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German Pages [568] Year 1997
bôhlauWien
LITERATUR IN DER GESCHICHTE GESCHICHTE IN DER LITERATUR In Verbindung mit Claudio Magris herausgegeben von Klaus Amann und Friedbert Aspetsberger Band 42
Konstaiize FLIEDL
ARTHUR SCHNITZLER POETIK DER ERINNERUNG
BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Umschlagabbildung: Arthur Schnitzler, © Deutsches Literaturarchiv Umsschlaggestaltung: Bernhard Kollmann
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler : Poetik der Erinneruung / Konstanze Fliedl. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1997 (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur ; Bd. 42) ISBN 3-205-98779-9
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
© 1997 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG Wien · Köln • Weimar Satz: Vogel Medien GmbH, A-2102 Bisamberg Druck: Manz, Wien
Inhalt VORBEMERKUNG ERSTER TEIL EINLEITUNG: KRITIK UND KRISE DES GEDÄCHTNISSES 1. „Vergessen hab'ich's eben nicht": Anna gegen Anatol 2. Zu viel Gedächtnis und zu wenig: Memoria und Moderne 3. Rettende Einfälle. Zur zeitgenössischen Debatte 4. Analyse und Anamnese: Freud und Schnitzler 5. Zur Fabrikation von Vergeßlichkeit: Kunst als Ware 6. „Nie dran vergessen": Jüdische Mnemotechnik 7. Auf der Suche nach der Erinnerung: Zur Problemstellung ZWEITER TEIL VERGESSEN UND ERINNERN. TRIVIALLITERATUR UND KUNST 1. Vergeßliche Verse. Schnitzlers lyrische Anfänge A. Am Ursprung des Jungen Wien: Die .Schöne Blaue Donau' B. ,Der widerspänstige Pegasus'. Lyrik im Familienblatt C. Schnitzlers Gedichte: Poesie und Pose 2. Geschichtsdrama und Historismus A. Fassadenkunststücke. Das Burgtheater in der Gründerzeit B. Historische Skepsis. .Paracelsus' und ,Der grüne Kakadu' C. Moderne Renaissance. .Beatrice' und .Die Frau mit dem Dolche' D. Patriotische Geschichte. .Medardus' und .Der Gang zum Weiher' 3. Exkurs: Das Weib und das Vergessen A. „Daß Frauen ein schlechtes Gedächtnis haben . . . " B. Am Pflock des Augenblicks: Schopenhauer - Nietzsche - Weininger C. „Ich erinnere mich nicht mehr": Die Schauspielerin
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51 53 53 61 65 79 81 87 95 108 138 139 142 147
D. „Du warst ganz vergessen": Beatrice und ihre Schwestern 4. Die Schule der Frauen A. Damenlektüre und Frauenroman B. Das Einsetzen der Erinnerung. Drei Fallgeschichten a. Berta G b. Beate H c. Therese F. C. Kunst und Kontinuität a. . . . nach alten Niederländern: Genre und Geschichte b. Zum Andenken: Richard, Cyrano, Hamlet c. Entrückte Bilder D. Lesezeichen. Die Knoten im Taschentuch
154 171 171 175 175 179 183 186 187 190 194 197
DRITTER TEIL POLITIK UND GEDÄCHTNIS „DER WEG INS FREIE" UND „PROFESSOR BERNHARDI" 1. „Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich": Georg und die Juden A. „Wenn ich dein vergesse, Jerusalem": Zur Entstehung B. Diskrete Mementi: Zur Struktur C. „Sie stört nicht unnützes Erinnern": Zur Rezeption 2. „Donnerwetter, du hast ein gutes Gedächtnis": Bernhardi und der Minister A. Affairen und Amnesien: Zur Entstehung B. Populist und Privatmann: Zur Struktur C. „Bedenkend, dass ich ein Jude bin": Zur Rezeption
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VIERTER TEIL DENKMÄLER DES LEBENS 1. Aula memoriae: Das Tagebuch A. Rhetorische Stenogramme a. Metapher b. Exclamatio c. Dubitatio d. Conduplicatio
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Β. Der Diarist und seine Zeit a. Die Vergangenheit: Literarische Tagebuchfiktionen b. Die Zukunft: .Weissagungen' C. Lehrbuch der Erinnerung (drei Lektionen) 2. Jugend in Wien': Archäologie des Ich A. Impressionismus und Autobiographie B. Ich als Subjekt: Der Solipsismus C. Ich als Objekt: Die Geschichte D. Das Aussetzen der Erinnerung 3. Typologie und Kontinuität: ,Der Geist im Wort' A. Metaphysische Charakterkunde B. Gedächtnis im Diagramm: Der Sefirothbaum C. Dichter und Historiker (In memoriam Jacob Burckhardt) FÜNFTER TEIL ZEITGENOSSENSCHAFT 1. Vergeßlichkeit. Eine Begabung - Hermann Bahr A. .Himmelfahrt' - das gerettete Ich a. Der Schauspieler b. Der häßliche Künstler c. Eine österreichische Comédie humaine d. Rückkehr nach Salzburg: Eine Bekehrung e. Ich als-ob - Gott als-ob B. Antisemitismus - eine Enquete a. Vom Kieselak zum Kombattant - und zurück b. Das lästige Gedächtnis: Judentum und Aufklärung c. .Die Rotte Korahs' d. .Die Schwestern' und .Österreich in Ewigkeit' 2. „Erinnerung, Er-innerung, Hineingehen in sich selber": Hugo von Hofmannsthal A. Das Problem B. In schönster Ordnung C. Unordnung und frühes Leid: Elektra und Andreas D. Das böse Gesicht 3. „Erinnerung, so heißt mein Erbe": Richard Beer-Hofmann A. Un souvenir de famille: Kinder und Väter B. Gedächtnisträume
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SECHSTER TEIL WERK UND WIDERHALL 1. Der Fall Theodor Reik A. Der Detektiv B. Das Verbrechen C. Das Geständnis D. Die Schuld 2. Der Fall Josef Körner 3. Der Fall der Literaturgeschichte A. Noch einmal: ,Die Rotte Korahs' B. Zirkelschlüsse C. Zirkelbildungen D. Literaturhistorische Lesarten: Nadler - Bartels - Kainz E. Germanistischer Gedächtnisschwund
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Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Register
501 503 563
Vorbemerkung Im Jahr 1966 erschien ein Buch, dem alle neueren Diskussionen über das Gedächtnis dankbar verpflichtet sind. In ,The Art of Memory' hob Frances A. Yates die vergessenen Schätze der Gedächtniskunst wieder ans Licht und breitete aus, was von der Antike bis zur Renaissance geübt worden war: wie man sich erinnern kann. Fasziniert von den Techniken der ars memorativa, will sich Francés A. Yates trotzdem nie auf entsprechende Selbstversuche eingelassen haben: „I have never attempted to do so myself". 1 Dreißig Jahre später kam zum 60. Geburtstag des schwedischen Romanciers Lars Gustafsson die deutschsprachige Ausgabe seines autobiographischen Prosabandes heraus; der Titel lautet: .Palast der Erinnerung'. Auch Gustafsson hat aus Yates' großer Studie geschöpft. Für den Autor ist die Frage, wie man sich erinnert, allerdings eine Frage der Praxis, und daher kann Gustafsson nicht umhin, Francés Yates' kategorisches Dementi mit leiser Skepsis zu kommentieren: Es erscheint einem sonderbar, daß eine Geisteswissenschaftlerin, die einen Großteil ihres Lebens mit diesem Thema verbracht hat, nie die unwiderstehliche Versuchung empfunden hat, es selbst auszuprobieren. Oder gibt es da eine Angst? Wovor? Etwa davor, Dinge zu finden, die wir nicht hineingestellt haben, in verborgenen Winkeln? [ . . . ] Gestern abend, kurz vor dem Einschlafen, habe ich mir einen Palast der Erinnerung konstruiert. Ich versichere, es hat nicht länger als fünf Minuten gedauert. 2
Wer ein so geschwinder Baumeister ist, darf sich auch ein ironisch-produktives Mißverständnis leisten: Die Techniken der Gedächtniskunst galten, natürlich, dem Einprägen von Gedächtnisinhalten, sie begleiten eben nicht automatisch das Erinnern. Und die loci, die Orte, an denen man die Dinge wiederfindet, sind künstliche Topoi, keineswegs etwa die realen Schauplätze der Kindheit. Gustafssons kleiner (und schneller) Trick, die Gedächtniskunst zu aktualisieren, stellt aber nur den Vorsprung ein, den die Literatur in Sachen Erinnerung immer schon besaß. Die Geisteswissenschaft kann nur langsam nachzeichnen, welche Wege ein Schriftsteller durch die Räume des kulturellen Gedächtnisses eingeschlagen hat. Sie kann sich von seinem Werk aber ihrerseits erinnern lassen. Sie könnte, ihm gegenüber, dann auch eine Dankesschuld abzutragen versuchen: eine Dankesschuld, die darin besteht, daß die Geisteswissenschaften auf den Gedächtnisspeicher Literatur angewiesen sind.
