. 3236–3240) und ist wie Marke bei Isolde offenbar grundsätzlich zum Eintritt in Engeltruds Räume berechtigt, die er durchqueren muß, um zum Garten zu kommen. Wenn das so ist, wenn ein solcher zitierter (also für das Publikum schon vorverstandener) Chronotopos2, eine Asynchronie, den 1 Susanne Reichlin hat in einem jüngeren Handbuchartikel die Frist der Laudine und den Turnierkalender des Artushofes als Konkurenz sozial bestimmter Zeitregieformen bestimmt: Reichlin, Susanne: Zeit – Mittelalter, in: Handbuch Historische Narratologie, hg. v. Eva von Contzen / Stefan Tilg, Berlin 2019, S. 181–193, hier S. 187. Meine Überlegungen grenzen daran an, insofern ich sowohl über Asynchronien gegenüber singulären Zeitgebern (also gegenüber Figurenzeiten, zum Begriff vgl. unten und Anm. 3) als auch über solche gegenüber zeitgebenden Personenverbänden (das wäre Reichlins soziales Zeitregimen) nachzudenken versuche. 2 Zur Vergleichbarkeit des Engelhard mit dem Tristan hinsichtlich dieses Arrangements vgl. auch von Bloh, Ute: ‚Engelhard der Lieben Jager‘. ‚Freundtschafft‘ und ‚Liebe‘ im ‚Engelhard‘, in: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 317–334, hier S 325; Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen / Basel 2006, S. 323f., wo

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Uta Störmer-Caysa

Umschlagspunkt eines Textes markieren kann, dann ist es sinnvoll, nach weiteren, verwandten chronotopischen Auffälligkeiten zu suchen, weil im Verhältnis zu Prätexten eine Deutungsdimension angelegt sein könnte. Ich untersuche also im Engelhard Konstellationen der Synchronisation oder Asynchronie von Figurenzeiten,3 die im Konrad vorausliegenden höfischen Roman einprägsam semantisiert worden sind und nun variiert werden.

II.

Vorüberlegung: Das zentrale Modell des Artusromans für Übereinkunft über die Zukunft

In Chrétiens und Hartmanns Iwein wird das Modell etabliert, nach dem man die Frist als einen zweiseitigen Vertrag über einen bemessenen Abschnitt der Zukunft verstehen kann;4 es ist oft ähnlich angewandt und nachgebaut worden. Die Frist wird von Iwein nicht eingehalten, sie wird aber erzählerisch nicht entwertet, denn mehrere Figuren, die fristsetzende Laudine, der fristnehmende Iwein, der ganze Artushof, beziehen sich auf sie – narrativ ist das eine funktionierende, gelingende Frist, auch wenn Iwein sie in der erzählten Welt übertritt. Sie verbindet die zwei wichtigen Akteure, Iwein und Laudine, in einem gemeinsamen Plan für die Zukunft, die zugleich auch schon zeitlich ausgemessen erscheint. Der Plan scheitert, aber das entwertet das Modell nicht, denn die Möglichkeit des Gelingens und die daraus folgende Strafwürdigkeit der Übertretung wird vielmehr im ganzen Roman vorausgesetzt und bebildert. er den Engelhard „insgesamt als Kontrafaktur auf den ‚Tristan‘“ bezeichnet, und S. 326; Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke, hg. v. Rüdiger Brandt, 2. Aufl. Berlin 2009, S. 133. 3 Werner, Lukas: Erzählte Zeiten im Roman der frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit, Berlin / Boston 2018, erklärt S. 161 die Beschreibungsgröße ‚Figurenzeit‘ so: „Eine figurenbasierte Pluralität von Zeit entsteht zum einen durch die ‚Eigenzeitlichkeit‘ von Helden, unabhängig davon, ob sie ‚statisch‘ oder ‚dynamisch‘ ist, und zum anderen mittels der Figurenwahrnehmung, die Zeit unterschiedlich lang oder kurz erscheinen lässt. Ersteres verrät etwas über die Funktionsweise der erzählten Welt, während Letzteres etwas über die Bedeutung einer subjektiven Perspektivierung des Gegenstandes und damit über Subjektivitäts- und Individualitätskonzepte aussagt“. Zum Zusammenhang von Figurenführung und Zeitorientierung vgl. auch Laˇcan, Carmen: Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit als temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller, in: Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen, hg. v. Antonius Weixler / Lukas Werner, Berlin / Boston 2015, S. 291– 315, bes. S. 291–296. 4 Ein Stück in diese Richtung denkt schon Birgit Hegerfeldt: Die Funktion der Zeit im ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue, Diss. masch., Marburg 1970, wenn sie Fristen im Kapitel ‚Die verknüpfende Funktion der Zeit‘ behandelt (S. 81–87). Der Gedanke, daß Figurenzeiten in einem Text auch verschieden profiliert werden können und daß ihr Zusammenspiel und ihre partielle Unverträglichkeit maßgeblich zum Verstehen des Textes beitragen, ist narratologisch systematisierend durchdacht bei Lukas Werner: Erzählte Zeiten (s. Anm. 3), S. 144–152.

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Eine Frist ist, ob es eine in der gesamten erzählten Welt verstreichende Zeit gibt oder ob diese sich von vornherein diversifiziert, einem Handlungssubjekt zugemessen. Sie wird von Figuren für Figuren gesetzt. Nun kann sich der Fristnehmer in raumzeitlicher Entfernung nicht unmittelbar am zeitverbrauchenden Handeln des Fristsetzenden orientieren und nur eingeschränkt an dem des Personenverbandes, zu dem jener gehört (denn der Ferne kann weder die Bedingung für eine Frist des Typs ‚Komm an dem Tag, an dem ich den Riesen erschlagen haben werde‘ sehen noch die für eine Frist nach dem Muster ‚Sobald die Marschallin mit dem Kind zur Kirche gegangen ist, sei am Hof‘). Also orientieren sich die Vertragsparteien üblicherweise an überregionalen Heiligenfesten oder an Naturrhythmen der progressiven Zeit in der erzählten Welt, die als Grundschicht auch Texten zugrundeliegt, die (wie Heinrichs von dem Türlin Crône) zusätzlich anders gerichtete Zeitbewegungen gestalten.5 Die Übereinkunft fixiert beide Figuren oder Figurengruppen aneinander und bindet sie an einen gemeinsamen Maßstab.6 Laudine und Iwein rechnen bei ihrem Abkommen nicht mit einer gänzlich uneinsichtigen oder unberechenbaren Zukunft, auch wenn Iwein bei seiner Zusicherung an die üblichen Einschränkungen (Notlage, Krankheit, Gefangenschaft, Tod) denkt (ed. Benecke / Lachmann 41877, V. 2933ff.) In gewissem Maße räumen sie sich und einander Macht über die Zukunft ein, und sie einigen sich darauf, die Zukunftsgestaltung aufeinander zu beziehen. Das ist ein zukunftsoptimistischer, gemeinschaftsbetonter Zugang zum Kommenden, und er bleibt das auch im Scheitern, denn das Fehlschlagen der Zukunftserwartung wird dem Subjekt zugeschrieben, das auch anders hätte handeln können – das Scheitern ist zufällig,7 die Verabredung ist aber eine prinzipiell gelungene Gemeinschaftsleistung zweier aufeinander bezogener Akteure. 5 Zu Überlagerungen verschiedener Zeitmodelle in mittelalterlichen Romanen vgl. Reichlin (s. Anm. 1), S. 185f. Die Interpretation der verschiedenen Strukturierungen von Zeit in der Crône beginnt mit Cormeau, Christoph: ‚Wigalois‘ und ‚Diu Crône‘: Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, München 1977, bes. S. 124–142; und dem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz von Ebenbauer, Alfred: Fortuna und Artushof. Bemerkungen zum „Sinn“ der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, in: Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger, hg. v. dems. / Fritz Peter Knapp / Ingrid Strasser, Wien 1977, S. 25–49. 6 In diesem Sinne erklärt auch Nitsche, Barbara: Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur, Frankfurt 2006, S. 78–89 die Fristen im Iwein; sie kennzeichnet die einander gegenüberstehenden Zeitformen als „normative Rechtszeit“ (S. 78), die als objektiv betrachtet wird, und als „subjektive Eile“, was zutreffend gedacht ist, aber vielleicht nicht ideal bezeichnet, weil die Eile nicht die Figurenzeit, sondern das Bewußtsein der Figur von ihrer Eigenzeitlichkeit bezeichnet. 7 Boethius, auf dessen Vermittlung aristotelischer Auffassungen die mittelalterliche Philosophie in grundlegenden Begriffsbestimmungen und Fragen ruht, wendet sich dem Zufall (der dort casus genannt wird) in der einleitenden Prosa des 5. Buches der Consolatio zu und bestimmt

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Verabredungen über die Zukunft nach diesem Muster gibt es allenthalben: noch mehrmals im Iwein, in Wolframs Parzival; in Heinrichs von dem Türlin Crône, im Tristan.8 Immer zeigt die Abrede über Zukunft den Willen zum Bezug an: Einen gemeinsamen Zukunftspunkt gestalten bedeutet zu erwarten, daß man auch später in derselben sozialen Welt lebt und sich auch künftig darin miteinander ins Benehmen setzt. Auch andere zukunftsbezogene Eide können zweiseitige Verpflichtungen zum abgestimmten Handeln enthalten: Da im Engelhard der Eid der beiden Halbwüchsigen, einander nie im Stich zu lassen (si lobeten mit dem eide ein ander dô geselleschaft, „sie schwuren einander dann Freundschaft“, V. 626f.), so folgenreich ist, rückt sogleich in den Blick, daß es sich hierbei ebenfalls um ein zweiseitiges Abkommen über eine Zukunft im Bezug aufeinander handelt. Das war den Zeitgenossen nicht nur im Hinblick auf die sünden- und heilsrelevante Bedeutung von Gelöbnissen klar, sondern auch aus vorausliegenden Beispielen im Artusroman, wo der Unterwerfungseid oder das Beistandsversprechen nach dem Zweikampf eine wichtige Quelle von Veränderungen in den besprochenen Bündnissen ist.9

den Zufall dort als etwas nicht Vorhergesehenes, das sich ereignet, weil einander unbekannte Kausalitäten überkreuzen (Boethius: Trost der Philosophie. Consolatio philosophiae, hg. u. übersetzt v. Ernst Gegenschatz / Olof Gigon, eingeleitet u. erläutert von Olof Gigon, 6. Aufl. Düsseldorf / Zürich 2002, S. 228–232). Für den Bereich des menschlichen Handelns ist das contingens fast wichtiger. Es wird im Kommentar zu Peri hermeneias des Boethius in die Nähe des Möglichen gerückt und an einer Stelle sogar damit identifiziert: contingere esse et possibile esse idem significat. Anicius Manlius Seuerinus Boethius: In librum Aristotelis peri hermeneias commentarii. 5. Buch, cap. 12, ed. Karl Meiser, Bd. 2, Leipzig 1880, S. 382, Zeile 17 (letzter Zugriff am 23. 1. 2021, 19.57: http://clt.brepolis.net/lltadfg/pages/Toc.aspx? ctx=1079864). Zur Begriffsgeschichte vgl. Vogt, Peter: Kontingenz und Zufall. Eine Ideenund Begriffsgeschichte, mit einem Vorwort von Hans Joas, Berlin / Boston 2011, S. 49. 8 Solche Konstellationen mit ihren Funktionen im jeweiligen Text auch bei Nitsche: Die Signifikanz (s. Anm. 6), S. 105–125. 9 Vgl. Hartmann: Erec ed. Mertens, V. 4547–4555 (Guivreiz zu Erec), Wirnt: Wigalois ed. Seelbach / Seelbach, V. 3953f. (der Truchseß zu Wigalois); Wolfram: Parzival, 6. Ausg. ed. Lachmann / Schirok 267,10–268,6 (Parzivals Bedingung an Orilus und dessen Einverständnis).

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III.

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Problematisierung der Vorüberlegung: Einigungen über Asynchronie statt über Synchronisierung10

Einigungen mit einer anderen Figur über die Zukunft synchronisieren immer mindestens zwei Figurenzeiten; es kann jedoch sein, daß diese Figuren sich ausgerechnet darauf geeinigt haben, sich gegenüber anderen Figuren und Personenverbänden konsequent asynchron zu verhalten. Es sind liebende Frauen, die den Ritter im Artus- und Gralroman bisweilen dazu verlocken, Zukunftspläne zu schmieden, die mit unklaren Fristen versehen sind und in einem besonderen (und über die auch für die ritterliche Kampfesverabredung eingerechneten Zufälle von Krankheit, Gefangenschaft oder Tod hinausgehenden) Maße der eigenen Gestaltung entzogen bleiben. Der Ritter Mabonagrin in Hartmanns Erec gibt seiner Freundin, wie sie es verlangt, das Versprechen, mit ihr solange in dem wunderbaren Garten zu bleiben, bis ein Ritter daherkomme, der ihn besiege. Das antizipierte Ereignis, das die selbstgewählte Gefangenschaft beenden wird, ist so gewählt, daß der Ritter seine beste Jugend und ungebrochene Kraft ausschließlich der Geliebten zuwenden solle; wenn er einmal besiegt werden kann, ist gleichsam von unabhängiger Stelle ermittelt, daß die beste Zeit nun vorbei sei. Das Risiko, Mabonagrin könnte dabei sterben, wiegt offenbar nicht schwerer als die Möglichkeit, die Kraft und die Jugend könnten recht bald nachlassen. Der Vertrag über die Zukunft wird in diesem Fall mit einem nicht festgesetzten Ende entworfen; solange Mabonagrin der Stärkste ist, will ihn das Fräulein lieben und allein für sich haben; ist er es danach nicht mehr, kann sie ihn auch mit anderen Menschen teilen, sofern er seine Niederlage überlebt. Aber sie will es nicht entscheiden müssen, wann der Zeitpunkt gekommen ist; ein Fremder, ein zufälliger Vergleichsritter, ersetzt mit seinem ebenso zufälligen Lebenszeitpunkt, der Kraft und Erfahrung in bestimmtem Maße mit sich bringt, die Zeitleiste. 10 Teile der Diskussion über Zeitformen in erzählenden Texten sind im Anschluß an Ernst Cassirer (Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Text und Anmerkungen bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2010, bes. Kap. II,.3 ‚Der mythische Zeitbegriff‘, und Kap. II.4, ‚Die Gestaltung der Zeit im mythischen und religiösen Bewußtsein‘, S. 123–166) unter dem Begriff des Mythos bzw. des mythischen Erzählens geführt worden; vgl. dazu Friedrich, Udo / Quast, Bruno: Mediävistische Mythosforschung, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg v. dens., Berlin / New York 2004, S. IX–XXXVII, bes. S. XXXIIIf. Daher berührt sich die folgende Überlegung über den Grad, in dem eine (hier: mit Liebe verbundene) Anderwelt für den Rezipienten von den Regeln der arturischen Diesseitswelt erfaßt und mitgemeint wird, mit dem Aufsatz von Kragl, Florian: Land-Liebe. Von der Simultaneität mythischer Wirkung und logischen Verstehens am Beispiel des Erzählens von arthurischer Idoneität in Iwein und Lanzelet, in: Artusroman und Mythos, hg. v. Friedrich Wolfzettel / Cora Dietl / Matthias Däumer, Berlin / Boston 2011, S. 3–39.

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Das ist eine Vertragsstruktur, die die optimistische gemeinsame Zukunftsgestaltung ‚auf Sicht‘, die in den Fristen des Artusromans steckt, in einer existentiellen Weise unterläuft, die im Artus- und Gralroman sonst wenig besprochen wird. Sie läuft nicht nur auf Asynchronie gegenüber der ritterlichen Welt hinaus, sondern hat auch etwas Anderweltiges, insofern eine existenzielle Bedingung der ritterlichen Existenz mitspielt, die der Artusroman sonst nicht behandelt, nämlich den möglichen Schwund oder Verlust der Jugendkraft. Die Asynchronie des Wundergartens gegenüber jeder höfischen Bezugsperson oder Gruppe, also der Abschluß gegenüber der Zeit, ist aber nicht vollkommen, denn es gibt Aventiure und damit Reste verändernder Zeit in kausalen Abläufen. Sie sind an den Ankömmling gebunden: Sobald er eintrifft, ist er für Mabonagrin Ursache zum Zweikampf auf Leben und Tod. Der Vertrag zwischen Mabonagrin und seiner Freundin richtet sich nicht auf gemeinschaftliches Handeln in der noch unbekannten Zukunft, sondern auf gemeinschaftliche Flucht aus der Zeit durch die Einrichtung einer gemeinsamen, gegenüber der Ritterwelt asynchronen und abgeschlossenen Innenwelt, deren Kollaps von vornherein einberechnet (wenn auch nicht exakt vorhersagbar) ist. Auch hier läßt sich produktive Rezeption des Musters zeigen: In dem Teil des Rappoltsteiner Parzifal, der der zweiten afrz. Perceval-Fortsetzung (in der es um Percevals Weg zum Gral geht) entspricht, wird von einem Gewölberitter erzählt, der in einem geschlossenen, um ein Marmorkreuz angeordneten Gewölbe lebt, gemuret beidesit ‚beidseits aufgemauert‘ (ed. Schorbach, 331,3) und nur durch zwei vensterlîn ‚kleine Fenster‘ mit der Außenwelt verbunden, also wohl in einer Art Krypta. Die Erzählerstimme weiß, daß der Ritter dort allein ist und nur sein Pferd bei sich hat (Sch, 331,8f.). Er habe seiner schönen Freundin gelobt, dort zu bleiben, bis ein Ritter komme, der ihn besiegt (Sch, 331,16–21). Anders als im ‚Erec‘ ist der Ritter aber dort allein: er waz naht und tag alleine („er war Tag und Nacht allein“, Sch, 331,8), seine Freundin besucht ihn nur (si kam ouch dikke, „sie kam auch oft“, Sch, 331,37) und sendet ihm und dem Pferd Verpflegung (Sch, 331,30–36). Im Unterschied zu Mabonagrin hatte der Gewölberitter zuvor noch keine Gelegenheit zum Kampf, weil seine Krypta in unbewohntem Gelände liegt: fünf jor er daz do inne leit, / daz nie ritter do für gereit, wan daz lant so wueste was, daz nieman uebete daz, nuwant der durch oventüre kam al der („das erduldete er darin fünf Jahre, ohne daß solange ein Ritter zu Pferd davor auftauchte, denn das Land war so unbesiedelt, daß es niemand versucht hätte als einer, der zufällig dorthin gekommen war“, Sch, 331,22–26). Der Sieg des Ankömmlings hat denn auch andere Folgen als im Chrétienschen oder Hartmannschen Prätext: Der Gewölberitter erleidet eine Kopfverletzung und verliert ein Ohr (Sch, 335,27f.), woraufhin er flieht und in seinem Gewölbe verschwindet (Sch, 335,30.35); dem nachreitenden und nachfragenden Parzifal antwortet niemand mehr (Sch, 335,38–336,3).

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In dieser Variante bewohnt der Ritter freiwillig und um der Liebe willen eine Art Totenreich, einen Bereich der Asynchronie gegenüber der Ritterwelt, aus dem er wie Mabonagrin wegen eines Versprechens an seine Freundin nur herauskommt, wenn er besiegt wird. Er bewohnt es allein, was den ganzen Pakt gegenüber dem ‚Erec‘ verändert; der Ritter hat offenbar für liebevolle Begegnungen mit seiner Freundin in seinen sozialen Tod eingewilligt, den die Freundin nicht teilen muß. Der Text läßt offen, ob der Ritter an den Wunden auch einen physischen Tod stirbt, der ihn ohnehin ins Totenreich brächte, auch wenn er nicht noch im Leben den Tod erwählt hätte.

IV.

Engelhard und Dietrich: Zukunftspläne und übererfüllte Synchronisierung

Wenn man sich an den vorgestellten Mustern vor Augen geführt hat, daß die zeitliche Übereinkunft von Figuren über ihre Zukunft immer deren interne Synchronisierung meint, jedoch eine klare Asynchronie gegenüber anderen Figuren und Figurengruppen aufbauen kann, bemerkt man in Konrads Engelhard Synchronisierungsprobleme zuhauf. Dietrich, der aus einem nicht erklärten Grund allein reist wie Engelhard, dessen Mangel an Gefolge implizit mit dem Mangel in seinem Elternhaus begründet wird, äußert den Wunsch nach Gemeinschaft zuerst, und zum Zeichen gibt er Engelhard die erste Gabe (eine getrocknete Würzpflanze, V. 515–532). Dieser funktioniert den Apfel, mit dem er seinerseits potentielle Freunde testet, geistesgegenwärtig zur Gegengabe um, die von Dietrich aber wiederum geteilt wird: In der Bilanz hat Dietrich mehr gegeben, auch wenn sich erst viel später erweisen wird, daß er tatsächlich von höherem Rang ist.11 In ihrer momentanen Situation werden die beiden jungen Leute jedoch als bis zur Verwechselbarkeit ähnlich beschrieben, äußerlich, habituell und, wie sie einander berichten, auch in ihrem Anliegen, dem vorbildlichen König Fruote von Dänemark zu dienen. Daraufhin schließen sie dasjenige Abkommen über die Zukunft, das die Handlung, wie erwähnt, bis zum Schluß prägt: si lobeten mit dem eide / ein ander dô geselleschaft („sie schwuren einander dann

11 Urban, Felix: Gleiches zu Gleichem: Figurenähnlichkeit in der späthöfischen Epik. ‚Flore und Blanscheflur‘, ‚Engelhard‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Wilhalm von Wenden‘, Berlin / Boston 2020, S. 291 sieht diese Konsequenz aus der Apfelprobe (die er im Übrigen als eine Art Kontrafaktur zur Sündenfallerzählung versteht, vgl. ebd., S. 277), auch wenn er das aus dem Wert des Riechkräutleins entnimmt. Daß er ebd. das Kraut als Gegengabe bezeichnet, ist allerdings ungenau und verfälscht das Bild etwas.

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Freundschaft“, V. 626f.). Daß dieses Abkommen nie gebrochen wird, versichert die Erzählerfigur sofort anschließend.12 Nur wenige Verse später tragen beide dem König Fruote ihren Plan vor, und es scheint gleichgültig zu sein, wer spricht, denn es heißt in V. 681 nur, es sei ir einer ‚einer von ihnen‘. Dieser Sprecher für ihr Gemeinschafts-Ich entwirft Fruote gegenüber den Plan: […] wir biten flîzeclichen (des sîn wir her gestrichen) daz ir güete an uns begânt und ir uns hie belîben lânt biz sich gebezzert unser jugent von der vil süezen reinen tugent der ein wunder lît an iu. ob wir zwei jâr oder driu belîben hie, daz muoz uns geben immer tugentrîchez leben. (V. 705–714) Wir bitten inständig – deshalb sind wir hergekommen – daß Ihr so gut zu uns seid, uns hier bleiben zu lassen, bis unsere Jugend durch die anziehende, unvermischte Tugendhaftigkeit, von der Ihr wunderbar viel besitzt, besser geworden ist. Wenn wir zwei oder drei Jahre hier bleiben, wird uns das für immer das tugendhafte Leben vorgeben.

Fruote sichert den beiden zu, mit lange wernder stætekeit („andauernder Verläßlichkeit“, V. 722) für sie sorgen zu wollen; wenn man seine Erwiderung die wîle ir wellent hie bestân / sô sint mir willekomen gote („solange/ weil Ihr hier bleiben wollt, seid mir mit Gott willkommen“, V. 724f.) wörtlich versteht (‚solange‘), dann nimmt er sie unbefristet auf; allerdings kann man auch hören ‚weil ihr nun hierbleiben wollt‘. In diese gemeinsame zeitliche Verabredung bricht die Offenbarung der unterschiedlichen Herkunft trennend ein, denn Dietrich, den der Bote seiner Mutter ein halbes Jahr lang gesucht hat (ich bin geloufen als ein mol / alumbe und umbe ein halbez jâr, „wie ein Maulesel bin ich ein halbes Jahr um und um gelaufen“, V. 1338f.), kann Engelhard auch durch das Angebot, die Herrschaft zu teilen, nicht überzeugen, ihm zu folgen; vielmehr gibt Engelhard seinem Aufenthalt bei Fruote nun einen neuen zeitlichen Horizont: mîns herren lônes nime ich war den er mir hât geheizen.

12 Diu [geselleschaft] wart von in mit stæter kraft behalten ûf ein endes zil, als ich iu noch bewæren wil […] („Die Freundschaft wurde von ihnen mit beständiger Intensität aufrechterhalten bis zum Ende, wie ich euch noch beweisen werde“, V. 628–630).

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In sînes landes kreizen wil ich belîben immer. dar ûz enkome ich nimmer biz an den freudebæren tac daz ich ritter werden mac. (V. 1532–1538) Meines Herrn Lohn werde ich kennenlernen, den er mir versprochen hat. Im Umkreis seines Landes will ich für immer bleiben. Bis zu dem freudebringenden Tag, an dem ich Ritter werden kann, gehe ich niemals von hier weg.

Damit ist die stabilste Übereinkunft des Textes – zumindest zeitweise – dissoziiert. Engelhard verspricht Dietrich nicht mehr, als ihn nicht zu meiden, wenn er Fruotes Hof jemals verlasse (V. 1577–1581). Gesellen im wörtlichen Sinn werden beide für den Rest der Erzählung nicht mehr, auch wenn sie einander oft so nennen (z. B. V. 4234, 4289, 4318, 4353, 4467, 5710, 5844, 5868, 5900, 5935). Daß sie sich aufeinander beziehen, dabei bleibt es allerdings, jedenfalls für den Fall der Not (wenn es ihnen gut geht, sehen sie einander offenbar nicht, jedenfalls wird nichts davon erzählt). Sie sind einander dann ohne Ankündigung erreichbar, ihre Leben sind also ohne spezielle Terminierung miteinander synchronisiert. Das ist gleichsam eine Übererfüllung der Anforderung an Synchronisierung, die durch die Fristen im Artusroman gestellt werden.

V.

Dietrich erfüllt eine Frist für Engelhard

Diese Übererfüllung geht so weit, daß es Dietrich gelingt, stellvertretend für Engelhard eine Frist einzuhalten, die eigentlich diesem gesetzt war (der tugentrîche fürste guot / kam ûf den hof reht an der zît / dô der angestbære strît / geschehen solte ân alle fluht, („der tugendhafte, gute Fürst kam zum Hof genau zu der Zeit, zu der der gefahrbringende Kampf, dem man sich nicht entziehen konnte, stattfinden sollte“, V. 4596–4599). Übererfüllend ist die gehaltene Frist jedoch nur als Synchronisierungsleistung der beiden jungen Männer im Rahmen ihrer Freundesbindung; andererseits handelt es sich um eine Frist, die Engelhard mit dem Hof synchronisieren sollte, so wie im Artusroman immer alle Gerichtskämpfer zur vereinbarten Zeit erscheinen, um die gemeinsame Normengrundlage auch bei konfligierenden Interessen zu demonstrieren. Die Synchronisierungsleistung wird auch erbracht – aber nicht von Engelhard, der vielmehr währenddessen in Brabant am Hof des Freundes lebt, so daß eben diejenige Fähigkeit zur Übereinkunft im Konflikt, an die man nach dem Vorbild zahlreicher Muster denken muß, wenn das Motiv ‚gesetzte und gehaltene Frist‘ erzählt

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wird, von Engelhard ausdrücklich nicht ausgesagt wird.13 Vielmehr lebt Engelhard in Brabant ein fremdes Leben, das immerhin bis zum Zweikampf mit dem dänischen Hof und seinem Ereigniskalender durch die Frist von sechs Wochen rahmend synchronisiert ist, nach dem Kampf jedoch nicht mehr; irgendwann nach dem Ende des Hochzeitsfestes, dessen Dauer nicht angegeben ist und für die Freunde nicht voraussehbar war, kommt Dietrich (V. 5025–5029), es gibt darüber aber keine Absprache, als spiele Zeit für den Rücktausch der sozialen Verpflichtungen keine Rolle. Dietrichs Brabant erscheint dadurch fast entzeitlicht, beinahe wie ein Anderland. Während sich Engelhard in Brabant aufhält, entsynchronisiert er sich allmählich von Fruotes Hof. Er hatte Fruote seine triuwe und Ritterehre zum Pfand gelassen (V. 4186f.), daß er des tages und der selben zît sô geschehen sol der strît („an dem Tag und zu der Zeit, an dem der Kampf stattfinden soll“, V. 4189f.), zurück sei; daß dieses Pfand nie eingelöst wird, macht die Bedeutung der persönlichen Asynchronie Engelhards gegenüber Fruotes Hof wesentlich aus. Dietrich verhält sich ganz anders: Er scheidet von diesem Hof mit der vorgeblichen Absicht, eine Wallfahrt zum Dank für die göttliche Hilfe unternehmen zu wollen (V. 5030–5035), er synchronisiert durch den klugen Vorwand dieser Wallfahrt, von der niemand weiß, wie lange sie dauert, nicht nur sein eigenes Handeln mit den Dänen, sondern auch das von Engelhard, der sich nach der Nachricht sofort auf den Weg macht. Es ist also Dietrich, der sich bis zum Ende der Personenvertauschung als Meister der Synchronisation mit höfischen Anforderungen und Erwartungen erweist, wogegen Engelhard sich als Figur durch ein Handeln im Modus der Asynchronie gegenüber dem Hof, der ihn hat aufsteigen lassen, profiliert.

13 Es ist zudem Dietrich, der plant, der so vorausschauend ist, ein offeneres Handeln oder einen gemeinsamen Zug der Freunde nach Dänemark auszuschließen (um der Ehre Engelhards willen: würde iemanne ûf erden schîn / daz ich ze Tenemarke rite / und ich den kampf für dich gestrite, / daz würde an êren dîn verlust, V. 4526–4529). Er bietet dem Freund mit der Nähe der eigenen Ehefrau gleichsam eine Möglichkeit, im geschützten Rahmen der bedingungslosen Freundschaft richtig zu machen, was er im öffentlichen Raum des Hofes gerade falsch gemacht hatte.

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VI.

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Erpressungen in Liebe und Freundschaft und die Zerstörung der Synchronie

Engeltrud hatte sich bei aller Liebe vernünftigerweise verbeten, daß Engelhard, der Zeichen der Liebe an ihr zu sehen vermeint (V. 1896–1899), zu ihr von seiner Liebe spreche:14 Engelhart, und wellest dû daz ich dir günstic sî als ê, sô rede niht der dinge mê die müezen mir sô nâhe gân. (V. 2088–2091) Engelhard, wenn du willst, daß ich freundlich zu Dir bin wie bisher, dann erwähne nichts mehr von dem, was mich zwangsläufig so nahe angeht.

Nun wird er ernstlich liebeskrank, der Erzähler nennt ihn einen tôtsiech[en] („todkrank[en]“, V. 2183). Das verhindert nicht, daß er Engelhard nach Engeltruds Zusicherung, Engelhard nach ritterlicher Bewährung zu lieben, sagen läßt: sît ir geheizet mir sô wol, sô bin ich sâ zehant genesen („wenn Ihr mir so Gutes verheißt, dann bin ich gleich gesund“, V. 2388f.); und es ist Erzählerrede, die seine Auferstehung von den Fasttoten nach dem verhängnisvollen Gespräch in einen Satz faßt: alzehant was er genesen („sofort war er gesundet“, V. 2406). Daß Engeltrud überhaupt nachgibt, liegt an einer erpresserischen Zuschreibung der Schuld für seinen Zustand an sie: wird ich gefüeret hin ze grabe, sô werdet ir wol innen daz iuch kunde minnen mit hôher girde mîn gedanc. wand ich erstirbe ân allen wanc, ob iuwer helfe mich verbirt. (V. 2304–2309) gelîch dem herten quâder sît ir sô vaste wider mich, und wizzet doch vil wol daz ich ân iuwer helfe niht genise. (V. 2314–2317)

14 Kokott, Hartmut: Konrad von Würzburg: ein Autor zwischen Aufstieg und Autonomie, Stuttgart 1989, S. 61 verwundert sich darüber, welche aktive Rolle Engeltrud in der Liebesgeschichte zugewiesen werde. Das ist aber durch literarische Vorbilder von Veldekes Dido und Lavinia bis zu Gottfrieds Blanscheflur und Isolde ausreichend erklärt; daraus eine mindere Verantwortung des Mannes abzuleiten, dürfte schwer angehen.

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Wenn ich zu Grabe getragen werde, dann werdet Ihr schon merken, daß meine Gedanken Euch mit hohem Begehren zu lieben wußten. Denn ich sterbe ohne Zweifel, wenn Eure Hilfe sich meiner nicht annimmt. […] Ihr seid verfestigt gegen mich wie ein harter Stein, und Ihr wißt doch wohl, daß ich ohne Eure Hilfe nicht überlebe.

Eine Erpressung ist strukturell einem Eid ähnlich: Der in die Zukunft verlängerte Bezug zur angesprochenen Figur wird vorausgesetzt, ein bestimmtes eigenes Handeln für diese gemeinsame Zukunft als sicher vorausgesagt – nur ist dieses Handeln für den Angesprochenen so schädlich, daß er versuchen muß, es abzuwenden, wozu ihm der Erpresser zugleich mit seiner Zukunftsvoraussage ein Mittel an die Hand gibt. Narratologisch liegt darin die Perversion einer zeitlichen Synchronisierungsleistung zwischen zwei Figurenzeiten und ihren immanenten Kausalitäten, denn die erpreßte Figur muß, solange die angedrohte Folge noch nicht eingetreten ist, versuchen, in die wirkende Kausalität einzugreifen und die Bedingungen der auch nach ihrer Überzeugung gemeinsamen Zukunft nach dem Willen des Erpressers zu ändern. Natürlich sind literarische Liebeskrankheiten nicht auf typische Verläufe festlegbar, aber die ungefähren Parallelen aus einflußreichen früheren Texten sind nicht so monokausal gestaltet und von Anklängen der Erpressung frei. Riwalin, der nicht an der Liebeskrankheit, sondern an einer schweren Verwundung leidet, wird, nachdem Blanscheflur sich zu ihm gelegt hat, auch innerhalb weniger Verse gesund, was Gottfried jedoch als göttliche Fügung, nicht als Wirkung der Liebe (die ihn vielmehr halbtot hinterlassen habe) darstellt.15 Veldekes Eneas fühlt sich, nachdem ihn Lavinias Brief am Abend in Liebeskrankheit gestürzt (ed. Kartschoke, V. 11019ff.) und er die Nacht im Nachdenken über Liebe verbracht hat, auch schon am Vormittag (den er verschläft) besser (V. 11339f.), aber die Besserung wird nicht von Lavinia abhängig gemacht, sondern als Folge seiner Überlegungen dargestellt. Flore und Blanscheflur, die all ihr Wissen über die Liebe aus Büchern haben, lernen dort über Liebe und Liebeskrankheit: daz ist ir [der Liebe] natûre, daz si den minnære machet mit grôzer swære sêre wunt, dâr nâch geil […]. (Flore ed. Putzo, V. 732–735).

15 Ed. Bechstein, V. 1324–1329: ouch was er von dem wîbe / und von der minne vil nâch tôt; / wan daz im got half ûz der nôt / sone kunde er niemer sîn genesen: / sus genas er, wande ez solte wesen. („Auch war er der Frau wegen und der Liebe wegen beinahe tot; wenn ihm Gott nicht aus der Bedrängnis geholfen hätte, hätte er nie überleben können. So wurde er gesund, denn so sollte es sein.“)

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das ist ihre [der Liebe] Natur, daß sie den Liebenden mit großem Kummer schwer verwundet und danach froh macht.

Der Unterschied zwischen der Gedankenfigur ‚Liebeskrankheit‘ in diesen Beispielen und Engelhards Redestrategie über seine Liebeskrankheit liegt in der Zuweisung aller Verantwortung an Engeltrud; er macht aus dem ‚Ich erleide diese Liebe‘ ein minnesangähnliches ‚Ich sterbe an dir, du bist schuld, wenn du nicht…‘. Daß Engelhard bereits durch die Verheißung, erhört zu werden, gesund wird, zeigt einerseits sein völliges Vertrauen in Engeltruds Worttreue, es spielt aber auch insofern eine Rolle, als die Erzählung ihm nun bis zum Liebesvollzug eine längere Zeit einräumt, in der sein Geist wieder ungetrübt arbeitet. Jedoch kommt er auch im Zustand der Gesundheit keineswegs auf die Idee, daß es seine Pflicht als Gesellschafter sein könnte, die verirrte Königstochter, die nach dem Urteil der Zeit als Frau ja nicht eben auf Geistesstärke verpflichtet ist, von ihrer Absicht abzubringen16 und seine Liebe nach diesem übergroßen Zeichen ihrer Zuneigung im Verzicht zu bewähren.17 Eine sehr ähnliche Gesprächsstruktur gibt es noch ein zweites Mal.18 Der aussätzige Dietrich ist bei Engelhard gut versorgt und betreut, er will aber nicht sagen, welches Mittel ihn einer Audition im Traum nach heilen könnte. Daraufhin setzt ihm Engelhard zu:19 16 Vgl. die Einschätzung der rechtlichen Konstellation bei Schnell, Rüdiger: Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils. Eine rechtsgeschichtliche Interpretation von Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘, in: Poetica 16 (1984), S. 24–60, hier S. 31. 17 Hartmut Bleumer hat in einem Aufsatz die Konstellation im Tristan beschrieben, in der die ältere Isolde Tristan zum Lehrer ihrer Tochter ernennt: Bleumer, Hartmut: Das Vertrauen und die Vertraute. Aspekte der Emotionalisierung von gesellschaftlichen Bindungen im höfischen Roman, in: Frühmittelalterliche Studien 39 (2006), S. 253–270, hier S. 267. Wie Koch, Arne: Die zwei Formen der ‚triuwe‘ in Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘, in: Colloquia Germanica 32 (1999), S. 201–222 benutzt er die Vorstellung der horizontalen und vertikalen Treue, begründet den Auftrag „aus einer vertikalen Beziehung heraus“ (Bleumer, a. a. O., S. 267). Die Beobachtung, daß Tristan die mit dem Auftrag einhergehende soziale Verpflichtung scheinbar mühelos einhält (und erst später, unter den idealtypischen Laborbedingungen sozialer Isolation, der zwanghaften Wirkung der Liebe erliegt), ist im Vergleich zum Engelhard durchaus erhellend, weil Engelhard eine sehr ähnliche Aufgabe erhält und die soziale Pflicht, die daraus erwächst, von Anfang an nicht erfüllen kann oder will. 18 Die erpresserische Struktur der Episode ist auch Edith Feistner aufgefallen: Feistner, Edith: Die Freundschaftserzählungen vom Typ ‚Amicus und Amelius‘, in: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, hg. v. Klaus Matzel / Hans-Gert Roloff unter Mitarbeit von Barbara Haupt / Hilkert Weddige, Bern u. a. 1989, S. 97–130, hier S. 127. 19 Was Engelhard hier über sein früheres Verhalten sagt, trifft im übrigen keineswegs zu; denn Dietrich hatte ihn inständig gebeten, mit ihm nach Brabant zu kommen und dort gleichberechtigt mit ihm zu herrschen (V. 1418–1423). Das hatte Engelhard abgelehnt, woraufhin sich auch Dietrich an dieser früheren Stelle der Erzählung in konditionaler Rede über Zukunftsoptionen geübt hatte, derselben, wie sie für Erpressungen nötig ist: nämlich für den Fall, daß Engelhard ihm nicht folgen wolle, angekündigt, selbst in Dänemark zu bleiben, weil

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[…] gedenke, friunt vil ûz erlesen, daz ich dir keiner bete nie verzêch, und êre mich alhie. wan zwâre, sô dû daz niht tuost, sô soltû wizzen daz dû muost von mir gescheiden immer sîn, und ich von dir, geselle mîn (V. 5950–5956). Denk daran, auserwählter Freund, daß ich dir nie eine Bitte abgeschlagen habe, und ehre mich hiermit. Denn wahrlich, wenn du das nicht tust, dann sollst du wissen, daß du von mir für immer getrennt sein wirst, ebenso ich von dir, Geselle.

Mit seinem Wissen über Früheres hört der Rezipient Engelhard nun sagen, er werde Dietrich die Freundschaft aufkündigen, wenn der ihm nicht das verschwiegene Geheimnis anvertraue. Der angedrohte Freundschaftsentzug wäre das Schlimmste, das dem Kranken noch geschehen kann, und die Drohung verstößt gegen den Eid, den beide einander geschworen haben und in dem keine Bedingung formuliert war. Ohnehin hat Engelhard für Dietrich, als der zu ihm kam, weniger getan (auch weniger tun können), als Dietrich dem Engelhard verheißen hatte und tatsächlich in der vorausliegenden Handlung getan hat. Denn Dietrich hätte Engelhard die Hälfte seines Herzogtums übergeben können, und er hat tatsächlich sein Leben für Engelhard riskiert; doch ist die Reichweite von Engelhards Angebot lîp unde guot unde swaz ich hân / daz sol dir werden undertân / als eigenlîchen alse mir („Leben und Besitz und was ich habe, das soll dir ebenso als Dein Eigen untertan sein wie mir“, V. 5791–5793) durch den Aussatz von vornherein begrenzt. Gleichheit mit dem Kranken ließe sich nur durch Übersiedelung in das Leprosenhaus (also durch Herrschaftsverzicht) herstellen; von einem Gedanken daran wird nicht gesprochen. Wenn Engelhard sich nun von Dietrich lossagte, müßte dieser verhungern und verderben. Die erpresserische Zukunftsspekulation, wie Engelhard sie sowohl gegenüber Engeltrud, also in einem Liebesverhältnis, als auch gegenüber Dietrich, also in einer Freundschaft, betreibt, ist eine Perversion gemeinsamer, zweiseitig oder unter einem gemeinsamen Zeitgeber synchronisierter Figurenzeit. Denn wenn (wie im Muster der Frist unter Rittern) erst für die Zukunft raumzeitliche Gemeinsamkeit hergestellt werden muß, um dann gemeinsam – und auch ein Gegeneinander im Kampf heißt: gemeinsam – zu handeln, dann unterstellt dieses Arrangement Verschiedenheit (angezeigt durch die pluralen Figurenzeiten), aber der Freund ihm wichtiger sei als die Herrschaft (V. 1508–1515). Im Unterschied zu Engelhards erpresserischem Verlangen gegenüber Engeltrud und zu Engelhards Drohung, mit Dietrich zu brechen, enthielt Dietrichs konditionaler Zukunftsentwurf nichts für den Freund Einschneidendes, keine Drohung.

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auch Gleichrangigkeit. In der erpresserischen Zukunftsspekulation nutzt eine Figur die Gewißheit, daß die andere in der Nähe und auf die erpressende bezogen sein werde (und das wolle oder müsse), um durch eine Schadenandrohung ein Herrschaftsverhältnis herzustellen: Der andere, nicht der Drohende, muß etwas Bestimmtes, das nicht seinem eigenen Entschluß entspringt, tun. Unter oder über der Erpressungsstruktur, die von Engelhard aus gedacht ist, liegt in den beiden vorgeführten Episodenteilen jeweils noch eine zweite, von Engeltrud und Dietrich aus gedachte, die entfernt an das Handlungsmuster der Ritter erinnert, die für ihre Damen in eine Liebesanderwelt eintauchen. Denn sowohl Engeltrud als auch Dietrich entsprechen Engelhards Willen nicht aus Furcht, sondern aus Liebe; sie beantworten das Herrschaftsbegehren, das in der erpresserischen Forderung steckt, durch ihr Handeln unter den für sie weiterhin gültigen Voraussetzungen der Gleichheit in der Liebe, so daß sie das Verlangte zwar tun, aber aus anderen Gründen. Von der Seite der erpreßten Figuren aus verlängert sich durch dieses Tun das gute Einvernehmen und der Bezug auf den geliebten Menschen in die Zukunft. Auf diese Weise stellen beide Engelhards Forderung, sein Zukunftsbild auszufüllen, ihre subjektive Verlängerung des eigenen Bildes von der Beziehungsgegenwart in die Zukunft gegenüber, es steht in dieser Hinsicht Geltungsanspruch gegen Geltungsanspruch, auch wenn sich sowohl Engeltrud als auch Dietrich faktisch dem Willen und der Forderung Engelhards unterwerfen. Wenn es dazu kommen kann, ist gemeinsames Plänemachen entwertet und weiterer synchronisierender Zukunftsbezug sinnlos, denn die Figurenpaare sind durch die Verdopplung der Planungsgrundlage zueinander asynchron gestellt.

VII.

Kindermord als Terminproblem

Engelhard hat mit Engeltrud zwei Kinder. Da er, genaugenommen, mit Engeltrud nicht in vollgültiger Ehe verheiratet ist,20 sind diese Kinder eigentlich nicht erbberechtigt; insofern lebt Engelhard in einer genealogischen Scheinwelt, von 20 Wenn Fruote seine Tochter dem vorgeblichen Engelhard nach dem Gerichtskampf zur Frau gibt, dann überspringt er damit einen Standesunterschied, der ihm zuvor unüberwindbar erschienen war (V. 3710–3715). Das ist vernünftig, wenn er ausschließen möchte, daß sich ein fremder Bräutigam über die deflorierte Braut beschwert. Zugleich bedeutet die Entscheidung aber auch eine sichtbare Wert- und mittelbar auch Standesminderung Engeltruds, die zuvor eine geeignete Braut für jeden König gewesen war, jetzt aber an den Höfling vergeben wird, der den Skandal immerhin zu begrenzen in der Lage war. Nach dem Sachsenspiegel fiele Engeltrud durch die Heirat in den Stand des Mannes (Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht, hg. v. Friedrich Ebel, Stuttgart 1993, Landrecht I, XLV, S. 55). Diese Ehefolge für Frauen kommt auch in Wolframs Parzival vor, wo Orilus sich außer diesem keinen Grund für Jeschutes Unzufriedenheit vorstellen kann (133,30–134,2). Es bleibt unklar, ob Engeltruds

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der Engeltrud auch Kenntnis hat. Sie hat jedoch an der Aufdeckung der rechtlichen Konstellationen ebenso wenig Interesse wie Engelhard (und wie der Erzähler an der Thematisierung der notwendigen Konsequenz zuvor mitgeteilter Einzelheiten). Die beiden Kebskinder, im Text seine einzigen und geliebt (V. 6252–6255), bringt Engelhard für seinen Freund um, wobei er in Terminprobleme kommt wie Iwein, der Lunete retten soll, denn er wird dreimal ohnmächtig (V. 6270f.), und sein Zeitfenster ist durch die Messe, die seine Frau besucht, begrenzt (V. 6242–6249). Diese zeitliche Konstellation zitiert Semantisierungsvorschläge aus Prätexten herbei: Zum einen bezieht sich Engelhard zutreffend auf den Kalender seiner Frau, aber nicht, um sie einzubeziehen, sondern im Gegenteil, um sie auszuschließen. Für diese nicht integrative, sondern exkludierende Synchronisation bietet der Artusroman mit Yvains/Iweins Alleingang zur Quelle in gewisser Weise eine Parallele. Engelhards Ausschluß der Königin ist wie im Iwein das Fernhalten einer Instanz, die ein Recht dazu hat, Einwände gegenüber dem eigenen Vorhaben zu erheben und Hindernisse aufzubauen. Wenn die Hörer von diesem Vorbild her dachten, dann brachte ihnen diese (auch in Strickers Daniel zitierte, also offenbar als wahrnehmbar vorausgesetzte21) Strukturparallele den Gedanken mit, Engelhard handele beim Plan zum Kindermord in erster Linie im Dienste und für den Nachweis seiner eigenen Vortrefflichkeit, was auch immer im Vordergrund der Erzählung von Figuren und Erzähler gesprochen werde. Zum anderen folgt die Ermordung der Kinder dem Muster der Rechtzeitigkeit,22 aber sie pervertiert es, weil es nicht um eine Rettung geht, für die die Zeit knapp wird, sondern um ihr Gegenteil, den Mord; ein rettendes Wunder ist nicht verheißen.23 Rechtzeitige Rettung ist eine Konstellation aus mindestens zwei nach Abstimmung strebenden Figurenzeiten, der einer aktiven und der einer passiven Figur, und einer dritten Figurenzeit oder den sicher vorhersehbaren Folgen eines Zufalls. Die dritte Figur bzw. die an den Zufall anschließende Kausalität ist der Zeitgeber, die Gefährdung für die passive Figur, der die aktive Stand auch so zu sehen ist; jedenfalls scheint ihr Erbrecht nicht beeinträchtigt, sonst könnte Engelhard nicht durch sie König werden. 21 Artus hat mit dem Riesen, den König Matur mit einer Herausforderung zur Unterwerfung geschickt hat, eine Frist von 7 Tagen ausgemacht, in denen er sein Gefolge sammeln will (ed. Resler 2. Aufl., V. 894–901 und 942). Daniel will diese Frist nicht abwarten und zieht voraus (V. 991–997). – Die Parallele zum Iwein wird auch bei Nitsche: Die Signifikanz (s. Anm. 6), S. 151 erwähnt. 22 Hier berufe ich mich auf früher Niedergelegtes: Störmer-Caysa, Uta.: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin / New York 2007, S. 121–147. 23 Nach der inneren Logik des tragischen Verhängnisses ist der Kindermord eine selbstzerstörerische und den Täter auf einen moralischen Tiefpunkt drückende Tat; so hat es Toepfer, Regina: Höfische Tragik. Motivierungen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen, Berlin / Boston 2013, bes. S. 274–282, herausgearbeitet.

