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German Pages 170 Year 2001
FLORIAN SIMON
Assoziation und Institution als soziale Lebensformen in der zeitgenössischen Rechtstheorie
Schriften zur Rechtstheorie Heft 194
Assoziation und Institution als soziale Lebensformen in der zeitgenössischen Rechtstheorie
Von Florian Simon
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Simon, Florian:
Assoziation und Institution als soziale Lebensformen in der zeitgenössischen Rechtstheorie / von Florian Simon. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 194) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10334-3
D6 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10334-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 2000 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Werner Krawietz sei an dieser Stelle meine große Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Er stand mir im Verlauf der Entstehung der Arbeit durch Hinweise und Hilfestellungen vielfaltigster Art jederzeit tatkräftig zur Seite. Ferner muß ich Professor Krawietz dafür danken, mir die Möglichkeit gegeben zu haben, mich im Rahmen seines Doktorandenseminars mit diversen Problemen der Rechtstheorie auseinandersetzen zu können. Frau Andrea Freund danke ich sehr herzlich für ihre Unterstützung während der Schlußredaktion des Manuskripts. Ganz besonders großer Dank gebührt meinen Eltern, die mir das Studium der Rechtswissenschaften ermöglicht haben und als großer Rückhalt immer von unschätzbarem Wert waren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Münster, im Sommer 2000
Florian Simon
Inhaltsverzeichnis
Erster Abschnitt Assoziatives Beisammensein von Menschen und Assoziationen als Formen sozialer Interaktion in rechts- und sozialtheoretischer Betrachtungsweise
11
§ 1 Gegensatz von Individuum und Gesellschaft als Grundlage der Entstehung menschlicher Zusammenschlüsse
11
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
15
1. Assoziation und Konsoziation in der politisch-rechtlichen Sozialtheorie von Althusius
15
2. Strukturprinzipien der Genossenschaft und das Wesen menschlicher Verbände
22
3. Genese und Entwicklung des Körperschaftsbegriffs
39
Zweiter Abschnitt Verhältnis der Assoziationstheorie zu den Theorien der Rechtsgemeinschaft
45
§ 3 Gemeinschafts- und Gesellschaftstheorie nach Ferdinand Tbnnies
45
§ 4 Soziale Beziehungslehre bei Georg Simmel und Leopold von Wiese
49
1. Simmeis Begriff der Vergesellschaftung
49
2. Leopold von Wieses Lehre der sozialen Beziehungen und Prozesse
57
§ 5 Otto Brusiins Theorie der Rechtsgemeinschaften
63
1. Menschliche Zusammenschlüsse nach Maßgabe von Recht, Rechtsordnung und Rechtssystem
63
2. Der Mensch und sein Recht
64
8
Inhaltsverzeichnis Dritter Abschnitt Verhältnis von Recht und Gesellschaft in den modernen Theorien der Assoziation
70
§ 6 Normentheoretische und soziologische Erklärungsansätze des Rechts
70
§ 7 Strukturelemente des Rechts in der soziologischen Jurisprudenz und Theorie des Rechts bei und nach Max Weber
74
Vierter Abschnitt Institutionalisierung mit Mitteln des Rechts und Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung § 8 Zugänge zu einem institutionalistischen Rechtsdenken
81 81
1. Begriff der Institution
81
2. Typen und Arten des Institutionalismus im Recht
83
3. Entwicklung des nachpositivistischen Institutionalismus und Abgrenzung zum Rechtspositivismus und den Naturrechtslehren
87
§ 9 Divergierende Rationalitätsansprüche und Rationalitätsprinzipien des spätpositivistischen Institutionalismus und eines nachpositivistischen Neuen Institutionalismus
89
1. Weinbergers Begriff des Rechts als Idealentität und institutionelles Faktum ....
93
2. Luhmanns Konzept sozialer Systembildung und einer systemischen Rationalität des Rechts 102 3. Konzept einer juridisch-institutionellen Rationalität des Rechts nach Schelsky
111
Fünfter Abschnitt Anerkennung und Akzeptanz des Rechts und der Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
121
§10 Frage nach den Geltungsgrundlagen des Rechts in der tradierten Allgemeinen Rechtslehre: Individuelle oder generelle Anerkennung des Rechts?
125
1. Universalismus der letzten Geltungsgründe des Rechts?
125
2. Geltungsgrund und Verpflichtungskraft nicht anerkannter Normen
130
Inhaltsverzeichnis § 11 Frage nach der Rechtsgeltung in der Perspektive zeitgenössischer Rechtstheorie: Rechtspositivismus oder Renaissance des Natur- und Vernunftnaturrechts?
135
1. Recht als Ausdruck moralisch-ethischer Anerkennung
135
2. Recht als Ausdruck vernünftiger Anerkennung
139
3. Recht als Ausdruck staatlicher Anerkennung
147
§12 Ausblick und Schlußfolgerungen: Plädoyer für den Aufbau einer geschichtlichkulturell geprägten Theorie selbstreferenzieller Sozialsysteme des Rechts
Schrifttumsverzeichnis
150
155
Erster Abschnitt
Assoziatives Beisammensein von Menschen und Assoziationen als Formen sozialer Interaktion in rechts- und sozialtheoretischer Betrachtungsweise § 1 Gegensatz von Individuum und Gesellschaft als Grundlage der Entstehung menschlicher Zusammenschlüsse Bei der noch in der Entwicklung befindlichen Theorie der Assoziationen, die in der zeitgenössischen rechtstheoretischen Diskussion als Versuch der Beschreibung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen in das Zentrum der rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen gerückt sind, handelt es sich um eine erst in jüngster Zeit entstandene Sichtweise. Sie hat, wie im folgenden noch eingehend untersucht werden wird, ihre Ursprünge jedoch nicht, wie man glauben könnte, in der unmittelbaren Gegenwart und nahen Vergangenheit. Die Grundgedanken dieser sich an sozialen Tatsachen des täglichen Lebens orientierenden Sichtweise finden sich schon sehr viel früher, wie etwa in dem Begriff der Körperschaft als einer Art des Zusammenschlusses von Menschen. Ferner ist im Rahmen einer notwendigen Gegenüberstellung von Assoziation und Korporation auch das von Otto von Gierke eingehend behandelte Genossenschaftswesen zu berücksichtigen, da es, wie auch der Körperschaftsbegriff, maßgeblich zur Entwicklung einer Theorie der Assoziationen beitragen kann. Dem Ziel der Weiterentwicklung moderner rechts- und sozialtheoretischer Forschung hat sich die seit dem Jahre 1997 erscheinende Zeitschrift Associations 1 verschrieben. Dies ist eine internationale, vom Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften der Universität Tampere betreute Publikation, die sich bilingual in deutscher und englischer Sprache mit den theoretischen Problemen der Sozial- und Rechtswissenschaften beschäftigt. Die Idee dieser Zeitschrift geht auf Diskussionen innerhalb des Forschungsinstituts über die aktuellen Probleme in und mit der Sozial- bzw. Gesellschaftstheorie zurück. Unter besonderer Beobachtung stand dabei der sich anbahnende Paradigmenwechsel innerhalb der Sozialwissenschaften, der es erschwert, vom »Sozialen* im Bereich der Sozial Wissenschaften zu sprechen. Trotz aller Fragen und Zweifel blieb den Herausgebern die Gewißheit, daß - auch wenn es in den einschlägigen Wissenschaften eine Abwendung vom Sozialen ge1
Aulis Aarnio (Editor-in-Chief), Associations. Journal for Social and Legal Theory, erstmals erschienen Berlin 1997.
12
1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
ben sollte - unser Leben auch weiterhin gemeinsames oder geselliges Leben sein wird, gleichsam als geteilte oder mitgeteilte Existenz. Trotz aller Wenden in den intellektuellen Perspektiven und Präferenzen bleibt das Soziale bzw. das Gesellschaftliche weiterhin bestehen. Es ist eine ganz bestimmte Idee, die bei der Suche nach einem angemessenen Weg zu einem konzeptionellen und theoretischen Begriff vom bleibenden »Reich des Gesellschaftlichen* von den Initiatoren dieser Zeitschrift zugrunde gelegt wird. Anstatt von einer Gesellschaft oder von Gesellschaften als selbständigen, geschlossenen, statischen Entitäten zu sprechen, könnten und müßten die Sozialwissenschaften eher von Vergesellschaftungsprozessen reden, also von der Vergesellschaftung, verstanden als soziales Band in den nach Georg Simmel grundsätzlich „fließenden und pulsierenden" Bedingungen von Handeln und Interaktion. Diese Diskussion schlägt sich auch im Prozeß der Namensgebung der Zeitschrift nieder. Unter Reflexion der Schwierigkeit, bestimmte Begriffe von der einen in die andere Sprache zu übersetzen, gelangte man vom englischen sociation über sociation/ Vergesellschaftung und »association* schließlich zum endgültigen Titel Associations. Im Beitrag „Torn between Society and Individual"2 wird die programmatische Zielsetzung von »Associations4, die Ergründung eben dieses Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft deutlicher. Auf der Suche nach dem Begriff und dem Zweck von Gesellschaft findet man in diesem Beitrag einen Rekurs auf Norbert Elias und dessen »Spieltheorie*. Danach soll die Schaffung von menschlichen gesellschaftlichen Beziehungen zu betrachten sein als ein soziales Spiel, das Menschen miteinander spielen.3 Schon hier sei bemerkt, daß die Ausdrücke »sozial* und/oder »gesellschaftlich*, entgegen dem üblichen alltäglichen Sprachgebrauch, nicht gleichbedeutend sind, so daß auch in analytisch-begrifflicher Hinsicht unterschieden werden muß. Elias schlägt damit die Lösung eines alten Problems vor, das Georg Simmel zu der Frage führte, ob Gesellschaft der Zweck menschlicher Existenz ist, oder nur ein dem Einzelnen zur Verfügung stehendes Mittel.4 Leopold von Wiese, auf den - ebenso wie auf Simmel - später noch intensiver eingegangen wird, stellte fest, daß alle die wechselseitigen Beziehungen von Menschen betrachtenden Wissenschaften von jeher durch die Idee eines nur schwer überwindlichen Gegensatzes beherrscht werden. Das hat nach Wiese dazu geführt, daß man sich daran gewöhnte, dieses kämpferische Verhältnis von „Individualismus und Kollektivismus** für ein Daseinsgesetz zu halten.5 Pietilä/Sondermann werfen demgegenüber die Frage nach der Bedeutung des Begriffes »Gesellschaft* (»society*) auf. Dieser Begriff entstammt dem lateinischen societas, basierend auf socius, bedeutend Freund, Gefolgsmann oder Bundesgenosse. Eine der Bedeutungen des Be2
Kauko Pietilä/Klaus Sondermann, Torn between Society and Individual, in: Associations, Volume 1, Number 1, Berlin 1997, S. 11- 25. 3 Norbert Elias, Was ist Soziologie, 5. Aufl., Weinheim /München 1986, S. 96. 4 Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), 4. Aufl., Berlin 1984 (1917), S. 31. 5 Leopold von Wiese, Das Ich-Wir-Verhältnis, Berlin 1962, S. 7.
§ 1 Gegensatz von Individuum und Gesellschaft
13
griffs ist „association with one's fellow men, especially in friendly or intimate manner; companionship or fellowship". 6 Es stellt sich somit die entscheidende Frage, wie Assoziationen praktisch möglich sind. Eine Voraussetzung ist die tatsächliche Existenz der diese eingehenden Personen, denn eine gesellschaftliche Assoziation ist nur als Beziehung zwischen Menschen denkbar. Außerdem müssen (mehr oder weniger) dauerhafte Verbindungen, Beziehungen oder ähnliche Verhältnisse zwischen diesen Menschen bestehen. In der von Pietilä/Sondermann propagierten Sichtweise, die - wie oben bereits angedeutet - die grundsätzliche Programmatik des Journals Associations zum Ausdruck bringen soll, hat Gesellschaft nicht so sehr den Charakter des Gegenständlichen, sondern vielmehr den eines Prozesses. Diese Idee entstammt dem Werk Simmeis, der als Inhalt der Vergesellschaftung all das ansieht, was in den Individuen vorhanden ist, wie etwa Antrieb, Interesse, psychischen Zustand und Bewegung. Die Motivationen, die zum Handeln der Menschen führen, gelten nicht als »sozial*. Vergesellschaftung ist nur die Form, in der Individuen zu einer Einheit zusammenwachsen und in der ihre Interessen verwirklicht werden.7 Die Diskursethik von Jürgen Habermas wird von Pietilä und Sondermann als weitere Quelle angeführt, ausgehend von der Prämisse, daß die ultimativen Kriterien der Legitimität modernen Rechts prozeduraler und nicht substanzieller Natur sind.8 Indem man sich der Soziologie auf prozeduralem Wege nähert, befreit man sie davon, die Gesellschaft als eine Gesamtheit zu betrachten, gleichsam als eine Gegenkraft zum Eigeninteresse. Die Soziologie wird zu einem praktischen Gegenstand, mit dem man Vorgänge erfinden kann, anhand derer die verschiedenen Parteien ihren Verkehr in ausgewogener Art und Weise pflegen können. Gleichsam als Erweiterung des oben Dargelegten werden - ohne der weiteren Erörterung des rechts- und sozialtheoretischen Assoziationsbegriffs vorgreifen zu wollen, dieser zwei Ansätze oder Versuche vorangestellt, die dazu dienen, diesen Begriff einzugrenzen. Eine Sichtweise glaubt, daß „association is the spontaneous being together of creatures, in regular ways, without regard to the mental state which actuate them; that is, without regard to the presence or absence of cooperation on their part, or to its degree when present. Association used in this sense is a sociological rather than a psychological term. It applies to social and gregarious life looked at by an outsider rather than as involving the recognition of it by the beings themsel-
6 The Oxford English Dictionary, Vol. XV, 2 n d Edition, hrsg. von James A. Simpson und Edmund S. C. Weiner, Oxford 1989, S. 913. 7 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung,. Berlin, S. 6. 8 Kaarlo Tuori, Interests and the Legitimacy of Law, in: Aarnio/Paulson/Weinberger/ von Wright/Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993, S. 625 - 640,632. 9 James Mark Baldwin (Hrsg.), Dictionary of Philosphy and Psychology, Gloucester, Mass. 1960, Vol. 1, S. 79.
14
1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
Ein anderer Definitionsversuch faßt Assoziation als genuin soziologischen Begriff auf, unter dem eine Gesamtheit von Menschen verstanden wird, die durch bestimmte Ziele bzw. zur Realisierung festgelegter Zwecke untereinander verbunden operieren. Mitunter wird, nach dieser Auffassung, die Gesellschaft überhaupt als eine Assoziation betrachtet. In diesem Wortgebrauch lebt die Vorstellung frühbürgerlicher Gesellschaftstheorien fort, wonach Gesellschaft durch den Zusammenschluß von Individuen aus einem vorgesellschaftlichen, nicht-assoziierten Zustand hervorgegangen ist wie bei Hobbes und Rousseau die Korporation. Gesellschaft als Assoziation zu betrachten, setzt voraus, daß die Individuen durch gemeinsame Ziele verbunden sind. Die Assoziation muß nach dieser Meinung von der Institution unterschieden werden, da Assoziation den Zielaspekt der Gruppenbildung erfaßt, Institution jedoch mehr auf die Methoden und Mittel geht, mit denen die Gruppenzwecke realisiert werden. Dennoch ist eine Konnexität der Begriffe gegeben, da Assoziationen auch Institutionen entwickeln.10 Einer der klassischen Ansätze, den Begriff der Assoziation wissenschaftlich zu erfassen, stammt aus der Feder Carl Welckers. Im „Staats-Lexikon",11 gemeinsam mit Carl von Rotteck veröffentlicht, präsentiert Welcker in seinem Beitrag »Association* ein Sittenbild der Associationsbewegung in der Zeit des Vormärz. Dieser Beitrag Welckers, der natürlich die Auffassung der Liberalen dieser Zeit widerspiegelt, ist aufgrund seiner elementaren Inhalte auch heutzutage aufschlußreich. Welcker zufolge heißt Association wörtlich „Vergesellschaftung oder gesellschaftliches Aneinanderschließen aus irgendeinem Trieb oder Bedürfnis oder für irgendeinen Zweck. Sie kann entweder dauernd sein, zur dauernden gemeinschaftlichen Förderung eines gesellschaftlichen Zwecks, und zwar alsdann mit oder ohne periodisch wiederkehrende Zusammenkünfte, oder auch nur zu einer vorübergehenden gesellschaftlichen Thätigkeit oder Zusammenkunft; entweder geheim, d. h. mit absichtlicher Verheimlichung, oder nicht geheim. Sie kann ferner blos Privatzwecke jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft zu ihrer Aufgabe haben, wie Vereine über gemeinschaftliche Vermögensrechte oder zum geselligen Vermögen, oder zur gemeinschaftlichen Belehrung, oder sie kann den Zweck haben, in größerer oder geringerer Ausdehnung auch auf andere Menschen, auf andere Gemeinde- oder Staats- oder Weltbürger zu wirken. In beiden Fällen kann die Wirksamkeit sich entweder auf privatrechtliche oder auf die dem öffentlichen Recht angehörigen Verhältnisse beziehen. Sie kann ferner geschlossen sein für bestimmte, entweder schon jetzt die Gesellschaft bildende, oder nach besonderen Bedingungen speciell aufzunehmende Mitglieder, oder ungeschlossen, für Alle, welche daran theilnehmen zu wollen. Im letzten Fall wird sie, wenn alle Bürger sich zur Theilnahme eignen und ein großer Theil derselben daran Theil nimmt oder nehmen soll, zur Volksversammlung. Sie kann ferner vom Staate förmlich autorisirt und durch Organe desselben geleitet oder auch ganz unabhängig von ihm sein. Sie kann also in fünffacher Hinsicht, in Beziehung auf das nicht geheime Auftreten, in Beziehung auf die Personen und die Gegenstände, für welche gewirkt werden soll, wie in Beziehung auf die Theilnehmer der Ge10 Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl., Berlin 1975, Bd. 1, S. 132 f. 11 Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Erster Band, Altona 1845.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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sellschaft und in Beziehung auf ihre Autorisation oder Direction ein Privatverein oder ein öffentlicher oder auch ein politischer Verein sein. Sie kann ferner entweder durch wirkliche gegenseitige vertragsmäßige Vereinbarung der Theilnehmer, oder unabhängig von ihr bloß durch gemeinschaftliches Interesse des Zusammenwirkens oder der Zusammenkunft für denselben Zweck begründet sein. Sie kann geordnet, organisiert sein, d. h. gemeinschaftliche Gesellschaftsgesetze und Behörden anerkennen, oder auch unorganisiert, ungeordnet. Sie kann groß und klein, von zwei oder zwanzigtausend Mitgliedern gebildet werden. Diese verschiedenen Eigenschaften nun können äußerlich und im Bewußtsein aller Glieder schärfer ausgebildet und getrennt sein, oder sie können, was allermeist der Fall sein wird, mehr oder minder und oft kaum unterscheidbar in einander und miteinander verbunden sein."12 Diese Ansätze repräsentieren, rechts- und sozialtheoretisch gesehen, einen wichtigen Ausgangspunkt bei der Ermittlung und Formulierung einer sozialadäquaten Assoziationstheorie. Sie werden im folgenden behandelt unter besonderer Berücksichtigung der Rolle und Bedeutung, die den Rechtsnormen für ein assoziatives Dasein menschlicher Personenverbände zukommt. Sie dienen als Ausgangspunkt zur Bestimmung des Assoziationsbegriffs.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse 1. Assoziation und Konsoziation in der politisch-rechtlichen Sozialtheorie von Althusius Johannes Althusius 13 unternahm den ersten systematischen Versuch, eine ethisch-moralphilosophisch ausgerichtete und zugleich normative Wissenschaft von der Politik aufzubauen und damit das regelgeleitete Zusammenleben von Menschen in Lebensgemeinschaften als das Wesen des Politischen deutlich zu machen. Ihre Hauptthemen sind die Fragen nach (i) der Entstehung und der Struktur der Gemeinschaften, in denen der Mensch lebt, (ii) den Regeln und Gesetzen, nach denen
12 Ebd., S. 723 f. 13 Hierzu insbesondere: Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 29; Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880), 7. unveränderte Ausgabe, Aalen 1981; Hans Ulrich Scupin, Vorwort, in: Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, hrsg. von dems./Ulrich Scheuner, bearbeitet' von Dieter Wyduckel, Berlin 1973, 1. Halbband, S. XI - XVIII; Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955; Peter Jochen Winters, Die »Politik4 des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1963.
16
1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
diese Gemeinschaften ausgerichtet sind und (iii) nach Entstehung, Ausübung und Beschränkung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Wissenschaft von der Politik wird von Althusius in seiner „Politica" als die Kenntnis vom menschlichen Miteinandersein definiert, das sich nach eigenen Regeln bildet, nach denen es geführt und erhalten wird. Danach sei Politik das SichVerstehen auf das Miteinandersein.14 Althusius fährt fort: „Zugrunde liegt allem Politischen die Gemeinsamkeit des Lebens, die menschliche Vergemeinschaftung, die Lebensgemeinschaft, in der die Menschen, als im Zustand des Miteinanderseins sich befindende Wesen, als Mitlebende, als Gemeinschaftswesen, je immer schon sind - sei es durch ein ausdrückliches Übereinkommen oder ein stillschweigendes Übereinstimmen - zur Vermittlung dessen, was zum Führen eines gemeinsamen Lebens förderlich und unentbehrlich ist".15
Hier finden sich zwei Zentralbegriffe des Althusius, nämlich Lebensgemeinschaft (consociatio) und Gemeinschaftswesen (symbioticus). Für Althusius ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen, das mit seinesgleichen in Lebensgemeinschaften leben muß, weil nur ein solches Leben menschenwürdig ist. 16 Althusius betrachtet die Lebensgemeinschaft (consociatio) als eine Gemeinschaft von Menschen (symbiotici), die von Gott als Ungleiche geschaffen sind und von ihm zur Gemeinschaft prädestiniert werden. Eine Lebensgemeinschaft ist nach Althusius nur denkbar als ein Organismus, der immer durch Ordnung gekennzeichnet ist. Das Ordnungselement der Lebensgemeinschaft nennt er „ius symbioticum". Es enthält zum einen eine allgemeine Idee der Lebensführung, die von Gott im Dekalog offenbart wurde und eine daraus fließende - einer jeden Lebensgemeinschaft spezifisch eigene Rechtsordnung. Die allgemeine Idee der Lebensführung beruht auf der von Gott gewollten Ungleichheit der Menschen und fordert daher Über- und Unterordnung, Herrschaft und Gehorsam. Es muß folglich in jeder Lebensgemeinschaft Regierende (Autoritäten oder Obrigkeiten) und Regierte (Untergebene oder Untertanen) geben.17 Eine Lebensgemeinschaft zeichnet sich, durch ihr Ordnungselement geordnet, vor allem durch die Eintracht ihrer Glieder aus und tritt nach außen gleichsam als eine Einheit in Erscheinung. Der Aufbau des sozialen Ganzen stellt sich bei Althusius als eine organische Entwicklung von engeren zu weiteren Lebensgemeinschaften dar. 18 Jede weitere Lebensgemeinschaft ist die Einheit mehrerer engerer Lebensgemeinschaften, die ihre Glieder sind. Diese Glieder verlieren aber nicht ihre Selbständigkeit. Die größeren Gemeinschaften enthalten ein zentralistisches und ein föderatives Element. 14
Johannes Althusius, Politica, Methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, zuerst Herborn 1603, zit. 2. Neudruck der 3. Aufl. Herborn 1614, Aalen 1981, cap. I, p.l. 15 Ebd., cap. I, p. 2. Ebd., cap. I, p. 3. ι? Ebd., cap. I, p. 11. 18 Ebd., cap. XIX, Nr. 84, p. 966.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
17
Die privaten Lebensgemeinschaften, die Althusius von den öffentlichen unterscheidet, bilden die Keimzelle für alle anderen Vergemeinschaftungen. Zu diesen privaten Gemeinschaften gehören Ehe, Familie und Genossenschaft. Ihre Mitglieder sind einzelne Menschen, symbiotici. Doch während die verwandtschaftlichen Lebensgemeinschaften ursprüngliche, notwendige und unauflösliche Gemeinschaften sind, beruht die Genossenschaft auf dem Wunsch und Willen derer, die sie bilden. Den privaten Gemeinschaften folgen die öffentlichen (politischen) Lebensgemeinschaften. Zu diesen engeren öffentlichen Verbänden zählt Althusius etwa Dörfer, kleine Landstädte, Provinzstädte und freie Reichsstädte, als Gebietskörperschaften, die jeweils über ihre eigene Rechtsordnung verfügen. Er erfaßt sie unter dem Begriff „universitas". Daneben nennt Althusius die nächstgrößeren Gebietskörperschaften der Provinzen und schließlich den Staat. Der Staat wird von Althusius in seinem System als die höchste Form der Vergemeinschaftung betrachtet. In ihm erreicht sie die Form der umfassendsten politischen Lebensgemeinschaft. Althusius führt aus: ,»Die umfassendste politische Gemeinschaft ist aus mehreren Gemeinschaften zusammengesetzt, teils aus privaten, naturgegebenen und ursprünglichen, teils aus öffentlichen. Sie wird allgemeine Gemeinschaft genannt oder auch politisches Ganzes, Herrschaft, Staat oder Reich. Sie wird vom vereinigten Volk gebildet und entsteht kraft Übereinstimmung aller ihr angegliederten Gemeinschaften und Körperschaften. Sie repräsentiert das unter einer Rechtsordnung allgemeiner Art lebende Volksganze."19
Der Staat ist für Althusius nicht eine ursprüngliche Lebensgemeinschaft, er wird auch nicht durch den Zusammenschluß von Individuen gebildet und seine Glieder sind keine „symbiotici". Der Staat ist vielmehr das Produkt einer langen Entwicklung von Vergemeinschaftungen, die von der Familie über die Stadt- und Landgemeinde und das Land schließlich zu diesem umfassenden politischen Gebilde führt. Der Staat ist im System des Althusius nicht etwas schlechthin anderes als die anderen Lebensgemeinschaften, vielmehr ist er ein Ordnungsgefüge, ein Olganismus, dessen Glieder viele andere Lebensgemeinschaften sind. „Die Glieder des Staates - wie die umfassende politische Lebensgemeinschaft genannt werden soll - sind nicht einzelne Menschen, noch Familien noch Genossenschaften» wie es in privaten und engeren öffentlichen Lebensgemeinschaften der Fall ist» sondern Städte» Provinzen und Landschaften, die sich über die Bildung eines Körpers einig geworden sind."20
Der Staat erscheint hier als gegliedertes Ganzes, als eine Einheit in der Unterschiedenheit. Und da in dieser Sphäre einzelne Menschen, Individuen, gar nicht in Erscheinung treten, kann der Staat auch gar nicht durch einen „Gesellschaftsvertrag" 21 entstanden sein. Für die theoretische Figur des Gesellschaftsvertrages findet sich in dem politischen Lehrbuch des Althusius kein Anknüpfungspunkt. 19 Ebd., cap. IX, p. 3. 20 Ebd.» cap. IX» p. 5. 2 Simon
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
Angesichts der Dichte, Kohärenz und Konsistenz, aber auch der Reichhaltigkeit der von Althusius vorgelegten politisch-rechtlichen Theorie des Gemeinschaftslebens stellt sich die Frage, ob ihr nicht - bei aller Betonung der geschichtlich-gesellschaftlich bedingten Rechtserfahrung und der Rationalität seines induktiven, prozedural kontrollierten und logisch gesicherten Vorgehens - die heimliche Tendenz zu einem religiösen, rechtlichen oder etatistischen oder rechtlichen Monismus innewohnt, der die gesamte Konzeption seiner Theorie in gewisser Weise diskreditiert, weil ein monistisches Verständnis der diversen sozialen Regelsysteme des Rechts mit der von ihm vorgenommenen, genuin pluralistischen gesellschaftlichen Grundlegung seiner Theorie letzten Endes nicht kompatibel ist. Demgegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß es eine Sache ist, etwaige Normen gegebenenfalls aufgrund von praktischen Kriterien aus Gründen einer übersichtlichen Darstellung in Systemen zu gruppieren, wie Althusius dies in seiner Jurisprudentia Romana22 (1586 bzw. 1588), seiner Politica23 (zuerst 1603) und seiner Dicaelogica 24 (zuerst 1617) tut. Eine ganz andere ist es, die derart dargestellten Normen in ihrem jeweiligen sozialen Systemzusammenhang und im Hinblick auf ihre diversen Entstehungs- und Geltungsgrundlagen sowie ihre objektiven Eigenschaften zu bestimmen, eingehend zu beschreiben und zu klassifizieren. Im folgenden wird letztere Aufgabe Gegenstand der Erörterung sein. Wenn man, wie die neuzeitliche Rechts- und Staatstheorie es tat, davon ausgeht, daß zu den Regeln und Gesetzen, nach denen der Mensch lebt und an denen das menschliche Gemeinschaftsleben orientiert ist, auch das göttliche Recht gehört oder doch zumindest gehören kann, das seinerseits im Dekalog25 zum Ausdruck gelangt, dann muß sich auch jede politische Ordnung an den Geboten Gottes orientieren und dem Evangelium gemäß rechtfertigen lassen, das heißt: Maßstab aller politisch- sozialen Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens wird durchgängig das Evangelium. Ganz in diesem Sinne ist für Althusius der Wille Gottes die für alles und alle maßgebliche Richtschnur. Diese Vorschrift beziehe sich nur auf das, was zu einem frommen, heiligen, gerechten und angemessenen Lebenswandel gehört und dies außerdem nur in sehr grundsätzlicher Weise. Von einem religiös begründeten Monismus allen gemeinschaftlichen Rechts im weitesten 21 Eingehend zum ,Gesellschafts vertrag': S tig J0rgensen, Contract as a Social Form of Life, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 201 -216,202 f., 208 f. 22 Johannes Althusius, Iuris Romanae lib. II, Ad Leges Methodi Ramae conformati, Basel 1586, und Iurisprudentia Romana, vel potius, Iuris Romani ars; Duobus Libris comprehensa, et ad Leges Methodi Ramae conformata, Herborn 1588. 23 Hierzu vor allem: Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the 3. Edition of 1614. With an introduction by Carl Joachim Friedrich, Cambridge 1932; Carl Joachim Friedrich, Politik als Prozeß der Gemeinschaftsbildung. Eine empirische Theorie, Köln /Opladen 1970. 24
Johannes Althusius, Dicaelogicae Libri Très, Totum et universum lus, quo utimur, methodice complectentes, Herborn 1917, zit. Neudruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1649, Aalen 1967. 2 5 Politica, cap. I, Nr. 23 etsequ. p. 408 ff.; Nr. 27, p. 410 ff.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
19
Sinne kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil neben dem göttlichen Recht das menschliche, von der Obrigkeit gesetzte, zumindest partiell eigenständige Recht maßgebend ist und bleibt.26 Auch ist und bleibt letzteres, da es den jeweiligen, sich ständig wandelnden Umständen Rechnung tragen muß, selbst ständiger Veränderung unterworfen. 27 Gerade wegen seiner zumindest partiellen Diskrepanz gegenüber dem göttlichen bzw. dem gemeinen Recht kann das von der Obrigkeit geschaffene Recht nicht nur einen weiteren Ansatz- und Ausgangspunkt, sondern auch einen zusätzlichen Geltungsgrund erlangen, der darin zu erblicken ist, daß von vornherein eine Vielzahl und Vielfalt von im menschlichen Gemeinschaftsleben wurzelnden, durch ihr je eigenes Recht regulierten, jeweils durchaus eigenständigen sozialen Systemen bestehen bleiben. Letztere sind insgesamt nicht Bestandteile einer monistischen, sondern einer pluralistischen Ordnung des politischgesellschaftlichen, geistlich-weltlichen Gemeinwesens. Althusius betont den wandelbaren, geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter des von der Obrigkeit geschaffenen Rechts.28 Er erkannte schon früh, daß der Bestand des ius commune durch den sich ständig verändernden des ius proprium fortlaufend modifiziert wurde. 29 Er betont infolgedessen in seiner Theorie des Gemeinschaftslebens und des Gemeinschaftsrechts die wachsende Diskrepanz, die sich im Laufe der Zeit dadurch ergeben mußte, daß den Grundsätzen des gemeinen Rechts im Wege der permanenten Schaffung obrigkeitlichen Rechts laufend etwas abgezogen bzw. hinzugefügt werde. 30 Die in Althusius' Politica enthaltene Theorie des neuzeitlichen Staates stellt im Rahmen seiner politisch-rechtlichen Sozialtheorie nur eine Teiltheorie und damit einen Spezialfall dar. Man darf die Theorie des Staates und des zugehörigen Rechts, so wie sie von Althusius vertreten wird, nicht mit seiner politischen Theorie schlechthin identifizieren, da letztere sich auf eine Vielzahl und Vielfalt sonstiger Gemeinschaften, sozialer Gruppierungen und Systembildungen erstreckt.31 Da der neuzeitliche Staat erst ein Spätprodukt der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa ist, kann man in der Tat, wie Althusius es tut, zwischen primären und sekundären Konsoziationen32 unterscheiden, die - nach der von ihm vertretenen Theorie der Entwicklung von Gesellschaft und Recht - ihrerseits als gesellschaftliche Bestandteile der politisch-rechtlich schon strukturierten Realität zugleich die Grundlage für weitere Konsoziationen abgeben können, aber nicht müssen.33 Auch 26 Ebd., Nr. 30, p. 414. 27 Ebd., Nr. 30 und 33, p. 394; Nr. 33, p. 416. 28 Politica, cap. I, Nr. 33, p. 416. 29 Ebd., p. 416. 30 Dicaelogica, Lib. I, cap. XIV, Nr. 5, p. 39. 31
Eingehend hierzu das von Althusius seiner Politica vorangestellte „Schema Politicae", das einen Überblick über die diversen Konsoziationen bietet. Vgl. ferner: Politica, cap. II Nr. 1, p. 12. 3 2 Politica, cap. II, Nr. 2, p. 13. 33
2*
Ebd., p. 13.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
bilden diese Konsoziationen eigenständig das ihrer jeweiligen sozialen Natur gemäße Recht aus,34 das sich nach der Art der jeweiligen Konsoziation unterscheidet.35 Bilden aber die primären Konsoziationen zugleich die Basis für alle weiteren, dann ist auch die Primärquelle aller Rechtsbildung nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, letztere aber nicht verstanden als eine diffuse monistische Einheit, sondern als ein Geflecht von Konsoziationen höchst unterschiedlicher Art, die eine pluralistische Ordnung bilden. Die Ansatz- und Ausgangspunkte der gesellschaftlichen Entwicklung sind somit nicht nur in den privaten, sondern auch in den öffentlichen Konsoziationen zu finden, 36 die ihrerseits auf der Basis des von ihnen selbst geschaffenen Rechts (ius symbioticum) in fortlaufender Orientierung an selbstgesetzten Zwecken in eben diesem Zweckhandeln ihre durchaus eigenständige Identität entwickeln.37 Zunächst vermittelt sich als erster Eindruck, daß bestimmte, mehr oder weniger straff gefühlte Kommunikations- und Organisationssysteme, wie die Gemeinden, die Provinzen oder Territorien und das Reich, aufgrund einer Reihe verfahrensmäßiger und organisatorischer Vorkehrungen zumindest im Rechtssinne als eine einzige, hierarchisch geschichtete und gestufte Herrschaftsorganisation erscheinen, die dem gesamten politischen System nicht nur den Anstrich eines gewissen Monozentrismus gibt, sondern auch den Anschein einer Art zentraler Kontrolle zu erwecken vermag. In Wirklichkeit war die politische Gesellschaft, die Althusius zu beschreiben, verstehend zu deuten und zu erklären suchte, alles andere als ein homogenes organisches System im Sinne Otto von Gierkes,38 das sich in seinem organisatorischen Aufbau als hierarchisch geordnete und zentral kontrollierte Einheit verstehen ließe. Für Althusius ist alles Recht symbiotisches Recht, also ein Produkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ohne das der Mensch nicht existieren könnte.39 Infolgedessen gibt es in seiner politischen Theorie, wie in seiner Normentheorie und Gerechtigkeitslehre, kein Monopol des Staates für Rechtserzeugung. Vielmehr setzt - genau umgekehrt - die Existenz des Staates wie alles übrige menschliche Zusammenleben das Bestehen von Gesetzen voraus.40 Die Funktion von Gesetz und Recht kann darin erblickt werden, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen im weitesten Sinne zu regulieren. 41 In seinen Analysen des Aufbaus der 34 35 36 37
Politica, cap. I, Nr. 19, p. 7. Ebd., p. 7. Politica, cap. II, Nr. 14, p. 16 f., cap. IV, Nr. 1, p. 43 f., cap. V, Nr. 1 und 6, p. 43 f. Politica, cap. V, Summarium, Nr. 3, p. 57; ebd., Nr. 3, p. 59.
38 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880), 7. unveränderte Ausgabe, Aalen 1981, S. 244. 39 Zit. nach der 1. Aufl. der Politica von 1603, cap. I, p. 1. Das Zitat fehlt in der 2. Aufl. von 1610. 40 Politica, cap. I, p. 404. Politica, 1603, cap. XVI, p. 203.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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verschiedenen privaten und öffentlichen Konsoziationen hat Althusius von Anfang an deutlich gemacht, daß mit einer bloßen Schaffung formaler Organisationen wenig gewonnen ist, wenn der gesellschaftliche Untergrund, in oder auf dem sie operieren, ignoriert wird. Dies gilt auch für alle Recht erzeugenden Aktivitäten im Rahmen der diversen Konsoziationen. Zwar stellt das Gesetz dem Menschen bestimmte Verhaltensanforderungen, doch vermag es naturgemäß nicht, seine eigene Anwendung zu regeln, so daß es vollzugsbedürftig bleibt.42 Begreift man des Gesetz (lex) wie Althusius es tut, als Regel des menschlichen Zusammenlebens (régula vivendi), die sich aber zugleich - wenigstens implizit - auch an die staatliche Organisation und deren Behörden43 richtet, dann muß vor allem die Anwendung durch den Magistrat sichergestellt werden. Die Aufgabe des Magistrats ist es, die allgemeinen Vorschriften des jeweils geltenden Rechts in der fortlaufenden Rechtsanwendung den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen.44 In dem Maße, in dem Althusius im Hinblick auf die Ausübung von Rechtsfunktionen auf allen Entscheidungsebenen konsozialer Rechtsbildung auch die jeweiligen Lebensumstände und Anwendungsbedingungen des geltenden Rechts berücksichtigt, wird deutlich, daß die hieraus resultierende gesamtgesellschaftliche Steuerung und Kontrolle mit Mitteln des Rechts nicht länger einseitig und allein als ein hierarchisch gegliedertes, aber monozentristisches Mehrebenensystem von diversen, jedoch abhängigen, miteinander kooperierenden Entscheidungsstellen verstanden werden kann, sondern mindestens zugleich auch unter dem Aspekt einer wirklichen, respektive möglichen Heterarchie relativ autonomer Entscheidungsträger gewürdigt werden muß. In seiner Theorie der Politik und des Rechts wird deutlich, daß Gesellschaftssysteme - hier nicht als organizistische, diffuse Einheit verstanden, sondern im Sinne des Konsozialismus als eine Vielzahl von diversen, relativ unabhängigen privaten wie öffentlichen Akteuren und Entscheidungsträgern (consociationes) verstanden - im wesentlichen nicht hierarchisch, sondern heterarchisch aufgebaut sind. In derartigen Systemen gibt es, wie Althusius mit seinem durch die Kritik an den Souveränitätslehren seiner Zeit geschärften Blick erkennt, weder eine hierarchische Spitze noch ein Zentrum, von dem aus zugleich eine zentral wirksame Kontrolle des gesamten Systems gleichsam top down ins Werk gesetzt werden könnte. Vielmehr handelt es sich um eine Vielzahl von adaptionsund entwicklungsfähigen Konsoziationen höchst unterschiedlicher Rechtsform (collegium, universitas etc.), die im Verhältnis zueinander allenfalls partiell, aber nicht allesamt zu einer Intra-System-Organisation zusammengeschlossen werden können. Infolgedessen ist, wie Althusius hervorhebt, nur ein Teil der politischen Funktionen symbiotischen Zusammenlebens im organisierten politischen Gemeinwesen hierarchisch geordnet, während sie im übrigen anderen Konsoziationen vorbehalten bleiben. Was die Koordination dieser divergierenden Entwicklungen an42 Politica, cap. IX, Nr. 14, p. 613. 43 Ebd., p. 613. 44 Ebd., p. 613.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
geht, so muß auch der Gedanke aufgegeben werden, sie künftig im Rahmen einer neu zu schaffenden Intra-System-Organisation hierarchisch ordnen zu wollen. Derart umfassende Systemzusammenhänge können, wenn sie adaptions- und entwicklungsfähig bleiben sollen, nicht sämtlich hierarchisch geordnet werden, sondern müssen der Heterarchie flukturierender Inter-System-Beziehungen überlassen bleiben, die eine direkte, gleichsam von oben nach unten erfolgende Steuerung und Kontrolle praktisch ausschließen. Was ferner bleibt, ist die rechtliche Kontrolle nach Maßgabe des für die jeweilige Konsoziation geltenden Rechts.45
2. Strukturprinzipien der Genossenschaft und das Wesen menschlicher Verbände Otto von Gierkes erstes großes Buch, die ,Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft 4,46 stellt die Grundlage seines gesamten Werkes dar. Sie ist als Quelle zur Ergründung des Wesens und der Form der Genossenschaft sowie als Grundlage für die Entwicklung eines Assoziationsbegriffs der Moderne unentbehrlich. Gierkes im Vorwort des Buches erklärte Absicht war es, „einen Beitrag zu liefern zur Erkenntnis des Wesens jener Kräfte, welche älter sind als der Staat, welche den Staat selbst erzeugt haben und welche, so oft dies bestritten wird, auch innerhalb des Staates täglich noch schöpferisch fortwirken". 47 Daß er zugleich eine umfassende Darstellung der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft in der Geschichte erarbeitete, hat seinen Grund wohl darin, daß er diesen dialektischen Prozeß in der Bewegung der modernen Vereine oder Assoziationen seit 1800 in seine Gegenwart ausmünden sah. Diese „moderne Associationsbewegung" aber wollte er, wie er erklärte, „in allen ihren Verzweigungen als eine lebendige Woge in dem ununterbrochenen Strome geschichtlichen Werdens zu voller Anschauung" kommen lassen, weil seiner Überzeugung nach „eine der festesten Bürgschaften für des deutschen Volkes Zukunft in dem wiedergeborenen Genossenschaftswesen von heute" liege.48 In den Kontroversen über Gewerbefreiheit und Koalitionsfreiheit ist historisch argumentiert worden, nämlich im Hinblick auf die Zünfte des Mittel-
«s Politica, cap. X, Nr. 8, p. 193. 46 Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 1868, Nachdruck 1954; als Bibliographie und Wegweiser durch das Werk Gierkes hilfreich: Albert Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, in: Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte Bd. 8,1974. 47 Otto von Gierke , Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, S. X. Vgl. damit die Feststellungen von Carl Welcker aus dem Jahr 1835 in: Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften 2, S. 23, über die ,freien Associationen1: Sie sind „so alt, als die Menschheit, ja die Quelle aller höheren Menschlichkeit und Cultur, viel älter als der Staat. Sie sind seine eigenen Quellen, ja sie bilden seinen ursprünglichen und zugleich auch fortdauernd seinen wesentlichen Inhalt und seine Grundbestandteile".
Otto von Gierke, Rechtsgeschichte, S. VIII und X.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Z u s a m m e n s c h l ü s s e 2 3
alters und der frühen Neuzeit. Gegner wie Befürworter der Gewerbefreiheit haben, unter entgegengesetzten Vorzeichen, die ältere Geschichte der Zünfte als Arsenal für ein eher systematisches, auch rechtspolitisch reflektiertes Verständnis benutzt.49 Dasselbe gilt für die Auseinandersetzungen um die Koalitionsfreiheit, die in Deutschland schließlich im Zeichen des polaren Gegensatzes von ,Assoziation* und »Korporation4 geführt wurde. 50 In ihrer Ablehnung der Ereignisse vor und während der Revolution waren in Deutschland die der „Romantik" zuzuordnenden Autoren „grundsätzlich gruppenfreundlich" eingestellt.51 Dies bedeutete allerdings kein Votum für freie Vereinigungen, für »Vereine* und »Assoziationen*, wie man jetzt sagte.52 Vielmehr bedeutete die antirevolutionäre Einstellung ein Eintreten für »Korporationen* nach dem Vorbild der Zünfte, so wie sie vor der Revolution existierten. Die Aufhebung der aus dem Mittelalter überkommenen Zunftverfassung haben politische Publizisten wie Adam Müller beklagt.53 Auf dieser Linie bewegte sich auch der Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl, der in seiner in den 1830er Jahren erschienenen »Philosophie des Rechts* die Unterscheidung von »Korporation* und »Assoziation* endgültig formulierte. Zum Unterschied von »Assoziation* und »Korporation* heißt es bei ihm: ,»... diese ist ein beliebiger Zusammentritt für einen selbstgewählten einzelnen Zweck» jene eine gegebene Einheit für einen organischen Volksberuf, dem die Teilnehmer in ihrer ganzen Lebenseinstellung angehören".54
Dies wird dann vor allem am Beispiel der Zünfte erläutert mit dem Hinweis auf diese als eine „Wechselbürgschaft der Sitte und der Ehre**; „... alles das ist eine Zucht und Belebung von innen heraus, die jetzt nach Aufhebung der Zünfte schmerzlich entbehrt wird— Die Association kann die Korporation nicht ersetzen, 49
Zur Entwicklung des Genossenschaftsbegriffs bei Gierke: Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, hrsgg. von Hans Patze, 118. Jahrgang, Göttingen 1982, S. 2 - 4 5 , 8-32. Heinrich Waentig, Die gewerbepolitischen Anschauungen in Wissenschaft und Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift Gustav Schmoller 2, 1908, V, S. 1 - 7 2 ; Hans Peter Franck, Zunftwesen und Gewerbefreiheit. Zeitschriftenstimmen zur Frage der Gewerbeverfassung im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 258 ff. 50 Dazu: Friedrich Müller, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz (Schriften zum öffentlichen Recht 21), Berlin 1965. 51 Ebd., S. 111. 52 Vgl. Thomas Nippperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I (1972), wieder abgedruckt in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), 1976, S. 174 - 205; Carl von Rotteck/Carl Welcker, Staats-Lexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften 2, 1835, S. 21-53; Werner Krawietz, Artikel .Körperschaft 4, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4, 1976, Sp. 1101 -1134,1102. 53 Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, S. 105 ff., 110 ff., 114 ff. 54 Vgl. Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts 2/2, hier zitiert nach der 4. Aufl. 1870, S. 82 f.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen so wenig als sie durch sie ersetzt wird, und in gesundem Zustande muß die Korporation bei weitem überwiegen, das heißt das Interesse des Standes vorherrschend durch sie versorgt werden. Aber jetzt, nachdem die Korporationen zerstört sind, ist es geraten, die Association um so mehr gewähren zu lassen, und ihr dann abzulernen, was das wirkliche Bedürfnis und der wirkliche Trieb des Standes ist, um darauf, wenn es reif ist, die Korporation zu gründen."55
In den seitdem festgelegten Bedeutungen ist dieses Begriffspaar (unter Ausschließung anderer Bedeutungen des ,Korporations'-Begriffs) in der rechtswissenschaftlichen56 und vor allem in der historischen57 Forschung bis auf den heutigen Tag von grundlegender Bedeutung geblieben. Das Begriffsschema ist aufgebaut auf zwei Gegensatzpaaren. Dabei geht es einmal um den Gegensatz zwischen einer frei gebildeten und einer angeordneten, staatlich veranstalteten Personengruppe. Und zum anderen geht es um den Gegensatz zwischen einer umfassenden, alle Lebensäußerungen des Individuums umgreifenden Gemeinschaftsbildung und einer solchen, die Individuen nur aufgrund partikulärer Zwecke und einzelner Interessen aneinander bindet. Aus der Verknüpfung dieser beider Gegensatzpaare ergeben sich die beiden als »Korporation4 und »Assoziation* bezeichneten, grundsätzlich verschiedenen Typen sozialer Gemeinschaft: einerseits die »Korporation' als ein »Lebensverband', der „ganz oder tendenziell ganz das Leben (seiner) Mitglieder umfassend bestimmt",58 der aber zugleich ein obrigkeitlich oder staatlich organisierter „Zwangsverband" ist, und andererseits die »Assoziation4 als ein „partikulärer" oder „interessenbestimmter Zweckverband", dessen „partieller Zweck die Mitglieder entsprechend nur partiell" berührt, „dessen Gründung, Tätigkeit und Auflösung" jedoch grundsätzlich zur Disposition seiner Mitglieder" steht.59 Der Gegensatz der beiden Typen wird immer zugleich mit einer die geschichtliche Entwicklung reflektierenden These verknüpft: Denn im Gegensatz zur modernen, erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Erscheinung tretenden »Assoziation4 ist mit dem Begriff der »Korporation4 die Annahme gesetzt, daß es sich dabei um einen vormodernen, nämlich mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Typus sozialer Gemeinschaftsbildung handelt.60 55 Ebd., S. 82 ff. 56 Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, S. 15 ff. 57 Vgl. Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I (1972), wieder abgedruckt in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), 1976, S. 175-205; Otto Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: Ulrich Engelhardt (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, 1976, S. 197-232,198. 58 Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, S. 15 und 17. 59 Ebd., S. 15, 18 und 231. Vgl. aber auch S. 344; ebenso Thomas Nipperdey, S. 174, und Otto Dann, S. 198. 60 Vgl. Friedrich Müller, Korporation und Assoziation S. 18: „Das Leben des Mittelalters war von Verbänden der mannigfachsten Art geradezu beherrscht; unter ihnen spielten jedoch die assoziativen Zusammenschlüsse keine wichtige Rolle; die einflußreichen und für die
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Z u s a m m e n s c h l ü s s e 2 5 Die Entwicklung seines Begriffs der Genossenschaft setzt für Gierke unmittelbar bei dem Begriff der Zunft des Mittelalters an. Dies ist, wie im weiteren Verlauf deutlich wird, die elementare Technik von Gierkes sowie anderer Autoren: die Entlehnung historischer Erfahrungen zur Entwicklung und Formulierung neuzeitlicher Theorien und Ideen. „Ihrem Grundwesen nach", so stellte Gierke fest, „waren die freien Zünfte Einungen oder Gilden der durch die Gemeinschaft des Berufs einander nahestehenden Gewerbetreibenden . . . " 6 1 Die mittelalterliche Zunft war „daher eine auf frei gewollter Vereinigung beruhende Verbindung oder gewillkürte Genossenschaft, welche gleich anderen Gilden den ganzen Menschen ... ergriff und ihre Mitglieder gleich Brüdern miteinander vereinte. Sie war und nannte sich eine Brüderschaft (fraternitas, confraternitas), eine Genossenschaft oder Gesellschaft (consortium, societas, sodalitium, convivium), eine geschworene Einung (unio, conjuratio) oder Innung, Gilde, Zeche, Gaffel oder Zunft, Namen, welche alle auf den freien Willen der Verbundenen als Existenzgrunds des Vereins erweisen ... Dieser Wille des Verbundenseins war aber nicht auf einzelne Gemeinschaftszwecke ... gerichtet und die Zunft war daher weder ausschließlich noch auch nur vorzugsweise um gewerblicher Zwecke willen da." Sie war vielmehr zugleich „von der unmittelbarsten politischen und kriegerischen, geselligen und religiösen, sittlichen und rechtsgenossenschaftlichen Bedeutung". Zwar „sah sie ... das in der Regel gleichartige Gewerbe ihrer Mitglieder als einen Hauptgegenstand ihrer Fürsorge an: allein es blieb dies eine unter mehreren Folgen der Genossenverbindung.... Noch war das Gewerberecht Mittel zum Zweck der Zunft, nicht die Zunft lediglich Mittel zum Zweck des Gewerberechts."62 Im Unterschied zu den drei Grundannahmen der späteren Zunftdiskussion erscheint bei Gierke die Zunft nicht als ein isoliertes Phänomen eigener Art, sondern sie ist eingebunden in die Vielfalt hochmittelalterlicher Einungen, der Kaufmannsgilden ebenso wie zum Beispiel der Einungen von Magistern und Scholaren, die man Universitäten nannte. 63 Die Zunft war „eine politische und militärische, eine religiöse und gesellige, eine sittliche, eine wirtschaftliche und eine Vermögenseinheit", stellte Gierke an anderer Stelle fest, und das „alle diese verschiedenen Seiten vermittelnde und durchdringende Band" lag „darin, daß sie eine Friedens- und damalige rechtliche und soziale Lage kennzeichnenden Verbände waren korporativ aufgebaut. So waren im Bereich der Wirtschaft die Gilden, Innungen und Zünfte als Zwangsverbände organisiert. ... Diese berufsständische Organisation Schloß für weite Bereiche des Lebens die negative Assoziationsfreiheit aus." Vgl. auch ebd., S. 342 ff. 61 Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, S. 359. 62 Ebd., S. 359 f. Zu dem hier verwendeten Begriff der »gewillkürten Genossenschaft' vgl. ebd., S. 221 und 297; zum Begriff der »Willkür4 vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1972, S. 416 f.: »Willkür meint hier das gemachte, gesetzte, vereinbarte, statutarische Recht; siehe auch Karl Kroeschell, Art.,Einungin: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 1971, Sp. 910-911. 63
Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, S. 344 ff. und 437 ff.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
Rechtseinheit, eine Rechtsgenossenschaft war", die „Trägerin einer alle Genossen umfassenden ... Rechtssphäre": „Durch Gewohnheit und Autonomie, durch Weistum und Beliebung bildete sie ein genossenschaftliches, von oben bestätigtes und gemehrtes Recht, einen Inbegriff in ihr geltender Satzungen aus; sie genoß eines besonderen Friedens, dessen Handhabung, Wahrung und Herstellung bei ihr war." 64
Bei der Entstehung der „freien Zünfte" seit dem 11. Jahrhundert wirkten „zwei verschiedene Momente" zusammen: „die freie Einung der Genossen und die Verleihung des Handwerks als eines Amtes an die Genossenschaft".65 Diese beiden Momente sah Gierke so miteinander verknüpft, daß „der eigentliche Entstehungsgrund des Zunftwesens in der freien Einung gelegen hat, die eigentümliche Ausbildung desselben im Unterschied von anderen Einigungen aber hauptsächlich durch die Idee begründet ward, daß der so entstandenen Genossenschaft der Handwerksbetrieb als ein Amt verliehen sei."66
Im Licht der älteren Kontroversen über »Assoziation4 und »Korporation4 und im Licht der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgetragenen Deutungen der mittelalterlichen Zünfte als »Korporationen4 und als »Assoziationen4 wird nun auch der Ansatz Gierkes deutlicher. Gierke hat das bereits vorliegende Begriffsschema von »Assoziation4 und »Korporation4 für seinen rechts- und sozialgeschichtlichen Ansatz verwendet. Er hat es aber auch zugleich modifiziert und überwunden, indem er die dem Begriffsschema zugrundeliegenden gegensätzlichen Elemente einander neu zuordnete. Dies ist der Sinn des von Gierke neu geprägten Begriffs der ,freien Einung4. In diesem Begriff verband Gierke nämlich das Moment des freiwilligen Zusammenschlusses von Menschen mit dem Moment der Bildung umfassender, alle Lebensbereiche umgreifender und eine Vielzahl einzelner Zwecke integrierender Vereinigungen. An Stelle der Erörterung der Zünfte im Zeichen des ,Korporation'-Begriffs sowie des »Assoziations'-Begriffs trat etwas Neues: in systematischer Hinsicht, im Blick auf die Typologie sozialer Gemeinschaften, wurde die Polarität der beiden Typen »Assoziation4 und »Korporation4 abgelöst von der Dreiheit der Typen »Assoziation4, »Korporation4 und »freie Einung4. Damit verband Gierke zugleich auch eine genuin geschichtliche Theorie. An die Stelle des älteren Gegensatzes zwischen vormoderner, also mittelalterlicher und frühneuzeitlicher »Korporation4 und moderner »Assoziation4 setzte er nämlich die Aufeinanderfolge von drei Epochen des europäischen Vereinigungswesens, die repräsentiert sind durch die freien Einungen des Mittelalters, die Korporationen der frühen Neuzeit seit 1500 und die Assoziationen der Moderne seit 1800. In der Zeit der »freien Einungen4 erwuchs „eine in der Geschichte ohne Gegenbild dastehende Fülle Genossenschaften44.67 Für Gierke bezeichnete der Beginn des 16. JahrhunEbd., S. 396 f. 65 Ebd., S. 244 f. « Ebd., S. 249. Vgl. S. 359 und 360 f.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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derts den Beginn einer Epoche, „in welcher der Gedanke der Obrigkeit das herrschende Prinzip ist, das Genossenschaftswesen aber mehr und mehr in ein privilegiertes Korporationswesen umschlägt".68 Die privilegierte Korporation des 16. bis 18. Jahrhunderts „war von der mittelalterlichen Genossenschaft mehr in ihrem inneren Wesen als in Namen und Formen verschieden, der Übergang von dieser zu jener sehr allmählich und fast unmerklich." Das Wesen der »Korporation4 aber bestand „im Allgemeinen darin, daß sie eine Körperschaft" war, „die durch ein ihr zustehendes Privileg oder einen Inbegriff von Privilegien bedingt oder bestimmt wird. Auch früher hatten die Genossenschaften zahlreiche Privilegien gesucht und erhalten, immer aber war das Privileg nur um der Genossenschaft willen da und diente ihren Zwecken. Jetzt war umgekehrt der korporative Verband nur ein Mittel für die Ausnutzung des Privilegs, er war durch das und um des Privilegs willen da, ja er schien oft nichts anderes zu sein als inkorporiertes Privileg." Erst gegen Ende dieses Zeitraums, um 1800 also, trat „der Gedanke der modernen freien Association in seinen Anfängen auf, um dann in unserem (sc. 19.) Jahrhundert eine so gewaltige umbildende und neuschaffende Kraft zu entwickeln, daß es gerechtfertigt erscheint, in ihm das gestaltende Prinzip" dieser neuen Epoche zu erkennen, „an deren Beginn wir stehen".69 Zwar stehe die moderne Associationsbewegung „noch so sehr in ihren Anfängen, daß sie ihrem Wesen nach kaum bereits zu bestimmen" sei und „ihre eigentliche Geschichte ... überhaupt noch nicht" habe; „so viel indes dürfte schon klar sein", meinte Gierke, daß sie in ihrem „Wesen eine neue und eigentümliche Entwicklung" sei und daß sich ihre „Entwicklung in aufsteigender Linie" vollziehe".70 Das Verhältnis der drei Typen des europäischen Vereinigungswesens bestimmte Gierke dahingehend, daß „das Wesen der modernen Associationsbewegung ... offenbar dem der mittelalterlichen Einungsbewegungen um Vieles näher steht als dem privilegierten Korporationswesen" der späteren Zeit. Zu dem letzteren verhält es sich in den meisten Punkten gegensätzlich, dem mittelalterlichen Einungswesen steht es nur wie eine höhere Entwicklungsstufe desselben Gedankens gegenüber.71 Die mittelalterliche Einung ist also nichts anderes als „die freie Association in ihrem mittelalterlichen Gewände".72 Zwar falle der „modernen freien Vereinigung" für „politische, religiöse, geistig, sittliche und sociale Zwecke" eine andere Aufgabe zu „als der ihr parallelen mittelalterlichen Einung", doch habe auch die Einung „den ganzen Menschen" gefordert, während die Assoziation nur eine „Vereinigung zu bestimmten Zwecken" sei. Denn einerseits stünden die modernen Vereine nicht „gleich den mittelalterlichen Einungen in einer organisations- und staatlosen Ge67 68 69 70
Ebd., S. 297. Ebd., S. 638. Ebd., S. 638. Ebd., S. 652; vgl. auch S. 882.