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Vorbemerkung
Die deutsche Literaturwissenschaft hat bekanntlich ihre eigenen Gedächtnisprobleme und ihre Ängste, wiederzuentdecken, „was sie nicht hineingestellt hat". In eine solche Erinnerungslücke fiel lange Zeit das Werk Arthur Schnitzlers, eine Tatsache, die angesichts seiner späteren Konjunktur auch schon fast wieder vergessen ist. Die Arbeit dieses Autors, die man, ebenfalls lange Zeit, nur als Diagnose der heiter-elegischen Wiener Amnesie merkwürdig fand, handelt aber mit einer Beharrlichkeit sondergleichen immer wieder von dem einen: wie man sich erinnern kann. Die Wege, die Schnitzler gegangen ist, sind keineswegs triumphal, jedenfalls führten sie nicht an Ringstraßenpalästen der Erinnerung vorbei. Mitunter waren sie mühsam und wenig aussichtsreich. Sie haben Gemeinplätze vermieden und Tabuzonen berührt, was dem Autor bei Kritik und Publikum vielfach gar nicht gut bekommen ist. Geht man ihnen nach, sollte sich allerdings eines verbieten: die Erinnerungszeichen, die Schnitzler hinterlassen hat, als nostalgische Souvenirs mißzuverstehen. Sie sind, ganz im Gegenteil, harte Denksteine. Die vorliegende Studie ist ein Versuch, einigen von Schnitzlers Wegen langsam - zu folgen. Praktisch wurde dieser Versuch insofern, als er das Vertrauen in die eigene Merkfähigkeit mehr als einmal nachhaltig erschüttert hat. Daher gilt mein Dank allen, die mir beim Erinnern geholfen haben, ganz besonders Peter Braunwarth (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien), Juliane Vogel (Germanistisches Institut der Universität Wien) und Jutta Bendt (Deutsches Literaturarchiv, Marbach). Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Institutionen, deren Quellen ich benützen durfte, vor allem jener, die Schnitzlers Nachlaß aufbewahren: der University Library in Cambridge, des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und der University Library in Exeter. Von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde meine Untersuchung mit einem APARTStipendium gefördert; diese Unterstützung werde ich nicht vergessen. Professor Werner Welzig, Herausgeber der Schnitzler-Tagebücher, hat nicht nur die Entstehung der einzelnen Kapitel mit kritischen Erinnerungen begleitet, sondern auch vor vielen Jahren meine Beschäftigung mit Schnitzler angeregt - dafür sei ihm herzlich gedankt. Die Arbeit widme ich dem, der meine private Mnemotechnik auf dem laufenden hält, meinem Sohn.
Vorbemerkung
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Anmerkungen 1 Frances A. Yates: The Art of Memory. Chicago: The University of Chicago Press 1966, S. 3. 2 Lars Gustafsson: Palast der Erinnerung [iis. ν. Verena Reichel]. München: Hanser 1996, S. 12.
ERSTER TEIL EINLEITUNG: KRITIK UND K R I S E DES GEDÄCHTNISSES
We moderns who have no memories at all . . . (Frances A. Yates, The Art of Memory)
1. „Vergessen hab' ich's eben nicht": Anna gegen Anatol Anna Meinhold ist Schauspielerin und lebt seit langer Zeit von ihrem Mann getrennt. Mit der „längst vergangenen Geschichte" seiner Untreue, so erzählt sie es Genia Hofreiter in Arthur Schnitzlers .Weitem Land' (1911), hängt sie nicht mehr durch Schmerz, sondern durch Erinnerung zusammen: Nur - vergessen hab' ich's eben nicht . . . das ist alles. Mehr sag' ich auch nicht. Aber denken Sie nur, wieviel habe ich seither vergessen! Heitres und Trauriges . . . vergessen - als wäre es nie gewesen! Und gerade das, was mir vor mehr als zwanzig Jahren mein Mann angetan hat, nicht! . . . So muß es doch wohl was bedeutet haben! Ohne Groll, ohne Schmerz denk' ich dran - ich weiß es eben nur - das ist alles! Aber ich weiß es, wie am ersten Tag - gerade so klar, so fest - so unwidersprechlich - (D 11,258)
Mit diesen Sätzen gibt Anna nicht nur ein Stück ihrer Geschichte preis, sondern auch eine geheime Gruppenzugehörigkeit. Denn in Arthur Schnitzlers Werken steckt hinter allen agonalen Konflikten noch eine verdeckte Figurenopposition. Das weite Land der Seele ist bei manchen enger. Was die einen von den anderen trennt, ist die Fähigkeit zur Erinnerung. Der Gegensatz zwischen Vergessen und Erinnern bestimmt ihr Denken und Handeln, mehr noch, ihre Identität, die eben nur im Gedächtnis Zustandekommen kann. Dabei geht es nicht um den kruden Befund, daß sich der eine etwas merkt und der andere nicht. Anna behauptet ja auch gar nicht, in jedem Fall ein phänomenales Gedächtnis zu haben - „wieviel habe ich seither vergessen!" Was sie reflektiert, ist die Auswahl, welche die Erinnerung trifft, eine Auswahl, die offensichtlich hermeneutisch ergiebig ist: „So muß es doch wohl was bedeutet haben!" Der Schmerz, den Anna für die Gegenwart dementiert, ist jedenfalls die vergangene Ursache für die Tiefe dieser einen Gedächtnisspur, die in zwanzig Jahren nicht gelöscht werden konnte. Anna gehört zu jenen Figuren, die Schnitzler um den Preis schmerzhafter Erfahrung mit einer solchen Geheimschrift der Erinnerung bezeichnet - und ausgezeichnet hat.
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Populärer als Anna und ihresgleichen sind allerdings ihre Gegenspieler geworden, Schnitzlers frivole oder melancholische Vergeßliche. Die Nummer Eins unter den Gedächtnisschwachen ist Anatol (1893), der das Vergessen programmatisch betreibt. Elegisch stilisiert er sich zum Sprecher einer empfindsamen Generation, die vom Druck der Vergangenheit gleichsam Migräne bekommt. Diesen Phantomschmerz versucht er durch eine Art Zeitnarkose zu mildern: Leben soll nicht als Dauer erfahren, sondern als eine Reihe erfüllter Augenblicke inszeniert werden. Nervös bemüht sich Anatol daher, die Last des Vergangenen zu entsorgen: „darum löse ich mich von der Vergangenheit los", sagt er in der .Episode', in den .Denksteinen' will er „alles Vergangene getilgt" wissen, noch in der .Agonie' muß er sich vor den „schmerzlichen Düften" des Gewesenen „retten" (D 1,51,63,83). Was Anatol als noble Distinktion affektiert, eine herrschaftliche Amnesie, die das totale Verfügungsrecht über die Gegenwart sicherstellen soll, holt seinen Nachfolger, den Leutnant Gusti (1900), als banale Vergeßlichkeit ein. Ein „intellektueller Beiseitesteher" (J. Nestroy), ein Dummer August der Mittelmäßigkeit, stößt Gusti immerfort an die Schranken seiner Assoziationsfähigkeit, also seines Gedächtnisses, obwohl er sich damit redlich plagt: „Wie hat sie nur geheißen?", „wie heißt er denn nur?", „Wenn ich mich nur erinnern könnt'", „Bin ich denn wahnsinnig, daß ich das immer vergeß'?" (E 1,338,341,349f.). Willentlich und unwillentlich vertreten Anatol und Gusti zwei Spielarten des Vergessens, absichtlich und unabsichtlich präsentieren sie ein Bewußtsein, das keine Kontinuität kennt oder kennen möchte. Dafür sind sie aber berühmt geworden: Sie durften ihre Fixierung aufs Augenblickliche, auf den erinnerungslosen Moment dramatisch im Einakter, narrativ im Inneren Monolog vorführen. Beide Darstellungstechniken gelten weithin als Ausweis von Schnitzlers Modernität, als literarhistorischer Innovationsschub. Im Zerfalls- und Episierungsprozeß des „absoluten Dramas" (Peter Szondi) machen Schnitzlers Einakter oder Einakter-Zyklen als gelungenes Krisenmanagement Epoche: Die Fragmentierung der großen dramatischen Form erscheint als kongenialer Ausdruck für die gesellschaftliche Partialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die subjektiv als mentale „Zersplitterung" erlebt wird. Der Innere Monolog wiederum soll die augenblicklichen Reiz-Reaktions-Mechanismen dieses Bewußtseins vor der ordnenden Zensur, vor der rationalen Kontrolle abbilden. Sofern Schnitzlers Texte eine solche psychische Aktualität darstellen, werden sie ihrerseits als aktuelle gewürdigt. Der Autor Schnitzler ist kanonisiert für seine präzise Diagnose einer Wahrnehmungs- und Bewußt-
1. „Vergessen hab' ich's eben nicht": Anna gegen Anatol
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seinskrise, deren merkwürdigste Symptome Fungibilität, Diskontinuität, Momenthaftigkeit sind - also: Vergeßlichkeit. Wo bleibt Anna - oder ihre Schwester im Geist, Irene Harms, ebenfalls Schauspielerin, die im .Einsamen Weg' (1904) einzig und allein deswegen auftritt, um den vergeßlichen Julian aus der Anatol-Gustl-Verwandtschaft zu erinnern: JULIAN IRENE JULIAN IRENE
[ . . . ] Warum sprichst du wieder von allen diesen vergessenen Vergessenen? - Vergangenen Dingen? Vergangen sind sie freilich. (D 1,790)