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zuvorkommen muß. Dieses Muster wird im Engelhard auf den Kopf gestellt, indem die Strukturposition des Zeitgebers mit der Mutter der Kinder besetzt wird, die das passive Opfer (es sind zwei Kinder, aber sie werden wie eine einzige Figur geführt, erzählerisch nie getrennt) schützt, wogegen die aktive Figur (im etablierten Modell: der Retter) innerhalb des Zeitrahmens ihren Mord begehen muß. Anders als bei der rechtzeitigen Rettung besteht der Zielzustand nicht darin, daß die passive Figur der erzählten Welt und dem aktiven Helden in der Zukunft erhalten bleibt, sondern im Gegenteil in ihrer Streichung aus der Figurenliste. Auch in diesem Fall wird jemand, der das Schema der Rechtzeitigkeit in seiner Verkehrung wiedererkennt, daraus assoziativ eine Bewertung der Episode mitnehmen; denn die rechtzeitige Rettung ist ein Sonderfall der Synchronisierung, ein Baustein des tatoptimistischen und das einzelne Handlungssubjekt hochhaltenden Weltentwurfs im Ritterroman, ihre Verkehrung kann daher nicht richtig sein, solange ein Hörer oder Leser in dem Erzählen einen Weltentwurf sieht oder sehen möchte, der dem des Ritterromans ähnelt, was wiederum für den Engelhard mit seinen adeligen und hochadeligen Protagonisten und seiner Diskussion ehrenhaften und standesgemäßen Verhaltens keineswegs abwegig ist.

VIII. Dietrichs Figurenzeit: Entritterung Dietrich ist bis zu seiner Rückkehr vom Gerichtskampf für Engelhard vorbildlich mit den Kalendern der Höfe synchronisiert, mit denen er – selbst oder stellvertretend – zu tun hat. Er kommt, das wurde oben schon erwähnt, nicht nur rechtzeitig zum Gerichtskampf, sondern auch noch genau um die Zeit, die Engelhard für seine Rückkehr angekündigt hatte.24 Indem die Erzählung ihn aussätzig werden läßt, wechselt sie auch die Form der Figurenzeit: Dietrich fällt aus der Abenteuerzeit in einen Zustand dauernder Asynchronie gegenüber allen Zeitgebern eines Ritterlebens. Er verbringt seine Tage in einem Refugium. Handlungen als zeitverbrauchende und zeitstrukturierende Schrittmacher der Erzählung fallen aus: zunächst seine eigenen Handlungen, dann auch fremde Handlungen, die auf ihn als ihr Objekt zielen; sie werden allenfalls lebensrhythmisch verstanden und summarisch angedeutet. Seine Figurenzeit scheint stillzustehen,25 solange sich bei den Rahmenbedingungen – er ist zwar krank, wird aber gut versorgt26 – nichts

24 Vgl. oben unter V. 25 Feistner: Freundschaftserzählungen (s. Anm. 18), S. 126 merkt nebenher an, es handele sich um eine „statische Szenerie“. 26 Von Dietrichs Haus auf der Flußinsel wird erzählt, er kêrte gedulteclîche drîn / und was dar inne manegen tac / daz man sîn vil schône pflac / mit guoter handelunge („Er zog sich in

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ändert. Vor ihm, dem bis dahin und noch auf der Heimreise höfisch Vorbildlichen, weicht nach dem Ausbruch der Krankheit der eigene Hof im räumlichen und im sozialen Sinn zurück. In diese Etappe der Zeitlosigkeit fällt sein Hader mit dem harten Schicksal: got herre, wes hât mich gezigen dîn râche unmâzen grimmeclîch diu nû gevallen ûfe mich gar ungenædeclichen ist? (V. 5374–5377) Herr und Gott, wessen hat Deine über die Maßen grausame Rache, die nun ganz ohne Gnade auf mich gefallen ist, mich angeklagt?

Auch die Traumvision und -audition vom Engel, der Dietrich auffordert, sich balde ‚mutig/ unverzüglich‘ (V. 5456) nach Dänemark zu begeben, weil er dort gesunden werde (dâ vindestû gesuntheit, „da findest Du Gesundung“, V. 5457), fällt in diese Zeit. Die Szenerie auf der Insel hat Gemeinsamkeiten mit den oben beschriebenen Konstellationen der Asynchronie gegenüber sozialem Leben, in denen sich Ritter in anderweltähnlichen Räumen befanden, aus denen sie nur durch das Auftauchen Fremder erlöst werden können. Die Flußinsel (sie heißt meist wert, V. 5228, 5254, 5249, 5259, 5311, einmal einlant, V. 5264) ist als Handlungs- oder eher Nichthandlungsort nicht nur „ein sinnfälliges Zeichen von Einsamkeit und Distanz“27, sondern sie ist in Dietrichs erzähltem Leben ein Ort „exzeptionellen Daseins“,28 ein Ort ohne Rückkehr, insofern Anderweltphantasien verwandt.29 In ihr anderweltiges Immer bricht die Vision mit ihrer Aufbruchsaufforderung ein. An der Formulierung der Engelsbotschaft ist zweierlei auffällig: das temporal auffordernde balde und die Scheinbegründung des göttlichen Willens30 (dâ von wil got […], „daher will Gott […]“, V. 5460). Die Aufforderung zum eiligen Aufbruch scheint zu bezwecken, Dietrichs Zeitlosigkeit zu beenden; die Akausalität des vorgebrachten göttlichen Ratschlusses bindet eine mögliche Zukunft

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Geduld dorthin zurück und war darin längere Zeit, in der man sich sehr sorgfältig um ihn kümmerte und ihn gut behandelte“, V. 5266–5269). Feistner: Freundschaftserzählungen (s. Anm. 18), S. 125. Brunner, Horst: Insel, in: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch, hg. v. Tilo Renz / Monika Hanauska / Mathias Herweg, Berlin / Boston 2018, S. 316–330, hier S. 317. Zu den Übergängen über Wasser ins Anderland vgl. Klinger, Judith: Anderswelten, in: Literarische Orte (s. Anm. 28), S. 13–39, hier S. 19. Ebd. stellt Klinger auch fest: „Lineare wie zyklische Zeitstrukturen verlieren entsprechend ihre Bedeutung […].“ Um eine Scheinbegründung handelt es sich deshalb, weil die vorgebliche Begründung darin gesehen wird, daß Engelhard bisher immer bereit war, Dietrichs Geselle zu sein (V. 5458f.); wie daraus folgerichtig abzuleiten sei, daß Gott von ihm einen Kindermord verlange, bleibt unbestimmt.

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für Dietrich (das, was Gott will) an eine Vergangenheit (gewissermaßen unter Umgehung der zeitenthobenen Gegenwart). Nach sorgfältiger Selbstbefragung hält Dietrich die Botschaft des Engels für eine Versuchung, die er durch acedia provoziert habe: ich hæte unrehte mich bedâht, dô mich trâkheit nider warf. diu mære der ich niht bedarf, diu sint mir komen hiute für. dar an sô prüeve ich unde spür daz mîn got kleine ruochet, sît daz er mich versuochet mit üppeclichen tröumen. (V. 5494–5502) Ich hatte schlecht auf mich geachtet, als mich die Trägkeit niederwarf. Heute ist mir Kunde zugekommen, die ich nicht brauche. Daran, daß er mich mit entbehrlichen Träumen versucht, erkenne und erspüre ich, daß sich Gott wenig um mich kümmert.

Dietrich verwirft also für sich den Weg, den der Traum ihm eröffnete, er bleibt auf seiner Insel in seinem Haus, will die Öffnung der Anderwelt durch eine zufällige Macht nicht annehmen. Aber wie er zuvor durch die Krankheit aus der Abenteuerzeit in die Asynchronie gegenüber allem und allen gefallen war, so fällt er jetzt aus allen Zeitformen, die der Artus- und Gralroman in festen Mustern etabliert haben. Plötzlich scheint er einer chronikalischen Zeit fortschreitender Verschlechterung ausgeliefert, die ihn zum bearbeiteten Objekt macht: Es hat offenbar damit zu tun, daß er manege stunde („lange Zeit“, V. 5572) so weiterlebt und die Krankheit fortschreitet (V. 5588–5591), wenn ihn Verwandte und Dienstleute schließlich weniger ehren und versorgen (V. 5574–5579), niemand ihn mehr besucht (V. 5585–5587) und er zuletzt auch schlecht verpflegt wird (V. 5592–5595). Der Erzähler findet das normal und stellt einen Zusammenhang zwischen Länge und Grad der Krankheit und Entwürdigung her (V. 5598–5601); es wird also plötzlich ein Unterworfensein des früheren Handlungssubjekts unter vergehende, verformende Zeit als etwas in der erzählten Welt Übliches behauptet, ein Unterworfensein, das dem bisherigen Verhältnis der Hauptfiguren zu ihrer Handlungszeit nicht entsprach, eine Determination, die der Ritterroman nicht kennt (Anklänge davon gibt es im Legendenroman, z. B. im Armen Heinrich). Konrad läßt Dietrich die Veränderung bewußt werden und darüber reflektieren; dieser beschließt, um der Würde seines Lebens willen zu Engelhard überzusiedeln – und die Erzählung räumt ihm augenblicklich so viele noch verbliebene Glücksgüter ein, daß er den Vorsatz verwirklichen kann, denn ein schiffelîn („Schiffchen“, V. 5670) muß ja ausgerüstet werden und fährt nicht allein. Engelhard bleibt handlungsorientiert und dadurch in der Ritterzeit: Er

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läßt ein Haus bauen, er besucht, er fragt nach Bedingungen der Erlösung. Dietrich wechselt durch diese Fragen abermals die Zeitform seiner Figur:31 Als bewußt Leidender ist und bleibt er Subjekt seiner Entschlüsse wie ein Legendenheiliger. Dann bringt ihn Engelhards Erpressung an seinen moralischen und kognitiven Tiefpunkt, von dem aus er den Traum einerseits nun als Engelsbotschaft über eine von Gott stammende Nachricht erzählt (V. 5986–5989), wobei er andererseits sofort anfügt, Gott möge die Kinder vor solchem Schicksal schützen (V. 5990f.). An dieser Stelle der Handlung haben beide Hauptfiguren einen negativen Zukunftsbezug, sie sind nicht nur zueinander asynchron (wie vorn gezeigt wurde), sondern erwarten auch für die Zukunft nichts Gutes, weder aus ihrem eigenen Handeln noch aus dem anderer oder aus dem Wirken von Umständen: Dietrich, weil er weiteres körperliches Leiden erwartet und mit der Möglichkeit rechnen muß, den Tod von Engelhards Kindern verschuldet zu haben, Engelhard, weil er vor der dilemmatischen Wahl steht, den Freund weiter leiden zu lassen oder seine Kinder zu erschlagen. Ein negativer Zukunftsbezug ist dem Ritterroman völlig fremd; und daß er auch noch zwei Figuren zusammenklammert, die im früheren Verlauf mit Zeitmustern wie im Ritterroman ihre Zukünfte aufeinander beziehen konnten, zeigt die Grenzen und das Ende der Ritterwelt um und für die Figuren an, weil sich die genaue Umkehrung des Modells von Synchronie als Beziehungsindikator kaum anders lesen läßt.

IX.

Asynchronie als Begegnungsraum des Unmenschlichen und des Wunders

Im Entscheidungsmonolog antizipiert Engelhard mögliche Folgen des Kindesmordes.32 Das zugrundeliegende Denkmuster der Kausalität unterstellt eine gemeinsame, grundlegend progressiv angelegte Zeitleiste für die soziale Umwelt und ihn selbst. Engelhards Zukunftserwartung bezieht sich aber nicht nur auf die Reaktionen der Menschen, sondern auch auf das Handeln Gottes, das in einem Verhältnis der Verheißung und Erfüllung gesehen wird. Verheißung und Erfüllung bilden kein kausales Muster, weil nicht Handlungsfolgen beschrieben werden, aber sie sind ein Synchronisationsmuster, das dem des Eides ähnelt: Der Verheißende verspricht für die Zukunft, der Verheißende schafft diese Zukunft; 31 In diesem Fall liegt nahe zu vermuten, daß die einzelnen personae, in denen die Figur auftritt oder in die sie zerfällt, jeweils durch einen Wechsel in der Figurenzeit markiert sind. Nach diesem Zusammenhang auch in anderen Texten zu suchen wäre sicher lohnend. 32 Jâ wil ich biz an mînen tôt / mit îsen zallen stunden / dar umbe sîn gebunden („O, ich will deswegen bis zu meinem Tod immer mit Eisen gefesselt sein“, V. 6160–6162).

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der Adressat der Behauptung bleibt Objekt oder Beobachter des Zukunftsversprechens wie des Handelns. Engelhart rechnet also damit: Enwolte niht der werde got daz noch geschæhe ein wunder hie, sîn heilic engel wære nie ze Dieterîche komen dort. (V. 6174–6177) Wenn Gott in seiner Würde nicht wollte, daß hier noch ein Wunder geschähe, dann wäre sein heiliger Engel nie dort zu Dietrich gekommen.

Da das verheißene Wunder an eine vom Menschen Engelhard zu schaffende Voraussetzung gebunden war, ist sich Engelhard sicher, die Erfüllungszeit für das Wunder in sein Hier und Jetzt rufen zu können. Das ist Synchronisation, aber nicht mit Menschen, sondern mit Gott, mit dem sich Engelhart gewissermaßen verabredet, weshalb er dem angesichts des Blutes verzweifelten und an der Heilung zweifelnden Gefährten auch sagen kann: geselle mîn, daz stât an gote, […], ob si [die arzenîe] dich hilfet oder niht („Mein Gefährte, ob sie [die Arznei] Dir hilft oder nicht, das hängt von Gott ab“, V. 6331–6613). Zwischen dem Entscheidungsmonolog und diesem Satz hat Engelhard seine Kinder umgebracht.33 Die dann folgenden Handlungen bis zu Dietrichs Heilung werden erzählt, als bestünde die Welt nur aus Engelhard, Dietrich und Gott, dessen Dazustoßen erwartet wird. Engeltrud ist völlig aus der erzählten Geschichte verschwunden und wird auch nicht wieder auftauchen. Der König geht mit zwei Gefäßen voll Blut, die er eigenhändig trägt, aus dem Zimmer, aus der Burg, zu Dietrichs Leprosenhaus, aber niemand sieht ihn, niemand fragt ihn – die Welt ist weg, Engelhard komplett entsynchronisiert von seiner Familie und seinen Dienstleuten, ja von allem Menschlichen, denn die völlige Asynchronie gegenüber der Umgebung setzt mit der Überschreitung der Grenzen des Menschlichen ein. Für die nächsten Handlungsschritte sind am Schauplatz ‚Leprosenhaus‘ anwesend: Dietrich, der seinerseits schon lange asynchron gegenüber

33 In Konrads Schilderung wird der Kindesmord als klare Überschreitung der Grenzen des Menschlichen markiert, weil dem Rezipienten die Vorstellung des Ausblutens eigenhändig geschlachteter Kinder in ein Gefäß hinein nicht erspart wird, vgl. V. 6288–6291: diu houbet er in abe schriet / und nam zwei schœne beckelîn: / ir bluot enpfienc er allez drîn / und îlte dan mit leide sider („Die Köpfe schnitt er ihnen ab und nahm zwei schöne Gefäße; all ihr Blut fing er darin auf und eilte danach leiderfüllt von dannen“). Den Hinweis auf Lukians ‚Hohelied der Freundschaft (Toxaris)‘, das Grenzüberschreitungen wie das Schlachten der eigenen Kinder als herausragende Freundestaten aufführt, gibt meines Wissens zuerst Edith Feistner (Freundschaftserzählungen, wie Anm. 18), S. 97. Witthöft, Christiane: Selbst-loses Vertrauen? Probleme der Stellvertretung im ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg und im ‚Nibelungenlied‘, in: Frühmittelalterliche Studien 39 (2006), S. 387–409, hier S. 398 erklärt die Parallelen genau.

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seiner ehemaligen höfischen Umwelt lebt; Engelhard, der sich soeben aus der seinen herausgeschnitten hat; Gott (der sich nicht sehen läßt, aber Wirkungen produziert). Dieses Synchronisierungsarrangement ist Engelhards Leistung und der Ort des Wunders. Nur die Rettung der Kinder bleibt noch Gottes verborgenes Wirken, alles andere ist nahezu Auftragswerk. Das Wunder wird durch Engelhards Tun, das die in der Verkündigung angesprochenen Voraussetzungen schafft, herbeigerufen und tritt sofort ein; es scheint völlig unerheblich, daß der Engel Dietrich anempfohlen hatte, zuversichtlich und schnell aufzubrechen – was Dietrich in der Überzeugung, die Verheißung sei eine Versuchung, ja nicht getan hatte. Dieses Wunder setzt sich also sogar über den zeitlichen Anteil der Bedingung in der Verheißung hinweg; seine magische Achronie erscheint als Steigerung der Asynchronie gegenüber der höfischen Menschenwelt.

X.

Deutungshorizonte

Aus dem bisher Erwogenen hat sich ergeben, daß den Engelhard mehrere Formen der Verkehrung und Umsemantisierung vorgedeuteter Raumzeitkonstellationen mit dem höfischen Roman, insbesondere dem Artusroman, verbinden; dabei stand die Asynchronie am Ende einer Skala und für die Unfähigkeit oder Verweigerung, sich mit einer höfischen Bezugswelt in Beziehung zu setzen. Am Ende des Romans, an dem sich Anleihen bei der Legende34 verdichten und sich das Heilungswunder ereignet, trat eine andere Funktion der Asynchronie gegenüber der höfischen Welt dazu: Sie ist ein Aspekt der Zeitlosigkeit des Wunders. Da nun, wie sich gleichfalls zeigte, Dietrich der Spezialist für die Synchronisierung mit der höfischen Welt war,35 bis sie ihn verstieß und er in neuen Rollen neue Zeitformen erfahren mußte, während Engelhard es mit der Synchronisation mit der höfischen Welt nicht genau nahm, aber erstaunliche Fähigkeiten in der Synchronisation mit dem Numinosen entwickelte, erfordert die unternommene 34 Zu Ähnlichkeiten zur Legende vgl. Göttert, Karl-Heinz: Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen: Heinrichs des Glichezâre ‚Reinhart Fuchs‘ und Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘, Köln 1971, S. 171–201, bes. S. 195ff. 35 Von Dietrich werden Übertretungen ständischer oder menschlicher Normen nicht erzählt. Allerdings erscheint es dem Erzähler nicht weiter begründungsbedürftig, daß Dietrich Ritschier, der nur Engelhards, aber nicht sein Gegner ist, in einem Kampf um Leben und Tod um eine Hand bringt. Wenn man hier einen Grund suchen sollte, der nicht von der Vorlage her argumentiert, könnte man sagen, daß sich Dietrich gewissermaßen mit der Ruchlosigkeit des Engelhard in Sachen Recht und Gerechtigkeit infiziert, indem er als Engelhard auftritt.

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Versuchsreihe, Dietrich und Engelhard nicht von vornherein als Doppelfigur, sondern vielmehr als zwei Figuren eigenen Rechts zu begreifen.36 Die Verschiedenheit wächst zudem, denn in den beiden Figuren dissoziiert sich im Verlaufe der Handlung ihre Gemeinsamkeit im Hinblick auf Lage und Eigenschaften. Auf der Ebene der Rezeption löst sich dadurch eine Einheit, die die Ritterfiguren im Artusroman auszeichnete: Dort pflegten die wichtigen Figuren sowohl die Rückbindung an die Standesgenossen jederzeit und in bewährten Formen zu suchen und das erzählte Leben handelnd zu verbringen. Indem Hörer oder Leser durch Strukturparallelen auf ihr Literaturwissen angesprochen werden und Interpretationsgedanken fassen, die sie aus dem Vergleich mit den vorsemantisierten Vorbildern schöpfen, entsteht die Kontur eines Verhältnisses zum Vorbild des höfischen Romas: Der Engelhard spricht (unter anderem) davon, wie höfisches Leben kollabiert, wenn die Edlen, deren Leben die Tugenden des Adels trägt, weniger Edle als ihresgleichen ansehen und die Verantwortung für deren Fehlgriffe mit übernehmen, während das Glück diese Fremden in ungeahnter Weise begünstigt. Damit ist nicht genau gemeint, der Engelhard sei eine Aufsteigergeschichte,37 als welche er in der EngelhardForschung mehrfach diskutiert wurde.38 Die Überbetonung des Aufstiegs wird dadurch verhindert, daß Engelhard sich so gut darauf versteht, das Wunder zu 36 Urban: Gleiches (s. Anm. 11) denkt in seiner Einleitung, S. 1–69 über die Denkfiguren der Entdifferenzierung und der Differenzierung nach. Er bindet die Einheitsbilder an den Gedanken der ähnlichen Abbilder des Einen (S. 10, S. 51) und die Entdifferenzierung mit René Girard an Grundmuster der Sozietätsbildung, in denen die Gleichen gegenüber einem Dritten gerade durch ihren Bezug aufeinander zu Rivalen werden (S. 53f.); da beide Überlegungen auf je anderen Ebenen plausibel sind, können sie einander auch nicht aufheben, so daß die Differenz innerhalb der Einheit immer mitbedacht sein muß. Zu Ähnlichkeit und Gleichheit von Engelhard und Dietrich unter den Gesichtspunkten von Freundschaft und Liebe vgl. Kraß, Andreas: Ebenbildlichkeit. Symbolik der Freundschaft im Engelhard Konrads von Würzburg, in: Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter, hg. v. Marina Münkler / Antje Sablotny / Matthias Standke, Heidelberg 2015, S. 251–268, bes. S. 260–268. 37 Für das Verständnis auch früherer und literarischer Texte über Aufsteiger erhellend ist Petersohn, Jürgen: Die Vita des Aufsteigers. Sichtweisen gesellschaftlichen Erfolgs in der Biografik des Quattrocento, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 1–32. Petersohn erklärt S. 7 das Verhältnis zur rhetorischen Tradition, die Spielarten der Behandlung des Elternhauses vorgibt, und stellt S. 19 Typen des literarischen Verhaltens zur bescheidenen Abkunft des in der Vita gewürdigten Menschen dar. 38 Vgl. Herzmann, Herbert: Die alte Ordnung und der neue Mensch. Zum ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg, in: Sprache – Text – Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964–1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, hg. v. Peter K. Stein u. a., Göppingen 1980, S. 385– 407; Brunner, Horst: Genealogische Phantasien. Zu Konrads von Würzburg ‚Schwanritter‘ und ‚Engelhard‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 110 (1981), S. 274–299, bes. S. 295–298. Das Thema des Aufstiegs ist auch für Hartmut Kokott kennzeichnend für den Text: Kokott: Konrad von Würzburg (s. Anm. 14), bes. S. 46.

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managen und die Äußerungsformen göttlichen Willens für sich auszunutzen. Das ist eine Kompetenz, in der ihn niemand in der erzählten Welt erreicht; die Erweckung der Kinder bestätigt ihn in diesem instrumentellen Umgang mit dem Numinosen. Man muß sich also Gott und das Göttliche wohl am ehesten mit ‚Herr des Zufalls‘ und ‚Herr des Glücks‘ übersetzen, wenn nicht sogar ‚Zufall‘ und ‚Glück‘ in Frage kommen, wenn man über den Engelhard nachdenkt. Vom Glück oder göttlichen Ratschluß und Wunder begünstigt zu sein ist aber ohne Zweifel etwas überaus Erstrebenswertes, auch in dieser erzählten Welt; so entsteht das ambivalente Bild einer Figur, die sich verschiedener Rücksichtslosigkeiten und Übertretungen schuldig macht, die aber in beispielloser, nur durch ein einziges Verdienst (die Freundestreue) begründbarer Weise vom Zufall oder Glück oder göttlichen Ratschluß begünstigt ist. Engelhard schwächt die höfische Welt; dadurch ist keine ihr angehörige Figur am Ende noch so mächtig, deren alte Regeln zu retten. Engelhard selbst, der sich durch mehrfache Ausnahme vom Geläufigen auszeichnet, der in einer Ehe lebt, die nicht über jeden Zweifel erhaben ist, mit einer Frau, die erstaunlicherweise den Thron erbt, übt sein Königtum so aus, daß die einzige erzählte Konsequenz in der Absetzung von Landesfürsten, denn Herzogtümer lassen sich nicht beliebig schaffen, zugunsten seiner Verwandten (V. 5120f.) und in der Belohnung früherer Unterstützer (V. 5124–5127) besteht. Dieser Engelhard ist die einzige Figur, die am Ende der Handlung über die Macht verfügt hätte, Dietrich, den zu heilen auch nur er die Mittel hatte, notfalls gewaltsam wieder in seine Herrschaft einzusetzen – aber das nimmt der Geist der Erzählung ihm ab.

Epochen, Rezeptionen und Konstruktionen von Vorzeitigkeit

Anita Traninger

Alte Dialektiker und neue Dichter: Asynchronien im Epochenkonstrukt der Renaissance

In dem mittlerweile als Theorieklassiker anzusehenden Nous n’avons jamais été modernes geht es Bruno Latour um eine Kritik der Separation von Natur und Kultur als phantasmagorischem und zugleich fundierendem Vorhaben der Moderne. Latour hat freilich auch etwas – und daher kommt er an dieser Stelle ins Spiel – zu multiplen Temporalitäten und Asynchronien zu sagen. Um seinen Punkt nachvollziehbar zu machen, zitiere ich in voller Länge seine Spiralmetapher, die er zur Illustration der Relativität von Kontemporanität einführt: Nehmen wir zum Beispiel an, daß wir die gleichzeitigen Elemente entlang einer Spirale anordnen und nicht mehr entlang einer geraden Linie. Wir haben dann sehr wohl eine Zukunft und eine Vergangenheit, aber die Zukunft hat die Form eines sich in alle Richtungen ausweitenden Kreises, und die Vergangenheit ist nicht überholt, sondern wird wiederholt, aufgegriffen, umschlossen, geschützt, neu kombiniert, neu interpretiert und neu geschaffen. Elemente, die entfernt scheinen, wenn wir der Linie der Spirale folgen, lassen sich sehr nahe beieinander wiederfinden, wenn wir verschiedene Windungen vergleichen. Umgekehrt können Elemente, die auf der Linie der Spirale sehr nahe beieinander, d. h. gleichzeitig sind, sich sehr weit voneinander entfernen, wenn wir einen Radius durchlaufen. Mit einer solchen Zeitlichkeit sind wir nicht mehr gezwungen, die Etiketten ‚archaisch‘ oder ‚fortgeschritten‘ zu verwenden, denn jede Kohorte zeitgenössischer Elemente kann Elemente aus allen Zeiten zusammenfügen. In einem solchen Rahmen werden unsere Handlungen endlich als polytemporal anerkannt. Möglicherweise benutze ich außer einem elektrischen Bohrer auch einen Hammer. Der erste ist 25 Jahre alt, der zweite Hunderttausende von Jahren. Bin ich deshalb schon ein Bastler ‚von Gegensätzen‘, weil ich Gesten aus verschiedenen Zeiten mische? Bin ich eine ethnographische Kuriosität? Man sollte mir im Gegenteil eine Aktivität zeigen, die unter dem Gesichtspunkt der modernen Zeit homogen ist.1

Was Latour hier skizziert, ist eine tiefe Einsicht über Polytemporalität: Sie ist der Normalzustand der menschlichen Existenz, denn Praktiken stützen sich in 1 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. v. Gustav Rossler, Berlin 1995, S. 102–103 (mit meinen Änderungen).

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der Regel auf und speisen sich aus Technologien, die unterschiedlichen Zeitschichten entstammen und uns dennoch kontemporär zur Verfügung stehen, ohne dass ein Zeitindex ihren Gebrauch differenzierte. Wenn wir auf den ‚Werkzeugkoffer‘ des Renaissancehumanismus blicken, erweist sich sofort die Treffsicherheit von Latours polemischer Spitze gegenüber der allenthalben anzutreffenden diskursiven Purifikation im Angesicht ubiquitärer Polytemporalität: Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die das humanistische Methodeninventar unterfüttern und dabei nicht nur normative Textcorpora überliefern, sondern auch langfristig stabile Praktiken etablieren, entstammen zwar allesamt der Antike; die Dialektik war dabei im Mittelalter signifikant elaboriert und insbesondere mit der hoch regulierten mündlichen Disputation verknüpft worden; die Rhetorik verlor dem gegenüber an Prägekraft, war aber als Thema und Methode durchweg in den Bildungsinstitutionen präsent. Im Agon der Renaissance wurde nun die vergleichsweise rezente, wenn nicht gar im weiten Sinn kontemporäre Neufassung der Dialektik als überkommene Verirrung recodiert, die Rhetorik hingegen als durch Anciennität geadeltes, zugleich aber neues Remedium dagegen gesetzt. Diejenigen, die sich in der Renaissance selbst poetae zu nennen pflegen und die Rhetorik propagieren, zogen gegen die dialectici signifikante, weil strikt wertende Zeitebenen ein. Die nachzeitigen Beobachter*innen folgten ihnen darin: In Analogie zur epochalen Bruchkonstruktion von Mittelalter und Renaissance wurden Scholastik und Humanismus als einander ablösende ‚Epochen‘ konstruiert und in einer Überwindungsbeziehung zueinander gedacht. Die fundierende Asynchronie der Historiographie der Renaissance besteht in der emphatischen Sequenzialisierung nicht allein des Gleichzeitigen, sondern auch im Fingieren von Temporalitäten. Dies schlägt metonymisch auf die Mikroebene durch: Dialektik und Rhetorik wurden so in ein zeitliches Überwindungsverhältnis gesetzt. Mehr noch: Die epochalen Alt-Neu-Behauptungen wurden mit einer personalisierten Alteritätskonstruktion verkoppelt, die einerseits Vergangenes und Gegenwärtiges als anthropologischen Alt-Jung-Gegensatz inszenierte und dem Verhältnis andererseits ein Kulturstufengefälle unterlegte. Ich werde im Folgenden mit Francesco Petrarca eine frühe und maßgebliche Stimme in dieser Debatte, die im Rückblick zum Epochenstreit der Renaissance wurde, zu Wort kommen lassen, seine Alteritätskonstruktion mit anderen Alteritätsfiktionen in Beziehung setzen und schließlich zeigen, welche langfristigen Folgen durch die Spiegelung der Objektebene auf der historiographischen Beschreibungsebene gezeitigt wurden.

Alte Dialektiker und neue Dichter

I.

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Senes dyaleticos

Als erster Stichwortgeber und Propagator der Inversion der mittelalterlichen Disziplinenhierarchie, in der die Dialektik im Kontext des Entstehens der Universitäten zur Leitdisziplin geworden war, gilt gemeinhin Francesco Petrarca (1304–1374). Petrarca bezog sich an zahlreichen Stellen, meist freilich sehr unspezifisch, auf die zeitgenössische Logik, doch gelten seine Invektive De sui ipsius et multorum ignorantia (1367) einerseits und einige Briefe an Tommaso Caloiro aus Messina andererseits als Architexte der rinascimentalen Debatte über das Verhältnis von Rhetorik und Dialektik.2 Die Verabschiedung der Dialektik eröffne das ‚Zeitalter der Rhetorik‘, als das die Renaissance verschiedentlich etikettiert wurde. Insbesondere im Brief Familiares I, 7 „Contra senes dyaleticos“ kritisiert Petrarca neben der Streitlust und der sprachlichen Grobheit der Dialektiker vor allem, dass die Dialektik als Lebensaufgabe gesehen werde, wo sie doch allein ein Schulfach für die Jugend sein solle: „potest pars esse matutina, non serotina“ („sie kann ein Teil [des Lebensweges] am Morgen sein, nicht am Abend“).3 Dennoch sei er, Petrarca, keineswegs gegen den Unterricht in der Dialektik, weil sie Geistesgegenwart lehre und auch von den antiken Sprach- und Stilvorbildern wie Cicero befürwortet worden sei – dies alles allerdings nur im Sinne eines Propädeutikums, das den Weg zu höheren Studien eröffne. Wenn sich daher Dialektiker nicht von den Studien trennen können, die sie als junge Knaben betrieben haben, dann sollten sie insgesamt zu den Spielen ihrer Kindheit zurückkehren – oder sich gleich wieder in der Wiege schaukeln lassen („si enim dyalectice scolas, quod in eis pueri lusimus, senes relinquere nescimus, eodem iure nec par impar luere nec arundine tremula equitare pudeat nec rursum cunis infantilibus agitari“).4 Er wolle freilich nicht die Dialektik verdammen, sondern allein die senes pueros, die greisen Kinder oder kindischen Greise, denn es gäbe nichts Garstigeres als einen alten Dialektiker („sic nichi dyaletico sene defor-

2 Petrarca, Francesco: Le familiari. Lateinisch – italienisch, 2 Bde., übers. mit Anm. u. Einführung v. Ugo Dotti, Rom 1991–1992, hier bes. I, 7, Bd. 1, S. 50–55, und I, 12, Bd. 1, S. 79–81; ebenso Petrarca, Francesco: De sui ipsius et multorum ignorantia. Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Lateinisch – deutsch, übers. v. Klaus Kubusch, hg. u. eingel. v. August Buck, Hamburg 1993. Affirmativ zu Petrarcas Position Seigel, Jerrold E.: Rhetoric and Philosophy in Renaissance Humanism: The Union of Eloquence and Wisdom, Petrarch to Valla, Princeton, NJ 1968, S. 31–62; kritisch, v. a. im Hinblick auf Petrarcas eingeschränkte Informiertheit über die zeitgenössische scholastische Dialektik, Gilbert, Neal W.: The Early Italian Humanists and Disputation, in: Renaissance. Studies in Honor of Hans Baron, hg. v. Anthony Molho / John A. Tedeschi, Florenz 1971, S. 203–226. 3 Petrarca, Fam. (s. Anm. 2), I, 7, S. 54. Meine Übersetzung. 4 Ebd.

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mius“).5 Das Verhältnis von ‚alt‘ und ‚jung‘ ist mithin beweglicher und im alten Sinn topisch dynamischer argumentativ einsetzbar als Ernst Robert Curtius’ Textauswahl zur Unterfütterung des von ihm konstruierten „Topos“ vom „puer senex“, in dem Respekt vor dem Alter und staunend machende Frühreife gebündelt seien, anzeigt.6 Natürlich ist es eine strategisch motivierte Polemik, dass Dialektiker mehr oder weniger senile Greise seien, was sich allein schon daran zeigt, dass dieses Etikett allen Lehrern der Logik angeklebt wird. Die damit ungelöst bleibende Frage, wer denn dann die Studenten in der Dialektik unterrichten solle, enttarnt Petrarcas von vielen Generationen von Renaissancegelehrten für maßvoll und zutreffend gehaltene Anwürfe als polemische Überzeichnung. Der in die Jahre gekommene Dialektiker wird zur Allegorie einer Praxis, der so ein temporaler Index unterlegt und die so in Analogie zu den tenebrae gesetzt werden kann. Ende des Lebens, Ende der Epoche. Dass Petrarcas verstreute Bemerkungen zur und hyperbolische Attacken auf die Dialektik so viel Aufmerksamkeit auf sich zogen,7 liegt ohne Zweifel an seiner Stilisierung zu einer die Epochenschwelle verkörpernden Figur. Mit seinem Wort von den tenebrae, die die europäische Geschichte seit der Antike verschattet hätten, und der Vision des Anbruchs einer neuen Zeit, die eine Wiedergeburt der antiken Zivilisation bedeute, ließ sich Petrarca trefflich als historischer Garant für den Renaissance-Begriff des 19. Jahrhunderts in Dienst nehmen.8 Petrarca, der sich Cicero, Quintilian, Titus Livius, Horaz, Vergil und andere antike Autoren als Adressaten seiner privaten Briefe erwählte und so den programmatischen Rückbezug auf das Altertum im Sinne eines persönlichen Vertrauensverhältnisses beschwor, scheint zwei wesentliche Charakteristika des Renaissance-Begriffs als ‚Urvater‘ zu verkörpern: die emphatische Hinwendung zur Antike in Verbindung mit einer aggressiven Abwendung von der zwar zeitgenössischen, aber als veraltet denunzierten Scholastik. Diese Stilisierung des Heraustritts aus dem dunklen Mittelalter wird freilich durch die Tatsache unterminiert, dass Petrarca zwar bereits der dritten Generation von Humanisten angehörte,9 dass aber sowohl sein antikisierender Humanismus als auch die Scholastik gerade erst im Begriff waren, in Italien Fuß zu fassen, und unmittelbar konkurrierende, 5 Ebd. 6 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen / Basel 11 1993, S. 108–112. 7 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Périgot, Béatrice: Dialectique et littérature: Les avatars de la dispute entre Moyen Âge et Renaissance, Paris 2005. 8 Siehe dazu Stierle, Karlheinz: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Epochenschwellen und Epochenbewusstsein, hg. v. Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–492, bes. S. 454–455. 9 Siehe Witt, Ronald G.: In the Footsteps of the Ancients. The Origins of Humanism from Lovato to Bruni, Leiden / Boston / Köln 2000, passim.

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zeitgenössische Bewegungen waren, wobei der scholastischen Logik weit größeres Ansehen und auch institutionelle Unterstützung zuteil wurden.10 Petrarcas Äußerungen sind daher keine interesselose Diagnose des Status quo,11 sondern vielmehr ein Versuch, die eigenen humanistischen Studien gegenüber zeitgenössisch hochaktuellen Trends zu positionieren, zu rechtfertigen und ihnen gegenüber einer kleingeredeten Dialektik ‚lebenspraktisches‘ Gewicht zu geben.12 Wie John Monfasani noch für das 15. Jahrhundert formuliert: „[…] the task of humanism and humanist rhetoric was not to give the final fillip to the overthrow of a dying and decaying scholastic culture, but rather to compete with the increasing popularity in Italy of scholasticism and scholastic logic.“13

II.

Barbari britanni

Petrarcas teils überaus pointierte Schmähungen der Dialektiker sind vor dem Hintergrund zu lesen, dass zu seinen Lebzeiten Mitglieder von Bettelorden, die zwischen 1340 und 1380 in Oxford studierten, die neuesten Entwicklungen der britischen Logik nach Italien brachten14 und dass sich mit den ‚barbari britanni‘ eine hinreichend exotische und vor allem mit der antiken Antagonistenfigur des ‚Barbaren‘ verrechenbare Kontrastgruppe konturieren ließ – auf die Alteritätskonstruktion des Barbarischen ist gleich zurückzukommen.15 Neben das vermeintlich Greisenhaft-Kindische der Dialektiker trat als zweite Denunziationsschiene die der Fremdheit, in der polemischen Formulierung der Zeit: barbaria. Dem Barbaritätsvorwurf ist freilich gleichermaßen eine Temporalität einge10 Kristeller, Paul Oskar: Petrarca, der Humanismus und die Scholastik, in: Petrarca, hg. v. August Buck, Darmstadt 1976, S. 261–281; Hankins, James: Humanism, Scholasticism, and Renaissance Philosophy, in: The Cambridge Companion to Renaissance Philosophy, hg. v. dems., Cambridge 2007, S. 30–48, bes. S. 39–40. 11 So beispielsweise Vasoli, Cesare: La dialettica e la retorica dell’Umanesimo. ‚Invenzione‘ e ‚Metodo‘ nella cultura del XV e XVI secolo, Neapel 22007 (11968), hier S. 44–45. Obwohl Vasoli den Import der britischen Logik als aktuelle Entwicklung zu Zeiten Petrarcas vermerkt, findet sich diese Beobachtung in einem Kapitel mit der Überschrift „‚Antichi‘ contro, moderni“. 12 Vgl. Ashworth, E. Jennifer: Language and Logic in the Post-Medieval Period, Dordrecht / Boston 1974, S. 9. Vgl. auch Perreiah, Alan: Humanistic Critiques of Scholastic Dialectic, in: Sixteenth Century Journal 13 (1982), S. 3–22, hier S. 22. 13 Monfasani, John: George of Trebizond. A Biography and a Study of his Rhetoric and Logic, Leiden 1976, S. 248. 14 Grendler, Paul F.: The Universities of the Italian Renaissance, Baltimore / London 2004, bes. S. 249–266, hier S. 258 mit Hinweisen auf weitere Sekundärliteratur. 15 Zur semantischen Verschiebung des Barbarischen von der „räumlich lesbare[n] Unterscheidung“ zu einem „universale[n] Abschichtungskriterium“ s. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 211–259.

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schrieben: Zum einen evoziert er eine historisch distante, antike Dichotomie, zum anderen impliziert er eine Perfektibilität des noch nicht Kultivierten. Der Begriff des Barbaren, der bemerkenswerterweise in der Forschungsliteratur zum Renaissancehumanismus in den akademischen Meta-Diskurs gewechselt ist und dort vielfach fast wie ein Fachterminus die scholastischen Philosophen bezeichnet,16 ist nur auf den ersten Blick eine naheliegende Bezeichnung. Hans Grünberger hat auf den semantischen Wandel hingewiesen, den der Begriff aus dem xenographischen Diskurs der Antike spezifisch im Humanismus erfuhr. Immer schon waren die Barbaren die jeweils anderen, das Nicht-Wir. Während der Begriffskern der rohen Sitten und Gebräuche erhalten bleibt und „‚zivilisatorische‘ Konnotationen sogar verstärkt erscheinen“, wird nun der Barbar aus der ‚Fremde‘ entlassen und das Unvertraute durch (vermeintlich) Vertrautes ersetzt. […] Viele der Barbaren, denen sich die Humanisten widmen, teilen die gleichen Voraussetzungen mit den Nicht-Barbaren. Diskriminiert wird also vornehmlich unter ansonsten Gleichen, und so unterscheiden sich die Barbaren nur dadurch, daß sie bezüglich einiger angenommener erreichter Standards lediglich abweichen.17

Wenngleich neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Logik im 14. Jahrhundert von italienischen Bettelbrüdern aus Oxford und Cambridge importiert wurden und beispielsweise die Dialogpartner in Leonardo Brunis um 1400 geschriebenen Dialogus ad Petrum Paulum Histrum nicht genug über die exotischen Namen der britischen Logiker spotten können,18 stellt sich doch zunächst die Frage: Waren die Lehrmeister des ‚barbarischen‘ Lateins der Logik tatsächlich ‚Teutonen‘? Das Lehrbuch, das zumindest in Nordeuropa in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Schritt für Schritt die traditionellen Lehrwerke der Dialektik ersetzen sollte, war die Dialectica des Kölners Johannes Caesarius (ca. 1468– 16 Vgl. z. B. den Band Von Eleganz und Barbarei. Lateinische Grammatik und Stilistik in Renaissance und Barock, hg. v. Wolfram Ax, Wiesbaden 2001. 17 Grünberger, Hans: Wir und die Anderen oder: Barbaren unter sich. Zur Xenographie im deutschen Humanismus des späten 15. und 16. Jahrhunderts, in: Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, hg. v. Brigitte Felderer / Thomas Macho, München 2002, S. 40–69, hier S. 45. 18 „At quae gentes, dii boni? Quorum etiam nomina perhorresco: Farabrich, Buser, Occam, aliique eiusmodi, qui omnes mihi videntur a Rhadamantis cohorte traxisse cognomina“. Bruni, Leonardo: Dialogus ad Petrum Paulum Histrum. Lateinisch – italienisch, übers. v. Garin, Eugenio, in: Prosatori Latini del Quattrocento, eingl. u. hg. v. Eugenio Garin, Mailand u. a. 1952, S. 44–99, hier S. 58, 60. Die Aussage wird Niccolò Niccoli in den Mund gelegt. S. dazu Garin, Eugenio: L’età nuova. Ricerche di storia della cultura dal XII al XVI secolo, Neapel 1969, bes. S. 139–178: „La cultura fiorentina nella seconda metà del 300 e i ‚barbari britanni‘“. S. dazu Vasoli, La dialettica e la retorica dell’Umanesimo (s. Anm. 11), S. 64; Jardine, Lisa: Humanistic Logic, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, hg. v. Charles B. Schmitt u. a., Cambridge 1988, S. 173–198, bes. S. 176–178; Gilbert: The Early Italian Humanists and Disputation (s. Anm. 2); Perreiah: Humanistic Critiques (s. Anm. 12).

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1550), der in Paris bei Lefèvre d’Étaples studiert hatte und daher zu den ‚Fabristen‘ zählte.19 Caesarius versteht seine Dialektik (erstmals Leipzig 1532) explizit als einen Gegenentwurf zu seinen ‚barbarischen‘ Vorgängern.20 In der Vorrede zu seiner Behandlung der Analytica posteriora benennt Caesarius die ‚Ranglistenführer‘ der Barbarei in den drei Disziplinen des Triviums sowie in der Poetik, nicht ohne nationale Epitheta zuzuweisen, die ‚Barbarei‘ andeuten sollen: Auf dem Gebiet der Grammatik sei der größte Barbar Alexandre de Villedieu („Alexander Gallus“), auf jenem der Rhetorik Eberhardus Alemannus oder Teutonicus Eberhardus („Eberhardus quidam“),21 auf jenem der Poetik der Verfasser der Poetria nova, Geoffrey von Vinsauf („Gaufredus britannus“). Die Rangliste der Dialektik schließlich führt Petrus Hispanus an.22 Gerade das Beispiel des Letzteren, des späteren Papstes Johannes XXI., zeigt, dass auch die Nation (auch im mittelalterlichen Sinn) ein Konstrukt ist: Petrus Hispanus war Zeitgenosse des Thomas von Aquin und wie dieser ein Schüler Alberts des Großen, bei dem er in Paris studierte. Seine Tractatus, die später meist Summulae logicales genannt wurden, schrieb er in den 1230er Jahren, jedenfalls aber vor 1246. Um 1250 lehrte er Medizin an der Universität von Siena, der ersten Universität der Toskana. 1276 wurde er zum Papst gewählt (doch schon im darauf folgenden Jahr erlag er seinen Verletzungen, nachdem die Decke seines Studierzimmers eingestürzt und er unter den Trümmern begraben worden war).23 Was implizit als Konflikt zwischen kultivierten Italienern (ich sage dies in Ermangelung eines besseren Ausdrucks und im Bewusstsein des Anachronismus) und ungeschlachten ‚Ausländern‘ gefasst wird, wäre mit gleichem, wenn nicht mehr Recht als eine Auseinandersetzung unter ‚Italienern‘ zu beschreiben. Es ist eine ‚sekundäre Fremdheit‘, die hier inszeniert wird: „Über bereits Vertrautes 19 Seifert, Arno: Logik zwischen Scholastik und Humanismus. Das Kommentarwerk Johann Ecks, München 1978, S. 21. Zu Caesarius s. Hirsch, Elisabeth Feist: Johannes Caesarius, in: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Bd. 1, hg v. Peter G. Bietenholz / Thomas B. Deutscher, Toronto / Buffalo / London 2003, Sp. 475–478. 20 S. Ong, Walter J.: Ramus, Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge, MA / London 21983, S. 59. 21 An manchen deutschen Universitäten war für das Bakkalaureat auf dem Gebiet der Rhetorik das Lehrgedicht Laborintus des Eberhardus Alemannus zu studieren, vgl. Sarnowsky, Jürgen: Die artes im Lehrplan der Universitäten, in: Artes im Mittelalter, hg. v. Ursula Schaefer, Berlin 1999, S. 68–82, hier S. 73; Sarnowsky zitiert das Beispiel der Universität Greifswald. 22 Caesarius, Johannes: Dialectica cvi adiecimvs Ioan. Murmelij Isagogen in decem Aristotelis Praedicamenta, Ingolstadt 1542, S. 154. 23 Zur Biographie s. knapp Ong: Ramus, Method, and the Decay of Dialogue (s. Anm. 20), S. 55. Die Zeit von ‚Petro Ispano‘ an der Universität von Siena wird auf 1248–50 bzw. 1247–52 datiert, s. Grendler, Paul F.: The Universities of the Italian Renaissance, Baltimore / London 2004, S. 45.

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wird erneut, zumeist in pejorativer Absicht, der Mantel der Fremdheit gehängt und damit eine exkludierende Grenzziehung vollzogen.“24 Wie dieser kurze Abriss zeigt, waren die vermeintlichen Barbaren in Wirklichkeit alte Bekannte, wenn sie nicht gleich Lehrer und Kollegen an den Universitäten waren.25 Die Verfasser der Lehrbücher, vermittels derer der durchschnittliche mittelalterliche Student in die Grundlagen der Dialektik eingeführt wurde, lehrten vielfach an italienischen Universitäten. Wichtiger noch: Ihre Werke waren in den alltäglichen Lehrbetrieb als Standardwerke integriert, eine wie immer geartete Fremdheit ließ sich daher nicht auf Grundlage der Lektürekanones und der Lehrpraxis konstatieren, sondern allein ideologisch konstruieren. Als ‚fremd‘ konnten solche im mittelalterlichen italienischen Bildungswesen verwurzelten Autoren nur im Verhältnis zur Fiktion eines Kulturraumkontinuums mit der griechischen und römischen Antike denunziert werden. Diese freilich erwies sich als prägend für den die humanistische Polemik steuernden Zugang zur Sprache – und zur Welt, wie allen voran der Briefwechsel zwischen Giovanni Pico della Mirandola und Ermolao Barbaro über die adäquate Ausdrucksweise der Philosophen belegt.26 Nicht umsonst stilisierten sich die Humanisten zeitgenössisch nicht etwa als humanistae sondern als poetae.27 Es ist allem voran ihr an den klassischen Vorbildern geschultes Latein, das sie gegen die ungeschlachten, agrammatischen Schulmänner profiliert.