71 Ebd., S. 652. 72 Ebd., S. 297.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
sellschaft, sondern in einem kräftigen Staat und inmitten einer vielgliedrigen Kette engerer und weiterer öffentlicher Zwangsverbände"; und andererseits trete „das Individuum nicht nur dem Staat, sondern auch der selbstgewählten Genossenschaft heute ungleich selbständiger gegenüber ... als einst".73 Auch sei dem modernen Vereinswesen durch die „Geschmeidigkeit seiner Formen" und die „Mannigfaltigkeit" seiner Zwecke eine „höhere und freiere Entwicklung" gesichert „als sie dem trotz seines Gestaltungsreichtums im Vergleich hierzu formenarmen, weil durch die Formen der Bünde und Gilden beherrschten, mittelalterlichen Einungswesen zu Teil werden konnte". Gleichwohl sei „ein Zusammenhang mit der alten Gildeverfassung und ihrer Aus- und Fortbildung nicht zu verkennen".74 Gierke erkannte diesen Zusammenhang zum einen in der Zusammensetzung und der Mitgliedschaft der modernen Vereine, die ganz wie in der ältesten Gilde sowohl bedingt wie bestimmt werde durch „die beiden Momente der Persönlichkeit und der Freiwilligkeit", das heißt durch freien Eintritt und Kooptation. Zum anderen wies er hin auf die Organisation der modernen Vereine, so wie sie „durch die frei gewillkürten und vermöge der Vereinsautonomie fortgebildeten Vereinsstatute bestimmt wird" und in der Mitgliederversammlung, dem gewählten Vorstand und anderen Vereinsorganen mit unterschiedlichster Funktion zum Ausdruck komme.75 Den Begriff der »Genossenschaft* definiert Gierke als ,jede auf freier Vereinigung beruhende deutschrechtliche Körperschaft, das heißt ein Verein mit selbständiger Rechtspersönlichkeit".76 Die Geschichte der Genossenschaften und des Genossenschaftsgedankens wird von der germanischen Zeit her entfaltet, da nach Auffassung Gierkes die Germanen in besonderem Maße die Gabe der Genossenschaftsbildung besaßen, bis hin zur wichtigsten Erscheinungsform der Genossenschaft in der Moderne, nämlich der modernen Assoziation, dem „modernen freien Vereinswesen",77 das erst in seinen Anfängen stehe. Hieraus ergibt sich das Ziel, das Gierke in seinem Buch verfolgte: nämlich, daß „die moderne Assoziationsbewegung in allen ihren Verzweigungen als eine lebendige Woge in dem ununterbrochenen Strome geschichtlichen Werdens zu voller Anschauung komme", um dadurch „einen Beitrag zu liefern zur Erkenntnis des Wesens jener Kräfte, welche älter sind als der Staat, welche den Staat selbst erzeugt haben und welche ( . . . ) auch innerhalb des Staates täglich noch schöpferisch fortwirken". 78 Für Gierke war „das wiedergeborene Genossenschaftswesen von heute" eine der „festesten Bürgschaften für des deutschen Volkes Zukunft", 79 war das »Assoziationswesen in
73 Ebd., S. 226 f. und 882. 74 Ebd., S. 903. 75 Ebd., S. 903 und 905 f.; über das Vereinswesen: Ludwig von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts, 1870, S. 32 ff. 76 Ebd., S. 5. 77 Ebd., S. 882. 78 Ebd., S. VIII und X. 79 Ebd., S. X.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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seiner Gesamtheit von der größten Bedeutung für das gegenwärtige und künftige deutsche Leben".80 Gierkes Unternehmen einer historischen Analyse und Darstellung des Genossenschaftlichen in der Geschichte hatte also von Anfang an einen klaren und bewußten Bezug zur Gegenwart und zu bestimmten politisch-sozialen Werten. Geschichte und Gegenwart standen für ihn auch hier in einem Verhältnis wechselseitiger Erhellung: ,£>er gegenwärtige Rechtszustand kann nur aus einer umfassenden historischen Darlegung vollkommen begriffen und umgekehrt die Geschichte der deutschen Genossenschaft nur, wenn die heutige Bewegung als ihr letztes uns bekanntes Glied betrachtet wird, annähernd verstanden werden."81
Dahinter steht eine geschichtsphilosophische These, die These nämlich, daß der Mensch durch die Vereinigung und Gemeinschaftsbildung mit anderen definiert wird; so lautet der erste Satz des Buches: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch und Mensch. Die Möglichkeit, Assoziationen hervorzubringen, die nicht nur die Kraft der gleichzeitig Lebenden erhöhen, sondern vor allem durch ihren die Persönlichkeit des Einzelnen überdauernden Bestand die vergangenen Geschlechter mit den kommenden verbinden, gab uns die Möglichkeit der Entwicklung, der Geschichte."82
Ihr Verlauf ist dadurch bestimmt, daß sich unaufhörlich der Bau der Assoziationen, Verbände, Vereinigungen erhebt in fortschreitender Einheit hin zu Völkerschaften, Staaten und Staatenverbänden, eine Entwicklung, für die sich „keine andere Grenze" denken läßt, „als wenn sich in ferner Zukunft einmal die ganze Menschheit zu einem einzigen organisierten Gemeinwesen zusammenschließen sollte". Aber dies ist nur eine Seite. Denn „mit gleicher Gewalt und gleicher Notwendigkeit" bricht sich auch der entgegengesetzte Gedanke ständig Bahn, der Antagonist der Einheit, nämlich „der Gedanke des Rechts und der Selbständigkeit aller in der höheren Einheit zusammenströmenden geringeren Einheiten bis herab zum einzelnen Individuum - der Gedanke der Freiheit". „Der Kampf dieser beiden großen Prinzipien (sc. Einheit und Freiheit) bestimmt eine der mächtigsten Bewegungen der Geschichte."83
Den polaren Gegensatz von Einheit und Freiheit im Blick auf Werden und Wandel von Genossenschaften und Assoziationen sah Gierke verschränkt mit dem Gegensatz von Herrschaft und Genossenschaft sowie dem Gegensatz von Personalität und Dinglichkeit, worunter Gierke die Verbindung personaler Vergemeinschaftungen mit Besitz, vor allem mit Grund und Boden verstand. In der Geschichte dieser
so Ebd., S. 4. 81 Ebd., S. 5 f. 82 Ebd., S. 1. 83 Ebd., S. 1 f.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
polaren Spannungen unterschied Gierke fünf Epochen, wobei er sich des hypothetischen, des konzeptuellen und des bloß analytisch-begrifflichen Charakters auch dieser Epochengliederung bewußt war. Daß „die wirkliche Geschichte" keine Perioden kennt, weiß er und schreibt er auch.84 Jede dieser Epochen ist durch ein „eigentümliches Verfassungsprinzip" beherrscht und hat auch eine „eigentümliche Vereinsform als die charakteristische Vereinsform der Zeit in engeren und weiteren Kreisen bis aufwärts zum Staat" entwickelt. In der ersten Epoche, von den ältesten Zeiten bis zu Karl dem Großen, führt die Dialektik zwischen der freien Genossenschaft und herrschaftlichen Verbänden schließlich zur Ausformung einer „patrimonialen Rechts- und Staatsauffassung". 85 In der zweiten, von 800 bis 1200, hat „die Herrschaft über die Genossenschaft, die Dinglichkeit über die Persönlichkeit definitiv gesiegt". Im Gegensatz dazu ist es in der dritten Periode, mit der das Mittelalter endet, das Prinzip der ,Einung4 oder »freien Einung4, welches die Verhältnisse bestimmt. Die vierte Epoche, sie reicht vom Bauernkrieg bis 1806, bringt den definitiven Sieg der Landeshoheit und des Prinzips der Obrigkeit.,»Der obrigkeitliche Staatsgedanke und mit ihm der Polizeiund Bevormundungsstaat entwickelt sich, das Genossenschaftswesen schlägt in ein privilegiertes Korporationswesen um.44 Die charakteristische Vereinsform dieser Zeit war also die obrigkeitlich veranstaltete »Korporation4. Ihr folgte aber in dieser Rolle mit dem Beginn der Moderne die »Assoziation4. Sie wird, wie Gierke 1868 schreibt, „das eigentlich bildnerische Prinzip44 der Moderne sein: „Ausschließliche Schöpferin ist sie für ein alle Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens ergreifendes und neugestaltendes freies Vereinswesen, das, so Großes es schon hervorgebracht hat, Größeres noch in näherer und fernerer Zukunft wirken wird/ 4
Damit sind für die Geschichte Europas vom Mittelalter bis zur Moderne drei Grundtypen der Vereinigung bezeichnet und definiert: die ,freie Einung4, die frühneuzeitliche »Korporation4 und die moderne »Assoziation4. Es ist unmöglich, an dieser Stelle die Fülle sozialgeschichtlich, verfassungsgeschichtlich, religions- und kirchengeschichtlich relevanter Gruppenbildungen umfassend zu erörtern, die in Gierkes Darstellung erörtert und charakterisiert werden, in ihrem Ifypus, in ihren Veränderungen und in der gegenseitigen Wechselwirkung; zum Beispiel: Haus, Familie und Geschlecht, Dorf und Gemeinde, die Grundherrschaft, kirchliche, hofrechtliche, lehnsrechtliche und dienstrechtliche Genossenschaften, die Gilden und Einungen der Kaufleute, Handwerker und Handwerksgesellen, die Orden und geistlichen Bruderschaften, die Universitäten mit Nationen und Fakultäten, die Kollegien und Bursen, Berufsgenossenschaften aller Art, von den Bergleuten bis zu den Bettlern und den Söldnern, natürlich auch die Städte mit 84 Ebd., S. 8. 85 Dieses Zitat und die folgenden: ebd., S. 9 f. ; hierzu jetzt auch: Burchart Graf von Westerholt, Patrimonialismus und Konstitutionalismus in der Rechts- und Staatstheorie Karl Ludwig von Hallers - Begründung, Legitimation und Kritik des modernen Staates, Berlin 1999.
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ihren genossenschaftlichen Gliederungen, Städtebünde, Adelsbünde, Bauerneinungen, Landfriedensbünde und so weiter - um nur das zu erwähnen, was das Mittelalter betrifft und was die Mediävistik sich erst noch aneignen muß, wenn sie mit der Erforschung der verschiedenen Typen sozialer Gemeinschaften im Mittelalter einmal Ernst machen wird. 86 Die große Anregungskraft von Gierkes »Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft' beruht, völlig unabhängig von möglicher Kritik an der Herleitung der Genossenschaften aus der Welt der Germanen und der Geschichte des deutschen Rechts, vor allem auf den vom Autor intellektuell klar gefaßten Prinzipien darauf, und daß in der klaren Herausarbeitung dessen, worauf es Gierke ankam, ein enormes Quellenmaterial nachgewiesen ist. Was die Sozialgeschichte der Neuzeit angeht, so muß darauf hingewiesen werden, daß in den 1970er Jahren eine neue, sehr intensive Forschung über das Thema des „Vereins als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert" in Gang gekommen ist. So lautet insbesondere der Titel einer 1972 erstmals erschienenen Abhandlung Thomas Nipperdeys.87 Dabei geht es um die Frage der »Modernisierung4 um 1800, das heißt um die Bedeutung des Vereinswesens für die Herausbildung der modernen Gesellschaft in Deutschland. Für Nipperdey spiegelt sich in dem Gegensatz von »Korporation4 und »Assoziation4 der Gegensatz von „alter" und „moderner" Welt. Die Motive der Bildung von Vereinen und Assoziationen im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert und die sich darin ausdrükkenden Bedürfnisse und Tendenzen sieht Nipperdey als etwas „offenbar Neues"; in der „herrschaftlich-korporativ organisierten alten Welt" hatten sie „keine Erfüllung" gefunden. Denn in jener „alten Welt, von der sich die Assoziationsbildung abhebe", habe „das Gemeinde- oder Assoziationsprinzip, als die freie Initiative der Glieder, keine oder kaum eine Rolle gespielt, vielmehr habe der Einzelne „in dem durch Haus, Korporation, Kirchengemeinde und eventuell noch die Nachbarschaft strukturierten Lebenskreis" gelebt, eine Welt, die bestimmt gewesen sei von „Sitte und lang geübtem Brauch", von „den Mustern der Tradition", aber nicht von „Reflexion". 88 Das Assoziationswesen sei also ein Novum, insofern es Ausdruck eines „neuen, auf Vernunft und Autonomie gegründeten Individualismus" sei: „(E)s ist das Individuum, das gegen die Bindungen von Haus, Korporation und Herrschaft und gegen die statisch gewordene Tradition Anspruch auf einen Raum der freien Initiative und Bestätigung erhebt, das Zwecke frei setzen und sich mit anderen sol86 Eberhard Oexle, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (lus Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Sonderheft 30), Frankfurt a. M. 1987, S. 87-91. 87 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen· 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I (1972), wieder abgedruckt in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Göttingen 1976, S. 174-205. 88 Ders., S. 178 f.; ebenso Otto Dann, Einleitung des Herausgebers: Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, in: ders. (Hrsg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation, 1981, S. 9 - 2 1 , 9 f.
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chen frei gesetzten Zwecken verbinden kann, das ein neues soziales Bedürfnis entwickelt - das Bedürfnis nach individuellem Zusammenschluß mit anderen zu Geselligkeit und Freundschaft. Der Individualismus also ist die Voraussetzung der Assoziation. Die Assoziation ergibt sich nicht wie die Korporation aus quasi natürlichen Ordnungen, sondern beruht auf der Freiheit des auf sich selbst gestellten Menschen. Für ihn soll Assoziation an Stelle von Korporation treten."89 Gewiß ist in der Erfassung jener Ablösung der »Korporation* von der »Assoziation* um 1800 ein entscheidender Vorgang einer neuen Betrachtung und Analyse unterzogen worden. Überraschend ist allerdings, daß der Begriffsgegensatz von ,Assoziation* und »Korporation* dabei ohne weiteres als das entscheidende heuristische Prinzip zugrunde gelegt wird, daß der moderne »Verein* als »Assoziation* den vormodernen, also mittelalterlichen und frühneuzeitlichen »Korporationen* absolut gegenübergestellt wird, mit der Begründung» daß in jener „alten Welt** vor Anbruch der Moderne die „freie Initiative** in den Gemeinschaftsbildungen der Menschen „keine oder kaum eine Rolle gespielt habe**.90 Mit anderen Worten: Die Durchsetzung des modernen Vereins als Assoziation gegenüber den älteren Korporationen um 1800 wird mit genau dem Deutungsschema zu erfassen gesucht, das doch, wie wir gesehen haben, ein Ergebnis eben jenes Prozesses ist; das geschichtlich gewordene Deutungsmuster wird ohne Berücksichtigung seiner geschichtlichen Gewordenheit und Vermitteltheit absolut und gewissermaßen verdinglicht eingesetzt. Dabei muß natürlich auch jener Erkenntnisfortschritt außer acht bleiben, den Gierke gegenüber dem älteren Schema erzielt hatte: die ,freie Einung*, die »Korporation* und die »Assoziation*. Diese durch ein umfassendes Quellenmaterial empirisch gestützte These Gierkes ist in dem neuen Forschungsansatz nicht nur übersehen,91 es ist eigentlich auch gar kein Raum für ihre Berücksichtigung.92 Dies ist bedauerlich, da trotz der offenkundigen geschichtlichen Bedingtheit auch des Ansatzes von Gierke dessen Erklärungskraft, vor allem im Blick auf den Begriff der »freien Einung*, ebenso offenkundig noch nicht eigentlich genutzt wurde.93 Über diesen Einwand könnte man freilich hinweggehen mit der Bemerkung, es komme ja nur darauf an, „den Prozeß der Individualisierung, Dekorporierung, und Emanzipation** um 1800 zu beschreiben.94 Demgegenüber ließe sich allerdings 89
Thomas Nipperdey, S. 180; vgl. auch Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert 3, 3. Aufl., 1954, S. 137: „Was für das Mittelalter die Korporation war, das war für das 19. Jahrhundert das Vereinswesen." 90 Thomas Nipperdey, S. 179; vgl. auch Hans Bayer, Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses, in: Archiv für Kulturgeschichte 58,1976, S. 115-153. 91 Otto Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung, S. 198: „Die unerläßliche Vorfrage einer jeden Beschäftigung mit dem modernen Vereinswesen ist demnach seine Abgrenzung vom mittelalterlichen. Sie wird seit den Zeiten Gierkes durch die Begriffe »Korporation4 und »Assoziation4 zum Ausdruck gebracht.44 92
Thomas Nipperdey, S. 441. Karl Kroeschell, Art. »Einung4, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 1971, Sp. 910-912» 911. 93
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zeigen, daß die Verdinglichung des historisch gewordenen Deutungsschemas auch für die Erforschung der Assoziationen seit 1800 weitreichende Konsequenzen hat, also auf die Forschungsergebnisse nachteilig durchschlägt. Wenn man nämlich die im Begriff der »freien Einung' bezeichneten mittelalterlichen und allgemein vormodernen Phänomene außer acht läßt, so erhebt sich zwangsläufig die Frage, wie die in den Assoziationen der Moderne sichtbar werdenden Strukturmomente und Formen der Organisation erklärt werden können, so zum Beispiel das „Prinzip der Freiwilligkeit", der „Trend zur sozialen Egalisierung" oder die »Ausbildung einer autonomen Verfahrensregelung innerhalb der Gesellschaften (insbesondere durch Formalisierung, Institutionalisierung und Funktionsdifferenzierung)". 95 Solche Momente hat Gierke bereits in den »gewillkürten4 »freien Einungen4 nachweisen können. Läßt man diesen Sachverhalt außer acht, so bleibt die Frage nach der Herkunft solcher Momente entweder offen und muß zum Forschungsproblem erklärt werden, oder aber es werden diese Strukturmomente einfach als Symptome des Modernisierungsprozesses um 1800 interpretiert, 96 was in dieser Form jedoch kaum haltbar erscheint. Der Modernisierungsprozeß um 1800 kann nicht zutreffend beschrieben werden, wenn außer acht bleibt, daß wesentliche Strukturelemente moderner Assoziationen bereits den freien Einungen des Mittelalters eigentümlich waren. Mit anderen Worten: Die Sozialgeschichte des alten wie des modernen Europa ist komplexer als dichotome Schemata des Typus »Korporation4/»Assoziation4 oder »Gemeinschaft4/»Gesellschaft4 vermuten lassen, die selbst ein Ergebnis dieser Geschichte sind. Sie ist auch komplexer als einfache Gegenüberstellungen von moderner und vormoderner Geschichte vermuten lassen, die in Verbindung mit solchen Schemata aufgetreten sind und immer wieder auftreten. Die geschichtliche Bedingtheit jeglicher sich mit historischen Topoi beschäftigenden Deutungsschemata ist evident. In seiner berühmt gewordenen Rektoratsrede vom 15. Oktober 1902 in Berlin setzt sich Otto von Gierke in nachhaltiger Weise mit dem Wesen der menschlichen Gemeinschaften auseinander. Er betrachtet die Rolle des Rechts und seiner Wechselwirkung mit der und seiner Bedeutung für die Entstehung sozialer Verbände. Nach von Gierke muß sich die Rechtswissenschaft aus doppeltem Anlaß gezwungen sehen, sich mit dem Wesen der menschlichen Gemeinschaften auseinanderzu94 Thomas Nipperdey, S. 180. 95 Otto Dann, Die Anfänge politischer Vereinbildung, S. 220: „Das 18. Jahrhundert aber markiert in der Geschichte der Gesellschaftsbildung in Deutschland einen epochalen Einschnitt: Im Zeichen der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Mobilisierung wurden die ständisch-korporativ geprägten Vereinigungstypen zunehmend verdrängt von einer neuen Gesellschaftsform, der Assoziation. Die Assoziation ist die charakteristische Vereinigungsform der modernen bürgerlichen Gesellschaft, geprägt durch das Prinzip der Freiwilligkeit, durch einen Trend zur sozialen Egalisierung und durch die Ausbildung einer autonomen Verfahrensregelung innerhalb der Gesellschaften (insbesondere durch Formalisierung, Institutionalisierung und Funktionsdifferenzierung)." Ebenso ders., Die Lesegesellschaften, S. 21 und 23. 96 Vgl. Anm. 66. 3 Simon
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setzen. Daher kann die Rechtswissenschaft von der Entstehung des Rechts nicht handeln, ohne auf die dieses Recht erzeugende Gemeinschaft zurückzugehen. Dabei treten multiple Fragestellungen auf. Zum einen die nach den Quellen der Rechtsentstehung, ob also (i) nur der Staat oder (ii) auch ein anderer Verband in Form einer autonomen Satzung oder (iii) auch eine unorganisierte Gemeinschaft Recht in Form des Gewohnheitsrechts schaffen. Ferner stellt sich die Frage nach der Stellung des in die Rechtserzeugung involvierten Einzelnen zur Gemeinschaft. Schließlich geht es um das Verhältnis zwischen der inneren und äußeren Seite rechtlicher Regeln und um dasjenige zwischen Vernunftaussage und Willensaktion beim Vorgang der Rechtserzeugung. Die Rechtsordnung umfaßt als Teil des Gemeinschaftslebens nicht nur die äußeren Beziehungen des Einzellebens, sondern regelt daneben noch das Leben des Staates, der Kirche, der Gemeinden und der Genossenschaften, aber sie beherrscht und durchdringt auch deren Innenleben. Damit ist die Frage nach dem Wesen der menschlichen Verbände für die Rechtswissenschaft nicht mehr marginal, sondern sie wird zur Kernfrage. Denn um den Teil des Rechts, der sich als Lebensordnung von Verbänden gibt, zu verstehen und zu würdigen, muß man zu erfahren suchen, was denn eigentlich das ist, was hier in das Recht hineintritt und von ihm seine Ordnung empfängt. Nach von Gierke behandelt das Recht die organisierten Gemeinschaften als einheitliche Wesenheiten, denen es Persönlichkeit zuschreibt.97 Die individualistische Gesellschaftsauffassung geht davon aus, die juristische Person sei eine vom Recht für bestimmte Zwecke geschaffene Fiktion. Folglich besteht die Wirklichkeit nur aus einzelnen Menschen, die als in sich abgeschlossene subjektive Einheiten existieren. Folglich seien Verbände auch nur eine Summe einzelner Menschen, die zueinander in Beziehungen spezieller Art zueinander stehen. Der Mensch empfängt demnach seine Persönlichkeit aufgrund seines Status als frei wollendes Wesen. Konsequenz der individualistischen Auffassung ist es, daß Verbände als solche weder handeln wollen noch handeln können. Für das Recht enthält dies jedoch keinen Anknüpfungspunkt, der dem Machtbereich der Individuen entzogen ist. Dieser kann nur in einem einheitlichen Träger der für Gemeininteressen konstituierten Inbegriffe von Befugnissen und Pflichten gesehen werden, nämlich in der juristischen Person als rechtliche Fiktion. Damit kann alles Gemeinschaftsrecht höchstens als gemeinsames Recht Vieler und alle Gemeinschaftsordnung nur als ein in sich vielverschlungenes Netz von Beziehungen zwischen Individuen angesehen werden. Da nach Auffassung des Individualismus in Wahrheit keine Personen außer den Individuen existieren, kann auch der Staat nur einefingierte Person sein. Folglich wird ihm die Qualität als Rechtssubjekt abgesprochen. Dies hat zur Folge, daß nur dem Herrscher, dessen Vertreter oder den Untertanen Subjektqualität zukommt, nicht jedoch der Einheit der rechtlich geordneten Vielfalt, dem Staatsganzen als Verband.98 97 Hier wie im folgenden: Otto von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Darmstadt 1954, S. 6 ff. 98 Vgl. ebd., S. 8-10.
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Trotz der Darlegungen der individualistischen Rechtsauffassung bleiben die Individuen als Organisationsform immanent. Ihre Widerstandskraft läßt die Frage aufkommen, ob sie wirklich nur Trugbilder oder doch lebendige Wesenheiten sind, die als reale Einheiten mit der Anerkennung durch das Recht nur das empfangen, was ihrer wirklichen Beschaffenheit entspricht. Von Gierke ist dieser Meinung, da er das menschliche Gemeinleben als ein Leben höherer Ordnung begreift, dem sich das Einzelleben eingliedert." Geht man also mit von Gierke davon aus, daß es sich bei der rechtlich geordneten Gemeinschaft um ein Ganzes handelt, dem eine reale Einheit innewohnt, muß man an die Erforschung dessen gehen, wie diese Einheit beschaffen sein muß und soll, wenn sich im entsprechenden Recht zugleich die Wirklichkeit widerspiegeln soll. Da das Recht dem Verband Persönlichkeit zuschreibt, ordnet und durchdringt es zugleich den inneren Bau und das innere Leben des Verbandes. Er muß also im Gegensatz zum Individuum ein Lebewesen sein, bei dem das Verhältnis der Einheit des Ganzen zur Vielheit der Teile der Regelung durch äußere Normen für den menschlichen Willen zugänglich ist. 100 Aus diesen Grundgedanken entspringt die sogenannte organische Theorie, die Rechts- und Gesellschaftstheorie miteinander verbindet. Sie betrachtet den Staat und die anderen Verbände cum grano salis als soziale Organismen. Diese Theorie bricht mit dem Individualismus, denn sie geht aus von der Existenz von Gesamtorganismen, deren Teile die Menschen sind, geht aber zugleich über die Einzelorganismen hinaus. Da der Begriff des Organismus ursprünglich von den einzelnen Lebewesen abstrahiert ist, sieht sich die organische Theorie genötigt, den gesellschaftlichen Organismus mit dem Einzelorganismus zu vergleichen. Dieser Vergleich ist logischer wie soziologischer Natur, da man, metaphorisch gesprochen, von einem gesellschaftlichen Körper oder einer Körperschaft, von dem Haupt und den Gliedern eines Verbandes, von seiner Organisation, seinen Organen und deren Funktionen, von der Einverleibung oder Eingliederung spricht. Eine gewisse Ähnlichkeit der Bestandteile mit dem Ganzen muß also vorhanden sein. Ein Vergleich sagt nichts anderes aus, als daß wir in dem gesellschaftlichen Körper die Lebenseinheit eines aus Teilen bestehenden Ganzen erkennen, wie wir sie außerdem nur bei den natürlichen Lebewesen wahrnehmen. Dabei darf man nicht vergessen, daß die innere Struktur eines Ganzen, dessen Teile Menschen sind, von einer Beschaffenheit sein muß, für die das Naturganze kein Vorbild bietet. Es existiert hier ein geistiger Zusammenhang, der durch psychisch motiviertes Handeln hergestellt und gestaltet, betätigt und gelöst wird. Hier endet das Reich der Naturwissenschaft und es beginnt das der Geisteswissenschaft. Wir betrachten das soziale Ganze gleich einem Einzelorganismus als ein Lebendiges und ordnen die Gemeinwesen zusammen mit den Einzelwesen dem Gattungsbegriff des Lebewesens unter. Die Gegner dieser Auffassung glauben, es sei völlig unzulässig, den „unsichtbaren" Verbänden ein selbständiges Leben zuzuschreiben, weil dadurch in die 99 Ebd., S. 13. 100 Ebd., S. 14/15. 3»
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sichtbare Wirklichkeit ein »übersinnliches* Element hineingetragen werde. Es ist jedoch nicht richtig, daß uns die sinnliche Wahrnehmung nichts über das Dasein von Verbänden zu sagen vermag. Das Verbandsleben spielt sich in einem körperlichen Ganzen ab, welches in äußere Erscheinung tritt. 101 Freilich sehen wir immer nur einzelne Bestandteile des (Staats-)Körpers. Während wir das Körperbild des einzelnen Menschen als Ganzes aufnehmen, vermögen wir das Körperliche des Staats nicht ohne weiteres als Ganzes anzusehen. Die Unzulänglichkeit der Sinne für den Totaleindruck beweist nichts gegen die äußere Gegenständlichkeit. Erscheint es folglich als in der Natur der Sache liegend, daß wir einem Verbände Persönlichkeit beimessen, so verknüpfen wir die Eigenschaft, ein konstantes Subjekt zu sein, mit dieser unsichtbaren Einheit. Beim einzelnen Menschen ist die Sache nicht anders gelagert: auch seine Lebenseinheit entzieht sich schlechthin der sinnlichen (Gesamt-)Wahrnehmung. Auch seine Persönlichkeit ist ein dieser unsichtbaren und nur aus ihren Wirkungen erschlossenes Attribut. Am wenigsten reichen die Sinne aus, um zu erkennen, inwieweit der Mensch als Individuum in sich beschlossen und inwieweit er vielmehr als Glied oder Organ einem sozialen Ganzen eingefügt ist. Es läßt sich durchaus sagen, daß überall da, wo wir Leben setzen, wir auch einen Träger des Lebens finden, der besondere Merkmale aufweist. Wir bemerken, daß er ein geordnetes, Teile aufnehmendes und ausscheidendes, durch zweckmäßiges Zusammenwirken der jeweiligen Teile sich erhaltendes Ganzes ist, dessen im Wechsel der Teile konstante und in der Summe der Arbeitsleistung der Teile wirkende Einheit nicht mit der Summe der Teile zusammenfällt. 102 Da wir - empirisch wie analytisch-begrifflich gesehen - nicht in der Lage sind, die spezifischen »substanziellen* Eigenschaften der Lebensträger festzustellen und zu beschreiben, bilden wir einen funktionalen Begriff des Lebensträgers und gebrauchen dafür die auf die eigenartige Struktur und Wirkungsweise des belebten Ganzen hinweisende Bezeichnung „Organismus**. Dieser Begriff ist genauso gut wissenschaftlich verwendbar wie jeder andere Begriff, der durch richtige Abstraktion von erkannten sozialen Tatbeständen gewonnen wird und somit einen Wirklichkeitsgehalt zutreffend ausdrückt. Die Legitimität eines solchen Begriffs hängt nicht von der Erklärbarkeit der ihm zugrundeliegenden sozialen Wirklichkeit ab. Ein unmittelbarer Beweis für das Dasein sozialer Lebenseinheiten läßt sich nicht führen, da auch die individuelle Lebenseinheit nicht unmittelbar erweislich ist. Wir vermögen jedoch das Dasein solcher Einheiten aus ihren Wirkungen zu erschließen. Die Beobachtung der gesellschaftlichen Vorgänge, inmitten derer unser Leben sich bewegt, zeigt uns, daß Volker und andere Gemeinschaften handelnd die Welt der Machtverhältnisse gestalten und materielle wie geistige Kultur hervorbringen. Die Gemeinschaft läßt sich als wirkendes Ganzes bezeichnen, d. h. als eine Wirkeinheit verstehen. Die der Gemeinschaft zugeschriebenen Wirkungen sind jedoch so beschaffen, daß sie sich aus der bloßen Summierung individueller Kräfte 101 Ebd., S. 18/19. 102 Ebd., S. 20, 21, 22.
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und Faktoren nicht erklären lassen. Sie können nicht von einem isolierten Menschen teilweise hervorgebracht werden, so daß die Gesamtleistung eine den Teilleistungen gleichartige und nur quantitativ gesteigerte Größe wäre, sondern sie sind ganz spezifischer Art. Machtorganisation, Recht, Sitte, Volkswirtschaft und Sprache sind Dinge oder besser: soziale Entitäten oder Fähigkeiten, bei denen dies sofort ins Auge fällt. Somit kann auch die wirkende Gemeinschaft nicht mit der Summe der sie bildenden Individuen zusammenfallen, sondern muß vielmehr ein Ganzes mit überindividueller Lebenseinheit sein. Der Rahmen der äußeren Erfahrung bleibt gewahrt, wenn wir aus den kulturgeschichtlichen Tatsachen das Dasein realer Verbandseinheiten folgern. Der Mensch wird sich bewußt, daß er am Verbandsleben partizipiert. Schöpft man daher aus der inneren Erfahrung die Gewißheit der Realität des Ich, so erstreckt sich diese Gewißheit nicht darauf, daß der Mensch individuelle Lebenseinheiten bildet, sondern zugleich darauf, daß er Teileinheit höherer Lebenseinheiten ist. Die höheren Lebenseinheiten freilich kann er in seinem Bewußtsein nicht finden, da es sich um soziale Emergenzphänomene handelt. Da er nur Teil des Ganzen ist, kann das Ganze nicht in ihm sein. Unmittelbar also kann er der inneren Erfahrung nur das Vorhandensein, dagegen nichts über die Beschaffenheit von Verbandseinheiten entnehmen.103 Für das rechtswissenschaftliche Problem, von dem ursprünglich ausgegangen wurde, kommen nur solche Gemeinschaften in Betracht, deren Einheit sich in einer rechtlichen Organisation ausprägt. Denn nur sie sind befähigt und berufen, als Personen in das Recht zu treten. Wo immer sich eine Gemeinschaft als rechtlich geordnetes Ganzes darstellt, da erhebt sich für das Recht auch die Frage, ob und mit welcher Wirkung die soziale Lebenseinheit als Verbandsperson anerkannt werden kann und soll. Und wo immer die Verbandsperson erscheint, da erwächst der Rechtswissenschaft die Aufgabe, die für das äußere und innere Verbandsleben geltenden Rechtssätze als Ausdruck der »leiblich-geistigen* Lebenseinheit des gesellschaftlichen Organismus zu begrenzen, zu ordnen und zu entfalten. Geht man davon aus, daß das Verbandsrecht eine Lebensordnung für soziale Lebewesen ist, dann muß der Teil des Verbandsrechts, der das innere Leben der Verbände ordnet, grundsätzlich verschieden von allem Recht sein, das die äußeren Beziehungen der als Subjekte anerkannten Lebewesen regelt. Das Recht muß sich entsprechend der Doppelnatur des Menschen, der ein Ganzes für sich und Teil eines höheren Ganzen ist, in zwei große Zweige spalten, die wir als Individualrecht und als Sozialrecht bezeichnen können. Im Sozialrecht müssen Begriffe walten, die im Individualrecht keinerlei Vorbild haben. Denn hier kann das, was in Ansehung der Einzelperson schlechthin der Ordnung durch Rechtssätze entzogen ist, der Ordnung durch Rechtssätze unterworfen werden. 104 Hier kann das Recht, weil und soweit das Innenleben des sozialen Organismus zugleich äußeres Leben von Menschen oder engeren Menschenverbänden ist, den Aufbau des lebendigen Ganzen aus seinen Tei103 Ebd., S. 24/25. 104 Ebd., S. 26, 21, 28.
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len und die Betätigung seiner Einheit in der Vielheit dieser Teile normativ bestimmen. Hier taucht der Rechtsbegriff der Verfassung auf. Die Zusammensetzung des gesellschaftlichen Körpers aus ihm zugehörigen Personen erscheint als durch Rechtssätze geordnet. So ergibt sich der Rechtsbegriff aus der Mitgliedschaft. Die Mitgliedschaft empfangt als Rechtszustand einen aus Rechten und Pflichten bestehenden Inhalt. Der in ihr ausgeschiedene Bereich des Lebens und Wirkens der Gliedperson wird gegen deren frei bleibenden Individualbereich abgegrenzt. Durch die Regelung ihres Erwerbes und Verlustes werden die Vorgänge der Eingliederung und Ausgliederung aus dem sozialen Körper zu Rechtsvorgängen erhoben. Durch Rechtssätze wird ferner die Gliederung dieses Körpers geordnet, indem jeder Gliedperson ihre Stelle im Ganzen angewiesen, Überordnung und Unterordnung eingeführt, Einordnung in zusammenhängende Gliedkomplexe verfügt, einem einzelnen Gliede vielleicht die Rechtsstellung des Haupts, anderen diejenige von Gliedern zuerkannt wird. Rechtssätze vor allem bestimmen die Organisation, vermöge deren diese zu einem Ganzen verbundenen Elemente eine Einheit bilden. Indem das Recht anordnet, daß und unter welchen Voraussetzungen in den Lebensäußerungen bestimmter Glieder oder Gliederkomplexe die Lebenseinheit des Ganzen zur rechtlichen Einheit kommt, stempelt es den Begriff des Organs zum Rechtsbegriff. Eine unübersehbare Fülle von bei den verschiedenen Verbänden höchst ungleichartigen und oft sehr verwickelten Normen dient dazu, Zahl und Art der Organe festzusetzen, jedem von ihnen einen abgegrenzten Wirkungsbereich als Kompetenz oder Zuständigkeit zuzuteilen, das Verhältnis der Organe zueinander zu ordnen, ihr Zusammenwirken, die Leitung der niederen Organe durch höhere Organe bis aufwärts zu einem höchsten Organ und die gegenseitige Kontrolle der Organe zu sichern, die Formen des Verfahrens bei Ausübung der Organfunktion vorzuschreiben und den Inhalt dieser Funktion ihrem Zwecke anzupassen. Dazu treten die Rechtssätze über die Bildung der Organe durch die jeweilig zur Organträgerschaft berufenen Einzelpersonen oder Personengesamtheiten, über Erwerb oder Verlust der Stellung und über das Verhältnis der Organpersönlichkeit zur Indiv/dwa/persönlichkeit der beteiligten Menschen. Durch das Organ offenbart sich also die unsichtbare Verbandsperson als wahrnehmende und urteilende, wollende und handelnde Einheit, die zugleich im eigenen Zweckhandeln ihre eigene Identität erlangt. Auch ihre inneren geistigen Vorgänge sind, soweit sie für die Organpersonen äußere Vorgänge sind, durch Rechtssätze geregelt. 105 Es kommt zu einer Beschäftigung des Rechts mit den drei Stadien des Willensvorganges: (1) der Anregung des Rechts, (2) dem Widerstreit der Antriebe und der Abwägung der Beweggründe, (3) dem Zustandekommen des endgültigen Entschlusses und dessen Umsetzen in die Tat. Das Sozialrecht besitzt die Besonderheit, Beziehungen zwischen dem einheitlichen Ganzen und dessen Teilen ausgestalten zu können. Als undenkbar ist ein 105 Ebd., S. 29/30.
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Rechtsverhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und seinen Gliedern oder Organen zu betrachten. Demgegenüber sind Rechte der Verbandspersonen an ihren Glied- und Organpersonen nicht zu leugnen. Sie gipfeln in der Staatsgewalt als dem höchsten Recht auf Erden und sind in vielfacher Abstufung in jeder Verbandsgewalt bis hinunter zur privaten Vereinsgewalt enthalten. Darüber hinaus sind auch Rechte der Glied- und Organpersonen an ihren Verbandspersonen, Rechte auf Anteil an Einrichtungen und Gütern des Verbandes, Rechte auf Mitbildung des Gemeinwillens, wie etwa Stimmrechte und Rechte auf eine besondere Glied- oder Organstellung zu berücksichtigen. Alle derartigen Rechtsverhältnisse haben eine völlig andere Struktur als die Rechtsverhältnisse des Individualrechts, die zwischen denselben Subjekten als Trägern freier Sonderbereiche bestehen können und bei denen auch der Staat und der einzelne Bürger einander wie beliebige Privatleute System sozialrechtlicher Normen mit der Eingliederung niederer gesellschaftlicher Organismen in höhere und zuletzt aller in das Gemeinwesen. Daraus ergibt sich konsequenterweise eine Vielzahl von Arten rechtlich geordneter sozialer Organismen, die unsere Kulturentwicklung in einem Prozeß der Differenzierung und Integration hervorgebracht hat. 106
3. Genese und Entwicklung des Körperschaftsbegriffs Der ursprünglich vom lateinischen Wort,corpus* stammende Ausdruck Korporation (der zunächst wörtlich und später im übertragenen Sinne von Körper verwendet wurde) bezeichnet heute den menschlichen, im Ansatz mit einer eigenständigen Organisation ausgestatteten Personalverband, der über eine mehr oder weniger selbständige rechtliche, wirtschaftliche und soziale Einheit verfügt. Er dient der gemeinschaftlichen Verfolgung überindividueller aber auch individueller Interessen und Zwecke der Mitglieder. Er bleibt in seiner Identität von einem Mitgliederwechsel, also dem Ein- und Austritt einzelner Mitglieder unberührt, da die Rechte und Pflichten der Körperschaft von denen der Mitglieder unterschieden werden müssen.107 Eine Analyse der Bedeutung des Begriffs der Korporation kann nicht nur auf der Grundlage der bisherigen juristischen Definitionsbemühungen als Resultat des sich wandelndem rechtlichen Sprachgebrauchs angesehen werden, sondern muß unter Berücksichtigung der in der juristischen Sprachverwendung nicht hinreichend reflektierten philosophischen Voraussetzungen und Implikationen erfolgen. In begriffsgeschichtlicher Hinsicht problemaufschließend hat sich dabei vor allem der Gedanke ausgewirkt, daß von Natur aus zwar nur der Mensch mit einem als Einheit zu begreifenden Geist, Bewußtsein und Willen begabt ist, die in der sichtbaren
106 Ebd., S. 32/33. 107 Werner Krawietz, Art. »Körperschaft 4, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Sp. 1101 -1134,1101 /1102.
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körperlichen Erscheinung der natürlichen Person sinnfällig zum Ausdruck gebracht wird, daß aber auch Verbindungen von Menschen zu einem Personenverband mit einer mehr oder weniger festen Organisation, deren Organe der Bildung eines Gemeinbewußtseins und eines Gemeinwillens dienen, unter der Bezeichnung Korporation gleichsam als ein einheitlicher sozialer Körper begriffen werden können. Dies hat zur Folge, daß im Hinblick auf die wirkliche bzw. im übertragenen Sinne bestehende Körperlichkeit von Rechts wegen nicht nur dem Menschen als natürlicher Person, sondern auch der Körperschaft als juristischer Person die Fähigkeit attribuiert zugeordnet werden kann, als Rechtssubjekt Träger von Rechten und Pflichten zu sein. 108 Althusius verstand den Staat, wie oben bereits dargelegt, innerhalb einer aufsteigenden Reihe körperschaftlicher Verbände, die von Familie und Gemeinde über die Provinz emporsteigt, als die umfassendste Vereinigung (consociatio), die das Volk zu einem corpus symbioticum zusammenschließt, nicht lediglich als einen Körper (unum corpus), sondern gleichsam als eine einzige Person. 109 Bei Hobbes erfolgte jedoch eine starke Betonung der Personifizierung, da er den Staat nicht mehr organisch, sondern eher mechanisch nach Maßgabe seiner individualistischen Vertragskonstruktion aus der Vereinigung der Individuen zur Staatsperson hervorgehen ließ. 110 Durch seine Unterscheidung zwischen physischen Personen (personae physicae) und moralischen Personen (personae moralae) konnte bei Pufendorf die Personifizierung des Staates nicht mehr als zweifelhaft erscheinen.111 Gleiches läßt sich auch über Wolff sagen, der die Staatsperson aus dem Zusammenschluß der Individuen zur Verfolgung gemeinschaftlicher Interessen ableitete, aber nur den Staat im Außenverhältnis „in Ansehung anderer Staaten mit Regenten und Unterthanen zusammen genommen als eine Person" sah, während er im Innenverhältnis zwischen der Obrigkeit und den Untertanen unterschied.112 Kant sieht den Staatsverband in seiner Rechtslehre im Hinblick auf Beziehungen des Staates zu anderen Staaten als eine einheitliche „moralische Person" an, um 108 Ebd., Sp. 1102. 109 Johannes Althusius, Politica (Herbornae Nassoviorum 1614) Praef. Fol 4r; Dicaelogicae libri très (Herbornae Nassoviorum 1617) lib. I, cap. VII (De hominibus natura coniunctis) Nr. 7, p. 17. 110 Thomas Hobbes, De cive, hrsg. Molesworth (Londini 1839-1845, Neudruck Aalen 1966) Vol. II, cap. V, § 9, p. 214; Leviathan, Vol. III, Introd. p. 1; cap. XVII, p. 131; cap. XVIII, p. 134, 139 sq; cap. I, p. 161. m Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo (Francofurti et Lipsiae 1744) lib. I., cap. I. (De origine et varietate entium moralium) § XIII, p. 14; lib. VII, cap. II (De interna civitatum structura) § XIII, p. 142 sq; lib. VII, cap. IV (De partibus summi imperii) § II, p. 168. De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo (Lipsiae 1715) lib. II, cap. VI (De interna civitatem structura) § 10, p. 541 sq. h 2 Christian Wolff, Institutiones iuris naturae et genrium (Halae Magdeburgicae 1750, Neudruck Hildesheim 1969) Pars III, Sect. II, Cap. Ill, § 1030, p. 635.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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jedoch innerhalb des Staates, aufbauend auf Jean-Jacques Rousseau, nicht nur der Regierung, sondern dem als Untertanenschaft begriffenen Volk eine eigene Person zuzubilligen, weil Souverän und Volk „rechtlich betrachtet immer zwei verschiedene moralische Personen" darstellen.113 Reduziert sich derart die Personifizierung des im Staate zusammengefaßten Volkes auf nicht weniger, aber auch nicht mehr als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" respektive innerhalb des Staates auf das von Verfassungs wegen gegründete Herrschaftsverhältnis zwischen Souverän und Volk, so wird man in der formalen, vernunftrechtlichen Konstruktion Immanuel Kants trotz seines Versuchs, den rationalen Charakter des Sozialvertrages zu erweisen, zunächst einmal kaum mehr erblicken wollen als die vernunftrechtliche Adaption von der Legistik längst geläufigen Gedankengängen. Demgegenüber ist die von einem mechanisch-individuellen Rechts- und Staatsdenken sich abwendende, metaphysisch-spekulative, die aristotelische Denktradition praktischer Philosophie wiederaufnehmende und fortführende Rechts- und Staatsphilosophie Hegels, die vom „Unterschied des Begriffs und seiner Realität" ausgeht und eben „damit in die Bestimmtheit und Besonderheit tritt", vor allem dadurch gekennzeichnet, daß für sie das Dasein des Rechts als „allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes" nicht begrifflich-abstrakt bleibt, sondern „vermittelt durch dieß Gewußt- und Gewolltseyn Gelten und objektive Wirklichkeit" als „positives Recht erlangt". 114 Von Savigny rückte den auf den einzelnen Menschen als solchen bezogenen , 3 egri ff der Person oder des Rechtssubjekts" in den Vordergrund seiner systematischen Bemühungen, so daß im Hinblick auf „die freye und rechtmäßige Macht des Menschen über sich selbst" eine körperschaftlich verfaßte Personenvielfalt „neben dem einzelnen Menschen" bei aller Eignung, als „Träger von Rechtsverhältnissen" zu dienen, „nur zu juristischen Zwecken angenommen" werden konnte und daher durchaus künstlich wirken mußte. Er ist der Auffassung, daß das Wesen der Korporationen darin besteht, das Subjekt der Rechte nicht in den einzelnen Mitgliedern (selbst nicht in allen Mitgliedern zusammengenommen) besteht, sondern in dem idealen Ganzen.115 Mit dieser romanistischen Fiktionstheorie wurde durch die der germanistischen Rechtstradition verpflichteten, auf eingehenden Detailanalysen des deutschen Genossenschaftsrechts beruhenden, leider unvollkommen gebliebenen Forschungen von Gierkes gebrochen. In seinen bis heute unübertroffen gebliebenen Studien vermochte er nicht nur begreiflich zu machen, „warum der Zivilistik, als sie auf 113 Imanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Met. Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), hrsg. Vorländer (1959), §§ 48 f., S. 139 ff., bes. § 49 A, S. 144 f.; § 53, S. 172. 114 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 207, S. 653; § 209, S. 654. 115 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts 1 (1839), S. 336; 2 (1840), S. 236, 239,243.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
Grund historischer Besinnung sich vom Naturrecht wieder abwandte, die Restauration der romanistisch-kanonistischen Korporationslehre gelang", „indem sie die scheinbar schon zu Grabe getragene Fiktionstheorie in schroffer Form zu neuem Leben erweckte, zum mindesten den Verbandsganzen als juristischen Personen* wiederum eine selbständige Daseinseinheit verschaffte", sondern er fand auch einen Weg, die der Realität kaum gerecht werdende Fiktionstheorie durch den „Zentralgedanken der realen Gesamtpersönlichkeit" zu ersetzen.116 Von der Annahme ausgehend, daß das positive Recht die organisierten Gemeinschaften - sofern es sie überhaupt als »juristische Personen" bezeichnet, um sie „wie die einzelnen Menschen" als „Subjekte von Rechten und Pflichten" zu behandeln - jedenfalls als „einheitliche Wesenheiten" begreift, „denen es Persönlichkeit zuschreibt", stellte er die entscheidende Frage, „welche Wirklichkeit diesem Rechtsphänomen zu Grunde liegt". 117 Da die Lehren Gierkes zum Genossenschaftsrecht und dem Wesen menschlicher Verbände einen wichtigen und unerläßlichen Grundstein zur Entwicklung eines Assoziationsbegriffes bilden, wird im Zusammenhang dieses kurzen Überblicks über ältere Lehren des Korporationsbegriffes nicht näher auf sie eingegangen, da das Werk Gierkes aufgrund seiner Bedeutung zu einem späteren Zeitpunkt, ausführlich gewürdigt wird. Jellinek ist der Auffassung, daß das Substrat der Korporationen stets Menschen sind, die eine Verbandseinheit bilden, deren leitender Wille durch Mitglieder des Verbandes selbst versorgt wird. Der Begriff der Korporation sei jedoch ein rein juristischer Begriff, eine Form der juristischen Synthese, um die rechtlichen Beziehungen der Verbandseinheit, ihr Verhältnis zur Rechtsordnung auszudrücken.118 Für die durchaus empirisch orientierte, durch tiefe Einsicht in Funktion und Struktur körperschaftlicher Verbandsbildungen geprägte Auffassung Jellineks sind in der Verbandseinheit der Körperschaft „Einheit des Ganzen und Vielheit der Glieder notwendig miteinander verknüpft", so daß „das Individuum eine doppelte Stellung erhält: als Verbandsglied und als verbandsfreie Individualität". Jedoch ist Einheit der Körperschaft stets „auf die Verbandszwecke beschränkt", so daß sie die menschlichen Individuen auch nur mitgliedschaftlich zu erfassen vermag. Danach ist der Staat die alle anderen einschließende und zugleich die notwendige Verbandseinheit. Jellinek wollte jedoch in diesem Staatsbegriff keine „Hypostasierung oder Fiktion" erblicken, weil die Staatspersönlichkeit nicht anderes sei als ein „Rechtssubjekt", das heißt die „Relation einer Einzel- oder Kollektivindividualität zur Rechtsordnung".119 Weit wichtiger für diese Theorie der Körperschaft dürfte 116
Otto von Gierke , Das deutsche Genossenschaftsrecht (1913, Neudruck 1954), Vorwort, S. IX ff. »? Ders., Das Wesen der menschlichen Verbände (1902, Neudruck 1954), S. 7. "8 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900, Neudruck 1914, 1959), S. 17, 20, 41 f., 174ff., 182 f., 183. Π9 Ebd., S. 179, 183.
§ 2 Körperschaft als Organisationsform assoziativer Zusammenschlüsse
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jedoch sein, daß mit der rechtsbegrifflichen Orientierung an den von ihr verfolgten Zwecken - exemplarisch belegt am Staate - auch die Grenzen aller körperschaftlicher Aktivitäten im Verhältnis zu ihren Mitgliedern deutlich wurden. Heute ist die Körperschaft - nach geltendem deutschem Recht - eine durchaus verschiedenartigen Erscheinungsformen gemeinschaftlichen Soziallebens Rechnung tragende, den Personen verband als solchen kennzeichnende, allgemeine rechtliche Organisationsform, die im privaten wie im öffentlichen Recht Verwendung findet. Mit dem Inkraftsetzen des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 entschied der Gesetzgeber, daß körperschaftliche Personenvielheiten unter bestimmten Voraussetzungen fähig sind, in ihrer Gesamteinheit als Träger eigener, von denen der Mitglieder geschiedener Rechte und Pflichten zu dienen, das heißt, als rechtsfähige Subjekte am Rechtsverkehr teilzunehmen, so daß für die juristische Entscheidungspraxis - nicht jedoch für die wissenschaftliche Herausbildung und Entwicklung eines Assoziationsbegriffs als Korrelat des Körperschaftsbegriffs - die alte Kontroverse um Begriff und Wesen der körperschaftlichen juristischen Personen an Aktualität eingebüßt hat. Begreift man die Körperschaft im wesentlichen als eine rechtliche Organisationsform menschlicher Verbände, die ihren eigenen Mitgliedern in der Regel als selbständige Rechtspersönlichkeit gegenübertritt, so kann die Relevanz des Begriffs der Körperschaft vor allem in seiner Variationsbreite und vielfältigen praktischen Verwendbarkeit erblickt werden. Die Körperschaft erweist sich damit - unbeschadet ihrer detaillierten normativen Ausgestaltung durch das Recht - dem allgemeinen rechtlichen Begriffe nach als eine von ihren romanistischen, legistisch-kanonistischen und philosophischen Voraussetzungen abgelöste juristische Zweckschöpfung, die im wesentlichen von einer gegenüber ihrer Herkunft sich verselbständigenden Jurisprudenz erarbeitet worden ist und heute weitgehend Eingang in das geltende, durch politische Entscheidung positivierte Recht gefunden hat. Diese Lage hat dazu geführt, daß die Frage nach dem Wesen und Begriff der Körperschaft gegenwärtig - einer verbreiteten Auffassung zufolge - als „praktisch ohne große Bedeutung" angesehen wird, so daß eine „Auseinandersetzung mit dem früheren Schrifttum weithin entbehrlich erscheint".120 Dabei wird jedoch übersehen, daß die Körperschaft wegen ihrer soz/û/strukturellen Elemente keineswegs ausschließlich, sondern nur zum Teil als Geschöpf der jeweiligen Rechtsordnung begriffen werden kann. Dies wird vollends deutlich, wenn man, wie dies im folgenden geschieht, in empirisch-analytischer Hinsicht von vornherein eine Orientierung an den sozialen Systemreferenzen in den Denkansatz einbezieht. Von einer Entbehrlichkeit der verschiedenen Theorien zum Körperschaftsbegriff kann jedenfalls heute nicht mehr die Rede sein. Zwar mag nach der Fassung des 120 Walter Löwe, Der Rechtsbegriff der Person, Evangelisches Staatslexikon (1975), S. 1803-1806, bes. S. 1804; Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts (1973), S. 485 ff.
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1. Abschn.: Assoziatives Beisammensein von Menschen
Bürgerlichen Gesetzbuches die Diskussion um den zutreffenden Körperschaftsbegriff rechtsdogmatisch an Relevanz verloren haben, für die Schaffung einer vom Körperschaftsbegriff ausgehenden und diesen weiterentwickelnden Theorie der Assoziationen ist sie nach wie vor von besonderer Bedeutung.
Zweiter Abschnitt
Verhältnis der Assoziationstheorie zu den Theorien der Rechtsgemeinschaft § 3 Gemeinschafts- und Gesellschaftstheorie nach Ferdinand Tönnies Derselbe Wirkungszusammenhang, der schon bei Gierke in seiner Theorie und Geschichte der deutschen Genossenschaft im Hinblick auf „Herrschaft" und „Genossenschaft" zutage trat, wird von Ferdinand Tönnies in seinem erstmals 1887 erschienen Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft" 121 wieder aufgegriffen und weitergeführt. Als Gemeinschaft und/oder Gesellschaft unterschied Tönnies „zwei Typen sozialer Verhältnisse" und menschlicher Beziehungsformen. Tönnies ging es um eine „strengere Unterscheidung" zwischen „natürlichen" und „künstlichen" Personenverbindungen, zwischen „ursprünglichen, immer fortwirkenden, familienhaften" und den durch „Kontrakt" und „Rationalität" bestimmten: Diesen mißt Tönnies den Charakter eines „Artefakts" und des „mechanischen Aggregats" bei, jenen den eines „Organismus".122 Diese beiden Typen sozialer Verhältnisse werden definiert als „zwei Typen individueller Willensgestaltungen". Gemeinschaft versteht Tönnies als natürliche und organische Form menschlicher Beziehung, da sie von den ihr Angehörenden um ihrer selbst willen, unmittelbar und gegenseitig bejaht wird im sogenannten , Wesens willen4. „Gesellschaft" hingegen habe den Charakter des Künstlichen und des Mechanischen, weil Gesellschaft das Ergebnis zweckhaften Handelns ist, also das Ergebnis von Interessen und Rationalität. „Gesellschaft" beruhe auf rationalen Vertragsverhältnissen, dem ,Kürwillen4 oder der »Willkür'. 123 Diese sehr komprimierte Zusammenfassung der elementaren Grundgedanken von Tönnies4 „Gemeinschaft und Gesellschaft" läßt erkennen, daß es sich bei diesem soziologischen Theorem um eine eigenständige Form der empi-
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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887. Im folgenden wird zitiert nach der 8. Aufl. von 1935, Nachdruck 1972; vgl. dazu auch: Eduard Georg Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tonnies, 1971, S. 52 ff, und 72 ff. 122 Ferdinand Tônnies f Gemeinschaft und Gesellschaft, S. XIV f. (aus der Vorrede zur zweiten Aufl.). Ebd., S. XV und XLV (aus der Vorrede zur 6. und 7. Aufl. von 1926); vgl. ebd., S. 87 ff. und Tonnies ' Artikel „Gemeinschaft und Gesellschaft", in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, S. 180 -191.