Solche Konfrontationen zwischen den Figuren zeigen indirekt das Paradox an, in das die Literatur der Moderne mit dem Gegensatz von Erinnerung und Vergessen gerät. Denn einerseits handelt sie von nichts anderem, ist nichts anderes als Erinnerung. Der ehrwürdige Topos von Mnemosyne, der Mutter der Musen, wird im 19. Jahrhundert zusehends nach innen verlegt. Dichtung war immer schon Gedächtnis - Halle, Saal, Schatzhaus, Speicher, Hort, Archiv, Bibliothek, Museum der Vergangenheit, ein Ort, wo das Wissen und die Erfahrungen früherer Generationen bewahrt sind. Mit der Statik dieser Gedächtnisbilder konkurrieren die dynamische Metaphern der Einschreibung, des Aufzeichnens, welche die Moderne als subjektive Vorgänge der Speicherung und des Abrufens literarisch abbildet. 1 „Erinnerung" heißt jetzt der poetologische Prozeß, den die Texte selbst betreiben. 2 Indem die Literatur Funktionen der Thesaurierung an die neuen technischen Einrichtungen zur Datenspeicherung abgeben kann, radikalisiert sich der Subjektivitätsanspruch der Erinnerung; sie wird zur Inspiration, zum Motiv und zum Ziel des Schreibens. 3 Und daher singt die Literatur der Moderne das Lob des Gedächtnisses, inständiger, als es der alte Musenanruf je getan hat. Ihre Erfindungskraft scheint mit dem Erinnerungsvermögen zu verschmelzen: 4 Imagination sei Gedächtnis, hat James Joyce gesagt.5 Mehr noch: Marcel Proust fragte sich, ob unsere Erinnerungen für uns nicht selbst eine „Art von Kunstwerk" seien, das kein noch so großer Künstler nachzuschaffen wüßte. 6 Literatur imitiert also nicht mehr „Wirklichkeit", sondern Erinnerung, und selbst wenn jeder realisierte Text hinter der phantastischen Potentialität des Gedächtnisses zurückbleiben sollte, so macht doch die Fähigkeit, sich zu erinnern, den Schriftsteller aus. Gedächtnisverlust und schwindende Merkkraft kommen der künstlerischen Impotenz gleich - daher die unzähligen Beschwörungen des
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Gedächtnisses, daher die Flut der Erinnerungsübungen in Tagebüchern und autobiographischen Schriften. Um die großen europäischen Beispiele durch bescheidenere Belege aus dem Umkreis der Wiener Moderne zu ergänzen: Fast rührend ist das Pathos, mit dem Siegfried Trebitsch am Eingang seiner Lebensbeschreibung den Musenanruf abwandelt - „Jetzt aber kommt heran, Erinnerungen, und seid mir gnädig". 7 Stefan Zweigs veröffentlichte Tagebücher beginnen mit einem für die diaristische Literatur typischen Appell an die eigene Disziplin, die täglichen Aufzeichnungen durchzuhalten, denn: Der Grund - ich spürte gerade im Wiederlesen eines Früheren, wie matt, wie gefährlich, wie krankhaft matt mein Gedächtnis geworden ist. Dinge, die dort mit allen Zeichen inneren Erlebens geschrieben sind, Worte sind sie nur, fremdes Vergessenes und, wie tief ich auch in mein Erinnern grabe, ich finde für diese Menschen keine Gesichter mehr.8
Eine solche Vergeßlichkeit unterminiert aber die kreativen Fähigkeiten, und daher wird die Erhaltung der Erinnerungskraft lebenswichtig. Raoul Auernheimer hat das bestätigt, in einem Axiom, das sich von Joyces Satz nur wenig unterscheidet: „Alle poetische Erfindung beruht auf Gedächt-
2. Zu viel Gedächtnis und zu wenig: Memoria und Moderne10 Solche poetologische Hochschätzung der Erinnerung steht aber in paradoxem Gegensatz zu dem, was die Literatur an zeitgenössischer Erfahrung registriert und reflektiert. Wie ist mit einer Strategie der Erinnerung noch zu fassen, was die Epoche charakterisierte - eine überwältigende Beschleunigung von Wahrnehmungsprozessen, eine quälende Fungibilität aller Sinneseindrücke? Oder, in den Worten Alessandro Cavallis: „Wie wird Gedächtnis unter den Bedingungen der Moderne erzeugt, d.h. in einer Welt, die als eine vorübergehende, flüchtige und kontingente verstanden wird?"11 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehren sich die Symptome jener Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise, die keineswegs nur Akzidens der Moderne ist, sondern wohl ihre Bedingung. Modernitätsschübe setzen als Erschütterungen ein, und erschüttert ist, so nimmt es die urbane Intelligenz europaweit wahr, eine mentale Befindlichkeit, die habituell auf soziopsychologischen Kontinuitäten beruhte. Die radikalen und mitunter katastrophisch empfundenen Kontinuitätsbrüche des 19. Jahrhunderts, seien sie technischer, wissenschaftlicher, ökonomischer, politischer, sozialer oder gesellschaftlicher Natur, werden zugleich als subjektiv-psychische Irritationen manifest. Solche empfindlichen Rupturen von Alltagsgewohnheiten und kulturellen Traditionen bedeuten aber immer auch eines: Sie sind massive Verletzungen der kollektiven Erinnerung. Dinge wie Menschen verlieren buchstäblich das Gedächtnis: Trug jeder Gebrauchsgegenstand, vererbt und weitergegeben, zuvor die Spuren einer Geschichte, die weit hinter seine gegenwärtige Verwendung zurückging, so löscht der Warencharakter der Konsumgüter eine solche latente Erinnerung unwiderruflich aus. War die Familientradition an Haus und Grund, an Feste, Bräuche und die selbstverständliche Zusammengehörigkeit der Verwandtschaft gebunden, so sistiert die soziale Mobilität das Generationengedächtnis. Die Krise der Moderne ist daher, vor allem anderen, eine Krise der Erinnerung}2 Ein akutes Krisensymptom, von geradezu verzweifelten Ausmaßen, ist Angst. Die Panik, sich nicht mehr erinnern zu können, wird als individuelle Reaktion auf die kollektive Amnesie immerfort spürbar und motiviert die angestrengtesten Versuche, Gedächtnis zu erhalten: „Suche nach der verlorenen Zeit und Angst vor dem Verlust des Gedächtnisses sind zu unverkennbaren Zeichen der Moderne geworden".13 „Was ist mir alles aus dem
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Gedächtnis entschwunden!" 1 4 Schnitzlers Stoßseufzer gehört in das zeittypische Repertoire der Klagen über das schlechte Gedächtnis, über Erinnerungs- u n d Konzentrationsschwächen, die als subjektives Versagen beängstigen, zugleich aber auch einen objektiven G e d ä c h t n i s s c h w u n d anzeigen. Natürlich ist die Merk- u n d Assoziationsfähigkeit eine durchaus persönliche Gabe, u n d die Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerung mag nicht nur lästig sein, sondern auch heftig schmerzen. Sich selbst bei einer Gedächtnisschwäche zu ertappen, konnte darüber hinaus narzißtisch kränken, seit Otto Weininger das Gedächtnis z u m Prüfstein von Genialität erklärt hatte - Vergeßlichkeit geriet damit in bedrohliche Nähe zur Imbezillität: Da nun die Begabung [. . . ] eines Menschen mit der Artikulation seiner gesamten Erlebnisse wächst, so wird einer, je begabter er ist, desto eher an seine ganze Vergangenheit, an alles, was er je gedacht und getan, gesehen und gehört, empfunden und gefühlt hat, sich erinnern können, mit desto größerer Sicherheit und Lebhaftigkeit wird er alles aus seinem Leben reproduzieren. Das universelle Gedächtnis an alles Erlebte ist darum das sicherste, allgemeinste, am leichtesten zu ergründende Kennzeichen des Genies.15 Mit dieser Phantasie einer absolut perfekten Mnemotechnik versucht Weininger selbstverständlich auch nur, ein verschwindendes Gedächtnis panisch wieder zu beschwören. Sein Totalitätsanspruch antwortet bloß auf die latente Angst vor dem drohenden fading der Erinnerungen. Denn das totale Gedächtnis erzeugt keineswegs Genialität, sondern vielmehr Wahn: „Wer alle Dinge erinnert, vergißt die Ordnung der Welt". 16 Weiningers Genialitätskonzept ist kaum weniger furchterregend als die progressive Amnesie, gegen die es sich richtet, u n d zwar nicht nur deshalb, weil sich der Vergeßliche, glaubt er Weininger, für unbegabt u n d denkschwach zu halten hat, sondern eben weil das Gedächtnis ohne jedes Vergessen eine einzige Qual sein muß. Ohne Selektion funktioniert kein Erinnern. Die Auswahl, welche die Erinnerung trifft, ist aber durchaus nicht nur eine Frage des individuellen Vermögens, sondern wird von Rahmenbedingungen erzeugt, die dem subjektiven Gedächtnis jeweils vorausliegen. Fast ein Vierteljahrhundert n a c h Weininger wird Maurice Halbwachs die Spielregeln des kollektiven Gedächtnisses beschreiben u n d nicht aufhören zu betonen, daß noch die persönlichsten Erinnerungen, selbst die an unausgesprochene Gedanken u n d Gefühle, von bestimmten „cadres sociaux" abhängig sind, welche von außen auferlegt wurden:
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Man kann sich nur unter der Bedingung erinnern, daß m a n den Platz der uns interessierenden vergangenen Ereignisse in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses findet. [ . . . ] Die Gesellschaft stellt sich die Vergangenheit je nach den Umständen und je nach der Zeit in verschiedener Weise vor: sie modifiziert ihre Konventionen. Da sich jedes ihrer Glieder diesen Konventionen beugt, so lenkt es auch seine Erinnerungen in die gleiche Richtung, in der sich das kollektive Gedächtnis entwickelt. 1 7