24 Grünberger, Hans: Wir und die Anderen oder: Barbaren unter sich (s. Anm. 17), S. 45. Grünberger bezieht sich auf Münkler, Herfried / Ladwig, Bernd: Dimensionen der Fremdheit, in: Furcht und Faszination – Facetten der Fremdheit, hg. v. Herfried Münkler, Berlin 1997, S. 11–44, bes. S. 31. 25 Für weitere Beispiele für den polemischen Rückgriff auf das Barbaren-Etikett s. Tracy, James D.: Against the ‚Barbarians‘: The Young Erasmus and His Humanist Contemporaries, Sixteenth Century Journal 11 (1980), S. 3–22. 26 Barbaro, Ermolao / Pico della Mirandola, Giovanni: Filosofia o eloquenza?, hg. v. Francesco Bausi, Neapel 1998. S. dazu mit Blick auf den Begriff des Barbarischen Margolin, JeanClaude: Sur la conception humaniste du ‚Barbare‘: à propos de la controverse épistolaire entre Pic de la Mirandole et Ermolao Barbaro, in: Una famiglia veneziana nella storia: i Barbaro. Atti del convegno di studi in occasione del quinto centenario della morte dell’umanista Ermolao. Venezia, 4–6 novembre 1993, hg. v. Michela Marangoni / Manlio Pastore Stocchi, Venedig 1996, S. 235–276. 27 Als Neologismus war humanista keine erstrebenswerte Selbstbezeichnung. Für verstreute Belege s. Campana, Augusto: The Origin of the Word „Humanist“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 9 (1946), S. 60–73. Vgl. dagegen z. B. Heinrich Bebels Comoedia de optimo studio iuvenum, in der der (humanistische) poeta zum Schiedsrichter über konkurrierende Scholastiker-Sekten berufen wird. Bebel, Heinrich: Comoedia de optimo studio iuvenum. Über die beste Art des Studiums für junge Leute, hg. und übers. v. Wilfried Barner, Stuttgart 1982.

Alte Dialektiker und neue Dichter

III.

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Studia humanitatis

Die Rhetorik des Ausschlusses, die vermittels der asymmetrischen Dichotomien von ‚jung‘ – ‚alt‘ und ‚wir‘ – ‚die anderen‘ realisiert wird, geht erstaunlich ungefiltert in die retrospektive Epochenkonstruktion der Renaissance ein. Die Attacke auf die Dialektik über die Metaphorik der Generation übersetzt sich in die Überzeugung von der historischen Obsoletheit, die Denunziation der Logiker als Barbaren in ein Urteil über einen inadäquaten Lateingebrauch. Praktisch und nicht zuletzt resultiert daraus eine unerhörte Eskamotierung der Dialektik. So ist beispielsweise in Paul Oskar Kristellers Epochenauffassung die These zentral, dass der Renaissancehumanismus nicht als ‚philosophy of man‘ konstruiert werden dürfe, sondern vielmehr im Kontext seiner Herausentwicklung aus der mittelalterlichen rhetorischen Tradition gesehen werden müsse.28 Den Ansprüchen, den Humanismus als Philosophie zu definieren, setzte Kristeller die studia humanitatis als pädagogisches Programm entgegen, das ursprünglich auf die herrschende Schicht Italiens perspektiviert war und das sich auf die fünf Gebiete Grammatik, Rhetorik, Dichtung, Geschichtsschreibung und Moralphilosophie konzentriere.29 Die Wirkungsmacht dieser Definition der studia humanitatis ist nicht zu unterschätzen, sie wurde weithin als faktisch akzeptiert. Entgegen seiner eigenen Setzung stellt Kristeller in seinen Eight Philosophers of the Renaissance von 1964 einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Fächerkanon des Studienprogramms und dem Fokus auf die Würde des Menschen in Pico della Mirandolas Oratio her, die als Grundlagen- und Konzepttext der Renaissance gehandelt wurde: „The emphasis on man and his dignity is implicit in the very program of the studia humanitatis.“30 Auffällig ist in der – nun doch die Philosophie der Renaissance unterfütternden – Fünfzahl der Fächer freilich das Fehlen der Dialektik. Diese Lakune ist umso bemerkenswerter, als Kristeller selbst an anderer Stelle die starke Auswirkung des Humanismus gerade auf die

28 Hankins: Humanism: Scholasticism, and Renaissance Philosophy (s. Anm. 10), S. 30–31. 29 Kristeller, Paul Oskar: Eight Philosophers of the Italian Renaissance, Stanford 1964, hier S. 150. 30 Kristeller, Paul Oskar: Giovanni Pico della Mirandola and His Sources, in: L’opera e il pensiero di Giovanni Pico della Mirandola nella storia dell’umanesimo. Convegno internazionale (Mirandola: 15–18 Settembre 1963), hg. v. Istituto nazionale di studi sul Rinascimento Firenze, Florenz 1965 (Atti di convegni 7), S. 35–142, hier: S. 66. Vgl. auch die kritische Einschätzung einer solchen Lektüre der Oratio in Copenhaver, Brian P.: The Secret of Pico’s Oration: Cabala and Renaissance Philosophy, in: Midwestern Studies in Philosophy 26 (2002), S. 56–81.

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Dialektik betont.31 Die Renaissance-Forschung fokussierte lange unter Privilegierung von Kristellers vermeintlichem Fächerkanon mehrheitlich sprachliche, literarische und moralphilosophische Problemstellungen, denen die mit der Tradition der Scholastik identifizierte Dialektik zumeist als ein zu überwindendes, inadäquat gewordenes Diskursmodell entgegengesetzt wird. Es lässt sich aus der Forschungsliteratur zum Renaissancehumanismus (in ihrer ganzen Breite und nicht problemspezifisch betrachtet) durchaus der Eindruck gewinnen, dass die Rhetorik als ‚neue‘ Methode der Humanisten die ‚alte‘ Dialektik der greisen Scholastiker schlicht abgelöst habe – Eckhard Kessler sprach vom „rhetorical turn“32 –, und dass die Dialektik in der Ausformung des humanistischen Aufmerksamkeitsfokus keine wesentliche Rolle gespielt hätte. Die Rhetorik gewinnt in der Renaissance in der Tat eine umfassende Verbindlichkeit in dem Sinne, dass sie alle Arten der – auch, vielleicht sogar insbesondere – schriftlichen Textproduktion, von der Streitschrift bis zur Predigt, steuerte. Gleichzeitig finden aber jene Transformationen der Rhetorik selbst, die epochenprägenden Charakter haben, auf dem Gebiet, in Auseinandersetzung mit bzw. unter dem Stichwort der Dialektik statt.33 Die studia humanitatis Kristeller’scher Prägung, die nachgerade zu einer Programmatik der Epoche avancierten, sind somit nicht nur nicht geeignet, die Epoche zu charakterisieren, sie sind auch nicht dazu angetan, den Aktionsradius der humanistischen Bewegung vollständig zu beschreiben. Der Ausschluss der Dialektik scheint allerdings auf der Objektebene bereits vorfindlich zu sein, lassen sich doch zuhauf Äußerungen von Humanisten anführen, die sie im Konflikt mit den Scholastikern zeigen und in denen eine radikale Abwendung vom und intendierte Überwindung des Überkommenen propagiert wird. Was sich auf der Phänomen-Ebene als Auseinandersetzungen um institutionelle Verankerung und Dignität der Methode beobachten lässt, als polemisch inszenierte Dispute zwischen poetae und dyaletici, geht gleichsam überhöht in das Epochennarrativ der Renaissance ein. Kontemporäre Auseinandersetzungen werden als Indizien agonal gedachter epochaler Ablöseprozesse gelesen. In historischen Konstellationen um 1500 gleichzeitig präsente Denkmuster, Disziplinen, Techniken werden säuberlich dichotomisiert – und zwar von den Zeitgenossen vorexerziert und von den nachgeborenen Historiker*innen bereitwillig akzeptiert: Die Dialektik ist alt, weil in ihrer praktizierten Gestalt im 31 „[W]e might say that among all philosophical disciplines outside of ethics, logic was the most strongly affected by the impact of Renaissance humanism“, Kristeller: Eight Philosophers (s. Anm. 29), S. 35. 32 Kessler, Eckhard: Renaissance Humanism: The Rhetorical Turn, in: Interpretations of Renaissance Humanism, hg. v. Angelo Mazzocco, Leiden / Boston 2006, S. 181–197. 33 S. Jardine, Lisa: Lorenzo Valla and the Intellectual Origins of Humanist Dialectic, in: Journal of the History of Philosophy 15 (1977), S. 143–164.

Alte Dialektiker und neue Dichter

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Mittelalter entwickelt; die ciceronianische Rhetorik, wenngleich älter, ist neu, weil gegen die alte Dialektik in Stellung gebracht.34

IV.

Eine uneinnehmbare Festung

Während Programmschriften und Polemiken einen klaren Bruch inszenierten, ist auf der Ebene der Praktiken – der Lehre und Bearbeitung überlieferter Textcorpora, der Schul- und Universitätsausbildung – eine große, in einer ‚langhinwirkenden Sockelbewegung‘ (um einen Ausdruck Wolfgang Hübeners aufzugreifen) sich verschiebende Kontinuität zu beobachten.35 Während die ideengeschichtliche Forschung ebenso wie die Diskursgeschichte sich dominant inhaltlichen Reibungspunkten zwischen Humanismus und Scholastik gewidmet haben, ist die komparative Beschreibung ihrer je spezifischen Praktiken der Wissensgenerierung und -tradierung lange Zeit im Hinblick auf die Epochenbestimmung vernachlässigt bzw. als evident angenommen worden: in die Moderne weisende philologische Textarbeit hier, auf sich selbst zurückgewendete spitzfindige dialektische Sophistereien dort. De facto wurden die studia humanitatis allerdings vergleichsweise reibungslos in die scholastische Universität integriert, was daran gelegen haben mag, dass sich die Verfahren in der Praxis nicht ganz unähnlich waren: „humanism left its own miasma of mindnumbing pedantry“.36 In jedem Fall ist, trotz aller inkrementeller Verschiebungen und Veränderungen, eine Persistenz der Scholastik zu beobachten, die es allererst ermöglichte, dass sie am Beginn wie am Ende der Frühen Neuzeit als Festung unbelehrbar verschanzter Ewiggestriger figurieren konnte. Noch im frühen 18. Jahrhundert, als europaweit die französische Querelle des anciens et des modernes nachbesprochen, kommentiert und satirisiert wird, lässt sich mühelos auf die Figur des alten, weil epochal überalterten Scholastikers zurückgreifen. Unter den 34 Zur Beweglichkeit der alt/neu-Dichotomie im historischen Kontext s. Müller, Jan-Dirk: ‚Alt‘ und ‚Neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in fru¨ hneuhochdeutschen Texten, in: Traditionswandel und Traditionsverhalten, hg. v. Walter Haug / Burghart Wachinger, Tu¨ bingen 1991, S. 121–144; Thier, Andreas: Semantiken des Alten, des Neuen und des Modernen im gelehrten kanonischen Recht: Beobachtungen zur Deutung von ‚antiqua‘, ‚nova‘, ‚hodie‘ und ‚moderna‘ in der Kanonistik des 12.–15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung 106/1 (2020), S. 1–21. 35 Hübener, Wolfgang: Der Praxisbegriff in der aristotelischen Tradition und der Praktizismus der Prämoderne, in: ders.: Zum Geist der Prämoderne, Wu¨ rzburg 1985, S. 25–41, hier S. 31. 36 Copenhaver, Brian P. / Schmitt, Charles B.: Renaissance Philosophy, Oxford / New York 1992, S. 61.

242

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oben diskutierten asymmetrischen Oppositionen ist mithin die am wenigsten faktisch fundierte generationale die persistenteste. In der anonym 1715 in Den Haag in der Zeitschrift Nouvelles littéraires und gleich darauf in 1716 in den Leipziger gelehrten Zeitungen in deutscher Übersetzung erschienenen Satire Description du païs des Antiques et des Modernes (Beschreibung des Landes der Alten und der Neuern) wird die Querelle als Krieg inszeniert. Am schwierigsten einzunehmen für die Neuern ist die sogenannte Peripatetikerburg: Le Peripatetisme paroissoit le plus difficile à conquerir. Les Rochers escarpez, les précipices affreux qui l’environnoient, & les Machines de Guerre en deffendoient les approches. On voyoit ses murailles bordées de Légions de Scolastiques dont l’air farouche, & les cris barbares intimidoient les plus hardis. Aristote soûtenu des plus puissans Princes commandoit en chef, & animoit ses gens à une vigoureuse deffense.37 Die Peripatetickerburg schien am schwersten zu seyn einzunehmen. Die hohen Felsen, die entsetzlichen Klüffte welche rund um dieselbe waren, und die Kriegs=Rüstungen, hielten alle Zugänge bedeckt. Die Mauren waren mit gantzen Legionen von Scholasticis besetzt, deren wildes Ansehen und barbarisches Geschrey auch die allerbehertztesten furchtsam machte. Aristoteles, welcher von den mächtigsten Printzen unterstützet wurde, führte seine Leute, als Haupt der Armee, an, und munterte sie zu einer tapffern Gegenwehr auff.38

Die Festung, von Descartes und Konsorten sturmreif geschossen, wird schließlich auf einen „Aschen=Hauffen“ reduziert und letztlich ganz geschleift. Was bleibt, sind allein quelques méchantes Cabanes, où des vieux Antiques étalent les Marchandises qui leur sont restées; mai ils trouvent peu de sots pour les acheter. etliche elende Hütten, allwo einige abgelebte Graubärte von den Alten die Wahren ausgelegt, welche sie noch übrig behalten haben; aber sie finden wenig Thoren, welche sie zu kauffen verlangten.39

Der Aristotelismus, das methodische Fundament der Scholastik, ist zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch immer so fest institutionalisiert, dass er satirefähig bleibt. Zum wiederholten Mal tritt eine Novatorenbrigade gegen ihn an, und 37 Description du pais des Antiques & des Modernes, de ses Habitans, de leurs manieres de vivre, leurs habits, leurs armes, leurs Guerres & leur reünion, faite aux [sic] pied du Parnasse la 4. année de la 572 Olympiade, l’an de Rome 2265, in: Nouvelles littéraires (15. Juni 1715), S. 306–314, hier S. 310. 38 Beschreibung des Landes Der Alten und Neuern, Der Inwohner desselben, ihrer Art zu leben, ihrer Kleidung und Waffen, ihrer Kriege und wie sie endlich wieder mit einander verglichen worden. So geschehen unten am Parnassus=Berge, das 4. Jahr der 572. Olympiade, im Jahr der Stadt Rom 2265, in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Supplemente 12 (1715), S. 516–528, hier S. 524. 39 Description du pais des Antiques & des Modernes, S. 311; Beschreibung des Landes Der Alten und Neuern, S. 525.

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diesmal scheint die Überwindung der nun schon so lang erfolgreich Renitenten endlich zu gelingen. Nicht zufällig hat Jacques Le Goff das Ende des Mittelalters in das 18. Jahrhundert gelegt.40

V.

Epochenkonstrukte

Asynchronien werden mithin zentral über Alteritätskonstruktionen induziert. Während dies in antagonistischen Konstellationen wie der behandelten zwischen ‚Dialektikern‘ und ‚Dichtern‘, in denen um Ressourcen, Zugang zu Institutionen und Renommee gerungen wird, schlagkräftige Verfahren sind, wurde zugleich der Blick der nachzeitigen Forschung durch diese effiziente Polemik nachhaltig getrübt. Humanismus und Scholastik wurden nicht als nebeneinander existierende communities beschrieben,41 sondern agonal konstituierte Ansprüche auf Geltung wurden auf der Beschreibungsebene parteiisch gespiegelt und verstärkt. Scholastik und Humanismus sind zwar durchaus als Denkstile im Sinne Ludwik Flecks zu beschreiben, die als jeweils an ein Denkkollektiv gebundene, historisch variable Sets von (impliziten) Voraussetzungen und (praktizierten) Verfahrensweisen zu verstehen sind,42 doch unter dem Vorzeichen der Epochisierung wurden und werden kontemporäre Denkstile unterschiedlich und vor allem unterschiedlich wertend eingeordnet. Gleichzeitigkeit und Epochalität scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen, konnotiert doch die Epoche die zeitliche Sukzession. Klaus W. Hempfer hat freilich darauf insistiert, dass Epoche und Zeitraum kategorial zu scheiden sind: Epochen sind theoretische Konstrukte, die auf ‚Zeiträume‘ als chronologische Einheiten anwendbar sind. […] Epochenkonstrukte müssen notwendig homogen sein, da sie sich

40 Le Goff, Jacques: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, übers. v. Klaus Jöken, Mainz 2016, S. 137. 41 Vgl. Löffler, Philipp: Was ist eine literarische Epoche? Literaturgeschichte, literarischer Wandel und der Praxisbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Praxeologie: Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. v. Ulrich Wilhelm Weiser u. a., Berlin 2014, S. 73–96. Löffler schlägt unter praxeologischem Vorzeichen eine Rückführung der Epoche auf einen Zeitraum vor, der von einem „dynamischen Nebeneinander unabhängiger literary communities“ gekennzeichnet sei (S. 93). 42 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer / Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980, bes. S. 129–145. Vgl. auch Schönberger, Rolf: Scholastik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, hg. v. Robert-Henri Bautier, u. a., München / Zürich 1980–1998, Sp. 1521–1526, hier Sp. 1521: Bei der Scholastik „handelt es sich streng genommen nicht um einen Begriff einer Denkepoche, sondern primär einer Denkform.“

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nur als solche voneinander unterscheiden lassen, während Zeiträume in der Regel durch Heterogenität gekennzeichnet sind.43

Ein Problem der Distinktion ist allerdings, dass Epochen in der historiographischen Praxis ebenso mit einem Zeitindex versehen sind wie Zeiträume und daher von einer zeitlichen Konnotation, wenn nicht gar Fundierung, vielfach gerade nicht entkoppelt werden, wie Hempfers detaillierte Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsdiskussion auch belegt. Die Einsicht in den Konstruktcharakter der Epoche ändert zudem nichts daran, dass Epochen in der Praxis tendenziell naturalisiert werden, was, wie Arndt Brendecke argumentiert, ganz konkrete Auswirkungen hat, wenn historisches Arbeiten u¨ ber idealtypisch konstruierte Epochen- und Prozessbegriffe organisiert wird. Das Feld der Streuung realer Phänomene wird in einer Weise vom Idealtypus beherrscht, die (verdeckt) wertet, indem sie Nähe zum Ideal prämiert.44

Die homogenisierende Konstruktion bedingt diesen Ausblendungseffekt – und entfaltet performative Kraft, indem sie nicht allein aus den Phänomenen heraus-, sondern unvermeidlich auch in diese hineingelesen wird. Die Renaissance konnte in diesem Sinn nur postuliert werden, indem ein Bündel von Praktiken und Ideen herausgehoben wurde, das praktischerweise historisch in Verbindung mit einem antagonistischen Bruchdiskurs angetreten war – und so die Homogenisierung zu legitimieren schien. In der Konsequenz eskamotierte die so konstituierte Renaissanceforschung all das, was auf der Ebene dieser Selbstbeschreibung emphatisch negiert wurde, allem voran die institutionell etablierte Scholastik und ihre Methoden, und zwar auch dort, wo sie auf das Engste mit humanistischen Anliegen interagierte. Obwohl die Beschreibung der Epoche aus dem historischen Befund entwickelt wurde, hat sie doch die Funktion einer Linse, die den Blick auf den Zeitraum nachhaltig zu verzerren und zu brechen imstande ist. Wenn, wie Hempfer argumentiert, Zeiträume notwendig heterogen sind, Epochen hingegen zwingend homogen konstruiert werden müssen, ist dies nur als retrospektiver und gewichtender Akt denkbar. Was bedeutet aber homogen? In der Literaturwissenschaft ist damit gesetzt, dass die Merkmalskomplexion für 43 Hempfer, Klaus W.: Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie, Stuttgart 2018, S. 227. Hempfer verabschiedet den Zeitraum mithin nicht aus seinem Ansatz, reduziert ihn allerdings auf ein an sich nicht bedeutungsvolles chronologisches Bezugsraster. S. auch: Hempfer, Klaus W.: Multiple Epochisierungen und die (Un-)Möglichkeit der Konstruktion einer Makroepoche ‚Frühe Neuzeit‘, in: Multiple Epochisierungen – Literatur und Bildende Kunst 1500–1800, hg. v. dems. / Valeska von Rosen, Stuttgart 2021, S. 1–43. 44 Brendecke, Arndt: Eine tiefe, frühe, neue Zeit. Anmerkungen zur hidden agenda der Frühneuzeitforschung, in: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche, hg. v. Jan-Dirk Müller / Wulf Oesterreicher / Andreas Höfele, Berlin / Boston 2013, S. 29–46, hier S. 40.

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alle Texte, die der Epoche zugerechnet werden, stabil gehalten wird. Dieses Merkmalsbündel freilich kann Elemente aus unterschiedlichen Zeitschichten binden. In der Literaturgeschichte sind es typischerweise rhetorische Strukturen und Gattungstraditionen, die der Epoche oftmals weit vorausliegen, die aber im Gefüge der epochalen Konstellation entweder konservativ oder novatorisch genutzt werden und so in die jeweilige Merkmalskomplexion eingehen. Die konstellative Dimension ist dabei nicht additiv zu verstehen; vielmehr werden alle Elemente im Verbund affiziert: Wenn die kaiserzeitliche Deklamation in der Renaissance zu einer Gattung des theoretischen Diskurses wird und sich dabei agonal an der scholastischen Disputation orientiert,45 dann bindet die Praxis des Humanismus Elemente mit ganz unterschiedlichen Zeitindizes, fügt sie aber zugleich so zusammen, dass keines mit sich selbst identisch bleibt. Die unterschiedlichen Temporalitäten, die Epochenkonstrukte prägen, sind mit dem Aufkommen der Mentalitätsgeschichte,46 mehr aber noch mit dem rezenteren Interesse an der Praxeologie verstärkt in den Blick geraten.47 Es wäre jedoch verfehlt, Praktiken ausschließlich in der Langfristdimension zu verorten. Praktiken sind nicht grundsätzlich und zwingend die langhinwirkenden Komponenten, auch wenn dies oft der Fall ist. Zum einen verändern sie sich im Verbund, zum anderen tritt auch auf der Ebene der Praktiken Neues hinzu, Altes wird aufgegeben. Man denke um 1500 an die neuen Aufmerksamkeitsregime der Typographie, die zum einen Elemente der Manuskriptkultur transformierend weiterführen, zugleich aber in Verbindung mit der Verfügbarkeit von Papier in Europa neue Exzerptpraktiken inspirieren, die selbst wiederum in enge Verbindung mit den langfristig etablierten mündlichen Formen der Wissensverhandlung treten. Mit dem Blick auf das Gefüge kommt Latours Werkzeugkoffer wieder in den Sinn, der Methoden, Techniken und Ideen unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Alters versammelt, von seinen Benutzer*innen aber als ein Ensemble wahrgenommen und genutzt wird. 45 S. Traninger, Anita: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012, S. 193– 228. 46 Der Begriff der Mentalitäten ist jüngst etwas aus dem Blick geraten, nachdem er in den 1970er Jahren im Rückgriff auf die Annales-Schule zu einem starken Paradigma in den Geschichtswissenschaften geworden war, s. Le Goff, Jacques: Mentalities: A New Field for Historians, in: Social Science Information 13 (1974), S. 64–86; dort S. 86 zur longue durée der Mentalitäten. Steinwachs forderte 1985 den stärkeren Fokus auf „Einstellungen“ in der literaturwissenschaftlichen Epochendiskussion, s. Steinwachs, Burkhart: Was leisten (literarische) Epochenbegriffe? Forderungen und Folgerungen, in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer, Frankfurt a. M. 1985, S. 312–323, hier S. 322. 47 Brendecke: Eine tiefe, frühe, neue Zeit (s. Anm. 44), S. 42. S. auch Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Soziale Geschichte 22/3 (2007), S. 43–65.

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In der rezenten Forschungsdiskussion lassen sich kaum Stimmen vernehmen, die mit Gründen und Emphase für die Notwendigkeit von Epochenbegriffen eintreten. Die weit verbreitete, prononcierte Abwehrhaltung gegen jede kategoriale Fixierung – und damit die auf Dauer gestellte Problematisierung von Institutionen, Epochen, Gattungen, etc. –48 führt dazu, dass die umgekehrt stets proklamierte und eingeforderte Offenheit, Fluidität und Ambiguität in anhaltender Friktion mit den selbstredend beibehaltenen Grundoperationen historischer Periodisierung stehen. Wie sonst wäre die Rede von einer Frühneuzeitoder Renaissance-Forschung überhaupt möglich?49 Die Mainstreamhaltung der kritischen Infragestellung von Epochen mündet allerdings kaum je in alternativen Entwürfen. Neben die Kritik tritt maximal die Forderung nach dem alternativen Zuschnitt von Epochen (Stichwort Renaissance des 12. Jahrhunderts, Stichwort Frühe Neuzeit, Stichwort langes Mittelalter, etc.).50 Der Gewinn einer in ihrem Konstruktcharakter ernst genommenen Epochisierung scheint mir hingegen darin zu bestehen, dass damit historische Gravitationsfelder i n Ve r b i n d u n g m i t einem historiographischen Aufmerksamkeitsfokus ausgeflaggt werden. Ein so gedachter Epochenbegriff umfasst zugleich ein mit Gründen konturiertes historisches Feld und, autoreflexiv, die von der Forschung eingezogenen, „konstruierten“ Wertungen und Gewichtungen. ‚Epoche‘ wird damit wesentlich von der chronologischen Ordnungs- zur konzeptuellen Reflexionskategorie, die Konstellationen sichtbar und historisch Sukzessives wie auch Paralleles als Epochen aufeinander beziehbar macht. Nimmt man die zeitliche Sequenzialität offensiv aus dem Epochenkonzept und verabschiedet damit die Großerzählung von Innovation und Überwindung zugunsten bestimmter (unter Umständen kontemporärer, oft auch konkurrierender) Gravitationsfelder, lässt sich damit zugleich die einst augenöffnende, nun aber seit langem konzeptuell unfruchtbare, weil bequem gewordene Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verabschieden.51 Zentral erscheint dabei

48 Zu dieser Abwehrhaltung als Bestandteil der Ideologie der Moderne s. Jameson, Fredric: Magical Narratives: Romance as Genre, in: New Literary History 7/1 (1975), S. 135–63, hier S. 135. 49 Zu einigen dieser argumentativen Volten s. Hempfer: Literaturwissenschaft (s. Anm. 43), S. 214–218. 50 S. Haskins, Charles Homer: The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, MA 1971 (11927); Novikoff, Alex: The Renaissance of the Twelfth Century Before Haskins, in: The Haskins Society Journal 16 (2005), S. 104–116; Jan-Dirk Müller / Wulf Oesterreicher / Andreas Höfele (Hg.): Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche, Berlin / Boston 2013; Le Goff: Geschichte ohne Epochen (s. Anm. 40). 51 S. Koselleck, Reinhart: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1979, S. 300–348. Vgl. entgegen meinem Vorschlag das Plädoyer von Falko Schmieder, der die Denkfigur als unverzichtbar einstuft, s. Schmieder, Falko: Gleichzeitigkeit des Ungleich-

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aber zum einen, dass sich die historisch arbeitenden Disziplinen ehrlicher Rechenschaft ablegen über die der Epochisierung zugrundeliegende Novationspräsumption und die damit unweigerlich in Zusammenhang stehende implizite Teleologie, die explizit wie kaum ein anderes Konzept rundweg abgelehnt wird. Zum anderen ist die Epoche noch nachdrücklicher vom Zeitraum zu entkoppeln; sie verliert damit den Status als Element einer konsekutiven Periodisierung – wofür der Zeitraum unverändert zur Verfügung steht –, gewinnt aber neue Brauchbarkeit als Denkwerkzeug. Durch den Imperativ der Homogenisierung wird der Kontrast und die Distanz zwischen den Kontrahenten hypostasiert – und es empfiehlt sich, die so benannten Friktionen als Ausgangs- und nicht Endpunkte der Forschung zu verstehen. So gedacht sind Epochen mehr als pragmatische Haltepunkte im Strom der Geschichte, mehr als stets defiziente Behelfskategorien auf dem Weg zu einer definitiven Lösung des Problems. Epochenbegriffe sind Argumente. Die diskursive Inszenierung von Asynchronien auf der Phänomenebene, die ich oben kurz skizziert habe, ist in das Epochenkonstrukt der Renaissance eingegangen. Diese Wirksamkeit verdankt sich nicht zuletzt eingängigen Metaphoriken wie jener der Überwindung des Alten als Verabschiedung der Alten. Die Abgrenzungsbewegungen sind als Indizien einer tatsächlichen Berührung zu lesen, als Kommunikationsakt, der Distinktion forciert, wo Nähe gegeben ist. Genau dies scheint als Grundoperation der Epochisierung verallgemeinerbar und positivierbar, wenn, wie skizziert, Epochenbegriffe konsequent als Werkzeuge der Forschung gedacht werden, in denen die Homogenisierung mit Zuspitzung und Emblematisierung einhergeht und die funktional klar darauf perspektiviert sind, herausgefordert zu werden.

zeitigen. Zur Kritik und Aktualität einer Denkfigur, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 4/1–2 (2014), S. 325–363.

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Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte1

Abb. 1: Apollonius, Sohn des Nestor, sog. Torso Belvedere, 1. Jh. v. Chr., Marmor, 159 x 84 cm, 1500 kg, Rom, Vatikanische Museen, © Jean-Pol GRANDMONT, CC BY-SA 3.0

Im Folgenden sollen Mechanismen offengelegt und zur Diskussion gestellt werden, die dem fragmentierten marmornen Männerkörper, den wir Torso Belvedere nennen (Abb. 1), seine Stabilität und Überzeitlichkeit im Kanon (bis heute) gesichert haben. Gleichzeitig sollen Momente ganz spezifischer Zeitlich1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder innerhalb des Exzellenzclusters Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective – EXC 2020 – Projekt-ID 390608380.

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keiten und deren Verschränkungen untersucht werden. Seit dem 15. Jahrhundert materialisierte sich der späthellenistische Torso ständig neu in verschiedensten Medien wie Skulptur, Zeichnung, Malerei, Druckgraphik und Literatur. Die mediale Mobilität des Torso Belvedere im frühneuzeitlichen Diskurs ermöglichte eine pan-europäische Verflechtungsgeschichte von Schrift- und Bildkulturen. Der Beitrag möchte nicht vereinheitlichen, sondern vielmehr im Sinne des Einstein-Zirkels „die Kontrasterfahrungen, welche die Verkapselung und KoPräsenz verschiedener Zeitlichkeiten erzeugen“2, offenlegen und dabei so differenziert wie möglich nach den Asynchronien der Skulptur fragen. Anders als bisher angenommen, wurde der Torso als antikes Fragment in der Frühen Neuzeit keineswegs nur in Hinblick auf Vergangenheit und Vergänglichkeit rezipiert, sondern auch in Relation zu Vorstellungen von Gegenwärtigkeit, Lebendigkeit, Intimität, Zukünftigkeit und Überzeitlichkeit gesetzt.

I.

Kein Ursprung, nirgends

Ausgraben = Erinnern ist nicht erst seit Walter Benjamin eine zentrale kulturgeschichtliche Gleichung.3 Alain Schnapp hat transkulturell eine wichtige imaginative Funktion des Erdbodens für die Erinnerungskultvierung nachverfolgt: Die Erinnerung brauche den Boden, „um sich durchzusetzen“. Gleichwohl sei jede „Ausgrabung zugleich eine Fabrikation“.4 Dies gilt in besonderer Weise für den Laokoon, ebenfalls eine späthellenistische Skulptur, deren spektakuläre Wiederentdeckung in der Erde Roms im Jahr 1506 von Leonard Barkan in seinem Buch Unearthing the Past als Paradigma für die frühneuzeitliche Kultivierung, ja Ästhetisierung der antiken Vergangenheit diskutiert wird.5 Für den Torso Belvedere gibt es, wie auch Barkan einschränkt, eine vergleichbare Fabrikation nicht. Niemand weiß von seiner Entdeckung in der Erde zu berichten. Der 2 So das Exposé der Herausgeber*innen zu diesem Tagungsband. 3 Zur komplexen Editionsgeschichte von Benjamins Ausgraben und Erinnern siehe Giuriato, Davide: Benjamin, der Schreiber. Überlieferungskritische Überlegungen am Beispiel von Ausgraben und Erinnern, in: Benjamin-Studien 1, hg. v. Daniel Weidner / Sigrid Weigel, München 2008, S. 195–208, S. 198f. Vgl. zur Relation von Ausgraben, Erinnern und Zerstören Ebeling, Knut: Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit – von Archiv bis Zerstörung, Berlin 2016, S. 96f und S. 465. 4 Schnapp, Alain: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie, Krugzell 2009, S. 31 und S. 37. 5 Vgl. Barkan, Leonard: Unearthing the Past. Archeology and Aesthetics in the Making of Renaissance Culture, New Haven / London 1999, Kapitel Discoveries, S. 1–63. Vgl. weiterhin auch Schnapp: Entdeckung (s. Anm. 4), S. 19–45; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2010, S. 162–165 sowie Lowenthal, David: The Past is a Foreign Country. Revisited, Cambridge 2015, Kapitel Relics, S. 383–410.

Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte

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Archäologe Georg Daltrop vermutet anhand des Zustands der Marmoroberfläche gar, dass der Torso nie vergraben, sondern immer der Witterung ausgesetzt war.6 Gerade im Vergleich zum Spektakel rund um die Ausgrabung des Laokoon vollzieht sich das Auftauchen des Torso ausgesprochen unspektakulär und über einen längeren Zeitraum hinweg. Erstmals zum Vorschein kommt er zwischen Tinte und Papier in den Notizen des italienischen Antikensammlers Ciriaco d’Ancona, der sich um 1432 in Rom aufhielt: „Apollonius, der Sohn des Nestor aus Athen, hat es gemacht“, übersetzt d’Ancona die griechische Inschrift auf dem Sockel.7 Ciriaco beschreibt die Skulptur nicht, sondern interessiert sich für den Umstand, dass diese signiert wurde. Und dann tut er etwas Wesentliches, er gibt dem mutilierten Marmorkörper eine Identität: „figura, quae dicitur Heraclis“. Diese lakonische Zuschreibung war sofort akzeptiert und so stabil, dass die Skulptur noch weit bis nach Johann Joachim Winckelmann immer als Herkules gesehen wurde.8 Die kaum zu rekonstruierende Provenienz- und Aufstellungsgeschichte (liegend, aufrecht) stellt einen blinden Fleck in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zeitlichkeiten des Torso dar. Ciriaco sah ihn vermutlich im Besitz des Kardinals Colonna.9 Um 1500 wiederum befindet sich der Torso im Hof oder Garten des Bildhauers Andrea Bregno und dort beginnt bereits seine mediale Wanderung: Er wird gezeichnet, gestochen, in Bronze und Gips als kleine Figurine in Umlauf gebracht. Kurz, er ist „bereits weithin bekannt und geschätzt.“10 Wann und wie der überlebensgroße Torso schließlich in den sogenannten Cortile del Belvedere im Vatikan wandert, der ihm erst seinen heute gültigen

6 Daltrop, Georg: Kat.Nr. 21, in: Ausstellungskatalog. The Vatican Collections. Papacy and Art, The Metropolitan Museum of Art, New York, New York u. a. 1983, S. 64. 7 Wünsche, Raimund: Torso vom Belvedere, in: Il cortile delle statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer, Rom 21.–23. Oktober 1992, hg. v. Matthias Winner u. a., Mainz 1998, S. 287–302, hier S. 289f. 8 Erst im späten 19. Jahrhundert ist der Startpunkt für eine ganze Reihe anderer Deutungsvorschläge anzusetzen, die vor allem die Archäologie beschäftigt haben. Siehe dazu v. a. Wünsche, Raimund: Ausst.kat. Der Torso. Ruhm und Rätsel, Glyptothek München 21. Januar bis 29. März 1998 – Vatikanische Museen, Rom, Herbst 1998, München 1998, S. 66–99 und Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 128. 9 Vgl. zuerst Schmitt, Annegrit: Römische Antikensammlungen im Spiegel eines Musterbuchs der Renaissance, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 21 (1970), S. 99–128, bes. S. 107–113. Dann Schwinn, Christa: Die Bedeutung des Torso vom Belvedere für die Theorie und Praxis der bildenden Kunst. Vom 16. Jahrhundert bis Winckelmann, Frankfurt a. M. 1973. Siehe differenziert in Bezug auf Bregno: Settis, Salvatore: Collecting Ancient Sculpture. The Beginnings, in: Studies in the History of Art 70 (2008), S. 12–31, hier S. 23f. Weiterhin umfassend Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8). 10 Wünsche: Torso (s. Anm. 7), S. 290.

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Beinamen gibt, ist ungeklärt – mutmaßlich zwischen 1532 und 1536, eingegrenzt durch Zeichnungen und Berichte von Besuchern –, vieles bleibt spekulativ.11

Abb. 2: Bernardino Licinio, Familienporträt seines Bruder Arrigo Licinio, um 1537, Öl/Lw. 107 x 163 cm, Rom, Galleria Borghese, © su concessione della Galleria Borghese, Roma

II.

Miniaturzeiten: Ein Torso in der Familie

Wahrscheinlich noch bevor die tatsächliche Wanderung des überlebensgroßen und 1,5 Tonnen schweren Marmortorso durch Rom mit seiner Aufnahme in die päpstliche Sammlung endet, taucht er sehr unvermittelt en miniature in einem der innovativsten Familienporträts des frühneuzeitlichen Italiens (Abb. 2) auf. Einiges wäre über den Status des Gemäldes innerhalb der Genese des bürgerlichen Familienporträts zu sagen, nicht zuletzt handelt es sich um die erste großformatige (Selbst-)Darstellung einer Künstlerfamilie. Der venezianische Maler Bernardino Licinio malt um 1537 seinen ebenfalls als Künstler tätigen Bruder Arrigo und dessen ganze Familie. Auch der Umstand, dass mit der Mutter 11 Vgl. zuerst umfassend Michaelis, Adolf: Geschichte des Statuenhofes im Vaticanischen Belvedere, in: Jahrbuch des kaiserlichen archäologischen Instituts, 5/1890 (1891), S. 5–78. Siehe auch Brummer, Hans Henrik: The Statue Court in the Vatican Belvedere, Stockholm 1970 sowie Liverani, Paolo: Der Statuenhof im Belvedere, in: Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 12–19.

Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte

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Agnes eine Frau – nicht ohne Grund wurden hier Vergleiche zu christlichen Motiven und Bildtraditionen gesucht – im Zentrum des Bildes thront, ist in der Forschung diskutiert worden.12

Abb. 3: Italienisch, Torso vom Belvedere, Anfang 16. Jh, Bronze, Höhe 11 cm, Institut de France, Paris, Musée Jacquemart-André, © Photothèque du Musée Jacquemart-André

Als ungewöhnlich in Hinblick auf die frühe Rezeption des antiken Torso Belvedere muss die Tatsache gewertet werden, dass Bernardino seinem Neffen Fabio, einem angehenden Goldschmied, eine Miniaturversion in die Hände gibt. In der Forschung wurde allerdings versucht, das Auftauchen des Torso in diesem Gemälde zu ‚normalisieren‘. Raimund Wünsche hat ohne Bedenken den Miniatur-Torso als Zunftzeichen der Bildhauer gedeutet. Fabio zeige sich „ganz

12 Vgl. Hansbauer, Severin Josef: Das oberitalienische Familienporträt in der Kunst der Renaissance: Studien zu den Anfängen, zur Verbreitung und Bedeutung einer Bildnisgattung, Diss. masch., Würzburg 2004; vgl. Tsoumis, Karine: Bernardino Licinio. Portraiture, Kinship and Community in Renaissance Venice, ProQuest Dissertations Publishing 2013, S. 206.

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selbstverständlich als Schüler des Torso“.13 Wünsche schließt den Hinweis an, dass man schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowohl Kleinbronzen als auch Terrakotta-Modelle nach dem Vorbild des antiken Originals entworfen habe (Abb. 3), „für viele Künstler oft die einzige Möglichkeit, die Formen des [antiken A.D.] Torso zu studieren.“14 Natürlich hatte die kopierende Verkleinerung von Antiken einen ganz offensichtlichen Zweck: Sie sollten mobil werden, so dass in ganz Europa in Sammlungen und Werkstätten der Torso studiert und bestaunt werden konnte. Karine Tsoumis hat zudem darauf verwiesen, dass Statuetten als Beiwerk in Porträts des 16. Jahrhunderts keine Seltenheit waren, doch muss hervorgehoben werden, dass Licinios Porträt eher den fulminanten Auftakt zu dieser Praxis darstellt.15 Licinio führt den Miniatur-Torso als Attribut ein. Hier fungiert er als Verweis auf die Expertise und den beruflichen Stolz eines künftigen Goldschmieds, arbeitet jener doch meist im kleinen Format. Aus der Perspektive materieller und medialer Transformationsprozesse ist Bernardinos Malerei ein gutes Beispiel für die Komplexität der Antikenrezeption zu Beginn des 16. Jahrhunderts. So ist die von ihm dargestellte Kleinskulptur ein Hybrid: farblich eine Mischung aus Fleischtönen und Grau-Weiß-Schwarz-Abstufungen, die entweder an Gips oder Marmor gemahnen. Besonders die Behandlung der Bruchstellen an den Armstümpfen lässt jedoch eher an Bronzeskulpturen denken. Zudem ist die Figurine um einen Unterschenkel ergänzt.16 Der überlebensgroße antike Torso materialisiert sich über die mit Öl gebundenen Pigmente eines venezianischen Malers als miniaturhaft kleine Figur – ein völlig neues Artefakt, mit dem Fabio nun unmittelbar körperlich interagieren kann.17 Dem Phänomen der Miniaturisierung des Torso wurde im Kontext der frühen Torso-Rezeption bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt.18 Gemessen am 13 Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), Kat. 85, S. 157 sowie S. 51. 14 Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 38. 15 Petra Kathke hat dies an anderer Stelle eingehend untersucht. Vgl. Kathke, Petra: Porträt und Accessoire. Eine Bildnisform im 16. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 202–234. Siehe auch Schweikhart, Gunter: Der Torso im frühen 16. Jahrhundert: Verständnis, Studium, Aufstellung, in: Il cortile delle statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer, Rom 21.–23. Oktober 1992, hg. v. Matthias Winner u. a., Mainz 1998, S. 315–325. 16 Es ist ein Phänomen für sich, dass Teilergänzungen des Torso Belvedere im Medium der Skulptur vor allem im kleinen Format auftauchen. Dass sich immer wieder teilergänzte Beispiele finden lassen, bei denen vor allem Unterschenkel und Füße, aber bisweilen auch Arme frei angestückt wurden, hält Schwinn allerdings nicht für einen Hinweis auf „verschiedene Fragmentierungsstufen des Belvedere-Torso.“ Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 18. 17 Vgl. zum Aspekt des Intimen im Umgang mit Miniaturen allgemein Bailey, Douglass: Miniaturism and Dimensionality, in: Prehistoric Figurines. Representation and Corporeality in the Neolithic, hg. v. dems., Oxon 2005, S. 26–44, hier S. 39. 18 Vgl. Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 10–12.

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menschlichen Körper musste der antike Torso als Sitzender durch seine Höhe von 159 cm von den meisten Personen als überlebensgroß wahrgenommen werden. Was also passiert in Bezug auf seine Zeitlichkeit durch eine solche Maßstabs- und Materialveränderung? Disziplinenübergreifend hat die Forschung der jüngsten Zeit, angestoßen vor allem durch Susan Stewarts On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection (1984), das Phänomen der Miniaturisierung in globaler Perspektive und über Zeiten hinweg in den Blick genommen.19 Nach Stewart haben Miniaturen die Fähigkeit „to create an ‚other‘ time, a type of transcendent time which negates change and the flux of lived reality.“20 Weiter verweist sie auf Studien, die eine phänomenologische Korrelation zwischen der Erfahrung von Maßstäblichkeit (scale) und der Erfahrung von Dauer (duration) herstellen konnten. Verkleinerte Dinge ließen 2 Minuten wie 30 Minuten erleben: „miniature time transcends the duration of everyday life in such a way as to create an interior temporality of the subject.“21 Die Herausgeber*innen des Sammelbandes The Tiny and The Fragmented fokussieren auf die körperliche und intime Relation in der Rezeption von kleinen und zudem fragmentierten Figurinen.22 Sie verweisen dabei auf eine daraus resultierende Asymmetrie – ein offensichtliche körperliche Überlegenheit über Miniaturen –, die ein Hantieren mit kleinen Objekten zu einem fast verführerischen Vorgang machen könne, bei dem sich die Nutzer*in groß und ermächtigt fühlt.23 Mit Blick auf den Familien-Torso der Licinio könnt man demnach von einem Ins-Verhältnis-Setzen zum Studium und zur buchstäblichen wie zur sinnbildlichen Größe der Antike sprechen, die, materiell und maßstäblich transformiert, handhabbar gemacht und in die Nähe geholt wird. Auch wenn der antike Torso Belvedere nicht im eigentlichen Sinne gigantisch groß ist, so ist es in Hinblick auf sein Auftauchen als Statuette im bürgerlichen Familienporträt gleichwohl von Bedeutung, wie Stewart die beiden Modi der Miniatur und des Gigantischen zueinander in Beziehung setzt: Die Miniatur hält sie für eine Metapher „for the interior space and time of the burgeois subject“, das Gigantische hingegen „for the abstract authority of the state and the col-

19 Vgl. zuletzt: Worlds in Miniature. Contemplating Miniaturisation in Global Material Culture, hg. v. Jack Davy / Charlotte Dixon, London 2019; Foxhall, Lin: Introduction: miniaturization, in: World Archaeology, 47:1 (2015), S. 1–5; Bailey: Miniaturism (s. Anm. 17). 20 Stewart, Susan: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore / London 1984, S. 65. 21 Stewart: Longing (s. Anm. 20), S. 66. Vgl. auch Bailey: Miniaturism (s. Anm. 17), hier S. 35–38. 22 The Tiny and the Fragmented. Miniature, Broken, or Otherwise Incomplete Objects in the Ancient World, hg. v. Rebecca Martin / Stephanie M. Langin-Hooper, Oxford 2018. 23 Martin / Langin-Hooper: Tiny (s. Anm. 22), S. 4.

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lective, public, life.“ Der Körper sei in dieser Beziehung der zentrale Parameter, „the body is our mode of perceiving scale.“24 Vor diesem Hintergrund lässt sich das scheinbar so unvermittelte Eindringen der Torso-Replik in Arrigo Licinios Familie genauer beleuchten. Tsoumis hat sehr überzeugend dargelegt, welche Funktion das Porträt im Kontext der „material conditions of family identity“ in der Künstlerdynastie der Licinio hatte.25 Die Leinwand hing im portego der Licinio, einer langen Halle, die sich vom Eingang zur Rückseite frühneuzeitlicher venezianischer Häuser erstreckte. Ein halböffentlicher Ort, der als „repository of family memory and identity“ fungierte.26 Tsoumis betont, wie bedeutsam es sei, dass Fabio die Statue halte und nicht sein Vater Arrigo: „This detail calls attention to the process of transmission of the trade from one generation to the next.“27 Bernardino Licinio hat demnach den Torso in Gestalt der Replik in zeitlicher, konkreter in generationeller Hinsicht umgewandelt: Die kleine Figurine ist im Kontext der Familie zum Sinnbild für Nachkommenschaft und Zukunftssicherung geworden, ein tatsächlicher ‚Wiedergeburtshelfer‘.28 Licinio hat sowohl den antiken Torso als auch dessen Replik in das relationale Gefüge der auf intime Weise körperlich miteinander agierenden Familienmitglieder sorgsam eingebunden. Die Mutter Agnes verdankt dem Original ihre gesamte Körperhaltung, die Art des Sitzens – selbst die Torsion und die Haltung der gespreizten Beine. Und während sie den in Tücher gewickelten jüngsten leiblichen Nachkommen Arrigos hält, präsentiert ihr ältester Sohn Fabio mit der Replik nichts weniger als die Zukunft der künstlerischen Nachkommenschaft. Die Verknüpfung zwischen dem Torso Belvedere und (männlicher) Zeugungskraft findet sich an ganz anderer Stelle expliziter dargestellt, in einem Holzschnitt von Jan von Calcar aus Andreas Vesalius’ De Fabrica Humanis Corporis von 1543 (Abb. 4). Immer wieder wurde der Vergleich zum Torso Belvedere für Ill. 22 gezogen.29 Die Referenz auf den echten Torso Belvedere ist eher 24 Stewart: On Longing (s. Anm. 20), S. xii. Vgl. zur Funktion von (überlebensgroßen) Skulpturen im öffentlichen Raum der Polisgemeinschaft im antiken Griechenland Hölscher, Tonio: Die Entstehung der griechischen Polisgemeinschaft im Bild. Lebende, Vorfahren, Götter, in: Leibhafte Kunst. Statuen und kulturelle Identität, hg. v. Dietrich Boschung / Chistiane Vorster, München 2015, S. 13–54. 25 Tsoumis: Licinio (s. Anm. 12), S. 192. 26 Tsoumis: Licinio (s. Anm. 12), S. 196. 27 Tsoumis: Licinio (s. Anm. 12), S. 198. 28 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume (s. Anm. 5), S. 310. Vgl. auch Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 193f. 29 Siehe dazu einschlägig Siraisi, Nancy: Vesalius and Human Diversity in De humani corporis fabrica, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 57 (1994), S. 60–88; Burioni, Matteo: Corpus quod est ipsa ruina docet. Sebastiano Serlios vitruvianisches Architekturtraktat in seiner Strukturäquivalenz zum Anatomietraktat des Andreas Vesalius, in: Zergliederungen. Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Albert

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Abb. 4: Jan von Calcar (?) u. Andreas Vesalius, Buch V Illustration 22, Holzschnitt, S. 372 aus Andreae Vesalii Bruxellensis, scholae medicorum Patavinae professoris, de Humani corporis fabrica Libri septem. Basileae 1543 © Universitätsbibliothek Basel, UBH AN I 15, https://doi.org /10.3931/e-rara-20094

schwach ausgeprägt. Die männlichen Reproduktionsorgane bei einer sitzenden Figur zu zeigen, macht auch ganz unabhängig vom möglichen Vorbild Sinn. Doch das gespreizte Sitzen des Torso Belvedere – wenngleich mit mutmaßlich mutiliertem Penis – sowie seine geschwellten Oberschenkel- und Bauchmuskeln konnten mit männlicher Zeugungskraft in Verbindung gebracht werden. Im Sinne Barkans könnte man die Entdeckung einer antiken Skulptur, die in einem eindeutig starken und mit Vorstellungen von Maskulinität besetzten Körper auf diese Art und Weise sitzt, als etwas „radikal Neues“ begreifen.30 Besonders Italien war im 16. Jahrhundert übervoll an wiederaufgefundenen antiken Torsi, doch gab es nur einen einzigen, der in dieser Körperlichkeit und auf diese Art und Weise sitzt. Auf der Suche nach Modellen fand man offensichtlich im Torso Belvedere „eine vorbildhafte Lösung des Sitzens“.31 Schirrmeister, Frankfurt a. M. 2005, S. 50–77 sowie Santing, Catrien: Andreas Vesalius’s ‚De Fabrica corporis humana‘. Depiction of the Human Model in Word and Image, in: Netherlands Yearbook for History of Art, Vol. 58. Themenheft Body and Embodiment in Netherlandish Art, 2007–2008, S. 58–85. 30 Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. xxi. 31 Vgl. Schweikhart: Torso im frühen 16. Jh. (s. Anm. 15) und Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 113.