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2. Abschn.: Assoziationstheorie und Theorien der Rechtsgemeinschaft
risch-analytischen Begriffsbildung handelt, die zuvor im Laufe des 19. Jahrhunderts in Begriffen wie »Korporation4, »Assoziation4 und »freie Einung4 in anderer Weise bearbeitet wurden. Hierbei fällt insbesondere der Bezug zu dem von Gierke geprägten Begriff der »freien Einung4 auf. Als »freie Einung4 hatte Gierke in seiner Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaften eine soziale Bindung bezeichnet, die den „ganzen Menschen44 in allen seinen Lebensbereichen ergriff und ihn mit anderen Menschen „gleich Brüdern44 vereinte. Gierke betrachtete dies als eine Bindung, die zugleich im „freien Willen der Verbundenen44 ihren „Existenzgrund44 hatte, also auf Konsens, Vereinbarungen über Zwecke und „Willkür44 gegründet ist. Die ,freie Einung4 war nach Gierkes Auffassung eine „gewillkürte Genossenschaft 44.124 In Gierkes Begriff der »freien Einung4 ist also das »Ganzheitliche4 menschlicher Gemeinschaftsbildungen 125 in gleicher Weise aufgenommen wie die Rationalität und Zweckgebundenheit des Handelns von Individuen nach »Willkür4. Ebenso ist das Prinzip des gemachten, vereinbarten, gesetzten Rechts, des Handelns nach vertraglicher Bindung126 für Gierkes Begriff der »freien Einung4 von besonderer Bedeutung. Diese beiden Momente des »Ganzheitlichen4 und des »Rationalen4 werden nun aber in dem Begriffspaar »Gemeinschaft4/»Gesellschaft4 von Tonnies dichotomisch getrennt. Bei Tonnies ist die systematische Unterscheidung mit einer historischen Deutung verbunden. An Stelle der von Gierke herausgearbeiteten Dialektik von »Herrschaft 4 und »Genossenschaft4, die die verschiedenen Phasen der Geschichte wechselnd prägt, werden von Tönnies „in den großen Kulturentwicklungen44 untereinander „zwei Zeitalter44 gegenübergestellt, die linear aufeinander folgen: Dem „Zeitalter der Gemeinschaft44, gekennzeichnet durch den „sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion44, „folgt 44 historisch das „Zeitalter der Gesellschaft44, gekennzeichnet durch den „sozialen Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung 44 . 127 Das „unterscheidende Merkmal44 des Zeitalters der ,Gesellschaft4 ist nach Tönnies der „Rationalismus und die rationale Mechanisierung der Produktion, ja der ,Welt444 überhaupt.128 Dem „wesentlich negativen und 124 Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft (Das deutsche Genossenschaftsrecht 1), 1868, Nachdruck 1954, S. 221 und 226 f. sowie 233. 125 In der Gierke-Forschung ist die Bedeutung des Organismus-Gedankens bei Gierke sehr akzentuiert worden, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 1961, S. 147 ff.; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967» S. 455; Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, 1971, S. 173 f. Es ist zu betonen, daß - im Gegensatz zum Spätwerk Gierkes (vgl. etwa O. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, Nachdruck 1954, S. 13 ff.) - in der »Rechtsgeschichte4 von 1868 dieser Gedanke keine herausragende Rolle spielt. Die Frage, ob und inwieweit das spätere Werk Gierkes von zeitgenössischen Denkmustern, etwa von dem von Tonnies ausgelösten ,Gemeinschafts'-Denken beeinflußt ist, wäre erst noch zu prüfen. Jedenfalls darf man das frühe Werk Gierkes nicht einfach im Lichte seiner späteren »»Wendung44 von der »»Genossenschaftstheorie zum Konservativismus44 betrachten. 126 Otto von Gierke, Rechtsgeschichte» S. 359. Zu dem hier verwendeten Begriff der »gewillkürten Genossenschaft4 vgl. ebd., S. 221 und 297. 127 Ferdinand Tonnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 251. ι2« Ebd., S. XVII. (Aus der Vorrede zur 2. Aufl. von 1912.)
§ 3 Gemeinschafts- und Gesellschaftstheorie nach Ferdinand Tönnies
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revolutionären Charakter der Neuzeit" (sc. der Moderne) stellt Tonnies deshalb konsequent „das Vorwalten einer positiven und organischen Ordnung im Mittelalter" gegenüber.129 Menschliches Zusammenwirken wird somit unter zweierlei Formen begreifbar. „Entweder als reales und organisches Leben ... - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung - dies ist der Begriff der Gesellschaft. ... Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben ... wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde." 130
Wie oben bereits dargelegt, wird »Gemeinschaft4 nach Tonnies verstanden „als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft dagegen als ein mechanisches Aggregat und Artefact". 131 Ist »Gemeinschaft4 das Verbunden-Sein „trotz aller Trennungen44, so ist »Gesellschaft4 demgegenüber das Getrennt-Bleiben „trotz aller Verbundenheiten 44 . 132 Gesellschaft wird von Tönnies begriffen als „eine Menge von natürlichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Beziehungen zueinander und in zahlreichen Verbindungen miteinander stehen, und doch voneinander unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen bleiben44: In der Gesellschaft ist „ein jeder für sich allein und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen. Die Gebiete ihrer Tätigkeit und ihrer Macht sind mit Schärfe gegeneinander abgegrenzt, so daß jeder dem anderen Berührungen und Eintritt verwehrt, als welche gleich Feindseligkeiten geachtet werden. Solche negative Haltung ist das normale und immer zugrunde liegende Verhältnis dieser Macht-Subjekte gegeneinander und bezeichnet die Gesellschaft im Zustande der Ruhe. Keiner wird für den anderen etwas tun und leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welches er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet."133
»Gesellschaft4 bedeutet nach Tönnies also auch Differenzierung, Arbeitsteilung, Rationalität das Vorherrschen der Zwecke, die Auflösung ,gemeinschaftlicher 4 Bindungen, den Verlust von Bindungen, Solidaritäten und Normen überhaupt.134 »Gemeinschaft4 ist also nicht nur der ältere, sondern auch höher stehende Typus sozialer Verhältnisse. »Gesellschaft4 ist für Tönnies infolgedessen schließlich nur „der gesetzmäßig-normale Prozeß des Verfalls aller »Gemeinschaft444. 1 3 5
129 Ebd., S. XI. 130
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887, S. 3 f. 131 Ebd., S. 5. 132 Ebd., S. 46. 133 Ebd., S. 60 und 46. 134 Ebd., S. 282 ff. 135 Ferdinand Tönnies, Zur Einleitung in die Soziologie, in: ders., Soziologische Studien und Kritiken 1, Jena 1925, S. 65-74, 71.
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2. Abschn.: Assoziationstheorie und Theorien der Rechtsgemeinschaft
In seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft" erwähnt Ferdinand Tönnies explizit den Begriff der Assoziation in soziologischer Hinsicht.136 Dabei zielen seine Betrachtungen auf eine mögliche Parallele zwischen der Assoziation von Menschen und der von Ideen. Er führt, wohl inspiriert durch die sogen. Assoziationspsychologie zunächst Gedanken zur Assoziation von Ideen aus. Nach Tönnies sind die Gesetze der Assoziationen von Ideen überaus mannigfaltig, da ihre möglichen Zusammenhänge und Berührungen unzählige sind. 137 Er glaubte, daß die individuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem einen auf das andere überzugehen, aus dem einen das andere erzeugen, höchst verschiedene und mit der ganzen Konstitution des Leibes und des Geistes, wie sie durch alle Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat, verwachsen, weil daraus hervorgegangen ist. 138 Bisher durchaus bedingt durch das Werk und von der Idee desselben getragen, reißt sich nun das Denken davon los und setzt das Ende und den Erfolg für sich hin als Zweck, das Werk selber aber als ob es davon getrennt und verschieden wäre, als Mittel und nützliche Ursache, so aber nicht wesentlich und notwendig, sofern viele Wege zu demselben Ziel führen oder viele Ursachen dieselbe Wirkung haben können und nun versucht wird, das beste Mittel zu finden, das Verhältnis von Mittel und Zweck möglichst zugunsten des Zweckes zu gestalten. Sofern aber der Erfolg durch irgendwelche Mittel wirklich bedingt zu sein scheint, so ist dieses Mittel auch die notwendige Ursache und muß angewandt werden. 139 Tönnies kommt zu dem Schluß, daß die Assoziation der Ideen analog der Assoziation von Menschen ist. Die Gedankenverbindungen, die den Wesenswillen darstellen, entsprechen der Gemeinschaft, diejenigen, welche den Kürwillen bedeuten, entsprechen der Gesellschaft. 140 Unter dem Wesenswillen des Menschen versteht Tönnies das psychologische Äquivalent des menschlichen Leibes oder das Prinzip der Einheit des Lebens, sofern dieses unter derjenigen Form der Wirklichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört. Es involviert das Denken, wie der Organismus diejenigen Zellen des Großhirns enthält, deren Erregungen als dem Denken entsprechende physiologische Tätigkeiten vorgestellt werden müssen. Kürwille ist ein Gebilde des Denkens selber, welchem daher nur in Beziehung auf seinen Urheber - das Subjekt des Denkens - eigentliche Wirklichkeit zukommt. Der Wesenswille ruht in der Vergangenheit und muß daraus erklärt werden, wie das Werdende aus ihm. Der Kürwille läßt sich nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf es bezogen ist. 141 Die Individualität des Menschen ist so fiktiv, wie das individuelle und iso-
136 Ferdinand Tonnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887, Nachdruck 1963 unter Zugrundelegung der 8. Aufl. von 1935), S. 122- 124. 137 Ebd., S. 122. 138 Ebd., S. 123.
139 Ebd., S. 124. 140 Ebd., S. 124. >4i Ebd., S. 87 und 88.
§ 4 Soziale Beziehungslehre bei Georg Simmel und Leopold von Wiese
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lierte Dasein eines Zweckes und eines dazugehörigen Mittels. Tonnies hat schon früher auf diese Problematik hingewiesen, insbesondere auf den fundamentalen Unterschied, ob die Ideen von Zweck und Mittel einander einschließen, von Natur aus zusammengehörig sind und einander bejahen, oder ob sie von Natur aus Feinde sind, einander ausschließen und verneinen. Nach Tönnies ist ohne die Erkenntnis und die Anerkennung dieses psychologischen Gegensatzes das soziologische Verständnis der hier dargestellten Begriffe unmöglich.142 Insbesondere sind die Willensformen des Gefallens, der Gewohnheit, des Gedächtnisses den gemeinschaftlichen Verbanden so wesentlich und für sie so charakteristisch, wie die des Bedachtes, des Beschlusses und des Begriffes des Gesellschaftlichen. Dort wie hier stellen sie eben die Bindungen dar.
§ 4 Soziale Beziehungslehre bei Georg Simmel und Leopold von Wiese 1. Simmeis Begriff der Vergesellschaftung Kurze Zeit nach dem Erscheinen von Tönnies* Werk und zum Ende der 1880er Jahre begann Georg Simmel die Arbeit an seiner Theorie der Moderne. 143 Sie wurde 1900 unter dem Titel »Philosophie des Geldes* veröffentlicht. 144 Das Geld ist für Simmel das deutlichste Symbol, das typischste Kennzeichen der „modernen Kultur", der „modernen Zeit", des „modernen Lebens". Denn das Geld verweise am deutlichsten darauf, daß der moderne Mensch „die Wirklichkeit, die konkrete, historische, erfahrbare Erscheinung der Welt", in einem „absoluten Fluß" erfährt. Das Geld repräsentiert für Simmel den „absoluten Bewegungscharakter der Welt", die ständige Veränderung und Bewegung, den Übergang, die „Nicht-Dauer". 145 Das Geld ist „nichts als Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht in Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus, es lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins".146 Dieser Sachverhalt wird von Simmel in einer Gegenüberstellung von Mittelalter und Moderne er142 Ebd., S. 88. 143 David Frisby, Soziologie und Moderne: Ferdinand Tonnies, Georg Simmel und Max Weber, in: Simmel und die frühen Soziologen, S. 196-221; zu Simmel neuerdings: Heinz Jürgen Dahme, Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmeis Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie, 2. Bde., Stuttgart 1981; Otto Gerhard Oexle, Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, hrsgg. von Lothar Gall, Beihefte Band 17, München 1994, S. 115 — 161, S. 125-128. 144 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (Gesammelte Werke Bd. 1), Berlin 1977. 145 Ebd., S. 582. 146 Ebd., S. 583. 4 Simon
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2. Abschn.: Assoziationstheorie und Theorien der Rechtsgemeinschaft
örtert. Dabei geht es um das Problem der Freiheit und der Bindung des Individuums. Das Geld hat „eine ganz neue Proportion zwischen Freiheit und Bindung" entstehen lassen. Es ist „einerseits Mittel und Rückhalt der persönlichen Freiheit", es bewirkt und bedeutet deshalb die „Herausarbeitung des Individuellsten", die „Unabhängigkeit einer Person" und die „Selbständigkeit ihrer Ausbildung" - zugleich aber auch deren „Nivellierung" und »Ausgleichung" und „die Herstellung immer umfassenderer sozialer Kreise durch die Verbindung der Entlegensten unter gleichen Bedingungen".147 Es bewirkt und bedeutet ferner auch eine „unvergleichliche Objektivität" in den „sachlichen Lebensinhalten". Denn in der Technik, den Organisationen jeder Art, den Betrieben und Berufen gelangen mehr und mehr die eigenen Gesetze der Dinge zur Herrschaft und befreien sie von der Färbung durch Einzelpersönlichkeiten. Dieser Sachverhalt ist nach Simmel genuin neuzeitlich. Die Neuzeit sei es, die „Subjekt und Objekt" in dieser Weise „gegeneinander verselbständigt habe". 148 Gerade darin zeige sich aber nun der Gegensatz zwischen der im Zeichen der Geldwirtschaft konstituierten Moderne zu den „naturwissenschaftlichen Zeiten", dem Mittelalter. Denn „im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Korporation. Seine Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche Interessenkreise, und die letzten wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstört." 149 Simmel verdeutlicht dies an dem Gegensatz zwischen der mittelalterlichen Zunft (Korporation) und der modernen Assoziation: „Die mittelalterliche Korporation Schloß den ganzen Menschen in sich ein; eine Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen, welche die bloßen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und vieler sonstiger Hinsichten. Um welche fachlichen Interessen sich die mittelalterliche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz unmittelbar in ihren Mitgliedern, und diese gingen restlos in ihr auf. Im Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft jene unzähligen Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geldbeträge verlangen oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen. Dadurch wird einerseits die reine Sachlichkeit in der Vornahme der Assoziation, ihr rein technischer Charakter, ihre Gelöstheit von personaler Färbung ermöglicht, andererseits das Subjekt von einengenden Bindungen befreit, weil es jetzt nicht mehr als ganze Person, sondern in der Hauptsache durch Hingeben und Empfangen von Geld mit dem Ganzen verbunden ist." 150 Oder noch einmal in anderer Formulierung: Im Gegensatz zur mittelalterlichen Korporation als einem ganzheitlichen Lebensverband bietet die mo147
Georg Simmel, Das Geld in der modernen Kultur, 1896, in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hrsg. und eingeleitet von Hans-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M., 1983, S. 78-94, 82 f. 148 Ebd., S. 78. 149 Ebd., S. 78. 150 Georg Simmel, Das Geld in der modernen Kultur, S. 79 f.
§ 4 Soziale Beziehungslehre bei Georg Simmel und Leopold von Wiese
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derne Assoziation als ein partikulärer Zweckverband dem Individuum die Möglichkeit, „objektive Zwecke" zu fordern oder zu genießen, ohne daß diese Bindung irgendeine Bindung mit sich brächte. Denn das Geld „hat den Zweckverband zu seinen reinen Formen entwickelt, jene Organisationsart, die sozusagen das Unpersönliche an den Individuen zu einer Aktion vereinigt und uns die Möglichkeit gelehrt hat, wie sich Personen unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen vereinigen können".151 Man erkennt also, wie auch Simmel in seiner »Philosophie des Geldes4 die Moderne über deren Gegensatz zum Mittelalter definiert und dabei zugleich über den Gegensatz unterschiedlicher Formen der Gemeinschaftsbildung, den Gegensatz von ,Korporation4 und ,Assoziation* präzisierend zu beschreiben versucht. In diesem Interesse an dem Problem von Freiheit und Bindung des Individuums und an den unterschiedlichen Formen der gemeinschaftlichen Bindung - im Mittelalter und in der Moderne gegensätzlich verstanden wurzelt auch Simmeis Programm einer Soziologie, deren Grundeinsicht ist, daß „der Mensch ... in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt (ist), daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt", und deren Grundproblem deshalb die Frage nach den „Formen der Vergesellschaftung" darstellt. 152 Es ist das Thema von Simmeis »Soziologie* von 1908. Sie interessiert sich für die Beziehungen und Formen, in denen sich die Menschen vergesellschaften, für die „in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form**, in der die Individuen aufgrund ihrer Interessen „zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren sich diese Interessen sich verwirklichen**. Als »Gesellschaft* wird dabei zum * einen verstanden der „Komplex vergesellschafteter Individuen** im Ganzen» zum anderen auch „die Summe jener Beziehungsformen, vermöge deren aus den Individuen eben die Gesellschaft im ersten Sinne wird**. 153 Das Phänomen der Gesellschaft wird also wesentlich über soziale Gemeinschaftsbildungen definiert. So deutlich Simmel in seiner Theorie der Formen der Vergesellschaftung auch den schlichten Gegensatz von (mittelalterlicher) »Gemeinschaft* und moderner »Gesellschaft* hinter sich läßt und so wenig er Tönnies Wunsch nach einer „Vernichtung** der modernen Gesellschaft teilt, so ist auch Simmeis Beurteilung der Moderne und der modernen Kultur pessimistisch.154 Denn er akzentuiert den Gegensatz zwischen der objektiv gegebenen Zunahme der dinglichen Kulturgüter („Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst**) auf der einen Seite, während auf der anderen Seite die „subjektive Kultur**, die „Kultur der Individuen ... keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen** sei. 155 Dieser Pessimismus ist, wie bei Tbnnies, auch bei 151 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: Das freie Wort 1, 1901/02, S. 170-174; wieder in: ders., Philosophie des Geldes (Gesamtausgabe, Bd. 6), Frankfurt a. M., 1989, S. 721. 152 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesammelte Werke, Bd. 2), 5. Aufl., Berlin 1968, S. 2. 153 Ebd., S. 5 und 8. 154 David Frisby, Soziologie und Moderne, S. 207 ff.
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Simmel begründet in einer historischen Reflexion über den Gegensatz von Moderne und Mittelalter. In seiner erstmals 1908 erschienenen und für diesen Zweig der Wissenschaft wegweisenden »Soziologie4 beschäftigt sich Georg Simmel mit der Entstehung der menschlichen Gesellschaft und der Art und Weise der Existenz entstandener sozialer Kreise. In einem Exkurs stellt er sich die Frage: »»Wie ist Gesellschaft möglich?", und unternimmt einen Versuch, die Bildung sozialer Kreise oder der Gesellschaft überhaupt durch die Beleuchtung der ihr zugrundeliegenden psychologischen Beweggründe und Motivationen erklären. Grundlage der Ermittlung ihrer Lösung ist die Hypostasierung mit der von Kant gestellten Frage nach der Möglichkeit von Natur. Simmel glaubt, daß sich die Frage nach der Möglichkeit von Natur, das heißt also nach den Bedingungen, die vorliegen müssen, damit es eine Natur gebe, sich für Kant durch die Aufsuchung der Formen löst, die das Wesen unseres Intellekts ausmachen und damit die Natur als solche zustande bringen. Die Frage nach der Natur hat nach Simmel einen gänzlich anderen methodischen Sinn als die nach der Gesellschaft. Auf erstere antworten die Erkenntnisformen, durch die das Subjekt die Synthese gegebener Elemente zur „Natur" vollzieht, auf die letztere aber die in den Elementen selbst a priori gelegenen Bedingungen, durch die sie sich realiter zu der Synthese „Gesellschaft" verbinden. Der gesamte Inhalt des Werkes »Soziologie4, wie er sich aufgrund des vorange* stellten Prinzips entwickelt, ist nach Simmeis Ausführungen in gewisser Weise der Ansatz zur Beantwortung eben dieser Frage. Dies soll mit Hilfe des Aufsuchens der sich in Individuen vollziehenden Vorgänge gelingen, die das Gesellschafts-Sein dieser bedingen. Die Vorgänge sollen nicht als Ursachen für das Resultat der Vergesellschaftung betrachtet werden, sondern als Teilvorgänge der Synthese, die wir zusammenfassend die »Gesellschaft4 nennen.156 Simmel widmet sich in diesem Zusammenhang den hinter der Vergesellschaftung stehenden psychischen Faktoren und Momenten. Er glaubt, daß das Bewußtsein, Gesellschaft zu bilden, zwar nicht in abstrakter Form jedem Einzelnen gegenwärtig ist, aber immerhin weiß jeder den anderen als mit ihm verbunden, so sehr dieses Wissen um den anderen als den Vergesellschafteten, dieses Wissen und Erkennen sich nur an einzelnen, konkreten Inhalten gemeinschaftlichen Erlebens und Handelns zu vollziehen pflegt. Das, was nach Simmel von Fall zu Fall als der »generelle4 Begriff der Vergesellschaftung auf seine Bedingungen hin untersucht werden soll» ist etwas Erkenntnisartiges, nämlich das soziale Bewußtsein zu vergesellschaften oder vergesellschaftet 155
Georg Simmel, Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur (1900), in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hrsg. und eingeleitet von Heinz Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, S. 95-128» 97. 156 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesammelte Werke Bd. 2» 1. Aufl. 1908» hier basierend auf der 6. Aufl. 1983.
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zu sein. Er nennt es eher ein Wissen als ein Erkennen, da das Subjekt nicht einem Objekt gegenüber steht, von dem ein theoretisches Bild gewonnen werden soll. Jenes Bewußtsein ist unmittelbar deren innere Bedeutung oder Träger. Simmel geht von der Existenz eines tiefsten Individualitätspunkts eines jeden Menschen aus, der von keinem, bei dem dieser Punkt qualitativ abweichend ist, innerlich nachgeformt werden kann. Man ist von der Vorstellung geleitet, jeden Menschen einem bestimmten Typus zuzuordnen, zu dem seine Individualität ihn gehören läßt. Dies zieht besondere Folgen für das praktische Verhalten gegenüber diesem Menschen nach sich. Freilich decken sich diese Ordnungskategorie und die dem Menschen innewohnende Individualität nicht. Die Praxis des Lebens drängt uns zur Formung eines Bildes des Menschen aus realen Stücken, die empirisch bekannt sind. Dies hat zur Folge, daß innerhalb eines Kreises, der in irgendeiner Gemeinsamkeit, wie etwa Beruf oder Interessen, zusammengehört, jedes Mitglied das jeweils andere gerade nicht empirisch, sondern aufgrund eines sozialen Apriori sieht, das dieser Kreis jedem an ihm teilhabenden auferlegt. Der Individualität wird, indem sie zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen wird, zugleich eine neue Form gegeben. Somit wird die individuelle Persönlichkeit und Wirklichkeit des Einzelnen in der Vorstellung des anderen auf eine von seiner Soziabilität geforderte Qualität und Form gebracht. Das Wesen des sozialen Verkehrs beruht gerade darauf, daß jeder dem jeweils anderen in einer bestimmten Kategorie, also als Träger einer bestimmten sozialen Rolle gegenübertritt. Jeder Mensch erfüllt jedoch nicht nur eine soziale Rolle, sondern ist kategorial durch die Zugehörigkeit zu vielen sozialen Rollen und Ämtern gekennzeichnet. Er ist etwa Kaufmann, Student und Vereinsmitglied in einer Person und tritt von Fall zu Fall in der jeweils relevanten Rolle auf. Die »Gesellschaft* stellt ein Gebilde aus sozialen Wesenheiten dar, die zugleich innerhalb und außerhalb desselben stehen. Damit erzeugt die Gesellschaft die wohl allgemeinste Ausgestaltung diverser Grundformen des sozialen Lebens. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, daß die individuelle Person nicht innerhalb einer sozialen Verbindung stehen kann, ohne zugleich außerhalb ihrer selbst zu stehen und umgekehrt. Wir wissen uns einerseits als Produkte der Gesellschaft, andererseits als ihre Glieder. 157 Der Lebensinhalt des Menschen, der - soziologische betrachtet - restlos aus den sozialen Antezedentien und Wechselbeziehungen erklärbar sein mag, muß jedoch gleichzeitig auch unter dem Aspekt des konkreten Einzellebens betrachtet werden, gleichsam als Erleben und Handeln des Individuums und vollkommen auf dieses hin orientiert. Das Individuum befindet sich damit in einer Doppelstellung: es ist ein Glied des Organismus der Gesellschaft und zugleich in sich selbst ein geschlossenes organisches Ganzes, das innerhalb und außerhalb, d. h. zwischen Individuum und Gesellschaft nicht zwei nebeneinander stehende Bestimmungen darstellt, sondern die ganze, einheitliche Position des sozial lebenden Menschen bezeichnet.158 157 Vgl. ebd., S. 23-27.
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Bei der Gesellschaft handelt es sich um ein Gebilde, das sich aus ungleichen Elementen zusammensetzt. Eine Gleichheit der Menschen läßt sich selbst durch verschiedene politische, die „Gleichheit" erstrebende Systeme nicht erreichen, da es sich dabei nur um die Erreichung der Gleichwertigkeit der Personen, der Leistungen oder Positionen handelt. Eine Gleichheit der Menschen nach ihren Beschaffenheiten, Lebensinhalten und Schicksalen ist ausgeschlossen. Das Leben verläuft - nicht in sozialpsychologischer, sondern in phänomenologischer Hinsicht, auf seine sozialen Inhalte als solche angesehen - so als ob jedes Element im Hinblick auf seine Stelle in diesem Ganzen vorherbestimmt wäre. Diese Stelle beruht auf der jedem Einzelnen innewohnenden besonderen Individualität. Unter Voraussetzung dieser zum Verständnis des nun Folgenden wichtigen Gedankengänge wende ich mich nun der für die Theorie der Assoziationen relevanten Kreuzung sozialer Kreise zu, die ebenfalls aus der Feder Simmeis stammt.159 Nach Simmel findet sich der Einzelne in einer Umgebung vor, die, ohne auf seine Individualität Rücksicht zu nehmen, ihn an sein Schicksal bindet und ihn zu einem engen Zusammensein mit den Personen zwingt, neben die ihn der Zufall gestellt hat. Der Fortgang dieser phylo- und ontogenetischen Entwicklung hat nun die Bildung assoziativer Verhältnisse (Simmel verwendet hier explizit die Begriffe „assoziativ" oder Assoziation"!) und homogener Bestandteile aus heterogenen Kreisen zum Ziel. Die Familie etwa umschließt eine Anzahl verschiedenartiger Individualitäten, die zunächst auf diese Verbindungen in höchstem Maße angewiesen sind. Die Folge fortschreitender Entwicklung ist die Tatsache, daß der Einzelne ein Band zu Persönlichkeiten spinnt, die sich außerhalb des ursprünglichen Assoziationskreises befinden. Diese Persönlichkeiten besitzen durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen oder Tätigkeiten eine Beziehung zu ihm. Folglich ergibt sich mehr und mehr ein Ersatz der Assoziation durch äußeres Zusammensein und durch deren inhaltliche Beziehungen. Höhere praktische Gesichtspunkte schließen die gleichen Individuen aus durchaus fremden und unverbundenen Gruppen zusammen. Es stellen sich neue Berührungskreise her, welche die früheren, relativ mehr naturgegebenen, mehr durch sinnlichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannigfaltigsten Winkeln durchsetzen. Die bis dahin hauptsächlich vom terminus a quo her bestimmte Zusammengehörigkeit ist auf das radikalste durch die Synthese nach dem Gesichtspunkt des Zweckes, des innerlich-sachlichen oder, anders gesagt, individuellen Interesses ersetzt worden. Als Beispiel für die Entstehung assoziativer Zusammenschlüsse werden von Simmel die englischen Gewerkschaftsvereine zum Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts angeführt. In diesen Vereinen herrschte ursprünglich die Ten158 Ebd., S. 28. 159 Ebd., S. 28/29.
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denz zum lokalen Ausschluß einzelner Gruppierungen. Die von auswärts kommenden Arbeiter wurden ausgeschlossen. Reibungen und Eifersüchteleien zwischen den getrennten Abteilungen blieben nicht aus. Durch die allmähliche, einheitliche Zusammenfassung des Gewerbes im gesamten Lande wurde dieser Zustand der Segregation der verschiedenen Gruppen langsam aufgelöst. Obwohl die Arbeiter zunächst nur aufgrund der gleichen Arbeit assoziiert waren, lag unter diesen Voraussetzungen der Akzent der Assoziation auf der lokalen Nachbarschaft. Ohne Zweifel führte dies zu einer näheren Berührung des einzelnen Gewerbes mit den Vereinigungen inhaltlich verschiedener, aber am gleichen Ort bestehender Gewerbe. Von dieser Beziehung rückt die Entwicklung den Verein ab, indem die Gleichheit der Beschäftigung zur alleinigen Bestimmung seiner Beziehungen wurde. Das Gewerbe wurde gleichsam zur „Regierungseinheit" der Arbeiterorganisation. Der Grundgedanke dieses Wandels ist die Tatsache, daß die Zugehörigkeit zu einem Gewerbe im allgemeinen mehr individuelle Wahlfreiheit schafft als die zu einer geographischen Herkunft. Zwar wird eine Bindung nicht gänzlich aufgehoben; es wird jedoch zu einer Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist. 160 Als weiteres Beispiel mag die Jugend als Faktor der Assoziierung angeführt werden. Mit oft erstaunlicher Gleichgültigkeit gegen ihre Individualität fühlt sich etwa Jugend zu Jugend hingezogen. Die Einteilung in Altersklassen ist eine Vereinigung von Personalität und Objektivität in dem Motiv der Klassenbildung. Die Gegensätze des Organischen und Rationalen werden hier zusammengebracht: eine organische und zugleich physiologische Tatsache, die alle Einzelnen kennzeichnet, wird in analytisch-begrifflicher Hinsicht durch bewußte Synthese zum symbolischen Vereinigungsmittel, die rein naturhafte und personale Bestimmtheit des Lebensalters wirkt im sozialen Zusammenhang als völlig objektives Prinzip. Es wird deutlich, daß dieser feste und nicht gewillkürte Anhaltspunkt, der inhaltlich sehr unmittelbar anschaulich und bestimmend ist, große Bedeutung für die soziale Struktur gewinnt. Als weiteres Beispiel eines an objektiven Gesichtspunkten orientierten sozialen Kreises kann die Familie angeführt werden. Ihre ursprüngliche Bedeutung als soziales Gebilde wird dadurch modifiziert, daß die Individualität des Einzelnen diesen auch in anderweitige Kreise einreiht. 161 All dies impliziert die Besonderheit, den Einzelnen nicht nur als Einzelnen, sondern zugleich als Mitglied eines Kreises zu begreifen und ihn als solches weiteren Kreisen einzugliedern. Die Vereinigung von Vereinigungen stellt das Individuum in eine Mehrheit von Kreisen. Da die Kreise sich nicht unbedingt schneiden müssen, haben sie zur Individualität ein eigenes Verhältnis. So lebte etwa in der mittelalterlichen Einung der Gedanke, daß nur die Gleichen sich vereinen könnten. Es ergeben sich nun bestimmte Folgen. Simmel glaubt, die Gemeinschaften und sozialen Verbindungen, zu denen der Einzelne gehört, als eine Art Koordinatensystem betrachten zu können. Dies soll derart geschehen, daß das Individuum von 160 Ebd., S. 305/306. 161 Ebd., S. 309.
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jeder neu hinzukommenden Gemeinschaft genauer und unzweideutiger bestimmt wird. Bei Zugehörigkeit zu je einer verbleibt der Individualität noch ein gewisser Spielraum. Aber je mehr sozialen Gemeinschaften der einzelne Mensch angehört, desto unwahrscheinlicher wird es sein, daß noch andere Personen die gleichen Merkmalskombination aufweisen können, so daß sich die Kreise noch einmal in einem gemeinsamen Punkt schneiden. Genauso, wie der konkrete Gegenstand für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man ihn im Wege der Abstraktion unter einen bestimmten Begriff bringt, so gewinnt man sie in dem Maße wieder, in dem die anderen Begriffe hervorgehoben werden, durch die seine anderen Eigenschaften ihn qualifizieren. Jedes Ding hat an so vielen Ideen teil, wie es Qualitäten besitzt und dadurch seine individuelle Bestimmtheit erlangt. Genau so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber den Kreisen, denen sie angehört.162 Die soziologische Bestimmtheit des Individuums wird umso größer sein, wenn die bestimmenden Kreise eher nebeneinander liegende als konzentrische sind. Allmählich sich verengende Kreise, wie etwa Nation, soziale Stellung oder Beruf als singuläre Kategorien innerhalb dieses Kreises, werden der an ihnen teilhabenden Person keine besonders individuelle Stelle zuweisen, da der engste der Kreise ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet. Jedoch bestimmen diese gleichsam ineinander gestülpten Verbindungen ihre Individuen nicht immer in einheitlicher Weise. Das Verhältnis der Konzentrität kann ein mechanisches statt eines organischen sein, so daß sie trotz dieses Verhältnisses auf ihre Einzelnen wie in einem unabhängigen Nebeneinander einwirken. Als Beispiel sei das Prinzip des bis-in-idem angeführt, die beispielsweise bei gleichermaßen moralischen wie rechtlichen Verfehlungen des Mitglieds zur Folge hatte, daß dieses unter Umständen mehrfach, nämlich von den verschiedenen Assoziationen, denen er angehörte, für dasselbe Vergehen zur Rechenschaft gezogen wurde. 163 Indem Einungen als ganze zu Einungen höherer Ordnungen zusammentreten, wirkt das Verlangen nach der Bildung von Genossenschaften weiter. Die Möglichkeit, mit Anderen in rein sachlichen Beiträgen und Zwecken zusammenzuwirken, war jene Form des soziologisch probaten Mittels, den Einzelnen an einer Mehrheit der Kreise teilhaben zu lassen, ohne ihn der lokalen Zugehörigkeit zu dem ursprünglichen zu entfremden. Der konzentrische Bau von Kreisen ist damit die systematische und vielfach auch die historische Zwischenstufe dazu, daß sie, nebeneinander liegend, sich in einer und derselben Persönlichkeit treffen. Je weniger das Teilhaben an einem Kreise von selbst Anweisung gibt auf das Teilhaben an einem anderen, desto bestimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daß sie im Schnittpunkt beider steht. Es genügt als Erklärung schon die Tatsache, daß unabhängig vom Inhalt der Gemeinschaft das Individuum der bisher einzigen, einseitig bestimmenden Bindung neue Assoziationen angliedert, um ihm ein stärkeres Bewußtsein von Individualität 162 Ebd., S. 312. 163 Ebd., S. 316.
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überhaupt zu geben, mindestens jedoch die Selbstverständlichkeit der früheren Assoziation aufzuheben. 164 Die Möglichkeit der Individualisierung wächst auch dadurch sehr stark, daß dieselbe Person in unterschiedlichen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz verschiedene relative Stellungen einnehmen kann. Abgesehen nun von solchen, innerhalb von Familienverbindungen gleichsam von selbst entstehenden Möglichkeiten von Stellungen und ihren individuellen Kombinationen, erzeugt jeder neue Zusammenschluß in aktiver Weise sofort wieder gewisse Ungleichheiten, vor allem eine neue Differenzierung zwischen Führenden und Geführten.
2. Leopold von Wieses Lehre der sozialen Beziehungen und Prozesse Im Wege seiner Untersuchungen des Zu- und Miteinander beschäftigt sich Leopold von Wiese intensiv mit den Prozessen der menschlicher Assoziation. Wiese versucht, einen idealtypischen Weg der Assoziation aufzuweisen. 165 Er schickt seinen Ausführungen die essentielle Bedeutung der Elemente der Gleichheit oder der Ähnlichkeit der mögliche Assoziationen anstrebenden Menschen voraus. Die Empfindung von Gleichheit oder Ähnlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung der Assoziation. Allerdings läßt sich die These, daß es ausschließlich zur Verbindung von Menschen aufgrund von Gemeinsamkeiten kommt, so nicht ganz halten. Gleichheit kann nur als Voraussetzung für bestimmte Arten der Assoziation gelten, jedoch nicht unbedingt für jede. Ein assoziatives Verlangen nach Ergänzung kann auch bei einer polaren Assoziation bestehen, nämlich wenn der Wille zum Zusammenschluß gerade auf dem Wissen um die Ungleichheit beruht. Man würde manche der unten behandelten Vorgänge der Annäherung und Angleichung nicht verstehen, würde man als unabdingbare Voraussetzung der Assoziation die Gleichheit postulieren. Auch beruhen gerade Dissoziationen häufig auf der Anziehungskraft des Gleichen. Man kann jedoch feststellen, daß die Vorstellung von Gleichheit in vielen Fällen der Ausgangspunkt der Verbindung ist und daß das Bewußtsein der Ungleichheit häufig scheidet. Dabei berücksichtigt er, daß viele Interaktionsverhältnisse zwischen Menschen nicht bis zur letzten Stufe, nämlich der Vereinigung, führen, sondern bereits vor Erreichen dieses Stadiums erstarren oder durch intervenierende Dissoziationen abgebrochen oder vollständig beseitigt werden. Die Organisationen des Gemeinschaftslebens versinken nach Wiese „im Strome der Zeit und erscheinen wie kleine gebrechliche Fahrzeuge auf dem Ozean der Ich-Du- und Wir-Ihr-Beziehungen". 166 164 Ebd., S. 318. 165 Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen, Teil I: Beziehungslehre, München /Leipzig 1924; Neudruck unter dem Titel: System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre), 4. Aufl., Berlin 1966.
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Wiese erstellt ein Stufenschema des chronologischen Ablaufs der vollständigen Bewegungsbahn einer idealen Assoziation. Es wird zunächst in seiner Kürze dargestellt, bevor auf die inhaltliche Bedeutung der einzelnen Phasen eingegangen werden kann. Das Schema Wieses untergliedert sich prinzipiell in vier Hauptstufen. Die erste Stufe bezeichnet Wiese als das Vorstadium der Assoziierung. In diesem herrschen die Zustände der Isoliertheit, der Fremdheit und der Absonderung bei den späteren Mitgliedern assoziativer Lebensformen vor. Die zweite Phase wird als der Zustand des Übergangs angesehen. Hier kommt es zum ersten Mal zu Kontakt oder Berührung der zuvor noch streng sich isolierenden Individuen (Personen). Von dort geht die beschriebene Entwicklung in die ersten Vorstufen der Assoziation über. Diese Vorstufe wird bestimmt durch die Duldung anderer Menschen und der Eingehung eines Kompromisses zwischen den ihren Willen zur Assoziation zur Schau tragenden Akteuren. Im letzten Schritt kommt es dann zu den Vorgängen der eigentlichen Assoziation. Sie werden als Prozesse der Assoziation bezeichnet. Sie bewegen sich (i) von der Annäherung über (ii) die Anpassung und (iii) die Angleichung bis (iv) zur letztendlich erfolgenden Vereinigung, wobei die letzte Stufe der Vereinigung nach Wiese zur Formation sozialer Gebilde führt. 167 Wiese will den Ablauf der Bildung einer Assoziation historisch auffassen als einen Entwicklungsvorgang von der kleinen, isolierten Horde über den Stamm zu einer kleinen Volksgemeinschaft und zur großen Volksgemeinschaft bis hin zu einem über das Volk hinausgehenden Kulturkreis. Dies hat zur Folge, daß man an die Stelle des „modernen Einzelmenschen, der ja fast immer nur in der einen oder anderen Beziehung vorübergehend isoliert zu sein scheint", die kleine Gemeinschaft von blutsverwandten Sippengenossen setzt, die nach Wiese in diesem Zusammenhang als ein Element der Vergesellschaftung angesehen werden soll. Die familiale Gemeinschaft scheint sich als Horde oder Stamm im Zustand der Isolation zu befinden. Tatsächlich aber kommt es zu Kontakten mit anderen Horden und Stämmen, in denen Stadien der Duldung und des Kompromisses in aktiver oder passiver Weise durchlaufen werden. Schließlich kommt es zu immer wieder neuen Vereinigungen des größer werdenden Kreises mit anderen sich gleichfalls als Stämme, Völker, Staaten oder Nationen darstellenden Menschenkreisen zu großen politischen Gebilden. Dieser Vorgang der Assoziation mit anderen Gemeinschaften verläuft nach Wiese in der Regel exakt nach der oben dargelegten Stufenfolge der Assoziation. Die Elemente der Annäherung, Anpassung und Angleichung folgen immer wieder aufeinander. Sowohl bei der Vorstellung der „Prozesse des
166
Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie, 1924, S. 121; vgl. zum Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft: ders., Das Ich-Wir-Verhältnis, Berlin 1962; ders. t Das Ich und das Kollektiv, Berlin 1960. Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie, 1924, S. 130.
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Zueinander" bei Einzelmenschen als auch bei denen von sozialen Gebilden kann man sich das Vorstadium als einen Zustand denken, in dem das Gefühl des Unterschiedes zu anderen Menschen und Gemeinschaftsbildungen überwiegt.168 Im Gegensatz zu den subjektiven Kräften der handelnden Personen kommt den äußeren Umständen eine besondere Bedeutung zu, da sie häufig die Bereitschaft zum sozialen Verkehr erzwingen. Kontakte führen mit wachsender Häufigkeit im allgemeinen eine Beschäftigung mit dem oder den fremden Menschen herbei. Diese psychischen Berührungen haben eine gewisse Bereitwilligkeit zur Folge, die Existenz des anderen unangefochten oder doch zumindest gelten zu lassen. Diesem Stadium folgt die Vorstufe der Assoziation, die die beiden Schritte der Duldung und des Kompromisses umfaßt. Wiese verwendet zur Beschreibung des Vorgangs der Duldung den Begriff des „Mitgefühls". Er beschreibt diesen inneren Zustand als „Sympathie, bei der ein Ich am fremden Ich oder an einzelnen Betätigungen des fremden Ich durch Mitfreude oder Mitleid Anteil nimmt". 169 Duldung wird von Wiese begriffen als höhere Form einer Toleranz, die Ausfluß der Sympathie ist, nicht Auslöser. Toleranz kann als das entscheidende Merkmal der Vereinigung, also des höchsten Grades der Assoziation betrachtet zu werden. Stets besteht eine enge Verknüpfung der Assoziation mit der Zurückstellung oder der endgültigen Ausschaltung eines wirklichen oder eingebildeten Vorteils der Isoliertheit. Bei rationalem und freiwilligem Handeln der Parteien müssen nach von Wiese die Vorzüge des Zueinander größer als die Werte erscheinen, die dem Zueinander „geopfert" werden müssen. Ein solches Opfer soll dann gegeben sein, wenn - im Gegensatz zum Kompromiß - der Aufwand dem Erfolg des Verhaltens nicht gerecht wird, da ein äußerer Erfolg nicht angestrebt wird. 170 In der Regel sollen Kompromisse den Assoziationen vorausgehen. Dies ist insofern der Fall, als schwache Sympathien mit den Erwägungen des aus der Assoziation resultierenden Vorteils verbunden werden. Hierbei gilt es zu beachten, daß die Duldung noch nicht den Zustand des Kompromisses erreicht und damit eine assoziative Vorstufe darstellt. Der Beginn der Gemeinsamkeit wird erst durch den Kompromiß geschaffen. 171 Damit ist man bei den vier Hauptprozessen der Assoziation angelangt: der Annäherung, Anpassung, Angleichung und der Vereinigung. Der erste Schritt der Annäherung ist nicht unbedingt immer ein notwendiges Stadium auf dem Weg zur Assoziation. Dieser kann auch unmittelbar vom Kompromiß zur Anpassung oder Angleichung führen. In den von Wiese für Vorgänge der Annäherung gegebenen Beispielen rekurriert er vor allem auf Georg Simmel und dessen Ausführungen über die soziologische Funktion des Gebens und weiter "» Ebd., S. 131. 169 Ebd., S. 134; vgl. dazu auch ebd., Kapitel IX. no Ebd., S. 135/136. πι Ebd., S. 140.
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der Gabe zur Gegengabe. Simmel zufolge sind das Geben und die Gegengabe „überhaupt eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne daß in der Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird, würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen".172 Das Geben besitzt nach Simmeis Auffassung genau das Element der Wechselwirkung, was von seiner soziologischen Funktion gefordert wird. Der Annäherung sind mehr oder weniger starke Elemente eines Vorstadiums zum Zu- und Miteinander gegeben, da es unter Umständen fraglich erscheinen kann, ob Annäherungshandlungen, wie etwa Beifall, Kompliment oder Fürsprache, tatsächlich eine soziale Verbindung herbeiführen. Wiese glaubt, daß „in der Anpassung die Assoziation bereits selbst zu spüren ist", 173 ohne daß die noch bestehende Verschiedenheit der in Assoziation begriffenen Partner vernachlässigt wird. Ein Großteil der menschliche Beziehungen schaffenden Aktivität beinhaltet Prozesse der wechselseitigen Anpassung, wobei diese aus der Betonung und Nutzung der Ähnlichkeiten bestehen. In diesen Abläufen orientiert man sich - sei es anlehnend, sei es ablehnend - an den Eigenschaften, die die Akteure miteinander verbinden, aber auch an solchen, in denen sie sich unterscheiden. Dabei ist zwischen ein- und wechselseitiger Anpassung zu unterscheiden. Bei der einseitigen Anpassung wird lediglich die eine Größe an die andere angepaßt. Letztere bleibt relativ unverändert und begnügt sich mit untergeordneten Kompromissen. Die sich anpassende Größe nimmt eine teilweise Abänderung ihres Wesens vor oder muß es sich doch wenigstens gefallen lassen, um der anderen Größe mehr zu entsprechen als zuvor. In der Regel wird sich der schwächere Teil dem stärkeren anpassen.174 Dieser Vorgang vollzieht sich im Wege der Unterordnung. Der Begriff der Unterordnung setzt als integrierender Prozeß ein Gebildeverhältnis voraus. Die Anpassung an eine stärkere Größe kann sich jedoch auch als ein eher freiwilliger und versöhnlicher Vorgang darstellen, ohne dabei unmittelbar an einen Subordinierungsprozeß zu erinnern. Insbesondere hat die Entstehung größerer Verbände des staatlichen, kirchlichen oder wirtschaftlichen Lebens stets über Prozesse der Anpassung geführt, die der schwächeren Größe auferlegt wurden. 175 Wiese glaubt, die Feststellung, die Anpassung des Menschen an den Menschen sei Ziel und Sinn der „Gesellschaft", sei nicht schlichtweg zulässig. Zwar könne sich dahinter ein sittliches Ziel verbergen derart, daß mit der Bedeutung von Anpassung in diesem Zusammenhang friedliche Beziehungen und gegenseitige Rücksichtnahme oder wechselseitige Ergänzung gemeint seien. Im Wege der Anpassung lassen sich ganz bestimmte Anforderungen der Assoziation erfüllen. Es kommt zur Entstehung eines geordneten Nebeneinanders.
172 Georg Simmel, Soziologie, S. 592 ff. 173
Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie, S. 144. 174 Ebd., S. 144. 175 Ebd., S. 145.
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Trotz dieser Anpassung verbleibt aber das Abstandsgefühl. Dieses mag zwar nur abgeschwächt der Fall sein, „es fehlt dennoch an der Vertiefung der inneren Teilnahme".176 Gleichen sich Menschen jedoch an, so teilen sie und die Gemeinschaften, denen sie angehören, Gefühle und Erinnerungen miteinander. Das Verhalten der Menschen wird immer ähnlicher. Neben dem Schließen von Freundschaften führt Wiese das von Simmel stammende Prinzip der »Kreuzung sozialer Kreise* als Beispiel der Angleichung an. Simmel hat, wie auch Wiese, die Beobachtung gemacht, daß „genügend viele Kreise von irgendwelcher objektiven Form und Organisierung" geschaffen werden, „um jeder Wesensseite einer mannigfach beanlagten Persönlichkeit Zusammenschluß und genossenschaftliche Betätigung zu gewähren". 177 Die verschiedenen soziale Kreise kreuzen sich gleichsam im Einzelmenschen und sind in ihm und durch ihn miteinander kombiniert. Andererseits sind demselben Kreis beliebig viele Menschen zugehörig, die sich wiederum zu anderen Zwecken mit anderen Personen zusammengeschlossen haben.178 Wiese hält es für kompliziert, eine Begrifflichkeit zu finden, den engsten Grad des Zu- und Miteinanders von Menschen zu bezeichnen. Es scheint für Wiese die Notwendigkeit einer neuen Begriffsprägung zu bestehen, um das Ziel einer klaren Sinngebung zu erreichen, die in diesem Fall erforderlich ist, da die dem alltäglichen Sprachgebrauch zu entnehmenden Begriffe sich durch ihre Unbestimmtheit und Dehnbarkeit auszeichnen. Der Begriff des »Zusammenschlusses* wird als mögliche Lösung angeführt, da in ihm das Endstadium einer Reihe von »Schließungsvorgängen* im Sinne von Assoziationsvorgängen zum Ausdruck kommt. Wiese wendet dagegen ein, daß ein »Zusammenschluß* eher auf bloße Vereinsbildung gerichtet sei und somit den innerlichen Beziehungen widerstrebe. Die Paarbeziehungen würden dadurch nicht in ausreichender Art und Weise erfaßt. Vor der Fassung der Bezeichnung »Vereinigung* bietet Wiese die »Organisation* als Lösung des Problems an. Er verwirft dies jedoch, da er zu dem Schluß gelangt, daß nicht jede »Organisation* in der Schaffung einen Endstadiums des Zueinander zu bestehen braucht. »Organisation* ist auch durch bloße Annäherung, Anpassung oder Angleichung realisierbar. 179 Des weiteren werden die Begriffe Agglomeration, Aggregation und Konglomeration vorgeschlagen, die aber verworfen werden, da sie eher die äußeren Vorgänge der Haufen-, Massen- und Herdenbildung beschreiben. Schließlich kommt er zur »Amalgamation*, da dieser Begriff die Bildung des Gemenges, hier verstanden als Mischungsprozeß der Verschmelzung, zum Ausdruck bringt. Er spricht im Sinne von »Amalgamation* auch von der »Vereinigung*. Es darf nach Wiese nicht davon ausgegangen werden» daß alles, was im allgemeinen Sprachgebrauch als »Vereinigung* bezeichnet wird» auch tatsächlich eine solche im 176 Ebd., S. 150. 177 Georg Simmel, Soziologie, S. 249. 178 Leopold von Wiese, Soziologie, S. 152; vgl. dazu auch: Max Graf Solms, Der Einzelmensch im Schnittpunkt verschiedener sozialer Kreise, in: Jürgen von Kempski (Hrsg.), Studien zur Soziologie. Festgabe für Leopold von Wiese, I. Band, S. 133 -139. 179 Leopold von Wiese, Soziologie, S. 154.
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vorliegenden Zusammenhang ist. Sie ist nur dann gegeben, wenn sie zur Schaffung oder einem Zusammenwirken oder einer Kooperation ansonsten getrennter Kräfte führt. Wiese sieht den Hauptprozeß der Vereinigung zerlegt in eine Fülle von Unterprozessen, die ihrerseits verschiedene Stärken der Teil-Amalgamation aufweisen. Die Unterprozesse beruhen wiederum auf der Abstraktion aus einer unübersehbar großen Zahl von erlebten Einzelprozessen. Die Intensität und Innigkeit der einzelnen Verbindungen können stark voneinander abweichen. Wiese zufolge kommt ein Prozeß der »Vereinigung* dann zustande, wenn der Wunsch dazu stark genug ausgeprägt ist. Dieses kann aufgrund bestehender Sympathie, der sich einstellenden Erkenntnis des möglichen Nutzens oder auch einer bestimmten Situation der Fall sein, mit dem Ziel, die Vereinigung zur Quelle neuer und größerer Kräfte werden zu lassen. Beide Parteien müssen sich von der Aufgabe ihrer Selbständigkeit, die als ein der »Vereinigung* dargebrachtes Opfer anzusehen ist, Erfolg versprechen. 180 Wiese teilt die Konstellationen der Vereinigung in drei Hauptgruppen ein. Er unterscheidet (i) die Paarung, also die Vereinigung zur Zweier-Gruppe, (ii) die Vereinigung zur drei oder mehr Köpfe umfassenden, aber kleinen Gruppe sowie (iii) die Vereinigung vieler zur Kooperation. Die Paarung in der Zweier- Gruppe mit den Beispielen der Ehe und ihr folgend der Familie hat zum einen biologische Gründe, kann aber, insbesondere wenn sie nicht freiwillig ist, von gesellschaftlichen Gewalten oder Institutionen auferlegt werden. Zu nennen wäre hier beispielsweise das Verhältnis des Lehrers zu seinem Schüler. Der Drang zur Schaffung kleiner Gruppen resultiert aus der Wahrnehmung beruflicher oder ökonomischer Interessen. Die kleinen Gruppen werden von den großen jedoch nicht zerstört, sondern in der Regel der Großgruppe ein- und untergeordnet. Als Großgruppen oder Verbände betrachtet von Wiese traditionellerweise die zum Zwecke der eigenen Verteidigung geformten Vereinigungen. Aus diesen, den Charakter eines Schutzverbandes tragenden Vereinigungen erwachsen unter anderem auch Staatsgebilde. Während bei der Bildung von Großgruppen das Element des Zwanges eine Rolle spielt, so dominiert bei den kleineren die gegenseitige Hilfe, wie etwa bei den Gilden, Zünften oder Genossenschaften.181
180 Ebd., S. 156. lei Ebd., S. 158.
§ 5 Otto Brusiins Theorie der Rechtsgemeinschaften
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§ 5 Otto Brusiins Theorie der Rechtsgemeinschaften 1. Menschliche Zusammenschlüsse nach Maßgabe von Recht, Rechtsordnung und Rechtssystem Wie auch die bisher behandelten Autoren beschäftigt sich Otto Brusiin mit der Frage der Entstehung und Bildung menschlicher Zusammenschlüsse und Verbände. Brusiin beleuchtet jedoch zusätzlich die Entstehung, Bedeutung und Wirkung von Recht und Rechtssystemen, die er als gesellschaftliche Zusammenschlüsse begreift. Das Recht ist nicht Ausfluß des Staats, sondern des Menschen. Die Organisationsarbeit der Menschen bringt eigene bindende Richtlinien hervor und setzt ihrerseits Normenkomplexe, die sie ordnen. Das Recht erscheint sowohl als Ergebnis wie als Voraussetzung arbeitsteilig geordneter menschlicher Aktivitäten. Es ist, hier verstanden als soziales Phänomen, vor allem ein Regelsystem, das die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Menschen, die in einer Gesellschaft leben, ordnet. Die Rechtsgemeinschaft ist eine kollektive Einheit von Menschen, in der das menschliche Verhalten mit Hilfe und nach Maßgabe der Normen des jeweils geltenden Rechts gesteuert wird. Infolgedessen kann man nach Brusiin alles Recht als einen speziellen Kommunikationsprozeß beschreiben. Recht wäre nicht möglich, wenn die Menschen nicht in der Lage wären, mit Hilfe der Sprache miteinander zu kommunizieren.182 Einen Normenkomplex, hinter dem eine organisierte Gemeinschaft steht, das heißt: der durch die Organe dieser Gemeinschaft sanktioniert und teilweise auch geschaffen wird, nennen wir „Recht". Recht und Rechtsordnung sind somit im Sprachgebrauch synonym. Es ist nach Brusiin jedoch zweckmäßig, den Begriff „Rechtsordnung" von dem Begriff Rechtssystem zu trennen. 183 Das Rechtssystem wird für jede positive Rechtsordnung durch die (dieses Recht auslegende) Rechtswissenschaft in nie endigender Arbeit angestrebt, da das positive Recht ja in fortwährendem Flusse ist. Nach Kelsen ist das Recht „a specific technique of social organisation". Seine Verwirklichung wird bestimmten Gemeinschaftsorganen zur Pflicht gemacht. Es scheint, daß dieses von Kelsen richtig hervorgehobene Unterscheidungsmerkmal eine Folge davon ist, daß hinter dem Recht die organisierte Gemeinschaft mit ihren Organen steht. Die soziale Konstante „Recht" setzt ein hochgradiges Organisationsvermögen bei den Mitgliedern der Gemeinschaft voraus. Sie ist nach Brusiin bedingt durch bio-psychische und soziale Faktoren. Sie beeinflussen Form und Inhalte des 182 Urpo Kangas, Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins, in: ders. (Hrsg.), Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht. Ausgewählte rechtstheoretische Schriften (Schriften zur Rechtstheorie Heft 143), Berlin 1990, S. 9 - 5 5 , 14 f. 183
Otto Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung, in: Urpo Kangas (Hrsg.), Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht, S. 62-132,66 f.
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Rechts, in denen das geistige Niveau des Menschen zum Ausdruck gelangt. Das Recht scheint überall an die menschliche Sprache gebunden zu sein. Diese Sprache bedeutet eine Fähigkeit, die nur beim Menschen, dem aristotelischen „zoon politikon" festgestellt werden kann. Es ist das Vermögen, sich ein Befehls- und Mitteilungszwecken dienendes Symbolnetz aufzubauen. Durch Erlernen und Verwenden dieser Symbolfunktion ist es dem Menschen gelungen, komplizierte Strukturen aus dem Gebiete der Natur und der Gemeinschaft gedanklich zu beherrschen; sie ist eine Grundvoraussetzung für die aus gedanklichen Gebilden, darunter natürlich auch Normen, bestehende Rechtsordnung.184 Die „Norm" ist einer der Grundbegriffe der allgemeinen Rechtslehre, gehört für Brusiin aber zugleich einem weiteren Gebiet an. Die Rechtsnorm ist für ihn zugleich ein Handlungsschema; sie ist „verpflichtend", das heißt hinter ihr steht eine organisierte Gemeinschaft. Die Komponente Handlungsschema deutet auf den eben genannten geistigen Bau des Menschen. Die Komponente „verpflichtend" deutet auf die soziale Verbundenheit des Menschen, der ja unter permanentem sozialpsychischem Druck lebt. Die Komponente „hinter" weist auf das Faktum des Rechts als einer sozialen Konstante hin, die sich freilich - im Zeitablauf betrachtet - in ihren Inhalten als variabel erweist. Nach Brusiin setzt der Begriff der Norm allgemein nur ein Handlungsschema voraus - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Bei den sozialen Normen, zu denen auch die Rechtsnormen zählen, kommt die Komponente „verpflichtend" hinzu. Wenn ein Individuum für sich eine Maxime aufstellt, so ist diese für es selbst ein Handlungsschema, aber nicht verpflichtend in demselben Sinne, wie es die sozialen Normen sind. 185 Es wäre nach allem verfehlt, Rechtsordnung und Rechtsgemeinschaft in einen Topf zu werfen oder gar zu identifizieren, wie dies immer wieder geschieht. Die Rechtsgemeinschaft ist eine Kollektivität von Menschen. Das Handeln dieser Menschen wird unter anderem durch einen Komplex von besonders gearteten Normen, nämlich durch Rechtsnormen, geregelt, die ihrerseits insgesamt eine Rechtsordnung bilden. Eine Kollektivität von Menschen und ein Komplex von Normen können jedoch nie identisch sein. 186
2. Der Mensch und sein Recht Brusiin geht bei seiner Auffassung der Bedeutung von Normen von einer grundsätzlichen Unterscheidung der Gesellschaften von Lebewesen aus, wobei er zwischen Tier- und Menschengesellschaft unterscheidet.187 Sie unterscheiden sich da184 Ebd., S. 67. iss Ebd., S. 67. 186 Ebd., S. 69. 187 Otto Brusiin, Über das Juristische Denken, in: Urpo Kangas (Hrsg.), a. a. O., S. 132265, 141; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 51 f.; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 75 f.