Deshalb ist das „schlechte Gedächtnis" nicht nur ein je persönliches Versagen. Es könnte vorerst einmal bedeuten, daß sich das individuelle Gedächtnis inkongruent zu den sozialen Rahmen des Erinnerns verhält - und laut Halbwachs' grundsätzlich affirmativer Theorie wäre diese Differenz ein Umstand, der eben hingenommen werden muß, weil das Gedächtnis des Kollektivs sich gut darwinistisch mit dem Recht des Stärkeren behauptet. Anders stellt sich das Problem, wenn das kollektive Gedächtnis selbst zunehmend in die Krise gerät. Was, wenn die „cadres sociaux de la mémoire" eben nicht Erinnerung, sondern Vergeßlichkeit vorsehen, wenn es die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind, die den Gedächtnisschwund produzieren? Dann wäre die Klage übers schlechte Gedächtnis selbst „Erinnerung": das Innewerden eines Verlusts, der vom Kollektivgedächtnis nicht aufgehalten, sondern befördert wird - Grund genug für massive Ängste. Denn was dabei auf dem Spiel steht, ist die Voraussetzung jeder halbwegs intakten Identität, die sich anders nicht gewinnen läßt als durch Erinnerung. „Bin ich denn wahnsinnig, daß ich das immer vergeß'?" - Gustls Frage ist ein hilfloser, aber repräsentativer Ausdruck für die psychischen Turbulenzen, die beim Zusammenbruch der einzigen Orientierungshilfe drohen, die für die Stabilität des Ich sorgen könnte. Auf dem Spiel steht aber auch die Fortexistenz einer Kunst, die, als kulturelles Gedächtnis, zunehmend an Boden verliert. Kunst, immerhin, kann ihre Krise erinnern. Die Literatur des Jungen Wien tut sich hervor, indem sie die Desintegration des Ich penibel diagnostiziert. Daß sie die sozialen Bedingungen des Gedächtnisverlusts nicht außer acht läßt, zeichnet sie aus. Denn der „impressionistische Mensch", dessen Typologie sie entwirft, ist weiß, männlich und bürgerlich, Angehöriger einer peer group, die gerade aufgrund ihrer Privilegien als erste mit dem sozialen Wandel der Gedächtnisbildung konfrontiert ist. „ Anatol" personifiziert jedenfalls eine schichtenspezifische Erfahrung. Trotzdem ist der „Impressionist" natürlich kein empirisches Sozialmodell, 18 sondern eine epistemologische Kunstfigur. In „Anatol" und „Gusti" konzentrieren sich die Reflexe auf die
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Schwierigkeit, das „Ich" noch als Kontinuität zu denken. Die Theorie zur literarischen Praxis eignet sich das Junge Wien allerdings erst nachträglich an: Erst 1904 hat Hermann Bahr Ernst Machs These vom „unrettbaren Ich" volltönend als „Philosophie des Impressionismus" ausgegeben. 19 Schnitzler selbst las ,Die Analyse der Empfindungen' nicht vor Ende September desselben Jahres. 20 Machs Diktum bewährte sich gleichwohl als hermeneutisches Werkzeug für die Analyse von Anatols und Gustls Empfindungen: Schnitzlers Impressionisten verkörpern demnach nichts als dies verlorene Ich. 21 Die Auffassung, das Wort „Ich" bezeichne lediglich eine relative Dichte von Empfindungen, einen bloßen cluster von Impressionen, deren Zusammenhalt den Moment nicht überdauert, verschafft der Alltagserfahrung von „Zersplitterung", von psychischer Heterogenität, nun jedenfalls eine praktikable szientifische Grundlage: Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat aufgehört zu bestehen.22
Wenn das Ich als „reelle Einheit" abgedankt hat, so stellt sich eine brisante Frage: Wo existiert in diesem Modell ein Platz für die Erinnerungen, die Mach bezeichnenderweise in Parenthese setzt? Selbst wenn die Idee einer Lokalisierung von Gedächtnisinhalten aufgegeben wird, so müßte es doch in irgendeiner Weise möglich sein, eine vergangenene Konstellation von Empfindungen zurückzurufen. Eine solche Funktion schließt Machs Axiom im Grunde aus. In der .Analyse der Empfindungen' wird daher, verdeckt, nichts anderes erhoben als die Krise der Erinnerung. Die Konsequenz aus der These vom unrettbaren Ich lautet also unvermeidlich: Das Gedächtnis ist unrettbar. Schnitzlers Impressionisten agieren dieses Problem, allerdings bevor sie Mach gelesen haben. Das kompliziert die Lage, vor allem, weil sie einen anderen Autor mit Sicherheit kennen, wenn vielleicht auch nur aus zweiter oder dritter Hand (vor allem Anatol wäre die Vertrautheit mit dem Skandalphilosophen schon seiner „Pose" schuldig): 23 An Nietzsches zweiter .Unzeitgemäßer Betrachtung' von 1874, ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben', scheint sich ihre Sehnsucht, in der Gegenwart aufzugehen, inspiriert zu haben. Unter Berufung auf Nietzsches Plädoyer
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gegen die lähmende Macht des Vergangenen kann ihresgleichen im Namen des Lebens mit gutem Gewissen vergeßlich sein: Zu allem Handeln gehört Vergessen [ . . . ] . Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben [ . . . ] ; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. 24
Mit der Tat, die Nietzsche meint, hat Schnitzlers Typus wiederum nichts im Sinn; er vulgarisiert sich seinen Nietzsche zurecht. Dessen anti-historistischer Affekt richtet sich aber gegen eine lügnerische und unfruchtbare „Cultur".25 Die Krise der Erinnerung zeigt sich nämlich durchaus von zwei Seiten, sie ist nicht einfach ein undialektischer Prozeß des fortschreitenden Gedächtnisverlusts. Zur Angst, sich nicht mehr erinnern zu können, kommt eine zweite: von der Last akkumulierter historischer Erinnerung schlechterdings erdrückt zu werden. Deshalb treten scheinbar paradoxe Doppelsymptome auf: [ . . . ] at first glance it might appear surprising that a very different mnemonic problem also occasioned anxiety. Difficulties increasingly seemed associated not only with forgetting but with its seeming contrary, with a perverse persistence of recollection. This period was preoccupied by a broad concern with both of these mnemonic problems. Beginning in the early nineteenth century, we could say that disquiet about memory crystallized around the perception of two principal disorders: too little memory, and too much.26
Die Ambiguität des Problems erklärt zweierlei: erstens, warum Schnitzlers Impressionisten nicht einfach mit totalem Gedächtnisschwund herumlaufen und damit zufrieden sind, sondern gleichzeitig angeben, sie seien von der Vergangenheit übermäßig belastet. Anatols affektierte Vorsätze, sich vor ihren „schmerzlichen Düften" in Sicherheit zu bringen, gehört als Kehrseite zur Medaille seiner Vergeßlichkeit. Deshalb kann Max ihn als Hypochonder der Vergangenheit apostrophieren: MAX
Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze schwere Last von unverarbei-
teter Vergangenheit mit sich . . . [ . . . ] Was ist nun die natürliche Folge? - Daß auch um die gesundesten und blühendsten Stunden deines Jetzt ein Duft dieses Moders fließt - und die Atmosphäre deiner Gegenwart unrettbar vergiftet ist. (D 1,83)
Flankiert werden solche Befunde von Hugo von Hofmannsthals Andrea, von Claudio und vom lyrischen Loris-Ich: „Ganz vergessener Völker
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern" (GD 1,26). Was vergessen ist - oder doch vergessen sein sollte - determiniert unausweichlich das Jetzt: Diese Last drückt auf die Lider und verzerrt daher die Optik, so daß die Gegenwart so wahrgenommen wird, als wäre sie schon vergangen. Denn auch dieser seltsame Perfektionismus erklärt sich, zweitens, aus der Zwiespältigkeit des Erinnerungsproblems. Was Schnitzler und Hofmannsthal - als eigene Erfahrung aufzeichnen, was sie auch ihren Helden immerfort unterstellen, nämlich die Empfindung: die Gegenwart sei jeweils schon vorbei, geht auf die bedrohliche Hypertrophie der Erinnerung zurück, die das Präsens völlig verschlingt. Stellvertretend formuliert es Anatol so: „Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber" (D 1,56).27 Diese Helden tun beides: Sie vergessen - und sie erinnern, auch wo es noch gar nichts zu erinnern gibt. Der offenbare Widerspruch führte zu lang anhaltenden Forschungskontroversen, was die Zeiterfahrung von Schnitzlers Figuren betrifft. Einmal wird behauptet, der „Augenblick" sei ihr einziger und hochnotierter psychischer Modus, dann wieder heißt es, der „Augenblick" werde von ihnen entwertet, zerstreut, entrealisiert. 28 Der springende Punkt ist: Beide Parteien haben recht. Argument und Gegenargument bezeichnen die beiden Seiten der Erinnerungskrise. Der Impressionist leidet an Amnesie und an Hypermnesie. Um in den Bildern der Gedächtnismetaphorik zu bleiben: Im 19. Jahrhundert sind die Schatzkammern des kulturellen Gedächtnisses bereits überfüllt. Positivismus und Historismus sind mit Ameisenfleiß dabei, zu plündern, auszustellen und zu vervielfachen, was diese Kammern zu bieten haben. Während hier mehr aufgestapelt wird, als ein einzelnes Gedächtnis, und sei es ein Weiningersches Genie, je behalten könnte, brechen die Orientierungsrahmen, die solche Gedächtnisinhalte dem Individuum vermitteln, zusammen. In den Vokabeln der ars memorativa: Es schwinden die Topoi für die imagines, die Orte, an denen man die Gedächtnisbilder wiederfinden kann. Erinnerung wird kontingent, so beliebig wie die Liebessouvenirs, die Anatol bei Max archiviert. Und daher ist Schnitzlers Impressionist, bei aller Macht, die die Vergangenheit über ihn hat, letzten Endes immer ein Vergeßlicher. Denn mag er sich auch zufällig erinnern - ein Kontinuum stiftet sein Gedächtnis nicht mehr. Seine Erinnerungen flottieren frei wie Machs Empfindungen. Eine Geschichte ergeben sie nicht, höchstens einen Einakter.