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Im Kontext von Bernardinos Komposition zeigt sich gleichwohl, dass Sitzen, verstanden als Kulturtechnik, lange Zeit eindeutig mit weiblich kodierten Praktiken (Gebären) in Verbindung gebracht worden ist – so zu sehen in der Figur seiner Schwägerin Agnes.32 Bei Pirro Ligorio, Künstler und Antiquar des 16. Jahrhunderts, findet sich ein Hinweis auf die Wahrnehmung des sitzenden Torso, bei der die Körperhaltung mit dem männlich kodierten herrscherlichen Thronen verbunden wird: „jener wunderbare Torso […], der, sitzend dargestellt, im Belvedere ist“, zeige die „höchste Kraft von jemandem, der ein starker und kluger Fürst war.“ Ligorio betont die Kraft und die Vorbildhaftigkeit des Torso für alle, „die einen schönen Stil lernen wollen, um herkulische Körper zu machen.“33 Nun war ausgerechnet Herkules eine Figur, welche in der Frühe Neuzeit in sehr großer Ambivalenz rezipiert wurde.34 Herkules begehrte beide Geschlechter, war sexuell sehr aktiv, hatte abgrundtiefe Phasen moralischer Schwäche, aber wurde auch als Sinnbild übermenschlicher Stärke und Tugendhaftigkeit verstanden. So konnte er in der vormodernen Kultur, folgt man Patricia Simons, verschiedene Vorstellungen von Männlichkeit bedienen. Bei Licinios Version scheint es sich allerdings um einen „moralisch bereinigten Herkules“35 zu handeln. Fabio hat dessen Miniaturversion buchstäblich im Griff, anders als das Original entfaltet sie nicht die von einigen Betrachter*innen wahrgenommene Erotik des mit gespreizten Beinen sein Geschlecht darbietenden überlebensgroßen Herkules. Innerhalb der durch Berührung ausgedrückten familiären Intimität erhält der Torso einen anderen Status. Dieser kleine herkulische Körper verdankt seinen extrem muskulösen rechten Unterschenkel den schlanken langen Fingern und somit der Kunst des jungen Goldschmieds Fabio. Sanft ruht der kleine Fuß auf dem obersten Gelenk von Fabios Zeigefinger, einem zentralen Kraftort der menschlichen Hand, der fürs Zupacken ebenso gebraucht wird wie für eine differenzierte Koordination. Falls Fabio die Replik nicht selbst ange32 Vgl. Eickhoff, Hajo: Thronen als Denken und Meditieren. Die Medialität von Thron und Stuhl, in: Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, hg. v. Sebastian Hackenschmidt, Bielefeld 2011, S. 33–45, hier S. 35. 33 Schreurs, Anna: Ein Blick auf die Statuen im Belvederehof. Pirro Ligorio, Benvenuto Cellini und die Antike, in: Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, hg. v. Alessandro Nova / Anna Schreurs, Köln u. a. 2003, S. 275–298, hier S. 288: „[…] et la suprema forza di esso [Herkules A. D], che fu forte et prudente principe. Di questa sorte imagine dell’Hercole, che s’accompagnamo con la prudenza, e quel meraviglioso Torso di una tal figura che è in Belvedere, che siede opera di Apollonio Nestore Atheniese, […].“ Schreurs zitiert aus dem Manuskript Neapel, Biblioteca Nazionale MS, XIII, B.3, Fol. 118. 34 Simons, Patricia: Hercules in Italian Renaissance Art. Masculine Labour and Homoerotic Libido, in: Art History 31, 5 (2008) S. 632–664. 35 Rudolph, Harriet: Hercules saxonicus. Über die Attraktivität eines antiken Heros für die symbolische Absicherung einer fragilen Rangerhebung, in: Archiv für Kulturgeschichte 93 (2011), S. 57–94.

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fertigt hat, sondern nur präsentiert, stellt die von Bernardino inszenierte Interaktion zwischen den in der italienischen Kunsttheorie semantisch überbesetzten Künstlerhänden36 und der Statuette gleichwohl auf sprechende Art und Weise zur Schau, worauf die Zukunft der bereits angeeigneten Antike fußt.

Abb. 5: Herman Posthumus, Landschaft mit antiken römischen Ruinen, 1536, Öl/Lw., 96 x 141 cm, Vaduz-Vienna, Lichtenstein, The Princely Collections, © 2021. Liechtenstein, The Princely Collections, Vaduz-Vienna / SCALA, Florence

III.

Ganz Rom: Torsi allerorten

Der niederländische Maler Herman Posthumus zeichnet, fast zeitgleich mit Licinios Porträt, 1536 ein gegensätzliches Bild von der Beziehung zwischen Mensch und antikem Fragment (Abb. 5). Posthumus geht es nicht um artifizielle Vereinzelung, ihm geht es um das Gegenteil: Er zeigt Rom als eine Stadt, die übervoll ist an Trümmern, gigantischen Fragmenten und Torsi. Die wenigen Menschen im Gemälde hat der Maler auf Miniaturgröße geschrumpft. Sie sind es, die angesichts der Größe der antiken Überreste klein und verloren wirken.

36 Vgl. dazu Löhr, Wolf-Dietrich: Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: Ausstellungskatalog Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. dems. / Stefan Weppelmann, Gemäldegalerie Berlin / München 2008, S. 152–176.

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Stewarts allgemeine Überlegungen mögen helfen, die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Mensch und Fragment bei Licinio und Posthumus noch zu differenzieren: „while the miniature represents a mental world of proportion, control, and balance, the gigantic presents a physical world of disorder and disproportion.“37 Posthumus zeigt jedoch nicht nur den durch gigantische Überwältigung entstehenden Kontrollverlust über die antike Vergangenheit, sondern auch dessen Gegenteil, indem er en miniature die „Geburt der Antiquare“38 ins Bild setzt. Es sind die kleinen Menschen, die akribisch vermessen und die in Rom, wie Alain Schnapp überzeugend dargelegt hat, dringend als Kontrollinstanzen gebraucht wurden. „O du gefräßige Zeit und du, o neidisches Alter, Alles reißt ihr herunter“, zitiert Posthumus als grimmige Mahnung im Zentrum des Bildes einen Versteil aus Ovids Metamorphosen.39 Doch nicht die abstrakte Größe der Zeit war die stärkste Bedrohung für die antiken Überreste, sondern der Mensch selbst. Findige Unternehmer, die sogenannten cavatori, beuteten Roms Boden aus, um so „billiges Baumaterial“ zu gewinnen. Für die vatikanische Verwaltung, so macht Schnapp deutlich, war die Kontrolle durch die Antiquare und „die Aufsicht über die Antiken […] ein Instrument der Herrschaft.“40 Neben den wirtschaftlichen Interessen an antiken Monumenten und deren Funktion für Vorstellungen von Geschichte, hat sich die Forschung der ästhetischen Dimension dieser sehr materiellen Auseinandersetzung mit Vergangenheit angenommen. Hierbei sind im Besonderen die (fragmentierten) antiken Skulpturen in den Fokus gerückt. Barkan hat die antiken Funde als „Rätsel“ für die frühneuzeitliche Rezeption eingeordnet und weiterhin vermutet, dass aufgrund der noch hinzukommenden Vielzahl an „corporeal and iconographic uncertainties“, mit denen die zahlreichen fragmentierten Skulpturen die frühneuzeitlichen Betrachter*innen konfrontierten, diese steinernen Körper als fremd und befremdlich rezipiert wurden.41 Im selben Buch diagnostiziert Barkan zu Beginn des 16. Jahrhunderts allerdings auch: „fragmentariness was understood to be the natural condition of rediscovered ancient statues.“42 Ins37 Stewart: Longing (s. Anm. 20), S. 78f. 38 Vgl. Schnapp: Entdeckung (s. Anm. 4), S. 136. 39 Die Inschrift lautet transkribiert: ‚TEMPVS EDAX RERVM TVQVE INVIDIOSA VESTVSTAS O[MN]IA DESTRVITIS‘ Vgl. Publius Ovidus Naso: Metamorphosen, Epos in 15 Büchern, hg. u. übers. v. Hermann Breitenbach, Zürich 1958, 15. Buch / Liber XV, S. 1057, Vers 234–236: „O du gefräßige Zeit und du, o neidisches Alter, / Alles reißt ihr herunter, und wenn euer Zahn es geschändet, / Laßt ihr alles allmählich in schleichendem Tode zerfallen.“ Lat. ebd. S. 1056: Tempus edax rerum, tuque, invidiosa vetustas, / Omnia destruitis vitiataque dentibus aevi, / Paulatim lenta consumitis omnia morte. 40 Schnapp: Entdeckung (s. Anm. 4), S. 138f. 41 Vgl. Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 143 und S. 128. 42 Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 121.

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gesamt handele es sich um einen Vorgang radikaler Ästhetisierung des fragmentierten Skulpturenkörpers, die gleichwohl nicht das Verlustgefühl des 18. Jahrhunderts kenne, so Barkan weiter.43 Auch Gunter Schweikhart konstatiert ab dem 15. Jahrhundert eine neue Wertschätzung für das Fragment als solches, als „ein wichtiges Stück der zerstörten, versunkenen, bewundernswerten Vergangenheit.“44 Schweikhart schließt aufgrund der im 17. Jahrhundert einsetzenden „Flut von Antikenergänzungen“, die italienischen Rezipient*innen hätten erst dann „fragmentierte Statuen als erheblich beeinträchtigt und nur in der wiederhergestellten, vermeintlich ursprünglichen Form genießbar“ erachtet.45 Einer der diskursbestimmenden Rezipienten des 16. Jahrhunderts, Giorgio Vasari, berichtet hingegen, dass bereits um 1568 „ganz Rom“ von der Praxis der Vervollständigung der antiken Fragmente erfasst worden sei, und fügt aufschlussreich hinzu: „Und in Wahrheit haben die Antiken mehr Grazie, die auf diese Art ergänzt wurden, die keine unvollständigen Stümpfe / Sockel(?) haben oder Glieder ohne Kopf oder auf andere Weise schadhaft oder fehlerhaft sind.“46 Zumindest aus Vasaris dominanter Perspektive werden die fragmentierten Skulpturen als defizitär und ästhetisch anstößig beschrieben.47 43 Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. xxxii. 44 Schweikhart, Gunter: Torso. Zur Geschichte und Bedeutung zerstörter Antiken in Mittelalter und Neuzeit, in: Ausstellungskatalog: Der Torso als Prinzip, hg. v. Karl Oskar Blase / Kasseler Kunstverein, Kassel 1982, S. 10–33, hier S. 15. 45 Schweikhart: Torso (s. Anm. 44), S. 25. 46 Vgl. Vasari, Giorgio: Vita di Lorenzotto, scultore e architetto fiorentino e di Bocaccino pittore cremonese, in: ders.: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e archittetori nelle redazioni del 1550 e 1568, Text, hg. v. Rosanna Bettarini/ komm. v. Paola Barocchi, Florenz 1976, Bd. IV,1, S. 304–309, hier S. 307: „[…] e più alto fece sotto certe niccione un altro fregio di rottami di cose antiche, e di sopra nelle nicchie pose alcune statue pur antiche e di marmo, le quali, se bene non erano intere, per essere quale senza testa, quale senza braccia et alcuna senza gambe, et insomma ciascuna con qualche cosa meno, l’accomodò nondimeno benissimo, avendo fatto rifar a buoni scultori tutto quello che mancava: la quale cosa fu cagione che altri signori hanno poi fatto il medesimo e restaurato molte cose antiche, come il cardinale Cesis, Ferrara, Farnese, e per dirlo in una parola, tutta Roma. E nel vero hanno molta più grazia queste anticaglie in questa maniera restaurate che non hanno que’ tronchi imperfetti, e le membra senza capo o in altro modo difettose e manche.“ (Freie Übersetzung A. D.) In der synoptischen Lesart der beiden Fassungen (1550/1568) wird deutlich, dass Vasari erst 1568 die Episode um die Ergänzungen antiker Skulpturen hinzufügte. 47 Am Anblick des stark fragmentierten Torso Belvedere scheint sich Vasari hingegen nicht offiziell gestört zu haben. Zumindest spricht er in der Vorrede des dritten Teils der Vite nur sehr kurz und lobend von „il grosso Torso di bell’vedere“, den er in einer Reihe mit weiteren antiken Skulpturen erwähnt. Vgl. Vasari, Giorgio: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien. Neu übersetzt von Victoria Lorini, hg., eingel. u. komment. v. Matteo Burioni / Sabine Feser, Berlin 2004, S. 91–106, hier S. 96f: „Gut erging es jenen, die ihnen nachfolgten, denn sie konnten mit ansehen, wie einige der berühmtesten, von Plinius beschriebenen Kunstwerke der Antike ausgegraben wurden: der Laokoon, der Herkules und der große Torso von Bel-

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Seine Aussage steht dabei, auch sprachlich (tronchi imperfetti, membra senza capo), in Relation zu einem ganz bestimmten Konzept von Ganzheit, der des menschlichen Körpers. Es ist nicht im Geringsten übertrieben zu konstatieren, dass die Erforschung und Darstellung des intakten und unversehrten Körpers das europäische Großprojekt zahlreicher Akteur*innen gewesen ist. Unter höchster Anstrengung wird gemeinsam an vielen Stellen Ganzheit imaginiert, die allerdings im Besonderen mit der medizinischen Zergliederung des Körpers einhergeht.48 Und so ist es vielleicht nur konsequent, dass eines der ersten Inventare römischer Antiken ausgerechnet aus der Feder eines Mediziners und Biologen, Ulisse Aldrovandi, stammt. Aldrovandi verfasste für Lucio Mauros Le Antichità della città di Roma (1556) das Kapitel Delle Statue antiche. Unter dem Abschnitt Im Garten des Belvedere über dem päpstlichen Palast erwähnt Aldrovandi nach einigen Seiten ein großer Torso des nackten Herkules, der auf einem Stumpf / Sockel aus dem gleichen Marmor sitzt: er hat keinen Kopf, keine Arme, keine Beine. Dieser Rumpf wurde von Michel’Angelo besonders gelobt […].49

Der Mediziner verzeichnet nüchtern körperliche Merkmale (groß, nackt) der Skulptur und reiht die fehlenden Gliedmaßen nach einer wahrscheinlich sehr stereotypen Hierarchie ihrer Bedeutung auf: Kopf, Hände, dann Beine. Sein Vokabular ist sprechend: Die Skulptur bezeichnet Aldrovandi, wie Vasari, als Torso. Den sprachlich nah verwandten Begriff des „tronco“, also Stumpf, verwendet er in Hinblick auf den Sockel der Skulptur. Schließlich bezeichnet er die Skulptur als „busto“, was in diesem Zusammenhang anatomisch als „Rumpf“ verstanden werden muss, schließlich handelt es sich nicht um eine Büste.50 Das Vokabular stellt allerdings keine Ausnahme dar. Man könnte, mit Barkan, bei Aldrovandi vielmehr das Phänomen der ‚Vernatürlichung‘ von Fragvedere; ebenso die Venus, die Kleopatra, der Apollo und unendlich viele mehr, die man nun sowohl in ihrem Liebreiz wie auch ihrer Strenge sah, mit Körpern, die den größten lebenden Schönheiten nachgebildet sind, mit Haltungen, die nicht den ganzen Körper verdrehen, sondern nur bestimmte Partien in Bewegung zeigen, und die sie in anmutigster Anmut erscheinen lassen.“ 48 Vgl. Wenner, Stefanie: Ganzer oder zerstückelter Körper. Über die Reversibilität von Körperbildern, in: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, hg. v. Claudia Benthien / Christoph Wulf, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 361–380. 49 Aldrovandi, Ulisse: Tutte le statue antiche, che in Roma in diversi luoghi, e case particolari si veggono, raccolte e descritte per Ulisse Aldroandi, S. 115–315, in: Lucio Mauro, Le antichità della città di Roma, Venezia 1562, S. 120: „un torso grande di Hercole ignudo, assiso sopra un tronco del medesimo marmo: non ha testa, ne braccia, ne gambe. E’ stato questo busto singularmente lodato da Michel’Angelo […].“ URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/art dok/volltexte/2009/704 (letzter Zugriff: 9. 10. 2020), Übersetzung A. D. 50 Vgl. zur Terminologie und Semantik rund um die italienischen Begriffe „tronco“, „frammento“, „torso“ auch Schweikhart: Torso im frühen 16. Jh. (s. Anm. 15), S. 319.

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mentierung untersuchen. In diversen Gärten und Antikensammlungen der Stadt sieht und erwähnt der Naturwissenschaftler „torsi“, „tronci“ und „busti“, jedoch ohne jene ästhetisch zu bewerten. Aldrovandi dokumentiert ihren Zustand so akribisch wie möglich im Stile eines ‚Arzt-Antiquars‘. Für die Zukunft der Torso-Rezeption als Beziehungsgeschichte ist der kurze Halbsatz von zentraler Bedeutung, dass es eben dieser „Rumpf“ gewesen sei, der so sehr von Michelangelo gelobt wurde.51 Hier beginnt, zumindest schriftlich, die „nahezu verklärte Verbindung“52 zwischen dem Torso Belvedere und dem ‚Künstler-Gott‘ der Frühen Neuzeit, Michelangelo Buonarroti.

IV.

Symbiose: Michelangelos Torso

Dies ist nicht der Ort, die so komplexe wie schwer greifbare Auseinandersetzung Michelangelos mit dem antiken Torso erneut zu rekonstruieren.53 Es reicht hervorzuheben, dass Michelangelo selbst eine enorm stark kanonisierte Person ist, mit der der Torso in den literarischen Überlieferungen ab Mitte des 16. Jahrhunderts topisch in Verbindung gebracht wird. Ende des 16. Jahrhunderts ist in einem Briefwechsel zwischen dem Maler Giovan Battista Paggi und dessen Bruder zu lesen, Michelangelo habe sich selbst einen „Schüler des Torso“ genannt.54 Man versuchte im Weiteren auch, Michelangelo persönlich sowohl die Entdeckung des Torso in einem Straßengraben als auch dessen Identifizierung als Herkules zuzuschreiben.55 Eine der wichtigsten Anekdoten rankt sich darum, Michelangelo habe, nachdem er damit beauftragt wurde, die antike Skulptur zu vervollständigen, demütig entschieden, den Torso niemals zu ergänzen.56 Die Relation zwischen Michelangelo und dem antiken Torso Belvedere wird sinnfällig als die zwischen Text- und Bildkultur zeitgleich mit Aldrovandis Arbeit am Inventar auch von einer anonymen Hand ins Werk gesetzt (Abb. 6): „This 51 Allerdings findet sich fast im selben Wortlaut dieser Zusatz später noch einmal, als Aldrovandi den steinernen Torso eines Mannes beschreibt, den er an einem ganz anderen Ort gesehen hat. Dieser Umstand wurde jedoch in der Forschung nicht berücksichtigt. Vgl. Aldrovandi: statue (s. Anm. 49), S. 239: „Dinanzi la porta si vede un torso d’huomo sopra un pilastro moderno, dove sono l’armi di S. Croce. Questo busto è stato molto lodato da Michel Angelo.“ 52 Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 25. 53 Vgl. dazu Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 25–37 sowie Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 31–37. 54 Vgl. Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 37. Sie zitiert aus Guhl, Ernst: Künstlerbriefe, Berlin 1880, S. 42. 55 Vgl. Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 33. 56 Vgl. Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 53. Raimund Wünsche hat als Archäologe diese frühneuzeitliche Legendenbildung mit Fakten unterfüttert. So sei „am Stein eindeutig festzustellen“, dass am Torso „seit seiner Auffindung niemals irgendein Ergänzungsversuch unternommen“ wurde. Vgl. Wünsche: Torso (s. Anm. 7), S. 291.

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Abb. 6: Flämisch (?), Torso Belvedere, rote Kreide, 47.5 x 31.5, Cambridge, Trinity College, MS R.17.3, f.16, © The Master and Fellows of Trinity College, Cambridge

pees doth michellangeli / exstem above al the anttickes / in belle fidere 53,“ steht neben der in Seitenansicht wiedergegebenen Zeichnung.57 Wie sehr bedurfte die Zeichnung dieser schriftlichen Erklärung? War die Darstellung eines so schwer lesbaren, weil fragmentierten Stücks ohne die fast apologetisch klingende Beischrift den Zeitgenoss*innen nicht verständlich? Im Grunde liegt hier eine zentrale Frage der Forschung: Wurde der Torso geschätzt obwohl oder weil er ein Fragment ist?58 Und was sind die Bedingungen der Kanonisierung des Torso Belvedere als ewig unergänzter Skulptur? Kanones seien per se mit dem Konzept der Zeitresistenz verknüpft, sie sei ihr „bestimmendes Merkmal,“ wie Markus Asper es formuliert. Etwas überzeitlich 57 Das holländisch „gefärbte Englisch“ wird neben stilistischen Merkmalen als Beleg gewertet, die Zeichnung einem flämischen Künstler zuzuschreiben und ins Jahr 1553 zu datieren. Vgl. Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), Kat. 37, S. 157. 58 Vgl. Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 189.

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Gültiges, so Asper weiter, müsse „die historischen Bedingungen seiner Kanonisierung verschweigen, wobei Institutionen und Individuen für die Ausbildung eines K[anons] verantwortlich“ seien.59 Doch weder Aldrovandi noch der anonyme Zeichner schweigen über das Individuum, das offensichtlich für einen Gutteil der Kanonisierung des Torso verantwortlich gemacht wurde. Das mag vor allem am Zeitpunkt liegen, könnte man vermuten: Hier erleben wir den Beginn einer Kanonisierung – wie sich später zeigt, wird Michelangelo jedoch nachhaltig und sehr eng mit dem Kanonisierungsgeschehen des Torso Belvedere verbunden bleiben.60 Es wird noch genauer zu untersuchen sein, was der Statuenhof des Belvedere im Vatikan als regelrechte ‚Kanonmaschine‘61 für den Torso und dessen Wahrnehmung tut. An dieser Stelle sei auf Hans Henrik Brummers wichtige Beobachtung verwiesen, dass der Cortile besonders in Hinblick auf die Wahrnehmung von Zeitlichkeit einen einmaligen Erlebnisraum zwischen Künstler*innen und Skulpturen darstellte. Brummer hebt hierbei im Besonderen auf die große räumliche und zeitliche Nähe zwischen Künstler*in und Skulptur im Statuenhof ab: „an accomplishment of the cancellation of distance in time.“62 Welche Stellung Michelangelo für die Kanonisierung des Torso einnimmt, lässt sich an einer Zeichnung von Raymond Lafage (um 1680) sehr unmissverständlich ablesen (Abb. 7): Die Zeit tritt hier als Enthüllerin auf.63 Sie deckt den Kanon antiker Skulpturen auf, den Herkules Farnese, Apollo und den Torso. Dabei wird der Torso von einer Figur präsentiert, gehalten, ja patronisiert: von Michelangelo. Er greift mit der Hand an den Kopfstumpf. Eine fast sakral konnotierte Geste, die ähnlich einer Berührung von Reliquien zu verstehen wäre, bei der virtus vom Torso auf den Berührenden – oder umgekehrt – übergeht. Lafage macht anschaulich, wie der Torso Belvedere zum Nutznießer der sorgfältig fabrizierten Zukunftssicherung Michelangelos wurde. Seine Überzeitlichkeit, so

59 Asper, Markus: Kanon, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1998, Bd. 4, S. 869–882, Sp. 870. Vgl. dagegen Honold, Alexander: Die Zeit als kanonbildender Faktor. Generation und Geltung, in: Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, hg. v. Renate von Heydebrand, Stuttgart / Weimar 1998, S. 560–580. Siehe auch Locher, Hubert: [Kanon] Kunstwissenschaft, in: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, hg. v. Gabriele Rippl / Simone Winko, Stuttgart 2013, S. 364–371. 60 Bis heute ist die Verbindung zwischen Michelangelo und dem Torso intakt und wird zur Erklärung für die Bedeutsamkeit der Skulptur herangezogen: Vgl. https://www.youtube.com /watch?v=yIwgjFtTXug (letzter Zugriff 22.11.20). 61 Vgl. Locher: Kanon (s. Anm. 59), S. 368: Museum als „mächtige Maschine der Kanonbildung“. 62 Brummer: Statue Court (s. Anm. 11), S. 248. 63 Vgl. Panofsky, Erwin: Vater Chronos, in: ders.: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980 [zuerst 1939], S. 109–152, hier S. 118.

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Abb. 7: Raymond Lafage, Le temps decouvrant les chef d’oeuvres de la Sculpture, um 1680 (?), Feder, 324 x 216 mm Florenz, Uffizien, © Gallerie degli Uffizi – Gabinetto Fotografico

kann man klar formulieren, verdankt sich zu einem großen Teil seiner Einverleibung in die sehr dauerhafte und stabile Kanonisierung Michelangelos. Lafages Zeichnung ist offensichtlich in Auseinandersetzung mit einem zentralen Medium im Kanonisierungsgeschehen des 17. Jahrhunderts entstanden: François Perriers bekanntem Stichwerk Segmenta von 1638. Dieses Buch galt über Jahrhunderte als das Standardwerk der erlesensten antiken Skulpturen in Rom, der sogenannten Opera nobilia. Auf 100 Kupferstichen zeigt Perrier eine Art „ideale Galerie“64 der wichtigsten antiken Skulpturen Roms – bis auf eine 64 Vgl. Krüger, Klaus: Kat. Nr. 24, in: Bilder im Wortfeld. Siebzig Einsichten in die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr / Michael Thimann, Würzburg 2006, S. 64–65.

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Abb. 8: François Perrier, Segmenta nobilium signorum e[t] statuaru[m], 1638 (erschienen 1653), Kupferstich (erster Zustand), © https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/perrier1653/0006 Universitätsbibliothek Heidelberg, 80 B 292 RES, Titelblatt

Ausnahme: Unter ihnen befindet sich eine frühneuzeitliche Skulptur, der Moses des Michelangelo.65 Es muss hervorgehoben werden, dass der Torso Belvedere zwar das Titelblatt ziert (Abb. 8), an dem sich ganz offensichtlich auch Lafage für seine Zeichnung orientiert, jedoch unter den 100 kanonischen Werken im Inneren nicht mehr auftaucht. Christa Schwinn findet dafür eine positive Begründung: „An keiner

65 Vgl. Krüger: Kat. Nr. 24 (s. Anm. 64) sowie Laveissière, Sylvain: L’antique selon François Perrier. Les Segmenta nobilium Signorum et leurs modèles, in: Poussin et la construction de l’antique, hg. v. Marc Bayard / Elena Fumagalli, Paris 2011, S. 49–305, hier S. 51.

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anderen antiken Statue“ habe Perrier das „wahllose[] Wirken“ der Zeit „deutlicher exemplifizieren können“.66

V.

Liaisons dangereuses: Zeit und Kanon

Hatte die Zeit selbst als abstrakte Größe bislang auf subtile Weise an den Diskursen partizipiert, so sehen wir ihr „wahlloses Wirken“ nun bei Perrier tatsächlich verkörpert. Ihre Gestalt verdankt Perrier dem wichtigsten Werk zur Darstellung abstrakter Konzepte, Cesare Ripas Iconologia. In der Edition von 1603 werden Aussehen und Persönlichkeit der Zeit offiziell kodifiziert. Mann, alt, geflügelt, der einen Kreis in der Hand hält und mitten in Ruinen steht, er hat den Mund geöffnet und zeigt seine Zähne, die die Farbe von Eisen haben. […] Die Ruine, der geöffnete Mund und die Zähne aus Eisen zeigen, dass die Zeit zehrt, verdirbt/ zerstört, verzehrt/verbraucht, alle Dinge niederschmeißt ohne Aufwand und ohne Anstrengung.67

Die Zeit, im Italienischen oder Französischen ein Maskulinum, wird so zur Akteurin, besser zum Akteur, und tritt uns in dieser Beschreibung Ripas sehr körperlich gegenüber. Obwohl greisenhaft alt, wird sie zugleich als „scharfzähnig“68 und gewalttätig imaginiert. Eine „irrtümliche Kontamination“69 machte aus dem griechischen Gott Kronos (Saturn) und Chronos, der Zeit, eine Figur – ein komplexer Vorgang, den Erwin Panofsky als „Pseudomorphose“ beschrieben hat und dem wir bei Ripa begegnen. Diese Verschmelzung, die schon in der Antike begann, führe dazu, dass das Verschlingen (Saturn frisst seine Kinder) als Eigenschaft der Zeit selbst gedeutet wurde – sie finde sich, so Panofsky, bereits in Ovids Bild von der Zeit als „edax rerum“, als Größe, „die alles verschlingt, was sie erschaffen hat“, wieder.70 66 Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 119. 67 Ripa, Cesare: Tempo, Iconologia. Overo descrittione di diverse imagini cavate dall’antichità, e di propria invenzione. Nachdruck der Ausgabe Rom 1603, Hildesheim u. a. 2000, S. 483: „Huomo, vecchio alato, il quale tiene un cerchio in mano, e stà in mezzo d’una ruina, ha la bocca aperta, mostrando i denti, li quali sieno del colore del ferro. […] La ruina, e la bocca aperta, e i denti di ferro mostrano, che il tempo strugge, guasta, consuma, e manda per terra tutte le cose senza spesa, e senza fatica.“ Ich danke Emily Oberkönig für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Recherche und Übersetzung von Ripa sowie bei der Redaktion der Abbildungen. 68 Die Scharfzähnigkeit wird bis auf Simonides zurückgeführt, die Zähne aus Eisen sollen eine Anleihe aus der Beschreibung der Bestie im Traum Daniels sein (Dn, 7,7). Vgl. Panofsky: Vater Chronos (s. Anm. 63), S. 113 sowie Kommentar zu Tempo in: Cesare Ripa: Iconologia, hg. v. Sonia Maffei, Turin 2012, Nr. 378, S. 830. 69 Holl, Oskar: Zeit, in: LCI, Bd. 4, Freiburg 1972, Sp. 569–571, hier Sp. 570. 70 Panofsky: Vater Chronos (s. Anm. 63), S. 113.

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Während bei Posthumus dieses Konzept per Zitat über das Medium Schrift vermittelt wird, sehen wir es 100 Jahre später bei Perrier verkörpert: Chronos selbst bei genau jenem Werk, mit dem Mund am Armstumpf des Torso. Anders als 30 Jahre danach bei Lafage, der die Begegnung zwischen Zeit und Torso über Michelangelos Schutzpatronat umwandelt, tritt die Zeit bei Perrier nicht in ihrer wohlwollenden Rolle als Enthüller auf, sondern, so hat es die Forschung topisch formuliert, als „Feind“.71 Doch muss man diesen ersten Eindruck korrigieren. Der Greis wirkt nicht gefräßig und gierig, sondern eher schwach. Er stützt sich fast zärtlich auf den Armstumpf, die übergroße Sense dient der anderen Hand als Krücke. Das Gerät, das Chronos seiner Verschmelzung mit Saturn, dem Ackergott, verdankt, scheint allerdings sehr erfolgreich sein Werk verrichtet zu haben, und so liegen ein Kopf und eine Hand als dessen Resultat herum. Der Kopf ist ebenfalls ein antikes Fragment, das in der Zeit als „Alessandro moriente“, also als Alexander der Große im Moment seines Todes, für seinen perfekten Ausdruck von Schmerz und Leid verehrt wurde (und sich damals in der römischen Sammlung des Cardinale Rodolfo da Carpi befand). Es ist raffiniert, wie Perrier durch das Zusammenstellen der einzelnen Skulpturenfragmente einen vormals vollständigeren Skulpturenkörper imaginiert und einen zeitlichen Ablauf anzudeuten vermag: Der Kopf Alexanders ist, wie ihn Aldrovandi beschreibt „in atto d’una che si muore“, im Moment des Sterbens, in Stein festgehalten.72 Wie Perrier direkt neben den Kopfstumpf eine Hand legt, die ihren Finger am Rand des Druckes krümmt, potenziert den momenthaften Eindruck, dass die Sense eben erst, einer Exekution gleich, ihren gewaltsamen Akt vollzogen hat. Bei längerer Betrachtung fragt man sich, welcher Art der physische Kontakt zwischen dem Greis und dem Torso genau ist. Peter Paul Rubens bietet dafür eine Vermittlungsebene an, weil er sich eingehender mit der Frage der Umwandlung von Stein zu Fleisch, also der Materialübersetzung von antiker Skulptur zu Malerei beschäftigt hat, deren Zweck Perriers Sammlung diente. „Zur höchsten Vollendung der Malerei“ sei „die Kenntnis der Statuen, ja sogar die tiefe Vertrautheit mit ihnen nötig“, schreibt Rubens, „jedoch […] unter Absehung von dem, was daran Stein ist.“73 Die tiefe Vertrautheit ist bei Rubens mit dem Wort 71 Vgl. Arndt, Karl: Chronos als Feind der Kunst. William Hogarth und die barocke Allegorie, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek (NKJ) / Netherlands Yearbook for History of Art, Vol. 23 (1972), S. 329–342. Vgl. auch Chew, Samuel: The Pilgrimage of Life, New Haven / London 1962, bes. S. 12–25. 72 Vgl. Schwarzenberg, Erkinger: From the Alessandro Morente to the Alexandre Richelieu. The Portraiture of Alexander the Great in Seventeenth-Century Italy and France, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 32 (1969), S. 398–405, hier S. 398. 73 Peter Paul Rubens: De Imitatione statuarum: „Concludo tamen ad summam eius perferctionem esse necessariam earum intelligentiam, immo imbibitionem, sed iudiciose applicandum earum ususm omnino citra saxum.“ Zitiert nach Thielemann, Andreas: Rubens’

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„imbibitio“ erfasst, einem Aufsaugen – nach Andreas Thielemann „eine Wortbildung des Mittelalters“, wo der Begriff sowohl im Kontext alchemistischer und pharmazeutischer wie erkenntnistheoretischer Texte auftauche (und ein Eintränken/Durchtränken bezeichnet). Es gehe dabei „um einen Akt besonders intensiver Wahrnehmung und Aneignung“, so Thielemann.74 An anderer Stelle fordert Rubens auch zum „liebevollen Umarmen“ der antiken Statuen auf. Bei genauerer Betrachtung könnte Perriers Chronos nicht nur verschlingen, sondern saugen und umarmen. Mit Rubens gelesen, ginge es Perrier dann keineswegs nur um die Vergänglichkeit und den Verlust, sondern um liebkosendes Aneignen der Antike. „Kanonisierungen“ so Alexander Honold, verdanken sich „meist der Gefahr eines absehbaren Niedergangs oder Verlusts“;75 das zumindest macht auch die Inschrift deutlich: Perrier versammelt nicht nur, sondern, so würde man heute sagen, kuratiert all „die Bruchstücke edler Bilder und Statuen, welche dem neidischen Zahn der Zeit entronnen und den Ruinen der ewigen Stadt entrissen“ wurden, um sie sodann „an die kupferne Presse durch sich selbst“ (d. h. Perrier) zu übergeben.76 Doch in Perriers Titelblatt sieht man die komplexe Beziehung zwischen Zeit und Kanon ins Bild gesetzt, die Honold in einem anderen Zusammenhang scharfsinnig charakterisiert hat: „Sie bedürfen einander wohl mehr, als es zunächst den Anschein haben mag, gerade weil ihr Pakt nur einer liaison dangereuse entsprungen sein kann“.77 Aus dieser Liaison wird bei Perrier eine ménage à troit, in die sich der Künstler selbstbewusst (zusammen mit dem Förderer Roger du Plessys), einschaltet, um Ewigkeitssicherung zu betreiben. Es ist eine Ewigkeit auf Umwegen, darauf verweist die Gestalt des verschlungenen Ouroboros, der sich natürlich nicht ohne Grund kunstvoll verdreht direkt neben der Jahreszahl des Perrierschen Werkes in den Schwanz beißt. Die Schlange, eine freie Interpretation des auch bei Ripa imaginierten ägyptischen Ouroboros, wiederholt Chronos’ Gebärde des Beißens oder Verschlingens auf einem kannelierten Säulenfragment.78 Allerdings hat sich Perrier buchstäblich

74 75 76 77 78

Traktat De imitatione statuarum, in: Imitatio als Transformation. Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Ursula Rombach / Peter Seiler, Petersberg 2012, S. 95–150, hier S. 135f. Vgl. ausführlich zu Rubens’ Imbibitio Thielemann: Rubens’ Traktat (s. Anm. 73), S. 108. Honold: Die Zeit (s. Anm. 59), S. 565. Übersetzungen der Inschrift nach: Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, hg. v. Hartmut Böhme / Beate Slominsky, München u. a. 2013, S. 10 sowie nach Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 57. Honold: Die Zeit (s. Anm. 59), S. 563. Vgl. allgemein Assmann, Jan: Ouroboros. Der altägyptische Mythos vom Sonnenlauf, in: Ausstellungskatalog: Never Ending Story. Der Loop in Kunst, Film, Architektur, Musik, Literatur und Kulturgeschichte, Kunstmuseum Wolfsburg / Berlin 2017, S. 58–77.

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einen Dreh erlaubt, das Konzept der Ewigkeit, der Anfang und Ende gleich sind, scheint verschlungener.

VI.

Seltsame Abenteuer und unheimliche Hoffnungen: Körper und Kanon

Die Fokussierung auf die antike Skulptur, wie wir sie bei Perrier finden, ist „bereits als Sonderfall an Spezialisierung“ zu verstehen, denn „in den Kunst- und Naturalienkammern waren die Antiken noch verbunden mit einem weitaus breiteren Spektrum an Objekten“, welches „auf faszinierende Weise“ in „gedruckter Form“ die Metallotheca Vaticana von Michele Mercati entfaltet habe.79 Der damalige Direktor der botanischen Gärten und der naturwissenschaftlichen Sammlungen des Vatikans entwickelte mit dem deutschen Kupferstecher Anton Eisenhoit Ende des 16. Jahrhunderts das erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts posthum veröffentlichten Manuskript. Darin wird eine Kontinuität zwischen Fossilien und antiken Skulpturen hergestellt, die offen lässt, ob nicht auch beim aus parischem Marmor angefertigten Torso die Natur ihre formenden Kräfte im Spiel gehabt haben könnte. Durch diese „Verneblung“ wird der Torso zu einer vivifizierten Mischung aus Artefakt und Naturalie, pendelt „zwischen der Formkraft der Natur und menschlichem Gestaltungsvermögen“.80 Dabei ist der Name des Buches, Metallotheca, aus heutiger Sicht etwas irreführend, doch Metall „konnte allgemein alle in der Erde sich bildenden und dort auffindbaren Mineralien meinen.“81 Hieran zeigt sich auch, dass für die Wahrnehmung des Torso das Fehlen einer Ausgrabungsgeschichte keinen Einfluss auf seine Verbindung mit dem Boden hatte. Interessanterweise hat Eisenhoit in seinem Stich aber gerade über die Behandlung der Bruchkanten, ähnlich wie Licinio, einen eher (im heutigen Sinne) metallischen Eindruck evoziert (Abb. 9). Horst Bredekamp notiert: „Als Gipfel einer gleichsam metallischen Qualität des Steines zeigt der Stich die Brustwarzen

79 Felfe, Robert: Formkräfte der Natur, menschliche Künste und Geschichte, in: Ausstellungskatalog: Assoziationsraum Wunderkammer. Zeitgenössische Künste zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, hg. v. Nike Bätzner, Halle 2015, S. 97–109, hier S. 98. 80 Vgl. zuerst Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 19. Siehe auch Schnapp: Entdeckung (s. Anm. 4), S. 42. 81 Vgl. Holländer, Hans: Museum der Steine. Die „Metallotheca“ des Michel Mercati und die Ordnung des Wissens, in: Ausstellungskatalog Wunderwerk. Göttliche Ordnung und vermessene Welt. Der Goldschmied und Kupferstecher Antonius Eisenhoit und die Hofkunst um 1600, hg. v. Christoph Stiegemann, Paderborn 2003, S. 19–30, hier S. 20.

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Abb. 9: Antonius Eisenhoit, Statua trunca e marmore pario, fol. 27, um 1580, Kupferstich, 22,2 x 14,2 cm, aus Appendix ad Metallothecam Vaticanam Michaelis Mercati, Rom 1719 © Rara Sammlung des Kunsthistorischen Instituts, Freie Universität Berlin

als kleine, mit einem Zapfen versehene Metallplatte.“82 Noch harrt die Darstellung der Statua trunca e marmore pario einer genauen materialästhetischen Analyse, die sich auch mit der Einbindung der Tafel in den Gesamtkontext des Manuskripts zu befassen hätte. An dieser Stelle steht sie perspektivisch für die Möglichkeit, die der Torso Belvedere offensichtlich und über einen längeren Zeitraum als Projektionsfläche für Vorstellungen von Verlebendigung und Gegenwärtigkeit anbot. Ganz im Widerspruch dazu steht der Umstand, dass die Skulptur draußen im Belvederehof zusehends verwitterte. Papst Pius V. hatte zwar zu Mercatis Amtszeit die Entscheidung getroffen, die nun als anstößig empfundenen antiken 82 Bredekamp, Horst: Kat. Nr. 23, in: Bilder im Wortfeld. Siebzig Einsichten in die Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr / Michael Thimann, Würzburg 2006, S. 61–62, hier S. 61.

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Abb. 10: Joachim von Sandrart, Komposition mit Venus und Torso Belvedere, um 1670 (?), Rötel, 367 x 208 mm © Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Andreas Diesend

Skulpturen des Statuenhofs hinter verschlossenen roten Holzverschlägen zu verbergen – aus konservatorischer Perspektive im Nachhinein ein Glücksfall. Dort blieben sie bis zur Einrichtung des sogenannten Museo Clementino 1772.83 Allein der Torso stand vermutlich die ganze Zeit ohne Schutz im Freien – und war daher auch unmittelbar sichtbar.84 Das führte zum einen zu einer buchstäblichen Sonderstellung des Torso, aber es führte auch zu konservatorischen Problemen: 83 Vgl. Michaelis: Geschichte des Statuenhofes (s. Anm. 11), S. 45 sowie Liverani: Statuenhof (s. Anm. 11), S. 18. 84 Vgl. Michaelis: Geschichte des Statuenhofes (s. Anm. 11), S. 44f.

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Es ist ein kurioses Zusammenfallen ungleichzeitiger Gleichzeitigkeit, dass ausgerechnet in der erst posthum 1717 veröffentlichten Metallotheca Mercatis ein Gedicht von Augustino Favoriti mit abgedruckt wird, der als Sekretär bei Papst Innocenz XI. angestellt war. Favoriti bedauert um 1665 das Schicksal des Torso, dem, wie er schreibt, Juno aus Rache Hagelschlag und Regen geschickt und ihn so zu einem „monstrum“, einem „Ungeheuer“ gemacht habe.85 Stellt man dieser Klage nun eine im selben Zeitraum, um 1670, gefertigte Rötelzeichnung von Joachim von Sandrart zur Seite, dann wird offensichtlich, wie komplex die Asynchronien sind, die mit und durch den Torso Belvedere imaginiert und erzeugt werden konnten. (Abb. 10) Bei Sandrart wird Favoritis durch Juno entstelltes „monstrum“ auf ganz andere Weise lebendig als bei Mercati. Sandrart macht das Fragment, im Sinne von Rubens’ Gedanken der Verlebendigung durch Materialtransformation, zum sehr vitalen Akteur männlichen Begehrens. Fast peinlich berührt, hat die Forschung das Blatt bisher kaum diskutiert und gerne als „kuriose Pastiche“86 und Vorstudie verharmlost. Schweikhart spricht scheu von einem „stummen ‚Zwiegespräch‘ zwischen den beiden Torsi“, ein anderer Text von einem wie lebendig wirkenden „Paar“, das ganz ohne „die beredte Sprache der Gliedmaßen“ auskomme.87 Sandrart stetzt den Rötel so ein, dass der Körper des Torso zu glühen scheint, während die an eine Venus gemahnende fragmentierte weibliche Skulptur dahinter blass leuchtet.88 Alles ist dysfunktional, aber es lebt. Hier wird der Verlebendigungsdiskurs auf die Spitze getrieben. Sandrart scheint fast mit dem Begriff der Potenz zu spielen: Die Korrespondenz von blanker, weicher Schamgegend der weiblichen Figur mit dem fleischlich, blutig wirkenden Armstumpf des Torso ist nur eine Stelle, die gleichzeitig den Mangel und die Möglichkeit an Berührungs- und Kommunikationsmöglichkeiten beinahe gewaltsam vor Augen führt und die sexualisierte Dimension dieser Begegnung in den Fokus rückt. 85 Michaleis Mercati: Metallotheca Vaticana, opus posthumus, hg. v. Lancisius, Rom 1717, S. 370 zitiert nach: Schwinn: Torso (s. Anm. 9), S. 146. Schwinn übersetzt „monstrum informe“ mit „häßliche Mißgeburt“, ebd. 86 Mazzetti di Pietralata, Cecilia: Joachim von Sandrart (1606–1688). I disegni, Mailand 2011, Katalognr. 298, S. 183. 87 Schweikhart, Gunter: Zwischen Bewunderung und Ablehnung. Der Torso im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: ders.: Die Kunst der Renaissance. Ausgewählte Schriften, hg. v. Ulrich Rehm / Andreas Tönnesmann, Köln u. a. 2001, S. 111–133, hier S. 131. Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), S. 177, Kat. 102. 88 Eine in genau dieser Weise fragmentierte Venusfigur gab es meines Wissens nicht. Ich sehe allerdings die Möglichkeit, dass sich Sandrart auf eine Venusskulptur bezieht, die er in Florenz oder durch Rubens’ Zeichnungen gesehen haben könnte. Dieser Torso einer Venus Pudica befindet sich heute in den Uffizien (ehem. Sammlung der Medici und ggf. Cortile del Belvedere?). In jedem Fall hat Sandrart in der Rötelzeichnung, ähnlich wie bei der Venus Giustiniani auf dem Stich von Johann Jakob von Sandrart, Ruinen-Capriccio, Tafel qq aus Teutsche Academie 1679, II (Sculptur), die weibliche Skulptur wesentlich stärker verstümmelt.