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durch, daß Tiergesellschaften instinktgebunden sind, Menschengesellschaften normgebunden. An die Stelle von dem Menschen zwar nicht fehlenden, 188 aber im gesellschaftlichen Leben eine untergeordnete Rolle spielenden Instinktmustern treten dominierende gesellschaftliche Normen, deren Vorhandensein sich der objektivierenden Einstellung des Menschen verdankt. 189 Normen sind etwas für den Menschen Spezifisches und durch sein Zusammenleben in Gesellschaften bedingt. Normen enthalten nach Brusiin auf die Zukunft bezogene Handlungsschemata, die im Unterschied zu Instinktmustern - grundsätzlich veränderlich sind. Außerdem sind Norm und Befehl voneinander zu unterscheiden. In der Befehlssituation gibt es jemanden, der befiehlt und einen Adressaten des Befehls, der ihm gehorchen soll. Gesellschaftliche Normen wachsen gleichsam aus der Gesellschaft hervor. Sie sind zu verstehen als eine Äußerung des dauernden Zusammenlebens von Menschen.190 Es erscheint offensichtlich so zu sein, daß die menschliche kollektive Eigenschaft, im Zusammenleben Normen zu produzieren, mit der menschlichen Fähigkeit in Verbindung steht, die Welt erkennend zu gestalten. Die menschlichen Gesellschaften, die vor allem als Regionalgesellschaften in Erscheinung treten, sind von verschiedenem Umfang und verschiedener Dauer. Wenn dem so ist, dann tendiert alle Gesellschaftsbildung nahezu zwangsläufig zur Organisation ihres Bestands. Dabei ist es wichtig zu erkennen, daß die Organisation der Gesellschaft nicht von außen auferlegt wird, sondern aus der Gesellschaft selber hervorwächst. 191 Nur der Mensch vermag es, im Gegensatz zum Tier, seine Gesellschaft nach von ihm selbst aufgestellten Zwecken aktiv umzugestalten.192 Zugleich setzt ein schaffendes Organisieren in diesem Sinne die Fähigkeit zu einem Denken in Normen voraus. Für eine organisierte Menschengesellschaft ist es kennzeichnend, daß einige ihrer Mitglieder - sei es einzeln, seien es mehrere zusammen - für die Gesellschaft als ihre Organe auftreten und von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als solche anerkannt werden. Die Zuständigkeit der Organe wird durch gesellschaftliche Normen geregelt. 193 Brusiin nimmt eine Zweiteilung bezüglich der Arten von Normen vor. Der größte Teil der Normen steht in keiner Verbindung mit der gesellschaftlichen Organisation, das heißt sie werden nicht von den Organen formuliert und die Organe befassen sich nicht mit einer etwaigen Nichtbefolgung. Ein anderer Teil der Normen steht aber insoweit mit der gesellschaftlichen Organisation in Verbindung, als die Organe wegen Nichtbefolgung dieser Normen reagieren. Auch können sie derartige Normen formulieren und mit einem autoritativen Stempel versehen. Es läßt 188 Otto Brusiin, wie Anm. 187, S. 141; Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin-Charlottenburg 1938, S. 8,55, 81.
189 Otto Brusiin , wie Anm. 187, S. 141. 190 Ebd., S. 142. 191 Ebd., S. 142. 192 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes II, München 1922, S. 593. 193 Otto Brusiin, wie Anm. 187, S. 143. 5 Simon
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sich also sagen, daß hinter diesen Normen die organisierte Gesellschaft steht. Solche Normen werden Rechtsnormen genannt.194 Sie bilden in ihrer Gesamtheit einen Normenkomplex, den wir Rechtsordnung nennen. Vom rechtlichen Aspekt aus betrachtet bezeichnen wir die organisierte Menschengesellschaft als „Rechtsgemeinschaft". Das Recht steht also in diesem Fall in enger Verbindung mit den Begriffen „Organisation" und „organisieren". 195 Wenn das Recht einer bestimmten Gesellschaft aus einer weiten geschichtlichen Perspektive herrührt, dann kann man es als einen fortgesetzten, kontinuierlichen Organisationsprozeß deuten.196 Normen - darunter die des Rechts - erwachsen in der Gesellschaft aus dem dauernden Zusammenleben von Menschen.197 Es besteht jedoch Klärungsbedarf, warum in den meisten modernen Staaten das Gesetzesrecht eine herrschende Stellung erlangt hat und das tradierte Recht 198 demgegenüber zu einem Recht zweiten Ranges geworden ist. Zu erklären ist dieses Phänomen wohl mit der auf den diversen Gebieten fortschreitenden Rationalisierung der kulturellen Welt. 199 Auf dem Gebiete des Rechts bedeutet die immer weiter getriebene Rationalisierung, daß alles in Fluß geraten ist. Es besteht die Gefahr, daß das in immer schnellerem Tempo vorangetriebene Gesetzesrecht die effektive Sicherung durch die herrschende Rechtsüberzeugung verliert. Diese Entwicklungstendenz spiegelt sich auch in der Theorie wider, wo man dem Begriffe „herrschende Rechtsüberzeugung" und seinen Varianten gegenüber die Forderung erhoben hat, man solle ihn aus der Theorie gänzlich entfernen. Die Rechtstheorie Otto Brusiins konzentriert sich darauf, vom Standpunkt eines teilnehmenden Beobachters aus die normativ beeinflußten und gesteuerten menschlichen Verhaltensregularitäten im alltäglichen Rechtsverkehr der Bürger bzw. der bürokratisch organisierten staatlichen Rechtsstäbe zu beobachten, zu beschreiben und zu deuten, um auf diese Weise in Form induktiver Abstraktionen und vorsichtiger Verallgemeinerungen zu sozialen „Gesetzmäßigkeiten" zu gelangen. 200 Auf diese Weise ist er auch in der Lage, den Menschen zum sozialen Gattungswesen zu abstrahieren und zu generalisieren, ohne damit den Bereich möglicher Erfahrung zu verlassen oder gar zu überschreiten. Sein Ausgehen vom rechtlichen Alltagsleben und dem individuellen, der Erfahrung und Beobachtung zugäng194 Karl N. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1366; Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 76; Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 130. 195 Otto Brusiin (Anm. 165), S. 144. 196 Ebd., S. 144. 197 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft II, S. 397-412; Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Vorrede; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 83. 198 Otto Brusiin (Anm. 165), S. 145. 199 Ebd., S. 145. 200 Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht, S. 56 ff.
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liehen Erleben und Handeln des Einzelnen zieht aber ein Folgeproblem nach sich. Man stößt hier auf das Problem, daß alle die Aktivitäten der Bürger, aber auch der staatlichen Angestellten als menschliche Tätigkeiten auf Grund und nach Maßgabe bestimmter Normen und Regeln erfolgen, wie ein teilnehmender Beobachter unschwer feststellen kann. Es besteht jedoch, wie Brusiin immer wieder betont, ein erheblicher Mangel an Einsicht in die Tatsache, daß alles Recht - verstanden als soziale Institution und Organisation oder als Subsystem der Gesellschaft - sehr viel mehr involviert als die normative Codierung und Konditionierung menschlicher Handlungsweisen und Verhaltensregularitäten in Verfahren, die dem geregelten Austragen sowie der Bewältigung und Entscheidung von rechtlichen Konflikten dienen. Genau hier kommt seine Theorie menschlicher Rechtsgemeinschaften ins Spiel. 201 Nach Auffassung Brusiins existiert in der menschlichen Rechtsgemeinschaft am Beginn allen rechtlichen Denkens und Handelns kein Kontrakt zwischen den menschlichen Lebewesen. Demnach gibt es auch kein Diktat der Vernunft, das einen derartigen Kontrakt, wie ihn der zeitgenössische Kontraktualismus vertritt, allen Mitmenschen, Bürgern oder den Trägern der Staatsgewalt bindend, das heißt mit verpflichtender Kraft auferlegt. 202 Selbstverständlich geht auch Brusiin davon aus, daß sich das Recht - linguistisch und sprachanalytisch gesehen - gewöhnlich in normativen Sätzen niederschlägt. Sie symbolisieren die Rechtsnorm, mit deren Bedeutung und normativem Sinn die Rechtspraxis sowie die praktische Rechtswissenschaft es zu tun haben. Jedoch nimmt er eine rechtstheoretisch bemerkenswerte Differenzierung vor. Seiner Auffassung zufolge muß bei der theoretischen Erforschung des Rechts eine Unterscheidung gemacht werden zwischen (i) der Rechtsnorm und (ii) dem sprachlichen Gebilde, in dem diese Rechtsnorm erscheint. Brusiin reduziert die Rechtsnorm und die Rechtsbetrachtung nicht auf eine Analyse der rechtssprachlichen Verwendungen und auf die rein normative Bedeutung oder den rechtssprachlichen Sinn dieser Sätze. Brusiin gehört nicht zu den Autoren, die im Recht nur einen Gedankeninhalt erblicken, der menschlicher Erfahrung und Beobachtung naturgemäß gar nicht zugänglich wäre. Recht ist für ihn vor allem und in erster Linie ein soziales Gebilde. Das bedeutet, daß es als solches in den verschiedensten gegebenen Gemeinschaften identifizierbar ist. Alles Recht ist seiner Struktur nach stets ein integrativer Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung, aber es ist auch nur ein integrativer Bestandteil, das heißt, es gibt auch andere soziale Bestandteile, die - zusammen mit dem Recht - die Identität, den Bestand und die Fortentwicklung der Gesellschaft gewährleisten. Und diese gesellschaftliche Ordnung ist zugleich eine geschichtliche Ordnung, das heißt eine vom Menschen als sozialer Gattung selbst erzeugte Ordnung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, die als solche - ob201 Werner Krawietz, Theorie und Forschungsprogramm menschlicher Rechtserfahrung Allgemeine Rechtslehre Otto Brusiins, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 1 -37,6. 202 Zur Problematik eines vertragstheoretisch begründeten Gemeinschaftsdenkens vgl. Peter Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987, S. 15 ff.; Werner Krawietz, Kontraktualismus oder Konsozialismus? In: Rechtstheorie Beiheft 7 (1988), S. 391 -423,403 f. 5*
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wohl von Menschen für Menschen gemacht - jedenfalls als ganze nicht der absichtsvollen und gezielten Disposition des Einzelnen oder einzelner sozialer Gemeinschaften unterliegt. Auf dieser geschichtlich-gesellschaftlichen Ordnung basieren alle Rechtsgemeinschaften, das heißt alle sozialen Systeme zwischenmenschlicher Interaktion und Organisation, zu deren normativer Struktur als einer immer schon gesellschaftlichen auch das Recht gehört. Vom Standpunkt der Wissenschaftstheorie aus gesehen ist somit Objekt der rechtstheoretischen Grundlagenforschung das Recht, verstanden als die von allen denkbaren positiven Rechtsordnungen gebildete Klasse. Es geht also nicht um ein bloß in mente bestehendes, nur idealiter seinsollendes Recht, sondern stets um ein sozialstrukturell faktisch existierendes und gegenwärtig praktisch wirksames, auch pro futuro wirklich mögliches Recht. 203 Von den jeweiligen substantiellen Rechtsinhalten abstrahierend, sucht seine Theorie des Rechts dessen sozialstrukturelle Gesetzmäßigkeiten zu erfassen und zu beschreiben, die - in den verschiedenen Rechtsordnungen immer wiederkehrend - tatsächlich feststellbar sind. Ausgangspunkt und Grundlage von Brusiins Rechtstheorie ist dabei stets die konkrete Rechtserfahrung des einzelnen Menschen. Für Brusiin ist das soziale Leben des Menschen nicht nur ein Feld individuellen praktischen Handelns. Es ist vor allem ein weites soziales Feld, das heißt ein Feld regelbeherrschten und regelgeleiteten Handelns. Aber auch wenn wir einen großen Teil des menschlichen Verhaltens in begrifflicher Hinsicht als regelbefolgendes oder regelsetzendes oder regelverletzendes Handeln beschreiben und deuten können, so vermögen wir doch nicht das gesamte menschliche Verhalten auf diese Weise zu erklären. Die Regularitäten des sozialen Verhaltens, die - für einen teilnehmenden Beobachter deutlich erkennbar - aus der Befolgung von Rechtsnormen resultieren, exemplifizieren als solche nicht irgendwelche natürliche bzw. soziale Gesetze. Weder Rechtsregeln noch Verhaltensregularitäten, die in dem von Normen beeinflußten sozialen Handeln zum Ausdruck gelangen, sind Gesetze in dem in den Naturwissenschaften gebräuchlichen Sinne. Alle derartigen sozialen Gesetzmäßigkeiten, die die gesellschaftliche Ordnung mitbestimmen und prägen - Brusiin spricht auch hier von „Konstanten" und „Invarianzen", um ihre institutionell auf Dauer gestellte, sozialstrukturelle Eigentümlichkeit zu betonen sind vom Menschen, verstanden als soziales Gattungswesen, selbst gemacht, auch wenn wir nicht immer ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Ursprung genau zu bezeichnen, zu beschreiben und erklären vermögen. Es besteht somit kein Anlaß anzunehmen, daß die Rechtsordnung und ihre durchgängig gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ein Ausdruck von außermenschlichen, gänzlich invariablen oder gar universalen, von Natur bestehenden Gesetzen sind. Ausgangspunkt und Grundlage seiner Theorie des Rechts ist für Brusiin stets die persönliche Rechtserfahrung all derjenigen, die im täglichen Leben mit dem Recht befaßt waren oder sind. Jedoch gehört zu dieser Rechtserfahrung auch immer die203
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Werner
Krawietz,
Theorie und Forschungsprogramm menschlicher Rechtserfahrung,
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jenige des Forschers selbst. Auch ein Rechtstheoretiker geht immer von seinem eigenen positiven Recht aus, d. h. zunächst einmal von der Rechtsordnung, der er selbst angehört. Unbeschadet der Normativität desselben hat der Rechtstheoretiker, der sich mit dem durch das Recht geregelten menschlichen Handeln befaßt, es stets mit den der menschlichen Erfahrung zugänglichen, beobachtbaren sozialen Strukturproblemen zu tun. Mit anderen Worten formuliert, könnte man auch sagen, daß die Rechtstheorie es mit der Rechtsordnung insgesamt und demzufolge auch mit dem Recht als einem auf Dauer gestellten, institutionellen Faktum zu tun hat.
Dritter Abschnitt
Verhältnis von Recht und Gesellschaft in den modernen Theorien der Assoziation § 6 Normentheoretische und soziologische Erklärungsansätze des Rechts Im Zuge des Versuchs einer Lösung des bei der Entwicklung einer Theorie der Assoziation auftretenden Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft wird im zeitgenössischen Schrifttum die sogenannte ,rational-choice theory* gern ins Feld geführt. Dies geschieht vor allem deshalb, weil sie eine weitere Rationalisierung des juristischen Entscheidungsbetriebs zu versprechen scheint. Die typischerweise handelnde Person der ,rational-choice theory* ist der sogenannte »economic man*. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein wirtschaftlich handelndes Lebewesen, sondern um ein Konstrukt, dessen Aktivitäten mit Hilfe der wirtschaftswissenschaftlichen Standardwerkzeuge der individuellen Optimierung und wirtschaftlichen Effektivität analysiert werden. 204 Die so optimierten Individuen handeln auf bestimmte Art und Weise. Vom Standpunkt eines Soziologen aus betrachtet, stellt ihre Unfähigkeit zu kommunizieren einen interessanten Aspekt dar. Die ,rationalchoice-theory* ist also nicht nur eine beschreibende, sondern auch eine vorschreibende Theorie. Sie gibt Hinweise nicht nur auf das, was man tun soll, sondern sogar auf das, was man sein soll. 205 Wir sollen Teilnehmer an einem Spiel sein. Spiele werden gespielt, um Lösungen zu finden. 206 Die Tatsache, daß ein Spiel eine Lösung hat, heißt, daß die Spielenden - ohne miteinander zu kommunizieren - in Handlungen übereinstimmen, die von allen erwartet werden. Für Niklas Luhmann stellt demgegenüber die Kommunikation die Grundlage der Gesellschaft dar. 207 Nach Luhmann müßte das Konzept der Soziologie dement-
204 Thrâinn Eggertson, The Economics of Institutions: Avoiding the Open-Field Syndrome and the Perils of Path Dépendance, Acta Sociologica 36 (3) 1993, S. 223-237. 205
Jon Elster, Some Unresolved Problems in the Theory of Rational Behavior, Acta Sociologica 36 (3) 1993, S. 179-190. 206 Diese Idee des Spiels unterscheidet sich von der Version Norbert Elias*. Spiele werden zur Erreichung von Lösungen gespielt; Schauspiele werden gespielt mit der Wirkung der Errichtung von Gesellschaften. Elias' Spiel ist eine Metapher für Personen, die unter ihresgleichen eine Gesellschaft gründen, wenn auch ohne festgelegte Handlung oder Rollenverteilung, vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, 5. Aufl., Weinheim und München 1986, S. 96.
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sprechend aufgebaut sein. Sie müßte zu dem Letztelement zurückgebracht werden, ohne das Gesellschaft nicht mehr denkbar ist, nämlich zur Kommunikation.208 Die ,rational-choice theory* bewegt sich hingegen in eine andere Richtung. Eggertson fordert auf, sich einer neuen Ebene der Forschung zuzuwenden und den Menschen (und nicht die Gesellschaft) als System zu erkunden.209 Dem schließt sich auch Elster an wenn er meint, nicht Gesellschaften, sondern Individuen würden miteinander Umgang pflegen. 210 In Wirklichkeit ist es sehr schwierig, das wirtschaftliche Modell auf die Tatsachen anzuwenden. Udéhin glaubt, daß es in der Welt mehr kollektives Handeln gibt, als uns eine reduktionistische wirtschaftswissenschaftliche Theorie glauben machen will. 2 1 1 Um diesen Defekt zu korrigieren, werden von Elster die sozialen Normen eingeführt. Er gibt eine kompakte Beschreibung seiner theoretischen Situation, wenn er ausführt, daß eine der dauerhaftesten Uneinigkeiten innerhalb der Sozialwissenschaften der Gegensatz zwischen zwei Linien des Denkens ist, die gemeinhin immer mit Adam Smith und Emile Dürkheim in Verbindung gebracht werden, nämlich der zwischen dem ,homo oeconomicus' und dem ,homo sociologies'. 212 Der erstere wird geleitet von instrumenteller Rationalität, der letztere von sozialen Normen. Der Gegensatz von rationalem Verhalten und normengeleitetem Handeln ist ein klassisches Dilemma der Soziologie. Die Vertreter der ,rational-choice theory4 stellen sich auf die Seite der Individualisten. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie den Kollektivismus zurückweisen könnten. Sie müssen ihn beachten und in ihre Überlegungen als die ultimative Negativität mit einbeziehen. Nach Elster etwa handelt es sich bei sozialen Normen um äußere Kräfte, die die Sinne in ihrem Griff haben. Normengeleitetes Verhalten habe unreflektierten Charakter. 213 Die von Elster angebotene Lösung dieses Gegensatzes ist eklektizistischer Natur. Entweder sind einige Verhaltensweisen rational ergebnisorientiert, andere normengeleitet, oder alternativ, alle Verhaltensweisen sind teils rational und teils von sozialen Normen beeinflußt. Das Modell nimmt deshalb die auf der folgenden Seite 71 dargestellte Form an: In Form des Faktors X kehrt die Gesellschaft zurück, nun hinter den Individuen agierend, als ein unbekannter Faktor. Obwohl der Faktor X nicht bekannt ist, heißt das nicht, daß Elster Gesellschaft unbekannt ist. Mit diesem unbekannten Faktor komplettiert Elster die von uns untersuchte Bewegung. Sie beginnt mit der Gesellschaft, verläßt sie dann und kehrt schließlich wieder zu ihr zurück. In diesem Vor207 Niklas Luhmann, Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 309. 208 Ebd., S. 311. 209 Thràinn Eggertson, S. 233. 210 Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge 1992, S. 248.
2u Lars Udéhin, Twenty-Five Years with the Logic of Collective Action, Acta Sociologica 36 (3) 1993, S. 239-261,251. 212 Jon Elster, The Cement of Society, S. 97. 213 Ebd., S. 100.
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Action
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gang wird das Konzept aus den Gegenständen der Sozialwissenschaft entfernt und als bereits existente Bedingung verwendet, die zwar ihrer theoretischen Kraft beraubt, aber mit praktischer Konsequenz ausgestattet wurde. Die theoretische Sterilität des Begriffs spiegelt sich wider in ihrem Gebrauch durch Elster, um eine bestimmte Gesamtheit zu beschreiben. Er spricht dann von der oder den Gesellschaften als Abstraktum. Dies hat zum Anlaß, daß man dem Versuch von Elias folgt, aus der magischen Bewegung auszubrechen, die von der Gesellschaft zum Individuum und zurück führt. Wie es Pietilä und Sondermann einmal ausdrückten, untersuchen Sozialwissenschaftler nicht Phänomene in der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft in den Phänomenen214. In diesem Zusammenhang kann auch Bezug genommen werden auf Ulrich Becks „Die Erfindung des Politischen", in der der Autor von der Wiedererfindung des Politischen spricht. 215 Hier stellt Beck fest und dem kann zugestimmt werden, daß nach dem Ende des Kalten Krieges die Soziologie auf eine neue Grundlage gestellt werden muß. 216 Danach ist ein gesamtes Nachschlagewerk auf einen Schlag veraltet und muß im Grunde neugeschrieben werden. 217 Das Politische muß erfunden werden, da das Modell der westlichen Moderne veraltet ist und daher neu entwickelt werden muß. Man könnte demnach sagen, daß die Menschen im allgemeinen und insbesondere die Sozialwissenschaften relativ festgefügte, wenn auch sich unterscheidende Wahrnehmungen der Gesellschaft und des Gesellschaftlichen haben. Trotz dieser unterschiedlichen begrifflichen Wahrnehmungen der Gesellschaft kann dies in den wissenschaftlichen oder sonstigen Diskursen nicht als Politikum betrachtet werden, also als etwas, das der Diskussion, dem Zweifel und der Bemühung um Deutlichkeit entzogen wäre.
214 Kauko Pietilä/Klaus Sondermann, Torn between Society and Individual, in: Associations, Volume 1, Number 1, Berlin 1997, S. 11- 25. 215 Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a. M. 1993. 2
16 Vgl. ebd., S. 12-17. 2 E b d . , S. 7.
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Udéhin sagt, daß Elster sich der Beseitigung der Unfähigkeit der wirtschaftlichen Theorie verschrieben hat, die Kommunikation und das Zusammenwirken zu erfassen und zu erklären. Allerdings gelang ihm dies nicht, da in seiner „verbesserten" Theorie die Menschen noch immer genauso inkommunikativ wie im wirtschaftlichen Modell sind. Man muß deshalb nach einem neuen Maß der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Handelns suchen. Bei Searle findet man die Grundlage der Kommunikation von Menschen in ihrer Sprache. Nach Searle ist die Einheit der sprachlichen Kommunikation nicht, wie gemeinhin angenommen wird, das Symbol, das Wort oder der Satz, sondern vielmehr die Produktion oder Äußerung des Symbols, Wortes oder Satzes in der Durchführung des Sprechakts. 218 Gewöhnlich sprechen Menschen durch Worte nicht nur mit sich selber, sondern mit anderen Menschen. Diese Einheit enthält daher zwei oder mehr Personen, die durch die Sprache und ihre Äußerung miteinander verbunden sind. Georg Simmeis Lehre der »Verbindungsphänomene4 - also der Vorgänge, die Menschen miteinander verbinden - ähnelt grundsätzlich der Lehre Searles von den Sprechakten. Simmel zufolge gibt es die Gesellschaft als solche nicht in dem Sinne, daß die Gesellschaft die Bedingung für das Entstehen all der einzelnen Phänomene wäre, die Menschen miteinander verbinden. 219 Da also das Zusammenwirken als solches nicht existiert, sind nur spezifische Arten des Zusammenwirkens denkbar. Aufgrund ihrer Entstehung entsteht auch Gesellschaft, da sie weder die Ursache noch die Folge von Gesellschaft sind, sondern unmittelbar Gesellschaft selber darstellen. Es bleibt Aufgabe der Soziologie, die abstrakten Formen zu untersuchen, die nicht etwa selber die Vergesellschaftung hervorrufen, sondern nur die Vergesellschaftung als solche darstellen. Obwohl das Zusammenwirken der Gesellschaft unmittelbar gleichsteht, sind sie doch zwei verschiedene Dinge. Wenn man mit anderen zusammenwirkt, wirkt man eben nicht nur zusammen, sondern man formt Gesellschaft. Es besteht eine Assoziation zwischen dem Handelnden und den anderen als Konsequenz des Handelns. Aus dieser Perspektive ist das Zusammenwirken als analog zu dem zu betrachten, was unter dem Begriff des rationalen Handelns verstanden wird. Die Grundmaxime des rationalen Handelns besagt, daß man X tun muß, um Y zu erreichen. In Simmeis Soziologie findet man entsprechend das einzelne Zusammenwirken von Partnern und das konzeptuell unterschiedliche Ergebnis. Danach muß man, wenn man Gesellschaft erreichen will, mit anderen zusammenwirken. Gesellschaft steht weniger hinter den Individuen als vielmehr vor ihnen als etwas, das noch in die Tat umzusetzen ist. Es ist aber nicht ein Produkt von Handlung im Sinne eines Objekts, das seine Existenz unabhängig von und nach der es herstellenden Handlung fortsetzen würde. Es ist eine Qualität oder ein Aspekt der Handlung selber. Andererseits ist das, was die moderne Gesellschaft ausmacht, nicht die Zusammenwirkung der Individuen. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft nehmen die Begegnungen Einzelner miteinander eine Form an, 218 John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1980(1969), S. 16. 219
Georg Simmel, Soziologie, S. 11.
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3. Abschn.: Recht und Gesellschaft in den modernen Theorien der Assoziation
die ihre weitere Wahrnehmung als Zusammenwirken sehr erschwert. Dies rechtfertigt Soziologie nicht als das Studium der Gesellschaft, sondern als Suche nach ihr. Gesellschaft existiert nicht im Sinne eines Fertigprodukts. Vielmehr ist die Aufgabe der Soziologie darin zu sehen, die Gesellschaft - insbesondere den Grad der Vergesellschaftung in modernen Systemen, wie denen des Geldes und des Kapitals, der Verwaltungen oder der Regierungen - zu entdecken. Simmel schreibt, daß eine bestimmte Anzahl von Individuen Gesellschaft in mehr oder weniger großem Umfang sein kann. Mit jeder Gemeinschaftsbildung, mit jedem Zusammenschluß aufgrund gleichen Glaubens oder zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels, mit jeder Unterteilung in Positionen der Dominanz oder Unterwerfung oder auch nur mit jedem gemeinsamen Essen - also mit jedem ,Mehr* an Phänomenen dieser Art wird aus einer Gemeinschaft mehr Gesellschaft, als dies zuvor der Fall war. 220
§ 7 Strukturelemente des Rechts in der soziologischen Jurisprudenz und Theorie des Rechts bei und nach Max Weber Im Zentrum des Werks von Max Weber stand eine Theorie der Moderne. 221 Sie kann hier jedoch nicht Gegenstand der Erörterung sein. Es geht hier vielmehr darum zu zeigen, wie Weber seine Theorie der Moderne in unabdingbarer und eigentümlicher Weise mit dem Mittelalter verknüpft und wie auch bei Weber das Problem des Verhältnisses von Mittelalter und Moderne mit der Frage nach der geschichtlichen Bedeutung sozialer Gemeinschaften verbunden ist. Weber arbeitete dabei mit denselben Materien wie Tönnies und Simmel. Bei diesen beiden ging es, ähnlich wie bei Weber, um Gilde, Zunft und Stadt, um Korporation und Assoziation, um Kommune und Bürgertum. Weber formulierte jedoch im Hinblick auf diese Probleme und Phänomene andere Fragen und kam folglich auch zu anderen Antworten. Ausgangspunkt Webers ist nicht, wie bei Tönnies oder Simmel, die kontrastierende Gegenüberstellung von Mittelalter und Moderne. Weber fragt vielmehr nach der Verknüpfung zwischen beiden. Weber geht es nicht ,wie Tönnies, um eine grundsätzliche Kritik an der Moderne mittels eines normativ gegenübergestellten Mittelalters. Es geht ihm auch nicht, wie bei Simmel, darum, in einem Vergleich von Moderne und Mittelalter gewissermaßen die Kosten des Modernisierungsprozesses nachzuweisen. Es geht Weber ferner nicht darum, die ,Anomien" und die Desorganisation in der modernen Gesellschaft durch Anwendung mittelalterlicher Formen der Gemeinschaftsbildung und ihrer spezifischen ,Ethik4 zu therapieren. 220 Ebd., S. 11. 221 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987; David Frisby, S. 214 ff.; vgl. ferner: Detlef J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989.
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Webers Thema in diesem Zusammenhang ist vielmehr: die Darstellung der okzidentalen Moderne in einer beim Mittelalter ansetzenden Perspektive. Es geht ihm darum zu zeigen, was das Mittelalter zur Entstehung der Moderne beigetragen hat. Webers Erörterung des Problems von Mittelalter und Moderne ist, wie bei Tönnies und Simmel, mit dem Thema der sozialen Gemeinschaften in der Gesellschaft verbunden. Aber auch dieses Thema wird bei Weber in ganz anderer Form erörtert. Während Tönnies mit »Gemeinschaft und Gesellschaft* das Mittelalter und die Moderne kontradiktorisch gegenüberstellt,222 wird dieser Gegensatz bei Weber aspektiv aufgelöst. 223 Weber spricht nicht von Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern von Vergemeinschaftung 4 und »Vergesellschaftung4. Vergemeinschaftung soll dabei „eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns ... auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht44. Von Vergesellschaftung hingegen soll die Rede sein, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wertoder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht44; insbesondere beruhe „Vergesellschaftung4 auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage44. Diese Aspektivität in der Wahrnehmung von »Vergemeinschaftung4 und Vergesellschaftung 4 erlaubt nun die grundlegende Wahrnehmung des Sachverhalts, daß - wie Weber ausdrücklich feststellt - die große Mehrheit sozialer Beziehungen sowohl den Charakter der »Vergemeinschaftung4 als auch den der »Vergesellschaftung4 hat. 224 Die von Weber vorgenommene Orientierung des vergesellschafteten Handelns im Rationalitätsfall zwischen a) dem wertrationalen Handeln im Glauben an die eigene Verbindlichkeit und b) dem zweckrationalen Handeln in der Erwartung der Loyalität des Partners erinnert in seiner Terminologie an die von Friedrich Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft44 vorgenommenen Unterscheidung. Weber sieht die reinsten Typen der Vergesellschaftung in dem streng zweckrationalen, frei paktierten Tausch auf dem Markt, dem reinen, frei paktierten Zweckverein als eine nach Absicht und Mitteln rein auf Verfolgung sachlicher Interessen der Mitglieder abgestellte Vereinbarung kontinuierlichen Handelns sowie dem rational motivierten Gesinnungsverein als rationale Sekte, die unter Auslassung der Pflege emotionaler und affektueller Interessen nur der Sache dienen will. In dieser Betrachtung von Gemeinschaften in der Geschichte, nicht unter dem Gesichtspunkt von Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern unter dem Gesichtspunkt von »Vergemeinschaftung4 und »Vergesellschaftung4 als den Aspekten aller sozialen Gruppierung, eröffnet sich Weber eine Perspektive für die Beantwortung der Frage nach der Verknüpfung des Mittelalters mit der Moderne, für seine Frage 222
Ähnlich die Gegenüberstellung von »Korporation4 und »Assoziation* bei Simmel, siehe
oben. 223
Zur »Aspektivität4 wissenschaftlicher Erkenntnis bei Max Weber vgl. Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 17-55, bes. S. 33 ff. 224 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 21 f.
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nach der Begründung der Moderne im Mittelalter. Er gewinnt die Möglichkeit, soziale Gruppierungen im Mittelalter nicht nur als »Gemeinschaften* oder als bloße »Vergemeinschaftungen*, das heißt auf die von den Mitgliedern subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit, sondern auch als »Vergesellschaftungen* zu begreifen, das heißt: als Ausdrucksformen rationalen sozialen Handelns, das auf Interessenwahrnehmung, Interessenausgleich und Interessenverbindung beruht, auf Rationalität, Vereinbarung, Gegenseitigkeit und Kontrakt. 225 Es sind dies vor allem jene Gemeinschaften, die durch eine „ausdrückliche Verbrüderung** konstituiert werden, 226 durch den bewußten und willentlichen Zusammenschluß der Individuen auf der Grundlage ihrer Gleichheit.227 Vergesellschaftung kann nach Weber auf jeder Art der affektuellen, emotionalen und traditionalen Grundlage beruhen. Hier nennt er als Beispiele eine Brüderschaft, eine „nationale** Gemeinschaft, ein Pietätsverhältnis, eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe, insbesondere jedoch die Familiengemeinschaft als repräsentativste der menschlichen Gemeinschaften. Er geht davon aus, daß die große Mehrzahl dieser sozialen Beziehungen teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung besitzen. Jede über ein aktuelles Zweckvereinshandeln hinausgehende, also auf längere Dauer eingestellte, soziale Beziehungen zwischen den gleichen Personen herstellende und nicht von vornherein auf sachliche Einzelleistungen begrenzte Vergesellschaftung neigt in vielfältiger Weise dazu, Gefühlswerte zu stiften, die über den gewillkürten Zweck hinausgehen. Ebenso besteht die Möglichkeit, daß eine soziale Beziehung, deren normaler Sinn Vergemeinschaftung ist, von den beteiligten Personen ganz oder teilweise zweckrational interpretiert werden. 228 Die Soziologie Max Webers ist eine Wissenschaft, die sich mit dem interpretativen Verstehen sozialen Handelns beschäftigt. Nach Weber ist Handeln insoweit sozial, als seine subjektive Bedeutung das Handeln anderer in Betracht zieht und hieran in seinem weiteren Verlauf orientiert ist. Ein solches Handeln ist nicht gleichzusetzen mit der Bedeutung des „associating with one*s fellow creatures**, wie es eingangs dargelegt wurde. Indem wir unsere Aktivitäten planen und ausführen, beziehen wir andere Menschen darin ein. Ferner werden auch andere Dinge berücksichtigt: alle möglichen Objekte und Barrieren, Werkzeuge, die vorhanden sind oder fehlen usw. Wir assoziieren uns aber weder mit dem einen noch dem anderen. Die Definition Webers bezüglich des Begriffs der sozialen Handlung kann dem einfachen Modell desjenigen gegenübergestellt werde, der Sprache verwendet: Wenn man jemandem mitteilen möchte, was man denkt, bringt man dies gewöhnlich dieser Person gegenüber zum Ausdruck. Man spricht mit einer Stimme, 225 22
Weber verwendet wie Tonnies den romanistischen Begriff des »Kontrakts4. 6 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 417.
227 Zur genaueren Bezeichnung sozialer ,Gleichheit* in der Vormoderne wäre der Begriff der »Parität' zu verwenden; vgl. Gerhard Dilcher, Die genossenschaftliche Struktur von Gilden und Zünften, in: Gilden und Zünfte, hrsg. v. Berent Schwineköper (Vorträge und Forschungen 29), Sigmaringen 1985, S. 71 -111,74. 22
» Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Hb., S. 22.
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die die andere Person hört und versteht. Mit anderen Worte: man spricht und der andere versteht. 229 Der Sprechende will von anderen verstanden werden. Was auch immer der Grund dafür sein mag, es beinhaltet doch die Absicht, in eine Art Assoziation mit anderen zu treten. Dieser Zweck fehlt der Vorstellung Webers von sozialem Handeln. Das Individuum in der Soziologie Webers ist dem Zugriff der Gesellschaft als Gesamtheit entzogen. Weber verwendet den Begriff der »sozialen Beziehungen4, um das Verhalten einer Vielzahl von Handelnden insoweit zu beschreiben, als das Handeln eines jeden Einzelnen das der Anderen in Betracht zieht und sich daran orientiert. Folglich besteht die soziale Beziehung einzig und allein aus der Möglichkeit, daß es einen bedeutsamen Verlauf sozialen Handelns geben wird. 230 Die Normentheorie Max Webers wird im soziologischen Schrifttum bisweilen nicht zutreffend - als exemplarische Protagonistin einer Zwangs- und Sanktionstheorie des Rechts bzw. der Rechtsstabsthese231 bezeichnet. Hierauf wird weiter unten noch einzugehen sein. Die Vertreter einer Zwangs-, Sanktions- und Rechtsstabsthese berufen sich zur Begründung ihrer Auffassung auf § 6 der soziologischen Kategorienlehre Max Webers, die sich in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft 44232 findet. Dort heißt es: „Eine Ordnung soll heißen Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance des physischen und psychischen Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen."
Damit habe Weber - so wird angenommen - letztlich per definitionem den Beweis erbracht, für die These vom Zwangscharakter bzw. für die Erzwingung des Rechts durch den Rechtsstab zu votieren. 233 Diese vermeintliche »Definition4 der Norm, insbesondere der Rechtsnorm stellt jedoch tatsächlich gar keine Definition des Rechts dar, sondern ist von Weber als Versuch der Abgrenzung des Rechts gegenüber „Sitte44 und „Konvention44 intendiert. Dies muß aus dem Zusammenhang, in den Weber das Recht gestellt hat, entnommen werden, nämlich aus seinen Ausführungen zu Sitte und Ordnung, wobei er kontextuell auf die Ausführungen von Ihering und Tönnies zu Sitte und Ordnung verweist. Dies wird auch von Weber ausdrücklich klargestellt. Es geht ihm nicht um die Bestimmung des rechtlichen 229
Kauko Pietilä/Klaus Sondermann, Tom between society and individual, S. 13. 30 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1980 (1922), Bd. 1, S. 13. 2
231
Vgl. hierzu auch: Alan Hunt, The Sociological Movement in Law, London 1978% S. 103 f. 232 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, 1. Halbband, § 6b, S. 17. 233 Thomas Raiser, Rechtssoziologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 76. Dort wird Max Weber als der „Stammvater der sogenannten Zwangstheorie des Rechts" bezeichnet, die „heute in der Rechtssoziologie vorherrscht".
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Normbegriffs als solchen, sondern lediglich um die Abgrenzung zwischen dem Recht und anderen sozialen Normen, wenn er darauf hinweist, der Begriff „Recht" könne „für andere Zwecke ganz anders abgegrenzt" werden. 234 Weber geht es darum, die Möglichkeit der Garantie einer Ordnung, insbesondere einer Rechtsordnung nachzuweisen.235 Dies setze jedoch voraus, daß es gelingt, ganz spezifische, gewöhnlich mit dem Recht verbundene „Erwartungen" fortlaufend zu unterstützen, zu bestätigen und zu verstärken, sie also auf diese Weise zu gewährleisten. Nach der Auffassung Webers gehören zu den maßgebenden Strukturelementen des Rechts vor allem spezifische, sozial etablierte, normative „Erwartungen". Sie artikulieren sich mit den Mitteln der Rechtssprache und werden dadurch normativ auf Dauer gestellt, d. h. sie gelten, so lange sie nicht abgeändert werden. Diese „Erwartungen" können ihrerseits garantiert werden „durch Erwartungen besonderer Art", indem bei der Rechtsbefolgung besondere Erwartungen miterwartet werden. Die Gewährleistung des Rechts in dieser Form findet insbesondere „durch Erwartungen spezifischer äußerer Folgen"236 statt, die im Falle der Nichtbefolgung verhängt werden sollen. Hier sind insbesondere Sanktionen, Zwang und Gewalt von seiten der Staatsautorität zu nennen. Es muß festgestellt werden, daß sich die „Elemente" zu Webers Soziologie des Rechts eigentlich nicht in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft" und folglich auch nicht in seiner darin enthaltenen „Rechtssoziologie"237 finden lassen, sondern vielmehr in Webers Kritik der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Stammlers, die eine Art Grundlegung seiner Normentheorie darstellt. 238 Weber stellt sich ferner die Frage, was unter dem von Stammler verwendete Begriff der »Regel· zu verstehen ist, wenn er ausführt, daß das entscheidende Merkmal des sozialen Lebens dessen formale Eigenart ist, normativ „geregeltes" Zusammenleben zu sein und aus den Wechselbeziehungen der Menschen „unter äußeren Regeln" zu bestehen. Zunächst erörtert Weber die sogenannten „Naturgesetze" im Sinne der kausalen Verknüpfung genereller Aussagen als Grundidee einer Regel. Wollte man dann „Gesetze" als generelle Kausalsätze von bedingter Strenge verstehen, so wäre man nach Weber wohl nicht in der Lage, alle Erfahrungssätze, die dieser Strenge entbehren mit dem Begriff der,Regel· zu versehen. Gleiches soll für die sogenannten „empirischen" Gesetze gelten, die zwar empirische Ausnahmslosigkeit besitzen, jedoch über die für die Einsicht in die kausale Bedingtheit der Ausnahmslosigkeit notwendige Einsicht nicht verfügen. Eine Regel im Sinne eines empirischen Gesetzes und generellen Er234 235 236 237
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, S. 18. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbband, Kap. VII, § § 1 - 8 , S. 387 ff.
238 Max Weber, Rudolf Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., Tübingen 1973, S. 291 -359, 322 f., 343 f. Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, in: Festschrift für Klemens Pleyer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Paul Hofmann u. a., Köln 1986, S. 217-235,222 ff.
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fahrungssatzes ist etwa die Tatsache, daß die Menschen „sterben müssen". Zum anderen bietet Weber als Begriff der „Regel" eine „Norm" an, an der gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge im Sinne eines Werturteils „gemessen" werden, die generelle Aussage eines Sollens, im Gegensatz zum empirischen „Sein", mit dem es die Regel im ersten Fall zu tun hatte. Im Gelten der Regel ist im zweiten Fall ein genereller Imperativ zu erblicken, dessen Inhalt die Norm selber ist. Im ersten Fall soll das „Gelten" der Regel in der empirischen Wirklichkeit „gegeben" oder aus dieser durch Generalisierung erschließbar seien.239 Max Weber versteht in dieser Untersuchung die rechtssprachliche „Norm" und gelebte, also in menschliches Verhalten umgesetzte „Rechtsregei" als die Strukturelemente eines institutionell regulierten sozialen Zusammenlebens. Weber macht unter Berufung auf Stammler, der selber die Analogie von Spielregeln bei der Beschreibung des Rechts verwendet, am „Paradigma des Skatspiels" deutlich, daß die Befolgung einer Spielregel als „Voraussetzung" eines Spiels gedacht werden kann. Dies ist möglich, ohne daß dadurch bereits Aussagen über den möglichen Verlauf einer solchen Partie getroffen werden können.240 Durch die Übertragung dieser Überlegungen auf die Regeln des Rechts und ihre Befolgung war Weber in der Lage zu zeigen, daß Rechtsregeln, unabhängig von ihrem normativen Charakter, gleichzeitig „ungemein wichtige Bestandteile" des sozialen Lebens darzustellen. Weber formulierte dies folgendermaßen: „Die Rechtsregei, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine »form" des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt sein möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime, die, in mehr oder minder großer »Reinheit*, das empirisch zu beobachtende Verhalten eines, in jedem Fall unbestimmt großen, Teils der Menschen kausal bestimmt und im Einzelfall mehr oder minder bewußt und mehr oder minder konsequent befolgt wird." 241 Wie Weber anhand des Vergleichs von Spielregeln und Rechtsregeln am Paradigma des Skatspiels feststellt, bilden Spielregeln ebenso wie diejenigen des Rechts ein institutionell auf Dauer gestelltes System von Orientierungsgesichtspunkten, die den Aktionsbereich der Mitspieler strukturieren. Soziale Spielregeln, unter Einschluß derjenigen des Rechts, gestatten es, mit größerer Sicherheit begründete Vermutungen über die Spielweise der Mitspieler anzustellen. Ohne diese Regeln wären solche Vermutungen schwerer durchführbar, da auch die Aktivitäten der anderen Mitspieler diesen normativen Erwartungen unterliegen.242 Die maßgebende Funktion aller sozial etablierten und insti239 Max Weber, Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, S. 323. 240 Ebd., S. 322 ff., 339 f. Vgl. dazu auch: Werner Krawietz, Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln 1986, S. 517-550,529 ff. 547 ff. 241
Max Weber, Stammlers „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung,
S. 349. 242
Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 427-474,439 ff., 442 ff.
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3. Abschn.: Recht und Gesellschaft in den modernen Theorien der Assoziation
tutionalisierten Rechtsregeln als menschlicher »Artefakte" kann damit, ebenso wie diejenige der Spielregeln, darin gesehen werden, daß jeder „sein eigenes Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren kann". 243 Hieraus geht hervor, daß nach Auffassung Webers das maßgebliche Strukturelement der Rechtsregel nicht die Sanktionsdrohung oder der Zwang ist. Vielmehr ist es die in der Rechtsvorschrift unmittelbar zum Ausdruck kommende normative „Erwartung", die dem Mitspieler (als dem Adressaten der Rechtsnorm) als für ihn verbindlich, also als zu befolgende, unterstellt werden darf.
243 Ebd., S. 440,473 f.
Vierter Abschnitt
Institutionalisierung mit Mitteln des Rechts und Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung § 8 Zugänge zu einem institutionalistischen Rechtsdenken 1. Begriff der Institution In Rechtspraxis und Rechtswissenschaft werden nach einem alten, weitgehend übereinstimmenden Sprachgebrauch Rechtseinrichtungen von mehr oder weniger grundlegender Bedeutung als Institutionen bezeichnet. Hierzu zählen, um auf das private Alltagsleben im Recht zurückzugreifen, der Vertrag, das Eigentum, die Ehe und die Familie. Dinge, die ein Mensch sein Eigentum nennt, sind solches nicht nur deswegen, weil er ein Recht an ihnen hat, welches in Anspruch genommen und erforderlichenfalls auch durchgesetzt werden kann. Dinge können jemandem als sein Eigentum nur deswegen zugeschrieben werden, weil die rechtliche Lebensform unserer Gesellschaft das Eigentum als Institution vorsieht, also als eine vom Einzelfall abgelöste grundlegende Rechtseinrichtung schon kennt und gewährleistet. Die von Rechts wegen bestehende Rechtslage bezüglich dieser Dinge kann im Wege vertraglicher Vereinbarung geändert werden, indem beispielsweise das Eigentum auf einen anderen übertragen wird. Dies ist aber nur deswegen möglich, da die Rechtsordnung den Vertrag als Institution und damit als Bestandteil der rechtlichen Lebensform bereits kennt und eben dies vorsieht. Ehe und Familie sind ebenso in unserer Gesellschaft als rechtliche Formen anerkannt und als solche „existent". Die rechtliche Existenz derartiger Institutionen ist jedoch nicht auf die private Lebenswelt beschränkt.244 Als Institutionen gelten auch gewisse Organisationsformen des Gemeinschaftslebens, wie der Markt, die Unternehmen, aber auch die Gewerkschaften, Parteien und sonstigen Körperschaften, gleich ob solche des privaten oder öffentlichen Rechts. Wohl kaum eine Rechtseinrichtung von grundlegender Bedeutung ist noch nicht als Institution bezeichnet worden. Dies kann als Ausdruck und Beweis für eine institutionalistische Rechtsauffassung im Rechtsdenken der Gegenwart bezeichnet werden. Auch der Staat245 und seine Verfassung 246 so244
Vgl. hierzu: Geoffrey Vickers, Making Institutions Work, London 1973. Rudolf Smend, Das Problem der Institution und der Staat, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2., erweiterte Aufl., Berlin 1968, S. 500-516. 245
6 Simon
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4. Abschn.: Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung
wie die Rechtsordnung als ganze 247 werden im praktischen Rechtsleben, aber auch in den mit diesen Einrichtungen befaßten Wissenschaften als Institutionen bezeichnet. Was ein derartiges Rechtsverständnis in rechtstheoretischer wie in philosophischer und soziologischer Hinsicht für uns interessant erscheinen läßt, ist der Umstand, daß eine institutionalistische Rechtsauffassung - ganz unabhängig von der jeweiligen inhaltlichen Ausgestaltung der verschiedenen, heute gewöhnlich staatlich organisierten Rechtssysteme - offensichtlich bestimmte Möglichkeiten bietet, einzelne Regelungen des Rechts, aber auch die Rechtsordnung als ganze zugleich als integrierende Bestandteile der rechtlichen Lebensform einer Gesellschaft zu begreifen, die mit dem Verhalten aller Einzelnen in einem noch näher zu kennzeichnenden Wirkungszusammenhang stehen. Diese Eigenart des regelgeleiteten menschlichen Handelns, um die es auch dem Recht und der Rechtswissenschaft ganz zentral zu tun ist, hat Ludwig Wittgenstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen" treffend charakterisiert. Er schreibt dort: „Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)."248
Es stellt sich die Frage, auf welche Weise die Regeln des Rechts, letzteres verstanden als Institution, menschliche Handlungsweisen zu bestimmen vermögen bis hin zur alltäglichen Regelbefolgung im Einzelfalle. Wie bei jeder geregelten Form menschlicher Aktivität, bei der Sprache im Spiel ist, sind auch die Regeln des Rechts weder in jedem von ihnen erfaßten Falle völlig eindeutig noch erfassen sie jeden sich ereignenden oder doch zumindest denkbaren Fall. In Orientierung an dem sprachlichen Regelcharakter des Rechts hat die deutsche Interessen- und Wertungsjurisprudenz, die ihre Grundlagen einer normativ-realistischen Rechtsauffassung verdankt, 249 schon am Ausgang des vorigen Jahrhunderts seit von Ihering und Heck eingehend belegt, daß im praktischen Leben alle Rechtserzeugung bis hin zur fallweisen richterlichen Rechtsgewinnung „sich nur bis zu einem bestimmten Grade durch allgemeine Maximen regeln" läßt und daher „stets einen Unsicherheitskoeffizienten" in sich trägt. Dies macht es notwendig, alles Recht und seine Anwendung, was immer man im einzelnen darunter verstehen mag, als durch mehr oder weniger weitgehend institutionalisierte Regelsysteme gesteuert anzusehen. Wer die Häufigkeit der Verwendung von Wort und Begriff der Institution im 246 Bernd Rüthers, „Institutionelles Rechtsdenken" im Wandel der Verfassungsepochen, Bad Homburg v. d. H. 1970. 247 Dazu schon Maurice Hauriou, Die Theorie der Institution, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1965, S. 28 ff., 34 f. Vgl. ferner Santi Romano, Die Rechtsordnung, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1975, S. 32: „Jede Rechtsordnung ist Institution und, umgekehrt, jede Institution ist Rechtsordnung." 248 Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, S. 344, Rdnr. 199. 249 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. XIII ff., 175 ff., 178 f.
§ 8 Zugänge zu einem institutionalistischen Rechtsdenken
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Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft als Indikator dafür ansieht, daß hierdurch eine institutionalistische Rechtsauffassung zum Ausdruck gelangt, der kann zu der Annahme kommen, daß in der rechtstheoretischen Entwicklung ein erneutes Wachstum und eine rasch fortschreitende Ausweitung des institutionalistischen Rechtsdenkens beobachten ist. 250 Begreift man das Recht insgesamt als ein „institutionelles Ordnungssystem", das in der staatlichen Organisation des Rechts, in Gesetzgebung, Verordnungsgebung und sonstigen Entscheidungsverfahren sich selbst „objektiviert", dann gewinnt die Rechtswissenschaft - jedenfalls als praktische, auf Vorbereitung und Kontrolle der Rechtsanwendung bedachte Disziplin den Charakter einer Fachwissenschaft, welche in der Tat die „institutionelle Einwirkung auf das Handeln der Einzelperson klärt und lehrt". 251 Im folgenden geht es darum, aus der Sicht einer allgemeinen Rechtslehre oder Rechtstheorie einige moderne Denkansätze aufzuzeigen, die wegen der Eigenständigkeit ihres Zugangs zum Recht als Formen eines Neuen Institutionalismus im Rechtsdenken der Gegenwart charakterisiert werden.
2. Typen und Arten des Institutionalismus im Recht In der modernen Rechtstheorie werden gewöhnlich drei Typen bzw. Arten eines institutionalistischen Rechtsdenkens unterschieden, nämlich (1) ein naturrechtlicher, (2) ein rechtspositivistischer und (3) ein nachpositivistischer Institutionalis252
mus. Es wird hier davon ausgegangen, daß die Institutionentheorie des Rechts - jedenfalls in den heute klassische Varianten - im wesentlichen in der französischen und in der italienischen Rechts- und Sozialtheorie entwickelt worden ist, nämlich durch Hauriou und Santi Romano.253 Zu den bedeutendsten Vertretern einer naturrechtlich geprägten institutionalistischen Rechtslehre werden üblicherweise Maurice Hauriou und sein Schüler und Fortsetzer Georges Renard gerechnet. Hauriou versteht unter einer Institution die Idee eines Artefakts, eines Werkes oder eines Unternehmens, die in einem sozialen Milieu Verwirklichung und Rechtsbestand findet. Diese Idee muß in die Tatsachen250 Werner Krawietz, Rechtssystem als Institution? In: Rechtstheorie Beiheft 6 (1984), S. 209-243,211 ff. 251 Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 1 -21, 3 f. 252 Julius Stone, Die Abhängigkeit des Rechts: Die Institutionenlehre, in: Roman Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 312-369, 315 ff., 319. 253 Christopher B. Gray, A Forgotten Link in Legal Sociology. Influences by and upon Maurice Hauriou, in: Rechtstheorie 15 (1984), S. 256-267. Maximilian Fuchs, Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, Berlin 1979, S. 42 ff., 59 ff. Julius Stone, Two Theories of „The Institution", in: Ralph A. Newman (Hrsg.), Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound, Indianapolis/New York 1962, S. 296-338;. 6*
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4. Abschn.: Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung
weit umgesetzt werden. Hierfür bildet sich eine Macht aus, welche die Idee bzw. die Institution mit Organen ausstattet. Zwischen den Mitgliedern der an der Durchsetzung einer Idee beteiligten sozialen Gemeinschaft ergeben sich unter der jeweiligen Oberleitung der Organe Gemeinschaftsbekundungen, die bestimmten Regeln folgen. 254 Solche Personen-Institutionen (institutions-personnes), zu denen Hauriou beispielsweise Vereinigungen, Gewerkschaften und Staaten rechnet, werden anders als die hiervon zu unterscheidenden Sach-Institutionen (institutions-choses) zu selbständigen Personen hypostasiert.255 Für die Institutionen der zweiten Kategorie, also die Sachinstitutionen, ist charakteristisch, daß sie keine eigene Körperschaft im Sinne eines sozialen Körpers darstellen. Hauriou bezeichnet die sozial fest verankerten Rechtsnormen als Institutionen dieses Typs. Die Rechtsnorm sei Institution im Sinne von institutions-choses y da sie sich als Idee im sozialen Milieu ausbreite und in ihm lebe. 256 Wichtigstes Element der verbandsmäßigen Institutionen ist für Hauriou die Idee des zu schaffenden Werkes innerhalb einer sozialen Gruppierung oder innerhalb sozialer Systeme. Diesen Ideen mißt er einerseits in genuin idealistischer Deutung ein reales Dasein an sich bei. Als objektive Idee vom zu schaffenden Werk dringe sie in ein soziales Milieu ein; im Falle der Rechtswirklichkeit werde sie ein sozialer Tatbestand und erlange in ihm ihre Existenz.257 Zu Recht betont Hauriou andererseits den realen Charakter der Institutionen, die sich nicht in bloßen Strukturvorgaben, Werten und Programmen menschlichen Handelns erschöpfen, sondern sich erst durch soziales Verhalten als real existierende soziale Systeme etablieren. Es kann nämlich nicht darum gehen, anhand einer rein analytischen Methode ein statisches System von Rechtssätzen - ungeachtet der rechtlichen Wirklichkeit! - zu konstruieren und damit einem normativistischen Schematismus zu erliegen, sondern vielmehr darum, rechtlich relevante Verhaltensweisen, die sich an rechtsnormativen Strukturen orientieren, zu beobachten, zu beschreiben und im jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu erklären. Trotz des Versuchs von Hauriou, den Zusammenhang von Sein und Sollen realistisch darzustellen, darf nicht übersehen werden, daß seine These ganz wesentlich auf den Prämissen des Naturrechts basiert und damit idealistisch präsupponiert bleibt. Er ist der Auffassung, das Recht entspringe der metaphysisch-spekulativ gedeuteten Natur des Menschen, nämlich einem moralischen Gefühl oder Instinkt.
254 Maurice Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung (Essay über den sozialen Vitalismus), in: ders., Die Theorie der Institution und andere Aufsätze, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1965, S. 34; ähnlich auch: Georges Renard, La Theorie de l'Institution. Essai d'ontologie juridique, Paris 1930, S. 31 ff. 255 Maurice Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung, S. 34. 256 Ebd., S. 35. 257 Ebd., S. 35 f.; vgl. zum idealistischen Charakter der „Idee" bei Hauriou: Victor Leontovitsch, Die Theorie der Institution bei Maurice Hauriou, in: Roman Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 179.
§ 8 Zugänge zu einem institutionalistischen Rechtsdenken
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Den Leitideen (idées directrices) mißt Hauriou präexistentiellen Charakter bei. Das menschliche Bewußtsein schaffe nicht die Ideen, sondern entdecke die Ideen und stoße auf sie. Zur Veranschaulichung benutzt Hauriou die Metapher eines Bergmanns, der auf einen Edelstein trifft und ihn aus dem Berg von Ballast an das Tageslicht bringt. 258 Die Leitideen verkörpern für Hauriou nicht bloß die Zielsetzungen und Funktionen gesellschaftlichen Wollens, sie haben ursprüngliche Realität und lediglich die Tendenz, sich in der wirklichen Welt zu realisieren, indem die Institutionen als Quelle der Rechtsnormen fungieren. Haurious Theorie der Institution ist somit in den wesentlichen Grundzügen dem idealistischen Gedankengut verhaftet, so daß seine partiell durchaus rechtsrealistischen Betrachtungen auf einer metaphysisch-spekulativen Basis aufbauen. Die geistige Grundeinstellung Santi Romanos ist gegenüber derjenigen Haurious grundlegend verschieden. Romano kann sicherlich nicht als Naturrechtler bezeichnet werden. Üblicherweise sieht man ihn als Positivisten.259 Diese Einschätzung ist jedoch davon abhängig, was man unter dem Begriff des Positivismus bzw. des Gesetzes- und Rechtspositivismus versteht. Für die Lehre Romanos ist von wesentlicher Bedeutung, daß der Begriff der Rechtsordnung mit dem der Institution konfundiert wird. Jede Rechtsordnung sei Institution und umgekehrt sei jede Institution Rechtsordnung. Diese Gleichheit wird von Romani als notwendig und absolut betrachtet.260 Die Institution ist für ihn nicht, so wie es Hauriou gesehen hatte, Rechtsquelle und somit ist das Recht auch nicht ein Produkt der Institution. Dies wird damit begründet, daß Rechtsordnung als ganze nicht nur eine Einheit von Normen oder Normenkomplexen sei, sondern eine komplexe Ordnung, die sich zwar teilweise nach den Normen bewege, die aber vor allem die Normen selbst hervorbringe. Den Normen wird insoweit gegenüber der Rechtsordnung nur sekundäre Bedeutung beigemessen. Sie seien bloß Objekt und Mittel der Tätigkeit der Rechtsordnung und nicht Elemente ihrer Struktur. 261 Im Gegensatz zu der in ihren wesentlichen Zügen erhalten bleibenden Rechtsordnung seien Normen veränderbar. In den Normen sieht Romano keinen grundlegenden und ursprünglichen Akt des Rechts.262 Dies hat zum Vorwurf des Antinormativismus geführt. 263 Die Normen, die als einzelne selbstverständlich kontingent sind und geändert werden könnten, werden von Romano nur als von der institutionellen Rechtsordnung abgeleitete 258
Maurice Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung, S. 39. Vgl. beispielsweise: Ota Weinberger, Institutionentheorie und Institutionalistischer Rechtspositivismus, in: ders./Werner Krawietz (Hrsg.), Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker, Stuttgart 1985, S. 149. 2 Santi Romano, Die Rechtsordnung, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1975, S. 32. 259
2
6i Ebd., S. 23.