3. Rettende Einfälle. Zur zeitgenössischen Debatte Während Schnitzlers frühe Werke eine Bestandsaufnahme der Erinnerungskrise vornehmen, nicht weniger, aber auch nicht mehr, so beschäftigt den arrivierten Autor das Gedächtnisproblem mit zunehmender Dringlichkeit. Daß die Hinfälligkeit des kollektiven Gedächtnisses auch die Kunst tangiert, drängte sich bereits als alltägliche Erfahrung mit dem Literaturbetrieb auf. Spätestens ab 1900 kreist Schnitzlers Arbeit daher um eine poetologische Frage; sie lautet etwa: Wie kann die Kunst die Erinnerung retten? - Dieses literarische Anliegen deckt sich mit einer ganzen Reihe von Rettungsversuchen, die in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende in allen Arten von Wissenschaftsdisziplinen unternommen werden. Denn als wären die Zeitgenossen vor den Dissoziationsphänomenen der Moderne, vor Geschwindigkeit, Wahrnehmungszerfall, Ichschwäche erschrocken, wird nun ausdrücklich nach der Instanz gesucht, die eine psychische Kontinuität noch absichern kann. Daß und wie das Gedächtnis funktioniert, beschäftigt die Neurologie ebenso wie die Experimentalpsychologie, die Lebens- und Sprachphilosophie ebenso wie die entstehende Psychoanalyse. Der Physiologe Ewald Hering ortete 1870 die Nervensubstanz als Träger des Gedächtnisses und vertrat darüber hinaus die lamarckistische Position, auch erworbene Eigenschaften würden vererbt: Das Gedächtnis der Organismen reicht über Generationen - daher kann nichts verloren gehen. Herings Studie liest sich vielfach wie ein Hohes Lied auf das Gedächtnis: Zwischen dem, der ich heute bin, und dem, der ich gestern war, liegt, als eine Kluft der Bewußtlosigkeit, der Schlaf der Nacht, und nur das Gedächtniß spannt eine Brücke zwischen meinem Heute und meinem Gestern. [. . . ] So sehen wir denn, daß es das Gedächtniß ist, dem wir fast Alles verdanken, was wir sind und haben [ . . . ] . 2 9
Besorgt malt Hering aus, was geschähe, wenn es kein Gedächtnis gäbe und antizipiert folgerichtig das „impressionistische" Syndrom: „Das Gedächtniß verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewußtseins zu einem Ganzen, und [ . . . ] ohne die bindende Macht des Gedächtnisses [zerfiele] unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt". 30 Die Energie, mit der Hermann Ebbinghaus seit 1879 die Gedächtnisarbeit mittels sinnloser Silben formalisieren und überprüfen wollte, stammte wohl auch aus dem Wunsch, den Gedächtnisbesitz vor Verlusten so gut wie möglich zu schützen - fast beschwörend versichert die Einleitung, es ginge nichts ganz verloren, was jemals im Bewußtsein gewesen ist:
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und dann dem Bewusstsein entschwanden, haben damit nicht absolut aufgehört zu existieren. Obschon der nach innen gewandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt, wie man sagt, im Gedächtnis. 31
Daß die „Aufbewahrung im Gedächtnis" eine bloße façon de parier - „wie man sagt" - darstellen könnte, muß Ebbinghaus zwar insofern konzedieren, als sich das Aussetzen der Erinnerung ja auch im Versuch nachweisen läßt - aber sein ganzes Experiment ist schließlich, als Gedächtnistraining, gegen das Vergessen gerichtet.32 Während Physiologie und Psychologie darauf aus sind, das Gedächtnis durch quasi-naturwissenschaftliche Kategorien abzusichern, setzt sich die Lebensphilosophie ein noch ehrgeizigeres Ziel. Es geht ihr nicht nur darum, dem Vergessen wissenschaftlich entgegenzuarbeiten, sondern um mehr, nämlich tatsächlich um die Synthese der antithetischen Aspekte der Gedächtniskrise. Die Bedeutung von Henri Bergsons .Matière et Memoire' (1896) liegt nicht nur im Versuch, Realismus und Idealismus, Materie und Geist zusammenzudenken. Versöhnt werden soll auch der Widerspruch zwischen der überwältigenden, lähmenden Macht der Vergangenheit (zu viel Gedächtnis) und dem drohenden Erinnerungsverlust (zu wenig). Gerade weil Bergson die Lokalisationstheorie aufgibt und sich das Gehirn nicht mehr als „Erinnungsbehälter" denkt,33 kann es zu einem theoretischen Ausgleich kommen. Wenn das Gedächtnis nicht mehr ein Speicher toter Dinge ist, sondern eine Funktion für die Gegenwart, dann ist es ein vitales Vermögen und keine fruchtlose Beschwörung von Gewesenem. Daher muß Bergson immerfort beweisen, daß das Gedächtnis nichts anderes ist als die „Nutzbarmachung vergangener Erfahrung für das gegenwärtige Tun".34 Erinnerung funktioniert nur, weil sie dem Handeln, der Tat, dem Leben nützlich ist: Bergsons Axiom will nicht nur die Erinnerung überhaupt - es will die Erinnerung für das Leben retten. Zu einem zweiten, aufregenden Bewältigungsversuch kommt es wenig später, wobei diese Synthese fast unabsichtlich unterläuft: Fritz Mauthners .Beiträge zu einer Kritik der Sprache' stellen aber nicht weniger dar als eine „linguistische Wende" der Gedächtnisdebatte. Denn Mauthner lokalisiert das Gedächtnis weder in einem bestimmten Teil des Organismus, noch auch im Individuum selbst: Sprache ist das Gedächtnis, und als solches liegt es dem Subjekt immer schon voraus: „Wir werden die Sprache das
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Gedächtnis des Menschengeschlechts nennen". 35 Nichts anderes als die Sprache ist „die Erinnerung der ererbten und der erworbenen Erfahrung".36 Daher partizipiert jeder einzelne Sprecher immer schon an den kollektiven Gedächtnisschätzen. Zugleich konturiert die in der Sprache gespeicherte Erinnerung aber seine Identität: „Erinnerungen sind nur Tatsachen des Bewußtseins, Bewußtseinszustände sind nur Tatsachen des Gedächtnisses. Was wir als ein Ich kennen, dürfen wir mit gleichem Rechte die Kontinuität des Gedächtnisses, wie die Kontinuität des Bewußteins nennen"; das empirische Ich bezeichnet „nicht mehr und nicht weniger als die Einheit des individuellen Gedächtnisses". 37 Offen bleibt freilich jene Frage, der sich Mauthner ursprünglich gewidmet hat: die nach der Korruption der Sprache. Wieweit der Sprachgebrauch das Sprachgedächtnis affiziert, wieweit das Subjekt und seine Erinnerungen gleichsam bewußtlos der Sprache unterworfen sind, erläutert Mauthner nicht mehr, nachdem sich seine Kritik an der Sprache in eine Laudatio des Gedächtnisses verwandelt hat. Ohne Gedächtnis ist kein Ich, ohne Gedächtnis ist nichts, oder, wie es Schnitzler formulierte: „Daß alles, was geschieht, schon im nächsten Augenblick Erinnerung ist, macht das Dasein erst möglich" (AB 201)'. Solche Einsichten können aber die Angst vor der drohenden Amnesie nur verstärken. Und daher nimmt es kaum wunder, daß selbst Mach noch so etwas versucht wie eine Rettung der Erinnerung: Bereits in der .Analyse der Empfindungen' hatte er eingeräumt, daß „bloße Empfindungen kein dem unsrigen auch nur entfernt ähnliches psychisches Leben begründen" können: „Wenn die Empfindung sofort nach dem Verschwinden vergessen wird, kann nur eine zusammenhanglose Mosaik [!] und Folge von psychischen Zuständen sich ergeben, wie wir dieselbe bei den niedersten Tieren und bei den tiefstehenden Idioten annehmen müssen". Gedächtnis und Assoziation seien daher die „Grundbedingung des entwickelten psychischen Lebens".38 Die Aporie, wo und wie Spuren von Erfahrungen im Ich zu finden sind, wenn es nur ein Bündel von Empfindungen darstellt, blieb vorderhand ungelöst. In .Erkenntnis und Irrtum' (1905) kam Mach dann nochmals auf diese Frage zurück, wobei sich aber das Problem nur verschärfte: Mach hatte jetzt davon auszugehen, daß bei jeder neuen Empfindung das vorausgehende „Empfindungsleben" mit aufgerufen wird, - „soweit es in der Erinnerung aufbewahrt ist". Selbst der Theoretiker des „unrettbaren Ich" muß zugeben, daß das Ich zumindest auch „aus den Erinnerungen unserer Erlebnisse" besteht. 39 Sogar dem Philosophen des Impressionismus kehrt mit dem Gedächtnis also das Ich zurück.