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Im Kanon, so Jan Assmann, darf sich „nichts ändern“, wenn „das Band nicht zerreißen soll“, das die Lebenden mit der Vergangenheit verbindet. Vielmehr sei gar „hieratische Stillstellung“ ein zentrales Prinzip der Kanonisierung.89 Mit Hubert Locher wäre der Gemeinplatz zu ergänzen, dass Kanonbildung auf „Identitätsstiftung einer ganzen Gesellschaft, auf die Vermittlung von Kollektiv und Individuum und dabei auf größtmögliche Verbindlichkeit und Stabilität“ ziele.90 Kanones erzählen somit immer auch von einer „attraktive[n] und unheimliche[n] Hoffnung“, so Frank Kelleter, der „Hoffnung, dass bestimmte menschliche Kommunikationen sich gleich bleiben mögen, egal wann und wo sie stattfinden.“ Doch, so Kelleter weiter, „[d]as Versprechen zeit- und ortloser Bedeutung kollidiert mit der Tatsache, dass jede Kommunikation an menschliche Körper in Zeit und Raum gebunden bleibt.“91 Es scheint genau der menschliche Körper zu sein, der die einzige Konstante wie die größte Herausforderung im langen und bewegten Rezeptions- und Kanonisierungsgeschehen rund um den antiken Torso darstellt. Immer wieder droht das Band zu zerreißen, wenn Kanonisierung auf Körper trifft – wobei nun ein weiteres Kapitel anzuschließen wäre, da auch der Körper, als Zeitmesser und darüber hinaus, keine anthropologische Konstante darstellt.92 Ein letztes Beispiel, das ebenso den Auftakt zu einer nur scheinbar ‚modernen‘ Forterzählung bilden könnte, soll zum Abschluss einen Ausblick auf weitere Asynchronien der Torso-Rezeption liefern: 1704 gab der römische Verleger Domenico de Rossi ein Sammelwerk heraus, in dem die wichtigsten Statuen Roms und Florenz’ versammelt waren, Raccolta di statue antiche e moderne.93 (Abb. 11) Paolo Alessandro Maffei ist Autor der Erläuterungen und eröffnet den Eintrag mit erheblichem Befremden. Es erscheine doch, so Maffei, ein „seltsames Abenteuer“ für den, der den Wert der Kunst nicht kennt, dass wir hier in unserem Buch unter den antiken und berühmtesten Statuen des Vatikan einen Stumpf einfügen, dem Kopf, Arme und Bein fehlen, und jede andere Sache, die man bräuchte, um ihn zu erkennen, die dasjenige darstellte, als es ganz war; aber, um ehrlich zu sein, so verstümmelt/abgeschnitten 89 Assmann, Jan: Stein und Zeit. Das monumentale Gedächtnis der altägyptischen Kultur, in: Kultur und Gedächtnis, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1988, S. 87–114, hier S. 109. Assmann zitiert aus Burckhardt, Jacob: Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge zur bildenden Kunst, hg. v. Henning Ritter, Köln 1984, S. 195. 90 Locher: Kanon (s. Anm. 59), S. 365. 91 Kelleter, Frank: Populärkultur und Kanonisierung. Wie(so) erinnern wir uns an Tom Soprano?, in: Wertung und Kanon, hg. v. Matthias Freise / Claudia Stockinger, Heidelberg 2010, S. 55–76, hier S. 55. 92 Mein aktuelles Buchprojekt Der wandernde Torso. Vom Körper(werden) im materiellen Gefüge der Frühen Neuzeit, das ich im Kontext des EXC 2020 Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective bearbeite, ist eben jener Problemstellung gewidmet. 93 Siehe Wünsche: Ruhm (s. Anm. 8), Kat. Nr. 25, S. 158.

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Abb. 11: Paolo Alessandro Maffei u. Domenico de Rossi, Raccolta di statue antiche e moderne, Rom 1704, Sp. 11 © https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/maffei1704/0184 Universitätsbibliothek Heidelberg / 80 G 45 RES / S. 11

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(mozzo) und verstümmelt/gestutzt (mutilo) wie er ist, so haben die ‚intendenti‘ ihn immer für ein Wunder der Kunst halten wollen.94

Dies ist eine dezidiert auf die defizitären körperlichen Merkmale fokussierende Differenzerfahrung mit dem Torso, die jedoch weder auf die gefräßige Zeit noch auf das Wetter als göttliche Strafe bezogen ist. Der „Wert der Kunst“ wird nun als Größe bemüht und als Patron und Kanonstütze muss, einmal mehr, Michelangelo die immense Lücke zwischen Körper und Kanon füllen: […] und besonders Michelangelo bewunderte die Figur, hielt sich damit auf, sie zu betrachten, um zu sehen, dass sich in seinem Vorbild die gesamte Perfektion der Kunst befand, und dass es daher als Schule für andere dienen sollte […] Nichts anderes erkennt das Auge in diesem Marmor als hochperfekte Symmetrie der Teile, die übrig sind, und eine gewisse Kraft in den Muskeln […].95

Maffei eignet sich Michelangelos Blick an und transformiert so den verstümmelten Stumpf zum vorbildhaften Stück Kunst. Durch den Bezug auf Michelangelos erkennendes Sehen offenbart sich nach Maffei nicht länger das Defizitäre, sondern das künstlerische Potential des antiken Fragments. Nach genau demselben Prinzip funktioniert auch die berühmteste, selbst kanonisch gewordene, Beschreibung des Torso Belvedere von Johann Joachim Winckelmann: Bey dem ersten Anblick dieses Stückes wird man nichts anderes gewahr als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die Ruhe angenommen, und sich fixiret auf dieses Stück, so verliehret das Gedächtniß den ersten Anblick des Steins und scheinet er weichliche zarte Materie zu [werden].96

Bewusst hat der Autor die seit Ovids Pygmalionerzählung bekannte menschliche Sehnsucht nach einer sensuellen Verlebendigung von und Vereinigung mit Skulptur alludiert. An diesen kulturhistorisch stark aufgeladenen Materialtransformationen von Stein (hart) zu Fleisch (weich), die mit den kunsttheore94 Maffei, Paolo Alessandro: Raccolta di statue antiche e moderne, hg. v. dems. / Domenico de Rossi, Rom 1704, Sp. 11, Übersetzung A. D. 95 Maffei: Raccolta (s. Anm. 94), Sp. 11. 96 Kunze, Max: Das Florentiner Winckelmann-Manuskript, Florenz 1994, S. 13, zitiert nach: Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Der vervollständigte Torso und die verstümmelte Venus. Zur Rezeption antiker Plastik und plastischer Anatomie in Ästhetik und Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Germanistik NF 8, 2 (1998), S. 361–373, hier S. 363. Die Winckelmann-Forschung hat eindrücklich dargelegt, wie viele Versuche (man zählt 5 Fassungen) es Winckelmann gekostet hat, den Torso Belvedere in der finalen Fassung ‚heil‘ zu schreiben. Vgl. auch Potts, Alex: Flesh and the Ideal. Winckelmann and the Origins of Art History, New Haven / London 1994, S. 179f. sowie Antoine, Jean-Philippe: Sculpted by Dead Marbles. Winckelmann’s ‚Outer Selves‘ and the Body without Organs, in: Space and Self in Early Modern European Cultures, hg. v. Malina Stefanovska / David Warren Sabean, Toronto 2012, S. 305–320.

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tischen Diskursen zur Lebendigkeit Hand in Hand gehen, partizipiert der Torso Belvedere, wie zu sehen, durch die Jahrhunderte.97 In seinem Fall ist allerdings das Moment der Wahrnehmung von Versehrtheit, die in einem materiellen Transformationsprozess scheinbar überwunden wird, von besonderer Relevanz. Diese Transformationsleistung wurde bisher in einer bekannten Erzählung exklusiv der Vormoderne zugebilligt. So habe die Renaissance im Unterschied zur Moderne nicht absichtlich das „ruinöse Objekt unterstützt“, notiert André Chastel. Vielmehr diagnostiziert Chastel bei ihr eine „instinktive Tendenz, es wiederherzustellen, um die Zerstörung zu vergessen.“98 Nicht länger vergessen zu können, sondern genau den Verlust (des Ganzen) produktiv zu machen war bisher eine genuin moderne Haltung. Linda Nochlin erklärt dieses angeblich neue Verlustgefühl kurzerhand gar zum Ursprung der Moderne: Out of this loss is constructed the Modern itself. […] a distinctively modern view of antiquity ‚as‘ loss – a view, a ‚crop‘, that will constitute the essence of representational modernism.99

Diese derart geregelten Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Epochen und Vorstellungen von Fragmentarität werden zwischen zwei noch größere Konzepte eingespannt: die Antike und die Moderne. In diesem Spannungsfeld werden die zentralen Narrative um das Konzept Fragment konstruiert und an den größeren Komplex der Antikenrezeption mitangebunden. Doch es kann weder darum gehen, nur der Moderne ein Interesse an „inszenierte[r] Fragmentarität“100 zuzubilligen, noch ‚gewollte‘ Fragmente in der ‚Vormoderne‘ zu suchen, noch um andere essentialistische Naturalisierungen. Es ist, unabhängig von Epochenkonstruktionen, davon auszugehen, dass der Wert 97 Zu den materiellen Transformationsleistungen der Kulturgeschichte, die u. a. aus Elfenbein bei Ovid schließlich Marmor werden ließ, vgl. Didi-Huberman, Georges: Die leibhaftige Malerei, München 2002; vgl. dazu auch Krüger-Fürhoff: Torso (s. Anm. 96); siehe weiterhin Stoichita, Victor I.: Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock, Paderborn 2011 sowie Lebenstzejn, Jean-Claude: Pygmalion, Berlin 2017. 98 Chastel, André: Le fragmentaire, l’hybride et l’inachevé, in: Das Unvollendete als künstlerische Form. Ein Symposion, hg. v. Joseph Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, Bern 1959, S. 83–89, hier S. 86: „La préoccupation du fragmentaire est liée à l’idée du malheur de l’œuvre humaine et de la ruine; la Renaissance, par opposition aux modernes, ne supportait, pas volontiers la vue de l’objet ruiné, surtout s’il s’agit d’un ouvrage de petit format et d’une statue. La tendance instinctive est de le restaurer pour oublier la destruction.“ Vgl. auch Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 121. 99 Nochlin, Linda: The Body in Pieces. The Fragment as a Metaphor of Modernity, London 1994, S. 8. 100 Malcher, Kay u. a.: Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissenschaften. Eine Einleitung, in: Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissenschaften, hg. v. dens., München 2013, S. 9–26, hier S. 17.

Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte

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von Fragmenten in Gemeinschaften immer wieder neu mit Bezug auf spezifische Konzepte von Ganzheit (bspw. Geschichtsmodelle, Körperkonzepte oder Werkbegriffe) ausgehandelt wird. Fragmente wurden in diesem Beitrag als eine mobile Kategorie verstanden, die sich konstitutiv auf jeweilige Vorstellungen von Zeitlichkeit sowie auf Körper- und Materialitätsdiskurse auswirkt. Je nach Perspektive ist der Torso als Fragment etwas Defizitäres oder etwas Offenes und Anschlussfähiges – eine Kippfigur, die sich ständig zwischen Mangel und Möglichkeit hin und her bewegt. Aus diesem Potential der Gleichzeitigkeit eines Anund Abwesenden, das Phantasie und Imaginationskraft anregend kann, wirken Fragmente. Vielleicht könnte man sie, in Anlehnung an Achim Landwehrs Begriff der Chronoreferenz als einer „Untergattung von Relationierungen […], mit denen Bezüge zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten errichtet werden“,101 als Chronoreferenten par exellence begreifen? Verstünde man den Torso als materialisierten Chronoreferenten, würde er immer wieder aufs Neue sowohl auf abwesende Zeiten als „Unverfügbarkeiten“ hindeuten, Zeiten „die aufgrund materiellen Mangels unzugänglich bleiben“, aber auch auf abwesende Zeiten, die als schöpferischer Möglichkeitsraum durch eigenes „Sagen, Denken und Handeln“ Zukünftiges gestalten können.102 Es scheint nicht so, dass der Torso, wie von Alex Potts angenommen, ein „symbolically empty fragment“103 darstellte oder „a mere blank slate overwritten by a particular Rezeptionsgeschichte?“, wie Barkan fragt.104 Wie ich im Vorangegangenen gezeigt habe, machte er durch die Jahrhunderte Angebote in Hinblick auf seine Körperlichkeit, seine Sexualisierung, seine Materialität und damit auch seine Temporalität, um abschließend nur einige der zentralen Aspekte wieder aufzugreifen. Ich wollte ausdrücklich nicht die Erzählung eines durchgängig stabilen Artefakts im Kanon weiterschreiben, in der lediglich nach dem Grad der Abweichung zwischen ‚Original‘ und Rezeption gefragt wird. Die Frage nach der Zeitlichkeit des Torso und den durch ihn evozierten Asynchronien innerhalb eines sehr aktiven Kanonisierungsgeschehens führte immer wieder zum menschlichen Körper. Ich möchte in diesem Sinne Konzepte von Fragmentarität zuallererst als „kulturhistorische Indikator[en]“ begreifen, weil sie „Auskunft über die Regeln geben, nach denen historische oder ästhetische To-

101 Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 150. 102 Vgl. Landwehr: Vergangenheit (s. Anm. 101), S. 154. 103 Potts: Flesh (s. Anm. 96), S. 179. 104 Barkan: Unearthing (s. Anm. 5), S. 191.

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talitäten“105 wie der ‚menschliche Körper‘, ‚die Geschichte‘ oder ‚die Antike‘ rekonstruiert werden. Auch wissenschaftliche Diskurse sind solche zeitabhängigen Indikatoren und folgen diesen Regeln: Vielleicht gerade, weil dem Torso die Fabrikation einer Ausgrabung aus dem Boden fehlt und sein Auftauchen nicht lückenlos rekonstruiert und an gängige Diskurse angeschlossen werden kann, bietet er sich nun schließlich als attraktiver Forschungsgegenstand den durch die „Wilden Archäologien“106 informierten Geschichtswissenschaften an. Bei Stephen Greenblatt fällt der Wunsch des „neuen“ Historiographen nach Brüchen, nach „unassimilable otherness, a sense of distance and difference“, zusammen mit der Vermutung, dass besonders „verwundete“ und „prekäre“ Artefakte aus der Vergangenheit generell einen größeren Resonanzraum anböten und Vorstellungen von Geschichtlichkeit mit erzeugen könnten.107 Demnach, so möchte ich selbstkritisch schließen, sollte jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragmenten sich der vielleicht ganz im Stillen gehegten, aber vergeblichen Hoffnung bewusst sein, Zugang zu einer ‚echten‘ und ‚wahren‘ Vergangenheit108 zu erhalten.

105 Neumann, Michael: „Schauplatz von Trümmern“. Zur Rhetorik des Fragments, in: Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissenschaften, hg. v. Kay Malcher u. a., München 2013, 157–168, hier S. 157. 106 Vgl. Ebeling, Wilde Archäologien (s. Anm. 3), S. 463. 107 Greenblatt, Stephen: Resonance and Wonder, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 43, 4 (1990), S. 11–34, hier S. 21f. 108 Vgl. Lowenthal: Past (s. Anm. 5), S. 403. Vgl. auch Malcher, Fragmentarität (s. Anm. 100), S. 18, sowie Landwehr: Vergangenheit (s. Anm. 101), S. 151.

Nadine Hufnagel

Zeit der Helden? Überlegungen zu temporalen Spezifika in zwei Wiedererzählungen des Nibelungenliedes (Hs. a und Heinrich Steinfests Der Nibelungen Untergang)

I.

Temporale Spezifika, Wiedererzählen und das Nibelungenlied

Das hochmittelalterliche Nibelungenlied gibt reichlich Anlass, um über Zeit nachzudenken. Die Forschung beschäftigte sich u. a. mit der Geschichtlichkeit der Figuren und Ereignisse, mit der Frage nach der textimmanenten und textexternen Bewertung ihrer Historizität oder mit der narrativen Konstruktion von Zeit.1 Im Mittelpunkt standen dabei oftmals der Beginn des Textes in den hochmittelalterlichen Handschriften A und C, die sogenannte Programmstrophe,2 sowie die temporalen Spezifika, die insbesondere auftreten, wenn von denjenigen Ereignissen erzählt wird, die die ‚heroische‘ Schicht der hybriden Heldenfiguren3 betreffen. Unter ‚temporalen Spezifika‘ verstehe ich Phänomene, die die gewöhnliche zeitliche Organisation der Narration unterlaufen und damit potentiell Vorstellungen von zeitlicher Ordnung des Publikums irritieren. Die Heldentaten Siegfrieds, von denen Hagen berichtet, wollen sich beispielsweise chronologisch nicht recht in die zuvor vom Erzähler vermittelte Biographie der Figur einfügen. Der Heros Siegfried agiert in einem Sonderraum und einer Sonderzeit. […] In den einzelnen Episoden versucht er [der Erzähler], Zeit genau zu strukturieren. Wo die Handlung jedoch in Sagenräume ausgreift, suspendiert er gewöhnliche Zeitordnungen.4 1 Vgl. u. a. Kropik, Cordula: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik, Heidelberg 2008 (Jenaer Germanistische Forschungen NF 24); Kragl, Florian: Die Geschichtlichkeit der Heldendichtung, Wien 2010 (Philologica Germanica 32); Müller, Jan-Dirk: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), S. 144–152, S. 332–335 u. ö. 2 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, hg. und übers. Ursula Schulze, Düsseldorf / Zürich 2005, Str. 1,1: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit. 3 Vgl. Lienert, Elisabeth: Aspekte der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 138 (2016), S. 51–75. 4 Müller: Episches Erzählen (s. Anm. 1), S. 335.

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Nadine Hufnagel

Die Programmstrophe erregte die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler*innen deshalb, weil sie die Erzählsituation thematisiert: Das Publikum wird mittels der wunder alter Zeit aus dem Hier und Jetzt hinausgeführt. Die Vergangenheit erscheint dabei als Zeit, von der man sich gemeinschaftlich erinnernd erzählen kann, die aber in ihrem Verhältnis zur Gegenwart nicht genauer bestimmt wird. Jan-Dirk Müller hat dies als typische Zeitkonzeption ‚epischen Erzählens‘ beschrieben: Zeit wird ganz von einem Gegenwartsstandpunkt aus erfahren, aber nicht in einer Weise, dass sie ‚teleologisch‘ auf diesen zuläuft, sondern dass sie als gemeinsamer Rahmen diesen und eine ihm unbestimmt zugeordnete Vergangenheit übergreift. Zeit wird nicht als Ablauf, als Bewegung gefasst. Sie erscheint eher als Assoziationsraum, in dem Nahes und Fernes ko-präsent sind. Dieser Zeit-Raum ist nicht gegliedert. Der zeitliche Abstand wird in Bezug auf den eigenen Standpunkt nur ungefähr bestimmt […]; die Relation zwischen beiden interessiert erst in zweiter Linie. Auch der Anfangspunkt muss nicht exakt bestimmt werden.5

Zugleich entwirft die Erzählinstanz des hochmittelalterlichen Nibelungenliedes in der Programmstrophe ihre Erzählung als eine Wiedererzählung.6 ‚Wiedererzählen‘ ist in der germanistischen Mediävistik stark von Franz Josef Worstbrock geprägt, der seine Begriffskonzeption auf Basis mittelalterlicher Rhetorik, poetologischer Passagen höfischer Großepik und der Vorstellung vom Dichter als artifex entwickelt. Das Verständnis einer Erzählung als Wiedererzählung, im Sinne einer rhetorisch kunstvollen Bearbeitung einer präexistenten materia, gilt Worstbrock als Fundament „mittelalterlicher Erzählpoetik“, „die ihre spezifische Epoche hat […] in einem Zeitraum, der seine Grenze erreicht, als methodische Übersetzung einerseits und genuine Fiktionalität anderseits möglich werden“.7 Worstbrocks Überlegungen wurden vielfach aufgegriffen, kritisch reflektiert und modifiziert;8 für das Nibelungenlied habe 5 Müller: Episches Erzählen (s. Anm. 1), S. 295; vgl. auch Kragl: Geschichtlichkeit (s. Anm. 1), S. 16. 6 Obwohl sich bekanntlich von Beginn der schriftlichen Tradierung an verschiedene Fassungen unterscheiden lassen, zeichnet es sich durch eine, auch im Vergleich mit anderen mittelhochdeutschen Heldenepen, erstaunliche Stabilität aus; vgl. Harms, Björn Michael: Narrative ‚Motivation von unten‘. Zur Versionenkonstitution von ‚Virginal‘ und ‚Laurin‘, Berlin / New York 2013, S. 10; Schmid, Florian M.: Die Fassung *C des ‚Nibelungenlieds‘ und der ‚Klage‘. Strategien der Retextualisierung. Berlin / Boston 2018 (Hermaea 147), S. 83. 7 Worstbrock, Franz Josef: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 128– 142, hier S. 130. 8 Vgl. u. a. Haug, Walter: Die theologische Leugnung der menschlichen Kreativität und die Gegenzüge der mittelalterlichen Dichter, S. 73–88; Klein, Dorothea: Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Inszenierungen inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne, S. 15–40; und Schmid, Elisabeth: Erfinden und Wiedererzählen, S. 41–56, in: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, hg. v. Renate Schlesier / Beatrice

Zeit der Helden?

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ich exemplarisch am Codex Hundeshagen (b) und der Darmstädter Nibelungenlied-Handschrift (n) gezeigt, dass ein gegenüber Worstbrocks Konzeption erweitertes Verständnis von Wiedererzählen, das auch narratologische Kategorien sowie die Materialität der Überlieferung einbezieht, fruchtbar sein kann.9 Bereits zuvor hat Florian Schmid anhand der Fassung *C die grundsätzliche Tragfähigkeit von Worstbrocks Konzepts nachgewiesen, aber u. a. die Berücksichtigung von Gattungs- und Textspezifika angemahnt.10 Dazu gehört, dass das Erzählen der materia des Nibelungenliedes mit der ersten Niederschrift um 1200 im deutschen Sprachraum eine relativ feste Form erhält. Im 15. Jahrhundert aber verliert diese Form in einem Ausmaß an Verbindlichkeit, dass man die Nibelungenlied-Texte einiger Handschriften als Wiedererzählungen bezeichnen kann. Um in diesem Zusammenhang materia zu konzeptualisieren,11 knüpfe ich an die medievalism-Forschung an, die den grundsätzlichen Konstruktionscharakter ‚des Mittelalters‘ und damit auch der mediävistischen Untersuchungsgegenstände immer wieder hervorhebt: [T]he Middle Ages quite simply has no objective correlative. […] It follows quite simply that […] the successive recreation of the Middle Ages by different generations […] is the Middle Ages. And this of course is medievalism.12

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Trînca, Hildesheim 2008 (Spolio Berolinensia 29) und Dimpel, Friedrich Michael: Freiräume des Anderserzählens im ‚Lanzelet‘, Heidelberg 2013 (Beihefte zum Euphorion 73). Vgl. Hufnagel, Nadine: Zum Wiedererzählen des ‚Nibelungenliedes‘ im 15. Jahrhundert (Hs. b, Hs. n), in: Text und Textur. WeiterDichten und AndersErzählen im Mittelalter, hg. v. Susanne Flecken-Büttner / Peter Glasner / Satu Heiland u. a., Oldenburg 2020 (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung Beihefte 5), S. 385–408. Vgl. Schmid, Florian M.: Die Fassung *C (s. Anm. 6), hier v. a. S. 80–83 u. S. 368. An diesem Schwachpunkt von Worstbrocks Konzept arbeitet sich bereits Ludger Lieb ab und entwickelt ein „historisches Modell“, um „besser [zu] erklären, warum die Wiedererzähler so und nicht anders vorgehen“, welches aber „nicht als literaturwissenschaftliches Erklärungsmodell brauchbar“ ist; vgl. Lieb, Ludger: Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ‚Wiedererzählens‘, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Joachim Bumke / Ursula Peters, Berlin 2005 (ZfdPh, Sonderheft zum Band 124), S. 356–379, hier S. 369. Leslie Workman in seinem Plenarvortrag „The Future of Medievalism“ auf der 10th International Conference on Medievalism in Worcester, Massachusetts 1995, zitiert nach Verduin, Kathleen: The Founding and the Founder: Medievalism and the Legacy of Leslie J. Workman, in: Studies in Medievalism 17 (2009), S. 1–27, hier S. 20. Diese Grundüberzeugung kennzeichnet auch neuere Arbeiten der medievalism studies; vgl. Nelson, Jinty: Why reinventig medieval history is a good idea, in: The Making of Medieval History, hg. v. Graham A. Loud / Martial Staub, York / Woodbridge / Rochester 2017, S. 17–36, hier S. 17: „The Middle Ages were, and go on being, not born but made: firstly in a particular early modern time, and re-made ever since in a successive comings-to-terms with things present through things past.“ Dieses konstruktivistische Geschichtsverständnis teilen medievalism studies und Transformationsforschung, wie sie vom SFB 644 „Transformationen der Antike“ geprägt wurde; vgl. Böhme, Hartmut: Einladung zur Transformation, in: Transformation:

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Analog ist die materia des Nibelungenliedes das Ergebnis einer Modellbildung auf Grundlage der vorliegenden erzählerischen Ausformungen.13 De facto kommt in diesem Abstraktionsprozess den ältesten erhaltenen Handschriften besondere Relevanz zu. D a s Nibelungenlied liegt aber nicht in der Handschrift A, B oder C ein für alle Mal festgeschrieben vor, sondern stellt sich stets in der Wechselwirkung von gegenwärtigen Vorstellungen und älteren NibelungenliedRealisationen her. Im Hinblick auf die eingangs erwähnten temporalen Spezifika der hochmittelalterlichen Nibelungenlied-Texte stellt sich damit nicht nur die Frage, wie getreu diese in Wiedererzählungen reproduziert werden. Vielmehr ist zunächst zu untersuchen, wie in den Wiedererzählungen das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart jeweils textimmanent dargestellt ist. Zugleich gewinnt vor dem Hintergrund einer Beschäftigung mit temporalen Spezifika und der vorgeschlagenen Konzeptualisierung von materia eine Auseinandersetzung mit der zeitlichen Eingrenzung des Phänomens Wiedererzählen, wie sie Worstbrocks Konzept inhärent ist, an Dringlichkeit.14 Denn versteht man materia als ein von vorliegenden Wiedererzählungen abstrahiertes Modell wesentlicher Handlungszüge, wie den zentralen Figurenkonstellationen und Plot-Merkmalen, kann im Umkehrschluss eine Erzählung immer dann als Wiedererzählung gelten, wenn sie wesentliche Handlungszüge vieler älterer Realisierungen der materia enthält.15 Angesichts einer beachtlichen Zahl neuzeitlicher Nibelungenlied-Erzählungen, auf die dies zutrifft, ist meines Erachtens eine strikte zeitliche Eingrenzung des Wiedererzählens des Nibelungenliedes auf das Mittelalter nicht haltbar.16 Dies zielt keineswegs darauf, die besondere Relevanz des Wiedererzählens für die mittelalterliche Literatur zu negieren. Vielmehr bietet der Einbezug neuzeitlicher Erzählungen die Chance, in den Blick zu

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Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dems. / Lutz Bergemann / Martin Dönike u. a., München 2011, S. 7–39. Vgl. Armin Schulz’ Überlegungen zu ‚Erzählstoff‘; Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. v. Manuel Braun / Alexandra Dunkel / Jan-Dirk Müller, Berlin / München / Boston ²2015, S. 123. Gestellt haben die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer rigiden zeitlichen Eingrenzung bereits Schmid: Erfinden und Wiedererzählen (s. Anm. 8), S. 41–55, hier S. 43 und – zumindest in einer Fußnote – auch Lieb: Potenz des Stoffes (s. Anm. 11), S. 31. Albrecht Hausmann spricht sich vehement gegen eine radikale Alterität mittelalterlichen und neuzeitlichen Wiedererzählens aus; vgl. Hausmann, Albrecht: Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens, in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Britta Bußmann u. a., Berlin / New York 2005 (Trends in Medieval Philology 5), S. XI–XX, hier S. XX. Vgl. Hufnagel: Zum Wiedererzählen des ‚Nibelungenliedes‘ (s. Anm. 9), S. 388f. Vgl. Ausführlicher dazu Hufnagel, Nadine: Das Nibelungenlied im 15. Jahrhundert und in der Gegenwart. Wiedererzählen und Kohärenz zwischen Wandel und Tradition, Habil. masch., Bayreuth 2020, S. 11–34. Die Studie wird derzeit für die Publikation überarbeitet.

Zeit der Helden?

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bekommen, auf welche spezifischen Arten und Weisen zu verschiedenen Zeiten wiedererzählt wird. Um eine möglichst deutliche Kontrastfolie zu gewinnen und zugleich dem Eindruck entgegenzuarbeiten, es ginge darum, eine Entwicklungslinie nibelungischen Wiedererzählens konstruieren zu wollen, wird für die folgenden Textanalysen neben einer Wiedererzählung des Nibelungenliedes aus dem 15. Jahrhundert bewusst eine ausgewählt, die in großem zeitlichem Abstand, im 21. Jahrhundert, entstanden ist und nicht in einer unmittelbaren Traditionslinie zu den spätmittelalterlichen Fassungen steht. Damit liegt der Fokus einerseits auf einer Wiedererzählung, die als eine der ersten überhaupt in die Struktur des hochmittelalterlichen Epos eingreift, andererseits auf einer, die Aufschluss über eine Möglichkeit gibt, wie die Gegenwartsliteratur narrativ mit mittelalterlichen heroischen Figuren und den temporalen Spezifika umgeht, die das Erzählen von ihnen begleiten kann. Denn die Analysen zielen auf die je eigentümliche Gestaltung der Textstellen, die im hochmittelalterlichen Nibelungenlied als geprägt von temporalen Spezifika erscheinen. Deshalb werden aus der Vielzahl der potentiellen Untersuchungsgegenstände zwei herangezogen, die, wie eine heuristische Inblicknahme aller in digitalen Faksimiles oder Editionen vorliegenden spätmittelalterlichen Nibelungenlied-Handschriften und zahlreicher Wiedererzählungen des Nibelungenliedes der letzten 20 Jahre gezeigt hat, am Textbeginn selbst temporale Spezifika aufweisen, die bereits auf den ersten Blick auffallen: Es handelt sich um das Nibelungenlied im sogenannten Maihinger oder Wallersteiner Codex (a)17 und Heinrich Steinfests Der Nibelungen Untergang.

II.

Der Textbeginn in der Nibelungenlied-Handschrift a

Nibelungenlied a beginnt mit einem Prosaprolog und der gewohnte Handlungsablauf setzt erst mit der Brautwerbung Gunthers ein.18 Eine genaue Beschreibung des Textbestandes des Nibelungenliedes a findet sich beispielsweise 17 Andere spätmittelalterliche Handschriften weisen am Textbeginn keine mit Nibelungenlied a vergleichbaren temporalen Spezifika auf. In der Handschrift n setzt der Text unmittelbar mit dem Königinnenstreit ein, Handschrift k bietet eine Variation der Programmstrophe, in Handschrift b fehlt der Textbeginn, andere spätmittelalterliche Handschriften sind noch stärker fragmentiert oder folgen im Wortlaut den hochmittelalterlichen Handschriften. 18 Cologny-Genf, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bod. 117; Ausschnitte haben Aufnahme in verschiedene Editionen gefunden, bspw. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, hg. v. Michael S. Batts, Tübingen 1971. Ich zitiere nach dem Digitalisat (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one /fmb/cb-0117; letzter Zugriff 02.09.20). Die Handschrift entstand vermutlich im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts und enthält neben dem Nibelungenlied auch die Nibelungenklage.

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bei Ursula Hennig.19 Während Hennig die Handschrift C als Norm setzt und Abweichungen anderer Handschriften, die sie der sogenannten liet-Fassung zuordnet, nur als Textverlust oder Fehler betrachtet, möchte ich die Differenzen zwischen der Handschrift a und anderen Nibelungenlied-Texten als Resultat eines Wiedererzählensprozesses perspektivieren. Wie bereits skizziert, ruft die sogenannte Programmstrophe des hochmittelalterlichen Nibelungenliedes eine Gemeinschaft von Anwesenden auf, der alte und allgemein verfügbare Geschichten erzählt werden, die von einer im doppelten Wortsinne merkwürdigen Vergangenheit berichten, die zeitlich aber nicht genauer fixiert ist. Diese vergangene Zeit ist geprägt durch Helden und ihre ausgewöhnlichen Taten, aber auch durch höfische vreude, Feste, Trauer und Klage, die potentiell Anschluss an die außerliterarische Wirklichkeit der hochmittelalterlichen Rezipient*innen bieten. Demgegenüber ist die Zeit der Handlung in der spätmittelalterlichen Version des Maihinger Codex der Gegenwart des Publikums und dessen kommunikativem Gedächtnis entzogen. Denn der Prolog verortet die Ereignisse chronometrisch exakt in zeitlicher Ferne durch explizite Datierung auf das Jahr 740, die Nennung historischer Persönlichkeiten, wie Boethius, und geschichtlicher Ereignisse, wie Boethius’ Tod in Gefangenschaft: DA mann zalt vonn christ gepurde sibenn | hundertt iar darnach inn dem vietzistenn iar | da was Pipanus vonn frannkchreich romisch | Augostus der hueb sich ze Ram vnd satztt | sich genn chostanntinapell vonn u¯geharsam der Römär | vnd verswuer das er nim’mer dar chäm Auch satztt er zee | vogt ann seiner statt Herdietreich chunig zw gottlanntt | denn mann die tzeitt nennt Herdietreich vonn pernn pey denn tzeite¯ | lebt der weis römer Boetzius denn herdietreich vieng vmb | das daz er die Romär vast vor Im frist mit seiner weishaitt | vnd lag geuange¯ vnntz ann seinenn tod Pein herdietrichs | zeittenn dez Romischenn vogtz vergienng sich die auennteuer | dez pueches vonn denn Rekchenn vnd vonn kreÿmhillden20

Aufgrund der mehrfachen Nennung wirkt vor allem ein Name als dominierender epochaler Anker: Herdietrich. Dietrich wird dabei sowohl als der aus der Historiographie bekannte Gotenkönig eingeführt als auch als der Sagenheld Dietrich von Bern.21 19 Hennig, Ursula: Zu den Handschriftenverhältnissen in der liet-Fassung des Nibelungenliedes, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 94 (1972), S. 113–133, hier S. 114. 20 Cod. Bod. 117, fol. 1r. Interpunktion sowie Groß- und Kleinschreibung folgen der Handschrift. 21 Wobei einschränkend anzumerken ist, dass durchaus auch historiographische Quellen, etwa Jakob Twingers von Königshofen Deutsche Chronik, den Sagennamen Dietrich von Bern verwenden können; vgl. Dietrich-Testemonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, hg. v. Elisabeth Lienert unter Mitarbeit v. Esther Vollmer-Eicken / Dorit Wolter, Tübingen 2008 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 4), S. 168. Dabei tun sich bekanntlich zwischen Sage und Geschichtsschreibung „zahlreiche Widersprüche auf und wer-

Zeit der Helden?

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Den Prolog wertete die Forschung aufgrund der aus Perspektive der Geschichtsschreibung falschen Angaben zunächst als fehlerhaften Textzusatz ab.22 Spätere Untersuchungen konzentrierten sich eher wertneutral auf die Beschreibung von Bearbeitungstendenzen und „ein (wie auch immer geartetes) Geschichtsinteresse“.23 Eine differenziertere Interpretation bietet Ursula Schulze: Der Prolog ordne das Nibelungenlied in eine historiographische Tradition ein und legitimiere damit eine Weiterbeschäftigung mit dem Stoff. Auch die irritierende zeitliche Situierung der Handlung im achten Jahrhundert beeinträchtige diese Funktion, das Geschehen „als Historie zu beglaubigen“, nicht. Der auf den Prolog folgende Handlungsbeginn ist beinah idealtypisch nach dem Muster einer Brautwerbungserzählung gestaltet:24 Es was gesezzen ein chunigin vber See irnn geleich west | man nit mer die was unmassenn schönne […] | Pey dem | Rein ein chunig wollgetann der wannt Sein sin ann das her | leich weib25

Auf die Nennung von Braut und Werber aus zwei durch ein Meer getrennten Herrschaftsbereichen folgt ein Werbungsrat, in dem sich Warner und Ratgeber äußern sowie Helfer und Hilfsmittel genannt werden. Diese Variation des Handlungsbeginns wurde von der bisherigen Forschung meist ignoriert oder auf ein Verderbnis der Vorlage zurückgeführt, auf das der Schreiber mehr schlecht als recht reagierte.26 Laut Schulze sei die Kürzung der Handlung bis zu Gunthers Brautwerbung damit zu erklären, dass die Siegfried-Figur, die sich schwerer als

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den seit dem 11. Jahrhundert von historiographischer Seite immer wieder moniert. Diese Sagenkritik setzt jahrhundertelang an den sagentypischen Anachronismen an“; ebd. S. 11. Edward Schröder spricht von „geschichtsklitterung“ und einem „sonderbar verstümmelten eingang“; vgl. Schröder, Edward: Die Maihinger Handschrift des Nibelungenliedes, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 64 (1927), S. 282f., hier S. 282. Die Dietrich-Testemonien (s. Anm. 21) sprechen weniger stark ab-, aber dennoch aus historiographischer Perspektive wertend von „(falsche[r]) Rehistorisierung der Sage“ durch eine „Prosavorrede“ (S. 174). Henkel, Nikolaus: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessensbildung, in: Literarische Interessensbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991, hg. v. Joachim Heinzle, Weimar / Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände 14), S. 39–59, hier S. 51. Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 98. Zum Schema der gefährlichen Brautwerbung und dessen Variation im hochmittelalterlichen Nibelungenlied vgl. im Rückgriff auf Christian Schmid-Cadalbert u. a. Schulz: Erzähltheorie (s. Anm. 13), S. 195–207. Cod. Bod. 117, fol. 1r.–1v. Vgl. Becker, Peter Jörg: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, S. 180.

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Dietrich historisch einordnen ließe, an Bedeutung verliere.27 Durch diese Bearbeitungstendenz passe Nibelungenlied a die Geschichte weniger als die um 1200 entstandenen Fassungen an zeitgeschichtliche Ereignisse und die höfische Literatur der eigenen Entstehungszeit an. Stattdessen werde die Vorzeitigkeit des Erzählten betont und die Erzählung als historiographische Tradition legitimiert. „Das Erzählte erscheint als Ausschnitt aus der historischen Vergangenheit, es soll als Historiographie gelesen werden“.28 Ginge es im Maihinger Codex tatsächlich ausschließlich darum, das Nibelungenlied möglichst konsequent als Wiedergabe eines historischen Geschehens zu inszenieren, verwundert jedoch nicht nur der erfunden, „fabulös“, wirkende Charakter der „‚historischen‘ Einleitung“,29 sondern auch, dass nicht noch stärker in den traditionellen Text eingegriffen wird. Dass ein stärker variierendes Bearbeiten des Textes im 15. Jahrhundert vorstellbar ist, belegt beispielsweise das Nibelungenlied n.30 Außerdem steht durch die spezifische Variation des Hand-

27 Dass die Siegfried-Figur sich historisch nicht einordnen ließe, scheint mir v. a. eine moderne Perspektive zu sein. Gerade das 15. Jahrhundert erweist sich im Hinblick auf die Eingliederung heroischer Figuren in die Geschichte als recht kreativ: Beispiele hierfür finden sich u. a. in Graf, Klaus: Heroisches Herkommen. Überlegungen zum Begriff der ‚historischen Überlieferung‘ am Beispiel heroischer Traditionen, in: Das Bild der Welt in der Volkserzählung. Berichte und Referate des fünften bis siebten Symposions zur Volkserzählung, hg. v. Leander Petzoldt u. a. Frankfurt a. M. 1993 (Beiträge zur europäischen Ethnologie und Folklore B 4), S. 45–64, hier S. 47f. u. S. 56–58. Eine auf der Weltchronik des sog. Heinrich von München basierende Historienbibel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwähnt Siegfried als ersten Ehemann der zweiten Ehefrau König Etzels; vgl. Kornrumpf, Gisela: Heldenepik und Historie im 14. Jahrhundert. Dietrich und Etzel in der Weltchronik Heinrichs von München, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, hg. v. Christoph Gerhardt / Nigel F. Palmer / Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 88–109, hier S. 88f. Eine zumindest oberflächliche Historisierung der Siegfried-Figur erscheint damit zumindest nicht als undenkbar. 28 Schulze, Ursula: Die alten mæren in neuer Zeit. Historisierung mythischer Elemente im Nibelungenlied. in: 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldenzeiten – Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage?, hg. v. Johannes Keller / Florian Kragl, Wien 2007 (Philologica Germanica 28), S. 159–176, hier S. 169f. und S. 175. Bereits Jürgen Wolf konstatiert „eine direkte Einbindung der Nibelungen-Überlieferung in die Geschichtsschreibung“; vgl. Wolf, Jürgen: Narrative Historisierungsstrategien in Heldenepos und Chronik – vorgestellt am Beispiel von ‚Kaiserchronik‘ und ‚Klage‘, in: Wolframstudien XVIII (2004), S. 323–346, hier S. 340. Joachim Heinzle sprach zuvor sogar von der „‚Verwissenschaftlichung‘ – Einbindung in Formen und Inhalte gelehrt-lateinischer Tradition – einer volksprachigen Geschichtsüberlieferung, die für die Laien immer verbindlich gewesen war und verbindlich blieb“; vgl. Heinzle, Joachim: Konstanten der Nibelungenrezeption in Mittelalter und Neuzeit. Mit einer Nachschrift: Das Subjekt der Literaturgeschichte, in: 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die Rezeption des Nibelungenliedes, hg. v. Klaus Zatloukal, Wien 1995, S. 81–107, hier S. 100. 29 Hennig: Zu den Handschriftenverhältnissen (s. Anm. 19), S. 114f. 30 Nibelungenlied n ist in der Handschrift 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek überliefert, die von Peter Göhler (Wien 1999) und Jürgen Vorderstemann (Tü-

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lungsbeginns in Nibelungenlied a zwar zunächst die Brautwerbung Gunthers im Vordergrund, und es entfallen Teile der Siegfried-Handlung, darunter die temporale Besonderheit, die sich aus der doppelten Jugendgeschichte ergibt. Im Rahmen der Erzählung von Werbungsrat und Werbungsfahrt wird Siegfried und seiner Tarnkappe dennoch viel narrative Aufmerksamkeit geschenkt, sodass von einer grundsätzlichen Marginalisierung keine Rede sein kann. Des Weiteren bleibt Siegfrieds Werbung um Kriemhild weiterhin mit der Gunthers um Brünhild verflochten. Siegfried wird jedoch nicht mehr in der Handlungsrolle des Werbers eingeführt und als Gunther in der Rolle des Heros überlegen profiliert, sodass er dessen Anspruch auf seine Braut in Frage zu stellen geeignet ist.31 Stattdessen wird er von Beginn an primär als Helfer des Burgundenkönigs dargestellt. Die Absprache, dass Siegfried bei erfolgreicher Werbung Gunthers dessen Schwester zur Frau erhält, präsentiert sich als eingebettet in den Kontext heroischer Gefolgschaft. Dass diese Variation der Handlung primär den Effekt einer stärkeren Wahrnehmung des Geschehens als historisch hat, erscheint mir eher unwahrscheinlich. Zudem werden weder der historiographisierende Stil des Prologs noch die exakte zeitliche Verortung der Handlung wieder aufgegriffen, denn nach dem Textbeginn reproduziert Nibelungenlied a Erzählstil und Zeitkonzeption, wie sie im Hochmittelalter geprägt wurden. Dies geschieht auch nicht am Schluss, wo es sich vielleicht angeboten hätte. Dieser ist stattdessen wie in der *C-Fassung üblich gestaltet.32 Dementsprechend soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, den Textbeginn nicht allein mit einem vergleichenden Blick auf die historiographische Tradition zu betrachten. Stattdessen wird der Prolog als spätmittelalterliches Äquivalent zur zeitlichen Verortung von Erzählungen, deren Handlung bingen 2000) ediert wurde und ebenfalls digital einsehbar ist: http://tudigit.ulb.tu-darmstad t.de/show/Hs-4257 (letzter Zugriff 02.09.20). 31 Vgl. Strohschneider, Peter: Einfache Regeln – Komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‚Nibelungenlied‘, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. v. Wolfgang Harms / Jan-Dirk Müller u. a., Stuttgart / Leipzig 1997, S. 43–75, hier S. 47–50. 32 Nach dem Nibelungenlied beginnt allerdings – ebenfalls wie in der *C-Fassung üblich – auf derselben Seite unmittelbar nach dem letzten Vers die Nibelungenklage, die für die am Ende des Liedes abgeschlossene Vergangenheit auch eine Zukunftsperspektive entwickelt und über die Thematisierung der eigenen Überlieferung die Erzählung gewissermaßen sogar bis in die Gegenwart des Publikums reichen lässt. Dabei geht es der Klage aber weder um die Fundierung der Gegenwart durch Geschichte noch um die genaue historische Verortung des Erzählten. Zentral scheinen die richtige Tradierung und die Legitimation der Erzählung durch Historizität; vgl. Kragl: Geschichtlichkeit (s. Anm. 1), S. 39. Dass die Darmstädter Nibelungenlied-Handschrift (n) und Lienhart Scheubels Heldenbuch (k) die Klage nicht überliefern, sondern das Nibelungenlied mit anderen Erzählungen kombinieren, lässt darauf schließen, dass diese Legitimierungsstrategie im Laufe des Spätmittelalters möglicherweise an Relevanz verliert. Dagegen Wolf: Historisierungsstrategien (s. Anm. 28), S. 340f.

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nicht in der Gegenwart spielt, behandelt, wie man sie heute beispielsweise vom Beginn von Mittelalter-Filmen kennt, die u. a. die medievalism-Forschung als wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand etabliert hat.33 Wie den Anfang von Nibelungenlied a kennzeichnet die Eröffnungssequenzen von MittelalterFilmen häufig eine eigentümliche Hybridität von Fakten und Fiktion.34 Dabei handelt es sich funktional betrachtet um framing,35 das die Vergangenheit als Erzählraum konstruiert sowie bestimmte Vorstellungen, Vorwissen und Erwartungen der Rezipient*innen aktivieren kann. Durch die auf das Jahr genaue Datierung von Dietrichs Herrschaftsantritt wird die Handlung auf eine Zeit festgelegt, die auch aus Perspektive des 15. Jahrhunderts weit zurückliegt. Das achte Jahrhundert ist einerseits ein Zeitraum, der dem kommunikativen Gedächtnis der Rezipient*innen nicht mehr zugänglich ist, dem aber andererseits im kulturellen Gedächtnis Relevanz für die eigene Kultur zugeschrieben werden kann.36 Somit kann das achte Jahrhundert als ein Zeitraum betrachtet werden, der – ähnlich wie ‚das Mittelalter‘ heutzutage – nicht mehr dem Anspruch überzeitlicher Gültigkeit genügen muss, wie ihn die hochmittelalterliche Programmstrophe noch evoziert,37 und offen für vielfältige Assoziationen ist. Im Prolog wird das achte Jahrhundert als Epoche präsentiert, die vor allem von Konflikten geprägt ist. In dieser hat sich das Kaisertum als übergeordnete Instanz, die Recht durchsetzen und Rechtsmittel wie Rache, die die Handlung

33 Aus der Perspektive der medievalism-Forschung beschäftigten sich mit den Opening Credits von Mittelalter-Filmen und ihren über zeitliche Verortung hinausgehenden Funktionen bspw. Finke, Laurie A. / Shichtman, Martin B.: Cinematic Illuminations. The Middle Ages on Film, Baltimore 2010, S. 50f. 34 Vgl. etwa die Titelsequenzen von King Arthur (Regie: Antoine Fuqua, USA 2004) und Robin Hood (Regie: Ridley Scott, USA / GB 2010) oder auch von Die Nibelungen. Der Fluch des Drachen (Regie: Uli Edel, USA / D / I u. a. 2004). 35 Bei framing handelt es sich um einen schillernden Begriff, der in verschiedenen Disziplinen leicht unterschiedlich verwendet wird; vgl. Matthes, Jörg: Framing, Baden-Baden 2014 (Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikationswissenschaft 10), S. 12f. „Frames werden als ‚Sinnhorizonte‘ von Akteuren verstanden, die gewisse Informationen und Positionen hervorheben und andere ausblenden. Frames […] lassen sich […] sowohl im kognitiven Apparat des Menschen ausmachen als auch in kommunizierten Inhalten“ (ebd. S. 10). Im literaturwissenschaftlichen Kontext bezeichnet man als framing Markierungen, die einen Text in spezifische Diskurse einordnen sowie bestimmte Deutungsmuster und kognitive Schemata aktivieren; vgl. Wolf, Werner: Rahmung, literarische, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4. Aufl., hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart / Weimar 2008, S. 604. 36 Zum kommunikativen und kollektiven Gedächtnis vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 7 2013, S. 50–56. 37 Vgl. Kragl: Geschichtlichkeit (s. Anm. 1), S. 13.

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prägen, eindämmen könnte,38 im Umgang mit Konflikten nicht mehr/noch nicht bewährt. Der Kaiser ist vielmehr räumlich abwesend aufgrund seines Rückzugs nach Konstantinopel. Die Stadt am Bosporus dürfte aus Perspektive des süddeutschen Raumes, in dem der Maihinger Codex sehr wahrscheinlich entstand und rezipiert wurde,39 geographisch weit entfernt sowohl vom eigenen Standpunkt als auch von Rom erscheinen und als Ort gelten, von dem keine Unterstützung zu erwarten ist.40 Zugleich wird die Handlung in dem Jahrhundert angesiedelt, das nach mittelalterlicher Vorstellung mit der translatio imperii des römischen Kaisertums endet. Die Handlung beginnt aber vorher, genau in dem Jahrzehnt, in dem Karl der Große erst geboren wird, mit dem sich diese translatio vollziehen und auf den sich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zur Entstehungszeit des Codex als Vorgänger berufen werden.41 Selbstverständlich ist nicht davon auszugehen, dass das gesamte Publikum sich dessen bewusst ist.42 Aber einige werden die Mitte des achten Jahrhunderts zumindest vage mit den Karolingern in Verbindungen bringen – eine Assoziation, die der Name des Vaters Karls des Großen, Pippin, mit dem Nibelungenlied a irritierenderweise den flüchtigen römischen Kaiser benennt, mit auslösen mag.43 Die Zeit der

38 Vgl. Renz, Tilo: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied, Berlin / New York 2012 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 71), S. 193. Renz arbeitet auch heraus, wie schon das hochmittelalterliche Nibelungenlied immer wieder zur Beobachtung ausstellt, dass keine Instanz angerufen werden kann, die nicht auf irgendeine Weise selbst in den Konflikt involviert ist; vgl. S. 222f., S. 227, S. 271. 39 Die Schreibsprache der Handschrift ist Bairisch; vgl. Wetzel, René: Deutsche Handschriften des Mittelalters der Bodmeriana. Mit einem Beitrag von Karin Schneider zum ehemaligen Kalocsa-Codex, Cologny-Genf 1994 (Bibliotheca Bodmeriana Kataloge 7), S. 155–158, hier S. 156. Die Handschrift wurde 1823 in Wallerstein im Ries entdeckt und kam vermutlich 1841 in die Maihinger Bibliothek; vgl. Übersicht über die Handschriften des Nibelungenliedes im Ausstellungskatalog „Uns ist in alten Mären…“ Das Nibelungenlied und seine Welt, hg. v. der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe und dem Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Darmstadt 2003, S. 200f. 40 Zwar entstand der Maihinger Codex wahrscheinlich vor der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453, jedoch wird es für ein Publikum des 15. Jahrhunderts eher als Ort erscheinen, dem man eher Hilfe leisten müsste als selbst solche von dort zu erfahren. 41 Karl der Große gilt in vielerlei Hinsicht als Urahn und Gründerfigur; vgl. bspw. die Beispiele in Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. v. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Sigmaringen 1994 (Schriften des Historischen Museums 19) oder bei Hartmann, Wilfried: Karl der Große, 2. Aufl., Stuttgart 2015, S. 32– 49. Im 15. Jahrhundert begannen sich auch die Habsburger auf eine karolingische Abstammung zu berufen; vgl. ebd. S. 249. 42 Zur Kontroverse um Karls des Großen genaues Geburtsdatum vgl. Becher, Matthias: Neue Überlegungen zum Geburtsdatum Karls des Großen, in: Francia – Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 19 (1992) H. 1, S. 37–60. 43 Nicht zuletzt erregen gerade „Fehler“ oftmals besondere Aufmerksamkeit der Rezipient*innen.