2 2
*
Ebd., S. 49. Maximilian Fuchs, Die Allgemeine Staatstheorie Santi Romanos, Berlin 1979, S. 38 ff.; Ota Weinberger, Institutionentheorie und Institutionalistischer Rechtspositivismus, S. 149. 263
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und zweitrangige Phänomene dargestellt. Ferner geht er davon aus, daß es Rechtsordnungen gebe, in denen jegliche Art von Normen, seien es geschriebene oder ungeschriebene, also gewohnheitsrechtliche, fehlten. 264 In Ermangelung dieser rechtlichen Elemente müsse man das Recht in der institutionellen Gewalt des Richters erblicken, der das objektive soziale Bewußtsein ausdrücke.265 Den bestimmenden Gesichtspunkt des Rechts stellen bei Romano nicht die Normen, sondern die Institutionen, worunter er jedes konkrete soziale Etwas, jede reale soziale Erscheinung versteht, in der sich das Recht erst normativ konkretisiert. 266 Wenn aber die Normen lediglich Produkt etablierter Ordnungen sein sollen, so drängt sich die Frage auf, wie die Entstehung der Institutionen unabhängig von normativen Mustern möglich ist. Romano meint, es handle sich um einen „rein tatsächlichen Vorgang" 2 6 7 Recht gebe es beispielsweise erst unmittelbar mit der Existenz eines effektiven, lebendigen Staates. Er vertritt insoweit eine fast etatistische Rechtsauffassung. Das Recht ist nach Romano, noch bevor es Norm wird, Organisation: Recht gebe es erst in dem Augenblick, in dem die Entwicklung einer stabilen sozialen Ordnung vollzogen sei. Vorherige Ereignisse bewegten sich im rein faktischen Bereich und seien kein Recht. Was vorher der Welt des Faktischen angehört habe, müßte dann nach Romano gewissermaßen durch einen Sprung ins Recht als solches qualifiziert werden. 268 Romano trennt mit dieser Unterscheidung zu sehr die Seins- von den Sollensaspekten des Rechts. Das Zusammenspiel von Norm und Faktum wird trotz der durchaus vorhandenen rechtsrealistischen Ansätze nicht hinreichend herausgestellt. Nur was real zunächst Ordnung geworden ist, wird dann in einem weiteren Schritt gleichsam automatisch Recht. Da Romano nicht nur den Staat als eine solche Rechtsordnung ansieht, sondern prinzipiell sämtliche organisierten sozialen Systeme, kann ihm zwar nicht der Vorwurf des Etatismus oder Gesetzespositivismus gemacht werden. Trotzdem ist Romanos Ordnungsgebundenheit allen Rechts eine noch zu enge, nicht die gesamte Wirklichkeit allen gesellschaftlichen Rechts erfassende Sichtweise, die ihm den Blick auf die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichem und staatlichem Recht zumindest teilweise verstellt und letztlich die von ihm selbst geforderte Überwindung der Dichotomie von Sein und Sollen unmöglich macht. Deshalb ist Romanos Position dem positivistischen Denken innerhalb des Institutionalismus zuzurechnen. Romano erkennt nicht, daß jede soziale Ordnung schon stabile normative Strukturen voraussetzt, an denen sich soziales Verhalten orientieren kann. Ohne grundlegende normative bzw. rechtsnormative Muster können Institutionen in 264 Santi Romano, Die Rechtsordnung, S. 27; ähnlich auch Peter Sack, ,Law\ Normativity and „Power-Conferring Rules", in: Aulis Aarnio/Stanley L. Paulson /Ota Weinberger/Georg Henrik von Wright/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993, S. 749-759. 265 Santi Romano, Die Rechtsordnung, S. 27. 266 Ebd., S. 38. 267 Ebd., S. 49. 268 Maximilian Fuchs, Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, S. 51 ff.
§ 8 Zugänge zu einem institutionalistischen Rechtsdenken
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Form eines dauerhaften Regelsystems nicht etabliert werden. Es soll hier nicht Partei für einen die Faktizität der Institutionen ignorierenden Normativismus ergriffen werden. Vielmehr geht es darum, von vornherein auf die Bedeutung der Normen für jede Art sozialen Handelns hinzuweisen. Im folgenden werde ich mich deshalb vor allem mit dem nachpositivistischen Rechtsdenken der Gegenwart befassen, dessen eigenständige Bedeutung in Deutschland schon am Ausgang der 1940er Jahre erkannt wurde. 269 Dieser stellt, zumindest in der Variante, um die es hier geht, eine gewisse Parallele zum nordamerikanischen Rechtsrealismus dar, der vor allem in der berühmt gewordenen Untersuchung von Karl N. Llewellyn „The Constitution as an Institution"270 schon früher zum Ausdruck gelangt war. Aus diesen Untersuchungen wie aus der deutschen Entwicklung in der Nachkriegszeit wird ersichtlich, daß ein institutionelles Rechtsdenken sowohl vereinbar ist mit einem Gesetzes- und Rechtspositivismus, als auch mit einem schon nachpositivistischen Rechtsrealismus, wie er im Anschluß an Ihering und Max Weber und schließlich vor allem durch Schelsky vertreten wurde. Dieser deutsche Rechtsrealismus, der sich durch seine auch normative Orientierung sowohl von dem nordamerikanischen Legal Realism271 als auch von dem skandinavischen Rechtsrealismus deutlich unterscheidet,272 operiert seit vielen Jahrzehnten auf der Grundlage eines nicht mehr positivistischen Handlungsund Forschungsparadigmas.
3. Entwicklung des nachpositivistischen Institutionalismus und Abgrenzung zum Rechtspositivismus und den Naturrechtslehren
Meine zentrale These, um deren Beleg es mir hier und im folgenden § 9 geht, ist die, daß es sich bei der Theorie der Institution, wie sie nach dem Zweiten Weltkriege im Verlauf der letzten Jahrzehnte in Deutschland entwickelt wurde, keineswegs um eine bloße Wiederbelebung und Fortführung älterer Denkansätze handelt, sondern daß es im wesentlichen um eine Neubestimmung der Institutionentheorie allen Rechts geht. Diese Theorieentwicklung wurde in der Nachkriegszeit vor allem durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsdenken und dem Rechtspositivismus nachhaltig gefördert. Schon in den 50er Jahren wurde von den Kritikern des nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland wiederauflebenden 269
Hans Dombois, Institution und Norm, in: ders. (Hrsg.), Recht und Institution, Stuttgart 1969, S. 96-108. Rolf Peter Collies, Institution und Recht, ebd., S. 11-65. 27 0 Karl N. Llewellyn, „The Constitution as Institution", in: Columbia Law Review 34 (1934), S. 1-40. 271 Dazu: Robert S. Summers, Pragmatic Instrumentalism and American Legal Theory, in: Rechtstheorie 13 (1982), S. 257-268; ders., Pragmatischer Instrumentalismus und amerikanische Rechtstheorie, Freiburg 1983. 27 2 Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien/ New York 1978, S. 97 ff., 115 ff., 133 ff.
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Naturrechtsdenkens mit Grund darauf hingewiesen, daß die Geltungsbegründung des Naturrechts auf Annahmen über das Wesen des Menschen und des Rechts basiere, die letztlich auf einer metaphysisch-spekulativen Betrachtungsweise beruhten. Vom Standpunkt dieser Kritiker aus betrachtet, mußten deshalb die damaligen Versuche, alle rechtlichen Regulierungen auf eine im geltenden Recht nicht enthaltene, aber diesem präsupponierte vorrechtliche Natur des Menschen und des Rechts zu gründen, wegen ihrer metaphysisch-spekulativen Voraussetzungen und Implikationen als dubios und nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsdenken führte infolgedessen nahezu zwangsläufig zu der Forderung nach einer nicht metaphysischen Begründung des Rechts. Sie basierte auf der wachsenden Einsicht, daß alles Recht nicht nur Natur ist, sondern Geschichte, worauf schon die deutsche historische Rechtsschule mit Grund hingewiesen hatte. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis hin zur Erneuerung einer geschichtlich-gesellschaftlich geprägten, institutionalistischen Betrachtungsweise, die der Einbettung allen Rechts in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und praktischen Lebensumstände wieder stärker Rechnung trug. Im Verlaufe der 60er Jahre des 20. Jhdts. wirkte auch die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus in Richtung einer Erneuerung der bis dato vorliegenden institutionalistischen Rechtslehren. Zunächst konnte der juristische Positivismus, hier verstanden als eine Form und Spielart des aus dem 19. Jhdt. überkommenen Gesetzes- und Rechtspositivismus, sich gegenüber dem in Ideologieverdacht geratenen Naturrechtsdenken noch als eine vermeintliche Alternative stilisieren und als ein Ausweg aus dem Dilemma, in das alles Naturrechtsdenken geraten war. 273 Schon bald wurde jedoch, wie Roman Schnur sehr scharfsinnig diagnostizierte, das Unvermögen des Rechtspositivismus als Rechtstheorie deutlich, sich den Anforderungen einer „immer stärker einsetzenden soziologischen Forschung" zu öffnen. 274 Alle diese Momente wirkten in der Entwicklung des zeitgenössischen Rechtsdenkens in Richtung einer erneuten Befassung mit der Problematik des Verhältnisses von Institution und Recht. Auch führten sie in der kritischen Reflexion der Grundlagen des Rechts und des Rechtsdenkens zu einer verstärkten Kooperation von Juristen, Philosophen und Soziologen. Ferner wurden in der interdisziplinären, sich rasch internationalisierenden Diskussion auch gewisse „nationale Verschiedenheiten des Denkens und des Argumentierens" sichtbar,275 die in den bloß intradisziplinären, rein fachwissenschaftlichen, nationa27 3
Walter Krebs, Positives Recht versus Naturrecht? In: Anselm Hertz /Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Freiburg/Basel/Wien 1978, Bd. 2, S. 300311; Werner Krawietz, Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte, in: Konrad von Bonin (Hrsg.), Begründungen des Rechts II, Göttingen 1979, S. 57-85, 58 f.; ders., Theoriesubstitution in der Jurisprudenz, in: Dorothea Mayer-Maly/ Peter M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Berlin 1983, S. 359412, 368 ff., 371 f. 27 4 27
Roman Schnur, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Institution und Recht, S. VII f. 5 Ebd., S. VIII f.
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len Auseinandersetzungen um die sachgerechte Konzeption der Institutionentheorie zunächst ignoriert worden waren. Ihrer Tendenz nach sind alle diese Erneuerungsbestrebungen im institutionellen Rechtsdenken gekennzeichnet durch ihre dezidiert antimetaphysische Auffassung des Rechts, das nun - ohne Leugnung der normativen Aspekte aller gesetzlichen Regulierungen - zunehmend auch als faktisch existierende und wirksame soziale Ordnung verstanden wird. Institutionalistische Rechtstheorien alter und neuer Prägung haben heute vor allem deswegen wieder Hochkonjunktur, weil die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung in den letzten Jahrzehnten sehr viel deutlich als bisher den heimlichen Mangel aufgedeckt hat, an dem die bloß analytischen Richtungen der modernen Rechtstheorie seit jeher krankten und bis auf den heutigen Tag leiden, nämlich ihr rechts- und gesellschaftstheoretisches Defizit. 276
§ 9 Divergierende Rationalitätsansprüche und Rationalitätsprinzipien des spätpositivistischen Institutionalismus und eines nachpositivistischen Neuen Institutionalismus Die anfangs aufgeworfene Frage, in welcher Weise die Regeln des Rechts das menschliche Handeln bestimmen bis hin zur alltäglichen Regelbefolgung im Einzelfalle, wird heute sehr unterschiedlich beantwortet. Dies liegt zum einen an der Theorieabhängigkeit der Antworten, zum anderen an der Divergenz der zeitgenössischen Deutungsversuche in der Rechtstheorie. In den Auseinandersetzungen zwischen den bloß analytischen und den rechtsrealistischen Richtungen moderner Rechtstheorie nehmen die Institutionentheorien des Rechts eine vermittelnde Stellung ein. Die Anhänger eines als positivistisch bzw. rechtspositivistisch zu bezeichnenden Institutionalismus in der zeitgenössischen Rechtstheorie stimmen, bei allen nationalen und kulturellen Differenzen der jeweiligen Theorietradition, darin überein, daß sie ihrer Rechtsauffassung und Forschungspraxis die Programmatik eines juristischen Positivismus zugrunde legen oder ihr doch zumindest nahestehen. Letzterer wird hier verstanden als eine im Detail wie auch immer beschaffene Form des Gesetzes- und Rechtspositivismus.277 Hiermit korrespondiert üblicherweise auch 276 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Rechtssystem als Institution?. Über die Grundlagen Helmut Schelskys sinnkritischer Institutionentheorie, in: Dorothea Mayer-Maly/Ota Weinberger/Michael Strasser (Hrsg.), Recht als Sinn und Institution, Berlin 1984, S. 209243, 210 ff. 27 7
Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, S. X f., 3 ff., 227 f. Samuel /. Shuman, Sprachanalytische Philosophie. Legal Positivism. Its Scope and Limitations, Detroit, Mich. 1963; Horst Eckmann, Rechtspositivismus und sprachana-
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ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Positivismus, der den Zugang zum Recht und seiner Erkenntnis in methodologischer Hinsicht sehr weitgehend präformiert und präjudiziert. 278 Dabei ist vor allem an bestimmte rechtstheoretische Sichtweisen zu denken, die heute insbesondere im anglo-amerikanischen Schrifttum identifiziert werden können. Der rechtspositivistische Institutionalismus beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf Vertreter der britischen bzw. nordamerikanischen Rechtstheorie. Der Kreis der Anhängerschaft reicht weit über diesen Kreis hinaus. Zu den Vertretern eines rechtspositivistischen Institutionalismus können auch eine Reihe von Anhängern einer analytischen Jurisprudenz gezählt werden, die wohl am reinsten von den diversen Varianten der »Reinen Rechtslehre4 verkörpert wird. 279 Infolge ihres übersteigerten Normativismus, der durch das von ihnen propagierte Reinheitspostulat noch gestützt und verstärkt wird, haben diese rechtstheoretischen Schulrichtungen heute Schwierigkeiten, sich in hinreichendem Maße auch der gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen und Grundlagen ihrer Normentheorie zu vergewissern. Die Wiederbelebung und Neubegründung institutionalistischer Rechtslehren erscheint demgegenüber geeignet und hat ihren Grund nicht zuletzt in der Notwendigkeit, das durch die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung diagnostizierte gesellschaftstheoretische Defizit der analytischen Rechtstheorien auszugleichen. Es ist ferner auffällig, daß jedenfalls im englischsprachigen Bereich eine ganze Reihe von Autoren, deren Rechtstheorien wohl als positivistisch in dem hier gekennzeichneten Sinne charakterisiert werden müssen, zugleich einer bestimmten Sicht der Naturwissenschaften und mit ihr des Verhältnisses von Natur- und Sozialwissenschaften nahestehen.280 Diese Problemsicht zeitigt tiefgreifende Konsequenzen auch für die Konzeption ihrer Rechtstheorie. Viele dieser Rechtstheoretiker akzeptieren nämlich mehr oder weniger selbstverständlich die Idee einer Einheitswissenschaft der natürlichen und sozialen Welt. 281 Dies hat dann zur Folge, daß es auch bezüglich der Welt des Rechts und seiner wissenschaftlichen Behandlung vermeintlich nur einen einheitlichen Rationalitätsstandard282 gibt, der demzufolge auch bei der Interpretation des Verhältnisses von Rechtsnormen und sozialem Handeln Verwendung findet. 283 lytische Philosophie. Der Begriff des Rechts in der Rechtstheorie H. L. A. Harts, Berlin 1969; Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, Berlin 1976. 27 8 Reinhard Karnitz, Positivismus - Befreiung vom Dogma, München 1973, S. 10 ff., 99 ff. 27 9 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 182 ff., 187 ff., 191 f. 280
Zur Problematik eines solchen „In-built Positivism": Thomas F. Torrance, Juridical Law and Physical Law, Edinburgh 1982, S. 6 ff., 17 f.; ferner: Robert Brown, The Nature of Social Laws, Cambridge 1984, S. 251 ff. et passim. mi Reinhard Karnitz, a. a. O., S. 76 ff. 2 2 « Ebd., S. 77 f. 2 E b d . , S. f .
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Die beiden Grundideen, die von den diversen Spielarten des zeitgenössischen Rechtspositivismus vorausgesetzt werden, sind einerseits die Idee der Einheitswissenschaft der natürlichen und der sozialen Welt unter Einschluß derjenigen des Rechts, andererseits die hiermit korrespondierende Idee, daß es in den Wissenschaften nur einen Rationalitätsstandard gebe, der auch für die Rechtstheorie maßgebend sei. Diese ihrer Provenienz nach positivistische Auffassung der Rationalität in Recht und Rechtswissenschaft, hat sich allem Anschein nach im englischsprachigen Raum bei einer Reihe von Rechtstheoretikern zu einer Art Orthodoxie verfestigt. Ebenso wird die juridisch-institutionelle Rationalität der alltäglichen Rechtspraxis bisweilen an demselben Rationalitätsstandard gemessen, der sonst die wissenschaftliche Einstellung bestimmter Nachbardisziplinen zum Recht bestimmt, so daß das Recht gar nicht in seiner normativ- institutionellen Eigenart erfaßt wird. 284 Die Alltagspraxis des Rechts sieht sich gar nicht seltenen Versuchen ausgesetzt, die Rechtspraxis dem Rationalitätsstandard anderer Sozialbereiche, wie beispielsweise der Wirtschaft, oder einer ab extra konzipierten vorgefaßten Theorie des Rechts (Law & Economics ο. ä.) zu unterwerfen und anzupassen.285 Dabei wird die typische Rationalitätsdifferenz 286 ignoriert, die zwischen aller Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft besteht. Zu der erwähnten Orthodoxie im Wissenschafts- und Rationalitätskonzept einiger positivistischer Rechtstheorien konnte es deshalb kommen, weil sich im angelsächsischen Raum die überkommenen Voraussetzungen einer vernunftrechtstheoretischen Grundlagenkonzeption des Rechts und der mit ihnen befaßten Wissenschaften länger zu halten vermochten, während sie in Kontinentaleuropa, insbesondere im Deutschland der 60er und 70er Jahre schon weitgehend entfallen waren. Seitdem ist auch die rechts- und sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung in höchst unterschiedliche theoretische Fraktionen auseinander gebrochen, die infolge ihrer fortschreitenden fachsprachlichen Spezialisierung nun Schwierigkeiten haben, miteinander zu reden und sich auf eine hierfür geeignete Rahmentheorie des Rechts und ein genuin rechtstheoretisches Rationalitätskonzept zu verständigen. Bei den (west-)deutschen Formen eines Neuen Institutionalismus, die von einem an Ihering und Max Weber anschließenden sinnkritischen Rechtsrealismus bis hin zu einer Theorie und Soziologie des Rechts reichen, handelt es sich durchgängig um nicht positivistische Denkansätze.287 Eine Neubestimmung der historischen, 284 Jan M. Broekman, Die Rationalität des juristischen Diskurses, in: Werner Krawietz/ Robert Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 89-115, 95 ff., 105 f.; Werner Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 299-335, 306 ff., 309 f. 285 Vgl. hierzu: Werner Krawietz, Juristische Argumentation und Argumentationstheorien auf dem Prüfstand, in: ders./Robert Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, S. 3 - 8 , 4 f. 286 Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien/ New York 1978, S. 97 ff., 115 ff., 133 ff. 287 Ebd., S. 228 ff., 232 f.
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kognitiven und sozialen Identität der modernen Rechtstheorie steht vor der Aufgabe, das von bestimmten Rechtstheoretikern vertretene positivistische Theorieprogramm mit den neu entstandenen Konkurrenzprogrammen zu vergleichen, in denen sich schon nachpositivistische Rechtsauffassungen ankündigen. Dies erscheint auch deswegen nötig, da letztere bereits von gewandelten Rationalitätsbestimmungen ausgehen. Die disziplinäre Identität der modernen Rechtstheorie kann unter diesen Umständen nur im Rahmen eines Theoriedesigns wiederhergestellt werden, das miteinander konkurrierende Theorieprogramme zuläßt und demzufolge auch divergierende Rationalitätskonzepte in Rechnung stellt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist das Erfordernis, alles menschliche, an den Vorschriften des geltenden Rechts orientierte Handeln nicht nur als rational erklärbares, sondern zugleich auch als rational verstehbares Handeln zu betrachten, das von den Handelnden selbst reflexiv organisiert wird. Rationalität kann also in dreierlei Hinsicht gedeutet werden. Im folgenden unterscheide ich zwischen (i) Rationalität als Erklärbarkeit, (ii) Rationalität als Verstehbarkeit und (iii) Rationalität als Reflexivität. 288 Die moderne Rechtstheorie liefert - unbeschadet der diversen, miteinander konkurrierenden Theorieprogramme, die intradisziplinär angeboten und vertreten werden - mit der jeweils vorgelegten Theorie nicht nur einen denk- und brauchbaren Bezugsrahmen für wissenschaftliche Aussagen, sondern bietet damit zugleich die Grundlage und einen Bedeutungsrahmen für das normengeleitete Handeln in der sozialen Welt des Rechts, deren Existenzbedingungen die Theorie reflexiv aufzuhellen sucht.289 Es muß daher zumindest zwischen der juridisch-institutionellen Rationalität der Alltagspraxis des Rechts und der Rationalität der mit ihr befaßten Wissenschaften unterschieden werden. Auch identifizieren letztere ganz offensichtlich verschiedene Arten oder Typen wissenschaftlicher Rationalität, die ihrerseits in hohem Grade theorieabhängig ist und sich keineswegs auf ein einheitliches Prinzip wissenschaftlicher Erkenntnis zurückführen lassen. Es erscheint daher angebracht, die Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen verschiedener wissenschaftlicher Rationalitäten näher ins Auge zu fassen. Auch kann eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Rechtsauffassungen nur in einem größeren Theorierahmen erfolgen, das heißt nur im Rahmen einer Theorie, welche - die Grenzen von analytischer Hermeneutik und Positivismus transzendierend - die Chancen und Möglichkeiten einer neuen interpretativen Theorie des Rechts ins Auge faßt. Hierfür erscheint es unerläßlich, die Beziehungen zwischen den in sprachlicher Kommunikation konstituierten Rechtsvorschriften bzw. den sozial etablierten Rechtsregeln und dem menschlichen Handeln in ihrem rechts- und gesellschaftstheoretischen Zusammenhang zu erörtern. 288 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 93 f., 96 ff., 119 f. 289 zur Normen- und Kulturtheorie des Rechts: Rainer Schröder, Kulturelle Identität von Recht und Staat? Kritische Anmerkungen zur Normen- und Kulturtheorie des Rechts , in: Rechtstheorie 29 (Huntington - Sonderheft), 1998, S. 441 -451.
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Im folgenden werde ich mich mit den Eigenheiten und den Spielarten eines nachpositivistischen Institutionalismus auseinandersetzen, zugleich in der Absicht, seine Vorzüge gegenüber dem Naturrechtsdenken und dem Rechtspositivismus zu unterstreichen. Hierbei wende ich mich insbesondere drei Richtungen zu: (1) der Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky, (2) der soziologischen Theorie des Rechtssystems von Niklas Luhmann sowie (3) dem österreichisch-angelsächsischen Institutionalismus von Ota Weinberger und Neil MacCormick. Hauptanliegen der modernen Institutionentheorien ist es, das Zusammenspiel von sozialer Normierung und menschlichem Verhalten vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu beobachten und zu beschreiben. Dies wird auf der Basis eines institutionalistischen Rechtspositivismus versucht, wie er vor allem von Ota Weinberger und - in ähnlicher Weise - von Neil MacCormick im wesentlichen unabhängig voneinander vertreten wird, auf der anderen Seite durch die Institutionentheorie des Rechts von Schelsky. Während die Theorien von Weinberger und MacCormick nach ihren eigenen Einschätzungen als rechtspositivistische anzusehen sind, kann man bei der Theorie des Rechts von Schelsky, im Anschluß an Ihering und Max Weber, schon von einer nachpositivistischen Rechtsauffassung sprechen.
1. Weinbergers Begriff des Rechts als Idealentität und institutionelles Faktum Weinberger versucht, die Existenz des Rechts mit Hilfe einer institutionalistischen Konzeption zu erklären. Das Recht ist für ihn dem Sinn nach ein Sollen, zugleich aber auch ein Wirkliches, ein Bestandteil der Realität und damit eine Tatsache des gesellschaftlichen Lebens.290 Das Rechtsleben besteht nach Auffassung Weinbergers in einem Zusammenwirken von Rechtsnormen auf der einen Seite und beobachtbaren faktischen Vorgängen in der Gesellschaft auf der anderen Seite, also aus einer Verbindung des Normensystems mit benachbarten Tatsachen, die soziologisch feststellbar seien. Alle sozialen Tatsachen, die auf diese Weise untrennbar mit den normativen Sinngebilden verknüpft sind, werden von Weinberger als „institutionelle Tatsachen" bezeichnet. Diese institutionellen Tatsachen sollen dadurch zustande kommen, daß Menschen als denkende und handelnde Subjekte, die Regeln und Verhaltensformen internalisieren, d. h. in ihr Bewußtsein aufnehmen.
290 Zum Begriff der Institution bei Weinberger: Rainer Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, Berlin 2000, S. 69-91; Ota Weinberger, Das institutionelle Dasein des Rechts, in: Dorothea Mayer-Maly/Ota Weinberger/Michaela Strasser (Hrsg.), Recht als Sinn und Institution, Rechtstheorie Beiheft 6, S. 245-259, 245; ders., Das Recht als institutionelle Tatsache. Gleichzeitig eine Überlegung über den Begriff des positiven Rechts, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 427 - 442, 427. Vgl. auch Donald Neil MacCormick, Das Recht als institutionelle Tatsache, in: ders./Ota Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 76-107.
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Durch diesen Vorgang und die hieran anknüpfende, ständig wiederholte Praxis werden dann die entsprechenden Lebensformen der Gesellschaft geschaffen. 291 Neben dieser im subjektiven Bereich des Individuums liegenden Seite der Institutionalisierung entstehen seiner Ansicht nach auch institutionelle Einrichtungen, wie Betriebe, Körperschaften, Verwaltungsbehörden und Gerichte. In seiner Konzeption versucht Weinberger, die strikte Trennung der Sollens- von der Seinssphäre, wie sie insbesondere in der reinen Rechtslehre Kelsens292 zum Ausdruck kommt, zu überwinden. Ausgehend von der vollkommenen Disparität von Sein und Sollen, also einer Dichotomie von Seins- und Sollenswelt, bringen die Rechtsnormen für Kelsen nur vorgestellte, gesollte Verhaltensweisen zum Ausdruck, die dem wirklichen Verhalten gegenübergestellt werden. Letzterem wird für die Beschreibung des Rechts keine Bedeutung beigemessen. Die Theorie Weinbergers erschöpft sich dagegen nicht nur in einer logisierten Darstellung des Rechts. Nach seiner institutionalistischen Betrachtungsweise ist gerade das Zusammenspiel von Tatsachen und faktischen Vorgängen auf der einen Seite und den Rechtsnormen auf der anderen Seite wesentlich.293 Erst aufgrund dieses Zusammenspiels zwischen Normen und beobachtbaren sozialen Vorgängen erlangen die Rechtsnormen Tatsachenqualität und damit gesellschaftliches Dasein. Die realen institutionellen Handlungsabläufe und Prozesse werden erst im Hinblick auf die Normen verständlich und erlangen wegen ihres normativen Kerns die Qualität einer institutionellen Tatsache. Normen sind Bestandteile institutioneller Tatsachen und konstituieren diese.294 Soweit Weinberger die Normen als Bestandteile des sozialen Lebens und seiner institutionellen Strukturen beschreibt, ist ihm zuzustimmen. Es darf dabei aber nicht der Umstand übersehen werden, daß das Recht bei ihm nicht nur eine Tatsache ist, sondern ebenso eine normative Gedankenentität (»Idealentität'). Für Weinberger sind Normen keine Gegenstände an und für sich, die objektives Dasein oder objektive Geltung besitzen. Er faßt die Rechtsnorm vielmehr als rein gedanklichen »Gegenstand4,295 als „Idealentität" auf, die insoweit der semantischen und logischen Analyse unterliegt. 296 Die Norm als »objektiver4 spezifischer Gedanke muß losgelöst sowohl von psychischen als auch sozialen Akten gesehen werden, 291 Ota Weinberger, Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1988, S. 77. 292 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Wien 1960. 293 Ota Weinberger, Verfassungstheorie vom Standpunkt eines neuen Institutionalismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXX VI (1990), S. 100-118, 101 ff.; ders., Das Wesen der Regeln, in: Werner Krawietz/Antonio A. Martino /Kenneth I. Winston (Hrsg.), Technischer Imperativ und Legitimationskrise des Rechts, Rechtstheorie Beiheft 11, Berlin 1991, S. 169-191, 189 f. 294
Ota Ota 296 Ota öffentliches S. 437. 295
Weinberger, Das institutionelle Dasein des Rechts, S. 252. Weinberger, Norm und Institution, S. 79. Weinberger, Die Norm als Gedanke und Realität, in: Österreichische Zeitschrift für Recht 20 (1970), S. 203-216, 205; ders., Das Recht als institutionelle Tatsache,
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um als Ausdruck einer sinnvollen Struktur rein logisch erfaßt werden zu können. Nur auf diese Weise kann nach Weinberger eine Theorie der normlogischen Operationen und Beziehungen entstehen, in welcher er die Grundlage und Vorgabe aller Rechtstheorie erblickt. Die tatsächlichen materiellen Akte, wie ζ. B. psychische Akte (Erkenntnisakte, Willensakte) oder die gesellschaftlichen Akte (Gesetzgebungsakte), treten als solche nicht in die logischen Untersuchungen und Beziehungen ein, da sie andere zeitliche Koordinaten haben. Diese Akte erlangen insofern Bedeutung, als sie zwischen ideellem Sein und der materiellen Realität des Rechts als Berührungspunkte fungieren. Weinberger versucht gleichwohl, die normenlogische Analyse mit dem Erfassen der Rechtswirklichkeit zu verknüpfen. Es geht ihm jedoch, wenn er vom „Dasein" und „Realsein" der Normen spricht, im Endeffekt nicht um die faktischen Handlungen, wie die Normsetzungsakte oder das Verhalten derjenigen, die sich in irgendeiner Form an der Norm orientieren. Vielmehr steht im Zentrum seiner Untersuchungen vor allem die Norm als Idealentität bzw. ihr normativer Sinn, der gedacht und verstanden werden kann und muß. Wesentlich ist für ihn, daß der objektive Normgedanke immer als derselbe Gedanke mit denselben logischen Operationen und Relationen angesehen werden kann und muß. Dabei erblickt er den Normgedanken ,im Geiste4 des Befehlenden, ,im Geiste4 des Normadressaten oder des Rechtsgelehrten als ein und denselben Rechtsgedanken. Dieser Vorstellung liegt ein Kommunikationsmodell zugrunde, bei dem der Normgedanke ein Kommunikat ist, welches intersubjektiv übermittelt wird. Bei einwandfreien Verlauf der Kommunikation stimme der abgesandte Normgedanke des normsetzenden Subjekts mit dem verstandenen Gedanken bei dem Normsatzempfänger überein. Diese Übertragung, gemäß welcher Informationen vom Absender auf den Adressaten übermittelt werden, verstellt aufgrund ihres bloß ontologischen Charakters den Blick für eine realitätsangemessene Beschreibung der Rechtkommunikation. „Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne daß er selbst es verliert." 297 Es ist nämlich nicht gewährleistet, daß der als Information hergestellte bzw. selegierte Sinn für Absender und Adressaten übereinstimmt, das heißt ein und derselbe ist. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann nur aus dem Grund, weil der Kommunikationsprozeß selbst durch weitere Sinnselektionen, nämlich Mitteilung und Verstehen, inhaltliche Übereinstimmung konstituiert. Dieser dreistellige Selektionsprozeß, der (i) Information, (ii) Mitteilung und (iii) Verstehen zu einer emergenten Einheit verknüpft, ist Grundlage jeder Kommunikation, 2 9 8 insbesondere der Rechtskommunikation.299 Für die Rechtsnormen hat dies 297
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 193; vgl. hierzu auch: Georg Henrik von Wright, An Essay on DoorKnocking, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 275-288. 298 Niklas Luhmann, Was ist Kommunikation? In: Information Philosophie Heft 1, 15 (1987), S. 4 - 1 6 , 8; ders., Soziale Systeme, S. 203 ff. Vgl. auch zu den besonderen Abhängigkeiten zwischen Bewußtseins- und Kommunikationssystemen: ders., Wie ist Bewußtsein
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zur Folge, daß sie nicht bloße Idealentität mit sinnhafter objektiver Bedeutung sein können, sondern jeweils in fortlaufenden Kommunikationsprozessen, das heißt in jedem einzelnen Anwendungsfall neu konstituiert und konkretisiert werden. Bei der Normbeschreibung geht es nämlich nicht um die Erfassung objektiver Bedeutungen, sondern um die Identifikation und Beobachtung des in der Rechtskommunikation prozessierten Sinns. Auch in der rechtlichen Kommunikation wird jeweils die Komplexität aktuell möglicher Sinnverknüpfungen durch normative Sinnselektion reduziert. Von manchen Vertretern des analytischen Positivismus wird der Versuch unternommen, den Normativismus in abgeschwächter Form zu retten, weil sie zu der Einsicht gelangt sind, daß er allein auf der Basis des Kelsenschen Reinheitspostulats nicht überlebensfähig ist. 300 Das Recht wird hier einerseits als normative Idealentität angesehen, also als eine isolierte Größe, andererseits wird es daneben auch mit Bezug auf die tatsächlich beobachtbaren sozialen Vorgänge dargestellt und logisch geordnet.301 Ergänzend zur Hartmannschen Schichtenontologie302 und der Drei-Welten-Lehre Poppers,303 auf die sich Weinberger ausdrücklich stützt, hebt er hervor, daß die Ontologie des Institutionalistischen Rechtspositivismus auf der zentralen These aufbaue, gewisse Tatsachen könnten nicht erfaßt und erklärt werden, wenn nicht auch praktische Informationen zu ihrer Charakterisierung herangezogen werden. Diese bezeichnet er im Unterschied zu den rohen Tatsachen als institutionelle Tatsachen. Damit umfasse die Lebenswelt nicht nur Gegenstände im positivistisch-reistischen Sinne, sondern institutionelle und kulturelle Gebilde.
an Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, S. 884-905. 299 Zum Begriff der Rechtskommunikation vgl. insbesondere: Werner Krawietz, Akzeptanz von Recht und Richterspruch? Geltungsgrundlagen normativer Kommunikation im Bereich des Rechts, in: Werner Hoppe/Werner Krawietz/Martin Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium Münster 1988, Köln/Bonn/München 1992, S. 455-519,460. 300 Vgl. exemplarisch Ota Weinberger, Institutionalistische versus Reine Verfassungstheorie, in: Heinz Mayer (Hrsg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift Robert Walter zum 60. Geburtstag, Wien 1991, S. 739-754, und ders., Die Norm als Gedanke und Realität, S. 205 f. 301 Ota Weinberger, Grundlagenprobleme des Institutionalistischen Rechtspositivismus und der Gerechtigkeitstheorie, in: Peter Koller/Werner Krawietz/Peter Strasser (Hrsg.), Institution und Recht. Grazer Internationales Symposion zu Ehren von Ota Weinberger, Berlin 1994 (Rechtstheorie Beiheft 14), S. 173-284, 226 f., 230 f., sowie ders.. Ontologie der Normen, vor allem der Rechtsnormen. Gegenüberstellung der Auffassungen von Frantisek Weyr, Hans Kelsen und des Institutionalistischen Rechtspositivismus, in: Rechtstheorie 23 (1992), S. 167-176, 168 und 176. 302 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin / Leipzig 1933, S. 15 ff., 66 ff., 175 ff. 303 Karl R. Popper, in: ders./John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 8. Aufl., München/ Zürich 1989, S. 61-77.
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Weinberger betont, Gegenstände physikalischer Art, die sinnlich wahrnehmbar seien, erlangten neben ihrem physikalischen Dasein den Charakter institutioneller Gegenstände, institutioneller Relationen und/oder institutioneller Tatsachen. Beispielsweise hat Geld in Form von Münzen oder Scheinen physikalische Realität, aber seine Funktion als Zahlungsmittel erlangt es erst als institutionelle Tatsache, also eingebunden in ein Wirtschaftssystem, welches den Tausch Ware gegen Geld als institutionelles Muster vorsieht. 304 Das Verhalten der Subjekte sei nicht mit dem Realsein der Norm gleichzusetzen, da die Norm auch real gelte, unabhängig davon, ob der einzelne sich entweder normgemäß oder normwidersprechend verhalte, denn diese Verhaltensalternativen bestimmten - nach seiner Auffassung nicht das Dasein der Norm. 305 Hingegen werde die Realität der Norm nur in bestimmten Aspekten deutlich. Sie lebe in der Sphäre des menschlichen Bewußtseins. Das Subjekt habe zum einen ein Sollerlebnis, erlebe also, was gesollt ist. Zum anderen habe es ein Soll-Wissen, nämlich das Wissen, daß ein Sollen in der menschlichen Gemeinschaft gelte. Ebenfalls wirke die Norm als motivierendes Moment auf das menschliche Verhalten ein. Das Normbewußtsein beinhalte Schemata von Verhaltensweisen, die sich aufgrund der Nachahmungstendenz in der menschlichen Gesellschaft oder infolge der Zwangsandrohung bei bestehender Normverletzung im Verhalten des Einzelnen durchsetzten. Außerdem habe die real geltende Norm eine Auswirkung auf das menschliche Verhalten des Einzelnen und auf das Verhalten der Gesellschaft. Diese Auswirkungen beschränken sich nach Weinberger nicht bloß auf die Erfüllung bzw. Verletzung der Norm, sondern wirken auch sekundär. Zum Beispiel haben normative Eingriffe in den Markt weit verzweigte wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Weinbergers Charakterisierung der Normen als Determinanten menschlichen Verhaltens ist sicherlich insoweit zutreffend, als die sozialen Normen und Regelsysteme des Rechts der Orientierung menschlichen Verhaltens dienen. Gesellschaftliche Ordnung ist ohne Normen undenkbar, so daß der Satz „ubi societàs, ibi ius" zweifellos nicht nur Ausdruck einer rechtsphilosophischen Einsicht oder rechtspolitischen Forderung ist, sondern auch eine auf Erfahrung gegründete Beschreibung sozialer Gebilde darstellt. 306 Soziale Normen dienen der Reduzierung gesellschaftlicher Komplexität und entlasten damit menschliches Handeln von dauerndem Entscheidungsdruck in ähnlich gelagerten Fällen. Normorientierung führt zu normativer Anschlußkommunikation, das heißt, durch Bezugnahme auf Normen bzw. vorausgegangene Rechtskommunikation wird soziales Verhalten in einer Gemeinschaft erst möglich. Gleichzeitig dient normorientiertes Handeln der Reproduktion der etablierten Normstrukturen und setzt damit die Autopoiese des jeweiligen sozialen Systems fort. Zweifelhaft ist aber, ob der Institutionalistische Rechtspositi304 Vgl. dazu auch Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 230 ff. 305 Ota Weinberger, Die Norm als Gedanke und Realität, S. 210. 306 Hierzu Werner Krawietz, Theorie und Forschungsprogramm menschlicher Rechtserfahrung - Allgemeine Rechtslehre Otto Brusiins, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 1- 37, 32 f. 7 Simon
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vismus Weinbergers diese sozialen Zusammenhänge hinreichend erfaßt. Es ist zwar von Institutionen des Rechts die Rede, doch sind damit wohl in erster Linie Rechtsinstitute gemeint. Institutionen sind für ihn nicht die sozial strukturierten Handlungs- bzw. Kommunikationssysteme. Weinberger stellt ab auf die Differenz zwischen normativen Institutionen, unter denen er positivierte Normensysteme als spezifische Bedeutungen versteht, die nur den normativen Handlungsrahmen vorgeben, und den Realsituationen.307 Letztere sind Personen- und Sachinstitutionen. Bei diesen stellen die praktischen Informationen das Kristallisationszentrum der Institution dar, das heißt, die Person bzw. Gegenstände werden erst mittels der institutionellen Regeln als Personen mit spezifischen Rollen bzw. als institutionelle Gegenstände identifizierbar. Die praktischen Informationen bestimmen somit nach Auffassung von Weinberger - die Struktur und die Funktionsweise der Realinstitutionen. Demgemäß beruht alles Institutionelle auf Systemen praktischer Information, vor allem auf normativen Regulativen. Das Institutionelle ist nur durch Verstehen der den Institutionen zugrundeliegenden praktischen Informationen erfaßbar. 308 Obwohl Weinberger versucht, realistische Elemente in seine Theorie zu integrieren, beruht sein institutionalistischer Rechtspositivismus, wie auch die eben dargestellte Differenz zwischen normativen Institutionen und Realinstitutionen zeigt, nach wie vor auf einer kategorialen Unterscheidung von Sollen und Sein. Mit seinem Versuch, den Normativismus309 zu ,»retten", plädiert er für eine ontologisch eigene Wesenheit der Normen als Idealentitäten. Er schafft damit eine gegenüber der realen Welt eigene Sollenswelt. Zuzustimmen ist Weinberger insoweit, als er eine semantische Zäsur zwischen Sein und Sollen, also zwischen Aussage und Normsätzen aufrechterhalten will, um die Rechtsnorm mit Hilfe der gnoseologisch differenzierten Semantik in ihren logischen Beziehungen und Schlußfolgerungen zu untersuchen und zu analysieren.310 Weinberger bleibt jedoch nicht bei dieser semantischen Differenz, sondern die Norm wird, ontologisch bzw. deontologisch betrachtet, als Idealentität isoliert und untersucht. Bei dieser Normcharakterisierung bezieht er sich ausdrücklich auf die ontologischen Modelle Hartmanns und Poppers.311 Es ist resümierend zu konsta307 Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 28 f.; ders., Institutionalistische versus Reine Verfassungstheorie, S. 752. 308 Ota Weinberger, Institutionalistische versus Reine Verfassungstheorie, S. 752; vgl. auch ders., Der normativistische Institutionalismus und die Theorie der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit als Leittheorie der Demokratie, in: ders., Moral und Vernunft. Beiträge zu Ethik, Gerechtigkeitstheorie und Normenlogik, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 234-260, 237 f. 309
Ota Weinberger, Institutionalistische versus Reine Verfassungstheorie, S. 752. >o Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 54, 57; ders., Rechtslogik, 2., umgearbeitete und wesentlich erweiterte Aufl., Berlin 1989, S. 51-58. 3
311 Ota Weinberger, Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen. Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaften, in: MacCormick/ Weinberger, S. 108-123, 117; ders., Bausteine des Institutionalistischen Rechtspositivismus, in: ders., Recht, Institution und Rechtspolitik, S. 11-42,15.
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tieren, daß Weinberger - rekurrierend auf Hartmann und Popper - an einer Welt der Inhalte des Denkens, der Erzeugnisse des menschlichen Geistes sowie der praktischen Informationen festhält. Diese über die analytische Differenz zwischen Fakten und Normstrukturen bzw. beschreibenden und vorschreibenden praktischen Informationen hinausreichende Welt des Sollens läßt sich aber in der rechtskommunikativen Wirklichkeit als solche nicht beobachten. Untersucht man nur die normativ-strukturelle Seite des Rechtssystems, also eine Vielzahl von Rechtssätzen, so wird die soziale Komplexität der Rechtswirklichkeit nicht adäquat erfaßt. Die semantische und/oder logische Analyse von Wortnormen gewährleistet noch lange nicht, daß die bestehenden rechtlichen Verhaltenserwartungen in ihrer Gesamtheit und Wandelbarkeit sozialadäquat berücksichtigt werden. Erst recht wird nicht berücksichtigt, daß das Rechtssystem sich aus den verschiedensten rechtlichen Verhaltensweisen und Entscheidungen konstituiert, die als Folge selektiver Ereignisse beschrieben werden können, sowie als Prozeß oder besser: als Kommunikationsprozeß. Die Selektivität der prozessual verketteten kommunikativen Operationen wird ihrerseits erst möglich in Orientierung an und unter Einbeziehung der Struktur der vorangegangenen rechtsnormativen Kommunikationen. Rechtsrealistisch betrachtet, können Norm und Handlung - oder Struktur und Prozeß - nicht getrennt, sondern nur in ihrem tatsächlichen Zusammenhang beobachtet und beschrieben werden. So kann man - mit Weinberger - die Norm nicht durch bestimmte Wesensmerkmale als eigenständige Größe charakterisieren oder gar als Idealentität bestimmen, sondern nur als sozial etablierte normative Verhaltenserwartung. 312 Im Institutionalistischen Rechtspositivismus findet sich eine semantische und analytisch-begriffliche Differenzierung zwischen den Begriffen Rechtssatz, Rechtsnorm und Rechtsregei.313 Unter einem Rechtssatz versteht Weinberger einen Normsatz des Rechtssystems, der eine Rechtsnorm symbolisiert oder besser: zum Ausdruck bringt. Hierbei sei es unerheblich, ob der Rechtssatz vom Gesetzgeber, von einem Richter oder einem Rechtsgelehrten formuliert worden ist. Der Rechtssatz bzw. der Rechtsnormsatz bilde also nur die sprachliche Formulierung der Rechtsnorm. Die Rechtsnorm als gedanklicher Gegenstand, als Idealentität ist stets als Norm eines Rechtssystems anzusehen. Sie ist nach Weinberger, verstanden als gedanklicher Inhalt, die Bedeutung bzw. der Sinn eines Rechtssatzes. Weinberger rekurriert auch auf den Begriff der Rechtsregei. Sie ist für ihn eine Rechtsnorm, die durch einen universell adressierten, hypothetischen Normsatz ausge312
Werner Krawietz, Der soziologische Begriff des Rechts, S. 169. Ota Weinberger, Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1988, S. 85 f.; ders., Das Wesen der Regeln, in: Werner Krawietz/Antonio A. Martino/Kenneth I. Winston (Hrsg.), Technischer Imperativ und Legitimationskrise des Rechts (Rechtstheorie Beiheft 11), Berlin 1991, S. 169-191, 188 f.; und ders., Der semantische, der juristische und der soziologische Normbegriff, in: Werner Krawietz/Jerzy Wróblewski (Hrsg.), Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts. Festgabe für Kazimierz Opalek zum 75. Geburtstag, Berlin 1993, S. 435-453,437 f. 313
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drückt wird. 314 Universelle Adressierung bedeutet, daß sich die Rechtsregei an jede Person als die potentiell von ihr Betroffenen richtet,d. h. an unbestimmt viele und unbestimmt welche. Sie besteht aus dem bedingten Vordersatz und dem bedingten Hintersatz (Lehre vom sogen. Bedingungsnormsatz). Weinberger begreift, das wird hier deutlich, die Rechtsregei als eine der Analyse zugängliche Idealentität und untersucht sie in ihren logischen Beziehungen und Bedeutungen. Für Weinberger ist allein der normative Sinn, der gedacht und verstanden wird, maßgeblich. Indem Weinberger in seiner Normentheorie den Regelbegriff ausdifferenziert und zwischen verschiedenen Typen von Rechtsregeln unterscheidet, erfaßt er die inhaltlich unterschiedlichen Ausgestaltungen der Rechtssätze, wie sie in den modernen Rechtsordnungen üblicherweise verwendet werden. Er plädiert für eine logisierte Darstellung des Rechts und der Rechtsordnung als ganzer, welche das System - verstanden als Normsatzsystem - insgesamt als logisch konsistente Einheit auffassen will. 3 1 5 Was nützt jedoch die logisierte Darstellung einer Rechtsordnung bzw. eines Rechtssystems, wenn sie nicht realistisch ist? Das Erkennen und Verstehen eines Rechtssystems ist nötig, um die Bedingungen des Entstehens, der Aufhebung, der Veränderung und der Erfüllung der Rechtsnormen erfassen zu können. Weinberger ist der Auffassung, seine logisierte Abbildung des Rechts sei eine dynamische Konzeption der Rechtsordnung als Normensystem.316 Zu berücksichtigen sind die Beziehungen zwischen den rechtlichen Vorgängen und den normenlogischen Relationen. Durchaus zutreffend weist Weinberger darauf hin, daß einerseits das Recht als Normensystem durch dynamische Prozesse konstituiert wird und andererseits diese Prozesse, nämlich die Entstehung, Aufhebung und Veränderung von Rechtsnormen, normiert werden. Daraus zieht er jedoch nicht die Konsequenz, das Rechtssystem als gelebte gesellschaftliche Ordnung abzubilden, welche sich im Wege ständigen rechtsnormativen Kommunizierens und Handelns unter Bezugnahme auf seine eigenen, vorangegangenen Aktivitäten, einschließlich der normierenden Tätigkeiten und Verfahren, fortentwickelt, d. h. fortlaufend produziert und reproduziert. Es geht darum, trotz der bestehenden Bindung an die geltende Rechtsordnung die Kontingenz aller gegenwärtigen und zukünftigen Rechtsakte theoretisch in Rechnung zu stellen. Dies ist aber nicht möglich, wenn man, wie Weinberger, a priori eine logisierte Darstellung des Rechts anstrebt. Die Logik kann im Rahmen der Rechtstheorie vor allem bei einer zusätzlichen wissenschaftlichen ex posf-Kontrolle Hilfestellung leisten, nämlich dann, wenn sowohl die Vor314
Ota Weinberger,
Der semantische, der juristische und der soziologische Normbegriff,
S. 439. 315 Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 66 f.; vgl. auch ders., Ontologie der Normen, vor allem der Rechtsnormen. Gegenüberstellung der Auffassungen von Frantisele Weyr, Hans Kelsen und des Institutionalistischen Rechtspositivismus, in: Rechtstheorie 23 (1992), S. 167-176, 170 f.; kritisch gegenüber einer solchen Auffassung bereits Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, im Auftrag des Hans-Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß herausgegeben von Kurt Ringhofer und Rober Walter, Wien 1979, S. 101 f. 3 Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 102 f., sowie ders., Rechtslogik, 2., umgearbeitete und wesentlich erweiterte Aufl., Berlin 1989, S. 258 ff. und 261 ff.
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aussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes definiert als auch die Fakten des Einzelfalles kraft juristischer Entscheidung festgestellt sind. Weinberger will die von der Logik entwickelten analytischen Methoden für die Beweisführung im Rechtsverfahren, für Interpretationserwägungen über Rechtsvorschriften und für die Begründung von Rechtsmeinungen imrichterlichen Entscheidungsprozeß heranziehen. 317 Aufgrund dieser logisierten Darstellung des Rechtssystems kommt Weinberger zu dem Schluß, daß neue Rechtsnormen, wie zum Beispiel individuelle Normen, automatisch aus der generellen Regel entstehen. Der automatischen Normentstehung liege ein normenlogischer Subsumtionsschluß zugrunde. Die abgeleitete Rechtsnorm gelte, weil sie eine logische Folge der Rechtsregei und der sie erfüllenden Tatsache sei. 318 Hier werden jedoch logische Gültigkeit und rechtliche Geltung verwechselt bzw. fälschlich identifiziert. Die Theorie der automatischen Normenentstehung beruht auf der grundsätzlichen Vorstellung, das Recht erschöpfe sich in der Summe der Rechtssätze bzw. der Einheit der Rechtsordnung und ihrer jeweiligen Bedeutung. Bei einer rechtsrealistischen Betrachtung stellt sich die Normenentstehung jedoch ganz anders dar. Jedes Normieren erfordert eine Operation im Rechtssystem, das heißt, ohne rechtsnormatives Kommunizieren bzw. Handeln ändert sich das Rechtssystem nicht. Nur die rechtsnormative Kommunikation319 fungiert als Operation im Rechtssystem und kann damit als Basis einer neuen konkreten Normierung dienen. Insgesamt räumt Weinberger der formalen Logik im Rahmen des Rechts einen zu prominenten Platz und praktischen Stellenwert ein, den diese im praktischen juristischen Entscheidungsverhalten gar nicht auszufüllen vermag. Es ist durchaus möglich, mittels rechtlicher Argumentation fehlerfrei zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen, d. h. ohne daß man Fehler im Sinne der juristischen Logik begeht. Dieser wesentliche Gesichtspunkt wird bei einer bloß logisierten Abbildung des Rechts nicht hinreichend deutlich. Folglich ist eine rein normativistische Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtsregei, die lediglich auf das formallogische Operieren mit rechtssprachlichen Ausdrücken und normativen Rechtssätzen abstellt, für eine rechtskommunikativ orientierte institutionentheoretische Beschreibung des Rechts nicht ausreichend. Normativ-realistisch betrachtet ist zwischen dem Normsatz und seiner Bedeutung bzw. der Norm in ihrer befolgten Form als Regel zu unterscheiden. 317 Ota Weinbergen Rechtslogik, S. 23. 318 Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 102 ff.; ders., Juristische Entscheidungslogik. Zur Theorie der Deutung und Anwendung des Rechts vom Standpunkt des Institutionalistischen Rechtsposiüvismus, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln/Berlin/Bonn/München 1986, S. 123-146, 124, 128; Werner Krawietz, Juristische Logik, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 423-434. 319 Grundsätzlich hierzu: Werner Krawietz, Akzeptanz von Rechts- und Richterspruch? Geltungsgrundlagen normativer Kommunikation im Bereich des Rechts, in: Werner Hoppe/ Werner Krawietz/Martin Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium, Köln / Berlin / Bonn / München 1992, S. 455 - 519,460.
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2. Luhmanns Konzept sozialer Systembildung und einer systemischen Rationalität des Rechts Luhmann geht - ähnlich wie Schelsky - von der Existenz sozialer Systeme aus und mißt ihnen wesentliche Bedeutung bei der Erzeugung von Recht bei. Geht man, wie Luhmann dies tut, bei der Beschreibung des Rechts von sozialen Systemen aus, lassen sich neben den Handlungen Normstrukturen, insbesondere auch Rechtsnormen als eigenständige Elemente bzw. Entitäten nicht ausmachen. Das Verhältnis von Struktur und Handlung ist derart, daß beide sich gegenseitig ermöglichen und wechselseitig voraussetzen; denn Strukturierung ist unter bestimmten Voraussetzungen Prozeß, und Prozesse haben Strukturen. Unterschiede ergeben sich nur durch ihr Verhältnis zur Zeit. Strukturen halten Zeit reversibel fest, denn sie sind kontingent, das heißt sie können fortlaufend geändert werden. Prozesse hingegen bestehen aus irreversiblen Ereignissen.320 Für die Systemtheorie Luhmanns sind weder Menschen noch Bewußtseinssysteme Elemente sozialer Systeme, sondern ausschließlich Kommunikationen bzw. Handlungen. Dies gilt auch für die normativen Kommunikationen bzw. das Handeln im Bereich des Rechts. Bewußtseinssysteme und Kommunikationssysteme sind jeweils autopoietische Systeme, die füreinander Umwelt sind. Allerdings bemüht sich die Systemtheorie neuerdings, durch Einführung von Begriffen, wie „Interpénétration" 321 und „strukturelle Koppelung",322 die bestehenden Verbindungen zwischen individuellem Bewußtsein und sozialem System aufzuzeigen. Luhmann hat, trotz des von ihm forcierten, vermeintlichen Gegensatzes zu Max Weber, die Normen wiederholt als kontrafaktische Erwartungen bestimmt und beschrieben. 323 Sie sind jedenfalls kontrafaktisch in dem Sinne, daß an den normativen
320 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt a. M., S. 74; Werner Bergmann, Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse, Berlin 1981, S. 47 f.; vgl. zur Biographie und Bibliographie Luhmanns: Werner Krawietz» In memoriam Niklas Luhmann (1927-1998). Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Associations, Volume 3, Number 1, Berlin 1999, S. 3-11. 321 Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Interpénétration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977), S. 62-76; ders. Soziale Systeme, S. 286345. 322 Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, S. 455-519, 460; ders., Über systemtheoretische Grundlagen der Gesellschaftstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38 (1990), S. 277-284, 281; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 163 ff.; vgl. auch: Andreas Schemann, Strukturelle Kopplung. Zur Festlegung und normativen Bildung offener Möglichkeiten sozialen Handelns, in: Werner Krawietz /Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a. M. 1992, S. 215229. 323
Dazu insbes. Niklas Luhmann, Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt 20 (1969), S. 28-39, 33; ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 56.; ders., Rechtssoziologie, 2. erweiterte Aufl., Opladen 1983, S. 40 ff.
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Erwartungen festgehalten werden darf, auch wenn man die faktische Erfahrung macht, daß im Alltag nicht selten den Normen zuwider gehandelt wird. Die grundlegende Bedeutung normativer Erwartungen für die Theorie und die Soziologie des Rechts hat Werner Krawietz, auch und vor allem in Abgrenzung zu manchen bloß analytisch ausgerichteten Normentheorien, wiederholt aufgezeigt. 324 Erwartungen strukturieren soziale Beziehungen jedweder Art. Luhmann zufolge ist bereits Kommunikation unter Anwesenden, also in Interaktionssystemen, 325 nur möglich, wenn alle Kommunizierenden bestimmte Verhaltensweisen erwarten bzw. erwarten können und dürfen, d. h. wissen, was man von ihnen in bestimmten Situationen erwartet. Solche Erwartungserwartungen strukturieren die Kommunikation. Dies geschieht dadurch, daß das Erwarten reflexiv wird, also seinerseits erwartet werden kann. Man muß als Erwartender lernen, nicht nur fremdes Verhalten, sondern auch fremde Erwartungen zu erwarten, vor allen Dingen, die an einen selbst gerichteten Erwartungen. 326 Auf diese Weise können Situationen mit doppelter Kontingenz geordnet werden. 327 Erwartungserwartungen strukturieren die Art und Weise von Handlungszusammenhängen, die erst die Möglichkeit zum Handeln eröffnen. Auf dieser Ebene des Operierens anhand allgemeiner Erwartungserwartungen läßt sich beschreiben, wie relativ einfach strukturierte Kommunikationszusammenhänge entstehen. Erst wenn Verhaltenserwartungen mögliche Enttäuschungsfälle und das Problem ihrer Abwicklung von vornherein mit berücksichtigen, ist man in der Lage, höhere Kontingenzen einzubeziehen und damit komplexere Sozialsysteme zu bilden. In solcher Weise modalisierte Erwartungen sind entweder Kognitionen oder Normen, also lernbereite bzw. lernunwillige Erwartungen. 328 Lernunwillige Erwartungen werden als Normen stilisiert und generalisiert, das heißt sie werden zeitlich indifferent gemacht. Ihre Geltung bleibt trotz abweichenden Verhaltens bestehen; es wird im Enttäuschungsfall kontrafaktisch - an ihnen festgehalten. 329 Nur wenn die Erwartungsstrukturen auf diese Weise für zukünftige Fälle aufrechterhalten wer324 Werner Krawietz, Der soziologische Begriff des Rechts, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 170; ders., Legal Norms as Expectations? On Redefining the Concept of Law, in: Aulis Aarnio/Kaarlo Tuori (eds.), Law, Morality and Discursive Rationality, Helsinki 1989, S. 109-140, 118. 32 5 Niklas Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 1975, S. 9-20, 15. 326
Niklas Luhmann, Normen in soziologischer Perspektive, S. 33. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 411. Vgl. auch Michael Welker, Einfache oder multiple doppelte Kontingenz? Minimalbedingungen der Beschreibung von Religion und emergenten Strukturen sozialer Systeme, in: Werner Krawietz /Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a. M. 1992, S. 355-370. 328 Vgl. hierzu: Antonis Chanos, Erwartungsstruktur der Norm und rechtliche Modalisierung des Erwartens als Vorgabe sozialen Handelns und Entscheidens, in: Werner Krawietz/ Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk, S. 230 - 246, 231 ff. 329 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, S. 43. 327
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den, kann institutionelle Stabilität geschaffen, aber auch ein institutionell gesteuerter sozialer Wandel durch Recht sichergestellt werden. Luhmann, der das Prinzip der funktionalen Äquivalenz für die Systemfunktionalität nachgewiesen hat, geht davon aus, daß die funktionale Beziehung zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Institutionen nicht als eine spezielle Art der Kausalbeziehung, sondern - umgekehrt - Kausalität als ein besonderer Anwendungsfall funktionaler Analysen und Kategorien angesehen werden muß. 330 Funktionale Leistungen können den Bestand eines Systems nicht im Sinne ontologischer Bestandssicherheit bewirken. Das bedeutet, die Feststellung eines gewissen Zustandes, eines Seins oder Nichtseins, kann nicht mit Sicherheit getroffen werden. Der Ausschluß anderer Möglichkeiten ist aber gerade das Prinzip jeglicher Kausalerklärung. Luhmann wendet sich von diesem traditionellen Begriff der Kausalität ab, bei dem die Vorstellung von invarianten Korrelationen zwischen jeweils einer Ursache und einer Wirkung dominierte. Diese Abstraktion sollte bestimmte Ordnungsfunktionen erfüllen. 331 Keine Ursache kann nur allein zur Bewirkung einer Wirkung ausreichen; auch hat keine Ursache nur eine einzige Wirkung. Nach Luhmann besitzt das Kausalschema eine Alternativstruktur. Es gibt immer andere Ursachen, die eine bestimmte Wirkung ebenfalls bewirken können. Dies ist dann der Fall, wenn Ursache bzw. Wirkung in einen anderen Kausalkontext gebracht werden. 332 Ursache und Wirkung sind disponibel. Es kommt somit nicht auf eine gesetzmäßige Beziehung zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen an, sondern auf die Feststellung der funktionalen Äquivalenz mehrerer möglicher Ursachen unter dem Gesichtspunkt einer problematischen Wirkung. 333 Der kausalwissenschaftliche Funktionalismus wird durch den Äquivalenzfunktionalismus ersetzt. Funktion ist keine zu bewirkende Wirkung, sondern ein regulatives Sinnschema, welches einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert. Die funktional äquivalenten Möglichkeiten werden als Variablen bezeichnet, die zwar unbestimmt bleiben, jedoch nicht beliebig sind, sondern durch einen funktionalen Bezugsgesichtspunkt definiert werden. Von dieser Definition des funktionalen Bezugsgesichtspunktes hängt dann wiederum der Äquivalenzbereich einer Funktion ab. Die besondere Leistung einer funktionalen Orientierung liegt in der Ausweitung und Limitierung des Möglichen. Auf dieser Grundlage läßt sich nun der Funktionsbegriff als regulatives Prinzip für die Feststellung von Äquivalenzen im Rahmen funktionaler Variablen verstehen. Eine eindeutige Kausalanalyse zwischen biologischen Bedürfnissen und Institutionen ist unmöglich, denn die Bedürfnisse sind nichts weiter als funktionale Bezugsgesichtspunkte, die die Gleichwertigkeit verschiedener Erfüllungsmöglichkeiten sichtbar machen. 330
Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, Opladen 1972, S. 9-30,10. 331 Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwekken in sozialen Systemen, Frankfurt a. M. 1973, S. 26. 332 Ebd. 333
Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 14.