4. Analyse und Anamnese: Freud und Schnitzler Bei solchen Vorgaben der Wissenschaft kann es nicht wundernehmen, daß die Literatur immer entschlossener auf die Suche nach der verlorenen Erinnerung geht. Kaum war das Junge Wien ein wenig in die Jahre gekommen, begann es sich an der Frage abzuarbeiten, wie die Sprache Gedächtnis bewahren, wie sie Gedächtnis sein könnte. Spätestens ab 1900 liefen solche Bemühungen parallel zu dem wissenschaftsgeschichtlich entscheidenden Versuch, mit der Erinnerungskrise fertigzuwerden: zur Psychoanalyse. Denn im Grunde widmet sich Freuds Lebensarbeit der Aufgabe, vergessene Erinnerungen wieder zu holen: „Psychoanalysis is our culture's last Art of Memory". 40 Freuds Theorie unternimmt es nicht nur, zu erklären, wie und warum das Vergessen geschieht - sie sucht auch jenen Ort, wo das Vergessene steckt, das ja schließlich seine Wirkungen quälend und irritierend, als Krankheitssymptome, in die Gegenwart schiebt. Freud entdeckt diesen Topos als das Unbewußte; dort ist, wie in einer antiken aula memoriae, alles aufgehoben. Über Jahrzehnte hinweg hält Freud daran fest, daß dort nichts verloren geht: „Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen", heißt es schon in der .Traumdeutung' (1900), 41 und noch in ,Das Unbehagen in der Kultur' (1930) unterstreicht Freud seine Überzeugung: „Seitdem wir den Irrtum überwunden haben, daß das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung bedeutet, neigen wir zu der entgegengesetzten Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt". 42 Freuds Unbewußtes nähert sich also Weinigers Genie: Hier herrscht die Totalität des Gedächtnisses, unzerstörbar und zeitlos. Auch diese Idee hat genug Beunruhigendes; das absolute Gedächtnis des Unbewußten mag sich mitunter in „memory's nightmare" 432 verwandeln. Aber noch viel unheimlicher ist die Art und Weise, in der unbewußte Gedächtnisinhalte ihren Weg zurück ins Bewußtsein nehmen. Denn in der bewußten Erinnerung, im Traum, in den Symptomen, treten sie verwandelt und fungibel auf. Ihre Ersetzbarkeit und Arbitrarität vergrößert immerfort den Deutungsspielraum des Analytikers. Weil ein psychischer Inhalt für einen anderen stehen kann, ist keiner der „wahre". Der Erinnerungsfähigkeit selbst wird nichts mehr zugetraut; was sie produziert, ist beliebig und bloßes semiotisches Material für eine „unendliche Analyse". 44 Ausführliche Diskussionen zum Verhältnis zwischen Schnitzler und
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Freud haben gezeigt, daß Schnitzler dem „Doppelgänger" nicht auf allen Wegen ins Unbewußte folgte. 45 Durchaus bemüht, die Beispiele für Traumarbeit oder Verdrängung in seinen Texten psychoanalytisch plausibel zu halten, lehnte es Schnitzler beispielsweise entschieden ab, an die prinzipiell sexuelle Ätiologie der Neurosen zu glauben. 46 Dazu kommt, daß Schnitzler die Mechanismen von Erinnern und Vergessen keineswegs in der pathologischen Variante präsentieren wollte. Damit fielen aber die Kategorien, mit denen Freud die „unendliche Analyse" immerhin eingeschränkt hatte, auch noch fort. Deswegen weicht Schnitzlers Vorstellung davon, wie verdrängte Bewußtseinsinhalte wieder zurückgerufen werden, in entscheidenden Punkten von psychoanalytischen Theoremen ab. In einer alternativen Topologie der Psyche führt Schnitzler das „Mittelbewußtsein" ein, einen vorbewußten Bereich, der aber in einem voluntaristischen Akt vom Ich selbst zu explorieren ist.47 Im Gegensatz zu Freud, für den die Selbstanalyse an einem Widerstand scheitert, der nur durch die Dialogizität des therapeutischen Prozesses zu überwinden ist, hält Schnitzler daran fest, daß „Ich" Verdrängungen durchaus rückgängig machen kann, vorausgesetzt, man nimmt die Anstrengung - und die mitunter wenig schmeichelhaften Ergebnisse einer solchen Selbsterkenntnis in Kauf. Diese Differenz zu Freud hat entscheidende Konsequenzen für das Konzept von Erinnerung, das Schnitzler vertritt. Freuds hermetische Trennung von absolutem Gedächtnis im Unbewußten einerseits und arbiträrer Erinnerung andererseits wird vollkommen durchlöchert, vielmehr: sie taucht gar nicht erst auf. Wenn verdrängte Inhalte überhaupt vom Ich selbst gefunden werden können, dann findet sie entweder das Ich, oder es findet sie keiner. Mit anderen Worten: Was das Ich nicht finden kann, ist unwiderruflich verloren. Nirgendwo bei Schnitzler gibt es die unumstößliche Gewißheit, daß „nichts vergangen oder vergessen" ist, ganz im Gegenteil: Eine massive Angst vor dem Gedächtnisverlust spricht aus Schnitzlers Tagebüchern, selbst noch aus seiner Autobiographie. Wenn andererseits Ich und nur Ich sich erinnern kann, dann ist dieses Ich für seine Erinnerungen auch haftbar: Der Deutungsspielraum verkürzt sich. Ich muß auch die „richtige", die „wahre" Erinnerung wiederfinden können. Anders als Freud, hält Schnitzler dezidiert an der Integrität von Erinnerungen fest. Das Wahrheitskriterium ist, so sagen es Schnitzlers Texte, die Schmerzhaftigkeit der erreichten Einsicht. Erinnerung kuriert nicht, wie bei Freud, die Schmerzen der Kranken; bei Schnitzler holt Erinnerung die Gesunden aus ihrer Indolenz.
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Schnitzlers ethische Auffassung ist, gegenüber Freuds therapeutischer, natürlich die weitaus konservativere Position. Trotz eines ähnlichen psychologischen Scharfblicks und trotz eines vergleichbaren Mangels an Tabuscheu zog Schnitzler, was das Erinnerungsproblem betrifft, aus der Lehre vom Unbewußten keine radikalen Schlüsse. Seine Vorbehalte erklären sich zum guten Teil aus den logischen Konsequenzen, die er sonst für sein eigenstes Gebiet hätte akzeptieren müssen - nämlich für die Kunst. Gerade weil ihm daran gelegen war, daß Kunst zu „erinnern" hat, konnte er die naheliegende Vorstellung, Kunst sei ein potentiell totales Gedächtnis, das sich im beliebigen semiotischen Spiel aktualisiert, nicht übernehmen. Seine Weigerung, sich auf diese Idee einzulassen, bezeichnet die Grenzen seiner Modernität ebenso wie die Reichweite seiner schriftstellerischen Moral. Denn auf die Pilatusfrage an die Kunst, was Wahrheit sei, mochte Schnitzler nicht verzichten: Kunst muß für ihn als authentische Erinnerung funktionieren. Mit einem idealistischen Konzept hat das gar nichts zu tun; ein Gedächtnis-Platonismus wäre Schnitzler nicht in den Sinn gekommen. Das Motiv für Schnitzlers Beharrlichkeit, Kunst auf Wahrheit zu verpflichten, stammt vielmehr aus den Alltagserfahrungen, die er als Kunstproduzent zu machen gezwungen war.