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Handlung wird damit deutbar als von Konflikten geprägter Zeitraum unmittelbar vor der translatio imperii. Anwesend statt eines Kaisers ist Dietrich, der als einzige der Figuren, die im Prolog genannt werden, erfolgreich handelt. Während Dietrich als der Sagenheld von Bern als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, verfügt über Informationen zum Herrscher über die Goten und Teile Italiens in erster Linie die Erzählinstanz. Diese filtert das potentiell aus der historiographischen Tradition vorhandene Wissen: Von den der hochmittelalterlichen Chronistik gemeinsamen fünf Grundaktionen Dietrichs, die Joachim Knape identifiziert hat,44 werden nur die Beziehung zu einem Kaiser und die Etablierung der Herrschaft in Italien erwähnt. Weder ist vom Konflikt mit Odoaker die Rede noch von den Auseinandersetzungen mit Kaiser und Kirche oder vom Tod Dietrichs.45 Nibelungenlied a teilt seinem Publikum also lediglich mit, was nicht in explizitem Gegensatz zur weiteren Handlung steht und Dietrich nicht in einem negativen Licht erscheinen lässt. Einzig die Verantwortung für den Tod des explizit als weise charakterisierten Boethius könnte man Dietrich anlasten. Statt einer Abwertung Dietrichs ist aber eine andere Funktion der knappen Schilderung der Todesumstände des in den Konflikt mit den Römern verwickelten Boethius wahrscheinlicher: Nach dem Kaiser werden auch ‚weise Männer‘ als alternative Instanz der Konfliktlösung für den Zeitraum der Handlung abgewiesen.46 Das potentiell als Übergangsphase zwischen römischem und fränkisch-römischem Kaisertum deutbare achte Jahrhundert ist stattdessen die Zeit, in der Helden Konflikte auf ihre Art führen und bisweilen sogar erfolgreich aus ihnen hervorgehen. So endet mit Dietrich nicht nur der Aufstand der Römer. Bekanntermaßen wird er es sein, der gegen Ende des Nibelungenliedes die Auseinandersetzung am Etzelhof de facto beendet und als einer der wenigen Beteiligten überlebt, um in der Klage wieder nach Bern aufzubrechen. Folgerichtig wird im Maihinger Codex das Nibelungenlied im Sinne einer stärkeren Fokussierung auf Helden und heroische Taten umgestaltet. Schließlich 44 Vgl. Knape, Joachim: Zur Typik historischer Personen-Erinnerung in der mittelhochdeutschen Weltchronistik des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, hg. v. Christoph Gerhardt / Nigel F. Palmer / Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 17–36, hier S. 18–22. Lienert spricht von der Dominanz dreier Themenkomplexe in der chronikalen Tradition: Theoderichs Zeit in Konstantinopel, die Eroberung Italiens mit dem Sieg über Odoaker, der Konflikt mit Boethius, Symmachus und Papst Johannes I. inklusive Dietrichs Tod; vgl. Lienert: Dietrich Testemonien (s. Anm. 21), S. 15. 45 Ebenfalls unerwähnt bleibt die verbreitete Skepsis der Historiographie gegenüber dem, was über Dietrich aus der Heldensage bekannt ist.; vgl. Knape: Personen-Erinnerung (s. Anm. 44), S. 18–22; Kornrumpf: Heldenepik und Historie (s. Anm. 27), S. 108f.; Lienert: Dietrich Testemonien (s. Anm. 21), S. 11; Kragl: Geschichtlichkeit (s. Anm. 1). 46 Zum Begriff der abgewiesenen Alternative vgl. Strohschneider: Einfache Regeln (s. Anm. 31), S. 73f.

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sind insbesondere Stellen gekürzt, „die gerade den spezifisch höfischen Charakter der um 1200 entstandenen Dichtung kennzeichnen“.47 Damit positioniert sich die Erzählung mittels des Entwurfs des Zeitraums, in dem sie die Handlung ansiedelt, innerhalb des Feldes der volkssprachigen Literatur ihrer Entstehungszeit: Beispielsweise lässt sich die Dominanz der Dietrich-Figur im Prolog als Heranrücken des Nibelungenliedes an diejenigen Erzählungen begreifen, die man heute als Dietrichepik bezeichnet.48 Dazu tragen auch die Kürzungen am Handlungsbeginn bei: Die Einsparung der Einführung des Wormser Hofes, der höfischen Erziehung Siegfrieds sowie der minne-Handlung um Kriemhild führt zu einer Konzentration auf das Erzählen von heroischen Figuren und ihren Taten, und es vergeht weniger Erzählzeit bis zum Auftauchen des Berners in der Handlung.49 In Erzählungen der Dietrichepik wird laut Florian Kragl die „Vorstellung einer bestimmten, […] literarischen ‚Heldenzeit‘ entworfen“, die „geprägt ist von bestimmten Figuren, Orten, Handlungsmustern, auch Normen und Werten“. Obwohl die Konzeption von ‚Heldenzeit‘, wie Kragl sie herausarbeitet, in Spannung zur exakten Datierung im Prolog steht, erscheint der Begriff auch für den Zeitraum der Handlung von Nibelungenlied a als adäquate Bezeichnung. Denn der Maihinger Codex kündigt nicht nur im Prolog auennteuer […] vonn denn Rekchenn, also von Helden, an, sondern fasst diese auch in der Klage als d’guten helden not zusammen. ‚Heldenzeit‘ ist stets als Vergangenheit inszeniert, lässt sich aber nicht einfach als Epoche in die Zeitabläufe der Heilsgeschichte oder Historiographie integrieren. Eher stellt sie einen narrativ konstruierten Zeitraum dar, der im Spätmittelalter an Kontur gewinnt. Die Vorstellung davon ist insgesamt keineswegs kohärent, da sich verschiedene Erzählungen in unterschiedlicher Art und Weise an ihrer Konstitution beteiligen, sich Konventionen etablieren, Alternativen ausprobiert, aber auch wieder verworfen werden. Bei47 Schulze, Ursula: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im ‚Editionsprozess‘ des Nibelungenliedes, in: editio 21 (2007), S. 1–18, hier S. 16. 48 Zudem lassen sich Anklänge an den zeitgenössischen Prosaroman diagnostizieren, vgl. Becker: Handschriften und Frühdrucke (s. Anm. 26), S. 180. Das Schwanken zwischen Vers und Prosa beschäftigt auch Henkel: Kurzfassungen (s. Anm. 23), S. 51. Diese Spur müsste man einmal gesondert weiterverfolgen. 49 Die Tendenz zur Annäherung des Nibelungenliedes an die Dietrichepik kennzeichnet bekanntlich auch andere Nibelungenlied-Handschriften des 15. Jahrhunderts, wobei jeweils fassungsspezifische Mittel zum Einsatz kommen; für die bereits erwähnte Darmstädter Handschrift (n) vgl. Heinzle, Joachim: Wiedererzählen in der Heldendichtung. Zur Fassung n des „Nibelungenliedes“, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Joachim Bumke / Ursula Peters, Berlin 2005 (ZfdPh, Sonderheft zum Band 124), S. 139– 158, hier S. 157, für Lienhart Scheubels Heldenbuch (k) vgl. Müller, Jan-Dirk: bei heldes zeiten. Anmerkungen zum Beginn des ‚Nibelungenliedes‘ k, in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. v. Burkhardt Krause, Wien 1997 (Philologica Germanica 19), S. 271–278.

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spielsweise scheint die exakte chronometrische Verortung im achten Jahrhundert und die damit verbundene potentielle Assoziation mit einer Krisenzeit unmittelbar vor der translatio imperii eine solche Alternative, die keine Nachahmung hat inspirieren können. Möglicherweise haben die asynchrone Kombination von Personennamen, Ereignissen und Jahreszahl inklusive des veränderten Handlungsbeginns für Rezipient*innen mit entsprechendem Vorwissen noch einen Effekt: Die Mechanismen der Transformation historischen Geschehens in Heldendichtung und der literarischen Konstitution von ‚Heldenzeit‘ werden einsehbar. Diese bezeichnet man heute gewöhnlich als 1) Personalisierung, 2) Integration, 3) Reduktion und 4) Assimilation. 1) Auch im Prolog von Nibelungenlied a sind historische Subjekte einzelne herausgehobene Persönlichkeiten wie der Kaiser, Dietrich, Boethius und Kriemhild. 2) Die historisch nicht synchrone Herrschaft eines Pippin, die Etablierung der Kaiserherrschaft in Ostrom, das west-römische Kaisertum der Franken und die Lebenszeit Dietrichs werden auf eine Generation zusammengedrängt. 3) Die politischen Zusammenhänge von Boethius’ Gefangenschaft und Tod, von Theoderichs/Dietrichs Verhältnis zum Kaiser und von seiner Herrschaft über Teile Italiens werden reduziert auf einen Aufstand der Römer, der Übernahme der Regentschaft im Auftrag des Kaisers und der Befriedung Roms durch Gefangennahme und Tod des Rädelsführers. 4) Durch die streng schemagerechte Umsetzung der Brautwerbung zum Handlungsbeginn wird die Assimilation der historischen Ereignisse an literarische Erzählmuster und -schemata sichtbar. Aus diesem Blickwinkel präsentiert sich der Maihinger Codex als Überlieferungsträger, der zu Beginn heldenepisches Erzählen implizit reflektiert.

III.

Siegfrieds Tod in Der Nibelungen Untergang

Heinrich Steinfest beginnt seine Wiedererzählung des Nibelungenliedes ebenfalls mit der Lenkung der Aufmerksamkeit der Rezipient*innen auf das Thema ‚Heldentum‘. So lauten die ersten drei fett hervorgehobenen Überschriften „HELD“, „HELDIN“ und „NOCH MEHR HELDEN“ und die Erzählung setzt nicht direkt mit der Handlung, sondern mit Überlegungen der Erzählerinstanz ein: Wie schön kann einer allein überhaupt sein? Wie stark? Wie mutig? Und zwar so, dass es ihn nicht vollkommen verrückt macht. Freilich ist das nicht ganz einfach, diese Grenze zur Verrücktheit hin zu erkennen. Bei anderen schon, da sieht man rasch, […] wie er kurz davor ist, alle seine Tugenden – ganz gleich, ob er Buchhalter, Finanzberater oder Rennwagenfahrer ist – in etwas Monströses zu verwandeln. […]

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Die Geschichte, die hier nacherzählt werden soll, handelt von ständigen Grenzüberschreitungen jedweder Natur, sowie von einem Wahnsinn, welcher wie man so sagt, System besitzt. Das System vereint sämtliche Figuren. […] Ein Held trägt jeden anderen Helden in sich. Und bekämpft ihn. Wie eine Krankheit, die aber ganz unmittelbar zu ihm selbst gehört. Die Unsterblichkeit der Helden ergibt sich naturgemäß daraus, dass, obgleich sie sich ständig gegenseitig umbringen, einer im anderen weiterlebt.50

Diese Einführung lässt zwar durchaus Raum für Bewunderung, regt aber v. a. zum kritischen Hinterfragen ein. Der Einschub mit dem Verweis auf Buchhalter, Finanzberater oder Rennwagenfahrer provoziert nicht nur die Frage, welche Tätigkeiten sich überhaupt als Grundlage für Heroisierung51 eignen, da man spontan vermutlich eher geneigt sein wird, dem Risikosport Potential für Heldengeschichten zuzugestehen als dem Finanzwesen. Er positioniert auch den heterodiegetischen Erzähler und das von diesem implizierte Publikum zeitlich eindeutig in der Gegenwart, also auf einer anderen Zeitebene als die Figuren. Beide Zeitebenen sind über die „Unsterblichkeit der Helden“ miteinander verbunden. Letztere ergibt sich nicht aus der Unmöglichkeit des Einzelhelden zu sterben, sondern aus der Tradierung von ‚Heldentum‘. In diesem Zusammenhang, dies macht der zweite Absatz deutlich, sind die Helden „Figuren“. Erzähltheoretisch betrachtet sind Figuren Merkmalsbündel, die aus Zeichen, insbesondere sprachlichen, bestehen. Da die Zeichen eines Textes nur begrenzte Informationen liefern, sind Figuren auf eine Konstruktionsleistung der Rezipient*innen angewiesen.52 Figuren lassen sich definieren als „mentale Modelle […], die in der narrativen Kommunikation aufgebaut und verändert werden“.53 Umgangssprachlich bezeichnet ‚Figur‘ neben der Körperform eines Menschen u. a. den Spielstein, besonders beim Schachspiel, sowie in grober Übereinstimmung mit dem literaturwissenschaftlichen Terminus die

50 Steinfest, Heinrich: Der Nibelungen Untergang. Storyboard von Robert de Rijn. Stuttgart 2014, S. 5. 51 Als Heroisierung sei hier der Vorgang der Zuschreibung von Heldenstatus verstanden; vgl. von der Hoff, Ralf u. a.: Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948, in: helden.heroes.héros 1 (2013), S. 7–14, hier S. 8. 52 Vgl. Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin / Boston 2004 (Narratologia 3), S. 198; Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Aufl., München 2012, S. 144–146; Schulz, Armin: Erzähltheorie (s. Anm. 13), S. 10f. Von der mediävistischen Erzählforschung wird kritisch betrachtet, dass in der Regel die Möglichkeit der Unterstellung von mentalen Zuständen (Wahrnehmungen, Gedanken, Absichten usw.) als essentiell betrachtet und somit die (zumindest imaginierbare) ‚Innenseite‘ zu einem konstitutiven Element von Figuren gemacht wird; vgl. Jannidis: Figur, S. 240f., kritisch dazu Lienert: Aspekte der Figurenkonstitution (s. Anm. 3), S. 51–75. 53 Jannidis: Figur (s. Anm. 52), S. 197.

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(künstlerische) Darstellungen eines Menschen, Tieres oder Abstraktums.54 Die explizite Verwendung des Begriffs ‚Figur‘ für die Figuren ruft also deren Konstruiertheit ins Gedächtnis. V. a. wenn man an die Bedeutung Spielstein denkt, mag man dies auch als Anspielung darauf verstehen, dass Figuren auch von anderen gesteuert und instrumentalisiert werden können, z. B. vom Erzähler. Die explizite Markierung der Erzählsituation als solche und der Geschichte als Wiedererzählung kann man als Eröffnung einer selbstreflexiven Ebene der Erzählung begreifen: Inwiefern sind (Wieder-)Erzählungen an Heroisierung beteiligt und wodurch zeichnen sich Helden als Figurentypus aus? Die Konzeption heroischer Figuren kann man beispielsweise in der Art und Weise problematisiert sehen, wie Steinfest den Mord an Siegfried erzählerisch gestaltet. Die Darstellung der Täter Gunther und Hagen fungiert als Kontrastfolie zu der unerreichbaren Exorbitanz Siegfrieds. Der Erzählinstanz liegt viel daran, Siegfrieds Exzeptionalität zwar herauszustellen, jedoch keine Sympathie dafür zu erzeugen, dadurch dass mit ihr Profilierungssucht, Aggression und Manipulierbarkeit einhergehen. Dennoch wird Siegfrieds Tod von einigen Figuren als das Ende der Welt wahrgenommen. Die Erzählinstanz entlarvt diese Heroisierung jedoch als nur eine Möglichkeit unter anderen und richtet die Aufmerksamkeit statt auf den Ruhm des Helden auf das Leid von dessen Opfern, für das sich der Held im Jenseits verantworten muss.55 In diesen Kontext gehört, dass unmittelbar vor dem Mord noch einmal die Tötung eines Bären in Erinnerung gerufen wird,56 die als schicksalhafter Moment inszeniert worden ist, in dem eine Alternative zum gewalttätigen Handlungsverlauf aufscheint. Der Moment verstreicht jedoch ungenutzt, denn Mitgefühl und Gnade gehören offensichtlich nicht zum Figurentypus ‚Held‘, zumindest nicht, wie ihn Der Nibelungen Untergang entwirft: Das ist ein wichtiger Augenblick. Der Moment, da Siegfried es in der Hand hat, die Dinge zum Guten zu wenden. Indem er dem Bären, den er zur eigenen Belustigung ins Lager transportiert hat, das Leben schenkt. […] Aber Siegfried will einfach nicht darauf verzichten, das Tier einzuholen und die erschöpfte und erschreckte Kreatur mit dem Schwert zu erschlagen.57

Dass es dabei speziell um Siegfried als ‚Held‘ geht, darauf weist neben der Überschrift des Kapitels „TOD EINES BÄREN UND TOD EINES HELDEN“ auch

54 Vgl. die Einträge zu ‚Figur‘ im Duden und im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache; https://www.duden.de/rechtschreibung/Figur und https://www.dwds.de/wb/Figur, letzer Zugriff 02. 06. 2021. 55 Vgl. Steinfest: Der Nibelungen Untergang (s. Anm. 50), S. 57f. 56 Vgl. ebd., S. 56. Siegfried stürzt sich nach dem Wettlauf zur Quelle „nicht sofort auf das erlösende Nass, sondern wartet geduldig auf seine Kontrahenten. (Wäre er nur ähnlich vornehm bei der Jagd auf den Bären gewesen.)“ 57 Ebd., S. 55.

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die zweifache explizite Bezeichnung Siegfrieds als Held im Rahmen seiner Ermordung hin: Der Spieß bohrt sich in den Körper des H e l d e n . […] Jeder andere hätte sofort zu atmen aufgehört, der todwunde H e l d aber ballt seine Fäuste und hält Ausschau nach seinen Waffen.58

Das aggressive Verhalten des Helden wird nicht in seinem historischen Kontext gedeutet, sondern kurz zuvor im Zusammenhang mit der Jagd mit demjenigen der Menschen der Gegenwart verglichen: Siegfried erkennt nicht, wie sehr seine Maßlosigkeit den Sinn und Zweck der Opfergaben der Natur an den Menschen konterkariert. […] Siegfried ist in seiner Weise ein moderner Mensch, der die Ausbeutung als ein ökonomisches wie lustvolles Mittel begreift. Dem Ersuchen, nicht die gesamte Fauna in dieser Gegend auszurotten, begegnet er mit Ironie, indem er allein mit seinen Händen einen Bären überwältigt[.]59

Die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit manifestiert sich auch in einem Eispapier, das überraschend auftaucht: Als er da wartet, bemerkt er etwas Buntes neben der Quelle im Gras liegen. Er hebt es auf, betrachtet es, ein merkwürdiges Stück Papier, auf dem ein Symbol zu sehen ist, eine Art Herzform […]. Was nun Siegfried nicht wissen kann, ist, dass an der Stelle, an der er sich befindet, später einmal einer der sogenannten Siegfriedbrunnen stehen wird. Was jetzt noch die pure Idylle ist, wird dann ein kümmerliches Rasenstück sein, ein paar Bäume samt trockengelegtem Brunnen, Bank und Mülleimer, umrahmt von Hochhäusern, einem Einkaufszentrum und dem Fabrikgelände der Langnese-Iglo GmbH, bekannt dafür, diverse Eissorten herzustellen und diese in beschichtete, farbenfrohe Papiere zu wickeln. Es ist also eine Wassereisverpackung, die Siegfried da entdeckt hat, die vielleicht ein Zeitreisender hier achtlos wegwarf. Oder auch ganz bewusst an dieser ‚historischen Stelle‘ deponierte. Könnte Siegfried jetzt in diesem Papierchen die Zukunft lesen, oder zumindest eine warnende Botschaft erkennen, er würde sehr viel vorsichtiger sein. Doch er wirft das Papier einfach weg und ist nun ganz jovialer Triumphator, als da Gunther und Hagen mit großem Abstand eintreffen.60

Zum einen wird hier ein Ethos, das die rücksichtslose Ausrichtung auf den eigenen exzeptionellen Status in den Mittelpunkt stellt, als Problem perspektiviert, das nicht allein die Vergangenheit und heroische Taten betrifft, sondern auch in der Gegenwart und im alltäglichen Handeln eine Rolle spielt. Zum anderen problematisiert die Erzählung an dieser Stelle nicht nur Heldentum und Heroisierung, sondern stellt zugleich die Konstruiertheit von Geschichte durch die Gegenwart zur Beobachtung aus. Dies geschieht beispielsweise durch die Bezeichnung des Tatorts: Siegfried wird an einer zunächst namenlosen Quelle 58 Ebd., S. 57; Herv. N. H. 59 Ebd., S. 54. 60 Ebd., S. 56f.

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ermordet, die anschließend von der Erzählinstanz als ‚Siegfriedbrunnen‘ bezeichnet wird. Durch die Verwendung des unbestimmten Artikels, des Adjektivs ‚sogenannt‘ und des Adverbs ‚später‘ im Zusammenhang mit dieser Benennung wird deutlich, dass es sich dabei um eine Zuschreibung handelt, die an mehreren Orten61 und erst mit zeitlichem Abstand zum Geschehen vorgenommen wird. Der Zweck ist nicht expliziert, wird jedoch in ehrender Erinnerung des Helden, also Heroisierung, bestehen, die zugleich für die Geschichtsträchtigkeit des jeweiligen Ortes funktionalisierbar ist. Schließlich zeigt die Erzählung durch den ironischen Hinweis auf das möglicherweise absichtliche Deponieren des Eispapiers durch einen Zeitreisenden auf, dass die Konstruktion der Vergangenheit potentiell auch manipulativ erfolgen kann. Ich habe bereits an anderer Stelle62 herausgearbeitet, dass der Erzähler mit der Bewertung Siegfrieds als achtlosem Umweltverschmutzer ein zeitliches Paradoxon produziert, da Siegfried im Gegensatz zum modernen Menschen überhaupt nicht in der Lage ist, das Eispapier als Zeichen der Zerstörung zu verstehen, zumal die Natur in seiner Zeit noch weitgehend intakt ist. Dennoch wird die Tatsache, dass er es wegwirft, durchaus zu Recht vom Erzähler als unachtsam inszeniert, schließlich trägt Siegfried mit seinem Verhalten de facto zur Schädigung der Umwelt bei. Mein Vorschlag ist, diese temporalen Spezifika als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung zu verstehen: Das Thema Umwelt wird hervorgehoben und zugleich das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Versteht man die spezifische Thematisierung des Umgangs mit der Umwelt als Paradigma des achtlosen Umgangs des Menschen mit Ressourcen insgesamt, geraten unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart auch der Vorrat an kulturell tradierten Motiven und Narrativen als Ressourcen in den Blick. Dass mit diesen Ressourcen ebenso achtsam wie mit ökologischen umzugehen ist, erweist nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes in der Neuzeit, wofür gerade die nationalistische Aneignung von Siegfrieds Tod bekanntermaßen ein Beispiel darstellt: So verwenden etwa Paul von Hindenburg in seinen Memoiren und Hitler in Mein Kampf das Bild des hinterrücks ermordeten Siegfried für die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg, die angeblich im Felde ungeschlagen erst durch die zersetzende Arbeit der demokratischen Kräfte be-

61 In der Tat gibt es mindestens acht Siegfriedbrunnen; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sieg friedbrunnen, letzter Zugriff 29. 09. 2020. 62 Vgl. Hufnagel, Nadine: Neue Helden braucht das Land? Der Tod Siegfrieds in zwei ausgewählten Nibelungenliedern der Gegenwart, in: altiu maere heute – Die Nibelungen und ihre Rezeption im 21. Jahrhundert, hg. v. Ingrid Bennewitz / Detlef Goller, Bamberg (im Erscheinen).

Zeit der Helden?

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siegt worden seien.63 Es ist anzunehmen, dass Steinfest von einer Kenntnis dieses Kapitels der neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes zumindest bei einem Teil seiner Leser*innen ausgeht. Schließlich präsentiert sein Erzähler die Rezeptionsgeschichte in Kommentaren wiederholt explizit als Bezugspunkt für sein eigenes Verständnis des Geschehens.64

IV.

Noch einmal: medievalism

Der Nibelungen Untergang macht durch temporale Irritationen deutlich, dass nicht nur die Vergangenheit die Gegenwart hervorbringt, sondern spätere Zeiten Geschichte produzieren, und macht damit ein Konzept von Geschichte greifbar, wie es auch dem oben zitierten Grundverständnis der medievalism-Forschung zugrunde liegt. Die Erzählinstanz legt offen, dass es sich um eine Wiedererzählung handelt („Die Geschichte, die hier n a c h erzählt werden soll“; Herv. N. H.). Als deren materia lässt sich aufgrund des Figurenpersonals und wesentlicher Handlungselemente unschwer diejenige identifizieren, die sich im deutschen Sprachraum zuerst im hochmittelalterlichen Nibelungenlied schriftlich manifestiert hat. Entstehungszeit und Erzählsituation von Der Nibelungen Untergang sind trotz (oder aufgrund) der textimmanenten Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart in einer vom Mittelalter differenten Epoche zu verorten. Deshalb kann man mit gutem Recht von medievalism sprechen, denn „[t]o qualify as a legitimate focus for the study of medievalism a subject must refer to the Middle Ages, yet stand apart from the period“.65 Die Kategorisierung als ‚medievalism‘ betont die Konstruiertheit sowohl des Untersuchungsgegenstandes als auch seiner historischen Referenzpunkte. Somit lenkt sie die Aufmerksamkeit stärker als in der traditionellen Rezeptionsforschung üblich auf die 63 Vgl. von Hindenburg, Paul: Aus meinem Leben, 12. Aufl., Leipzig 1920, S. 403; Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, München / Berlin 2016, S. 1589. Grundlegend zur national(sozial)istischen Nibelungen- und Siegfried-Rezeption: Brackert, Helmut: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, hg. v. Ursula Hennig / Herbert Kolb, München 1971, S. 343–364; Münkler, Herfried / Storch, Wolfgang: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988; Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Joachim Heinzle / Anneliese Waldschmidt, Frankfurt 1991; Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009. 64 Bspw. auf S. 24, 82 oder S. 115: „[D]ass Siegfried dennoch im Gedächtnis der Menschen bleibt, wird der Literatur und der Musik zu verdanken sein, deren weltumspannende Möglichkeiten Kriemhild noch nicht ahnen kann).“ 65 Fugelso, Karl: Continuity, in: Medievalism. Key Critical Terms, hg. v. Elizabeth Emery / Richard Utz, Woodbridge 2004, S. 53–61, hier S. 53; Herv. im Original.

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Vorstellungen, die die Wiedererzählung von der Geschichte des Nibelungenuntergangs für die Rezipient*innen entwirft und damit auch das Bild vom mittelalterlichen Nibelungenlied (und dessen Rezeptionsgeschichte) mitkonstruiert. Die Perspektive der medievalism-Forschung kann auch dazu anregen, das spätmittelalterliche Nibelungenlied a stärker als Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts wahrzunehmen und unter anderen als textkritischen oder stoffund überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Statt eines Vergleichs mit der Historiographie, der häufig implizit höhere Autorität im Umgang mit Geschichte zugesprochen wird, stellte sich die Frage nach der spezifischen Konstruktion der Vergangenheit als Zeitraum der Erzählung. Aber lässt sich die textimmanente Gestaltung des Verhältnisses von Gegenwart der Erzählung und Zeit der Handlung im Maihinger Codex auch adäquat als medievalism beschreiben? Die Diskussion, ob es medievalism schon in Zeiten gab, die wir aus heutiger Perspektive noch dem Mittelalter zuzurechnen geneigt sind, ist nicht neu. So konstatiert beispielsweise Nickolas Haydock: The phrase ‚Chaucer’s medievalism‘ […] is not the contradiction in terms that the ‚medievalism of Statius‘ would be. […] [It] can be more than a gratuitous exercise if we concede that the worlds represented in […] the Canterbury tales […] are contingent constructions set in a period within the traditional dates for the Middle Ages, understood by the author and his audience to be a time radically different from the world in which they live [.]66

Dabei ist er sich der Problematik bewusst, dass ‚medievalism‘ als begriffliches Derivat von medium aevum im engeren Sinne ein triadisches Geschichtsbild, die Vorstellung eines mittleren Zeitalters, voraussetzt: The Renaissance, in a move continually repeated in later ages, defines itself against the Aristotelian principle of contradiction [Antiqui et Moderni] by the invention of a middle term, the Middle Ages, thereby casting the twelfth-century dyad as a false dichotomy and launching the dialectic abjection and identification that continues to structure both medievalism and medievalistics.67

Für ein solches Geschichtsbild bietet der Prolog von Nibelungenlied a keinen Anhaltspunkt und – anders als im Falle von Steinfests Der Nibelungen Unter66 Haydock, Nickolas: Medievalism and Excluded Middles, in: Studies in Medievalism 18 (2010), S. 17–30, hier S. 18. 67 Haydock: Excluded Middles (s. Anm. 66), S. 21; vgl. auch Verduin: The Founding (s. Anm. 12), S. 24; Shippey, Tom: Modernity, in: Medievalism (s. Anm. 65), S. 149–155, hier S. 149 sowie im selben Band Matthews, David: Middle, S. 141–147; Utz, Richard / Shippey, Tom: Medievalism in the Modern World: Introductory Perspectives, in: Medievalism in the Modern World. Essays in honour of Leslie J. Workman, hg. v. dens., Turnhout 1998, S. 1–13, hier S. 6: „To begin now at the beginning, it is evident that one cannot frame a concept of a ‚Middle Age‘ or ‚middle period‘ until one has a sense of two ends – or rather, as it often appears, of two cultural peaks with an unfortunate trough in between.“

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gang – kann man die Vorstellung eines mittleren Zeitalters auch nicht im kulturellen Entstehungskontext der Erzählung als gegeben voraussetzen. Statt eine Kategorisierung als spätmittelalterlichem medievalism vorzunehmen, scheint es mir deshalb erkenntnisreicher, den Fokus auf die ganz eigentümliche(n) literarische(n) Zeitvorstellung(en) zu lenken, die oben für Nibelungenlied a herausgearbeitet worden sind. Im Vergleich zu Steinfests postmoderner Version des Nibelungenliedes wirkt der von Nibelungenlied a ausgehende Reflexionsimpuls außerdem sehr schwach. Der Nibelungen Untergang funktionalisiert temporale Irritationen viel offensiver, um seine Rezipient*innen zur Reflexion von (literarischer) Heroisierung anzuregen. Auch werden Heldenfiguren und ein heroisches Ethos stärker problematisiert68 – gegebenenfalls auch, weil die Erzählinstanz sie nicht nur als Phänomen der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes betrachtet.

68 Noch viel mehr als in Nibelungenlied a, das im Wesentlichen den hochmittelalterlichen Fassungen folgt, zeigen andere Fassungen des Nibelungenliedes im 15. Jahrhundert die Tendenz, die Diegese stärker als geschlossene Heldenwelt zu entwerfen; vgl. für die Fassung n der Darmstädter Nibelungenlied-Handschrift 4257 Frick, Julia: abbreviatio. Zur historischen Signifikanz von Kürzungsfunktionen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik des 13. Jahrhunderts. Eine Projektskizze, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 140 (2018), H. 1, S. 23–50, hier S. 41; für Nibelungenlied k Müller: bei heldes zeiten (s. Anm. 49), insb. S. 274–278. Steinfests Der Nibelungen Untergang wirkt demgegenüber als typisch für eine Haltung, die man als postheroisch beschrieben hat; vgl. Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Greifswald 1996 (Kölner Beiträge zu Nationsforschung 2), S. 17.

Bastian Schlüter

Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens zwischen Salomon Gessner und Sophie von La Roche

Wollte man den Versuch unternehmen, die Bewertungsgeschichte literarischer Epochen als eine agonale zu schreiben, dann dürfte die Empfindsamkeit in diesem Wettkampf einen vorderen Platz belegen. Lange Jahrzehnte als tränenreiche Absetzungsbewegung von der Aufklärung rubriziert, die gleichwohl nur auf einem wenig bedeutenden und qualitativ minder produktiven Nebenschauplatz stattfand, hat die Empfindsamkeit seit den frühen Tagen des sozialgeschichtlichen Paradigmas und sodann seit der anthropologischen Wende der ‚Dishuitiemistik‘ eine recht steile Karriere gemacht.1 Inzwischen hat die einschlägige Forschung den im buchstäblichen Sinne epochalen Wert der Empfindsamkeit immer wieder deutlich benannt: Als ein „Schlüsselelement des gesamten Aufklärungsprozesses“ bezeichnet sie Albrecht Koschorke in seiner Studie zur ‚Mediologie des 18. Jahrhunderts‘, und Gisbert Ter-Nedden streicht einmal mehr und in klarer Ablehnung die lange Tradition in der Literaturgeschichtsschreibung heraus, die die Empfindsamkeit zu einem „modische[n] Oberflächenphänomen“ des 18. Jahrhunderts verkleinert hat, „bei dem die strukturgeschichtliche Tiefendimension verdeckt blieb.“ Er hingegen sieht in der empfindsamen „Entdeckung und Kultivierung des Erlebens eine Schwelle zu unserer eigenen Gegenwart überschritten“ – zu unserer Gegenwart, das heißt: zur Moderne.2 Hier soll daran anschließend beleuchtet werden, welcher temporalitätsgeschichtliche Ort der Empfindsamkeit zukommt. Denn die Empfindsamkeit und ihre Literaturproduktion lassen sich, mit gewisser Pointierung, als ein ‚Abschied 1 Vgl. Vollhardt, Friedrich: Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur Empfindsamkeit, in: Aufklärungsforschung in Deutschland, hg. v. Holger Dainat / Wilhelm Voßkamp, Heidelberg 1999, S. 49–77. 2 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 2003, S. 11; Ter-Nedden, Gisbert: Der Kino-Effekt des Briefromans. Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons ‚Clarissa‘ und Lessings ‚Miss Sara Sampson‘, in: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien, hg. v. Gideon Stiening / Robert Vellusig, Berlin / Boston 2012, S. 85–127, hier S. 102.

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vom Asynchronen‘ deuten. Hatten in der Literatur und zumal in den Erzähltexten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts historisches, heroisches, mythisches oder Abenteuer-Erzählen Konjunktur, so verschiebt sich der Fokus ab der Mitte des 18. Jahrhunderts: Das präsentische Mit-Erleben auf Seiten der Lesenden rückt mehr und mehr als implizites Rezeptionsangebot erzählender Texte in den Vordergrund, und diesem Angebot werden die Strukturen empfindsamer erzählter Welten und die Erzählprogramme der Epoche verpflichtet. Nicht um Asynchronien soll es deshalb hier gehen, sondern um deren Überwindung am Beginn der Literatur der Moderne. Noch präziser und als Frage ausformuliert: Wie synchronisiert empfindsames Erzählen individuelle Zeitordnungen innerhalb der erzählten Welt mit dem Zeit-Erleben der Lesenden während der Lektüre? Es ist lange bekannt, dass im 18. Jahrhundert bedeutende lesegeschichtliche Veränderungen zu verzeichnen sind. Von einer „Leserevolution“ ist gesprochen worden, geradezu schlagwortartige Bekanntheit hat Rolf Engelsings These erlangt, im 18. Jahrhundert habe sich eine Verschiebung vom „intensiven“ Lesen weniger religiöser Texte hin zum „extensiven“ Lesen fiktionaler Literatur vollzogen. Inzwischen ist dies kritisiert, ausdifferenziert, mit neuen Gewichtungen versehen worden, nicht zuletzt von der jüngeren Empfindsamkeitsforschung.3 Diese hat den lesegeschichtlichen Fokus medien- und bewusstseinshistorisch erweitert und, im Zitat von Ter-Neddens Position ist das bereits angeklungen, den Begriff des Erlebens in den Vordergrund gerückt.4 In der Empfindsamkeit wird das personale Erleben als ein spezifisches Ich-zentriertes Selbstverhältnis entdeckt – oder vielmehr: Ins Bewusstsein rückt nunmehr und mit bedeutenden Folgen die mediale Vermitteltheit eines solchen durchaus emphatischen Erlebens. Die Empfindsamkeit bringt eine in ihren historischen Dimensionen ganz 3 Vgl. Engelsing, Rolf: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 945–1002; dazu und zu neueren Perspektiven Schön, Erich: Geschichte des Lesens, in: Handbuch Lesen, hg. v. Bodo Franzmann u. a., München 1999, S. 1–85; Wittmann, Reinhard: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, hg. v. Roger Chartier / Guglielmo Cavallo, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 419–454; Schneider, Ute: Frühe Neuzeit, in: Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Ursula Rautenberg / ders., Berlin / Boston 2015, S. 739–763. 4 Vgl. Ter-Nedden, Gisbert: Poesie zwischen Rede und Schrift. Bausteine zu einer Medientheorie der Literatur, in: ders.: Buchdruck, Aufklärung, Alphabetisierung. Medien und Wissensgeschichte im 18. Jahrhundert, Hagen 2004, S. 8–23; Stiening, Gideon / Vellusig, Robert: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Perspektiven, in: dies., Poetik (s. Anm. 2), S. 3–18; Vellusig, Robert: Das Erlebnis und die Dichtung. Studien zur Anthropologie und Mediengeschichte des Erzählens, Göttingen 2013; ferner bereits Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 86.

Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens

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neue Verbindung von Erleben und Medium, und das heißt im 18. Jahrhundert: von Erleben und Schrift mit sich.5 Hierdurch wird die sprachliche Darstellbarkeit personalen Erlebens in ganz mannigfacher Weise weiter ausdifferenziert.6 Es lässt sich sogar die Frage stellen, ob sie dieses Erleben nicht realiter erst möglich gemacht hat, weil die nunmehr vorhandene Vielfalt sprachlichkultureller Reizangebote die anthropologisch gegebene Erlebnisfähigkeit des Menschen sehr viel breiter ansprechen konnte.7 Die Empfindsamkeit ist also mehr als nur eine eingrenzbare literaturhistorische Strömung, sie ist ein Basisphänomen der modernen Bewusstseinsgeschichte, das ein ausgefeiltes sprachliches Korrelat einer – womöglich – neuen Erlebniswirklichkeit und eines neuen Selbstverhältnisses des Individuums hervorbrachte. Sprache ist nicht mehr nur ein Mittel der Selbstbeschreibung und Selbsterkundung in säkularisierter Absicht, wenn auch mit religiösen Wurzeln, wie dies im 17. und 18. Jahrhundert der Pietismus hervorgebracht hatte, sondern Sprache wird zum Ausdruck von emphatischem Erleben. Dies steckt die Dimensionen der Empfindsamkeit ab.8 Ausdruck, das meint zum einen das Bedürfnis, das Selbst zu verschriftlichen; von einem „Verbalisierungszwang“ ist in der Forschung gesprochen worden, vom Bedürfnis, Erleben und Verschriftlichung zusammenzurücken, eben zu synchronisieren.9 Ausdruck meint zudem die Kommunizierbarkeit des Erlebten, den Drang, das Erlebte mitzuteilen und damit ‚nach-erlebbar‘ zu machen. Für das schreibende Ich zum einen, ganz unbedingt jedoch für ein das Geschriebene lesendes Gegenüber. Das idealtypische Medium der Empfindsamkeit ist der Brief in seiner Adressatenbezogenheit; zum zentralen schriftkulturellen Signum der Epoche wird die intime, erlebensbezogene Kommunikation von Ich und Du, vermittelt durch die Lektüre.10 Das verschriftlichte persönliche Erleben gewinnt 5 Dies haben, bei ansonsten recht unterschiedlichen Herangehensweisen, sowohl die mediengeschichtliche (Ter-Nedden: Poesie (s. Anm. 4), Stiening / Vellusig: Poetik (s. Anm. 2), Vellusig: Erlebnis (s. Anm.4)) als auch die diskursgeschichtlich-anthropologische Forschung (Koschorke: Körperströme (s. Anm. 2)) herausgestellt. 6 Vgl. dazu Wegmann: Diskurse (s. Anm. 4), S. 77–79. 7 Dies im Anschluss an Mellmann, Katja: Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn 2006, zur Empfindsamkeit bes. S. 374; vgl. grundlegend zur evolutionsbiologischen Fundierung der Literaturgeschichte Eibl, Karl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn 2004; dazu auch Vellusig: Erlebnis (s. Anm. 4), S. 33–41. 8 Vgl. dazu aus der neueren Forschung Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17. bis 19. Jahrhundert, Göttingen 2005; von Mücke, Dorothea E.: The Practises of Enlightenment. Aesthetics, Authorship, and the Public, New York 2015. 9 Vellusig: Erlebnis (s. Anm. 4), S. 23; vgl. auch Ter-Nedden: Kino-Effekt (s. Anm. 2), bes. S. 98. 10 Vgl. Anton, Annette C.: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1995.

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damit eine implizite Sensibilität für das Narrative des kommunikativen Prozesses, für die zeitliche Organisation einer wirkungsbezogenen Narration, für eine Verwurzelung in der „experientiality“ des Berichteten, zuletzt für eine an der Mündlichkeit orientierten sprachlichen Fassung desselben.11 All dies drängt aus dem Rahmen privater Kommunikation heraus und wird zur Formationskraft der Literatur. Es begründet die Literatur der Moderne: Im Briefroman der Empfindsamkeit, dessen frühe Exponenten, Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740) und Clarissa, or the History of a Young Lady (1748), die Empfindsamkeit als europäische literarische Strömung aus der Taufe heben und eine gattungsübergreifende Wirksamkeit auch auf dem Kontinent entfalten.12 In den Briefromanen in empfindsamer Einfassung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Hochkonjunktur haben, werden personales Erleben und das im Medium der Schrift kommunizierte Angebot zum Nacherleben literaturfähig. In ihnen und aus ihnen heraus formiert sich ein Ich-zentriertes Erzählen mit all seinen chronotopischen und strukturellen Konsequenzen, die fortan zumal das romanhafte Schreiben als solches prägen sollten: Die Konzentration auf einen begrenzten Kreis an Figuren, in deren Innenleben der narrative Prozess auf die eine oder andere Weise Einsicht gewährt, die Ausrichtung der Zeitlichkeit des Erzählens und damit der Plotstruktur an einer homogenen, ‚naturalistischen‘ und erlebnismimetischen Zeit, die Begrenzung der Räumlichkeit der erzählten Welt auf ein ebenfalls naturalistisches und erlebniskonformes Maß.13 Die Erzählliteratur der Empfindsamkeit übt, „programmiert“ daran entlang ein Leseverhalten ein, das durch eine intime, personale Kommunikation geprägt ist.14 Die „intendierten Leser“ einer solchen Narration lesen die entsprechenden Texte als ihre Aufmerksamkeit bindende, sie einmal mehr emotional, einmal mehr intellektuell fordernde mediale synchrone Gegenüber.15 Katja Mell11 „Experientiality“ als erlebnisbasierter, mündlich-konversationeller Ausgang des Erzählens nach Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London / New York 1996, bes. S. 63–71; vgl. ferner dies.: Mündliches und schriftliches Erzählen, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hg. v. Matías Martínez, Stuttgart / Weimar 2011, S. 29– 36. 12 Zu den bewusstseins- und ideengeschichtlichen Wurzeln der Empfindsamkeit und ihres englischen Ursprungs gehören der Sensualismus und der Empirismus; vgl. dazu Stiening, Gideon: ‚I have done with the science of man‘. Empirismus und poetische Form in den Briefromanen Richardsons, Rousseaus und Smolletts, in: ders. / Vellusig: Poetik (s. Anm. 2), S. 49–82. 13 Vgl. dazu Ter-Nedden: Kino-Effekt (s. Anm. 2), S. 96–102, in weiterer Perspektive Werner, Lukas: Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit, Berlin / Boston 2018. 14 „Leserprogrammierung“ nach Koschorke: Körperströme (s. Anm. 2), S. 163 (dort mit Blick auf Rousseau). 15 Hier die rezeptionsästhetische Begriffsfügung Erwin Wolffs aufgreifend, der darunter reale (wenn auch nicht ganz spezifische und konkrete) Leserinnen und Leser versteht, an die ein

Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens

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mann hat dies als Prozess im 18. Jahrhundert beschrieben, in welchem die Literatur in ihrer emotionalen Wirkung Stück für Stück zu einer menschlichen Attrappe umgeformt werde, die durch ausgefeilte appetitive und aversive Reizsetzungen ihre Lesenden immer näher an sich heranziehe. Das Medium Schrift, der Datenträger Buch werde, so der Untertitel ihrer Studie, zum „Freund“, zum direkten Gegenüber der Rezipierenden.16 Temporalitätsgeschichtlich gewendet: Mit der Empfindsamkeit wird das Lesen fiktionaler Texte zum Erlebnis einer Nähe und Gleichzeitigkeit von diegetischer und realweltlicher Individualität, einer Synchronie erzählter Personalität mit derjenigen des lesenden Individuums. Beobachtet werden soll dies hier, naheliegend, am ersten deutschsprachigen Briefroman, der die Empfindsamkeit nach dem Richardson-Modell in die deutsche Literatur transferierte: an Sophie von La Roches 1771 erschienener Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Zuvor jedoch soll ein Blick auf eines der erfolgreichsten Erzähl-Genres des 18. Jahrhunderts geworfen werden, Salomon Gessners Idyllen. Deren erster Band von 1756 leitete, so die These, nahezu zeitgleich mit Richardson und bereits vor dem Siegeszug der deutschsprachigen Briefromane im letzten Jahrhundertdrittel die empfindsame ‚Leserprogrammierung‘ ein, ohne dass dies bisher bereits entsprechend gewürdigt wurde. Die Idyllenbände Gessners gelten, in ihren Übersetzungen nach ganz Europa ausstrahlend, als zweitgrößter Bucherfolg der deutschsprachigen Literaturproduktion des 18. Jahrhunderts nach Goethes Leiden des jungen Werthers.17 Schon deshalb sollten die Gessner’schen Idyllen trotz ihrer heutigen literaturgeschichtlichen Randstellung Beachtung finden, wenn es um die Geschichte der Ausbildung neuer literarischer Kommunikations- und Rezeptionsformen seit 1750 geht.

Text sich wendet; vgl. Wolff, Erwin: Der intendierte Leser. Überlegungen und Beispiele zur Einführung eines literaturwissenschaftlichen Begriffs, in: Poetica 4 (1971), S. 141–166; zum weiteren Zusammenhang ferner Willand, Marcus: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven, Berlin / Boston 2014, S. 76–78. Die Empfindsamkeitsforschung hat en passant der Rezeptionsästhetik wieder einen neuen Aufschwung beschert, in der Tat ist das Interesse an historischen Leserinnen und Lesern der Literatur dabei sehr gewachsen, wenn selbstverständlich das Grundproblem der validen Rekonstruierbarkeit von realen Lese- und Rezeptionsprozessen geblieben ist. 16 Vgl. Mellmann: Emotionalisierung (s. Anm. 7), bes. S. 42–78. 17 Vgl. Hentschel, Uwe: Salomon Geßners ‚Idyllen‘ und ihre deutsche Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 332–349.

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I.