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Die institutionellen Strukturen korrelieren in der sachlichen Dimension gewöhnlich mit denen zugrundeliegenden Bedürfnissen. Systemtheoretisch ausgedrückt, leiten und ordnen sie als Themen die sinnhaften Kommunikationszusammenhänge und sind damit ausschließlich soziale Phänomene (und nicht etwa biologisch vorgegeben). Mit dem Fortschreiten des Kommunikationsprozesses können unvermittelt auch Vorschläge zur Themenänderung, also Variationen auftreten, so daß die Sinngrenzen, also die Differenz von Umwelt und System, erweitert bzw. geändert werden. Sinngrenzen ordnen die einzelnen Elemente, nämlich die Kommunikationen, aus denen ein System besteht und die es reproduziert, dem System zu. Jede Kommunikation trifft damit eine Zuordnungs-, also eine Grenzentscheidung. Sie trägt zur Bestimmung bzw. zur Veränderung der Systemgrenzen bei, indem sie die Differenz zur Umwelt in Anspruch nimmt. Die Grenzvorstellungen haben umgekehrt eine ordnende Funktion für die Konstitution der Elemente, da es möglich wird abzuschätzen, welche Elemente bzw. welche Kommunikationen im System gebildet werden. 334 Mit Hilfe dieses Zusammenhangs von Themen und Grenzen ist es Institutionen- und systemtheoretisch möglich, die Prozesse des Schrumpfens und des Verfalls sozialer Systeme/Institutionen zu analysieren. Es geht also um die Frage, wie ein System, welches seine eigenen Operationen durch seine eigenen Strukturen steuert, diese Strukturen mit den Operationen ändern kann, auch für den Fall, daß das System an die gegebenen Strukturen gebunden ist und diese nicht planmäßig durch neue ersetzt werden können. Durch Variationsmechanismen werden einzelne Operationen, die als kommunikative Ereignisse auftreten, verändert. Dies geschieht, indem ζ. B. etwas Neuartiges oder Unerwartetes gesagt bzw. geschrieben wird. Ein autopoietisches Element wird im Vergleich zum bisherigen Muster der Reproduktion verändert. Eine solche Variation fordert zur Bedürfnisbzw. Themenänderung auf und stellt zugleich ein Strukturangebot dar. Es wird die Möglichkeit geschaffen, Strukturen zu selegieren. Die Selektion muß in zwei Richtungen verlaufen. Falls sich die mutierte Variante durchsetzt, muß sie den etablierten Normstrukturen angepaßt werden. Für den Fall der Ablehnung wird eine Restabilisierung erforderlich; denn das bisherige Bedürfnis, welches bislang alternativenlos institutionalisiert war, ist nunmehr lediglich die präferierte Lösung, welche für die Zukunft im Angesicht neuer Möglichkeiten besonders stabilisiert werden muß. Das soziale System verändert sich also in jedem Fall, gleichgültig, für welche Option es sich entscheidet. Maßgeblich ist, daß die Selektion zu seiner Stabilisierung führt. Es sind demnach (i) Variation, (ii) Selektion und (iii) Stabilisierung zu unterscheiden. Erst das Zusammenspiel der drei Differenzen Variation / Selektion, Selektion/Stabilisierung und Stabilisierung/Variation führt zur Evolution.335 Nur wenn eine Variation gleichzeitig eine Selektion vollzieht, was aber sehr selten und 334
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 266. 5 Niklas Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a. M. 1981, S. 11-34, 14; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 557 f.; vgl. dazu auch Stefan Smid, Soziale Evolution und Rationalität. Bemerkun33
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zufällig geschieht, kann es zur Evolution kommen. Isoliert betrachtet, sind die Variationen, sofern sie als Änderungs- und Reformvorschläge auftreten, nicht zufällige Ereignisse, sondern teilweise oder gänzlich determinierte gesellschaftliche Operationen. Der Zufall ist nur darin zu sehen, daß Variation und Selektion nicht vorab koordiniert sind. Die Variation eröffnet infolgedessen die Möglichkeit, neue Selektionen vorzunehmen. Evolution ist also nicht eine automatisch ablaufende Folge bestimmter Ereignisse nach Art eines Phasenmodells im Sinne eines Zeitstrahls, bei dem bei dem auf Variation Selektion und auf Selektion gleichsam naturnotwendig Stabilisierung folgen muß. Alle diese Mechanismen, die als solche sehr weitgehend gerade nicht fest institutionalisiert sind, wirken vielmehr simultan, das heißt, daß sowohl ständige Rückkopplungen stattfinden als auch rekursive Vorund Rückgriffe möglich sind, wobei aber die Differenzen erhalten bleiben. Bezogen auf das Rechtssystem geht der evolutionäre Mechanismus von rechtlichen Variationen aus, die - institutionell gewöhnlich schon vorstrukturiert - jeweils einzelne Operationen, nämlich kommunikative Ereignisse, betreffen. Es wird etwas Abweichendes, Neues gesagt, empfohlen oder geschrieben. Die maßgebliche Variation liegt in der Kommunikation unerwarteter, neuer normativer Erwartungen (oder auch nur in einem geglückten Mißverständnis, weil etwas Mitgeteiltes in der Kommunikation nichtrichtigverstanden wurde, aber sich gleichwohl als anschlußfähig erweist). Die sich hieran anschließenden Selektionen beziehen sich immer auf Strukturen, vor allem Normen, insbesondere Rechtsnormen. In modernen staatlich organisierten Rechtssystemen erfolgt die Selektion regelmäßig in institutionell und organisatorisch verselbständigten, besonderen Verfahren, die als Interaktionssysteme, beispielsweise Gerichtsverhandlungen oder Parlamentssitzungen, im Rahmen spezieller, arbeitsteilig gegliederter Organisationen ausgestaltet sind. Die rechtskommunikative Selektion ist mithin nichts anderes als die Entscheidung darüber, welche Normprojektion dem geltenden Recht entspricht oder genauer: es wird eine rechtsnormative Verhaltenserwartung positiviert, die die Rechtssicherheit erhöht und damit zunächst die Komplexität im System ganz im Sinne eines stabilen sozialen Wandels reduziert. Eine evolutionär wirksam werdende Stabilisierung rechtsnormativer Entscheidungen wird ermöglicht durch die ständig fortlaufende Reproduktion der selegierten Normerwartungen, genau genommen durch die positive Bezugnahme in Folgeentscheidungen, die zustimmende Kommentierung in der Rechtswissenschaft oder auch durch regelgeleitetes Verhalten der Normadressaten in der alltäglichen Rechtskommunikation. Dieser evolutionäre Mechanismus ist, wie Luhmann immer wieder betont hat, ein zirkulärer Prozeß. 336 Es geht nicht um ein rein zeitliches Aufeinanderfolgen von Variation, Selektion und schließlich Stabilisierung. Vielmehr setzt Variation gen zu N. Luhmanns Grundlegung einer allgemeinen Theorie, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 429-457. 336 Niklas Luhmann, Wissenschaft in der Gesellschaft, S. 559 f.
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stabilisierte, also institutionalisierte Verhältnisse voraus und führt beim Gelingen der Evolution wieder zu stabilen, modifizierten oder letztlich sogar neuen Institutionen. Von Soziologen wird häufig die Ansicht geäußert, Institutionen bildeten die Struktur sozialer Systeme. Im Unterschied zum Rechtsinstitut und der Rechtsinstitution, so wie sie die dogmatische Rechtswissenschaft gewöhnlich versteht, werden dabei häufig alle normativen Strukturelemente, insbesondere diejenigen des Rechts, aus der Betrachtung und begrifflichen Bestimmung eliminiert. Dem Institutionenbegriff wird regelmäßig ein wenig differenzierter struktureller Charakter beigemessen. Dieser wird mit Termini, wie „Muster", „established forms" oder „Typen", umschrieben.337 Nach Ansicht von René König bezieht sich der Begriff der Institution einzig auf die für Aktivitäten sozialer Systeme bezeichnenden und feststehenden Formen oder Bedingungen des Verfahrens in verschiedenen Zusammenhängen.338 Die Institution sei die Art und Weise, wie bestimmte Dinge getan werden müssen. Luhmann konkretisiert diese Vorstellung dahingehend, daß Institutionen in soziologischer Sicht Komplexe faktischer Verhaltenserwartungen seien. Diese werden im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell und können in der Regel auf sozialen Konsens rechnen. Institutionen sind für Luhmann nach allem nur zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen, die als solche die Struktur sozialer Systeme ausmachen.339 Diese begriffliche Bestimmung stimmt nahezu wörtlich mit der überein, die er in seiner Rechtssoziologie für den Begriff des Rechts bereithält. 340 Im Unterschied zum Systembegriff bestehen Institutionen für ihn somit nicht aus faktischen Handlungen bzw. Kommunikationen. Sie seien keine empirisch aufweisbaren Handlungszusammenhänge.341 Aus diesem Grunde glaubt Luhmann in der Soziologie - anders als Schelsky - auf das Institutionenkonzept zugunsten des Systembegriffs verzichten zu können.342 Die bewußte, aber wenig 337
Vgl. hierzu exemplarisch: Urs Jaeggi, Institution - Organisation, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Wörterbuch der Erziehung, 5. Aufl., München/Zürich 1980, S. 308-313, 309; Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 12 f.; ders., Institutionalisierung - Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, 2. Aufl., Düsseldorf 1973, S. 2 - 4 1 , 28; Talcott Parsons, Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, hrsg. und übersetzt von Harald Wenzel, Frankfurt a. M. 1986, S. 218 f. 338
René König, Institution, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, umgearbeitete und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1967, S. 142-148,143. 339 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 13; ders., Die Soziologie und der Mensch, in: Neue Sammlung. VierteljahresZeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 25 (1985), S. 33-41, 36. 340 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2. erweiterte Aufl., Opladen 1983, S. 99. 341 Niklas Luhmann, Institutionalisierung - Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, 2. Aufl., Düsseldorf 1973, S. 28.
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plausibel erscheinende Trennung von Institutionen und sozialen Systemen wird insbesondere deutlich bei Luhmanns Charakterisierung der Grundrechte als Institution.343 Sein Institutionsbegriff geht insoweit zwar von tatsächlich existierenden Erwartungsstrukturen aus, ist aber dennoch eher dem Institutsbegriff vergleichbar als dem Institutionsbegriff moderner rechtsrealistischer Institutionentheorien, die sowohl institutionalisiertes Verhalten als auch bewußtes Zweckhandeln integrieren. Luhmann verkürzt den Institutionsbegriff auf die Struktur sozialer Systeme mit der Maßgabe, daß aus rechtlicher Perspektive vermeintlich bloß die Normsätze und aus soziologischer Perspektive jedenfalls nur der faktische Konsens bezüglich bestimmter Erwartungen erfaßt werden. Infolgedessen erhält nur noch der Begriff der Institutionalisierung im Rahmen seiner Theorie sozialer Systeme eine Bleibestatt. Hiermit sind lediglich die Prozesse gemeint, die die Generalisierung von Konsens ermöglichen. Durch Institutionalisierung, die es den Interaktionspartnern innerhalb einer sozialen Beziehung erlaubt, sich wechselseitig einen (für sie mutmaßlichen) Konsens zu unterstellen, ohne ihn wirklich abzufragen, wird der Konsenswert aktuellen Erlebens und Handelns im Hinblick auf die Erwartung von Verhaltenserwartungen überzogen. Nach Luhmann dient infolgedessen Institutionalisierung dazu, Konsens erfolgreich zu überschätzen.344 Auch unter der Voraussetzung moderner rechtsstaatlicher Verfassungen sind für die Institutionalisierung eigens vorgesehene Verfahren etabliert, die es ermöglichen, Normen in Geltung zu setzen, ohne aktuellen Konsens der Betroffenen vorauszusetzen. Die treffende Beschreibung Luhmanns kann den Begriff der Institution jedoch nicht ersetzen. Mit seinem Institutionalisierungskonzept erfaßt Luhmann lediglich die soziale Dimension. Zudem ignoriert seine Auffassung der Institutionen, die diese auf bloße Strukturen sozialer Systeme reduziert, die modernen institutionentheoretischen Forschungen und Auffassungen, die im Neuen Institutionalismus, insbesondere in demjenigen von Helmut Schelsky und Werner Krawietz, vertreten werden. Beide Autoren zeigen, daß die Institutionen soziale Kommunikations- und Handlungssysteme sind. Sie fungieren nicht nur als Muster für soziale Handlungsabläufe, sondern bieten den in ihrem Rahmen Handelnden zugleich die Möglichkeit, Handlungsalternativen herauszubilden, zu wählen und selektiv auf Dauer zu stellen. Auf diese Weise kann zugleich ein institutioneller Wandel im Rahmen relativer Systemstabilität ermöglicht werden. 345 Im Zentrum eines modernen Verständnisses der Institutionen stehen somit alle Formen sozialen Handelns.346 342
Ebd.; ders., Die Universität als organisierte Institution, in: ders., Universität als Milieu. Kleine Schriften, hrsg. von André Kieserling, Bielefeld 1992, S. 90-99,98. 343 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 12 f. 344 Niklas Luhmann, Institutionalisierung - Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, S. 30. 345 Exemplarisch hierzu Helmut Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 215-231, 216; Werner Krawietz, Recht als Regel-
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In der Systemtheorie Luhmanns nehmen die Gesellschaft und deren theoretische Analyse einen anderen Stellenwert ein, als dies etwa bei Schelsky der Fall ist. Neben der allgemeinen Theorie sozialer Systeme, die mit der Theorie der Gesellschaft nicht verwechselt werden darf, hat letztere es mit der Gesamtheit aller Kommunikationen zu tun. Gesellschaftstheorie ist somit für Luhmann eine eigenständige Teildisziplin der Soziologie, neben der Interaktions- und Organisationstheorie. Vor allem die internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen führen zu weltweiter Kommunikation, was Luhmann veranlaßt, nur noch von der Weltgesellschaft und nicht mehr von einer Vielzahl von Gesellschaften zu sprechen.347 Für die Gesellschaft, die Intersubjektivität ausschließt, und selbst ein selbstreferenziell geschlossener Kommunikationszusammenhang ist, bedeutet dies, daß alle Kommunikation ausnahmslos eine gesellschaftliche ist. 348 Anders als Großorganisationen, wie ζ. B. Staaten, supra- und internationale Organisationen oder weltweit aktive Aktiengesellschaften, bildet die Weltgemeinschaft selbst keine organisatorische Einheit, wie dies schon von Schelsky bemerkt wurde. Da sie die Gesamtheit des Sozialen erfaßt, ist sie - wie die Institutionentheorie von Schelsky und Krawietz pointiert herausstellt - gerade nicht organisierbar und kann auch nicht eigenständig operieren. Auch die Vereinten Nationen repräsentieren nicht dieses weltweite soziale Kommunikationsnetz, sondern sind ihrerseits nur eine Organisation, die freilich einen sehr weiten Aktionsbereich besitzt. Demnach sind Luhmann und Schelsky in ihrer Auffassung von Gesellschaft gar nicht so weit voneinander entfernt, doch hätte Schelsky nie von Weitgesellschaft gesprochen, da er als soziologischer Theoretiker - empirisch beobachtet - nur Regionalgesellschaften identifiziert. 349 In der Tat muß es als abwegig erscheinen, die diversen,
system, Wiesbaden 1984, S. 76; ders., Der soziologische Begriff des Rechts, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 157-177, 171; ders., Identität oder Einheit des Rechtssystems? Grundlagen der Rechtsordnung in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: MitsukuniYasaki / Alois Troller/José Llompart (Hrsg.), Japanisches und europäisches Rechtsdenken - Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 241 ff., 253. 346 Dazu vgl. insbes: Leopold von Wiese, Institution, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 5. Band, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1956, S. 297-298; ders. System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre), 4. Aufl., Berlin 1966, S. 331 ff. 347 Dirk Baecker/ Niklas Luhmann, Wege und Umwege der Soziologie. Interview im Deutschlandfunk am 3. Dezember 1989, in: Rechtstheorie 21 (1990), S. 209-216,213; ders., Die Weltgesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 51 - 7 1 ; ders., Rechtssoziologie, 2., erweiterte Aufl., Opladen 1983, S. 333, und ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Aufl., Frankfurta. M. 1988, S. 557. 348
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 555, 584; ders., Gesellschaftliche Organisation, in: Thomas Ellwein / Hans-Hermann Groothoff u. a. (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliches Handbuch, erster Band, Berlin 1969, S. 387-407,400; ders., Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 198-227, 206.
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geschichtlich-gesellschaftlich geprägten Kulturen zu einer Weltgesellschaft hinaufstilisieren zu wollen. 350 Luhmann versucht trotzdem, die die Gesellschaft kennzeichnenden Merkmale zu identifizieren, begrifflich zu erfassen und theoretisch zu deuten. Jedoch fehlt auf gesellschaftlicher Ebene eine einheitliche Willensbildung. Es erscheint daher ausgeschlossen, gesellschaftsweite Prinzipien, Endziele oder Leitideen auszumachen, die die substanzielle Grundlage einer gesellschaftsweiten Normierung sein könnten. Daß es für das Gesellschaftssystem keine entsprechenden inhaltlichen Zielvorgaben gibt, heißt freilich nicht, daß die Gesellschaft nur als eine Akkumulation unterschiedlichster Sozialbeziehungen beschreibbar ist. Die moderne Gesellschaft ist nach Luhmann durch die funktionale Differenzierung in sozietale Teil- bzw. Subsysteme gekennzeichnet. Jedes Funktionssystem steht in Beziehung zur gesamten Gesellschaft und deren Funktionssystemen. Die Orientierung eines Funktionssystems an der Gesellschaft wird für Luhmann als Funktion spezifiziert. Sie ist für jedes der sozietalen Teilsysteme eine andere. Auf dieser Grundlage nimmt das jeweilige Funktionssystem eine Universalkompetenz in Anspruch.351 Zur Wahrnehmung seiner spezifischen Funktion benötigt jedes Funktionssystem einen binären Code, an dem sich das System orientieren kann, wenn es sich reproduziert und gegen eine Umwelt abgrenzt. 352 Codes bestehen aus einem positiven und einem negativen Wert, im Falle des Rechtssystems darin, daß es durch die Differenz von Recht/Unrecht codiert ist und kein anderes System unter diesem Code arbeitet. 353 Aufgrund ihrer Zweiwertigkeit sind sie Voraussetzung der weiteren Programmierung und Konditionierung, denn aus der Codierung selbst ergeben sich noch keine Kriterien für Recht und Unrecht. Codes sind allein nicht existenzfähig, da sie selbst keine In349
Hierzu: Werner Krawietz, Are There »Collective Agents* in Modern Legal Systems? An Institutional and Systems Theoretical Puzzle in Recent Theories of Norms and Action, in: Georg Meggle et A al. (eds.), Actions, Norms, Values. Discussions with Georg Henrik von Wright, Berlin/New York 1999, S. 273-278, 275 ff. 350 Dazu jetzt: Werner Krawietz, Rechtssysteme und Rechtstheorien im Widerstreit - Dialog der Kulturen oder Clash of Civilizations? In: ders./Gert Riechers/Klaus Veddeler (Hrsg.), Konvergenz oder Konfrontation? Transformationen kultureller Identität in den Rechtssystemen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 1 - 4 , 2 f. 351 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 635 f.; ders., Die Funktion des Rechts: Erwartenssicherung oder Verhaltenssteuerung? In: ders., Ausdifferenzierungen des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, S. 73-91. 352 Niklas Luhmann, „Distinctions directrices". Über Codierung von Semantiken und Systemen, in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 13-31; ders., Die Codierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 17 (1986), S. 171-203, 178; ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt a. M. 1986, S. 42. 353 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988, S. 283-299; Helmut Schelsky, Politik und Publizität, Stuttgart 1983, S. 31 f., 38 ff. und 52 ff.
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formationen produzieren. Durch den binären Schematismus werden Systeme ausdifferenziert. 354 Normen- bzw. Rechtsnormen fungieren als Bedingungen für die Richtigkeit der Selektion von Operationen. Auf der Normen- bzw. Programmebene kann das Rechtssystem Strukturen verändern oder austauschen, ohne seine durch den Code Recht/Unrecht bestimmte Identität aufzugeben. Trotz seiner operativen Geschlossenheit ist das Rechtssystem offen insoweit, als es aufgrund eigener Umweltbeobachtung auf externes Geschehen reagieren kann. Das Rechtssystem als Funktionssystem der Gesellschaft wird durch seine spezifische Funktion, nämlich die Produktion und Reproduktion rechtlicher Erwartungen, charakterisiert. Es geht darum, im Rechtssystem fortlaufend kongruent generalisierte soziale Erwartungen, also Rechtsnormen, zu erzeugen. Ihre Programmierung ist jeweils am rechtlichen Code orientiert und entscheidet darüber, welcher Sachverhalt rechtmäßig und welcher unrechtmäßig (rechtswidrig) ist. Da Code und Funktion aber als solche noch keine inhaltliche Handlungsanweisung liefern, besteht insofern ein Unterschied zu den Leitideen, die zwar ebenfalls kein Konditionalprogramm enthalten, aber zumindest eine inhaltliche Zielbestimmung vorgeben.
3. Konzept einer juridisch-institutionellen Rationalität des Rechts nach Schelsky Schelskys nachpositivistischer Ansatz einer Theorie des Rechts kann - im Gegensatz zu den klassischen Varianten des rechtspositivistischen Institutionalismus - als Grundlegung eines neuen, rechtsrealistischen Denkansatzes charakterisiert werden. Für ihn als Soziologen ist Recht nicht nur ein Gedankeninhalt, bestehend aus Wortnormen und logisch-deduktiven Ableitungen, sondern Recht und Rechtsordnung werden als faktisch existierende soziale Ordnung, d. h. als ein normatives „institutionelles Ordnungssystem", begriffen. 355 Ähnlich wie Weinberger ist Schelsky daran gelegen, die rechtstheoretischen Defizite der unterschiedlichen normativistischen Rechtslehren aufzuzeigen. Durch den Versuch einer Beschreibung sowohl der normativen als auch der sozial wichtigen Aspekte und Grundlagen des Rechts in ihrer realen Verbindung soll die rein positivistische Sicht der Normen überwunden werden. Gegenüber rein analytisch-normativistisch orientierten Rechtstheorien erblickt Schelsky die wesentliche Aufgabe einer Institutionentheorie des Rechts darin, die spezifischen Wesenszüge der Dauer und Kontinuität, der Stabilität und Hierarchie 354
Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 2. Aufl., Opladen 1988, S. 91; ders., Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, S. 35-51, 35. 35 5 Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 77-94, 78; eingehend zur Normentheorie Schelskys: Petra Werner, Die Normentheorie Helmut Schelskys als Form eines Neuen Institutionalismus, Berlin 1995.
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rechtlicher Phänomene im Bestand einer Gesellschaftsordnung sowie die damit verbundenen sozialen Verhaltensweisen zu erfassen. 356 Im Mittelpunkt einer solchen Forschung stehen die rechtlichen Lebensvorgänge in sozialen Institutionen unter Vernachlässigung derjenigen sozialen Erscheinungen, die sich nicht in Rechtsverhältnissen äußern oder auf sie einwirken. Kennzeichnend für Schelskys Theorie ist die beschreibende Untersuchung von gesellschaftlichen Verhaltensweisen in sozialen Gebilden, wie Institutionen und Organisationen, die dem Beobachter hilft, die tatsächlichen normativen, insbesondere rechtsnormativen Forderungen oder besser Erwartungen zu erschließen und zu analysieren. So sind für ihn die gesellschaftlich erzeugten Erwartungsstrukturen, an denen sich sowohl das Rechtsverhalten als auch das übrige gesellschaftlich relevante Verhalten orientieren, in die soziale Realität integriert. Schelsky versteht - ausgehend von der sozialen Wirklichkeit, aber ohne den normativen Aspekt zu ignorieren - das Recht als normativ-institutionelles Faktum oder, mit anderen Worten ausgedrückt, als das Verhalten von Menschen in rechtlich strukturierten Institutionen. Bereits in seinem im Jahre 1949 verfaßten Aufsatz „Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen", betont er ausdrücklich, daß die Staatsverfassung als Institution sich nicht nur in dem geschriebenen Text erschöpft, 357 sondern sich die Verfassungswirklichkeit gerade in den von ihr ausgehenden und beeinflußten Akten und Vollzügen handelnder Menschen, also der gelebten Ordnung, realisiert. 358 Anders als Weinberger faßt Schelsky das Recht aber nicht als normative Gedankenentität auf. Recht ist ein sozialer Mechanismus, mit dessen Hilfe die einzelnen Personen sich in ihren sozialen Handlungen und normativen Kommunikationen aneinander orientieren. 359 Dieser rechtliche Handlungs- und Verhaltensbereich wird von ihm als institutioneller Tatbestand, als objektiviertes Ordnungssystem gesehen. 360 Verstanden als ein sozialer Vorgang, ein Prozeß, handelt es sich um ein 356 Grundsätzlich hierzu schon Helmut Schelskys Ausführungen in: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 5., unveränderte Aufl., Stuttgart 1967, S. 30. Ebenfalls abgedruckt in: ders., Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland (zu René König: Materialien zur Soziologie der Familie), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 2 (1949/50), S. 218-247, 240 f. 357 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 33-55, S. 54 (Anm. 16). 358 Ebd., S. 43.; vgl. dazu auch: Helmut Schelsky, Schellings Philosophie des Willens und der Existenz, in: Gotthard Günther/Helmut Schelsky, Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewußtseins, Leipzig 1937, S. 47-108. 359 Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 77. 360 Ebd., S. 78 f.; ders., Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, S. 215-231, 215; vgl. auch schon hierzu Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht, S. 170 f.
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Rechtsgeschehen, das hilft, einerseits das durch Handeln Erreichte auf Dauer zu stellen, andererseits planend auf zukünftiges Verhalten einzuwirken. Die hierdurch geschaffenen konkreten sozialen Tatbestände institutioneller Art wirken steuernd und beeinflussend auf das Handeln des Einzelnen ein. 361 Schelsky betont damit nicht nur den sozialstrukturellen, sondern den dynamischen Aspekt des Rechts, das - hier verstanden als sozialer Prozeß - trotz seiner stabilisierenden Wirkung ständig im Fluß ist. Demzufolge faßt Schelsky seine Institutionentheorie zu Recht als eine Art Systemtheorie auf. Er beschreibt die Institutionen ausdrücklich als eine Art sozialer Systeme. Sie sind für ihn ein objektives Bezugssystem der sozialen Wirklichkeit, nämlich ein „System sozialer Handlungen".362 Wie Luhmann mißt Schelsky ihnen als sozialen Gebilden ganz wesentliche Bedeutung bei. Schelsky bezeichnet zutreffend das Verhältnis von Institution und konkreter Handlung als einen sich wechselseitig bedingenden Kreisprozeß. Bei diesem sind Struktur und Prozeß untrennbar verbunden, so daß die Dichotomie von Norm und Aktivität überwunden wird. Schelsky identifiziert somit nicht Institution und Recht. Für ihn ist Recht vielmehr vor allem Aktivität, nämlich bewußtes Zweckhandeln in den Institutionen.363 Es ist die bewußte Gestaltung und Regelung sozialer Beziehungen. Durch diese Dynamik, die im rechtlichen Handeln in den Institutionen ihren Ausdruck findet, verändert sich die Institution gegenüber neuen Umweltsituationen. Indem Schelsky dieses Verhältnis von Institution und bewußtem Zweckhandeln als Kreisprozeß 364 darstellt, erfaßt er die Rechtsbeziehungen nicht nur von ihrer rein objektiven Seite, also dem Einfluß der Rechtsinstitutionen bzw. sozialen Systeme auf das Verhalten der Rechtssubjekte, sondern auch aus der Sicht der handelnden Individuen, die mit ihren Motivationen und Zielvorstellungen das Recht dauernd verändern und sogar neues Recht schaffen. Anders als bei den normativistischen Institutionentheorien stehen bei Schelsky nicht die Normsätze und ihre Bedeutung im Vordergrund. Vielmehr sind die Institutionen für ihn wirklich existierende soziale Systeme, die er mittels seiner soziologischen Theorie der Institution begrifflich kennzeichnet, analysiert und rekonstruiert. Die laufende Produktion und Reproduktion der sozialen Institutionen - unter Einschluß ihrer Konstruktion und Rekonstruktion durch die Wissenschaft - bezeichnet er als Wirklichkeitskontrolle. 365 In diesem Sinne ist Kontrolle nicht im Sinne von Planung zu verstehen, sondern als begriffliche Darstellung normativ Seiendens einschließlich des normativ Seienden. Schelsky erfaßt Normen und Nor361 Helmut Schelsky f Die Soziologen und das Recht, S. 78. 362 Helmut Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 215 f. 363 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: ders., Die Soziologen und das Recht, S. 95 -146,122 f. 364 Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 78 ff. 365 Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, 3. Aufl., Düsseldorf/ Köln 1967, S. 12 f. 8 Simon
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mensysteme als Phänomene der institutionellen Wirklichkeit. Regeln, insbesondere solche des Rechts, haben sowohl die Aufgabe, die Stabilität sozialer Institutionen zu gewährleisten als auch Veränderbarkeit und stabilen Wandel der Institutionen zu ermöglichen. Ein Zusammenleben in sozialer Gemeinschaft erfordert zunächst, daß die Handlungsbeiträge aller Beteiligten sinnhaft geordnet und aufeinander bezogen werden können. Eine entsprechende Strukturierung des sozialen und kommunikativen Handelns wird durch institutionalisierte Verhaltenserwartungen gewährleistet.366 Die strukturellen Muster, die die Institutionen als Verhaltensorientierung herausgebildet haben bzw. fortlaufend herausbilden, machen menschliches Verhalten erwartbar. Trotz der unüberschaubaren Vielzahl möglicher sozialer Situationen ist menschliches Handeln in den seltensten Fällen originell. Vielmehr kann ein Beobachter sozialer Geschehnisse bei Kenntnis der einschlägigen Verhaltensmuster anhand der Situation die sich anschließenden Handlungen abschätzen und einordnen, ohne die beteiligten Personen zu kennen oder zu wissen, welche Motivationen ihrem Handeln zugrunde liegen. Mit anderen Worten strukturiert der institutionelle Rahmen regelmäßig das soziale Handeln. Erst die normativ-institutionellen Muster machen menschliches Verhalten erwartbar. Daher wird in der modernen Rechtstheorie und Rechtssoziologie der Erwartungsbegriff als Oberbegriff für die sozialen Strukturen verwendet. Institutionalisierung bedeutet für Schelsky demnach, daß alle Beteiligten die auf Dauer gestellten Verhaltenserwartungen und die damit geschaffene Ordnung weitgehend und planend in Rechnung stellen können, dürfen und müssen.367 Der Begriff der Institutionalisierung wird damit weiter gefaßt als in der Systemtheorie Luhmanns, der den Begriff der Institutionalisierung auf die Erwartungserstreckung in der sozialen Dimension reduziert 368. Da man den Konsens beliebiger Dritter für konkrete Erwartungen in komplexen Gesellschaften nicht wirklich erwarten und vor allem für neue Erwartungen nicht mehr voraussehen könne, sei es erforderlich, faktischen Konsens zufingieren. Mit dieser gegenüber Schelsky um die zeitliche Dimension verkürzten Begriffsbestimmung läßt sich die Dauer bzw. die Stabilität sozialer Strukturen nicht erklären. Zu dieser institutionellen Stabilität tragen insbesondere Rechtsnormen bei, die sich gegenüber anderen Normen durch eine besonders anspruchsvolle Generalisierung in allen drei Dimensionen, nämlich der sachlichen, zeitlichen und der sozialen auszeichnen. Institutionen dürfen aber nicht mit der normativen Ordnung, also auch nicht mit den Rechtsnormen, identifiziert, d. h. verkürzend gleichgesetzt werden. Den durch bewußtes Zweckhandeln etablierten Normen und Verhaltensmustern kommt eine Entlastungsfunktion in den Institutionen zu. Dabei werden die bewährten Lösungen bewußten Zweckhandelns sowohl zu einer „Schicht von kulturellen Bedürfnissen und Gewohnheiten" als auch zu einem damit verbundenen „Handeln in »kulturellen Selbstverständlichkeiten4 und ih366 Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, München 1977, S. 33. 367 Ebd., S. 122. 368 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, S. 64 f.
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ren institutionellen Formen". Nach Schelsky ist Institutionalisierung also eine „Stabilisierung von Verhaltensweisen als Trivialisierung und Banalisierung, und umgekehrt bildet erst ein Verhalten, das diesen Zustand erreicht hat, die Grundlage für neue stabile Institutionen".369 Grundlegende Bedeutung für den stabilen Wandel der Institutionen kommt dem Verhältnis von Institution und Organisation zu. Schelsky erläutert den Begriff der Organisation im Zusammenhang mit der Problematik des Institutionalisierens. Institutionalisierung bedeute nicht lediglich die Übernahme oder Schaffung neuer moderner Organisationsformen, was nicht heißt, daß Institutionen sich nicht der speziellen Systemform der Organisation bedienen können. Schelsky versteht unter einer Organisation die durch eine bewußte Methodik erreichte und gesicherte Koordination von Personen oder menschlichen Aktivitäten zur Verwirklichung bewußter Ziele oder zur Erfüllung von klar angebbaren Interessen.370 Moderne Organisation beruhe also auf Zweckhandeln. Institutionen hingegen basieren nicht nur auf dem planenden Zweckhandeln, sondern sind soziale Gebilde, deren Stabilität und Dauerhaftigkeit tiefer begründet ist. Sie haben wegen ihrer stabilisierenden Funktion fundamentalere und weniger leicht ersetzbare Bedeutung für die Gesellschaft als die Organisationen. Im Gegensatz zu Organisationen können Institutionen nicht ohne weiteres geschaffen oder aufgelöst werden. Organisiertes Handeln zur Erreichung eines bestimmten Zwecks oder Ziels geschieht zwar immer im institutionellen Rahmen, unterliegt aber nicht der gleichen Stabilität wie das institutionalisierte Verhalten. Ungeklärt ist ferner die Frage, ob organisiertes Handeln stets Voraussetzung sozialer Institutionalisierung ist. Weinberger meint, Schelsky bejahe diese Frage und vertrete damit einen sehr engen Institutionenbegriff. 371 Schelsky geht hier aber - unabhängig von dem Bestehen einer Organisation - von der Institutionalisierung menschlicher Verhaltensweisen aus, falls diese sich bewährt und in der Gemeinschaft stabilisiert haben. Dies hat Werner Krawietz unter Hinweis auf die Differenz zwischen der Institutionalisierung menschlicher Verhaltensweisen und der Problematik ihrer Organisation ausdrücklich betont.372 Schelsky wendet sich hier gegen die ausschließliche Abhängigkeit des Rechts vom Staate, letzterer hier verstanden als arbeitsteilig fungierende, bürokratische Organisation, wie sie durch den etatistischen Rechtsbegriff vertreten wird, da ansonsten das Individuum sich
369 Helmut Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 250-275,263 f. 370 Ebd., S. 262. 371 Ota Weinberger, Diskussionsbeitrag, in: Recht und Institution. Helmut Schelsky-Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1985, S. 76 f. 372 Werner Krawietz, Diskussionsbeitrag, in: Recht und Institution. Helmut Schelsky-Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1985, S. 76 f. 8*
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nicht gegenüber den Systemzwängen behaupten könne. Er formuliert ausdrücklich: ,»Nimmt man das Recht nur als .objektive Ordnung4 hin, das durch politische Organisationen gesetzt wird, so hat man das Recht auch bereits der Organisationshaftigkeit der modernen Welt, also ihren Systemzwängen ausgeliefert." 373
Der Staatsbezug ist kein alleiniges Rechtskriterium, denn Recht entsteht auch in anderen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, in Familie und Gruppen. Die Normierungsfunktion wird somit in der sozialen Wirklichkeit allen Rechts auf verschiedene soziale Systeme verteilt. Die diversen Organisationen sind trotz ihrer unbestreitbaren Relevanz für die Rechtsproduktion rein faktisch nicht imstande, ex ante jeden Einzelfall zu normieren und zu determinieren. Eine generell-abstrakte Normierung durch Organisationen kann nicht sämtliche Einzelfallregelungen vorwegnehmen. Diese müssen weitgehend durch Kommunikationen in Interaktionen oder durch soziales Einzelhandeln festgelegt werden. So wird beispielsweise durch die Institution des Vertrages die konkrete Gestaltung normativ erwartbarer Bindungen den ausdrücklichen Erklärungen und Entscheidungen der Beteiligten anheimgegeben.374 Der Vorteil liegt insofern in der institutionellen Entlastung der staatlichen Gesetzgebungsorgane von normativen Regelungsnotwendigkeiten. Recht entsteht somit nicht nur im Staat, sondern auch in Interaktionen, anderen Organisationen oder einfach in der Gesellschaft, also in allen Arten sozialer Systeme. Das Recht ist in der institutionentheoretischen Analyse Helmut Schelskys stets untrennbar mit dem menschlichen Verhalten bzw. sozialen Handeln verknüpft. 375 Schelsky geht, ohne Positivist zu sein, davon aus, daß Recht immer gesetzt werde 3 7 6 und damit stets positives Recht ist mit der Folge, daß seine Kennzeichnung als „positiv" überflüssig wird. Anders als für die konservativen Institutionentheoretiker, wie Durkheim 377 oder Gehlen,378 erschöpft es sich für ihn aber nicht in den bereits institutionalisierten normativen Verhaltenserwartungen, also in dem „Institutionellen" einer dem individuellen Handeln vorgegebenen Steuerungsnormativität, die als eine Art anthropologischer Instinktersatz des menschlichen Handelns quasi zur Aufrechterhaltung des status quo dient. Die Natur des Rechts ist, wie die im Rechtsdenken so häufig bemühte »Natur der Sache4, jedenfalls keine Sache der 373 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz, S. 143. 374 Vgl. Stig J0rgensen, Contract as a Social Form of Life, in: Rechtstheorie (1985) S. 201-216. 37 5 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, S. 99. 3
™ Ebd., S. 123. Vgl. hierzu Ute Bullasch, Rechtsnorm und Rechtssystem in der Normentheorie Emile Dürkheims, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1988, S. 41 ff. 378 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 3. verbesserte Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 212 f.; ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 12. Aufl., Wiesbaden 1978, S. 57 ff. 377
§ 9 Divergierende Rationalitätsansprüche und -prinzipien
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Natur (Schelsky). Schelsky erkennt die Bedeutung der institutionalisierten normativen Strukturen, die einer gewissen Formalisierung in Normsätzen und einer Prozeduralisierung in Entscheidungsverfahren bedürfen. Veränderung und Fortentwicklung der Institutionen erfordern stets bewußtes Zweckhandeln. Kommt es zu befriedigenden Lösungen, werden diese auf Dauer „stabilisiert". In Form von abgeleiteten Bedürfnissen („Kulturbedürfhissen") werden sie Ziele des Antriebs. Deren Verwirklichung durch dauernde Erfüllung ermöglicht es, von bewußter Zweckhandlung zu unbewußter Gewohnheit zu wechseln. Mit anderen Worten: die „Lösungen des bewußten, zweckgerichteten Handelns erhalten Selbstwert", werden „durch Außenstützung (Riten, Symbole, Personifizierungen usw.) objektiviert'". 379 Die Institutionalisierung ermöglicht eine Entlastung der Bewußtheit und der Aktualität in Gewohnheit. Das freie und bewußte Zweckhandeln selbst ist Recht, soweit es die sozialen Beziehungen regelt und gestaltet. Die Bewußtheit des Zweckhandelns als Kennzeichen des Rechts grenzt dieses ab gegenüber bloßen Gewohnheiten, wie Sitte, Brauch und Konventionen. Für Schelsky ist es seit jeher selbstverständlich gewesen, daß nicht Recht allein soziale Institutionen stabilisiert.380 Die Definition Schelskys, Recht sei die stets bewußte Regelung und Gestaltung sozialer Beziehungen durch freies und bewußtes Zweckhandeln, ist nicht so zu verstehen, daß jedes auf soziale Regulierung gerichtete Zweckhandeln eine rechtliche Entscheidung sein muß. Vielmehr ist das Recht nur eine, wenn auch die exponierteste Möglichkeit sozialer Normierung. Sitte und Brauchtum gehören für Schelsky als bloße Gewohnheiten nicht zum Bereich des bewußten Zweckhandelns und sind daher auch nicht als soziale Normen anzusehen.381 Es erscheint daher nicht angebracht, mit Weinberger Brauch und Sitte neben Religionsnormen auf eine Stufe zu stellen. Im Gegenteil würde eine Gleichstellung sozialer Normen mit Brauch und Sitte als bloßen Verhaltensgewohnheiten zwangsläufig zu einer behavioristischen Sichtweise führen, die Weinberger mit Grund als unzureichend verwirft. Denjenigen, die von einer Transformation nichtrechtlicher, ζ. B. moralischer oder religiöser Normen ins Recht ausgehen, kann der Vorwurf eines Theoriedefizits nicht erspart bleiben.382 Er ist bezüglich der Normen- und Institutionentheorie Schelskys nicht zutreffend, da jeder Form von Transformationstheorie, ähnlich wie 379 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz in der Rechtssoziologie, S. 129. 380 Helmut Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? S. 262 ff., und ders., Religionssoziologie und Theologie, in: ders.* Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 276-293. 381 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, S. 122 f.; ähnlich bereits Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976,1. Halbband, S. 15 und 2. Halbband, S. 58 ff. 382 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 168, hat überzeugend dargelegt, daß spätestens seit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die mit der Etablierung staatlich organisierter Rechtssysteme einherging, sich zugleich eine Trennung von Recht und Mo-
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4. Abschn.: Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung
bei Luhmann, eine Absage erteilt wird. Das Rechtssystem ist, wie alle anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme, ein autopoietisches System, das als solches operativ geschlossen ist d. h. es ist ein eigenständiges System, das durch seine juridische Rationalität gekennzeichnet wird. Es erzeugt alle Operationen selbständig und selbstreferenziell, mit anderen Worten: ausschließlich systemintern. Das Recht kann daher eine rechtsnormative Kommunikation stets nur als rechtliche einordnen, was nicht heißt, daß externe Beobachtungen unter Umständen bestimmte Operationen sowohl als rechtliche als auch als moralische beschreiben können. Das Rechtssystem operiert mit Hilfe des Codes Recht/Unrecht und kann damit lediglich originär rechtliche (rechtmäßige, rechtswidrige) Elemente produzieren. Das System kann nicht außerhalb seiner eigenen Grenzen handeln. Es stehen dem System eben nur die eigenen Operationen zur Disposition, so daß es zwischen verschiedenartigen Systemen keinerlei Überschneidungen ihrer Operationen gibt. Weinberger vertritt unzutreffenderweise die Auffassung, Schelsky ignoriere gesellschaftliches und soziales Handeln und verstehe das Wesen der Handlung lediglich von der Person und der menschlichen Kultur aus. 383 Zwar geht Schelsky einerseits davon aus, daß der Mensch als „providentielles Wesen" mit seinen Entscheidungen seine Wirklichkeit selbst schafft und dabei kontrafaktische Lebensziele verfolgt. 384 Für ihn gibt es jedoch keinen einheitlichen Handlungsbegriff. Das menschliche Handeln ist nach Schelsky grundsätzlich als ein System der Kooperation und Spezialisierung zu verstehen, in dem nicht nur der Gegenstandsbereich, sondern die Denk- und Handlungsformen zwischen Wissenschaft und Praxis arbeitsteilig aufgespalten sind. 385 Daß menschliches Handeln an Zielen orientiert ist, ist eine grundlegende Tatsache für sämtliche Handlungs- und Sozialwissenschaften, die aber keine bestimmte Handlungstheorie präjudiziell. Vielmehr meint Schelsky, die vornehmlich auf den menschlichen Willen abstellenden Handlungslehren der normativen Wissenschaften, einschließlich der Rechtswissenschaften könnten im Grunde den Bannkreis des idealistischen, den Primat des Bewußtseins behauptenden Denkens, niemals überschreiten. 386 Schelsky hat keine isolierte Handlungstheorie entwickelt, sondern sieht eine solche als integrierenden Bestandteil seiner realistischen Institutionentheorie des Rechts an. Schelsky erblickt ferner die Geschichtlichkeit und den sozialen Wandel von Institutionen darin, daß eine jede Kultur auch bestimmte biologische Grundbedürfnisse des Menschen erfüllen muß. 387 Aufgrund der mangelnden spezialisierten Orrai vollzog, so daß die Transformation von Moral in Recht ausgeschlossen ist. Vgl. auch Theodor Geiger, Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala, Berlin 1979, S. 182. 383 Ota Weinberger, Soziologie und normative Institutionentheorie, S. 47. 384 Helmut Schelsky, Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979, S. 58; ders., Die Erfahrungen von Menschen. Was ich von Bürger-Prinz gelernt habe, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 24. Jahr, Tübingen 1979, S. 203-217,214. 385 386
Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 124. Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, S. 46.
§ 9 Divergierende Rationalitätsansprüche und -prinzipien
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ganausstattung des Menschen ist dieser auf den Aufbau einer künstlichen kulturellen Umwelt angewiesen. Wenn die gegebenen biologischen Grundbedürfhisse durch Institutionen 1. Grades erfüllt werden, entstehen neue kulturelle Bedürfnisse. Die in den Institutionen organisierte Befriedigung von Grundbedürfaissen produziert also neue, nicht naturgegebene, sondern vom Menschen selber selegierte Bedürfnisse. Mit diesen „abgeleiteten Bedürfnissen" und deren Erfüllung treten sogleich neue Typen der Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten auf. Dieses institutionelle Verhalten entwickelt aus seinem Erfüllungstatbestand heraus neue Folgebedürfnisse. 388 Charakteristisch für die abgeleiteten menschlichen Bedürfnisse ist es, auf dem Wege institutioneller, versachlichter Befriedigungen aus sich selbst zugleich neue Arten von jeweiligen Folgebedürfnissen zu produzieren. In dem Bedürfhis-Institutionen-Aufbau der Kultur liegt, institutionentheoretisch betrachtet, der soziale Wandel begründet.389 Voraussetzung und Ausgangspunkt allen sozialen Wandels ist somit die institutionelle Stabilität, d. h. das Funktionieren des komplexen Beziehungsgeflechts zwischen Bedürfnissen und Institutionen. Im Mittelpunkt von Schelskys Institutionen- und Normentheorie steht der regelmäßig zweck- und zielgerichtete Aufbau der Kultur mit den Mitteln des Rechts,390 der sich vornehmlich in staatlich organisierten Rechtssystemen sowie supranationalen bzw. internationalen Organisationen vollzieht. Entsprechend betont er, daß die Normselektion vor allem in speziellen juristischen Entscheidungsverfahren erfolgt. 391 Im Vordergrund stehen hierbei spezielle organisatorisch ausgestaltete Gesetzgebungs-, Gerichts- und Verwaltungsverfahren. 392 Normative Selektionen setzen regelmäßig Handlungsprozesse voraus. Sie sind keine Wahrheitsfindung, sondern Entscheidung darüber, welche der möglichen Normprojektionen geltendes Recht sind. Diese Handlungsprozesse des »Aushandelns" können im Austausch von Absichten, Interessen oder Versprechen der beiderseitigen Vertragsparteien liegen. Institutionen sind somit in der Perspektive des 387 Ebd., S. 33-45,37. 388 Ebd., S. 39. 389 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/ Köln 1965, S. 439-480. Wilfried Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, Freiburg/München 1972, S. 65 ff. Michael Bock, Neues von der Kultursoziologie des Rechts? Kritische Anmerkungen zu Werner Gepharts „Kulturelle Aspekte des Rechts - Vom Klassen- zum Kulturparadigma?", in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 12 (1991), S. 147-151,150. 390 Rudolph von Ihering, Über die Aufgabe und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung, in: ders., Der Kampf ums Recht. Ausgewählte Schriften, mit einer Einleitung von Gustav Radbruch, hrsg. von Christian Rusche, Nürnberg 1965, S. 401 -444, 420 ff.; Helmut Schelsky, Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht. Ein wissenschaftlicher Beitrag, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 147-186,184. 391 Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 34-76,48 f. 2 Ebd., S. 3 f.
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4. Abschn.: Institutionen als Formen sozialer Gemeinschaftsbildung
Neuen Institutionalismus, wie ihn Schelsky konzipiert, stets soziale Kommunikations- und Handlungssyteme. Bei Weinberger hingegen wird die Dynamik des Rechts nicht im Hinblick auf das wirkliche Rechtsleben bestimmt. Vielmehr bedeutet Dynamik des Rechts für ihn im wesentlichen nur die Erfassung der normativen, vor allem der verfassungsrechtlichen Prämissen, die jeder Änderung der Rechtssätze, insbesondere der gesetzlichen Wortnormen zugrunde liegen.393 Rechtliche Evolution erfordert darüber hinaus die Stabilisierung der selegierten normativen Erwartungen. Für Schelsky bedeutet gesellschaftliche Stabilität weder Stagnation noch Starrheit der etablierten Institutionen. Er vertritt vielmehr eine dynamisch-funktionale Institutionentheorie, bei der der ständige soziale Wandel durch Recht im Vordergrund steht. Dieser stabile Wandel wird vor allem möglich, indem dem Recht die bedeutsame Funktion als dynamischer Stabilitätsfaktor sozialer Institutionen zukommt.394 Die Stabilitätsfunktion des Rechts setzt aber weder die Unveränderlichkeit einzelner Rechtsnormen noch der Institutionen voraus. Die Institution ist nämlich nicht nur als objektivierte soziale Ordnung zu begreifen. 395 Das Recht hat eine gesamtgesellschaftlich relevante Aufgabe, indem das Rechtssystem sich selbst als kontinuierlicher, autopoietischer und normativer Kommunikationsprozeß ausgestaltet, in dessen Rahmen neue Normselektionen Anschluß an frühere Entscheidungen suchen und sich letztlich, ganz im Sinne der hier geschilderten juridischen Rationalität, als systemkompatibel erweisen müssen. Schelskys Rechtssoziologie kann infolgedessen nicht als biologisch bedürfnisorientiert bezeichnet werden. Eine realistische Soziologie, deren Forschungsgegenstand die menschliche Gesellschaft ist, ist gar nicht denkbar, ohne die Tatsache einzubeziehen, daß menschliches Handeln weitgehend auf die Verfolgung bestimmter selbstgesetzter Zwecke gerichtet wird.
393 Ota Weinberger, Rechtslogik, S. 261 ff., sowie ders., Norm und Institution, S. 102 f. Ähnlich bereits Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 72 f. und 198 ff. 394 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, S. 49. 395 So noch Arnold Gehlen, Mensch und Institutionen, in: ders., Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 69-77, 71; kritisch dazu: Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 81 f.
Fünfter Abschnitt
Anerkennung und Akzeptanz des Rechts und der Selbstorganisation freier und gleicher Bürger In den staatlich organisierten Rechtssystemen der modernen Gesellschaft stößt man immer wieder auf die Frage nach der Entstehung, dem Geltungsgrund und der Struktur der gesellschaftlichen Ordnung, insbesondere der Rechtsordnung. Dies geschieht in jüngerer Zeit immer häufiger in Verbindung mit kritischen Gegenfragen nach ihrer Annehmbarkeit und skeptischen Zweifeln an ihrer Anerkennungswürdigkeit. Die staatliche demokratische Herrschaftsgewalt, die den normativen Anspruch erhebt, auf der durch die Verfassung festgelegten Volkssouveränität zu fußen, gerät in ihrer Ausübung unter einen wachsenden Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck.396 Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, Direktiven und Normen, mit deren Hilfe der Staat Einfluß auf das Verhalten der Bürger und Rechtsgenossen zu nehmen versucht, kritiklos zu akzeptieren und klaglos hinzunehmen, scheint immer stärker abzunehmen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob und inwiefern Norm und richterliches Urteil überhaupt einer öffentlichen oder auch privaten Anerkennung bedürfen. Die Notwendigkeit eines solchen Anerkennungsprozesses macht in normativer Hinsicht nur dann Sinn, wenn nicht nur die Geltung der durch Gesetz fixierten, institutionell auf Dauer gestellten generellen Rechtsnorm, sondern auch diejenige der durch einrichterliches Urteil ausgesprochenen individuellen Rechtsnorm einer Anerkennung bedürfte. 397 Nach einer weitverbreiteten Ansicht trägt die mangelnde Transparenz, Kohärenz und Konsistenz der Rechtsentwicklung als ganzer dazu bei, die Bindung der Adressaten an das geltende Recht zu schwächen. Habermas vertritt die Auffassung, daß in der Moderne, insbesondere im modernen Recht und dem demokratischen Staat, die sozialen Verhältnisse, die mit Mitteln des Rechts geregelt werden, sowohl in tatsächlicher als auch in normativer Hinsicht unübersichtlich geworden sind. 398 Er nennt diese Entwicklung „Die Neue Unübersichtlichkeit". Sie ist freilich so neu nun wieder nicht, da bereits Otto von Gierke im Jahre 1902 in seiner Schrift über das „Wesen der menschlichen Verbän396 Werner Krawietz, Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts in den modernen Rechtssystemen, in: Gerhard Haney/Werner Maihofer/Gerhard Sprenger (Hrsg.), Recht und Ideologie. Festschrift für Hermann Klenner, Freiburg 1996, S. 106. 597 Ebd., S. 107. 398 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Bd. V, Frankfurt a. M. 1985, S. 85 und 133.
122 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
de" auf das Phänomen der im Rahmen der Rechtsordnung immer mannigfaltiger entstehenden menschlichen Zusammenschlüsse und die damit verbundene „Unübersichtlichkeit" hingewiesen hat. Habermas geht eben wegen dieser Unübersichtlichkeit der politisch-rechtlichen Verhältnisse von einem ungewöhnlich hohen Legitimitätsanspruch des modernen Rechtsstaats aus. Der Rechtsstaat, in dem wir leben, „mutet seinen Bürgern zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen. Die Gesetzestreue des Bürgers soll sich aus seiner einsichtigen und auch freiwilligen Anerkennung des normativen Anspruchs auf Gerechtigkeit ergeben, den die Rechtsordnung eines Rechtsstaats erhebt. Zwar gebe es die verfahrensmäßige Legitimation verabschiedeter Normen, diese gebe jedoch keinerlei Hinweis auf die Legitimität einer Rechtsordnung. Der Hinweis auf das legale Zustandekommen von Normen sei für einen Legitimitätsnachweis untauglich, da daraus nicht geschlossen werden könne, ob die Verfassung aus Prinzipien gerechtfertigt werden kann, deren Gültigkeit nicht davon abhängt, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht. Folglich könne der moderne Verfassungsstaat von seinen Bürgern nur dann Gesetzesgehorsam erwarten, wenn er sich bei der Schaffung von Normen auf anerkennungswürdige Prinzipien stützt, um dem Bürger die Möglichkeit einzuräumen, eine Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Recht zu treffen und bei letzterem die Gefolgschaft zu verweigern. 399 Habermas hat in seinem Werk „Faktizität und Geltung" eine der Hauptursachen für die immer stärker wachsende „Unübersichtlichkeit" ausgemacht. Er sieht sie in der voranschreitenden Fragmentierung der menschlichen Gesellschaft in immer neue Assoziationsformen der menschlichen Lebensführung. Es erscheine fraglich, eine ausreichende Erklärung dafür zu finden, wie sich die Reproduktion der Gesellschaft auf einem so fragilen Boden wie demjenigen deszendierender Geltungsansprüche der Rechtsnormen überhaupt vollziehen kann. Aufgrund solcher Rechtsnormen werden hochartifizielle Gemeinschaften geformt. Diese stellen sich als Assoziationen gleicher und freier Rechtsgenossen dar. Nach Habermas biete sich als Deutungsund Erklärungsmedium das Recht, insbesondere das positive Recht an, um unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften die Selbstorganisation „gleicher und freier Bürger" ins Werk setzen zu können. Dies soll für die soziale Integration von wachsender Bedeutung sein. 400 Habermas äußerte bezüglich des Phänomens des regelgeleiteten Verhaltens des Menschen bereits in seinen »Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns4 die Auffassung, daß Normen und Regeln - unabhängig von dem durch sie ausgeübten Zwang - „kraft einer intersubjektiv anerkannten Bedeutung" gelten.401 Diese Rechtsnormen ermöglichen laut Habermas darüber hinaus 399 Ebd., S. 85. 400
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, S. 23. 401 Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 13 f.