5. Zur Fabrikation von Vergeßlichkeit: Kunst als Ware Daß das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als Ware gehandelt wird, war eine Einsicht, die sich um die Jahrhundertwende nicht länger abweisen ließ. Kein anderer als Hermann Bahr hat 1908 mit schlichter Selbstverständlichkeit formuliert, was noch sechzig Jahre später für eine skandalöse Neuentdeckung gehalten wurde, nämlich daß Literatur von der Kulturindustrie produziert und auf den Markt geworfen wird, was vom Künstler die entsprechende Anpassung verlangt: Es gibt große Künstler, deren Werke „unbrauchbar" sind, weil auf dem Markt nach Werken dieser Art jetzt keine Nachfrage ist. Und es gibt Künstler, die sehr brauchbare Werke, nach welchen überall heftig nachgefragt wird, nicht anzubieten wissen. Ein „Talent" braucht, um Erfolg zu haben, beide Begabungen: die, den nachfragenden Leuten Werke nach ihrem Geschmacke zu liefern, und die, solche Werke so anzubieten, daß der Käufer sie zu finden weiß. Die Werke müssen fähig sein, ein Bedürfnis zu befriedigen, sie müssen Waren sein. Und diese Waren müssen zu finden, der Künstler muß ein Händler sein. 48
Bahrs Pragma zeigt sich ungerührt von den Erschütterungen, die dergleichen Befunde im Selbstbild eines Schriftstellers hervorbringen konnten. Schnitzler hingegen reagierte heftig; die Mechanismen des literarischen Marktes, beispielsweise in den Spielarten konsumorientierter Kritik oder Verlagspolitik, hat er oft genug empört registriert. Im Grunde ging es aber nicht nur um solch krude Randerscheinungen wie literarische Rufschädigung, Verdienstentgang oder Urheberrechtsverletzung; hinter Schnitzlers Polemiken steht eine unausgesprochene, aber darum nicht weniger virulente Befürchtung: Kunst als Ware könnte kein Gedächtnis mehr sein. Eine immer raschere Zirkulation der Ware Buch rechnet mit einem, führt eines herbei: die Vergeßlichkeit der Konsumenten. Das Geld-Äquivalent der Ware setzt, bei wirtschaftlicher Expansion und freier Konkurrenz, als ständig wechselnder Preis schon immer Vergeßlichkeit voraus: „Dann müssen sich Käufer und Verkäufer unaufhörlich neuen Gleichgewichtsverhältnissen anpassen und jedesmal ihre früheren Gewohnheiten, Ansprüche und Erfahrungen vergessen".49 Dieser Prozeß schlägt auf das Produkt zurück. Um für die „Novitäten" Platz zu schaffen, ist es nötig, die Bücherlager ebenso auszuräumen wie die Hallen des Gedächtnisses - der Speicherplatz wird ökonomisch limitiert. Kunst als Ware tendiert dazu, dieses Geschäft noch selbst zu besorgen: Als Unterhaltungsprodukt arbeitet sie an der Sistierung
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des kulturellen Gedächtnisses mit. Sie adaptiert sich einem Konsum, der möglichst keine Spuren zurücklassen soll. Wenn sie aber kein Gedächtnis mehr reklamiert - wie sollte sie selbst Gedächtnis sein können? Was sich als solche Entleerung um die Jahrhundertwende schon abzeichnete, war fünfzig Jahre später zur Kenntlichkeit entstellt: Max Horkheimer und Theodor Adorno - „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen"50 - haben die Kulturindustrie auch als Fabrikation von Vergeßlichkeit beschrieben, mehr noch, den Furor des Vergessens als zeitgenössisches Charakteristikum erkannt. Geächtet wird, „was keinen Marktwert hat" - das Gedächtnis, das Gedenken und die Toten: Die Individuen reduzieren sich auf die bloße Abfolge punkthafter Gegenwarten, die keine Spur hinterlassen oder vielmehr: deren Spur, als irrational, überflüssig, im wörtlichsten Verstände überholt sie hassen. Wie jedes Buch suspekt ist, das nicht kürzlich erschien, wie der Gedanke an Geschichte, außerhalb des Branchenbetriebs der historischen Wissenschaft, die zeitgemäßen Typen nervös macht, so bringt sie das Vergangene am Menschen in Wut. Was einer früher war und erfahren hat, wird annulliert gegenüber dem, was er jetzt ist, hat, wozu er allenfalls gebraucht werden kann. [ . . . ] Man verdrängt die Geschichte bei sich und anderen, aus Angst, daß sie einen an den Zerfall der eigenen Existenz gemahnen könne, der selber weitgehend im Verdrängen der Geschichte besteht. [ . . . ] In Wahrheit wird den Toten angetan, was den alten Juden als ärgster Fluch galt: nicht gedacht soll deiner werden. An den Toten lassen die Menschen die Verzweiflung darüber aus, daß sie ihrer selber nicht mehr gedenken. 51
Schnitzlers nur zu begründete Sorge galt einer Kunst, die sich selbst verdrängt. Und deshalb geht der Erfinder des ,Anatol', des Prototyps einer „bloßen Abfolge punkthafter Gegenwarten", schon Ende der neunziger Jahre auf die Suche nach poetologischen Gedächtnisstützen. Schnitzlers Kunstprogrammatik, die er nur in vagen Kürzeln ausdrücken konnte: „Die drei Kriterien des Kunstwerks: Einheitlichkeit, Intensität, Kontinuität" (AB 96)52 -, und die mit einigem Recht als relativ altmodisch verdächtigt werden kann, postuliert nichts anderes als den schlichten Gegensatz zur flachen, impressionistischen Skizze. Deshalb sucht Schnitzler um 1900, wie gleichzeitig auch Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann, den fast schon obsoleten „Anschluß an die große Form". Es geht um die Option auf die Geschichtsträchtigkeit der traditionellen Gattung: Der jambische Fünfakter ist als bloße Form bereits mit Gedächtnis imprägniert. Deshalb greift Schnitzler auf historische Stoffe zurück, was auf den ersten Blick so aussehen mag wie ein revival des gründerzeitlichen Historismus: Dem
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Geschichtsdrama soll es gelingen, die Gegenwart an ihre Vergangenheit zu erinnern. Und deshalb bringt Schnitzler immer wieder eine Figurenkonstellation ins Spiel, die Erinnerungsfähigkeit und Vergeßlichkeit als verdeckte Matrix zwischen die Protagonisten schiebt. Schnitzlers „altmodische" Verfahren widersetzen sich den literarischen Moden, welche das schnelle Veralten der Ware Literatur bezwecken und ihr Gedächtnis korrumpieren.
6. „Nie dran vergessen": Jüdische Mnemotechnik „Nicht gedacht soll deiner werden": Es ist nichts weniger als zufällig, daß Horkheimer und Adorno den Fluch der Gegenwart an dem schlimmsten Urteil messen, das die „alten Juden" kannten: aus der Erinnerung der Nachgeborenen ausgeschlossen zu werden - wobei dieser Gedächtnistod für einen Künstler auch das Todesurteil über sein Werk spricht. Auf das paradigmatische jüdische Gedächtnis hat man sich nicht erst in der Emigration berufen. Unter dem Druck des Antisemitismus, der in der Monarchie in den neunziger Jahren eine neue Qualität erreichte, nämlich die der politischen Organisation, griffen viele jüdische Künstler auf einen Erinnerungsfundus zurück, der nicht nur die Ursprungserzählungen von Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung enthielt. Das „jüdische Gedächtnis" hatte sich vielmehr jahrhundertelang habitualisiert, als Phänomen einer „kontrapräsentischen Treue zur Erinnerung". 53 Für die Juden in der Diaspora war Erinnerung als solche nicht nur eine hochgeschätzte Tugend, sondern die einzige Bedingung, unter der die individuelle und kollektive Identität noch erhalten werden konnte. Daß nichts vergessen werden darf, war in vielfachem Sinn eine lebenserhaltende Maxime. Die heiligen Schriften, zumal das Deuteronomium, haben Erinnerung nicht nur kodifiziert, sondern entsprechende Gedächtnisstrategien vorgeschrieben, Verfahren kultureller Mnemotechnik entwickelt: In Denkzeichen, Inschriften, Erzählungen und Festen wurde Erinnerung nicht so sehr konserviert als vielmehr aktualisiert. 54 Und deshalb hat man das jüdische Volk als „Volk der Erinnerung par excellence", 5 5 seine Religion als „Gedächtnis-Religion" 56 bezeichnet. Die Juden erwarben sich den Ruf, „eines der am stärksten historisch orientierten Völker zu sein, mit dem längsten und hartnäckigsten Gedächtnis". 57 Erinnern, heißt es, sei „gewissermaßen die jüdischste aller Beschäftigungen". 58 Für die Erinnerung steht das Judentum geradezu als anthropologischer Typus ein: „Judesein, Menschsein, heißt, Träger von Erinnerung zu sein". 59 Daß sich diese Memoria-Reserve anbietet, in Zeiten, in denen das kulturelle Gedächtnis an Auszehrung leidet und die antesimitische Barbarei sich auf dem Vormarsch befindet, kann nicht wunder nehmen. Dabei hat sich Schnitzler, durchaus nicht orthodox erzogen, nie zum mosaischen Bekenntnis zurückgeflüchtet. Die religiösen Traditionen des Judentums waren für ihn ebenso inakzeptabel wie jede andere konfessionelle Bindung. Die jüdischen Glaubenstugenden nahm Schnitzler, wie viele seiner Zeitgenossen, in jener säkularisierten Form wahr - und auf-, die den Assimilationsanstrengungen der Väter-
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und Großvätergeneration ursprünglich zupaß gekommen war: als Respekt vor jeglicher Schrifttradition, als verbale Schulung, als ehrgeizige Bildungsbeflissenheit.60 Das Eindringen des Antisemitismus in sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens zwang auch ihm die Frage auf, was unter jüdischer Identität zu verstehen sei, wenn sie nicht über die Religionszugehörigkeit bestimmt werden kann. Wie Freud könnte auch Schnitzler ein „psychologischer Jude"61 genannt werden: Das „Jüdischsein" dieser Juden ist Undefiniert, aber umso realer. Die antisemitischen Ressentiments konturieren dieses Selbstbild freilich, von außen, als Außenseiter-Identität. Die aufgezwungene Rolle tut weh, ihre Träger können aber zumindest eines reklamieren: das bessere Gedächtnis. Daß sich Minoritäten aller Art besser erinnern können, ist psychohistorisch völlig plausibel; das warnende Gedächtnis wird zum Überlebenstraining. Auch ohne offenen politischen Konflikt fallen Minderheiten in ein Sieger-Verlierer-Schema, das sie auf fortwährende Erinnerung verpflichtet: Die Sieger haben die Geschichte vergessen. Sie können sich's leisten, während es den Verlierern unmöglich ist, das Geschehene hinzunehmen; diese sind dazu verdammt, über das Geschehene nachzugrübeln, es wiederzubeleben und Alternativen zu reflektieren. 62