Bastian Schlüter

Salomon Gessner: Idyllen (1756)

Gessners Idyllik markiert in den beiden Bänden Idyllen (1756) und Neue Idyllen (1772) den letzten literarischen Höhepunkt und Abschluss der 2000 Jahre zurückreichenden, durch Theokrit und Vergil begründeten und seit der Renaissance in den verschiedenen europäischen Literaturen wiederbelebten Tradition der Schäferdichtung, der Bukolik, in die sie immer wieder Elemente der Landlebendichtung, der Georgik, einmischt.18 Zentrales topisches Element der Bukolik (und in Variation und Abstufung auch der Georgik) ist der locus amoenus, der liebliche Ort in der seit Vergil als ‚Arkadien‘ benannten Landschaft, dessen motivisch-erzählerische Ingredienzien, besonders aber dessen Chronotopik ihn zum idealen Medium neuer literarischer Temporalitätskonzepte werden lassen, die hier sowohl in der histoire wie im discours des Erzählens aufgesucht werden können.19 Salomon Gessner griff nun diesen Traditionsbestand für die deutsche Literatur nicht nur auf – das war schon in der barocken Pastoraldichtung geschehen, zumeist vermittelt über romanische Vorbilder und Vorlagen –, er schuf mit der Idyllendichtung als Sammlung kurzer Erzähltexte, vorgetragen in rhythmisierter Prosa, eine ganz neue, eigene Gattung, die nicht nur in der deutschen, sondern in der gesamten europäischen Literatur singulär war. Die Idyllendichtung ist seit ihrer Begründung in der Antike geprägt vom lieblichen Ort als einem in seiner Ausdehnung begrenzten, durch Vegetation oder Felsen eingehegten Raum, in seiner Mitte nicht selten ein Gewässer, eine Quelle, eine Anordnung von Bäumen und Pflanzen, eine Hütte oder Laube. Das Personal, das sich in dieser Gemarkung tummelt, ist ebenfalls von kleiner Zahl, kaum mehr als zwei oder drei Figuren, bestückt aus den unteren Rängen der klassischen Mythologie: den Schäfern und Schäferinnen wie Daphnis, Amyntas, Chloe und Micon, dazu Mischwesen und Personifikationen der Natur wie Faune, Nymphen und Zephyre. All dies greift Gessner in seinen kurzen Texten auf. Er hat seinen arkadischen Erzählungen dabei zudem dezente, jedoch am Ende sehr markante Rahmungen hinzugefügt, die über die naive Idealwelt der Hirten und 18 Dies ist im Übrigen eine mehr als interessante ‚Asynchronie‘, die hier zu behandeln jedoch ein anderes Thema abgäbe und auf die vielfach in der Forschung eingegangen wurde. Die Geschichte der Idylle hat mehrere, inzwischen schon ältere, jedoch in Präzision und historischer Informiertheit kaum überbotene Überblickdarstellungen gefunden; als deren wichtigste sind zu nennen Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle, 2. Aufl., Stuttgart 1977; Schneider, Helmut J.: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder, in: Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1978 [überarb. Fassung 1981], S. 353–423; Schneider, Helmut J.: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie, in: Deutsche Idyllentheorie im 18. Jahrhundert, hg. v. dems., Tübingen 1988, S. 7–74. 19 Vgl. die klassische Darstellung von Snell, Bruno: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft [1945], in: ders.: Die Entdeckung des Geistes, 3. Aufl., Hamburg 1955, S. 371–400.

Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens

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Schäfer hinausgehen. Besonders deutlich wird dies in der letzten Erzählung des Bandes, Der Wunsch.20 Auch in ihr wird die topische Szenerie des Idyllischen aufgerufen, sie ist allerdings nun ganz klar der georgischen Tradition der Landlebendichtung verpflichtet und wandelt vernehmlich in den Spuren der berühmten 2. Epode des Horaz (Beatus ille, qui procul negotiis). Der Stadt aufs Land entflohen, träumt das Sprecher-Ich in Der Wunsch vom „kleinen Landhaus, beym ländlichen Garten“, und das durchgehend im Konjunktiv: Im grünen Schatten wölbender Nußbäume stünde dann mein einsames Haus, vor dessen Fenstern kühle Winde und Schatten und sanfte Ruhe unter dem grünen Gewölbe der Bäume wohnen; vor dem friedlichen Eingang einen kleinen Plaz eingezäunt, in dem eine kühle Brunn-Quelle unter dem Traubengeländer rauschet, an deren abfliessendem Wasser die Ente mit ihren Jungen spielte […]. […] Aussen am Garten müßt’ ein klarer Bach meine Grasreiche Wiese durchschlängeln; er schlängelte sich dann durch den schattichten Hain fruchtbarer Bäume, von jungen zarten Stämmen durchmischet, die mein sorgsamer Fleiß selbst bewachete. Ich würde ihn in der Mitte zu einem kleinen Teich sich sammeln lassen, und in des Teiches Mitte baut’ ich eine Laube auf eine kleine aufgeworfene Insel […].21

Das Leben in diesem abgeschiedenen Landhaus und seiner Umgebung gilt dem Genuss und der sorgsamen Kultivierung der Natur, dem Spaziergang und der Geselligkeit. Bezeichnenderweise nun ist der historische Ort dieser idyllischen Welt nicht mehr das von Gessner in der Vorrede des ersten Bandes, An den Leser, angekündigte und im größten Teil der Texte auch repräsentierte „entfernte[] Weltalter“ (Gessner, S. 16), sondern die Gegenwart, die auf recht bezeichnende Art in den Idyllentext einbezogen wird. Denn der Ich-Erzähler widmet die MußeStunden im Landhaus der ausgiebigen Lektüre, er beschäftigt sich mit „den großen Geistern, die ihre Weisheit in lehrende Bücher ausgegossen haben“. Wessen Bücher das sind, wird in emphatischer Rede sogleich benannt: Du schöpfrischer Klopstok, und du Bodmer, der du mit Breitingern die Fakel der Critik aufgesteket hast […]. Und du Wieland, […] oft sollen Eure Lieder in heiliges Entzücken mich hinreissen; Auch du mahlerischer von Kleist, sanft entzükt mich dein Lied, wie ein helles Abendroth, zufrieden ist dann mein Herz, und still, wie die Gegend beim Schimmer des Monds; auch du Gleim, wenn du lächelnden Empfindungen unsers Herzens singest und unschuldigen Scherz, […]. (Gessner, S. 70)

20 Sie hat aus diesem Grunde in der Forschung immer wieder herausgehobene Beachtung gefunden, so etwa bei Böschenstein-Schäfer: Idylle (s. Anm. 18), S. 19; Hentschel: Rezeption (s. Anm. 17), S. 334f.; Riedl, Peter Philipp: Arbeit und Muße. Literarische Inszenierungen eines komplexen Verhältnisses, in: Arbeit – Freizeit – Muße. Über eine labil gewordene Balance, hg. v. Hermann Fechtrup u. a., Berlin 2015, S. 65–99, bes. S. 77f. 21 Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe, hg. v. E. Theodor Voss, 3. Aufl., Stuttgart 1988, S. 66f.; diese Ausgabe wird im Folgenden im Text zitiert als „Gessner“.

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Der Ich-Erzähler der letzten Idylle des Bandes bewegt sich also in der gleichen Zeit und in den gleichen literarischen Sphären wie der reale Autor Salomon Gessner; die erzählte Welt in Der Wunsch gewinnt dadurch im Vergleich zu denjenigen der Pastoralidyllen eine unbestreitbar eminente Realitätsnähe. Dass diese allerdings vermittels literarischer Verweise hergestellt wird – in denen es wohlgemerkt vornehmlich um die Wirkung der Dichtung auf den Leser geht –, dieser Umstand lässt sich doch als subtiler Hinweis darauf auslegen, dass diese ‚Realität‘ weiterhin als eine fiktive, eine auf dem Wege literarischer Kommunikation imaginierte und vermittelte verstanden werden soll. Auch die Idyllendichtung hat mit der außerliterarischen Wirklichkeit zu tun, so ließe sich Gessners Anordnung als poetologischer Kommentar lesen, ein kurzschlüssiger ‚Durchgriff‘ von der Literatur auf die Wirklichkeit verbietet sich jedoch. Der geradezu insistente Konjunktiv, den Gessner in Der Wunsch aufbietet, spricht ebenso dafür wie das Ende der Idylle, an dem der Erzähler sich eingestehen muss: „Aber, was träum’ ich? Zu lang, zu lang schon hat meine Phantasie dich verfolget, dich, eitelen Traum! Eiteler Wunsch! nie wird ich deine Erfüllung sehen.“ (Gessner, S. 71) Das ist Fiktion, die um ihre Fiktionalität, um ihr ‚Als ob‘, weiß, die in der so prägnanten Modalstruktur des Erzählprozesses und in der für Gessners Idyllenprogramm durchaus ungewöhnlichen Gegenwartsmarkierung jedoch sehr subtil die Grenzen zwischen Irrealis und Potentialis, zwischen reinem ‚Wunsch‘ und seiner denkbaren Verwirklichung verschwimmen lässt. Es erscheint lohnenswert, den von Gessner in seinem ‚Literaturexkurs‘ ausgelegten Faden aufzunehmen. Rückt er dort die Wirkung der Dichtungen Klopstocks, Wielands, Kleists und Gleims in den Vordergrund, eingebettet in die Schilderungen einer idyllischen Welt auf dem Lande, dann mündet dies in eine ganz profilierte Dramaturgie der Wirkung, die über die Erzählwelten hinaus auch in die Welt der realen Lesenden der Idyllen übergreifen will. Am Anfang der deutschsprachigen Empfindsamkeit wird hier gleichsam eine ‚Vorarbeit‘ zur Synchronisierung der Erlebnishorizonte in der erzählten Welt mit denjenigen der realen Lesenden geleistet; dieses Erzählen trägt in seiner Dramaturgie und kommunikativen Ausgestaltung dazu bei, auf Seiten der Rezipierenden einen Lektüremodus der Vertiefung und Konzentration zu evozieren und einzuüben. Selbstverständlich lässt sich das auch hier und im Blick auf Gessner nicht empirisch belegen – der allgemeine große Publikumserfolg seiner Idyllen und ihre Verbreitung sind indes schon benannt worden –, durch eine noch differenziertere Einordnung seines Schreibens in das literarische Leben zwischen den 1750er und 1770er Jahren soll aber doch diese These weitere Plausibilität erlangen. Der erste Band der Idyllen von 1756 wird in die frühe, in die Ausbildungs- und Verfertigungsphase der deutschen Empfindsamkeit hinein veröffentlicht. Von Bodmers und Breitingers Gottsched-Kritik in Zürich vorbereitet, von Gellert Ende der 1740er Jahre zu einem ersten großen Erfolg geführt, erlebt die Emp-

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findsamkeit um 1750 im Auftritt Klopstocks auf der literarischen Bühne eine Dynamisierung, die von vielen Zeitgenossen als durchaus revolutionär und provokativ erfahren wurde. Nach Richardson und für den deutschsprachigen Zusammenhang noch bedeutender mit Klopstock bildet sich in der literarischen Kommunikation zwischen dem Autor und seinen Lesenden oder präziser: zwischen dem schriftlichen Text und seinen Lesenden ein ganz neues Näheverhältnis heraus. Es ist bezeichnend, dass der Idylliker Gessner in der Literatenliste in Der Wunsch den Emphatiker Klopstock an die erste Stelle rückt – und es ist sehr wohl verwunderlich, scheint der Ambitus seiner Idyllen im Vergleich zur Literatursprache Klopstocks, zu dessen Oden oder zum Messias, doch ungleich kleiner zu sein. Klopstock ist für Gessner dennoch ein großes Vorbild in der Intensität und Kommunikativität seiner Dichtung. Klopstocks frühe Lyrik wird nicht nur gelesen und rezitiert, sie wird erlebt. Kaum ein Autor des 18. Jahrhunderts hat einen größeren Einfluss auf die „Leserprogrammierung“ und deren temporale Komponente als er.22 Klopstock wird allerdings, das aufgespannte Netz der Literatennamen ist sehr ernst zu nehmen, sogleich ‚eingehegt‘: vom jungen Wieland, in den 1750er Jahren ebenfalls noch ein mit der Empfindsamkeit Experimentierender; von Gleim, dem ‚tändelnden‘ Anakreontiker, und von Ewald von Kleist, dem Naturlyriker, über dessen Werk sich eine Verbindung zur frühaufklärerischen Dichtung und zur Präzision ihres physikotheologisch geschulten Blickes auf die Natur ergibt, hin also zu Brockes, den Gessner, ohne ihn in Der Wunsch zu nennen, ebenfalls überaus geschätzt hat.23 Alles in allem: Gessner gibt seinem Schreiben einen präzisen Platz innerhalb der jüngsten Literatur im Zeichen der Empfindsamkeit; nicht die schnell zu kultischen Akten werdende KlopstockLektüre setzt er dabei als Wirkungsziel an, um die neue kommunikative Kraft der Literatur weiß er gleichwohl; er will sie allerdings in ‚kleineren‘ Dimensionen stimulieren, in ihrer spielerischen Sinnlichkeit wie die Anakreontiker, in ihrer Genauigkeit des Blicks wie Kleist oder Brockes. Gessner strebte dabei eine Konzentration, eine Fokussierung auf das erzählerisch Dargebotene, eine ‚Bindung‘ auch an das Personal der Idyllen an, das bei aller generellen gattungskonformen Typisierung im Einzelfall doch bereits klar umrissene Züge empfindsamer Subjektivierung und Intimisierung aufweist, wie zu zeigen ist. Zunächst jedoch lässt sich feststellen, dass Gessner mit den zeitgenössischen Theorien über die Potentiale der Einbildungskraft auf Seiten des

22 Vgl. im weiteren Zusammenhang dazu Menninghaus, Winfried: ‚Darstellung‘. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas, in: Was heißt ‚Darstellen‘?, hg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a. M. 1994, S. 205–226. 23 Vgl. dazu Gessners für sein Werk als bildender Künstler und Dichter sehr aufschlussreicher Brief über die Landschaftsmahlerey von 1770, in: Gessner: Idyllen (s. Anm. 21), S. 171–193, zu Brockes S. 185f.

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Dichters wie auch auf Seiten der Lesenden sehr vertraut war; das streichen bereits die ersten Sätze der Vorrede An den Leser heraus: Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük, müssen Leuten von edler Denkungsart gefallen; und um so viel mehr gefallen uns Scenen die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, weil sie oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Ähnlichkeit zu haben scheinen. (Gessner, S. 15)

Die Einbildungskraft ermöglicht nicht nur dem Dichter das Dichten, sie versetzt zudem die Lesenden in den Stand, das Fiktive über ein Erinnerungs- oder Ähnlichkeitsverhältnis mit dem eigenen Horizont realer Lebenserfahrung in Beziehung zu setzen.24 Insofern ist sich diese Dichtung immer, das macht Gessner am Anfang klar, ihrer Rezipierenden bewusst, dies allerdings nicht im Sinne eines Nützlichkeitsverhältnisses, des klassischen prodesse der Dichtungslehre, sondern in einem bereits ansatzweise anthropologisch ausgerichteten Wissen um die Funktionen der Einbildungskraft auf Seiten der Lesenden, die mit in Betracht gezogen werden. Und doch führt das historische Fundament von Gessners Wirkungskonzept über die zeitgenössischen Debatten zurück bis in die Frühaufklärung und deren Poetik der Naturschilderung, die einer genauen und detailreichen Nachzeichnung noch des Kleinsten in der Natur verpflichtet ist. Dabei muss nun jedoch nicht mehr die glückhafte Lobpreisung der göttlichen Ordnung das erste Vermittlungsziel sein; der Detailreichtum kann dem Dichter der Jahrhundertmitte, dem Schüler Bodmers und Breitingers, der um die Funktionen der Einbildungskraft weiß, jetzt auch als Schulung derselben dienen, als Konzentrationsund Synchronisierungsübung für die Leserinnen und Leser. Gessner, noch ganz ungebrochen dem ut pictura poesis vertrauend, ‚malt‘ quasi den durch die Topik sowieso schon begrenzten Raum der arkadischen Welt im Fortgang des Erzählens in aller Kleinteiligkeit vor die imaginären Augen der Leserschaft.25 Ein Auszug aus Als ich Daphnen auf dem Spaziergang erwartete kann dies illustrieren, einer Erzählung, in der das genaue Beobachten der Natur noch dadurch gesteigert wird, dass es in die Zeitlichkeit des Wartens eingebettet ist. Der Blick 24 Vgl. zu den sich um die Jahrhundertmitte ausdifferenzierenden Debatten um die Einbildungskraft, ihre Möglichkeiten und Gefahren die Studie von Dürbeck, Gabriele: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998. 25 Vgl. dazu noch einmal Gessners Ausführungen im Brief über die Landschaftsmahlerey, bes. S. 184; außerdem van Laak, Lothar: Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion, in: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne, hg. v. Nina Birkner / York-Gothart Mix, Berlin / Boston 2015, S. 120–129.

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des Ich-Erzählers und damit die Perspektive der Lesenden richten sich dabei auf immer kleinere Objekte der Darstellung: Sie kömmt noch nicht, die schöne Daphne! hier will ich ins Gras mich hinlegen und sie erwarten, hier an der Quelle. Indeß will ich die Gegend umher betrachten, und mein Verlangen täuschen. Du hoher schwarzer Tannen-Hain, der du die Pfeil-geraden röthlichen Stämme dicht und hoch durch deinen dunkeln Schatten empor hebst, hohe schlanke Eichen, und du Fluß, der du mit majestätischem Silberglanz hinter jenen grauen Bergen hervor rauschest, nicht euch will ich izt sehen, izt sey das Gras um mich her meine Gegend. Wie sanft rieselst du vorüber, kleine Quelle, durch die WasserKressen, und durch die Bachbungen, die ihre blauen Blumen emportragen; du schwingest kleine funkelnde Ringe um ihre Stämme her und machest sie wanken; von beyden Ufern steht das fette Gras mit Blumen vermischt, sie biegen sich herüber, und dein klares Wasser fließt durch ihr bunten Gewölb und glänzet im vielfärbichten Wiederschein. […] Welch eine bunte Blume wieget sich dort an der Quelle? So schön und glänzend von Farbe – – doch nein! angenehmer Betrug! ein Schmetterling flieget empor, und läßt das wankende Gräschen zurük. Izt rauscht ein Würmchen, schwarz beharnischt auf glänzend rothen Flügeln vorbey, und sezt sich, zu seinem Gatten vielleicht, auf die nahe Gloken-Blume. (Gessner, S. 63f.)

Wie mit einem imaginären Fernglas (übrigens schon ein Motiv bei Brockes) werden also die Lesenden in den Mikrokosmos der idyllischen Welt hineingezogen – und in die Imaginationsräume ihrer eigenen Einbildungskraft, die die „Ähnlichkeit“ mit „unsern seligsten Stunden“ aufzurufen vermag. Ins Temporale gewendet: In der stimulierenden Visualität des Beschriebenen werden hier die Vorzüge zeitdeckenden Erzählens präsentiert und eingeübt. Auf eine noch ganze andere Weise werden die Neuerungen des empfindsamen literarischen Diskurses jedoch in den Idyllen eingeführt. Viele der kurzen Texte sind Dialoge weniger, meist zweier Figuren, zum Teil auch Monologe, die in exemplarischer Machart die empfindsamen Innendarstellungen ausbuchstabieren. Hält man sich vor Augen, dass in der Mitte der 1750er Jahre das beispielhafte narrative Medium dieser Intimitätsschilderungen, der Briefroman, im deutschsprachigen Kontext durchaus noch ein Novum war, dann lässt sich die Bedeutung der idyllischen Kurzerzählungen als Einübung in eine solche neue literarische Kommunikation ermessen. Unter Umständen, diese These ist zu wiederholen, schufen die Gessner’schen Idyllen gar das Fundament, auf dem empfindsames Erzählen im Roman in seinen stark rezipientenzentrierten Intimisierungs- und Adressierungsstrategien, in seinen Erlebnisseffekten späterhin aufbauen konnte. Wie die hintereinander gestaffelten Briefe des Briefromans sind im Kleinen auch in einigen der Idyllen-Erzählungen die jeweiligen Rollenreden zweier Figuren im Austausch über die Empfindungen der Liebe angeordnet; die Szenerie des locus amoenus gibt zusätzlich einen idealen räumlichen Hintergrund für eine solche Kommunikation der Nähe in der Ich-Form ab (so

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etwa in den Erzählungen Lycas und Milon und in Dapnis. Chloe). Eine Aufladung der Figurensprache mit affektiven Gehalt und der empfindsamen Neigung zum Tränenfluss bietet der Monolog Mirtil, in der der Titelheld „seinen alten Vater sanftschlummernd am Mondschein“ in der Laube vor seiner Hütte hingesunken vorfindet und in dankbarer Ergriffenheit und eingedenk des nahenden Todes des Vaters seine Liebe zu diesem in Worte fasst: Wie lächelnd ist der Schlaf des Frommen! Gewiß gieng dein zitternder Fuß aus der Hütte hervor, in stillem Gebete den Abend zu feyren, und betend schliefest du ein. Du hast auch für mich gebetet, Vater! Ach, wie glüklich bin ich! […] wann du dann gen Himmel blikest und freudig mich segnest, ach was empfind ich dann, Vater! Ach dann schwellt mir die Brust, und häufige Thränen quillen vom Auge! (Gessner, S. 26)

Eine solche Rede, die in der Ansprache des durch den Schlaf ‚abwesenden‘ Gegenübers im Übrigen strukturell der Briefkommunikation gleicht, wird zwar in der idyllischen Kurzerzählung einer nur schemenhaften Figur in den Mund gelegt; dennoch wird mit dieser Darbietung die literarische Präsentation von Subjektivität antizipiert, gleichsam probehalber durchgeführt. In der Erinnerung an das Wirken des Vaters und an seine Beziehung zu ihm wird eine subjektive Geschichte der Figur zumindest ahnbar, weil ihr Ansätze einer eigenen ‚inneren Geschichte‘ eingeschrieben werden, einer im Erzählen dargebotenen Biographie. Was in diesen Texten in den Idyllen und den Neuen Idyllen geschieht, durchaus dezent und camoufliert durch die vordergründige Harmlosigkeit der Idylle, sollte in seiner literaturhistorischen Dimension nicht unterschätzt werden: Der erste Band der Idyllen kommt in einer Zeit heraus, in der der Roman sich anschickt, das zentrale literarische Vermittlungsmedium von Individualität und Subjektivität zu werden, um auf diesem Wege seinen Leserinnen und Lesern immer ‚näher zu rücken‘ und ihnen ein konzentriertes Leseerlebnis anzubieten, das schon die zeitgenössischen Theoretiker als einen Dialog mit der Einbildungskraft ebendieser Leserinnen und Leser verstanden haben. Zeitgleich ist die Temporalität romanhaften Erzählens einem Prozess der fortlaufenden Homogenisierung und Naturalisierung unterworfen, einer Synchronisierung mithin. All dies wird in der Frühgeschichte dieser Entwicklung hin zum modernen Roman interessanterweise in einer ganz neuen und durchaus solitären, dabei jedoch überaus vielgelesenen Erzählgattung quasi in nuce durchgespielt und eingeübt. Ein vertieft-dialogisches, ein konzentriertes und intimes Lesen, das diegetische und reale Welt der Lesenden in ihrer Zeitlichkeit zusammenrückt, verdankt die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts ganz prominent jener zurückhaltenden „sanften Utopie“, die Salomon Gessner in seinen beiden Idyllenbänden ab den 1750er Jahren ausgearbeitet hat.26 26 Vgl. Schneider: Sanfte Utopie (s. Anm. 18).

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II.

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Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771)

Fünfzehn Jahre nach Gessners erstem Idyllen-Band erscheint mit Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim 1771 der bekannteste deutschsprachige Briefroman, der dem erfolgreichen Richardson-Modell folgt. Auch La Roche bedient sich in ihrem Erzählen jener durch die fingierten Briefe vermittelten intim-erlebnisnahen Schriftlichkeit und damit einer Ich-zentrierten Darstellungsform, die durch die Adressatenbezogenheit der Textsorte Brief per se eine Kommunikativität evoziert, die als solche ihre Wirksamkeit auch außerhalb der erzählten Welt entfalten kann: Das Erleben der Heldin wird mit dem der Lesenden synchronisiert. Die Leidensgeschichte der jungen Sophie von Sternheim, ihr Betrug und ihre Entführung durch einen ruchlosen Adligen, wird in Briefen dargeboten, die, so die fiktive Rahmung, von der Zofe der Sternheim abschreibend zusammengestellt werden und in dieser Form wiederum an eine „Freundin“ adressiert sind: „Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, daß ich so viel für Sie abschreibe.“27 Diese Verdoppelung der Adressierung und damit der Schriftlichkeit, die der erste Satz des Romans deutlich unterstreicht, schlägt gleich zu Beginn einen rhetorischen Bogen aus der erzählten Welt heraus. Im Wissen um die Medialität und Kommunikativität des Präsentierten können sich die realen Lesenden quasi als zeitgleich mitlesende Schatten der romanintern angesprochenen Freundin imaginieren, denn die Entfernung von der Erlebnis‚Wirklichkeit‘ der Sternheim ist für sie genauso groß wie für besagte Freundin, vermittelt allein durch die Schrift der zusammengestellten Briefe und durch die Erläuterung der Zofe Rosina. Der Briefroman steht damit am Anfang der Bewusstseinsdarstellung moderner Erzählliteratur, er ist prototypischer Bewusstseinsroman.28 Diese für die Gattung Roman ab der Mitte des 18. Jahrhunderts neue, auch zur Erscheinungszeit der Sternheim noch junge Konzentration des Erzählprozesses darauf, eine Hauptfigur in den Mittelpunkt zu rücken und ihr Innenleben darzustellen, spiegelt sich in ebenfalls geradezu prototypisch verdichteter Weise im Beginn des ersten Briefes wider, den die „Freundin“ und alle anderen Lesenden von der titelgebenden Heldin zu lesen bekommen:

27 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, hg. v. Barbara BeckerCantarino, Stuttgart 1983, S. 19 – im Folgenden in Klammern im Text zitiert als ‚Sternheim‘. 28 Vgl. Stiening / Vellusig: Poetik (s. Anm. 4), S. 11–14; zur Anlage der Adressierungen zwischen erzählter Welt und realer Welt der Rezipierenden – hier im Blick auf die Vorrede des Herausgebers Wieland – auch Fleig, Anne: ‚Autors-Künste‘. Wissen und Geschlecht in Wielands Vorrede zu Sophie von La Roches ‚Geschichte des Fräuleins von Sternheim‘, in: Sophie von La Roche et le savoir de son temps, hg. v. Helga Meise, Reims 2013, S. 43–58, bes. S. 46f.

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Ich bin nun vier Tage hier, meine Freundin [an dieser Stelle ist die Brief-Adressatin erster Ordnung, Emilia, die Freundin der Sternheim, angesprochen; BS], und in Wahrheit nach allen meinen Empfindungen in einer ganz neuen Welt. Das Geräusch von Wagen und Leuten habe ich erwartet; doch plagte es mein an die ländliche Ruhe gewöhntes Ohr die ersten Tage über gar sehr. Was mir noch beschwerlicher fiel, war, daß meine Tante den Hoffriseur rufen ließ, meinen Kopf nach der Mode zuzurichten. (Sternheim, S. 61f.)

Es sind sogleich die „Empfindungen“, die sinnlichen Eindrücke der Schreiberin, die von ihr mitgeteilt werden und die eine Überforderung oder Fremdheit in einer „ganz neuen Welt“ für sie bedeuten. Die Organisation des brieflichen Erzählens im Roman lässt jede Form rhetorischer Zurichtung des Epistolaren hinter sich, bedient sich einer seit Gellerts wirkmächtiger Brieflehre eingeführten ‚natürlichen‘ Redeweise.29 Auch auf die Tugendhaftigkeit der Heldin wird bereits in den ersten Zeilen, die man von ihr liest, angespielt. Ihre Ablehnung des ‚modischen‘ Putzes, überhaupt des höfischen Lebens ist benannt, dem wird die Hochschätzung der ländlichen Welt und einer als unverbildet angesehenen Moralität in der Ferne vom Hof entgegengestellt, die später breiten Raum einnimmt. Hier gibt sich Sophie von La Roches Erzählen als gleichermaßen beeinflusst von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseau zu erkennen.30 Diese auf das Innenleben der Figur, ihr Bewusstsein und ihre moralischen Überzeugungen fokussierende und damit das Nach-Erleben stimulierende Präsentation wird immer wieder flankiert von einem ‚dramatischen Modus‘ des Erzählens, der reich ist an wörtlicher Rede, an der direkten Wiedergabe von Dialogen, der zusätzlich die (intime) Räumlichkeit der jeweiligen Szenerie in den Blick nimmt und als quasi-theatralen Raum für Bewegungen und Gesten nutzt.31 All das führt in diesem Fall zu einem tendenziell zeitdeckenden, wenn nicht gar zeitdehnenden Erzählen, das allerdings bisweilen durch kurze Einschübe indirekter Rede rhythmisch gelockert wird. Als Beispiel sei jene Passage des Romans zitiert, in der das erste Mal aus der Erzählung der Zofe heraus ein Brief in die Narration 29 Vgl. Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003, bes. S. 69–77. 30 Vgl. dazu schon Ridderhoff, Kuno: Sophie von La Roche, die Schülerin Richardsons und Rousseaus, Einbeck 1895; aus der neueren Forschung von Felden, Heide: Die Frauen und Rousseau. Die Rousseau-Rezeption zeitgenössischer Schriftstellerinnen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1997, S. 115–133; außerdem Arnds, Peter O.: Sophie von La Roche’s ‚Geschichte des Fräuleins von Sternheim‘ as an answer to Samuel Richardsons ‚Clarissa‘, in: Lessing Yearbook 29 (1997), S. 87–105; in ihrem Journal einer Reise durch Frankreich (1787) schildert La Roche den enthusiastischen Besuch am Grab Rousseaus in Ermenonville, auch ihr in Mein Schreibetisch (1799) abgedruckter Briefwechsel mit Julie Bondeli ist über weite Strecken dem Austausch über Rousseau gewidmet. 31 Mit dem ‚dramatischen Modus‘ greife ich eine erzählanalytische Begriffsprägung von Matías Martínez und Michael Scheffel auf; vgl. Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 52–54.

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eingefügt wird; es handelt sich dabei – die ‚Redakteurin‘ Rosina fasst am Romanbeginn die Geschichte der Eltern der Titelheldin zusammen – um einen Brief der Mutter Sophie von Sternheims an deren Mutter, und sie schildert darin ein Gespräch mit ihrem Gemahl, dem Obersten von Sternheim, in welchem dieser ihr seine moralischen, politischen und religiösen Anschauungen darlegt. Vorab sei noch gesagt – auch das scheint für die Nach-Erlebensperspektive der realen Leserinnen und Leser nicht ohne Bedeutung –, dass es sich beim Obersten von Sternheim um einen von Herkunft bürgerlichen Mann handelt, geboren „in dem glücklichen Mittelstande der Gesellschaft“, der ob seiner hohen Verdienste und seiner moralischen Integrität geadelt wird (Sternheim, S. 39): Er kam mit dem Ausdruck einer sanften Freudigkeit in seinem Gesichte zu mir in mein Kabinett, wo ich gedankenvoll saß; blieb in der Mitte des Zimmers stehen, betrachtete mich mit zärtlicher Unruhe, und sagte: ‚Sie sind nachdenklich, liebste Gemahlin: darf ich Sie stören?‘ Ich konnte nicht antworten, reichte ihm aber meine Hand. Er küßte sie, und nachdem er sich einen Stuhl zu mir gerückt hatte, fing er an: ‚Ich verehre Ihre ganze Familie; doch muß ich sagen, daß mir der Tag lieb ist, wo alle Gesinnungen meines Herzens allein meiner Gemahlin gewidmet sein können. [Es folgen über zwei Druckseiten weitere Ausführungen Sternheims, BS]‘. Hier hielt er inne, küßte meine beiden Hände, und bat mich um Vergebung, daß er so viel geredet hätte. Ich konnte nicht anders, als ihn zu versichern, daß ich mit Vergnügen zugehört, und ihn bäte fortzufahren, weil ich glaubte, er hätte mir noch mehr zu sagen. ‚Ich möchte Sie nicht gern ermüden, liebste Gemahlin; aber ich wünsche, daß Sie mein ganzes Herz sehen könnten. [Es folgen weitere vier Druckseiten in direkter Rede, BS]‘. Hier hörte er auf, und bat mich um Vergebung so viel und so lange geredet zu haben. ‚Sie müssen müde worden sein, teure Sophie‘, sagte er, indem er einen seiner Arme um mich schlang. Was blieb mir in der vollen Regung meines Herzens übrig zu tun, als ihn mit Freudentränen zu umarmen? (Sternheim, S. 38–44)

Diese Schilderungen der Briefschreiberin betten die Reden des Obersten in eine intime Szene privater Kommunikation ein; die moralisch-tugendhafte Programmatik, die er in breiten Ausführungen darlegt, werden von ihr im Gesamtzusammenhang einer auch körperlich sehr genau markierten räumlichen Ordnung erlebt, und dieses Erleben wird in der gewählten Form der Narration, der Verschriftlichung, der Adressatin (und damit allen Lesenden) zum NachErleben angeboten. Es ist dies ein Modus der erzählerischen Präsentation, der, das wurde schon benannt, Züge des Dramatischen trägt, der erlebens- und mündlichkeitsmimetisch angelegt ist; für letzteres sprechen die vergleichsweise häufigen inquit-Formeln („und sagte“, „fing er an“, „sagte er“). Dabei zeichnen sich die Charaktere des empfindsamen Briefromans nicht durch besondere Differenziertheit oder Komplexität aus; das moderne Erzählen übt sein neues Interesse an Bewusstseinsinhalten und Psychologischem an einer

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zunächst recht simplen Matrix ein. Dennoch mag es gerade diese moralische Eindeutigkeit sein, die die ‚Rezeptionslenkung‘ im Sinne eines emotional beteiligten und ‚synchronisierten‘ Lesens ermöglicht.32 Nicht die psychologische Differenziertheit der Charaktere an sich, wohl aber die Tatsache, dass auf einen – moralisch so klar codierten – Handlungsverlauf aus unterschiedlichen individuellen Erlebensperspektiven lesend ‚geschaut‘ werden kann, macht die im 18. Jahrhundert als so überwältigend empfundene Neuerung in der Lektüre aus, die die Briefromane ermöglichen. Die Polyperspektivität des Erzählens in Briefen kann überdies mit der Spannungskurve der Rezipierenden spielen, indem es eine Dramaturgie des unterschiedlichen Wissens zumal an Scharnierstellen der Handlung einsetzt.33 So auch im Sternheim-Roman: Ein höfisches Fest, das die junge und nach dem Tod ihrer Eltern unfreiwillig von einer Verwandten an den Hof verfrachtete Sophie von Sternheim dem dortigen Fürsten als Mätresse zuführen soll, wird dreimal erzählt: das erste Mal aus der Perspektive des um den eigentlichen Zweck des Festes wissenden Derby, für dessen spätere Intrige es gleichfalls Bedeutung gewinnt. (Sternheim, S. 134–142) Nicht nur kennt er die unlauteren Motive des Maskenfestes – und mit ihm die Lesenden –; er, der sich auch hier selbst einen „Bösewicht“ nennt (ebd., S. 137), schildert das naive Auftreten der jungen Sternheim mit kaum verhohlenem Begehren als das einer „Zauberin“, er sieht sie verächtlich als eine „Schwärmerin, die uns zu Narren machte.“ (ebd., S. 134, 137) Mit Spott und Verachtung überzieht er zudem seinen Widersacher, den tugendhaften Lord Seymour, der ebenfalls von der Sternheim eingenommen ist, und dem, sehr viel mehr als ihm, Derby, deren Aufmerksamkeit gilt: „Aber etliche Male hätte ich sie zerquetschen mögen, da ihre Blicke, wiewohl nur auf das flüchtigste, mit aller Unruh der Liebe nach Seymour gerichtet waren.“ (ebd., S. 135) Der darauffolgende im Roman präsentierte Brief entstammt der Feder Seymours, auch er hat durchschaut, welches Ziel die festliche Gesellschaft verfolgt. (ebd., S. 142–145) Durch seine heimliche Liebe benebelt, verkennt er das wahre Denken der als Bäuerin verkleideten Sophie und unterstellt ihr ein absichtsvolles Werben um die Gunst des Fürsten: „Mit wie viel niederträchtiger Gefälligkeit bot sie ihm Sorbet an, schwatzte mit ihm, tanzte ihm zuliebe englisch, mit einem Eifer, den sie sonst nur für die Tugend zeigte.“ (ebd., S. 144) Diese zunächst aggressiv-begehrende, dann ungerecht verkennende Sicht 32 Vgl. Moravetz, Monika: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons ‚Clarissa‘, Rousseaus ‚Nouvelle Héloïse‘, ‚Laclos‘ ‚Liaisons dangereuses‘, Tübingen 1990, bes. S. 137–274. 33 Vgl. Mandelkow, Karl Robert: Der deutsche Briefroman. Zum Problem der Polyperspektive im Epischen, in: Neophilologus 44 (1960), S. 200–208; Voßkamp, Wilhelm: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 80–116.

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auf Sophies Auftritt wird erst im dritten Brief, der alles aus der Perspektive der Hauptfigur schildert, ‚aufgelöst‘.34 Das spannungsvoll Erwartete tritt ein: Mitnichten wusste die Protagonistin von den verborgenen Absichten, die zu dem Fest geführt haben, arglos freut sie sich zunächst über die „Anstalten dieses niedlichen Festins“. (ebd., S. 146) Die Avancen des Fürsten werden ihr erst Stück für Stück als solche bewusst, und die von Seymour als berechnend gedeutete Begegnung mit dem Gastgeber vergegenwärtigt sie im Brief als ein ganz anderes Erlebnis: Die Gräfin F*, welche mich nötigte, ihm eine Schale Sorbet anzubieten, brachte mich in eine Verlegenheit, die mir ganz zuwider war; denn ich mußte mich zu ihm auf die Bank setzen, wo er mir über meine Person und zum Teil auch über den übrigen Adel, ich weiß nicht mehr was für wunderliches Zeug, vorsagte. (ebd., S. 149)

Ein solches Erzählen im Briefroman wirkt vermittels einer zur Auflösung drängenden Spannung in der Dosierung des Wissens; es steigert diesen Effekt aber bedeutend dadurch, dass es die unterschiedlichen Wissenshorizonte als jeweils Ich-zentrierte Erlebenszusammenhänge darstellt, die in der intimen brieflichen Kommunikation dem Gegenüber das Erlebte vergegenwärtigen wollen. Diese Intimisierung erreicht als neue literarische Kommunikation auch die Leserinnen und Leser des Romans. Mit welcher Intensität in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim die Verbindung von erlebendem Ich, dessen Verschriftlichung und der daraus möglich werdenden Kommunikation mit einem anderen Ich zusammengedacht, ja, wie sie geradezu als existenziell ausformuliert wird, zeigt eine Passage, in der das Leben Sophie von Sternheims tatsächlich bedroht ist. Der ‚Satan‘ Derby, der sie in einer fingierten Hochzeit zunächst geheiratet und daraufhin, nachdem er ihrer überdrüssig geworden war, verstoßen hatte, lässt sie in einer neuerlichen Aufwallung seines Begehrens in die ‚schottischen Bleygebürge‘ entführen, wo sie sich ihrem Ende nahe wähnt. Die Briefe, die in der Gefangenschaft nicht mehr versandt werden können, werden zwangsweise zum Tagebuch; das Schreiben für und an eine Adressatin jedoch hört nicht auf. Sogar in ihrer Unmöglichkeit wird die Kommunikation weiterhin als eine reziproke imaginiert: Emilia! teurer geliebter Name! Ehemals warst du mein Trost und die Stütze meines Lebens, itzt bist Du eine Vermehrung meiner Leiden geworden. Die klagende Stimme,

34 Dies sei hier verstanden im durchaus formalen, erzählanalytischen Sinne in Anlehnung an Eberhard Lämmerts Terminus von der „auflösenden Rückwendung“ als Mittel der Spannungssteigerung. Allerdings stellt durch die Polyperspektivität und die wiederholte Erzählung auf der gleichen Zeitebene der Brief Sophies keine Besonderheit in der Zeitgestaltung des Erzählens dar – wohl aber im Blick auf das ‚auflösende‘ Wissen der Hauptfigur; vgl. Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens, 2., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1967, S. 108–112; auch Martínez / Scheffel: Erzähltheorie (s. Anm. 31), S. 38f.

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Bastian Schlüter

die Briefe deiner unglücklichen Freundin dringen nicht mehr zu dir, alles, alles ist mir entrissen, und noch mußte mein Herz mit der Last des bittern Kummers beschweret werden, die Angst meiner Freunde zu fühlen. […] O Gott, wie hart strafest du den einzigen Schritt meiner Abweichung von dem Pfade der bürgerlichen Gesetze! – Kann meine heimliche Heurat dich beleidiget haben? – Arme Gedanken, wo irret ihr umher? Niemand höret euch, niemand wird euch lesen; diese Blätter werden mit mir sterben und verwesen; niemand als mein Verfolger wird meinen Tod erfahren, und er wird froh sein die Zeugnisse seiner Unmenschlichkeit mit mir begraben zu wissen. (Sternheim, S. 303)

Ein Schreiben, das nicht am Ende in die Kommunikation münden, das nicht die irrenden Gedanken einem Gegenüber vergegenwärtigen darf, kann nur den Tod vor Augen haben. Die Schreiberin erwartet ihre physische Auslöschung, der die materielle Vernichtung des Geschriebenen korrespondiert: „diese Blätter werden mit mir sterben und verwesen“. Dieses durchaus starke Bild für die enge Verbindung von Leben und adressatenbezogenem Schreiben als Verschriftlichung dieses Lebens mag als symbolisches Kernstück einer Wirkungspoetik des Briefromans verstanden werden. Der Briefroman als europäisches Phänomen leistet damit einem neuen Lesen Vorschub, das weitaus mehr ist als nur ein modischer Gefühlskult mit begleitendem Tränenfluss. Er bindet, so hat es die neuere Empfindsamkeitsforschung herausgestellt, das Erleben und die Möglichkeit zum synchronen Nach-Erleben in der literarischen Kommunikation mit ganz neuer Qualität an das Medium der Schrift. Das aufmerksam-immersive Lesen dieser neuen erzählenden, nunmehr völlig der Oralität entwachsenen und ganz eminent schriftlichen Literatur stimuliert auch Sophie von La Roche in ihrer überaus erfolgreichen Geschichte des Fräuleins von Sternheim.35 Die Quellen, die über die zeitgenössische Sternheim-Lektüre berichten, bestätigen das. Im für die empfindsame Lesegeschichte des 18. Jahrhunderts so einschlägigen und häufig herangezogenen Briefwechsel Johann Gottfried Herders mit seiner späteren Ehefrau Caroline Flachsland findet auch beider Lektüre des ersten Bandes im Erscheinungsjahr 1771 seinen Niederschlag. „Ich habe köstliche, herrliche Stunden beym Durchlesen gehabt“, schreibt Caroline Flachsland und preist die Lebensführung der tugendhaften Sternheim als Vorbild und „Ideal von einem Frauenzimmer!“: „ach, wie weit bin ich noch von meinem Ideal von mir selbst weg! welche Berge stehn getürmt vor mir! ach! ach, ich werde im Staub und in der

35 Der Roman wurde im Erscheinungsjahr dreimal aufgelegt, im Folgejahr ein weiteres Mal und kam nach 15 Jahren auf insgesamt acht Auflagen; vgl. Becker-Cantarino, Barbara: Nachwort. In: Sternheim (s. Anm. 27), S. 381–415, hier S. 386; vgl. zu weiteren Zeitlichkeitsaspekten bei La Roche Schlüter, Bastian: ‚Mein Schreibetisch‘. Muße erfahren, schreiben, lesen bei Sophie von La Roche, in: Muße und Gesellschaft, hg. v. Gregor Dobler / Peter Philipp Riedl, Tübingen 2017, S. 381–399.

Erlesene Zeiten. Zur Temporalität empfindsamen Erzählens

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Asche bleiben!“36 Herder, der acht Tage später auf den neuen Roman kommt (anscheinend ohne den Brief der Verlobten schon gelesen zu haben) und noch Wieland für den Verfasser hält, bekennt, er wolle viel lieber „dies Stück dreymal lesen“ als Wielands ebenfalls 1771 veröffentlichen Amadis. Er schildert, wie ihn die Geschichte des Fräuleins von Sternheim auch über die Zeit der Lektüre hinaus eingenommen habe: Lesen Sie, wenn Sie ihn noch nicht gelesen [haben], den kleinen Roman. welche Einfalt, Moral, Wahrheit in den kleinsten Zügen, und alle werden interessant! bis selbst auf alle, die Wieland darinn tadelt. Aber welch Ende bisher! Ich blieb so betroffen, und gleichsam auf meinem Lebenswege gehemmet, daß ich, weil ich just vorigen Freitag den Roman las, und darauf Sonnabend Predigt machen mußte, durchaus von nichts anderm predigen konnte, als daß es unglückliche Schritte gebe, die man nachher lebenslang nicht zurückholen könnte, und was man nun thun sollte?37

Das neue empfindsame Lesen vereinnahmt seine Leserinnen und Leser; die Lektüreschilderungen, so auch im Falle des Fräuleins von Sternheim, weisen den Briefroman als ein Medium aus, das in ein persönliches Näheverhältnis zu seinen Rezipientinnen und Rezipienten rückt. Sein Ich-zentriertes Erzählen kann die Romanfiguren zu Vorbildern realweltlicher Lebensführung werden lassen, und seine moralischen Katastrophen vermögen, wie Herders homiletisches Bemühen zeigt, sogar in Sinnstiftungskonkurrenz zu einer ganz anderen Schrift zu treten. Eine solche Lektürehaltung kann im literarischen Leben der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch nicht vorausgesetzt werden – es muss, und dies zumal in den erzählenden Gattungen mit dem Roman an erster Stelle, den Lesenden vermittels ganz neuer medialer, kommunikativer und narrativer Strategien nahegebracht werden. Dies mündet nicht zuletzt in die Synchronisierung von erzählter Welt und realem lesenden Nach-Erleben als eines basalen Modus moderner Lektürepraxis seit dem 18. Jahrhundert. Dafür hat das spielerisch-dezente Erzählen Gessners wichtige Vorarbeiten geleistet, indem es durch seine ‚malenden‘ und zeitdeckenden Elemente die Einbildungskraft der Lesenden stimuliert. Der empfindsame Briefroman differenziert dies durch seine wirkungsvolle Narration weiter aus, in deren Zentrum gleichsam eine ‚Temporal-Poetik‘ steht, die die Zeitlichkeit des Erlebens in diegetischer und realer Welt zusammenführt. Dieser empfindsame ‚Abschied vom Asynchronen‘ bietet sich fortan als eine mögliche Strategie modernen Erzählens an, die literarische Kommunikation als einen intimen Akt personaler Nähe zwischen schriftlichem Text und lesendem Gegenüber auszugestalten. 36 Brief an Herder vom 14. Juni 1771, in: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, hg. v. Hans Schauer, Weimar 1926, S. 239; auch zitiert in Sternheim (s. Anm. 27), S. 365. 37 Brief an Caroline Flachsland vom 22. Juni 1771, in: ebd., S. 242.; auch zitiert in Sternheim (s. Anm. 27), S. 365.

Johannes Traulsen

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

I.

Asynchronie und Legende

Im Jahr 1872 erschien bei Göschen in Stuttgart Gottfried Kellers Zyklus von Sieben Legenden.1 Die darin enthaltenen Erzählungen gehen alle auf hagiographische Vorlagen zurück, variieren diese aber so, dass sinnlicher Genuss und weltliche Liebe in ihren Mittelpunkt rücken. Kellers Text hat man deshalb als Kritik an der Legende als religiösem Genre und an der Religion im Allgemeinen verstanden. So bezeichnet Marianne Schuller im 2016 erschienenen KellerHandbuch die Sieben Legenden als Schöpfung von etwas Neuem aus einer „alten, gleichsam abgelebten Erzählform“, das die „alte[] religiös und kirchlich codierte [] Form“ überwindet.2 Aber schon Georg Lukács hatte in seiner 1946 erschienenen Studie zu Gottfried Keller einen differenzierteren Blick auf dessen Verhältnis zur Religion formuliert: Keller ist im allgemeinen den Überresten religiöser Anschauung gegenüber, wenn sie nur in den betreffenden Menschen subjektiv ehrlich und ohne Heuchelei weiterleben, sehr duldsam. […] Er gestaltet ja Menschen in ihren gesellschaftlichen Beziehungen, und um die innere Wechselwirkung dieser Beziehungen umfassend und allseitig dazustellen, wäre das, was ihm Feuerbach über die materialistische Grundlage des gesellschaftlichen Lebens geben konnte, viel zu dürftig gewesen.3

1 Erstausgabe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden, Stuttgart 1872. Im Folgenden wird im Fließtext nach folgender Ausgabe zitiert: Keller, Gottfried: Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. v. Dominik Müller, Frankfurt a. M. 1991 (BdK 68). Zur Veröffentlichungs- und jüngeren Forschungsgeschichte vgl. Weixler, Antonius: „Um modern zu reden“. Gottfried Kellers Sieben Legenden zwischen Reproduktion und Restauration erzählerischer Archetypik, in: IASL 44 (2019), S. 512–548, hier S. 516–519. 2 Differenzierter, aber grundsätzlich mit derselben Tendenz argumentiert Selbmann, Rolf: Gottfried Keller: Romane und Erzählungen, Berlin 2001 (Klassiker-Lektüren 6), S. 102. 3 Lukács, Georg: Gottfried Keller, Berlin 1947, S. 47.