5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
die bereits oben erwähnte Bildung „hochartifizieller Gemeinschaften". Es entstehen „Assoziationen von gleichen und freien Rechtsgenossen, deren Zusammenhalt gleichzeitig auf der Androhung äußerer Sanktionen wie auf der Unterstellung eines rational motivierten Einverständnisses beruht. Auf die Problematik eines solchen „Einverständnisses" oder der im weiteren Verlauf dieser Arbeit auftauchenden Begriffe der »Anerkennung" und „Akzeptanz" soll im folgenden etwas näher eingegangen werden. Habermas unterscheidet mit Blick auf ein solches „Einverständnis" prinzipiell zwischen mehreren Aspekten. Er kategorisiert (i) die bloße »Akzeptanz von Geltungsgrundlagen" und (ii) die „Akzeptabilität von Gründen". Im Gegensatz zur Akzeptanz, die soziale Tatsachen schafft und diese dann perpetuiert, sei die Akzeptabilität grundsätzlich dem Risiko unterworfen, „durch bessere Gründe ... entwertet zu werden". 402 Die Rechtsgenossen müssen unterstellen dürfen, daß sie in freier politischer Meinungs- und Willensbildung die Regeln, denen sie als Adressaten unterworfen sind, auch selber autorisieren würden. 403 Die Frage stellt sich, ob überhaupt ein solcher Anerkennungs-EinverständnisAkzeptanzprozeß von Normen durch die assoziierte Gesellschaft notwendig und erforderlich ist, und wenn ja, wie dieser Prozeß beschaffen sein soll. Ferner stellt sich die Frage danach, was im Recht unter Gründen, respektive „guten" Gründen zu verstehen ist. Der Unterschied zwischen „guten" Gründen und „besseren" im Sinne von „vernünftigeren" Gründen muß dann festgelegt und die Folgen für das geltende Recht müssen definiert werden. Die Suche muß der Lösung des Problems gelten, ob und inwiefern eine solche Akzeptanz oder Akzeptabilität des Rechts generell gefordert werden kann, um den Anspruch des Rechts auf seine Geltung zu untermauern. Ferner hat man sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich Bürger und Rechtsgenossen selber auf die Suche nach den »besten4 oder »besseren4 Gründen begeben müssen. Grundsätzlich wird sich diese Diskussion darum drehen, ob Normen überhaupt der Anerkennung der durch sie betroffenen Normadressaten bedürfen oder ob es sich bei der Rechtsordnung nicht doch um eine aus Direktiven und Normen bestehende, an das menschliche Verhalten adressierte, mit Mitteln rechtlicher Gewalt ausgestattete Zwangsordnung handelt, die eigentlich nur deswegen des Rechtsgehorsams der Adressaten sicher sein kann, weil dieser seitens der Bürger eben geschuldet wird und diese bei Nichtbefolgung des geltenden Rechts hierzu gezwungen oder auf andere Weise von staatlicher Seite mit Sanktionen belegt werden können.404 Die Begriffe Anerkennung und Akzeptanz werden in der modernen Theorie von Recht und Staat, aber auch in der überkommenen Rechts- und Sozialphilosophie nicht einheitlich gebraucht. Letzterer wird bisweilen gleichbedeutend mit dem Be402
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 56. 403 Ebd., S. 57. 404
Werner Krawietz, Kazimierz Opaleks Rechtstheorie - in internationaler Perspektive betrachtet, in: ders./Jerzy Wróblewski (Hrsg.), Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts, Berlin 1993, S. V - XX, XIII ff., XVIII.
124 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
griff der Anerkennung, jedoch auch in gänzlich anderem Zusammenhang verwendet. Hier soll bei Verwendung der beiden Begriffe sorgfältig zwischen ihnen unterschieden und beide nicht, entgegen der Praxis des Sprachgebrauchs, synonym verwendet werden. Es ist zu prüfen, ob es sich bei der Anerkennung/Akzeptanz um einen realiter oder idealiter ablaufenden Vorgang handeln soll, also ob sie im Rahmen eines tatsächlichen Vorgangs abläuft oder in einer Art vernünftigen Denkgleichgewichts. Hauptaspekt eines normen- und handlungstheoretischen Ansatzes ist die Tatsache, daß die normative Bindung der Adressaten an das geltende Recht sowie die Rechtsbefolgung aus Gründen eben dieser normativen Bindung um ihrer selbst willen praktiziert wird. Die Rechtsbefolgung aus rein normativer Bindung ist entgegen einer behavioristischen Sichtweise als eine äußerst selektive, eigenständige und eigenverantwortliche Anschlußrationalität im Rechtshandeln zu betrachten, obwohl sie sich im Rahmen des von Seiten des Gesetzgebers aufgestellten Verhaltens- und Jurisdiktionsprogramms vollzieht.405 Außerdem ist sie von rechtspsychologischer Warte aus gesehen, eine affektive, emotional positiv besetzte Aktivität. Diese gelangt durch einen volitiven Entscheidungsakt oder doch zumindest in einem intentionalen Handeln zum Ausdruck. 406 Dieses kann auch, wie später noch zu zeigen sein wird, ein Element subjektiver Anerkennung durch den Rechtsadressaten enthalten. Es muß klargestellt werden, ob es bei der Beschäftigung mit dem Begriff Akzeptanz/Anerkennung entweder um eine Akzeptanz im bloß faktischen Sinne geht, also um ein gleichsam motivationslos ablaufendes, konformes Befolgen von Rechtsnormen geht, oder um eine Akzeptanz im normativen Sinne. Letztere beinhaltet den Gedanken, daß der Rechtsadressat eine ihm ausdrücklich vorgeschriebene, an ihn gerichtete Rechtsnorm befolgen soll und sich ihren Geltungsanspruch vom internen Standpunkt der Rechtsordnung aus - als ihn verpflichtende Obliegenheit (obligatio iuris) zu eigen macht, anerkennt und befolgt. 407 Bei der Beobachtung von Vorgängen tatsächlicher Akzeptanz wird auch das Problem der Akzeptanz/Anerkennung durch den Handelnden selbst und/oder durch Dritte aufgeworfen. Hierbei muß nicht vom normativen Standpunkt des Rechtsadressaten her, sondern von dem die Vorgänge der Rechtserzeugung und Rechtsbefolgung von außen beschreibenden, deutenden und erklärenden Beobachter ausgegangen werden. Es stellt sich die Frage, um wessen Anerkennung es geht. Zu klären ist die Frage, ob die Anerkennung/Akzeptanz der breiten Öffentlichkeit oder die einer Einzelinstanz zu fordern ist. Ferner geht es um die Frage, ob ein generelles mehrheitliches oder ein individuelles Einverständnis mit dem jeweiligen rechtlichen Inhalt von 405 Werner Krawietz, Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts in den modernen Rechtssystemen, S. 110. 406 Georg Henrik von Wright, Normen, Werte und Handeln, Frankfurt 1994, S. 147 ff., 168 f. und 171 f. 407 Werner Krawietz {Anm. 186), S. 111.
§ 10 Individuelle oder generelle Anerkennung des Rechts?
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Direktiven und Normen benötigt wird. Schließlich muß, wenn es auf die Anerkennung/Akzeptanz tatsächlich ankommen sollte, geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt diese gegeben sein soll - ob bereits vor Inkrafttreten der Norm, erst danach oder im gesamten Zeitraum der Geltung des Rechts.408 Zunächst soll ein Überblick über die „klassischen" Anerkennungstheoretiker gegeben werden, bevor das Problem der Legalität und Legitimität des Rechts unter besonderer Berücksichtigung der widerstreitenden Positionen des Positivismus und der eher naturrechtlich geprägten Rechtsauffassung erörtert wird, so wie es sich in neuerer Zeit darstellt.
§ 10 Frage nach den Geltungsgrundlagen des Rechts in der tradierten Allgemeinen Rechtslehre: Individuelle oder generelle Anerkennung des Rechts? 1. Universalismus der letzten Geltungsgründe des Rechts? Schon frühzeitig, im Jahre 1813 zeigte sich in der Jugendschrift Welckers die Grundlage der später so genannten individuellen Anerkennungstheorien. Carl Theodor Welcker (1790-1860) nahm dort die erst etwa ein Jahrhundert später voll zum Ausdruck gelangenden rechtsrelativistischen Gedankengänge vorweg, welche die letzten Gründe des Rechts alsrichtigund seine Geltung als verbindlich ausmachen. Welcker 409 war der Auffassung, es gebe keine objektive Allgemeingültigkeit der letzten Gründe des geltenden Rechts der durch Vernunft gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten. Jeder Mensch sei in der Individualität seiner sinnlichen Erscheinung befangen und kann das Absolute nur durch seine Individualität und durch die Grade seiner Geistes- und Gemütskräfte modifiziert und bedingt erfassen. Alle irdische Wahrheit ist nicht absolute, sondern nur relative Wahrheit; sie kann nie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Zumindest soll dies für jene Wahrheit gelten, die nicht wie logische, mathematische und Erfahrungswahrheit auf unabänderlichen Denkgesetzen oder sinnlicher Wahrnehmung, sondern , wie die praktische, auf der innersten Wurzel der Subjektivität, auf Gefühl und Gewissen beruht, welche durch keinen Scharfsinn der Philosophie je zu allgemeiner Begreiflichkeit gebracht werden kann. 410 An den kantischen Begriff der Autonomie anknüpfend, streift er das objektive Sittengesetz als deren entscheidende Voraussetzung ab und begreift sie als die durch individuelle Gefühle und Erkenntnisse geleitete Stimme des Einzelgewissens. Er versteht sie als allgemeingültige Gesetzgeberin nicht aller, sondern jedes einzelnen. Aus diesem Grund ist sie für andere nicht erkenn- und berechenbar.411 Welcker vermag zu einem Begriff der äußeren 408 Ebd., S. 112. 409 Carl Theodor Welcker, Letzte Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813; Hans Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1866. 410 Carl Theodor Welcker, ebd., S. 28 f.
411 Ebd., S. 30, 73.
126 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisationfreier und gleicher Bürger
Ordnung von Staat und Recht nur zu gelangen, indem er diese auf eine ausdrückliche (realiter) oder stillschweigende (idealiter) Anerkennung gründet. 412 Er nimmt hier der Sache nach die alte naturrechtliche Vertragstheorie wieder auf, betont jedoch, daß die Anerkennung nicht bloß in der Idee vorausgesetzt werden dürfe, sondern jederzeit „mit Gewißheit sich als Grundbedingung des Rechts nachweisen lassen müsse".413 Später rückte er allerdings davon ab und verlangte die wirkliche individuelle Anerkennung nur für das Völkerrecht. Für innerstaatliche Verhältnisse dagegen meinte er, man könne, sobald der ganze Rechts- und Verfassungszustand im allgemeinen anerkannt ist, die Anerkennung der Beteiligten in den besonderen Fällen gleichsam „supplieren".414 Die Anerkennungstheorie Welckers enthält somit die wesentlichen Elemente der späteren individuellen Anerkennungslehren bis zur Gegenwart. 415 Das treibende Motiv der individuellen Anerkennungstheorien ist das Problem der Legitimation. Sie stellen die Frage, wie das Recht dann, wenn objektiv-allgemeingültige Maßstäbe fehlen, als äußere, das menschliche Zusammenleben mit Zwangsgewalt regelnde Ordnung den Einzelnen verpflichten kann. Die Antwort, die diese Theorie zu geben versucht, nämlich die Annahme der Notwendigkeit des individuellen Einverständnisses (also die Billigung durch das Rechtsgefühl oder das Gewissen des Einzelnen) muß nicht nur den faktischen Bestand und damit die Effektivität des Rechts in Frage stellen. Auch wird das eigentliche Ziel der Begründung einer Verpflichtung nicht erreicht, da dies die Annahme einer objektiven Instanz voraussetzen würde. Wenn es heißt, es bestünde „kein Zweifel, daß jede Norm des Rechts ihre reale Geltung der Annahme und Handhabung in einer menschlichen Gemeinschaft verdankt", dann ist damit gewöhnlich die generelle Anerkennungstheorie gemeint. Die Ursprünge der generellen Anerkennungstheorie gehen zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Bremer 416 hatte seinerzeit die Auffassung vertreten, der Wille des Gesetzgebers schaffe noch kein Recht, vielmehr sei jedesmal die Aufnahme des Gesetzes von Seiten derjenigen erforderlich, welche dem Gesetz unterworfen sein sollen. Es müsse also die Überzeugung der Untertanen von der Verbindlichkeit der aufgestellten Normen hinzutreten.417 Diese müsse kein allgemeiner Beifall sein, da die Herrschaft eines Gesetzes nicht schon dadurch ausgeschlossen werde, daß sein Inhalt von vielen mißbilligt wird, wenn nur das Bewußtsein
412 Ebd., S. 81. 413 Ebd., S. 81. 414 Carl von Rotteck/Carl Welcker, Staatslexikon, 3. Aufl., Bd. 1, S. 528. 415 Eingehend hierzu: Hans Welzel, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 128 (1966), hrsg. von Leo Brandt. 416 Josef Bremer, Die authentische Interpretation von Gesetzen. Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts, Bd. 2 (1858), S. 284. 417 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 365.
§ 10 Individuelle oder generelle Anerkennung des Rechts?
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bleibt, ihm Gehorsam zu schulden. Gedankengänge ähnlicher Art finden sich auch bei Jellinek418 und Blilow 419 wieder, enthalten allerdings keinen Bezug auf ihren Vorläufer. Eine besonders feinsinnige Explikation erhalten sie bei Merkl, insbesondere in dessen allgemeiner Rechtslehre.420 Im Gegensatz zu Ihering, der in seinem „Zweck im Recht" noch das Zwangsmoment im Recht herausgestellt hatte, mißt Merkl diesem nur eine subsidiäre und untergeordnete Bedeutung im Vergleich mit denjenigen Eigenschaften zu, kraft deren das Recht für die Mehrzahl der Fälle auf eine freiwillige Befolgung seiner Gebote rechnen kann. Eine gewaltsam oktroyierte Ordnung werde erst von dem Augenblick an eine Rechtsordnung, wo das Übergewicht der moralischen Kräfte im Volke sich auf ihre Seite neigt. Das ist dann der Fall, wenn der Rechtsordnung die Eigenschaft einer maßgebenden Richtschnur des Handelns durch das konkludente Verhalten der Bevölkerung zuerkannt wird 4 2 1 Bei Merkl tritt der Begriff »Anerkennung" explizit noch nicht auf. Die Abgrenzung der individuellen von der generellen Anerkennung ist noch nicht vollzogen. Dies geschieht zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit von Ferneck. 422 Damit ein Komplex von Normen als Recht anzusehen ist, sei nicht erforderlich, daß die Normen von allen einzelnen Rechtsgenossen anerkannt werden; „als generelle Macht bedarf es lediglich der Anerkennung seitens der weitaus überwiegenden Zahl der Gebundenen". Georg Jellinek423 übernahm die Anerkennungstheorie in dieser Gestalt für die Bestimmung des Rechtsbegriffs. Nach Jellinek beruht die Positivität des Rechts letztlich immer auf der Überzeugung des Durchschnitts des Volkes von seiner Gültigkeit. Jellinek denkt bezüglich der nichtdurchschnittlichen Minderheit des Volkes an einen geringeren Kreis von Personen und an einzelne Fälle. Von Jellinek dürfte Max Weber 424 die Anerkennungstheorie übernommen haben. Er versteht die Anerkennung unter der Bezeichnung „Einverständnis" als die „Durchschnittschance", daß die von einer oktroyierten Satzung Betroffenen auch tatsächlich, unabhängig aus welchen Motiven, praktisch als gültig für ihr Verhalten behandeln. Auf dieser „Durchschnittschance" beruhe die „empirische" oder „soziologische" Geltung, die Weber von der juristischen oder Soll-Geltung unterscheidet.425
418 Georg Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, 1880, S. 16 f. 419 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 3 f. 420 Adolf Merkl, Gesammelte Werke aus dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, 1890, Bd. 2. 421 Ebd., S. 590 f. 422 Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit, 1903, Bd. 1, S. 188, 97. 423 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 334, Anm. 1. 424 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1951, S. 345 ff. 425 Ebd., S. 486,473; ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 1924, S. 477; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 1956, S. 181, 188, 398 ff.; ders., Rechtssoziologie, 1960, S. 53.
128 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
Die generelle Anerkennungstheorie hat sich in der Folgezeit zur herrschenden Lehre entwickelt. Dabei hat aber die bei Weber ansatzweise vorhandene Klärung der Begriffe keine weiteren Fortschritte gemacht.426 Aber auch die generelle Anerkennungstheorie kann den Rechtsbegriff nicht ausschöpfen. Sie kann nur über einen Teilaspekt, seine Positivität, Faktizität und Effektivität Auskunft geben. Sie kann es ermöglichen, das Recht auf der Ebene der Positivität vom Macht- oder Zwangsakt zu unterscheiden. Rechtsgeltung nach Max Weber ist das „Legitimitäts-Einverständnis", demzufolge „die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich verbindlich auch subjektiv annehmen". 427 Positive Geltung oder Rechtsgeltung habe das Recht nicht nur und nicht in erster Linie darum, weil es durchsetzbar ist, sondern darum, weil es von den Betroffenen - im großen und ganzen - als verpflichtend empfunden wird. 428 Durch das Moment der generellen Anerkennung scheint ein „Unsicherheitselement" in den Begriff der Rechtsgeltung hineingekommen zu sein. 429 Der Richter muß bei seinen Entscheidungen von einem klaren „Entweder- Oder" ausgehen können, also auf die Frage, ob ein Rechtssatz gilt oder nicht, eine eindeutige Antwort geben. Der Richter kann seine Entscheidungen nicht aufgrund eines mehr oder weniger hohen „Wahrheitsgehalts" der Geltung des Rechtssatzes fällen. Max Weber hat den Unterschied zwischen »juristischer" und „soziologischer" Betrachtung klar formuliert. Er sagte dazu: „Das Gelten eines Rechtssatzes im soziologischen Sinne ist ein empirisches Wahrscheinlichkeitsurteil über Fakta, das Gelten im juristischen Sinne ist ein logisches Soll, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge." 430 Trotzdem sind sie in gewisser Weise aufeinander bezogen, wie es die Reine Rechtslehre Kelsens vorsieht. Er war der Auffassung, daß die Rechtsordnung als Ganzes und eine einzelne Rechtsnorm „im großen und ganzen wirksam" sein, also „im großen und ganzen angewendet und befolgt werden" müsse.431 Dabei stellt sich die Frage, was konkret der Terminus ,3efolgtwerden" und was „im großen und ganzen" bedeuten soll. Er soll wohl nicht im Sinne der individualistischen Anerkennungstheorie verstanden werden, nämlich als Kennen und Anerkennen der einzelnen Normen. Merkel 432 beschreibt den Kern dieses Begriffs, 426 Im Sinne der generellen Anerkennungstheorie haben sich neben den hier bereits genannten Autoren weiterhin geäußert: Hans Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung; Ernst Beling, Revolution und Recht, 1923, S. 18; Paul Bockelmann, Einführung in das Recht, 1963, S. 104; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 237; Alexander Graf zu Dohna, Kernprobleme der Rechtsphilosophie, 1940, S. 49 ff.; Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 191 ff., 222 ff., 258 f.; Alexander Hold von Ferneck, Die Rechtswidrigkeit I (1903), S. 97; Karl Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 144,148 f.; Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 19; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 191, S. 13; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 168. 427 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 470. 428
Vgl. besonders Hermann Heller, Allgemeine Staatslehre, S. 191 ff. 9 Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 161. 4 30 Max Weber, Soziologie und Sozialpolitik, S. 477 f. 42
« ι Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 212 ff.
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wenn er von dem „Bündnis der Rechtsvorschriften mit den im Volke lebenden moralischen Kräften" spricht. Es soll hierbei nicht um das Anerkennen von Rechtssätzen, sondern die Anerkennung von Rechtsgrundsätzen gehen. Hermann Heller 433 meinte dazu: „Jede herrschende Gruppe bedarf auf die Dauer des Glaubens, ihre Rechtsgrundsätze und, durch diese, ihre Rechtssätze besäßen eine allgemeine, auch die Beherrschenden bindende Verpflichtungskraft." Der Hinweis auf die „Unangefochtenheit der Rechtsherrschaft" 434 betont die nachhaltige Bedeutung der Institutionalisierung einer obersten Rechtsmacht, deren Anordnungen, sobald sie erst einmal selbst als Rechtsmacht allgemeine Anerkennung gefunden hat, die „Vermutung" ihrer Verpflichtungskraft für sich haben. Diese „Vermutung" bedarf auf Dauer der Bestätigung auch im Inhaltlichen der Rechtssätze. Beide Aussagen stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Die wichtigsten „Umschaltstationen" der „soziologischen" (oder sollte man besser sagen: sozialen?) in die „juristische" Geltung im Sinne der Rechtsgeltung sind die Gerichte. 435 Es ist nicht gänzlich abwegig davon zu sprechen, daß der „Vollzug" der generellen Anerkennung durch die Gerichte vorgenommen wird, 436 wobei die Gerichte vielfach auch nur „Vollzugsorgane" des Zeitgeistes sind. 437 Unabhängig von der Art der Formulierung der sozialen Basis des Vollzugs der generellen Anerkennung ob als „allgemeines Rechtsbewußtsein", als „gemeinsame Rechtsüberzeugung" oder als „Vorstellungen der führenden Sozialschicht"438 - es handelt sich immer um gemeinsame geistige Gehalte des Bewußtseins vieler einzelner: einer Gruppe, einer Mehrheit oder Gesamtheit eines Volkes. Die generelle Anerkennung ist in der positivistischen Lehre eine der Entstehungsvoraussetzungen des positiven Rechts. Jeder Gesetzesbefehl, der generelle Anerkennung findet, wird zum positiven Recht. Jede Norm der Staatsmacht, die Anerkennung findet, ist positives Recht.
432 Adolf Merkl, Gesammelte Abhandlungen II, S. 590. 433
Hermann Heller, Allgemeine Staatslehre, S. 191. Alexander Graf zu Dohna, Kernprobleme der Rechtsphilosophie, 1940, S. 50. 43 5 Vgl. dazu etwa BGH NJW 1959, S. 2262; Adolf Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, in: NJW 1963, S. 1273 ff.; dazu grundlegend: Josef Esser, Grundsatz und Norm, 2. Aufl., 1964; Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957. 434
436
Paul Bockelmann, Einführung in das Recht, S. 105; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 148. 43 ? Vgl. etwa: BGHSt 4, S. 24, 20, 81; NJW 1960, S. 1409. 438 Ernst von Beling, Revolution und Recht, 1923, S. 18; Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., 1948, S. 19. 9 Simon
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2. Geltungsgrund und Verpflichtungskraft nicht anerkannter Normen Es stellt sich nun die Frage, warum das Recht, das in einem Staate positive Geltung erlangt hat, auch von denen befolgt werden soll, die ihm nicht zustimmen, und was seine Verpflichtungskraft auch gegenüber Nonkonformisten begründet. Für eine eindeutig realistische Rechtstheorie, wie sie etwa die Schule von Uppsal a 4 3 9 vertritt, sind diese Fragen lediglich „Chimären". Der Gedanke einer inneren Verpflichtung erscheint ihr illusionär, genauso wie für sie der Begriff der Gerechtigkeit oder sonstiger maßstäblicher Wertideen leere Hypostasierungen rein persönlicher Gefühlsäußerungen sind. In solchen Thesen des „theoretischen Wertnihilismus"440 - eines „umgekehrten" empiristischen Dogmatismus - muß eine abweichende Meinung der Minderheit „vernachlässigt" werden, um den schon von Jellinek gebrauchten Ausdruck zu zitieren. Die Minderheit hat sich in ihr Schicksal, das ihr der herrschende „Kodex der sozialen Interdependent bereitet, eben zu fügen. Erkennt man einen solchen Realismus nicht an, so entsteht mit der Frage nach der Legitimität ein neues Problem. Dieses wird im Bereich des Rechts als der „Dualismus von Sollen und Sein" bezeichnet. Er ist dann in der Tat unausweichlich, da es um die Differenz geht, die zwischen dem „seienden Sollen" eines geschichtlichen „objektiven Geistes" und der Legitimation eines jeglichen geschichtlichen Geistes durch ein schlechthin Gültiges, wahrhaft verpflichtendes besteht. Während zwei so unterschiedliche Denker wie Max Weber und Hans Kelsen von dem „allerelementarsten Gegensatz" zwischen Sein und Sollen441 ausgehen, sehen andere, wie etwa Ernst Beling und Hermann Heller die Vereinigung beider in einem „seienden Sollen" für möglich an. 442 Daß es ein seiendes Sollen gibt, hat schon Kelsen selbst dargelegt: „Gebieten und Verbieten sind Tätigkeiten, die ein Über- und Unterordnungsverhältnis voraussetzen. Befehlen ist eine Herrschaftsfunktion, also der Ausdruck eines faktischen Machtverhältnisses. Im Imperativ kommt gerade diese Relation der Über- und Unterordnung zum Ausdruck: „Tue dies, unterlasse jenes", spricht die Macht, die sich durchsetzt."443 In der Tat ist alles menschliche Sozialleben in Über- und Unterordnungsverhältnissen geregelt. Kelsen444 meint, die Relation der Über- und Unterordnung müsse im Recht unbeachtet bleiben. Er knüpft jedoch das rechtliche Sollen in seiner obersten Spitze, der in der Rechtshierarchie höchsten, hypothetischen ,Grundnorm \ an die Effektivität eines Machtverhältnisses an. 439
Im Anschluß an Axel Hagerström insbesondere Lundstedt, Alf Ross. Theodor Geiger, Vorstudien zur Soziologie des Rechts, 1947, S. 239 ff. 441 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 127, Anm. 1; Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 7; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 5. 442 Ernst von Beling, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 1923, S. 17; Hermann Heller, Allgemeine Staatslehre, S. 385. 443 Hans Kelsen, Hauptprobleme, S. 228. 4 Ebd., S. 2 .
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Die vorangegangene Überlegung zum Begriff der Rechtsgeltung sollte der Klarstellung eines bestimmten Über- und Unterordnungsverhältnisses dienen, nämlich der Rechtsherrschaft, also der Effektivität oder Autorität des positiven Rechts,445 der Deutung des seienden Sollens.446 Es ist mehr als fraglich, ob die an dieses seiende Sollen gestellte Legitimationsfrage wieder durch ein Seinsurteil beantwortet werden kann. Wenn die Opfer eines „Unrechts" sowie die breite Mehrzahl der Rechtsgenossen die gesetzlichen Normen, nach denen sie verurteilt wurden, als ein solches „Unrecht" betrachten und dies nicht im wertnihilistischen Sinne bloß als einen subjektiven Gefühlsausdruck registrieren, so müßte die Gültigkeit des Werturteils aus einer anderen Dimension kommen als derjenigen, mit der wir es bisher zu tun hatten. Darin läßt sich der Grund für die radikale Unterscheidung von Sollen und Sein erblicken. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand aus der Verbindung eines verflachten Hegelianismus in Verbindung mit einem Evolutionismus die Meinung, das Gesollte sei nichts anderes als die Entwicklungstendenz des Seienden, so daß aus der Betrachtung des Werdenden ein wissenschaftlich gesicherter Zugang zum Seinsollenden abgeleitet wurde. 447 Max Weber hat sich gegen diese Meinung, die in der Schule der Nationalökonomie herrschend geworden war, gewendet. Maßgebend wurde nun die These von der Unbeweisbarkeit aller Werturteile, die Karl Theodor Welcker zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert hatte. Auch Gustav Radbruch448 formulierte sie in dem vielzitierten Satz folgendermaßen: „Sollenssätze sind nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig." Rickert 449 und Weber 450 haben diese Kennzeichnung nicht ganz ohne Grund als Mißverständnis abgelehnt. Radbruch dagegen hat sich ausdrücklich zum „Relativismus" bekannt, ohne sich dabei in der Sache, nämlich in der Überzeugung von der Unbeweisbarkeit der Sollenssätze und Werturteile von Rickert und Weber zu unterscheiden. 451 Sehr treffend heißt es bei Max Weber: „Es handelt sich bei den Werten überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um einen unüberbrückbar tödlichen Kampf.... Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baume der Erkenntnis ist keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidun445 Vgl. dazu: Arnold Ehrhardt, Geltendes Recht. Festschrift für Julius von Gierke, 1950, S. 326 f. 446 So auch: Adolf Merkl, Holtzendorffs Enzyklopädie, I, S. 90.
447 Vgl. Anm. 54, S. 90 f. 448 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 9. 449
Heinrich Rickert, System der Philosophie, Bd. 1, S. 150: „Die Geltung ethischer, ästhetischer, religiöser und anderer theoretischer Kulturwerte ist jedem wissenschaftlichen Beweise entzogen." S. 151 f. 450 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 494. 451 Zur Geschichte des Wertrelativismus vgl.: Brecht, Politische Theorie, 1961. 9•
132 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger gen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Piaton, ihr eigenes Schicksal - den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das - wählt." 452 Weiterweisend verläuft derselbe Gedankengang bei Gustav Radbruch, der sich zunächst in der gleichen Bahn zu halten scheint: „Die Wahl zwischen den aus den entgegengesetzten letzten Voraussetzungen systematisch entwickelten Rechtsauffassungen vermag die relativistische Rechtsphilosophie dem einzelnen nicht abzunehmen. Sie beschränkt sich darauf, ihm die Möglichkeiten der Stellungnahme selbst seinem aus der Tiefe der Persönlichkeit geschöpften Entschlüsse - keineswegs also seinem Belieben, vielmehr seinem Gewissen - zu überlassen."453 Er erkennt jedoch bald, daß er es dabei nicht belassen kann, denn „die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen bleiben", da diese den „verschiedenen Menschen möglicherweise entgegengesetzte Weisungen erteilen". Darum müsse die soziale Ordnung durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden. „Da aber nach relativistischer Ansicht Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe zu erfüllen außerstande sind, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen. Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll." „Soll das gesetzte Recht der Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtanspruch zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem Willen zustehen, dem auch eine Durchsetzung gegenüber jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich ist. Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist." 454 A m Recht und in der Rechtstheorie wird offenbar, daß Rickerts „Pathos der Pathoslosigkeit", das von theoretischen Menschen den Verzicht auf jedes Werturteil fordert, Gesellschaft und Staat dem factum brutum der Macht ausliefert: „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll." Max Weber hatte in seinem für die relativistische Rechtstheorie schlechthin grundlegenden Aufsatz über „Die »Objektivität* sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" (1904) dargelegt, daß Werturteile jeder wissenschaftlichen Diskussion entzogen seien, wir aber die Folgen unserer Wertentscheidung, also die Frage: „Was kostet sie?", durchaus wissenschaftlich gültig festzustellen vermögen:
452 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 493. Von Weber geht der rechtsphilosophische Relativismus des 20. Jahrhunderts aus, geht über in Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie, 1. Aufl., 1914, und findet sich bei Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 442, wieder, wo es heißt, daß „die Entscheidung der Frage, was gerecht ist und was ungerecht ist, von der Wahl der Gerechtigkeitsnorm abhängt, die ... sehr verschieden beantwortet werden kann" und „daß diese Wahl nur wir selbst, nicht Gott, nicht die Natur und auch nicht die Vernunft als objektive Autorität für uns treffen kann". 453 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 10 f.; Weber, Wissenschaftslehre, S. 150. 454
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 81.
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„Die Wissenschaft kann ihm (dem Menschen) zum Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln und natürlich auch ... das Nichthandeln in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit... regelmäßig gegen andere." 455
Am Beispiel der Rechtsphilosophie Radbruchs wird deutlich, daß das, was Max Weber von dem wollenden und dem verantwortlich handelnden Menschen aussagt, auch für den theoretischen Menschen zutrifft: Auch seine Wertaskese „kostet" etwas; auch sein „Nichthandeln", seine Enthaltsamkeit von Wertentscheidungen, ist eine Parteinahme - um die Worte Radbruchs zu gebrauchen - für die jeweils sich durchsetzende, gegenüber „Vernunft und Wissenschaft" gleichgültige, reale Macht, oder - mit den Worten Max Webers - für das Leben als „Naturereignis". 456 Auch Kelsen, der im Anschluß an Georg Simmel, von der „vollkommenen Disparität von Sein und Sollen" ausgeht, kommt auf eine ähnliche, nur noch radikalere Konsequenz hinaus: Der Unterschied zwischen Sein und Sollen könne nicht länger erklärt werden, er sei unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben.457 Das „Sollen" sei „a simple notion just as yellow" 458 und als einfacher Begriff weder definierbar noch analysierbar. 459 Aber, so fragt man, wenn das Sollen ein letzter, undefinierbarer Bewußtseinsinhalt ist wie die Farbe „gelb", so muß es doch aufzeigbar sein, damit jeder andere mit dem Worte Sollen den gleichen Inhalt verknüpfen kann wie der Redende. Der einzige Bewußtseinsakt, in dem uns das Sollen in dem hier gemeinten Sinne als normativ-verpflichtendes, verbindliches Sollen zur Gegebenheit kommt, ist das Gewissen. Kelsen sagt in seiner Grundunterscheidung von Sollen und Sein, das objektive Sollen einer Norm sei die den Adressaten „bindende", ihn „verpflichtende" Norm; nur sie könne die Effektivität eines Befehls „legitimieren". 460 Deshalb wendet er gegen die generelle Anerkennungstheorie, die dahingehend verstanden wird, daß sie auch die Verpflichtung der Minderheit durch Anerkennung des Rechts der Mehrheit rechtfertige, durchschlagend ein: „Es müßte seltsam anmuten, wenn man die subjektive, individuelle Rechtspflicht eines Einzelnen auf Anerkennung gründen wolle, die nicht von ihm selbst, sondern von der Majorität seiner (Rechts-)Genossen, also von anderen ausgegangen ist." 461
Nach Kelsen kann ein Sollen stets nur von einem anderen Sollen abgeleitet werden; auch das Sollen einer positiven, wirksam gewordenen Rechtsordnung kann nur von einem vorausgesetzten höheren Sollen, einer die Rechtsordnung legitimierenden hypothetischen Grundnorm, abgeleitet werden. An die Stelle eines bloßen 455 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 149 f. 4 56 Zur Kritik an Webers „edlem Nihilismus" vgl.: Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, 1950, S. 50. 457 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 7; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 5. 458 George Edward Moore, Principia Ethica, 1922, S. 7. 459 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5, Anm. 1. 460 Vgl. z. B. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 7,110, 212. 461 Hans Kelsen, Hauptprobleme, S. 367.
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Grundbegriffes setzt Kelsen eine gedankliche „Hypothese",462 genauer und präziser: die Fiktion einer letzten, grundlegenden, basalen Norm, einer „Grundnorm", die auf einen fiktiven Willensakt zurückgeht.463 Das Sollen wird zum fiktiven Deutungsschema, nach dem sich jedes positive Recht, d. h. jede im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung als objektiv gültige, normativ-verpflichtende Ordnung deuten läßt, 464 sich also dahin deuten läßt, als ob es eine objektiv-gültige, normativ-verpflichtende Ordnung wäre. Mit dem fiktiven Charakter der Grundnorm nimmt die ganze, aus ihr abgeleitete Verpflichtungs- und Berechtigungsreihe einen fiktiven Charakter an: Sie wird zum „fachideologischen Überbau des Tatsächlichen".465 Die Legitimität verschwindet in der Effektivität: Recht ist „eine bestimmte Organisation der Macht". 466 An diesen Gedankenreihen muß auffallen, daß Weber, Rickert, Radbruch und Kelsen zwar von dem „allerelementarsten Gegensatz zwischen Sein und Sollen" und von der völligen gegenseitigen Unabhängigkeit beider ausgehen, aber im Verlaufe ihrer Gedankenkette eines der beiden „elementaren" Beziehungsglieder, nämlich das Sollen ausfallen lassen, weil sie es zuletzt auf das „Sein" in Form der faktisch-überlegenen Befehlsmacht reduzieren. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, weil die Ausgangsthese, daß Sollenssätze des Beweises nicht fähig seien, sich nicht auf den Bestand des Sollens, sondern nur auf seinen Inhalt bezieht. Den Bestand des Sollens setzen sie gleichsam „axiomatisch"467 als letzte „Gegebenheit" voraus und verneinen die Möglichkeit rationaler Aussagen über den Inhalt. Wenn aber das Sollen als das den Menschen vor eine letzte Instanz stellende, unbedingte Verpflichtetsein unaufhebbar ist, so enthält es eine Aussage über den, der in Anspruch genommen wird, nämlich über den Menschen als das für den Sinn seines Lebens und Tuns verantwortliche Wesen.468 Die Anerkennung des Menschen als verantwortliche Person ist Mindestvoraussetzung einer Rechtsordnung, die im Sinne einer herrschaftlichen Sozialordnung fungiert, d. h. nicht nur die Macht in ihre Schranken weisen, sondern auch als Sollensordnung verpflichten will. Damit gerät das, was wir im ersten Teil der Überlegungen als positives Recht erkannt haben, unter einen neuen Aspekt. Die Erzeugung positiven Rechts ergibt sich, wie wir nun sehen, aus einem Doppelakt: (i) aus dem der Gesetzgebung (Normset462 Max Weber schreibt in seiner Stammler-Kritik über das Gelten eines Rechtssatzes ,4m juristisch-idealen Sinne", es sei „ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der juristische Wahrheit will, verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zueinander: ein Gelten-Sollen bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt". Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 347. 463 Franz Martin Schmoelz, Das Naturrecht in der politischen Theorie (Internationales Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaft in Salzburg) 1963, S. 119. 464 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 224. 465
Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947, S. 206. ** Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 221. 467 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 9. «>8 Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962, S. 236 ff.
§ 11 Rechtspositivismus oder Renaissance des Natur- und Vernunftnaturrechts?
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zung) und (ii) aus dem der Normanerkennung oder der Normakzeptanz. Dieser Doppelakt muß in beiden Phasen als ein Versuch verstanden werden, eine verpflichtende Ordnung für das Zusammenleben zu schaffen. Daß es hierfür kein allgemeingültiges Rezept gibt, ist der berechtigte Kern der These, daß Sollenssätze nicht der Erkenntnis fähig sind: weder die Natur noch die geschichtliche Entwicklung, weder Naturgesetze noch Geschichtsgesetze können uns bindenden Aufschluß darüber geben, was in einer geschichtlichen Lage dierichtigeSozialordnung ist. Recht ist ein Komplex von Sinnentwürfen für die Ordnung des Soziallebens, die auf der Grundlage überkommener institutioneller Formungen unter den konkreten Bedingungen ihrer Gegenwart teils weitergeführt, teils neu formuliert und festgelegt werden. Sie stehen unter dem Anruf des Sollens, einerichtige,gerechte Ordnung in unserer Zeit zu finden. Weil es dafür keine allgemeingültigen Rezepte gibt, erweist sich die Doppelung des Rechtserzeugungsvorgangs von Bedeutung: Die Aufnahme, die die Normsetzung des Machthabers im Rechtsbewußtsein des Volkes finden muß, um Recht zu werden, soll in ihrer Wirkung zugleich ein Korrektiv für geschichtlich verfehlte Entscheidungen des Machthabers darstellen. Umgekehrt wird nun auch verständlich, daß man als „eigentliche" Rechtsquelle immer wieder das „Rechtsbewußtsein des Volkes", seine „moralischen Kräfte" oder seine „ethischen Rechtsgrundsätze", den „Volksgeist" oder den „objektiven Geist" namhaft gemacht hat. Sie alle weisen auf einen Rechtserzeugungsfaktor hin, der geschichtlich ebensowenig konstant ist und dem Verfall genauso leicht erliegt wie der Wille des Gesetzgebers. Daher ist auch das „Rechtsbewußtsein des Volkes" nicht unbedingt das Maßgebende und Richtige. Es ist nicht „die Wirklichkeit des Geistes",469 sondern nur ein Versuch, das Richtige in der jeweiligen Zeit zu formulieren. Dieser Versuch kann ebenso mißlingen wie die Akte des Gesetzgebers.
§ 11 Frage nach der Rechtsgeltung in der Perspektive zeitgenössischer Rechtstheorie: Rechtspositivismus oder Renaissance des Natur- und Vernunftnaturrechts? 1. Recht als Ausdruck moralisch-ethischer Anerkennung Jürgen Habermas hat sich in der Vergangenheit sehr eingehend mit den Beziehungen zwischen Recht, Moral und Vernunft, insbesondere mit den vielfältigen Verflechtungen von Rechtsbewußtsein, Moralbewußtsein und kritischer Reflexion im kommunikativen Handeln befaßt, zu denen eben auch die Entstehung und Existenz des Rechts gehört. Nach seiner Auffassung kommen in der kommunikativen Alltagspraxis nicht nur rechtliche, sondern auch moralische und ethische Erwartungen, Einschätzungen und Einstellungen zum Ausdruck. Habermas wirft die Frage auf, ob und - bejahendenfalls - wie sich Recht und Moral in ihrem wechselsei469
Julius Binder, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, S. 160.
136 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
tigen Verhältnis zueinander bestimmen lassen. In jüngerer Zeit wird dieses Verhältnis von ihm als „Ergänzungsverhältnis" bezeichnet.470 Es wird jedoch eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral vorgenommen. In Anbetracht der vielschichtigen Anerkennungs- und Akzeptanzproblematik unternimmt Habermas den Versuch, das gesellschaftsweit operierende Funktionssystem des Rechts seinerseits auf Moral zu stützen oder doch zumindest in einer universalen Vernunftmoral zu fundieren. Eine Begründung soll dahingehend erfolgen, daß Habermas* Moraltheorie gewisse universale Prinzipien oder Maximen aufzurichten und auf Dauer zu stellen sucht. Prinzipien dieser Art verfolgen den Zweck, die Öffentlichkeit sozialkritisch aufzuklären und diskurstheoretisch anzuleiten, um ihr in der moralischen und rechtlichen Kommunikation die Möglichkeit der Identifikation mit einem Wertekanon zu geben. Eine derartige Identifikation soll jedoch nur dann stattfinden, wenn diese Prinzipien annehmbar sind, was dann der Fall ist, wenn sie anerkennungswürdig erscheinen. Nach Habermas soll dies geschehen, indem in einer Demokratie jeder Staatsbürger mit Blick auf das geltende Recht und aufgrund seiner autonom gewonnenen Überzeugung von der Richtigkeit der Prinzipien den Regeln und Prozeduren zustimmt. Er soll sie als mit Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch ausgestattete Verhaltensmaßstäbe übernehmen. „Moralische Urteile müssen aus der Perspektive eines jeden möglicherweise Betroffenen Zustimmung finden können - und nicht nur aus der Perspektive je meines oder unseres Selbst- und Weltverständnisses". Ein von Habermas postuliertes „Einverständnis" müßte nicht realiter, sondern lediglich idealiter vorliegen. Der Betroffene müßte, gesetzt dem Fall, er stünde vor der Wahl, zustimmen können.471 Bei Habermas wird unterschieden zwischen (i) Verfahren der moralischen oder ethischen Urteilsbildung und (ii) den mit Mitteln des geltenden Rechts institutionalisierten Verfahren einer politisch-rechtlichen, wie auch immer durch juristische Diskurse vermittelten Willensbildung 4 7 2 Er ist nur dann gewillt, von „moralischen Normen zu sprechen, wenn diese „im strikten Sinne universalisierbar sind, also nicht über soziale Räume und historische Zeiten variieren". Ethisch-existenzielle Probleme dagegen haben nicht die kognitivistisch zu behandelnde Frage zu beantworten, was „gut für alle ist". Mit anderen Worten soll die Frage gestellt werden, „was gut für mich oder für uns ist", aber allein deswegen noch lange nicht gut für alle zu sein braucht. 473 In „Faktizität und Geltung" unterscheidet Habermas sorgfältig zwischen (i) „moralischen Fragestellungen" und (ii) „ethisch-politischen Fragestellungen".474 Dadurch wird im Hinblick auf die Problematik der Anerkennung 470
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 137. 1 Ebd., S. 23 und 93 et passim. 472 Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften, Bd. VII, Frankfurt a. M., S. 118 und 120. 473 Ebd., S. 118 und 120. 474 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 139; vgl. zur Frage einer diskursiven Demokratie Ota Weinberger, An Institutional Theory of Democracy, in: Associations, Volume 4, Number 1, Berlin 2000, S. 19-33, S. 24-30. 47
§ 11 Rechtspositivismus oder Renaissance des Natur- und Vernunftnaturrechts?
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bzw. Akzeptanz von Normen und Regeln des Rechts eine weiterführende Einsicht ermöglicht, nämlich die in das institutionelle Faktum, daß es sich hierbei um jeweils völlig verschiedene Bezugssysteme handelt. Habermas bemerkt bezüglich einer von ihm konzipierten Universalmoral: „Bei moralischen Fragestellungen bildet die Menschheit bzw. eine unterstellte Republik von Weltbürgern das Bezugssystem für die Begründung von Regelungen, die im gleichmäßigen Interesse aller liegen."
Die ausschlaggebenden Gründe müssen im Prinzip von jedermann akzeptiert werden können.475 Im Bereich von Ethik und Politik klingt es bei Habermas ganz anders: „Bei ethisch-politischen Fragestellungen bildet die Lebensform je unseres politischen Gemeinwesens das Bezugsystem für die Begründung von Regelungen, die als Ausdruck eines bewußten und kollektiven Selbstverständnisses gelten. Die ausschlaggebenden Gründe müssen im Prinzip von allen Angehörigen, die unsere Traditionen und starken Wertungen teilen, akzeptiert werden können. Interessengegensätze bedürfen eines rationalen Ausgleichs zwischen konkurrierenden Werteinstellungen und Interessenlagen. Dabei bildet die Gesamtheit der unmittelbar beteiligten sozialen und subkulturellen Gruppen das Bezugssystem für die Aushandlung von Kompromissen."476 Habermas räumt selber ein, in seinen bisherigen Veröffentlichungen zur Diskursethik „zwischen Diskurs- und Moralprinzip nicht hinreichend differenziert zu haben".477 Daraus ergibt sich die berechtigte Frage, inwieweit Habermas nach dem Werk ,»Faktizität und Geltung" noch an seiner bisherigen Diskursethik festhält, bzw. welche Differenzierungen nachträglich anzubringen sind. Im folgenden geht es mir darum, die normative Kommunikation im Bereich des Rechts zu behandeln. Dies geschieht mit Blick auf die Zusammenhänge, in denen das Verhältnis von Recht und Moral im modernen Verfassungsstaat steht. Hieraus sollen Konsequenzen für die Anerkennung bzw. die Anerkennungswürdigkeit des Rechts gezogen werden. Nach Habermas kommt man zu dieser Fragestellung nur, wenn man annimmt, „daß der moderne Verfassungsstaat einer moralischen Rechtfertigung sowohl bedarf wie auch fähig ist". 478 Habermas geht von der Legitimation und der Legitimationsfähigkeit des Rechtsstaates emphatisch aus, ohne diese vorab kritisch zu prüfen. Er geht von einem ungewöhnlich hohen Legitimationsanspruch des Rechtsstaats aus, da er seinen Bürgern zumutet, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen.479 Da der moderne Verfassungs- und Rechtsstaat sich selbst gerade nicht als eine moralische Einrichtung und Instanz versteht, sondern als eine politisch-rechtliche, vermag er, sich in
475 476 477 478 479
Ebd., S. 139. Ebd., S. 139 und 140. Ebd., S. 140. Jürgen Habermas, Kleine politische Schriften, Bd. V, S. 85. Ebd., S. 85.
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seinen normativen Geltungsansprüchen neutral gegenüber den Motiven zu verhalten, aus denen ihm der von den Bürgern und Rechtsgenossen geschuldete Rechtsgehorsam entgegengebracht wird. Recht wird verstanden als äußere Norm und Regel menschlichen Verhaltens.480 Die evolutionäre, normativ-institutionelle Errungenschaft der von Verfassungs wegen geltenden Rechtsordnung liegt darin, daß das moderne Recht sich nur mit der äußeren Regulierung des menschlichen Verhaltens befaßt. Darauf basieren die ebenfalls institutionalisierten politisch-rechtlichen Möglichkeiten rechtsstaatlicher Kontrolle, wie etwa Wahlen, Abstimmungen und Gesetzgebung. Der den Bürgern seitens des Staats abverlangte Rechtsgehorsam beschränkt sich darauf, den Adressaten des jeweils geltenden Rechts nur das abzuverlangen, was sie zu leisten imstande sind und wozu sie von der Verfassung und Rechts wegen ohnehin verpflichtet sind. Dies ist die schlichte Befolgung des geltenden, für sie verbindlichen Rechts. Sie kommt zum Ausdruck in der kommunikativen Annahme (oder auch Ablehnung) der mit förmlicher Rechtsgeltung ausgestatteten normativen Verhaltenserwartungen, die - seien es generelle, seien es individuelle - in der Rechtskommunikation als normative Prämissen des weiteren Erlebens und Handelns fungieren. Nach Habermas soll es aber mit den durch Erfahrung und Beobachtung hinreichend bestätigten institutionellen Gegebenheiten und politischrechtlichen Entscheidungsmechanismen im modernen Verfassungsstaat nicht sein Bewenden haben. Unter Rückgriff auf die von ihm so genannte ,»Neue Unübersichtlichkeit" über die bestehenden Verhältnisse erscheint Habermas ein Rekurs auf universale Prinzipien und Prozeduren einer Vernunftmoral geboten. Damit wird diesen universalen Prinzipien eine Superiorität gegenüber allem geltenden Recht eingeräumt, die ihnen als Ausdruck einer wie auch immer beschaffenen Moral in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft wohl nicht zukommen kann. 481 Eine rechtliche Argumentation, Begründung und Entscheidung darf nicht ersetzt werden durch die bloße Bezugnahme auf sonstige, von der Verfassung und dem Gesetz nicht gedeckte, bloß moralische und/oder vernünftige Gründe, auch wenn diese als solche noch so einleuchtend erscheinen mögen. Sie sollen, so Habermas, die verlorengegangene Orientierungsgewißheit wiederherstellen: „Maßgebend sind allein die für alle einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden."
Diese Form praktischer moralischer Argumentation unterläuft die mit Mitteln des geltenden Rechts etablierten, institutionell auf Dauer gestellten Verfahrensweisen der politisch-rechtlichen Willensbildung und Entscheidung, um sie durch Prozeduren der moralischen oder ethischen Urteilsbildung zu ergänzen oder gar zu erset-
480 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 14 f., 34 f. 481 Werner Krawietz, Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts in den modernen Rechtssystemen, S. 119. 482 Jürgen Habermas, Kleine politische Schriften, Bd. V, S. 85.
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„Der Hinweis auf das legale Zustandekommen positiv geltender Normen hilft hier nicht weiter. Die Verfassung muß aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht."
Habermas gelangt folglich zu dem Schluß, daß der moderne Verfassungsstaat von seinen Bürgern Gesetzesgehorsam nur erwarten kann, wenn und soweit er sich auf anerkennungswürdige Prinzipien stützt, in deren Licht dann, was legal ist, als legitim gerechtfertigt und gegebenenfalls als illegitim verworfen werden kann. Bei der Frage nach den Geltungsgrundlagen der generellen Rechtsnormen und insbesondere der Rechtsordnung als ganzer stellt sich das Problem, ob mit Bezug auf die modernen Rechtssysteme, in denen die fortlaufende Selbstproduktion und Selbstreproduktion der Rechtsordnung institutionell auf Dauer gestellt ist, allein von diesem Recht und seiner Gerechtigkeit als dem einzigen immanenten Maßstab auszugehen ist, der als solcher keiner Akzeptanz und Anerkennung bedarf, weil er auch dann gilt, wenn diese nicht erteilt wird, oder ob von einem transzendentalen Maßstab ausgegangen werden muß. Die Existenz universaler Prinzipien und Leitideen vermag rechtlich gesehen kaum einzuleuchten. Der moderne Verfassungsstaat zählt von Verfassung und Rechts wegen zu den Kriterien der Rechtsgeltung weder das normative Erfordernis einer derartigen Anerkennung noch eine mit wissenschaftlichen Mitteln gar nicht erkennbare und beweisbare Anerkennungswürdigkeit. Im modernen Rechtssystem gibt es keine dem Recht überlegene, ihm vorgegebene oder auch nur als Zusatzerfordernis aufgegebene und deshalb von Rechts wegen zu beachtende Universalmoral oder Vernunftmoral, die als mit Rechtsgeltung ausgestattet und deshalb als rechtlich verbindlich angesehen werden könnte und dürfte.
2. Recht als Ausdruck vernünftiger Anerkennung Eine auf das Recht bezogene, zumindest teilweise neuartige Version der Anerkennungstheorie wird von Dreier vertreten. Er ist, einmal abgesehen von den sonstigen konventionellen Elementen des Rechtsbegriffs, der Auffassung, es sei vernünftigerweise geboten, dem Selbstverständnis aller Rechtspraxis einen moralisch oder rechtsethisch angereicherten Begriff des Rechts zugrunde zu legen.483 Dreier stimmt diesbezüglich mit seinem Schüler Alexy überein, nach dessen Verständnis der Begriff der rechtlichen Geltung immer auch zugleich Elemente der moralischen Geltung umfaßt. 484
483
Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus? In Erwiderung auf Werner Krawietz, in: Rechtstheorie 18 (1987) S. 368-385, 369. 484 Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg i. Br./München 1992, S. 2, 39 ff., 142 f.
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Die Positionen Dreiers und Alexys sind in sich nicht ganz unproblematisch, da das von Verfassungs und Rechts wegen bereits geltende, historisch-gesellschaftliche Recht gewöhnlich kein Vernunftprodukt ist, das ad libitum einer moralischethischen und/oder vernünftigen Disposition durch die Philosophie unterworfen werden dürfte. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern der Grundsatz „Auctoritas, non Veritas facit legem" als Voraussetzung für die Beschäftigung mit dem Problem angesehen werden kann und muß, ob einem Positivismus des Rechts oder einer Renaissance des Naturrechts/Vernunftrechts das Wort geredet werden darf und soll. 485 Dreier verfolgt die Absicht, „alles wirkliche und mögliche Recht daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit in ihm ein Gerechtigkeits- oder Vernunftbezug zum Ausdruck kommt". 486 Die Schwierigkeit der Argumentation Dreiers liegt darin, daß er zwar dezidiert einräumt, daß „das Natur- und Vernuftrechtsdenken kein Recht im Sinne des positiven Rechts ist", jedoch in seiner Kritik am Prinzip des Positivismus des Rechts auf die Tradition des Natur- und Vernunftrechtsdenkens zurückgreifen will. 4 8 7 In der modernen Gesellschaft kann ein reines Vernunft(natur)recht im Vergleich zur Positivität des Rechts488, so wie sie uns durch die Wissenschaft in methodologisch und theoretisch kontrollierter Weise erschlossen wird, empirisch und begrifflich in keinem wie auch immer verstandenen Sinne geltendes Recht sein. Dies erscheint schon per definitionem ausgeschlossen. Dreier konzediert zwar, daß der üblicherweise mit dem Vernunft- und Naturrecht verbundene, bekanntlich gar nicht rechtliche „Geltungsanspruch" nun einmal „kein positivrechtrechtlicher, sondern ein rechtsethischer" ist. Er glaubt aber dennoch, gegenüber dem geltenden Recht moralisch-ethische und/oder vernünftige Gründe ins Feld führen zu dürfen, deren „Geltungsanspruch" sich allein der Überzeugungskraft der dafür vorgebrachten Vernunftargumente verdanke. Auch Alexy versucht, „die Begriffe des Rechts und der Rechtsgeltung so zu definieren, daß sie moralische Elemente einschließen", indem er seine „Definition des Begriffs des Rechts" verknüpft mit dem Element der „inhaltlichen Richtigkeit". Letztere wird von ihm so definiert, daß „der Begriff der inhaltlichen Richtigkeit moralische Kriterien einschließt".489 Dementsprechend soll der juristische Geltungsbegriff auch „Elemente der moralischen Geltung einschließen".490 Die Kernthese des von Dreier und Alexy kritisierten Rechtspositi485
Vgl. zur Frage der Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit des Rechts aus Institutionen- und kulturtheoretischer Perspektive: Klaus Veddeler, Rechtsnorm und Rechtssystem in René Königs Normen- und Kulturtheorie, Berlin 1999, S. 250-267. 486 487 488
Ralf Dreier Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 385. Ebd., S. 370 f.
Zur Theorie der Positivität des Rechts vgl.: Gert Riechers, Rechtssystem als normative Struktur und sozietaler Prozeß, in: Rechtstheorie 29 (Huntington- Sonderheft), 1998, S. 497563. 48 9 Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 2,44 und 201. 4 90 Ebd., S. 142 f.
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vismus besage, wie dies von Dreier 491 bestätigt wird, daß der Rechtsbegriff wie auch die abgeleiteten Begriffe der Rechtsgeltung, Rechtsgültigkeit, Rechtspflicht und Rechtsverbindlichkeit strikt moralneutral, also nicht moralbehaftet, zu bestimmen seien. Diese auch als Trennungsthese bezeichnete Auffassung hat, um es genauer zu formulieren, folgenden Inhalt: Recht und Moral sind begrifflich getrennt; zwischen beiden Normenkomplexen besteht kein begrifflich notwendiger Zusammenhang. Danach kann gültiges Recht als Recht jeden beliebigen, also unter Umständen auch einen extrem unmoralischen Inhalt haben. Konsequenz des Rechtspositivismus dieser Art ist, daß die Frage, ob eine bestimmte, als unmoralisch zu bewertende Norm unter den Rechtsbegriff fällt oder nicht, ausschließlich nach den Maßstäben einer konkreten Rechtsordnung zu entscheiden ist. 492 Gegen den positivistischen Rechtsbegriff werden in der gegenwärtigen Debatte grundsätzlich zwei Hauptargumente angeführt. Diese sind das Unrechts- und das Prinzipienargument, die sich gegen eben diese positivistische Trennungsthese, also die Trennung von Recht und Moral,richten.Das Unrechtsargument besagt, daß es Normen und Normensysteme gibt, die in einem solchen Maße ungerecht sind, daß ihnen die Rechtsgeltung und/oder der Rechtscharakter abgesprochen werden müsse. Das Unrechtsargument tritt gegenständlich in zwei Versionen auf. Die eine bezieht sich auf Einzelnormen, die andere auf Normensysteme. Die klassische Version bezüglich der Einzelnormen hat Gustav Radbruch formuliert. 493 Radbruch vertritt die Auffassung, der Konflikt zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit sei dahingehend zu lösen, daß das positive Recht, insbesondere in seiner Gestalt als staatliches Gesetz, auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht ist, „es sei denn, daß der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ein »unrichtiges Recht* der Gerechtigkeit zu weichen hat". 494 Der Begriff »unrichtiges Recht' soll hier gleichbedeutend mit »gesetzlichem Unrecht4 verstanden werden. Radbruch entnimmt die Kriterien der Gerechtigkeit, deren Wahrung er als unerläßlich für die Geltung einer Norm hält, der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte, vor allem aber dem Gleichheitsprinzip. Gegen diese als „Radbruchsche Formel" bezeichnete These wendet sich etwa H. L. A. Hart. Er ist der Auffassung, „unerträgliche Konsequenzen moralisch verwerflicher Gesetze" könnten nicht durch eine richterliche Rechtsmodifizierung, sondern ausschließlich durch den Erlaß rückwirkender Gesetze beseitigt werden 4 9 5 Eine andere Version des Unrechtsarguments hat Martin Kriele 496 formuliert. Diese ist jedoch nicht, wie die oben behandelte Theorie Rad491 Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, in: NJW 1986, S. 890 ff. 492 Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: NJW 1986, S. 2480 ff. 493 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl., 1973, S. 339-350. 494 Ebd., S. 345. 495 H. L A. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: ders., Recht und Moral. Drei Aufsätze, dt. Ausgabe, 1976, S. 39 ff. 496 Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, Kap. 5.
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bruchs, auf Einzelnormen, sondern auf staatlich organisierte Normensysteme bezogen. Nach Kriele besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen Rechtspflicht und Moralpflicht dergestalt, daß man verpflichtet sei, dem positiven Recht Folge zu leisten, vorausgesetzt, daß das Recht ,im großen und ganzen4 der Sittlichkeit Rechnung trägt. 497 Kriele glaubt diese Bedingung erfüllt, wenn das Recht als Teil eines Systems gilt, das auf den Prinzipien eines demokratischen Verfassungsstaates basiert. Er gelangt nicht zu der Konsequenz, den Normensystemen totalitärer Diktaturen die rechtliche Verbindlichkeit oder gar die Rechtsqualität abzusprechen. Nach seiner Auffassung gebe es auch in totalitären Systemen eine „unmittelbare Gesetzeslegitimität". Diese gelte für solche Gesetze, die nicht systemtypisch sind und die für sich genommen als ethisch gerechtfertigt gelten können. Kriele folgt damit der Argumentation Radbruchs, die es erlaubt, totalitären Normen die Rechtsqualität abzusprechen und Widerstand gegen sie nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich zu legitimieren. Das Prinzipienargument besagt, daß allen entwickelten Rechtssystemen Prinzipien immanent sind, die kraft ihrer Struktur und/oder ihrer Geltungsbegründung den positivistischen Rechtsbegriff sprengen. Dieses Argument wurde in seiner heute am meisten diskutierten Form zuerst von Ronald Dworkin ausgearbeitet.498 Es lassen sich zwei Versionen des Arguments unterscheiden. Dies ist zum einen die strukturtheoretische und zum anderen die geltungstheoretische Version. Beiden liegt der Gedanke zugrunde, daß strukturell alles positive Recht, wie Hart betont, einen offenen Text (open texture) hat, das heißt Vagheitsspielräume und Normenkollisionen aufweist, die einen Richter vor die Aufgabe stellen, Wertungen vorzunehmen, die im Kern auf wertorientierten Abwägungen beruhen. Regeln sind Normen, die aus Tatbestand und Rechtsfolge bestehen, und zwar derart, daß die Rechtsfolge stets dann Platz greift, wenn der Tatbestand erfüllt ist. Im Unterschied dazu sind Prinzipien, wie Alexy sie versteht, Optimierungsgebote, die in unterschiedlichem Grade erfüllt sein können, das heißt Normen, die gebieten, daß etwas - im Sinne eines Werts oder Ziels - in einem möglichst hohen Maße realisiert wird. 499 Eine strukturtheoretische Version des Prinzipienbegriffs kann auch dahingehend formuliert werden, daß der positivistische Rechtsbegriff deshalb durch die Struktur der Prinzipien gesprengt wird, weil sie die approximative Realisierung eines moralischen Ideals zur Rechtspflicht machen. Das Hauptargument der Prinzipientheorie sieht somit folgendermaßen aus: Indem die Verfassungen demokratischer Rechtsstaaten diese grundlegenden Hauptprinzipien der neuzeitlichen Rechts- und Staatsethik inkorporiert haben, haben sie die notwendige Verbindung von Recht und Moral hergestellt. Damit sei von Rechts wegen geboten, das Recht, wie es ist, dem Recht, wie es sein sollte, anzunähern.
497 Ebd., S. 345. 498 Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 2. Aufl., London 1978. 499 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, Kap. 3.
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Bei Dworkin findet man außerdem eine geltungstheoretische Version des Prinzipienarguments. Diese besagt, daß die rechtliche Geltung von Regeln einem „test of pedigree" unterworfen ist. 500 Mit diesem „test of pedigree" ist das Geltungkriterium des positivistischen Rechtsbegriffs gemeint, so wie es in der Grundnorm Kelsens oder in Harts „rule of recognition" definiert ist. Beide stellen nicht auf den Inhalt, sondern auf die Art der Gesetztheit und Wirksamkeit von Normen und in diesem Sinne auf ihren Stammbaum(„pedigree") ab. Die Definition des Rechts aus der Sicht dieser Auffassung steht dem Naturrechtsdenken nahe. Diese neo-naturrechtliche Sichtweise definiert Recht seiner Natur nach als die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten Normensystems gehören, sofern dieses im großen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist. Gleichzeitig müssen die Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, eben dieses Minimum an ethischer Rechtfertigung und Rechtfertigungsfähigkeit besitzen. Demgegenüber basiert die zeitgenössische Theorie der Rechtsgeltung nach ganz herrschender Meinung auf der empirischen und begrifflichen Trennung von Recht und Moral. Dies ist der Fall, weil es zweifelhaft erscheint, ob es die Aufgabe der Rechtspraxis und der Rechtstheorie sein kann, das geltende Recht moralisch und/ oder ethisch - und sei es auch nur mit bloßen Vernunftgründen - zu rechtfertigen oder gar zu legitimieren. Schon seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts wurde in Zentraleuropa, vor allem in Deutschland, in methodologischer, aber auch rechtspolitischer Weise starke Kritik an einer Begriffsjurisprudenz geübt. Diese Kritik richtete sich gegen ein Vorgehen, das dem Recht bloß »vernünftige 4, durch politischrechtliche Entscheidung nicht gedeckte, neue Bedeutungen unterzuschieben suchte. Ähnlich äußert Dreier die normative Absicht, der Rechtspraxis auf der rechtsbegrifflichen Ebene einen „rechtsethisch angereicherten Begriff des rechtlich geltenden Rechts zugrunde zu legen". Das soll geschehen, indem er den Rechtsbegriff selbst, wie oben gesehen, so bestimmt, daß alles Recht ein „Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit" aufweist oder aufweisen muß, „um rechtlich anerkennungsfähig zu sein".501 Dieser Definition wohnt eine petitio principi inne, durch die dem jeweils geltenden Recht ab extra ein Maßstab genuin moralischer bzw. vernünftiger Provenienz untergeschoben werden soll. Er ignoriert nicht nur die Positivität allen Rechts, sondern steht auch in Widerspruch zur Trennungsthese, da es sich bei ihm um ein rechtsfremdes Element handelt. Dieser Ansatz geht somit in die Richtung einer Renaissance des Natur- und Vernunftrechtsdenkens, das den Anforderungen nicht gerecht wird, die heute allenthalben an das Recht zu stellen sind. Welches ist nun das Grundanliegen der Trennungsthese, welchen Status hat sie und warum wird sie von der zeitgenössischen Rechtstheorie so strikt vertreten? Ihr 500 Ronald Dworkin, insb. S. 39 ff. 501 Ralf Dreier (wie Anm. 482), S. 369, 373 f.
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Anliegen ist es, den in der Sprachgemeinschaft in vielfältiger Ausprägung vorgefundenen Rechtsbegriff unter wissenschaftlicher Zielsetzung so weit wie möglich zu klären. Das Resultat dieser Bemühungen um eine Begriffsbestimmung des Rechts stellt eine normative Festsetzung, einen gleichsam stipulativen und definitorischen Vorschlag dar. Das Ziel ist, ein begriffliches Instrumentarium zu schaffen, mit dessen Hilfe die kritischen Sachprobleme einer Normenordnung sich in einer möglichst klaren und unzweideutigen Sprache erörtern lassen. Der Mainstream der zeitgenössischen Rechtstheorie folgt heute der Auffassung, daß unter den sozialen Bedingungen der Positivität allen Rechts bei dessen wissenschaftlicher Behandlung eine strikte Trennung von Recht, Ethik und Moral sowohl in empirischer als auch in analytisch-begrifflicher Hinsicht unerläßlich ist. Auch wird der Rechtsbegriff nur dann dem Ziel der Begriffsklarheit gerecht, wenn er sich auf eine Normenordnung bezieht, die nicht durch Übereinstimmung mit moralischen Forderungen charakterisiert wird, sondern durch den fortlaufenden argumentativen Bezug auf sich selbst, d. h. auf das gesamte Rechtssystem, sowie auf dessen autoritative Möglichkeiten der Selbstdurchsetzung bis hin zur Anwendung von physischem Zwang. Es geht somit, wie oben dargelegt wurde, um einen genuin institutionalistischen bzw. systemischen Rechtsbegriff, so wie er heute der Theorie selbstreferenzieller sozialer Rechtssysteme zugrunde liegt. Dieser moralneutrale Rechtsbegriff erscheint heute unerläßlich. Die Tatsache, daß bestimmte Normen Teil einer praktisch wirksamen, institutionell und systemisch auf Dauer gestellten Zwangsordnung sind, ist theoretisch wie praktisch so folgenreich, daß es sich empfiehlt, hierfür einen eigenen, sozialadäquaten Begriff des Rechts zu haben. Der Inhalt des Rechts ist ausschließlich eine Sache der jeweiligen konkreten staatlichen Rechts- und Zwangsordnung, gegebenenfalls auch im internationalen (gemeinschaftsrechtlichen, völkerrechtlichen) Zusammenhang. Er kann von der einen zur anderen staatlichen Zwangsordnung variieren. Den Rechtspositivisten wurde stets entgegengehalten, aufgrund der von ihnen gleichfalls vertretenen Trennung von Recht und Moral hielten sie jede Norm, die den Kriterien für „Recht" oder „geltendes Recht" genügt, allein deshalb schon für befolgenswert. Radbruch502 glaubte, in seinem Nachkriegsplädoyer gegen die Trennungsthese zu argumentieren, wenn er sagt, daß das Volk solchen Gesetzen, die den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, keinen Gehorsam schulde. Da die Trennungsthese jedoch keine normative Aussage darüber beinhaltet, welchen Normen das Volk Gehorsam schuldet, also durch welche Normen es sich in seinem Verhalten leiten lassen soll, ist dieses Argument Radbruchs wohl kaum ein geeigneter Einwand gegen die Trennungsthese. Sie will nur zum Ausdruck bringen, daß auch eine ungerechte Norm trotzdem gelten kann und Befolgung verdient, da sie vom Standpunkt der betreffenden Rechtsordnung einen Wert darstellt. Damit ist nichts zu der Frage gesagt, ob eine bestimmte Norm auch vom Standpunkt dieser oder jener Moralordnung Befolgung verdient, insbesondere sagt dies nichts darüber aus, ob eine Norm 502 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 327.
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- von ihrem eigenen Standpunkt aus - Befolgung verdient. Von Verfassungs und Rechts wegen sind die Begriffe der Rechtspflicht und der moralischen Pflicht, der Rechtsverbindlichkeit und der moralischen Verbindlichkeit zu unterscheiden. So meint Kriele, 503 der Rechtspositivist behaupte, die Legalität für sich reiche aus, um die Legitimität zu begründen, die Legitimität gehe restlos in der Legalität auf. Dies erscheint fraglich. Der Vertreter einer Auffassung, die eine notwendige Einheit von Moral und Recht zum Inhalt hat, kann es nicht dabei belassen, die Legitimität des Rechts nur unter Erfüllung irgendwelcher moralischer Kriterien anerkennen zu wollen. Vielmehr muß er sich, wenn dieser moralbehaftete Rechtsbegriff konkret anwendbar sein soll, dazu äußern, welche Moral es sein soll, mit deren Hilfe die Entscheidung pro oder contra Legitimität von Normen getroffen werden soll. Soll es eine objektive Moral sein, die Moralvorstellungen bestimmter Autoritäten oder die persönlich Moral der Person, die gerade den jeweiligen Rechtsbegriff verwendet? Kriele äußert im Zusammenhang mit der von ihm am Rechtspositivismus geübten Kritik die Auffassung, an die Stelle des Dualismus von Rechtspositivismus und des Pluralismus subjektiver Moralen trete eine lebendige Sittlichkeit, die von dem gleichen Anspruch eines jeden auf Freiheit und Menschenwürde geprägt sei und die sich im Prozeß des aufklärerischen Fortschritts im Recht niederschlage.504 Es scheint doch so zu sein, daß unbestimmte Rechtsbegriffe wie „lebendige Sittlichkeit" und „gleiche Freiheit und Menschenwürde für jeden" zwar eine gewisse politische Appellfunktion haben, aber keinen bestimmbaren materiellen Charakter besitzen. Es besteht keine Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, daß jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine „aufgeklärte" Moral ist. Der Einzelne wird seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen, die moralischen Vorstellungen einer von ihm akzeptierten Autorität oder die in seiner Gesellschaft vorherrschenden moralischen Vorstellungen zugrunde legen. Im allgemeinen spricht jedoch nichts dafür, daß die moralischen Vorstellungen eines bestimmten Individuums oder einer bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinne aufgeklärter, im Sinne von „humaner" oder „gerechter", sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Dies wird deutlich bei dem Vergleich der Einstellung der deutschen Bevölkerung bezüglich der Legitimität der Todesstrafe. Es gibt nicht nur, so wie es die Gegner des Rechtspositivismus suggerieren, die Richter und Bürger, die angesichts eines „unmoralischen" Systems lieber der „humanen" Moral folgen wollen, sondern auch diejenigen, die die „unmoralische" Form vorziehen. Im Gegensatz zu Kelsen, auf den unten noch genauer einzugehen ist, geht es bei Dreier als Kritiker des rechtspositivistischen Denkens nicht unbedingt um die staatliche Anerkennung, sondern hauptsächlich um eine bestimmte Form und Möglichkeit vernünftiger Anerkennung des Rechts durch die betroffenen Bürger 503 Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 126. 504 Ebd., S. 133. 10 Simon
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und ein „interessiertes Publikum". Eine solche Anerkennung erscheint Dreier auch deswegen notwendig, da unter dem vermeintlichen Eindruck von „Wandlungen im Rechts- und Rechte-Bewußtsein der Bürger" angeblich „erhöhte Ansprüche an die Begründetheit und Akzeptierbarkeit staatlicher Entscheidungen" gestellt werden. 505 Bei diesen gesteigerte Ansprüchen an das geltende Recht handelt es sich aber nicht um rechtliche Forderungen, sondern um moralisch-ethische bzw. vernünftige Ansprüche, denen nach Auffassung Dreiers auch die Staatsorgane bei ihrer Amtsausübung unterworfen werden sollten. Das Amt des Richters etwa erblickt er nicht allein darin, die ihm unterbreiteten Fälle nach geltendem Recht methodisch korrekt zu entscheiden. Er verlangt von ihm darüber hinaus auch, „seine Entscheidungen so zu begründen, daß sie für die Betroffenen wie für das interessierte Publikum akzeptabel sind." 506 Es geht Dreier jedoch nicht um eine tatsächliche Anerkennung und sei es nur im Sinne einer wirklich möglichen Annehmbarkeit des Rechts, sondern um eine ideale Anerkennung, das heißt um eine normative, moralisch-vernünftig begründbare Anerkennungswürdigkeit. Gegenüber einer an seiner Auffassung vorgebrachten Kritik konzediert er: „Das Merkmal eines Mindestmaßes an ethischer Rechtfertigung bzw. Rechtfertigungsfähigkeit, das ich, gestützt auf mehrere Gründe, in meinen Vorschlag einer Rechtsdefinition aufnehme, betrifft nicht die tatsächliche Anerkennung, sondern die Anerkennungswürdigkeit von Normen und Normensystemen, ist also kein empirisches, sondern ein normatives Merkmal." 507
Damit wird eine demokratietheoretisch neue (weil nicht demokratisch-repräsentative!), verfassungsrechtlich und rechtspraktisch so nicht vorgesehene Variante des Gehorsams gegenüber dem geltenden Recht eröffnet. Dem Bürger und Rechtsgenossen, aber auch dem kritischen Richter soll auf dem Umweg über das vermeintlich rechtliche, in Wirklichkeit aber bloß moralisch-vernünftige Postulat und Kriterium der Anerkennungswürdigkeit ein Mitspracherecht in Sachen Rechtsgeltung eingeräumt werden, das von Verfassungs wegen nur dem demokratisch legitimierten Verfassungs- und Gesetzgeber (und den hiervon abgeleiteten staatlichen Autoritäten) und darüber hinaus allenfalls dem Verfassungsrichter als Hüter der Verfassung zukommt. Geht es also um eine - zumindest idealiter bestehende oder wenigstens denkbare - Assoziation gleicher und freier, jedenfalls vernünftiger Staatsbürger, die mit den sonstigen Rechtsgenossen „hochartifizielle Gemeinschaften" im Sinne von Habermas bilden, also auf wechselseitig unterstellbaren Vernunftrechtsgründen basieren?
505 Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 374; ders., Der Begriff des Rechts, in: NJW 39 (1986), S. 890-896, 895. 506 Ralf Dreier, Recht - Staat - Vernunft. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1991, S. 114. 507 Ralf Dreier, Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus , S. 374.
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3. Recht als Ausdruck staatlicher Anerkennung Die Anerkennung im Recht ist nach Kelsen, der anfänglich die Anerkennungstheorie gar nicht zur Deutung, Beschreibung und Erklärung der Rechtsgeltung heranziehen wollte 508 - anders als bei Habermas, Dreier und Alexy - , das normative Ergebnis eines volitiven Prozesses, der auf die Willensentscheidung der dem Recht unterworfenen Individuen referiert. Gemäß der von Kelsen zunächst strikt abgelehnten Anerkennungstheorie gilt das positive Recht, „wenn es von den ihm unterworfenen Individuen anerkannt wird, das heißt: wenn diese Individuen wollen, daß man sich den Normen des positiven Rechts entsprechend verhalten soll". 509 Ursprünglich war Kelsen selbst nämlich ein Verfechter der Zwangs- und Sanktionstheorie des Rechts, die er dem Grundsatz nach seinem Hauptwerk zugrunde legte. 510 „Die Rechtsordnung ist eine Zwangsordnung." Er hielt es folglich in seiner Reinen Rechtslehre511 zwar für „möglich", aber für „heute nicht mehr üblich", „die staatliche Rechtsordnung nur unter der Voraussetzung als für den Einzelmenschen gültig zu betrachten, daß sie von diesem anerkannt wird". Im Gegensatz zu der heutigen Auffassung von Habermas, Alexy und Dreier geht Kelsen davon aus, daß eine derartige Anerkennung nicht als eine bloß idealiter gültige hypostasiert werden dürfe, sondern „tatsächlich gegeben" und „nachweisbar" sein müsse, weil sie andernfalls nur als eine »/stillschweigende4 Anerkennung fingiert" wäre. 512 Trotzdem kann man den späteren Kelsen als Vertreter einer Theorie staatlicher Anerkennung des Rechts bezeichnen, selbst wenn er seine bisherige Ansicht bezüglich des Zwangscharakters des Rechts nicht vollständig aufgegeben hat. Zwang und Anerkennung des Rechts erscheinen zutiefst geändert. Sie werden durch eine kunstvolle Verbindung von Zwangs- und Anerkennungstheorie miteinander verknüpft. Prinzipiell wird jedoch auch hier die These vom Zwangscharakter des Rechts beibehalten, wenn er schreibt: „Das Recht ist wesentlich Zwangsordnung/4 Kelsen unterscheidet im Hinblick auf die Geltung und die Geltungsgrundlagen des Rechts zwischen (i) der Geltung der generellen Rechtsnormen und (ii) der Geltung der individuellen Rechtsnormen. Der Prozeß einer Anerkennung/ Akzeptanz von Recht und Richterspruch kann somit auf die Verfahren der Generalisierung und Individualisierung von Rechtsnormen bezogen werden. Hierbei geht es, Institutionen- und systemtheoretisch gesehen, um Formen einer operativen und normativen strukturellen Kopplung.513 Der Begriff der strukturellen Kopplung ist 5
°8 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1923, S. 346 ff., 351. 509 Ders., Reine Rechtslehre, 1960, S. 225. 510 Ders., Reine Rechtslehre, 1934, S. 28 f., 120; ders., Reine Rechtslehre, 1960, S. 34 f., 45 ff., 51 f. 511 Ders., Reine Rechtslehre, 1960, S. 335. 512 Ebd., S. 225. 513 Werner Krawietz, Staatliches oder gesellschaftliches Recht? In: ders. / Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. M. 1992, S. 247-302, 264 f., 273 f.; Andreas Schemann, Strukturelle Kopplung, S. 219 f., 224 ff. 10*
148 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
der Theorie sozialer Systeme Niklas Luhmanns entlehnt, der Begriff der normativen strukturellen Kopplung stammt von Krawietz. Moderne Rechtssysteme bauen sich selbstreferenziell aus Direktiven und Normen auf. Es muß daher unterschieden werden zwischen den operativen und den normativen Aspekten der strukturellen Kopplung. Bei der Selbsthierarchisierung des Rechts setzen diese beiden Gesichtspunkte struktureller Kopplung einander wechselseitig voraus und kooperieren - funktional betrachtet - arbeitsteilig miteinander. Die Anhänger einer Zwangs- und Sanktionstheorie des Rechts stellten sich noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf das Strafrecht vor, daß beispielsweise der Gesetzgeber im Strafrecht ein bestimmtes Verhalten lediglich indirekt vorschreibt und regelt, indem er nur an das gegenteilige Verhalten einen gesollten Zwangsakt als Folge knüpft. Dies erscheint in operativer wie in normativer Hinsicht als nicht ausreichend. Es muß vielmehr zwischen (i) der Aktionsnorm und der (ii) Reaktionsnorm unterschieden werden. 514 Erstere schreibt ein bestimmtes Rechtshandeln vor, letztere sanktioniert den Rechtsadressaten im Falle der Nichtbefolgung der Norm. Nach Kelsen ist in der Rechtskommunikation eine nähere Individualisierung der generellen Norm unbedingt notwendig, da in jeder Rechtsanwendung in Wirklichkeit eine Konkretisierung und Ergänzung durch die individuelle Norm erfolgt. 515 Eine derartige normative Sinnstiftung ereignet sich nach Auffassung Kelsens - nicht schon primär im unmittelbaren Lebensvollzug durch die Individuen, also in der sozialen Wirklichkeit des alltäglichen Rechtserlebens und Rechtshandelns, sondern erst und nur sekundär im Wege der Rechtsprechung. Es ist folglich die Aufgabe des Richters, seinen Beitrag zur Konkretisierung des Rechts und der Rechtsgewinnung im Einzelfalle durch seinen Richterspruch beizutragen. Für Kelsen ist es nicht maßgeblich, daß die normunterworfenen Subjekte und/ oder Individuen die generellen Rechtsnormen tatsächlich befolgen, indem sie sie aus eigenem Antrieb zur Prämisse ihres Verhaltens machen. Von entscheidender Bedeutung ist für Kelsen die Geltung im Falle genereller Rechtsnormen „von der Anerkennung der der Rechtsordnung unterworfenen Subjekte - zum Unterschied von den rechtserzeugenden und rechtsanwendenden Organen - überhaupt unabhängig44.516 Über die Geltung und Verbindlichkeit einer Rechtsnorm kann „in rechtlich relevanter Weise44 auf Seiten der „Rechts-Subjekte44, d. h. der „der Rechtsordnung unterworfenen Subjekte44, gar nicht entschieden werden. 517 Nicht die Rechtssubjekte, sondern nur die Rechtsorgane, das heißt „Verwaltungsbehörden, Gerichte und Vollstreckungsorgane44, haben über die Geltung und die Verbindlich514
Athanasios Gromitsaris, Normativität und sozialer Geltungsgrund des Rechts. Zur Revision und Reformulierung der Normentheorie von Theodor Geiger, Berlin 1992, S. 33 f., 46 ff., 90 f. 515 Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 39. 516 Ebd., S. 42 f. Ebd., S. 4 .
§ 11 Rechtspositivismus oder Renaissance des Natur- und Vernunftnaturrechts?
149
keit von Recht fallweise eine normative Entscheidung zu treffen. Kelsen beabsichtigt damit jedoch keine generelle Ablehnung der Anerkennungstheorie, sondern benutzt die Unterscheidung zwischen (i) Rechtssubjekt und (ii) Rechtsorgan, um die Anerkennungstheorie in modifizierter Form wieder einzuführen und mit seiner Zwangs- und Sanktionstheorie des Rechts zu verbinden. Rechtssubjekte unterliegen dem Recht und das Recht wird auf sie angewandt, so daß für eine Anerkennung durch sie kein Raum bleibt; sie schulden dem Recht Gehorsam und haben es zu befolgen. Kelsen bleibt insoweit eher ein Gegner der Anerkennungstheorie und ein Verfechter der Zwangs- und Sanktionstheorie. Dennoch sieht er für Zwangsorgane, die Zwangsakte in die Realität umsetzen, die „Möglichkeit einer Anerkennung".518 Die generelle Rechtsnorm gilt nach normativistischer Auffassung stets „nur mittelbar", also „vermittelt" durch die individuelle Rechtsnorm, die ihrerseits unter Umständen noch einer „Vollstreckung des Zwangsakts" bedarf. 519 Kelsen zufolge sind die Zwangsakte anordnenden generellen sowie individuellen Normen des Rechts an „Rechtsorgane und nicht oder zumindest nicht unmittelbar an Menschen gerichtet". Das hat zur Folge, daß die Anwendung einer generellen Rechtsnorm auf konkrete Fälle " nur im Wege der Anerkennung dieser Normen seitens der rechtsanwendenden Organe möglich ist". Diese ist jedoch von einer etwaigen ,Anerkennung der der Rechtsordnung unterworfenen Subjekte" völlig „unabhängig". Die Auffassungen der Subjekte sind und bleiben „rechtlich belanglos".520 Nach Kelsen avanciert die »Anerkennung der generellen Norm" zur „Voraussetzung für die Setzung der individuellen Norm". 521 Trotz dieser partiellen Option Kelsens für eine Anerkennungstheorie kann sie nicht mit der von Habermas, Dreier und Alexy favorisierten Version identifiziert werden. Der entscheidende Unterschied dieser Theorien liegt in der Tatsache, daß Kelsen die Möglichkeit der individuellen (zum Beispiel gerichtlichen) Anerkennung von Rechtsnormen bejaht, ohne jedoch - im Gegensatz zu Habermas, Dreier und Alexy - von der moralisch-ethischen Legitimität als Geltungsvoraussetzung einer Norm auszugehen. Ob die Bürger als Rechtsadressaten das geltende Recht, generell oder individuell, in welcher Form auch immer als moralisch und/oder ethisch richtig oder vernünftig und daher als anerkennungswürdig ansehen, ist für Kelsen rechtlich unbeachtlich. Im Vordergrund steht bei ihm die normativistische Beschreibung, Deutung und Erklärung des oben behandelten Rechtsanwendungsvorgangs. Es sollen nicht gegenüber allem Recht kritische Maßstäbe moralisch-ethischer oder vernünftiger Provenienz etabliert werden. Die Anerkennung, so wie sie von Kelsen propagiert wird, bleibt demokratietheoretisch defizitär, da sie im Prinzip kaum mehr als eine Kenntnisnahme vom Gehalt einer Rechtsnorm beinhaltet. Ohne sie ist jedoch eine Rechtsanwendung nicht denkbar. Auch die Dreiersche 518 Ebd., S. 40 ff. 519 Ebd., S. 39. 520 Ebd., S. 39,42. 521 Ebd., S. 191 f.
150 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
Version einer Anerkennungstheorie bzw. einer auf Akzeptabilität bedachten „vernünftigen" Diskurstheorie des Staates und des Rechts,522 für die der mit der richterlichen Entscheidung verbundene »Anspruch auf rechtliche Richtigkeit" zugleich einen „Anspruch auf moralische Richtigkeit einschließt",523 bereitet Schwierigkeiten, da beide Ansprüche den Rekurs auf ein Vernunftnaturrecht beinhalten. Sie laufen darauf hinaus, die im wesentlichen sozial etablierte und institutionell auf Dauer gestellte, politisch-rechtliche Gesetzgebungspraxis sowie die administrative/gerichtliche Entscheidungspraxis durch den Bezug auf eine rechtlich nicht institutionalisierte Vernunft in Frage zu stellen, deren moralisch-ethische Prozeduren, Prinzipien und Regeln zum Maßstab der staatlichen Rechtssetzung und der rechtlichen Entscheidungspraxis erhoben werden sollen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Recht und Richterspruch denn wirklich einer von Verfassungs und Rechts wegen nicht vorgesehenen, moralisch-ethischen oder vernünftigen, im praktischen juristischen Diskurs - sei es explizit, sei es implizit - auszusprechenden Anerkennung durch die Bürger und sonstigen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft bedürfen. In den staatlich organisierten Rechtssystemen der modernen Gesellschaft heißt Rechtsgeltung, daß die Bürger und sonstigen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, die als der staatlichen Herrschaftsgewalt unterworfene Subjekte und primäre Adressaten der Rechtsnormen fungieren, sowie die Mitglieder der staatlichen Organe und Entscheidungsbürokratie, die als sekundäre Adressaten anzusehen sind, allesamt das für die verbindliche Recht zu befolgen haben.
§ 12 Ausblick und Schlußfolgerungen: Plädoyer für den Aufbau einer geschichtlich-kulturell geprägten Theorie selbstreferenzieller Sozialsysteme des Rechts Das zentrale Thema und Problem der im vorstehenden Zusammenhang behandelten rechts theoretischen und rechtsphilosophischen Fragestellungen ist die Assoziation und Anerkennung (wirkliche oderfingierte Zustimmung, unterstellter Konsens) als ein möglicher Geltungsgrund des Rechts und der rechtsstaatlichen Selbstorganisation freier und gleicher Bürger. Was die eingangs gestellte Frage nach den strukturellen Voraussetzungen und der Wirkungsweise sozialer Assoziationen (Vergesellschaftung) und Institutionalisierung, nach den Funktionen der Anerkennung und der Anerkennungstheorien in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, insbesondere in staatlich organisierten Rechtssystemen angeht, so konzentrieren sich die hier angestellten Untersuchungen auf die Herausarbeitung und Präsentation diverser Typen von Anerkennung/Akzeptanz. In diesem Sinne wurde unterschieden zwischen einer moralisch-ethischen, einer vernünftigen und einer staatlichen Anerkennung/Akzeptanz. Dabei wurde deutlich, daß es sinnvoll ist, zwi522 Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 36 ff., 39,43 f. 523 Ebd., S. 64 f., 130 f.
§ 12 Ausblick und Schlußfolgerungen
151
sehen Anerkennung und Akzeptanz zu differenzieren. Als wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, daß sich - nach allen Versionen einer Anerkennungsbzw. Akzeptanztheorie über die Annahme bzw. die Annehmbarkeit oder Anerkennungswürdigkeit von Rechtsnormen oder der Rechtsordnung als ganzer - nur unter Bezugnahme auf ein jeweils schon vorausgesetztes normatives Bezugssystem entscheiden läßt (sogen. Theorie selbstreferenzieller sozialer Systeme, insbesondere des Rechtssystems). Dies ist, wie in den modernen kontinentaleuropäischen Rechtssystemen die Regel, ein staatlich organisiertes Rechtssystem mit seinen in der jeweiligen Verfassung verankerten Leitideen, Grundwerten und Strukturprinzipien. Infolgedessen kann und muß zwischen einem formalen (staatlichen) und einem informalen (gesellschaftlichen) Recht unterschieden werden. 524 Auch darf und sollte nicht ignoriert werden, daß gesellschaftliches Recht in allen sozialen Systemen der modernen Gesellschaft, das heißt in den jeweiligen - politisch, kulturell und wirtschaftlich sehr weitgehend differierenden und divergierenden - Regionalgesellschaften entsteht.525 In den modernen Rechtssystemen werden, Institutionen- und systemtheoretisch betrachtet, stets sehr verschiedenartige soziale Systemreferenzen zugleich als normativ relevant in Anspruch genommen, mit Bezug auf welche von Anerkennung und/oder Akzeptanz die Rede sein kann. Ausgangspunkt war die Klärung der Frage, ob und inwiefern Gesetz und Richterspruch überhaupt einer - wie auch immer beschaffenen - Anerkennung bedürfen. Genügt, informations- und kommunikationstheoretisch betrachtet, die generelle, ordnungsgemäß vorgenommene normative Information der Adressaten des geltenden Rechts darüber, was das Recht von ihnen erwartet, um im konkreten Einzelfalle das Erfordernis der Rechtsbefolgung auszulösen in dem Sinne, daß die in der ordnungsgemäßen Mitteilung der generellen Norm ausgesprochene normative Erwartung dann auch für sie individuell als verbindlich gilt? Oder bedarf es darüber hinaus noch einer Anerkennung (Annahme, Zustimmung) auf Seiten der durch die staatlichen Direktiven und den Imperativ der Rechtsnormen Betroffenen, damit diese auch im Einzelfalle als individuelle Norm Geltung erlangen? Die Theorie normativer Kommunikation im Bereich des Rechts geht davon aus, daß eine Anerkennung und/oder Akzeptanz von Gesetz und Richterspruch allenfalls in dem Sinne einer rechtskommunikativen Annahme/Ablehnung der mitgeteilten normativen Information erforderlich ist, die als Prämisse der weiteren Informationsverarbeitung fungiert, um dem formal als geltend ausgezeichneten Recht auch individuelle Geltung, Verbindlichkeit und Wirksamkeit zu verschaffen. Es erscheint jedoch nicht angebracht, diese Annahme/Ablehnung von einem inhaltlichen, nicht rechtlichen Richtigkeitskriterium abhängig zu ma524 Werner Krawietz, Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 24 (1993), S. 81 -133, 87 ff., 90 f., 127 f. 525 Siehe dazu: Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 153 ff.; ders., Staatliches oder gesellschaftliches Recht? S. 262 f., 264 f.; Petra Werner, Soziale Systeme als Interaktion und Organisation, in: Werner Krawietz /Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, S. 204 f.
152 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
chen. Der wesentliche Unterschied dieser Auffassung - gegenüber der von Habermas, Dreier und Alexy vertretenen Auffassung - besteht darin, daß die praktische Aufgabe des Rechts und der mit ihm befaßten Rechtswissenschaft nicht darin zu erblicken ist, eine ideale (vernünftige) Ordnung zu erkennen, sondern in Anknüpfung an das jeweils schon geltende Recht eine wirkliche Ordnung zu schaffen, die weiterer wissenschaftlicher Erkenntnis, vor allem im Bereich rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, bedarf und offensteht. Es erscheint von Verfassungs und Rechts wegen zweifelhaft, ob die in der praktischen juristischen Argumentation kommunikativ zu übernehmende normative Prämisse des jeweils geltenden Rechts, die sich systemimmanent aus den Rechtsprinzipien und Rechtsnormen, aus Satzung, Vertrag oderrichterlicher Entscheidung ergeben mag, noch einer weiteren, im Rechtssystem selbst nicht vorgesehenen, fremdreferenziellen Richtigkeitskontrolle daraufhin unterwerfen zu wollen, ob eben diese Prämisse auch anerkennungswürdig ist, das heißt als eine idealiter gültige, vernünftige, moralisch oder ethischrichtigeRechtserzeugung gelten kann. Da weder das Naturrecht noch das Vernunftrecht als Recht akzeptiert werden können, (sofern man die irreführende Homonymie mit allem positiven Recht erst einmal durchschaut hat!) gibt es im Rechtssystem der modernen Gesellschaft auch keinen Rekurs auf eine ab extra operierende Natur, Vernunft oder Moral, der die inhaltliche Richtigkeit der Rechtserzeugung zu garantieren vermöchte. Das moderne Recht kennt, informations- und kommunikationstheoretisch betrachtet, keine präpositiven, a priori gültigen, d. h. universalen (räum- und zeitlosen) und deshalb jeglicher Entscheidung eines Verfassungs- und Gesetzgebers oder Richters enthobenen, präexistenten Prinzipien, vernünftigen Grundsätze oder gar absoluten Werte, die in erkennbarer Weise - ohne jede praktische volitive Stellungnahme und Entscheidung - vorherbestimmen oder gar erkennen ließen, wasrichtigerweise als Recht gilt. Es gibt im Bereich des Rechts, letzteres hier verstanden als auf Dauer gestellte normative Informations- und Kommunikationsstruktur, die der verbindlichen Orientierung des menschlichen Erlebens und Handelns dient, keine Möglichkeit, Recht als von vornherein richtigesRecht wissenschaftlich zu beweisen, das heißt Normen nur kognitiv - ohne volitive und evaluative Stellungnahmen! - zu begründen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man, wie dies neuerdings geschieht, anstelle von Naturrecht oder Vernunftrecht von Rechtsethik spricht. 526 Bei dieser Rechtsethik handelt es sich um eine moralisch begründete Ethik - und eben nicht um Recht. Die Postulate der Ethik sind, wie richtig und vernünftig sie auch immer sein mögen, nicht Bestandteile des geltenden Rechts oder des Rechtssystems. Die Akzeptabilität und Anerkennungswürdigkeit oder bloße Vernünftigkeit irgendwelcher, im Rechtssystem nicht enthaltener, moralisch-ethischer Postulate, Prinzipien und Normen vermag infolgedessen auch nicht - unter Umgehung der von Verfassungs und Rechts wegen etablierten Institutionen und Verfahrensweisen 526
Franz Bydlinski, Die praktische Bedeutung der Rechtsethik und die Möglichkeiten ihrer Vermittlung, in: ders./Theo Mayer-Maly (Hrsg.), Rechtsethik und Rechtspraxis, Innsbruck/Wien 1990, S. 11 - 96, 33 ff., 57 f.
§ 12 Ausblick und Schlußfolgerungen
153
politisch-rechtlichen Entscheidens und ohne entsprechende rechtssetzende Direktiven! - zur wissenschaftlichen Erkenntnis des geltenden Rechts zu führen. Nicht irgendeine materiale Richtigkeit oder Vernünftigkeit, nicht die inhaltliche Übereinstimmung mit einem letzten oder höchsten Prinzip, einer höchsten Idee oder einem höchsten Wert schaffen, wie Krawietz dargelegt hat, den gemeinsamen Geltungsgrund, die Identität des Rechtssystems und die Einheit der Rechtsordnung. 527 Nur die strikte Negation jeder normativen Fremdreferenz (Naturrecht, Vernunftrecht usw.) und die Option für normative Selbstreferenz (Selbstorganisation, Selbstproduktion und Selbstreproduktion) des Rechtssystems schaffen im jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext - in Verbindung mit der politischen, durch Macht und normative Autorität gedeckten Inanspruchnahme basaler Entscheidungssouveränität - eine in sich kohärente, auf Selbstidentifikation mit dem schon geltenden Recht angelegte Geltungsgrundlage, auf der ein Rechtssystem entstehen, sich entwickeln und seine Identität im eigenen Rechts- und Zweckhandeln entfalten kann. 528 Die Einheit der Rechtsordnung ist demzufolge - wenn überhaupt - nur in operativer, prozeduraler und struktureller Hinsicht zu bewerkstelligen, aber nicht als inhaltliche vorgegeben. Die Rechtsordnung ist nach allem eine auf operativer und normativer struktureller Kopplung basierende, in institutionalisierten Verfahren rechtlicher Entscheidung erzeugte, auch neue tatsächliche Informationen in geltendes Recht transformierende normative Superstruktur, die sich in der Rechtskommunikation selbst herstellt, reproduziert, erneuert und fortentwickelt. Sie wird geschaffen und gewährleistet durch die Abstammung aller Bestandteile des Rechtssystems, das heißt der Rechtsprinzipien, Rechtsnormen und der im geltenden Recht bereits verankerten Ziele, Zwecke und Werte sowie aller sich hier anschließenden Direktiven und Rechtsnormen, aus einem basalen System (rules of recognition) von Abstammungsund Erzeugungsregeln, die sie zugleich formal und inhaltlich als integrale Bestandteile der Rechtsordnung auszeichnen.529 Derartige Abstammungs- und Erzeugungsregeln, die im Dienste der laufenden Identifikation von Rechtsvorschriften als geltendes Recht stehen, schaffen und gewährleisten zugleich ein gewisses Maß an innerer Übereinstimmung und Kohärenz, das für moderne Rechtssysteme so charakteristisch ist. Durch derartige genuin rechtliche Prozeduren, Prinzipien und Regeln sowie deren fortlaufende Anwendung und Befolgung wird nicht nur die 527 Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems? Grundlagen der Rechtsordnung in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 233-277, 234 ff., 251 ff., 276 f.; ders., Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und Rechtssystem in normen- und systemtheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 25 (1994)v S. 264-274. 528 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 139.; ders., Recht ohne Staat? S. 119 f. 529 Werner Krawietz, Dual Concept of the Legal System? The Formal Character of Law from the Perspective of Institutional and Social Systems Theory, in: ders./Neil MacCormick/Georg Henrik von Wright (Hrsg.), Prescriptive Formality and Normative Rationality in Modern Legal Systems, Berlin 1994, S. 43-52,43 ff., 47 ff., 50.
154 5. Abschn.: Akzeptanz von Recht und Selbstorganisation freier und gleicher Bürger
Selbstproduktion des Rechtssystems gewährleistet, sondern auch seine fortlaufende Selbstreproduktion sichergestellt und damit die Identität des Rechtssystems gesichert. Im demokratischen Rechtsstaat gehört dazu, Institutionen- und systemtheoretisch verstanden, auch die alltägliche, institutionell auf Dauer gestellte Rechtsbefolgung durch die Staatsbürger und die sonstigen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, die durch die Rechtsordnung nach Maßgabe ihrer jeweiligen geschichtlich und kulturell geprägten Lebensformen vergesellschaftet und miteinander assoziiert sind. 530 Ihr Einverständnis mit dem jeweils geltenden Recht kann, darf und muß bis auf weiteres unterstellt werden. Ein wirklicher, auch konkret von Fall zu Fall existierender und nachweisbarer Konsens wird dabei weder vorausgesetzt noch abgefragt und eine innere Anerkennung oder Akzeptanz als inhaltlich richtig - mag sie erteilt oder verweigert werden - jedenfalls nicht gefordert. Es erscheint daher ausreichend, daß man sich im staatlich organisierten Rechtssystem der Gesellschaft im großen und ganzen rechtmäßig, das heißt normenkonform (und nicht abweichend!) verhält - und das Recht - , aus welchen Motiven auch immer, befolgt.
53° Werner Krawietz, What Does it Mean „To Follow an Institutionalised Legal Rule"? On Rereading Wittgenstein and Max Weber, in: Archiv für Rechts- und Sozialpolitik 1990, Beiheft 40, S. 7 - 1 1 , 8 f., 12 f.
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Schrifttumsverzeichnis Iggers, Georg G.: Deutsche Geschichtswissenschaft: eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausgabe, München 1971. Ihering, Rudolf von: Der Kampf ums Recht, in: ders., Der Kampf ums Recht. Ausgewählte Schriften, mit einer Einleitung von Gustav Radbruch, hrsg. von Christian Rusche, Nürnberg 1965, S. 195-274. - Über die Aufgabe und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung, in: ebd., S. 401 -444. Jacoby, Eduard Georg: Die moderne Gesellschaft in im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies: eine biographische Einführung, Stuttgart 1971. Jaeggi, Urs: Institution- Organisation, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Wörterbuch der Erziehung, 5. Aufl., München/Zürich 1980, S. 308-313. - Contract as a Social Form of Life, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 201 -216. Jansen, Albert: Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, in: Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 8, Göttingen u. a. 1979. Jellinek, Georg: Die rechtliche Natur der Staatenverträge. Ein Beitrag zur juristischen Construction des Völkerrechts, Wien 1880. - Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. unter Verwendung des handschriftlichen Nachlasses, Berlin 1922. J0rgensen, Stig: Contract as a Social Form, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 201 -216. Karnitz, Reinhard: Positivismus- Befreiung vom Dogma, München 1973. Kangas, Urpo: Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins, in: ders. (Hrsg.), Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht. Ausgewähte rechtstheoretische Schriften, Berlin 1990, S. 9 55. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. von Karl Vorländer, 4. Aufl. 1922. Kelsen, Hans: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2., um eine Vorrede vermehrte Aufl., Tübingen 1923. - Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Wien 1960. - Allgemeine Theorie der Normen, im Auftrag des Hans-Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß herausgegeben von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1979. Klaus, Georg: „Assoziation" in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl., Berlin 1975. König, René: Institution, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, umgearbeitete und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1967, S. 142-148. Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987. Krawietz, Werner: Artikel „Körperschaft" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1101 -1134.
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Schrifttumsverzeichnis
- Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis. Eine Untersuchung zum Verhältnis von dogmatischer Rechtswissenschaft und rechtswisenschaftlicher Grundlagenforschung, Wien/New York 1978. - Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte, in: Konrad von Bonin (Hrsg.), Begründungen des Rechts II, Göttingen 1979, S. 57-85. - Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Rechtstheorie Beiheft 2, Berlin 1981, S. 299-335. - Juristische Argumentation und Argumentationstheorien auf dem Prüfstand, in: ders./Robert Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 3 - 8 . - Theoriesubstitution in der Jurisprudenz, in: Dorothea Mayer-Maly/ Peter M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Berlin 1983. - Recht als Regelsystem, Wiebaden 1984. - Rechtssystem als Institution? Über die Grundlagen von Helmut Schelskys sinnkritischer Institutionentheorie, in: Dorothea Mayer-Maly/Ota Weinberger/Michaela Strasser (Hrsg.), Recht als Sinn und Institution, Rechtstheorie Beiheft 6, Berlin 1984, S. 209-243. - Diskussionsbeitrag, in: Recht und Institution. Helmut Schelsky- Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1985, S. 76-77. - Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationalen Symposion Münster 1984, Köln 1986, S. 517-550. - Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, in: Paul Hoffmann/Ulrich Meyer-Cording/Herbert Wiedemann (Hrsg.), Festschrift für Klemens Pleyer zum 65. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München 1986, S. 217-235. - Der soziologische Begriff des Rechts, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 157 — 177. - Legal Norms and Expectations? On Redefining the Concept of Law, in: Aulis Aarnio/ Kaarlo Tuori (eds.), Law, Morality and Discursive Rationality, Helsinki 1989, S. 109-140. - Theorie und Forschungsprogramm menschlicher Rechtserfahrung - Allgemeine Rechtslehre Otto Brusiins, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 1 -37. - What Does It Mean „To Follow An Institutionalized Legal Rule"? On Rereading Wittgenstein and Max Weber, in: Eugene E. Dais/Stig Jorgensen / Alice Erh-Soon Tay (Hrsg.), Konstitutionalismus versus Legalismus? Geltungsgrundlagen des Rechts im demokratischen Verfassungsstaat, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 40, Stuttgart 1991, S. 7-14. - Akzeptanz von Recht und Richterspruch? Geltungsgrundlagen normativer Kommunikation im Bereich des Rechts, in: Werner Hoppe/Werner Krawietz / Martin Schulte (Hrsg.), Zweites Internationales Symposium Münster 1988, Köln/Berlin/Bonn/München 1992, S. 455-519. - Zur Einführung: Neue Sequenzierung der Theoriebildung und Kritik der allgemeinen Theorie sozialer Systeme, in: ders./Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a.M. 1992, S. 1442.
Schrifttumsverzeichnis - Staatliches oder gesellschaftliches Recht? Systemabhängigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssytem Recht, in: ebd., S. 247-301. - Vorwort. Kazimierz Opaleks Rechtstheorie- in internationaler Perspektive betrachtet, in: ders./Jerzy Wroblenski (Hrsg.), Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts. Festgabe für Kazimierz Opalek zum 75. Geburtstag, Berlin 1993, S. V- XX. - Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 24 (1993), S. 81-193. - Dual Concept of the Legal System? The Formal Character of Law from the Perspective of Institutional and Social Systems Theory, in: ders./Neil MacCormick/Georg Henryk von Wright (eds.), Prescriptive Formality and Normative Rationality in Modern Legal Systems, Berlin 1994, S. 43-52. - Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts in den modernen Rechtssystemen, in: Recht und Ideologie. Festschrift für Hermann Klenner, hrsg. von Gerhard Haney, Werner Maihofer und Gerhard Sprenger, Freiburg /Berlin 1996, S. 104-139. - Rechtssysteme und Rechtstheorien im Widerstreit - Dialog der Kulturen oder Clash of Civilizations? In: ders./Gert Riechers/Klaus Veddeler (Hrsg.), Konvergenz oder Konfrontation? Transformationen kultureller Identität in den Rechtssystemen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 1 - 4 . - Are There »Collective Agents4 in Modern Legal Systems? An Institutional and Systems Theoretical Puzzle in Recent Theories of Norms and Action, in: Georg Meggle et al. (eds.), Actions, Norms, Values. Discussions with Georg Henrik von Wright, Berlin/New York 1999, S. 273-278. - In memoriam Niklas Luhmann (1927-1998)- Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Associations, Volume 3, Number 1, Berlin 1999, S. 3 -11. Kriele, Martin: Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1979. Krebs, Walter: Positives Recht versus Naturrecht? In: Anselm Hertz/Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1978, S. 300-311. Kroeschell, Karl: Artikel „Einung", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, hrsg. von Adalbert Erler, Berlin 1971, Sp. 910-911. Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6., neu bearb. Aufl., Berlin / Heidelberg/New York u. a. (1960) 1991. Leontovitsch, Victor: Die Theorie der Institution bei Maurice Hauriou, in: Roman Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 176-264. Llewellyn, Karl L.: The Constitution as Institution, in: Columbia Law Review 34 (1934), S. 1 -40. - The Normative, the Legal and the Law-Jobs, in: The Yale Law Journal 49 (1949), S. 1355-1400. Löwe, Walter: Der Rechtsbegriff der Person, in: Evangelisches Staatslexikon, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 1803-1806. Luhmann, Niklas: Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. - Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politische Soziologie, Berlin 1965. 11 Simon
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Schrifttumsverzeichnis
- Gesellschaftliche Organisation, in: Thomas Ellwein/Hans-Hermann Groothoff u. a. (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliches Handbuch, 1. Bd., Berlin 1969, S. 387-407. - Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt 20 (1969), S. 28-48. - Funktion und Kausalität, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, 3. Aufl., Opladen 1972, S. 9 - 3 0 . - Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt a. M. 1973. - Institutionalisierung- Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, 2. Aufl., Düsseldorf 1973, S. 27-41. - Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 9-20. - Die Weltgesellschaft, in: ebd., S. 51 - 71. - Interpénétration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977), S. 62-76. - Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, S. 11 -34. - Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981. - Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ebd., S. 35-51. - Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung? In: ebd., S. 7 3 91. - Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 198-227. - Rechtssoziologie, 2., erweiterte Aufl., Opladen 1983. - Die Soziologie und der Mensch, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 25 (1985), S. 33-41. - Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt a. M. 1986. - Die Codierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 17 (1986), S. 171 -203. - „Distinctions directrices". Über Codierung von Semantiken und Systemen, in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 13-31. - Was ist Kommunikation? In: Information Philosophie 1987, S. 4 -16. - Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 2. Aufl., Opladen 1988. - Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988. - Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988.
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- Wie ist Bewußtsein an Kommunkation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, S. 884-905. - Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990. - Über systemtheoretische Grundlagen der Gesellschaftstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38 (1990), S. 277-284. - Die Universität als organisierte Organisation, in: ders., Universität als Milieu. Kleine Schriften, hrsg. von André Kieserling, Bielefeld 1992, S. 90-99. MacCormick, Donald Neil: Das Recht als institutionelle Tatsache, in: ders./Ota Weinberger. Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 76-107. Merkl, Adolf Julius: Gesammelte Werke aus dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, Bd. 2, Wien 1890. - Holtzendorffs Enzyklopädie, Bd. 1,5. Aufl., Wien 1892. Moore, George Edward: Principica Etilica, Cambridge 1922. Müller, Friedrich: Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz, Berlin 1965. Namasky, Hans: Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl., Einsiedeln 1948. Nipperdey, Thomas: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. Und frühen 19. Jhdt. Eine Fallstudie zur Modernisierung I (1972), wieder abgedruckt in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Göttingen 1976, S. 174 - 205. Oexle, Otto Gerhard: Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, hrsg. von Hans Patze, 118. Jahrgang, Göttingen 1982. - Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der Historismus-Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Historische Zeitschrift 238, München 1984, S. 17-55. - Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (lus Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte) Sonderheft 30, Frankfurt a. M. 1987, S. 87-91. - Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelater, Historische Zeitschrift, hrsg. von Lothar Gall, Beihefte Bd. 17, München 1994. Ott, Walter: Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 1992. Parsons, Talcott: Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Hrsg. und übersetzt von Harald Wenzel, Frankfurt a. M. 1986. Peukert, Detlef J. K.: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989. Pietilä, Kauko / Sondermann, Klaus: Torn between Society and Individual, in: Associations, Journal for Social and Legal Theory, Volume 1, Number 1, Berlin 1997, S. 11-25. Popper, Karl R JEccles, John. C.: Das Ich und sein Gehirn, 8. Aufl., München/Zürich 1989. Pufendorf, u*
Samuel: De iure naturae et gentium libri octo, Frankfurt/Leipzig 1744.
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Schrifttumsverzeichnis
Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, 3., ganz neubearb. und stark verm. Aufl., Leipzig 1932. - Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl., hrsg. Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, Stuttgart 1973, S. 339-350. Raiser, Thomas: Rechtssoziologie, Frankfurt a. M. 1987. Reibstein, Ernst: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen der Ideengeschichte des Rechtsstaats und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955. Renard, Georges: La Théorie de l'Institution. Essai dantologie juridique, Paris 1930. Rickert, Heinrich: System der Philosophie (Bd. 1: Allgemeine Grundlegung der Philosophie), Tübingen, 1921. Riechers, Gert: Rechtssystem als normative Struktur und sozietaler Prozeß. Anforderungen an eine Theorie der Positivität des Rechts, in: Rechtstheorie 29 (Huntington-Sonderheft), 1998, S. 497-565. Riezler, Erwin: Das Rechtsgefühl, 2., umgearbeitete Aufl., München 1946. Romano, Santi: Die Rechtsordnung, hrsg. von Roman Schnur, Berlin 1975. Rüthers, Bernd: „Institutionelles Rechtsdenken" im Wandel der Verfassungsepochen. Ein Beitrag zur politisch-kritischen Funktion der Rechtswissenschaft, Bad Homburg v. d. W. / Berlin/Zürich 1970. Sack, Peter: ,Law\ Normativity and „Power-Conferring Rules", in: Aulis Aarnio/Stanley L. Paulson/Ota Weinberger/Georg Henry von Wright /Dieter Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993, S. 749-759. Savigny, Carl von: System des heutigen Römischen Rechts 1, Bad Homburg 1849. Schelsky, Helmut: Schellings Philosophie des Willens und der Existenz, in: Gotthardt Günther/Helmut Schelsky, Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewußtseins, Leipzig 1937, S. 47-108. - Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland (zu René König: Materialien zur Soziologie der Familie), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie 2 (1949/50), S. 218-247. - Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf / Köln 1965. - Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema, in: ebd., S. 33-55. - Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ebd., S. 250-275. - Religionssoziologie und Theologie, in: ebd., S. 276-293. - Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ebd., S. 439-480. - Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, 3. Aufl., Düsseldorf/Köln 1967. - Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 5., unveränderte Aufl., Stuttgart 1967.
Schrifttumsverzeichnis - Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, ungekürzte Taschenbuchausgabe, München 1977. - Die Soziologen und das Recht, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 1 -21. - Die juridische Rationalität, in: ebd., S. 34-76. - Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: ebd., S. 147-86. - Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag, in: ebd., S. 147-186. - Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ebd., S. 215-231. - Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979. - Die Erfahrungen vom Menschen. Was ich von Bürger-Prinz gelernt habe, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 24. Jahr, Tübingen 1979, S. 203-217; auch in: ders., Rückblicke eines Anti-Soziologen, Opladen 1981, S. 109-126. - Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980. - Politik und Publizität, Stuttgart-Degerloch 1983. Schemann, Andreas: Strukturelle Kopplung. Zur Festlegung und normativen Bindung offener Möglichkeiten sozialen Handelns, in: Werner Krawietz /Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a. M. 1992, S. 215-229. Schmoelz, Franz Martin: Das Naturrecht in der politischen Theorie, Salzburg 1963. Schnabel, Franz: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1954. Schnur, Roman: Einleitung, in: ders., Institution und Recht, Darmstadt 1968. Schreiber, Hans-Ludwig: Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte. Mit einem Vorwort von Hans Welzel, Berlin 1966. Schröder, Rainer: Kulturelle Identität von Recht und Staat? Kritische Anmerkungen zur Normen- und Kulturtheorie des Rechts, in: Rechtstheorie 29 (Huntington-Sonderheft), 1998, S. 441 -453. - Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers. Kritik eines institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 2000. Scupin, Hans Ulrich: Vorwort, in: Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jhdts. Hrsg. von dems./ Ulrich Scheuer, bearbeitet von Dieter Wyduckel, 1. Halbband, Berlin 1973. Searle, John R.: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969. Shuman, Samuel J.: Sprachanalytische Philosophie. Legal Positivism. Its Scope and Limitations, Detroit, Mich., 1963. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (Gesammelte Werke, Bd. 1), 6. Aufl., Berlin 1958.
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Schrifttumsverzeichnis
- Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesammelte Werke, Bd. 2), 4. Aufl., Berlin 1958. - Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur, in: ders.: Schriften zur Soziologie, hrsg. und eingeleitet von Heinz Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, S. 95-128. - Das Geld in der modernen Kultur, in: ebd. S. 78-94. - Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), 4. Aufl., Berlin 1984. Simpson, James A. / Weiner, Edmund S. C. (eds.): The Oxford English Dictionary, 2 n d edition, Volume XV, Oxford 1989. Smend, Rudolf: Das Problem der Institution und der Staat, in: ders.:, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze. 2., erweiterte Aufl., Berlin 1968, S. 500-516. Smid, Stefan: Soziale Evolution und Rationalität. Bemerkungen zu N. Luhmanns Grundlegung einer allgemeinen Theorie, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 429-457. Solms, Max Graf: Der Einzelmensch im Schnittpunkt verschiedener sozialer Kreise, in: Jürgen von Kempski (Hrsg.), Studien zur Soziologie. Festgabe für Leopold von Wiese, I. Band, Mainz 1961. Sombart, Werner: Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin-Charlottenburg 1938. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes Bd. II. Welthistorische Perspektiven: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1922. Stahl, Friedrich Julius: Die Philosophie des Rechts 2/2,4. Aufl., Tübingen 1870 Stammler, Rudolf: Theorie der Rechtswissenschaft, Halle a. d. S., 1911. - Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1923. Stein, Ludwig von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts, Berlin 1870. Stone, Julius: Two Theories of „The Institution", in: Ralph A. Newman (ed.), Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound, Indianapolis/New York 1962, S. 296-338. - Die Abhängigkeit des Rechts: Die Institutionenlehre, in: Roman Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 312-369. Strauss, Leo: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1950. Summers, Robert S.: Pragmatic Instrumentalism and American Legal Theory, Rechtstheorie 13 (1982), S. 257-268. - Pragmatischer Instrumentalismus und amerikanische Rechtstheorie, Freiburg 1983. Tonnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, Abhandlungen des Communismus und Sozialismus als empirische Culturformen, Leipzig 1887. - Zur Einleitung in die Soziologie, in: ders., Soziologische Studien und Kritiken 1, Jena 1925, S. 65-71. - „Gemeinschaft und Gesellschaft", in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie 1931, S. 180-191.
Schrifttumsverzeichnis - Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Nachdruck der 8. Aufl. 1935, Darmstadt 1972. Torrance , Thomas F.: Juridicial Law and Physical Law, Edinburgh 1982. Tuori, Kaarlo: Interests and the Legitimacy of Law, in: Aulis Aarnio/Stanley L. Paulson/ Ota Weinberger /Georg Henry von Wright /Ernst Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1993, S. 625 - 640. Udéhin, Lars: Twenty-Five Years with the Logic of Collective Action. Acta Sociologica, Journal of the Scandianvian Association Oslo, 36 (3), S. 239-261. Veddeler, Klaus: Rechtsnorm und Rechtssystem in René Königs Normen- und Kulturtheorie, Berlin 1999. Vickers,
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Schrifttumsverzeichnis
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