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Johannes Traulsen

Die Sieben Legenden des Atheisten Keller sind gewiss nicht in dem Sinn religiöse Texte,4 dass sie spirituelle Ideen zu vermitteln oder fortzuschreiben suchen. Die christlichen Geschichten erscheinen als radikal profaniert. Aber die von Lukács konstatierte Duldsamkeit erstreckt sich dennoch auch auf das vormoderne religiöse Erzählen, insofern es nämlich als ein Erzählen von Menschen und ihrem Leben ernstgenommen wird. Ich meine daher, dass Kellers Umgang mit der historischen Erzählform der Legende als ‚Überwindung‘ und ‚Neuschöpfung‘ nur unzureichend beschrieben ist. Meine These lautet im Gegenteil, dass in den Sieben Legenden der Versuch erkennbar ist, deren m o d e r n e religiöse Vereinnahmung zu überwinden und dahinter ein älteres Interesse an menschlichen Beziehungen freizulegen, das insbesondere den vormodernen Asket*innenlegenden noch zu eigen war. Dem Zyklus der Sieben Legenden ist ein Vorwort des Autors vorangestellt, in welchem er den Weg beschreibt, der ihn zu seinem Stoff geführt hat: Beim Lesen einer Anzahl Legenden wollte es dem Urheber vorliegenden Büchleins scheinen, als ob in der überlieferten Masse dieser Sagen nicht nur die kirchliche Fabulierkunst sich geltend mache, sondern wohl auch die Spuren einer ehemaligen mehr profanen Erzählungslust oder Novellistik zu bemerken seien, wenn man aufmerksam hinblicke. (S. 11)

Keller spielt eine jüngere religiöse Art des Erzählens („kirchliche Fabulierkunst“) gegen eine tieferliegende profane Lust am Erzählen aus. Er unternimmt mit seinem Text den Versuch, hinter die religiösen Bedeutungen der Erzählungen und an deren Wissen um die „Menschen in ihren gesellschaftlichen Beziehungen“ zu gelangen. Damit sind die Sieben Legenden aber nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem legendarischen Erzählen der Vormoderne, sondern sie stellen auch einen Gegenentwurf zum Umgang mit der Hagiographie im 18. und 19. Jahrhundert dar: Die unmittelbaren Vorlagen für die Sieben Legenden sind nämlich bekanntlich nicht spätantike oder mittelalterliche Legendare,5 sondern liegen zeitlich sehr viel näher, wie Keller am 22. April 1860 in einem Schreiben an Ferdinand Freiligrath ausführt: Ich fand nämlich eine Legendensammlung von Kosegarten in einem läppisch frömmelnden und einfältiglichen Stile erzählt (von einem norddeutschen Protestanten doppelt lächerlich) in Prosa und Versen. Ich nahm 7 oder 8 Stück aus dem vergessenen Schmöker, fing sie mit den süßlichen und heiligen Worten Kosegärtchens an und

4 Vgl. zu Kellers Haltung gegenüber religiösen Texten Amrein, Ursula: „Als ich Gott und Unsterblichkeit entsagte“. Zur Dialektik von Säkularisierung und Sakralisierung in Gottfried Kellers literarischen Projekten aus der Berliner Zeit 1850 bis 1855, in: Religion als Relikt?, hg. v. Hanna Delf von Wolzogen, Würzburg 2006 (Fontaneana 5), S. 219–235, hier S. 221f. 5 Vgl. Keller: Sieben Legenden (s. Anm. 1), S. 793f.

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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machte dann eine erotisch-weltliche Historie daraus, in welcher die Jungfrau Maria die Schutzpatronin der Heiratslustigen ist. (S. 790)

Gotthard Ludwig Kosegartens Legenden,6 die erstmals 1804 in zwei Bänden erschienen,7 stellen Bearbeitungen älterer hagiographischer Texte dar. Solche Bearbeitungen und Neuakzentuierungen legendarischer Erzählungen waren im 18. und 19. Jahrhundert keine Seltenheit.8 Auch Johann Gottfried Herder, an den Kosegarten sich anschließt, ließ seiner Abhandlung Über die Legende9 (1797) einige neugefasste Legenden folgen.10 Herder differenziert in seinen Ausführungen das von Martin Luther stammende Verständnis der Legende als ‚Lügende‘,11 indem er die Texte nicht als Element der Heiligenverehrung behandelt, sondern ihren Wert für die individuelle Erbauung hervorhebt: Legende hieß das Buch, das die Summe dessen umfaßte, was nicht nur durchs ganze Jahr hin dem Volk öffentlich vorgelesen, sondern auch zu seiner häuslichen Erbauung fast einzig in die Hand gegeben ward. Und da dies insonderheit Leben der Heiligen waren, auch allem, was man damals schrieb, der Ton der Andacht und des Wunderbaren anhing, so ist der Name Legende vorzüglich der wunderbar-frommen Erzählung, d. i. Lebensbeschreibungen und Geschichten, die durch das, was Andacht vermöge, zur Nachfolge reizen sollten, geblieben. Nebst den Ritterbüchern, fassen sie also, nach dem Geist damaliger Zeit, die Blüthe und Blume menschlicher Ausbildung in sich; die Ritterbücher für den Mann von Geburt, die Legenden für den andächtigen tugendhaften Menschen, welches Standes er auch sein mochte.12

Herders Auffassung der Legende liegt ein starker Epochenbegriff zugrunde. Die Legende ist demnach eine Gattung der „mittleren Zeiten“13, die in der Epoche der Konfessionalisierung im katholischen Zusammenhang weiter tradiert wurde und im reformatorischen Zusammenhang der Kritik ausgesetzt war. Herder bemüht sich darum, die Hagiographie mit der Funktion der Erbauung wieder ins Licht zu rücken: „Andacht d. i. ein Aufmerken aufs Göttliche ringsumher schrieb ja diese 6 Kosegarten, Ludwig Theoboul: Legenden, 2 Bde., Berlin 1804. 7 Zu Kosegarten vgl. Heiderich, Manfred: Kosegarten, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 6, Berlin / Boston 2009, S. 659f. 8 Vgl. Weixler: „Um modern zu reden“ (s. Anm. 1), S. 520. 9 Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, Frankfurt a. M. 1998, S. 173–184. 10 Vgl. Leitzmann, Albert: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden. Nebst einem kritischen Text der „Sieben Legenden“ und einem Anhang, Halle a. d. S. 1919, S. XV. 11 Vgl. dazu Münkler, Marina: Legende / Lu¨ gende. Die protestantische Polemik gegen die katholische Legende und Luthers Lu¨gend von St. Johanne Chrysostomo, in: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, hg. v. Eric Piltz / Gerd Schwerhoff, Berlin 2015 (Beihefte zur Zeitschrift für Historische Forschung 51), S. 121–147, hier S. 130–138. 12 Herder: Werke (s. Anm. 9), S. 173 (Herv. i. Orig.). 13 Herder: Werke (s. Anm. 9), S. 174 (Herv. i. Orig.).

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Johannes Traulsen

Legenden: Andacht sollte sie lesen; Andacht sollten sie einflößen und wirken.“14 Er vergleicht die Legende mit der griechischen Mythologie: Beide seien basale kulturelle Ausdrucksformen, die nicht nach ihrem objektiven Wahrheitsgehalt zu beurteilen seien.15 Von dieser Überlegung ausgehend zielt Herder darauf, die Gattung fortzuschreiben und sie im Neuerzählen zu bessern: „Wenn aber die guten Legenden nur nicht so erzböse erzählt oder gar besungen wären! So erzähle, so singe man sie besser.“16 Herder zufolge ist die tiefere kulturelle und psychologische Bedeutung der Gattung aus ihrem mittelalterlichen Zusammenhang heraus zu verstehen, aber nur durch eine neue poetische Bearbeitung kann sie in die Gegenwart überführt werden. Kosegarten unternimmt das von Herder skizzierte Projekt einer Aktualisierung der Legende, wobei er im Vorwort seiner Legenden nicht nur die Überzeitlichkeit, sondern auch die überkonfessionelle Bedeutung des Erzählten betont: „Das aͤ chte Schoͤ ne ist nicht allein von jedem Zeitalter und jedem Himmelreich, es ist auch von jeder Kirche und jeder Konfession“.17 Allerdings ist besonders Kosegartens Auswahl von Legenden konfessionell geprägt.18 Als Grundlage seiner Dichtung gibt Kosegarten einige der wichtigsten Quellen hagiographischer Stoffe an: die Apokryphen und Pseudoepigraphie, die Schriften der Kirchenväter, die Vitae patrum, mittelalterliche Passionale und Legendare.19 Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf asketisch lebenden Heiligen: „Entsagung, Aufopferung, Selbstverlaͤ ugnung sind der Angelpunkt, um welchen die christliche Askese sich dreht.“20 Das Produkt von Kosegartens Bemühungen wird 1804 in der Vossischen veröffentlicht.21 Im Gegensatz zu Kellers Bezeichnung der Legenden Kosegartens als „vergessene[r] Schmöker“22 wurde das Werk immer14 15 16 17 18

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21 22

Herder: Werke (s. Anm. 9), S. 177 (Herv. i. Orig.). Vgl. Herder, Werke (s. Anm. 9), S. 176f. Herder, Werke (s. Anm. 9), S. 182. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, o. S. Anders sah das Emil Ermatinger, der Kosegartens Legenden in einen Zusammenhang mit den katholischen Strömungen der Romantik stellt. Dagegen ist einzuwenden, dass Kosegarten explizit das Prinzip der Erbauung für seine Texte in Anschlag bringt und insofern einen pietistischen Gedanken verfolgt. Vgl. Ermatinger, Emil: Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von Jakob Bechtholds Bibliographie, Stuttgart / Berlin 1920 (Gottfried Kellers Leben, Briefe und Tagebücher 1), S. 446f. Vgl. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. XII. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. XIV. Bei der Durchsicht von Kosegartens Legenden zeigt sich schnell, dass er einige der wichtigsten Eremiten-, Ordensgründer- und Jungfrauenlegenden aufgenommen hat, z. B. die Jungfrau von Antiochia, Scholastika von Nursia, Brigitta von Schweden, Jodokus, Arsenius magnus, Franziskus, Thekla, Eugenia, Paula, Euphrosina, Barlaam und Josaphat, Alexius, Paulus eremita, Macarius, Gregorius, Brandan. Vgl. Leitzmann: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden (s. Anm. 10), S. XVII. Entsprechend wird Kosegartens Legendensammlung noch von Tietz, Karl-Ewald: Kosegarten-Rezeption im heutigen Deutschunterricht: Stand, Probleme, Möglichkeiten, in:

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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hin zweimal selbstständig aufgelegt (1804 und 1810) und dann Teil von Kosegartens Sämtlichen Werken. Von der zeitgenössischen Kritik erfuhr Kosegartens Legendensammlung allerdings kein Lob, sondern scharfe Kritik.23 Ein Exemplar von Kosegartens Legenden muss Keller in den 1850er Jahren in die Hände gefallen sein24 und bildete den Ausgangspunkt für die Sieben Legenden, wobei Kosegartens Legendensammlung nicht die einzige Quelle Kellers war, wie sich immer wieder in einzelnen Ergänzungen und Erweiterungen zeigt. Im Vorwort zu den Sieben Legenden entfaltet Keller den Gedanken einer ‚Modernisierung‘ der Legende und positioniert sich damit auf dem „umkämpfte[n] Diskursfeld“25, das die Legende im 18. und 19. Jahrhundert darstellte. Kosegarten nimmt für seine Texte einen überzeitlichen Charakter in Anspruch und behauptet, er habe die Texte unbearbeitet gelassen und nur gesammelt.26 Dieser Idee und Behauptung stellt Keller einen Umgang mit der Legende gegenüber, die das Historische nicht umstandslos vereinnahmt, sondern es bearbeitet, diese Bearbeitung offenlegt und auf diese Weise im Erzählen ein Nebeneinander von Zeiten und Chronologien schafft.27 Die Sieben Legenden sind daher durch eine immer wieder erneuerte „Spannung zwischen Wiederherstellung und Herstellung, zwischen Erhalten und Erneuern“28 geprägt. Diesen Umgang Kellers mit seinen historischen Gegenständen möchte ich eine Poetik der Asynchronie nennen. Die Ironie, die sich darin immer wieder Bahn bricht, richtet sich dabei nicht nur gegen die historische Hagiographie, sondern auch gegen moderne Aktualisierungen der Legendendichtung, deren Ernsthaftigkeit und Eifer eben nicht als Asynchronien, sondern als Anachronismen erscheinen.

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Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region, hg. v. Wilhelm Kühlmann / Horst Langer, Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 19), S. 533–547, hier S. 539 kommentiert: „Des Dichters unübersehbare ‚fromme Einfalt‘, die betonte Erbauungsabsicht und seine poetische Überschwenglichkeit [sic!] brachten ihm nicht nur geringe Leserresonanz und nach 1804 nur eine zweite Auflage (1810), sondern auch kritische Urteile der Fachwelt ein.“ Vgl. die reichlich vorhandenen Beispiele aufgeführt bei Leitzmann: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden (s. Anm. 10), S. V–XV. Vgl. dazu auch Weixler: „Um modern zu reden“ (s. Anm. 1), S. 519–521. Vgl. Keller: Sieben Legenden (s. Anm. 1), S. 790 u. Stellenkommentar S. 836. Das Exemplar ist erhalten und wird mit Kellers Nachlass in der Zürcher Zentralbibliothek unter der Signatur 42.739 aufbewahrt. Weixler: „Um modern zu reden“ (s. Anm. 1), S. 521. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. XIf. Gabriele Brandstetter hat das Erzählverfahren der zeitlichen Überblendung oder Schichtung mit dem Begriff der figura beschrieben. Vgl. dazu Brandstetter, Gabriele: De figura. Überlegungen zu einem Darstellungsprinzip des Realismus – Gottfried Kellers „Tanzlegendchen“, in: De figura. Rhetorik, Bewegung, Gestalt, hg. v. ders. / Sibylle Peters, München 2002, S. 223–245, bes. S. 228f, sowie meine Ausführungen zu Das Tanzlegendchen weiter unten. Weixler: „Um modern zu reden“ (s. Anm. 1), S. 526.

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Die folgenden Analysen dreier Legenden des Keller’schen Zyklus zeigen, dass die Texte immer wieder offensichtlich chronologisch unvereinbare Elemente kombinieren. Indem durch diese Asynchronien die zeitliche Integrität aufgehoben wird, tritt der Konstruktionscharakter der Erzählungen hervor, die damit nicht mehr als überzeitliche Exempla taugen, wohl aber ihren ursprünglichen Fokus auf die Menschen, von denen sie erzählen, beibehalten. Alle drei Texte stellen Übergänge im Leben ihrer Figuren dar, die ihrerseits als Momente der Asynchronie, des kurzfristigen Nebeneinanders mehrerer möglicher Lebensphasen, erscheinen: Eugenia befasst sich mit der Adoleszenz, Die Jungfrau und die Nonne mit der Mitte des Lebens, Das Tanzlegendchen mit dem Tod und der Ewigkeit.

II.

Eugenia: Die Adoleszenz einer antiken Heiligen

Das christliche Prinzip der Virginität29 stellt den Kern aller Legenden dar, die Keller ausgewählt hat. Die Sieben Legenden sind bei ihm dahingehend bearbeitet, dass die Erzählungen stets nicht mit der Entsagung von Ehe und weltlicher Liebe, sondern mit dem körperlichen Vollzug derselben ausgehen. Der Fokus von Kellers Legenden liegt dabei auf weiblichen Figuren. Dafür boten sich Mönchsund Jungfrauenlegenden in besonderer Weise an, weil Ehe und erotische Versuchung immer schon zentrale Themen dieser Texte sind.30 Die erste und längste Erzählung des Zyklus berichtet vom Leben der Heiligen Eugenia. Die Heilige wird der „ersten Christenzeit“ (S. 12) zugeordnet, womit die ersten drei christlichen Jahrhunderte, die Zeit der spätantiken Christenverfolgung und Märtyrerprozesse bezeichnet ist. Der Text berichtet davon, wie seine gebildete Protagonistin Eugenia in Alexandria sehr begehrt wird, alle Bewerber abweist, aber deren Huldigungen entgegennimmt: Alle Bücherwürmer von Alexandrien machten Elegien und Sinngedichte auf die musenhafte Erscheinung, und die guten Hyazinthen (Eugenias Begleiter; J. T.) mußten diese Verse sorgfältig in goldene Schreibtafeln schreiben und hinter ihr hertragen. (S. 13)

Eugenia wird in Kellers Text vom Erzähler als „Blaustrümpfchen“ (ebd.) tituliert. Mit dem pejorativen Begriff wird die antike Figur, die sich durch ihre besondere Bildung auszeichnet, in asynchroner Weise für eine Polemik gegen die Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts gebraucht. Anders als die Vorlage von 29 Vgl. dazu Traulsen, Johannes: Virginität und Lebensform, in: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter, hg. v. Julia Weitbrecht u. a., Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 237), S. 137–158. 30 Vgl. Traulsen: Virginität und Lebensform (s. Anm. 29), S. 137f.

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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Kosegarten verweigert Kellers Legende durch diese Asynchronie die historische Kontinuität des Textsinns. Mit der abwertenden Bezeichnung der Bildung Eugenias als ‚Blaustrümpfigkeit‘ bedient die Legende ein zeitgenössisches misogynes Klischee. Die Abwertung philosophischer Bildung von Frauen ist allerdings durchaus keine Hinzufügung Kellers, sondern findet sich bereits in den vormodernen Legenden und bei Kosegarten. Eine Erweiterung Kellers besteht aber insbesondere in der Fokussierung des erotischen Begehrens als handlungsleitendes Moment.31 In den Sieben Legenden rückt das Verhältnis zwischen Eugenia und dem um sie werbenden Statthalter Aquilinus in den Fokus, das in den Vorlagen nur marginal ist.32 Das erotische Begehren ist dabei in der Keller’schen Legende nicht einseitig auf die männliche Figur beschränkt, sondern auch Eugenia selbst hatte seit manchen schönen Tagen heimlich das Auge auf ihn geworfen, da er der stattlichste, angesehenste und ritterlichste Mann in Alexandrien war, der überdies für einen Mann von Geist und Herz galt. (S. 13)

Eugenia und Aquilinus sind einander zugetan, der Vereinigung steht aber die „Wissenschaft und Geistesbildung“ (S. 14) entgegen. Als die beiden sich treffen, erlegt Eugenia es dem Werber auf, sich zunächst im gebildeten Diskurs mit ihr und ihren beiden Begleitern zu messen, was Aquilinus als „hochtragende Zumutung“ (S. 14) ablehnt, woraufhin beide sich trennen und unverheiratet bleiben. Wie in den Vorlagen der Erzählung tritt auch Kellers Eugenia als Mann in ein Kloster ein.33 Diesem Wechsel des Geschlechts und der Lebensform geht ein

31 Lembke, Astrid: Eine Heilige in Gesellschaft: Formen der Kooperation in der ‚Legende von Prothus und Hyacinthus‘ bei Jacobus von Voragine, der Lichtenthaler Schreiberin Regula und Gottfried Keller, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 141,1 (2019), S. 53–79, hier S. 77 spricht in von einer „Entpolitisierung“ im Sinn einer Depotenzierung weiblicher Figuren in der Eugenia. Im Hinblick auf das Frauenbild ist insbesondere der Vergleich der publizierten Eugenia in der Fassung der ersten Handschrift Kellers aufschlussreich: Während der frühen Fassung noch eine scharfe Polemik gegen emanzipatorische Bewegungen vorangestellt ist (vgl. S. 703), nimmt Keller die entsprechende Passage später wieder heraus und restituiert damit tendenziell auch die positive Bewertung der weiblichen Figur (vgl. S. 799–808). Das Frauenbild der Eugenia, wie der Sieben Legenden im Allgemeinen, bleibt ambivalent. 32 Vgl. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 190, die Bearbeitung gründet auf der Legenda aurea. Vgl. dort die Legende von Protus und Hyazinthus: Jacobus de Voragine: Legenda aurea / Goldene Legende, 2 Bde., hg. v. Bruno W. Häuptli, Freiburg i. Br. 2014 (Fontes Christiani), Bd. 2, S. 1771–1777. 33 Beispiele für die Monachoparthenie, das Crossdressing von Frauen, um den Eintritt in ein Kloster zu ermöglichen, gibt es in der Hagiographie reichlich. Vgl. dazu Traulsen, Johannes: Jungfrau und Mönch. Askese und Geschlecht in Crossdressing-Legenden des Mittelalters, in: Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus

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Zustand der Unruhe voraus, der parallel mit dem Bartwuchs ihrer gleichaltrigen Begleiter auftritt und so – anders als in den Vorlagen – den Eintritt in die Adoleszenz markiert: Mittlerweile befand sich Eugenia doch nicht wohl und zufrieden; ihre geschulten Diener mußten Himmel, Erde und Hölle durchphilosophieren, um plötzlich unterbrochen zu werden und stundenweit mit ihr im Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt zu sein. (S. 16)

Mit dem Übergang vom Jugendlichen- ins Erwachsenenalter ist ein weiteres neues Element in die Erzählung eingeführt. Der folgende Eintritt ins Kloster wird nicht mit einem christlichen Entsagungsgedanken begründet, sondern erscheint als Folge des jugendlichen Unruhezustands, in dem sich Eugenia zuvor befindet. Sie entdeckt ihren späteren Konvent im Rahmen eines ihrer unruhigen Spaziergänge: Bei dem Klang dieser Worte, aus frommen, demütigen Kehlen gesungen, vereinfachte sich endlich ihr künstliches Wesen, ihr Herz ward getroffen und schien zu wissen, was es wolle, und langsam, ohne zu sprechen, fuhr sie weiter nach dem Landgute. Dort zog sie insgeheim männliche Kleider an […]. (S. 12)

Dann tritt sie ins Kloster ein, wo sie sich um besondere asketische Leistungen bemüht und schließlich sogar Abt wird. Antonius Weixler hat den Eintritt in den Konvent als „Tiefpunkt ihrer Dissoziation von sich selbst und ihrer Sinnlichkeit“34 gedeutet. Doch die Aussage, dass sich schon durch den Gesang der Mönche Eugenias „künstliches Wesen“ vereinfacht, will dazu nicht recht passen, denn es wird ja hier eher die Überkultivierung und Manieriertheit der Figur (‚künstliches Wesen‘) gegen deren ernsthafte Bewegtheit (‚getroffenes Herz‘) angesichts des Klosterlebens gestellt. Der erste Eindruck des Klosters und der Eintritt in dasselbe wird auf diese Weise als Ende einer Dissoziation von Sein und Schein inszeniert, freilich nicht ohne auch ein ironisches Licht auf die vermeintliche Einfachheit des Klosterlebens zu werfen. Die folgende Marmorbild-Episode ist gegenüber den Quellen ganz neu eingefügt und greift erneut die Dissoziation von äußerem Eindruck und innerem Sein auf. Eugenia begegnet ihrem eigenen Abbild, das ihr Vater aus Marmor fertigen und im Minervatempel aufstellen ließ. In der Statue entdeckt sie das ursprüngliche innere Wesen […], das durch ihre Schulfuchserei nur verhüllt wurde, und es war ein edleres Gefühl, als Eitelkeit, durch welches sie ihr besseres Selbst in dem magischen Mondglanz nun erkannte. (S. 19)

mediävistischer Perspektive, hg. v. Ingrid Bennewitz / Jutta Eming / Johannes Traulsen, Göttingen 2019 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschungen 25), S. 227–242. 34 Weixler: „Um modern zu reden“ (s. Anm. 1), S. 538.

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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Die Szene stellt eine Mise en abyme dar: Durch die Betrachtung des Kunstwerks kommt die Figur zu einer tieferen Erkenntnis ihres eigenen Wesens. Entsprechend zielt auch Kellers Bearbeitung der Form der Legende darauf, deren ‚ursprüngliches Wesen‘ zu enthüllen. Dabei geht es nicht um die monastische oder überhaupt um religiöse Lebensformen, von denen sich Keller ja nicht nur in seinen Legenden immer wieder ironisch distanziert. Die Analogie von Statue und Erzählung liegt vielmehr darin, dass beide einen Einblick in menschliches Handeln und Sein eröffnen. Dass Keller auf Selbsterkenntnis – und nicht etwa auf eine Glorifizierung des Klosterlebens – zielt, wird im Folgenden deutlich: Eugenia beobachtet Aquilinus, der sich der Statue heimlich nähert und sie liebkost. Diese Konfrontation mit dem eigenen Abbild und ihrem Verehrer bewirkt eine Veränderung Eugenias, die sich beim Frühgebet des nächsten Morgens zeigt. Statt sich dem Gebet zu widmen, hängt sie Träumen nach, „die dasselbe nichts angingen“ (S. 20). Schließlich gibt sie ihr Leben im Kloster auf. Den Impuls, den Konvent zu verlassen, geben allerdings nicht die inneren Veränderungen, sondern – der Tradition des Textes und Kellers Poetik der Asynchronie folgend – ein äußerer Umstand: Die als Mönch lebende Eugenia wird beschuldigt, sich an einer Frau vergangen zu haben. Aus der daraus entstehenden Zwangslage kann sie sich nur befreien, indem sie sich Aquilinius offenbart, der sie nicht nur ‚rettet‘, sondern den sie nun heiratet, nicht ohne ihn am Ende zum Christentum zu bekehren. Die Erzählung greift das legendarische Motiv der Monachoparthie, des Lebens weiblicher Figuren in Mönchsklöstern auf. Die als Männer lebenden Frauen werden schon in der vormodernen Hagiographie häufig mit dem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs gegen eine Frau konfrontiert. Diese Konfrontation stellt einen Scheideweg dar und zieht auf die eine oder andere Weise ein Bekenntnis nach sich. In der Legende der Märtyrerin Eugenia, wie sie sich in der Legenda aurea35 und bei Kosegarten36 findet, wird die Protagonistin durch die falsche Anschuldigung genötigt, ihr Geschlecht37 und ihren christlichen Glauben preiszugeben, was den Beginn des Martyriums begründet. In anderen Fällen nehmen die als Mönche lebenden Frauen das vermeintliche Vergehen als Buße auf sich und machen es so zum Teil ihrer Askese. In allen Legenden, die von Monachoparthenie erzählen, erweist sich die Idealität der Protagonistin immer erst in dem Augenblick, in dem die Klosteridentität durch äußere Umstände infrage gestellt wird. Die zentrale Idee, die den Texten unterliegt, ist der innere Übergang, der mehr als die äußere Annahme einer Lebensform ist. Kellers Legende schreibt diese Idee fort, auch 35 Vgl. die Legende von Protus und Hyazinthus bei Jacobus: Legenda aurea (s. Anm. 32), Bd. 2, S. 1771–1777, hier S. 1774f. 36 Vgl. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 190–198, hier S. 197f. 37 An anderer Stelle habe ich mich mit dem Status von Gender im Rahmen von monastischer Literatur eingehender auseinandergesetzt. Vgl. Traulsen: Jungfrau und Mönch (s. Anm. 35).

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wenn sie die Handlung aus den christlichen Logiken herausführt: Auch bei Keller führt die Anschuldigung zur Entscheidung, denn Eugenia muss sich in den Sieben Legenden Aquilinus zugleich mit ihrer Neigung zu ihm offenbaren. Während in den Vorlagen also eine Entscheidung für das geistliche Leben als Büßer erfolgt, entscheidet sich Kellers Eugenia für ein weltliches Leben. Doch dabei bleibt es nicht, denn am Ende der Erzählung heißt es: Nachdem nun Eugenia das Wesen der Ehe genugsam erkundet hatte, wandte sie ihre Erkenntnis dazu an, ihren Gemahl zum Christentume zu bekehren, dem sie nach wie vor anhing, und sie ruhte nicht eher, als bis Aquilinus sich öffentlich zu ihrem Glauben bekannte. Die Legende erzählt nun weiter, wie die ganze Familie nach Rom zurückkehrte um die Zeit, da der christenfeindliche Valerianus zur Regierung gelangte, und wie nun während der ausbrechenden Verfolgungen Eugenia noch eine berühmte Glaubensheldin und Märtyrin wurde, die erst jetzt ihre große Geistesstärke recht bewies. Ihre Gewalt über Aquilinus war so groß geworden, daß sie auch die geistlichen Hyazinthen aus Alexandrien mit nach Rom nehmen konnte, allwo dieselben ebenfalls die Märtyrerkrone gewannen. (S. 27f.)

Im Martyrium erscheint Eugenia wie in den Vorlagen wieder als Agentin der religiösen Handlung und bleibt nicht auf die Rolle als Ehepartnerin beschränkt. Die Erzählung wird in die Bahnen der Erzähltradition zurückgeführt.38 Ohne den Ursprung der Erzählform gänzlich zu desavouieren wird der Blick auf die Entwicklung der Figur gelenkt, die mit der Aufgabe des weltlichen Lebens und dem Geschlechtswechsel einen radikalen Schritt vollzieht. Die Erzählung verfolgt dabei keine genuine religiöse Idee, sondern greift den in den religiösen Erzählungen zentralen Übergang von einer Lebensform bzw. -phase in die andere auf, weshalb für Eugenia der geistliche Zusammenhang auch nicht den Endpunkt darstellen muss, sondern sie diesen später wieder verlassen kann. Durch Kellers Poetik der Asynchronie werden Aspekte ‚aufgefunden‘, ohne dass dabei die älteren Strukturen gänzlich zerstört oder auch nur scharf kritisiert würden. Alte und neue Entwürfe werden übereinander gelagert, ohne die Differenzen zwischen beidem einzuebnen. Die Ausgabe der Sieben Legenden von 1872 enthielt noch einen Satz zu den beiden Hyazinthen, den Begleitern Eugenias: Erst neulich sind in einem Sarkophag der Katakomben ihre Leiber vereinigt gefunden worden, gleich zwei Lämmchen in einer Bratpfanne, und es hat sie Papst Pius einer französischen Stadt geschenkt, welcher die Preußen ihre Heiligen verbrannt haben. (S. 847)

38 Inwiefern Keller hier „das Martyrium seiner Figuren als die pervertierte Form einer verbotenen Lusterfüllung“ inszeniert, wie Amrein: „Als ich Gott und Unsterblichkeit entsagte“ (s. Anm. 4), S. 227 schreibt, bleibt mir unklar.

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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Die Ironie des Bratpfannengleichnisses trifft gleich mehrere Zeitschichten der Legende: Sie schließt an bekannte ironische Reaktionen der christlichen Märtyrer auf ihre Folter an. So fordert etwa der Heilige Laurentius, welcher der Legende nach auf einen Rost über Feuer gelegt wurde, man möge ihn wenden, er sei schon gar.39 Der oben zitierte Satz, den Keller in der dritten Auflage (1884) strich, lässt sich aber auch auf das Pontifikat Pius’ IX. (1846–1878) und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 beziehen, womit weitere zeitgenössische Elemente in den Text eingewoben sind. Das Grab von Protus und Hyazinthus wurde 1845, ein Jahr vor der Wahl Pius’ IX., entdeckt. Während die Überreste von Protus bereits entnommen waren, fand man in der Grabkammer des Heiligen Hyazinthus Aschereste, die während Pius’ Pontifikat erhoben, allerdings nicht nach Frankreich verbracht wurden.40 Die Heiligenverbrennung durch die Preußen dürfte auf die Bombardierungen und Belagerungen französischer Städte, insbesondere Paris’, zu beziehen sein. So erweisen sich die Rezeptions- und Darstellungsprinzipien der Eugenia Gottfried Kellers als in mehrfacher Hinsicht asynchron: Der Text behält das Motiv der Monachoparthenie bei, verbindet es aber mit neuen Handlungselementen (Marmorbild-Episode) und Logiken (Figurenpsychologie, Entwicklung). Unter neuen Vorzeichen wird auf diese Weise in den Blick genommen, was bereits für die vormodernen Legenden wichtig war, nämlich die Identität der Figuren und der Übergang zwischen Lebensphasen und -formen. Kellers Legende führt neue Elemente ein, die der chronologischen Ordnung seiner Vorlagen zuwiderlaufen: die Polemik gegen die Emanzipationsbewegung, die Gegenseitigkeit des Begehrens, das Adoleszenzthema, den Verweis auf den DeutschFranzösischen Krieg. Damit weicht der Text nicht nur von den vormodernen Legenden, sondern auch von seiner unmittelbaren Vorlage in Kosegartens Sammlung ab. Der religiösen Vereinnahmung der historischen Erzählung wird ein asynchrones Erzählen gegenübergestellt, das die Spannungen zwischen alten und neuen Elementen eben nicht aufhebt. Die Ironisierungen gehen dabei zwar auf Kosten der historischen Hagiographie, die schließlich jedoch mit dem Martyriumsschluss auch wieder ins Recht gesetzt wird, vor allem zielen sie aber auf die zeitgenössische Legendendichtung.

39 Vgl. Jacobus: Legenda aurea (s. Anm. 32), Bd. 2, S. 1472. 40 Vgl. Saxer, Victor: Protus und Hyazinthus, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., hg. v. Walter Kasper u. a., Bd. 8, Freiburg i. Br. 1999, Sp. 670.

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III.

Johannes Traulsen

Die Jungfrau und die Nonne: ein weltliches Leben

Während die Handlung der Eugenia im 2. Jahrhundert angesiedelt ist, tragen die folgenden drei Legenden mittelalterliche Züge. Es handelt sich jeweils um Mirakelerzählungen, in denen die Jungfrau Maria die Rolle einer der Figuren übernimmt. In Die Jungfrau und die Nonne tritt Maria an die Stelle der Sakristanin eines Nonnenkonvents namens Beatrix, die „voll Sehnsucht nach der Welt“ (S. 49) ist und deshalb als junge Frau ihr Kloster verlässt, ein profanes Leben als Ehefrau führt, um schließlich im Alter wieder ins Kloster zurückzukehren. Dort erfährt sie, dass ihre Abwesenheit unbemerkt geblieben ist und sie an ihren ursprünglichen Platz als Sakristanin zurückkehren kann, da Maria sie vertreten hat. Bereits der Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach aus dem 13. Jahrhundert enthält die Geschichte der Nonne Beatrix.41 Der Vergleich von Kosegartens42 Fassung mit dem Dialogus macht sichtbar, dass Kosegarten seine Vorlagen trotz gegenteiliger Behauptungen bearbeitet hat. Bei Caesarius verlässt Beatrix ihr Kloster aufgrund einer äußeren Anfechtung: Die Nonne wird von einem Priester begehrt, bis serpens antiquus tam vehmenter pectus eius succendit, ut flammam amoris ferre non posset („die alte Schlange ihr Herz so heftig entflammt hatte, dass sie die Flamme der Liebe nicht zu ertragen vermochte“)43. Mit dem Priester und dem Teufel werden bei Caesarius zwei Figuren eingeführt, die auf Beatrix einwirken. Kosegarten verlegt dagegen die Versuchung ganz ins Innere der Figur: „Dieſelbe ward von ſuͤ ndlichen Gedanken gar heftig angefochten.“44 Er verzichtet auf die externen Faktoren des Mannes und des Teufels. Ebenso wenig findet sich bei Kosegarten der im Dialogus noch vorhandene Bericht, Beatrix habe sich in der Zeit ihres Weltlebens mit Prostitution über Wasser gehalten. Kosegarten akzentuiert die Legende also bereits wesentlich im Sinn einer Verinnerlichung und Versittlichung um. Keller folgt Kosegarten darin, dass auch er sich auf die Figur der Nonne konzentriert und keine externen Faktoren für die Flucht aus dem Kloster benennt. Aber auch diese Bearbeitung Kellers beginnt mit einem asynchronen Element, das die historischen Bruchkanten erkennbar macht: Die Handlung von Die Jungfrau und die Nonne ereignet sich in einem mittelalterlichen Setting, doch vor dem Aufbruch aus dem Kloster be41 Vgl. Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum / Dialog über die Wunder, 5 Bde., hg. v. Nikolaus Nösges / Horst Schneider, Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86, 1–5), 7,33, Bd. III, S. 1396–1399. 42 Leitzmann nimmt an, der Dialogus sei die unmittelbare Vorlage für Kosegarten gewesen. Dies ist m. E. nicht mit Sicherheit zu sagen. Vgl. Leitzmann: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden (s. Anm. 4), S. XXXIX. 43 Caesarius: Dialogus (s. Anm. 41), S. 1396f. (dort Text und Übersetzung). 44 Vgl. Kosegarten: Legenden (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 117.

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kleidet Beatrix sich mit „neuen starken Schuhen“ und rüstet sich zum „Wandern“ (S. 49), womit ironisch auf die im 19. Jahrhundert populäre Wanderbewegung angespielt und eine historisierende Lesart infrage gestellt wird. Auf ihrem Weg begegnet die ehemalige Nonne einem „prächtigen Ritter“, der außerdem ein „Kreuzfahrer“ (S. 50) ist, was die Handlung in einen Zeitraum zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert verlegt. Der Text greift zudem Topoi der mittelalterlichen Minneliteratur auf: Die Jagd wird in Beziehung zur Liebe gesetzt, denn die Nonne wird von Jagdhörnern zum Aufbruch bewegt und mit ihrem zukünftigen Ehemann zusammengeführt. Denselben trifft sie an einer von Bäumen überspannten Quelle, einem Ort, dessen Darstellung in der Tradition des locus amoenus steht. Entsprechend der Maxime, „erotisch-weltliche Historie[n]“ aus seinen Vorlagen zu machen, amplifiziert Keller die Darstellung der Liebeshandlung zwischen Beatrix und dem Ritter Wonnebold, der ihr Ehemann wird und mit dem sie acht Söhne zeugt. Eingeschoben ist zudem ein Mirakel, in dem Beatrix, nachdem ihr Mann sie im Spiel gegen einen teuflischen Opponenten verloren hat, sich selbst mit Marias Hilfe, die das Würfelglück beeinflusst, zurückgewinnt und zu Wonnebold zurückkehrt, womit einmal mehr die Handlungsmacht weiblicher Figuren bei Keller unterstrichen wird. Auch den Schluss der Legende hat Keller gegenüber der Vorlage von Kosegarten erweitert. Wonnebold und seine Söhne besuchen das Kloster, in dem Beatrix ohne das Wissen ihrer Familie wieder lebt. Vater und Söhne sind auf dem Weg, um sich dem „Reichsheere“ (S. 56) anzuschließen. Beatrix gibt sich zu erkennen, und nachdem die Familie so wieder zusammengefunden hat (ohne dass sie allerdings auch zusammenbleibt), endet der Text mit einem Erzählerkommentar: So mußte nun jedermann gestehen, daß sie heute der Jungfrau die reichste Gabe dargebracht; und daß dieselbe angenommen wurde, bezeugten acht Kränze von jungem Eichenlaub, welche plötzlich an den Häuptern der Jünglinge zu sehen waren, von der unsichtbaren Hand der Himmelskönigin darauf gedrückt. (S. 56)

Da Wonnebold seine Söhne dem ‚Reichsheere‘ zuführt und sich die Eichenkränze als Symbole des deutschen Nationalismus deuten lassen, stellt auch diese Passage einen Verweis auf den zeitgenössischen Kontext der Sieben Legenden, nämlich den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und die Reichsgründung 1871, dar.45 Im Hinblick auf die ‚Gabe‘ der Nonne bleibt unklar, wem sie eigentlich gilt. Gibt Beatrix ihre Kinder für die religiöse Lebensform oder für den Kriegsdienst hin? Der Text lässt diese Frage im Ungewissen und verbindet so die religiöse Logik der legendarischen Erzählung mit einer ironischen Sakralisierung der Reichsidee, der die Nonne ihr Söhne opfert, indem sie sie in den Krieg ziehen lässt. 45 Vgl. S. 860 und S. 848.

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Die Jungfrau und die Nonne spielt aber auch auf der Handlungsebene mit einer Asynchronie, denn Beatrix ist durch das Eingreifen Marias an zwei Orten und in zwei Leben zugleich, und so wird sie bei ihrer Rückkehr im Kloster empfangen „als ob sie kaum eine halbe Stunde abwesend gewesen wäre.“ (S. 55). Das religiöse Leben bleibt von den weltlichen Vorgängen unberührt und kann nach diesen unbemerkt wieder aufgenommen werden. So lässt sich diese Legende einerseits als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis individueller und kollektiver Zeitwahrnehmung begreifen: Während Beatrix ein ganzes weltliches Leben geführt hat, ist im Kloster praktisch keine Veränderung vorgegangen. Andererseits gewinnt diese Zeitkonstellation im Angesicht des Schlusses der Legende und der in den Krieg ziehenden Söhne eine besondere Bedeutung: In dieser Perspektive ist es der religiöse Opfergedanke der unberührt die Zeit überdauert hat und in Form eines nationalistischen Soldatenethos wieder zum Vorschein kommt.

IV.

Das Tanzlegendchen

Das Tanzlegendchen ist die letzte der Sieben Legenden und fällt aus dem Rahmen der Sammlung. Zwar bildet auch hier wieder eine historische und durch Kosegarten vermittelte Legende den Ausgangspunkt, doch entfernt sich die Handlung weit von ihrem Ursprung und verkehrt dessen Logik gänzlich ins Gegenteil. Der Text spielt zudem nicht wie die anderen Erzählungen des Zyklus’ mit zeitgenössischen Elementen, sondern stellt vor- und nachchristliche Ideen der Antike gegeneinander. Als einzige der in Kellers Sammlung vertretenen Legenden kann Das Tanzlegendchen als eine Inversion ihrer Vorlagen gelten. Die Erzählung berichtet von einer Tänzerin mit dem sprechenden Namen Musa, die häufig tanzt und eifrig betet, bis eines Tages beides zusammenfällt und das Gebet zum Tanz wird. In einer Vision wird Musa daraufhin vom biblischen König David gefragt, „ob sie wohl Lust hätte, die ewige Seligkeit in einem unaufhörlichen Freudentanze zu verbringen“ (S. 89), sie müsse dazu nur dem Tanzen und der Lust im irdischen Leben entsagen. Die Tänzerin willigt ein, wird daraufhin unbeweglich und lebt bis zu ihrem Ende als Büßerin. Als sie schließlich stirbt und in den Himmel kommt, findet dort ein Fest statt, das eben so zu sein scheint, wie es ihr von David versprochen wurde. Doch es erweist sich, dass dieser Festzustand nur eine Ausnahme ist und die anwesenden Musen sich normalerweise in der Hölle aufhalten müssen. Das Tanzlegendchen befasst sich mit christlichen Vorstellungen der asketischen Entsagung46 im irdischen Leben als einer Bedingung für die Entrückung in 46 Und nicht dem Martyrium, wie Marianne Schuller meint. Vgl. Schuller, Marianne:

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

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die himmlischen Freuden. Stark kondensiert findet sich diese Grundanlage schon in Gregors des Großen Dialog (6. Jh.) über den Tod des Mädchens Musa,47 auf den Keller explizit verweist: „Nach der Aufzeichnung des heiligen Gregorius war Musa die Tänzerin unter den Heiligen“ (S. 88). Gregors Musa hat nachts eine Vision von Maria, welche ihr die Aufnahme in ihr Gefolge verspricht, wenn sie bereit sei, „nichts Leichtsinniges und Mädchenhaftes mehr [zu] tun und sich von allem Lachen und Scherzen“ fernzuhalten. Musa folgt dieser Anweisung, stirbt nach dreißig Tagen „und verließ den jungfräulichen Leib, um bei den heiligen Jungfrauen zu weilen.“48 Kellers Legende führt gegen die Vorlagen eine Zeitlichkeit im Jenseits ein, denn als Musa dort eintrifft, „war eben hoher Festtag“ (S. 92). Wie das irdische Leben ist das himmlische Dasein offenbar in Alltage und Feiertage geordnet, wobei der zur Zeit der Ankunft Musas stattfindende Tag sich besonders dadurch auszeichnet, dass die üblicherweise in der Hölle weilenden antiken Musen dazu eingeladen werden. Die Gäste des Festes verkörpern die Überzeitlichkeit des himmlischen Raumes, denn es kommen Figuren aus allen möglichen Zeiten zusammen. So sind neben den Musen der alttestamentliche König David, Maria und Martha aus dem Neuen Testament und die heilige Märtyrerin Cäcilia anwesend. Die überall herumlaufenden Putten, von denen eine etwa als „ein pausbäckiger Pfeifenbläser“ beschrieben wird, der „das Notenblatt mit den rosigen Zehen zu halten wußte“ (S. 89), scheinen wiederum eher dem Barock zu entstammen. Die Musen kehren nach dem Fest vorerst in die Unterwelt zurück, verursachen bei ihrem nächsten Besuch im Himmel jedoch einen derartigen Aufruhr, dass ihnen der Zugang endgültig verwehrt wird: Sie üben zum Dank für die ihnen erwiesene Freundlichkeit „einen Lobgesang ein, dem sie die Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle zu geben suchten“ (S. 93) und in dem „Urania eine Art Oberstimme führte“ (ebd.). Damit verweist der Text auf die Idee der Sphärenharmonie, in der die Musen für die unterschiedlichen Bewegungen der einzelnen Himmelssphären zuständig waren, wobei Urania den höchsten Ton und die Fixsterne verkörperte. Der mit der Astronomie der paganen Antike verbundene Gesang der Musen bildet damit einen scharfen Gegensatz zum christlichen Jenseits, stellt er doch das antike Konzept einer großen Ordnung der unterschiedlichen Zeiten und Geschwindigkeiten der Himmelskörper der ewigen „Sieben Legenden“ (1872), in: Gottfried-Keller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Ursula Amrein, Stuttgart 2016, S. 86–104, hier S. 101. 47 Vgl. Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen vier Bücher Dialoge (Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum), aus dem Lateinischen übers. von Joseph Funk, Kempten / München 1933 (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 3), lib. IV, cap. XVII. 48 Gregor: Dialoge (s. Anm. 47), S. 209.

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Gleichförmigkeit des christlichen Himmels in „Ruhe und Gleichmut“ (S. 94) gegenüber, und es erweist sich, dass beides nicht in Einklang zu bringen ist: Aber in diesen Räumen [des Himmels, J. T.] klang er [der Musengesang, J. T.] so düster, ja fast trotzig und rauh, und dabei so sehnsuchtsschwer und klagend, daß erst eine erschrockene Stille waltete, dann aber alles Volk von Erdenleid und Heimweh ergriffen wurde und in ein allgemeines Weinen ausbrach. Ein unendliches Seufzen rauschte durch die Himmel; bestürzt eilten alle Ältesten und Propheten herbei, indessen die Musen in ihrer guten Meinung immer lauter und melancholischer sangen und das ganze Paradies mit allen Erzvätern, Ältesten und Propheten, alles, was je auf grüner Wiese gegangen oder gelegen, außer Fassung geriet. (S. 93f.)

Bewegung und Stillstand, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit erscheinen als die großen Gegensätze, die in Das Tanzlegendchen aufgerufen werden. Die christliche Eschatologie wird dabei am Ende mit göttlicher Autorität und „einem lang hinrollenden Donnerschlage“ (S. 94) durchgesetzt, zuungunsten der Musen und der Tänzerin, die den Versprechen König Davids geglaubt und deshalb auf das Tanzen im irdischen Leben verzichtet hat, sich nun aber einer ewigen himmlischen Gleichförmigkeit gegenübersieht. Man wird nicht umhinkommen, in Das Tanzlegendchen eine kritische Perspektive auf „den langen und vehementen Kampf christlich-dogmatischer Theologie gegen die Sinnlichkeit des Körpers und der lustvollen Bewegung“49 zu erkennen. Dieser kritische Blick auf die christliche Jenseitsvorstellung gründet in Das Tanzlegendchen nicht zuletzt auf der Konfrontation von Figuren unterschiedlicher Epochen, denn mit König David spielt eine alttestamentliche Figur eine entscheidende Rolle, während das Personal des Himmels hauptsächlich neutestamentlichen Ursprungs ist: Beim himmlischen Fest kümmern sich Martha von Bethanien und die Gottesmutter Maria um Musa und die Musen. Mit Cäcilia von Rom ist außerdem nicht nur eine heilige Jungfrau aus der Zeit der Christenverfolgung angesprochen, sondern Cäcilia ist auch die Patronin der Kirchenmusik50 und steht so für die Kunst im christlichen Gottesdienst, in welcher der Tanz keine Rolle spielt. Die heilige Märtyrerin erscheint auf diese Weise als Gegengewicht zum Psalmisten David, dessen Harfenspiel vor Saul (1 Sam. 1,16–23) und dessen Tanz vor der Bundeslade (2 Sam. 6,5–21) eine sinnlichere und bewegtere Form des Gottesdienstes darstellen.

49 Brandstetter: De figura (s. Anm. 27), S. 238. 50 Vgl. Götz, Roland: Caecilia, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., hg. v. Hans Dieter Betz u. a., http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_02671 (letzter Zugriff 8. 2. 2021).

Zeitgeschichten. Asynchrones Erzählen in Gottfried Kellers Sieben Legenden

V.

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Die Schrecken der Zeitlosigkeit

Gottfried Keller zeigt, so führt Ursula Amrein aus, „dass die Legenden, indem sie Askese und Enthaltsamkeit predigen, in ihrer detaillierten Schilderung des Verpönten oft genau jener Körperlichkeit Raum geben, die sie offiziell verurteilen.“51 Keller fördert eine Sinnlichkeit zutage, die in seiner Auffassung unter den Oberflächen der Texte liegt. Die Sieben Legenden überschreiben und destruieren dabei ihre Vorlagen aber nicht, sondern sie machen die historische Signatur ihrer einzelnen Elemente erkennbar. Dieses Verfahren, das auf die Asynchronie als wesentliches Mittel der Gestaltung setzt, richtet sich nicht gegen die vormodernen Texte und Anschauungen, sondern gegen die Legendendichter des 18. und 19. Jahrhunderts und ihren Umgang mit den Quellen. Das frömmelnde Fortschreiben der älteren Erzähltradition nimmt Keller ironisch aufs Korn, indem er den Konstruktionscharakter der Texte durch asynchrone Konstellationen ausstellt und ihre spirituellen Logiken auf das profane Leben bezieht. So thematisieren alle Legenden in Kellers Sammlung die Lebenszeit und Übergänge im Leben als Momente der Asynchronizität. Die letzte Erzählung, Das Tanzlegendchen, greift diesen Aspekt in besonderer Weise auf und stellt einen Kommentar zur christlichen Weltsicht und ein Bekenntnis dar. Als einzige Erzählung macht es sich die Vorlagen ganz zu eigen und verbindet sie mit einer Frage, die nicht religiös ist, sich aber an die (christliche) Religion richtet: Ob nicht ein ewiges Leben ohne Kunst und ohne Zeit trostlos wäre.

51 Amrein: „Als ich Gott und Unsterblichkeit entsagte“ (s. Anm. 4), S. 226.