So kommt es, daß Schnitzler nicht nur sein künstlerisches Gedächtnis gegen die Amnesien des Literaturbetriebs mobilisieren mußte, sondern sich auch auf das Gedächtnis seiner Vorfahren zu berufen hatte, wenn es um die Erinnerungslücken im dominanten kollektiven Gedächtnis ging.63 Denn das Gedächtnis einer Majorität ist egoistisch: „Der im kulturellen Gedächtnis gepflegte Wissensvorrat ist gekennzeichnet durch eine scharfe Grenze, die das Zugehörige vom Nichtzugehörigen, d.h. das Eigene vom Fremden trennt".64 Paradoxerweise müssen die „Außenseiter" beobachten, wie ihre kulturellen Leistungen aus dem Kollektivgedächtnis ausgestoßen werden, während sie und wegen ihrer Distanz nur sie - in der Lage sind, gesellschaftliche Amnesien festzustellen, zu kritisieren und aus ihrem Gedächtnis zu ergänzen. Hinter dem offenen Gedächtnis-„Nationalismus" eines Kollektivs steckt außerdem das verdeckte Herrschaftsinteresse seiner politischen Elite, die kollektiven Erinnerungen zu manipulieren, mit dem Gedächtnis auch die Geschichte zu beherrschen. 65 Daher bleibt dem Außenseiter nichts als das Gedächtnis; es ist das Widerstandspotential, welches seine Identität stabilisieren - und gleichzeitig die Mechanismen der Macht destabilisieren kann. Vergeßlichkeit mag eine Komplizenschaft mit der Macht eingehen, eine wache Erinnerung an erlittenes Unrecht tut das nicht: „Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen".66
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Als Kritik am mainstream des kollektiven Gedächtnisses kann aber nur die individuelle Erinnerung funktionieren. Auch deswegen bleibt Schnitzler beharrlich dabei, das „Mittelbewußtsein" sei jeweils eigenhändig zu explorieren. Schnitzler muß hier auf einem Minimum persönlicher Selbstbestimmung bestehen, sich auf einer „Schwundstufe der liberalen Anthropologie" 67 gerade noch halten: Anders wäre eine Opposition des erinnernden Subjekts gegen die quasi-objektiven Gedächtnisrahmen nicht zu denken. Gleichzeitig muß das Individuum sein Gedächtnis ständig vor den Entstellungen hüten, die Selbstschutz und Anpassung von ihm verlangen wollen. Seine Aufgabe ist es, den trügerischen Mythen nicht aufzusitzen, mit dem das Kollektiv die Selektion des Gedächtnisses honoriert. Und deshalb hat Schnitzler trotz aller Skepsis auch das a priori nicht aufgegeben, daß Aufklärung grundsätzlich möglich sei; deshalb kennzeichnet es sein Werk, „daß in ihm die aufklärerischen Impulse, wie sie das Bürgertum in seiner frühen Phase entwickelte, festgehalten werden noch zu einer Zeit, da das Bürgertum sich anschickte, auch noch die Ideologien abzuschaffen, zu denen diese Impulse längst erstarrt waren". 68 Was Schnitzler aus jenem anderen Kollektiv, dem des Diaspora-Judentums, übernimmt: daß es eine Ethik des Erinnerns gibt, trägt er nach wie vor dem Individuum als moralische Pflicht auf. Als Pflicht - und als Privileg: denn die Erinnerungsanstrengung verspricht mitunter Einsichten, die anders nicht zu haben wären. Die Aporie seines Imperativs - „nie dran vergessen" (E 1,833) - war Schnitzler bewußt, sie beruht darauf, daß auch die Erinnerung nicht anders kann als lügen. „Erinnerungsfälschung", heißt es in einem von Schnitzlers Aphorismen, „das ist die ohnmächtige Rache, die unser Gedächtnis an der Unwiderruflichkeit alles Geschehens nimmt" (AB 131). Aber Schnitzlers Mißtrauen gegenüber der Unzuverlässigkeit alles Erinnerns kann umschlagen in eine umso festere Überzeugung an seine Wahrheit: So bekannt es ist, daß die Erinnerung unsere vergangenen Eindrücke in unzähligen Fällen bis zur Unkenntlichkeit zu fälschen pflegt; man beachtet sehr wenig, daß ihr auch die Gabe innewohnt, Eindrücke richtigzustellen. [ . . . ] Und so gibt uns die Erinnerung, gerade die Erinnerung eine höhere Wahrheit, wie sie uns in den wirklich erlebten Augenblicken nicht gegönnt sein konnte.
Von dieser Erinnerung handelt Schnitzlers Werk. Es antwortet damit auf die zeitgenössische Gedächtniskrise, auf die kulturelle Amnesie und auf die Gedächtnislosigkeit des Vorurteils: Kunst hat für Schnitzler, als Gedächtnis, eine solche „höhere Wahrheit" zu sein.
7. Auf der Suche nach der Erinnerung: Zur Problemstellung Naturgemäß hat Schnitzler seine literarische Karriere nicht als Stratege der Erinnerung begonnen. Ganz im Gegenteil: seine schriftstellerischen Anfänge liegen dort, wo das kulturelle Gedächtnis zur seichten Wiederholung des Immergleichen degeneriert ist - im Familienblatt. Schnitzlers lyrische Eskapaden in der Wiener Halbmonatsschrift ,An der Schönen Blauen Donau' bleiben Episode, gehören aber auch ihrer Qualität nach zu einem Sektor des literarischen Lebens, der mit der epigonalen Ausbeutung klassischer Gedichttraditionen die literarische „Erinnerung" schnöde verkauft. Als Schnitzlers poetologische Ansprüche steigen, verzichtet er nicht nur auf den Publikationsort, sondern überhaupt auf weitere lyrische Beiträge; ab der Mitte der neunziger Jahre reüssiert er im Drama und in der Erzählung. Ironischerweise holen ihn aber noch zweimal trivialisierte Spielarten auch dieser Gattungen ein: Mit dem Renaissance-Schauspiel ,Der Schleier der Beatrice' (1900) scheint er auf die gründerzeitliche Geschichtsdramatik zurückzufallen, welche die Erinnerung an die Vergangenheit in pompösen szenischen „Augenblicken" stillstellt. Das Wiener Burgtheater, zu dessen Autoren zu gehören Schnitzlers früher Ehrgeiz war, hatte einen einschlägigen Kanon institutionalisiert und die Publikumserwartungen entsprechend zugerichtet. In der Prosa hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine „sekundäre" literarische Tradition etabliert, die des „Frauenromans", der mit einem stereotypen Handlungsmodell angeblich den Bedürfnissen eines weiblichen Publikums entgegenkommt; die konsumfertige, verwechselbare Schablone setzt ein hohes Maß an Vergeßlichkeit voraus. Diese zynische Spekulation mit der Anspruchslosigkeit der Leserinnen konnte sich dabei auf die zeitgenössische Geschlechterdebatte berufen, welche den Mangel an Erinnerungsvermögen als typisch weibliche Eigenschaft ausgegeben hatte. Jedesmal, wenn sich Schnitzler narrativ auf die Perspektive einer weiblichen Hauptfigur einläßt, in den Erzählungen .Frau Berta Garlan' (1901) und ,Frau Beate und ihr Sohn' (1913), im Roman .Therese' (1928), trifft ihn umgehend der Verdacht, sich aus der Retorte „Frauenliteratur" bedient zu haben. 69 In allen drei Gattungen gerät Schnitzler also an einen jeweils unterschiedlich institutionalisierten trivialen Kanon: an die Familienblatt-Lyrik, an die historistische Burgtheaterdramatik und an den „Frauenroman". Die ersten Abschnitte dieser Arbeit (Kap. II) handeln davon, wie sich Schnitz-
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1er, durchaus in doppeltem Sinn, von diesen literarischen Schablonen wegschreibt: in der Lyrik durch Verzicht, im Drama und in der Prosa durch Techniken des Publikumsappells und der Lesersteuerung, die sich immer nachdrücklicher gegen den mühelosen Kunstkonsum richten. Als „trivial" gilt dabei, im Sinn der Rezeptionsästhetik, ein literarisches Produkt, das sein Gattungs-Plansoll übererfüllt und hinter dem zu erwartenden Klischee als Einzelwerk verschwinden, also: vergessen werden kann. Der Erfolg dieser Fabrikate beruht ja tatsächlich auf einer nachgerade voluntaristischen Vergeßlichkeit ihres Publikums, das sich immer wieder vorführen lassen will, was es ohnehin schon kennt. Da Schnitzlers Abstinenz in Sachen Theorie und Selbstkommentar seit jeher eine crux der Forschung gewesen ist, 70 soll in Textanalysen gezeigt werden, wie seine poetologischen Absichten zunehmend kritisch auf Gegenstrategien des Erinnerns hinauslaufen, und zwar sowohl figuren- als auch adressatenbezogen. Schnitzlers Werke werden als Antworten verstanden, zunächst nicht so sehr auf konkrete sozialgeschichtliche Verhältnisse der ausgehenden Monarchie und der Ersten Republik, sondern auf Institutionen- und gattungsgeschichtliche Vorgaben, die, hinter ihrem eigenen Rücken, literarische Symptome der zeitgenössischen Gedächtniskrise sind. In zwei Werken nimmt Schnitzler allerdings explizit zur gesellschaftlichen Fragen Stellung, in ,Der Weg ins Freie' (1908) und in .Professor Bernhardt (1912). Diese Texte beziehen sich offen auf den ständig aggressiveren Antisemitismus der Deutschnationalen und Christlichsozialen, formulieren aber gleichzeitig die Alternative zu einer hysterischen Xenophobie, die alle rationalen zivilisatorischen Übereinkünfte vergißt: Das wäre eine „Treue des Gedächtnisses", die „Gegenwart nur durch Erinnerung erlittener Verfolgung und Zukunft nur in Solidarität mit den Verfolgten" begreift.71 Beide Werke benennen auch die Quellen, die ein solches Erinnerungsvermögen speisen. Das Erinnerungsgebot, welches die jüdische Tradition überliefert hat, wird zur letztmöglichen Maxime jeder Handlung, auch jeder Sprachhandlung; daher enthalten diese Texte mit dem politischen auch ihren eigenen literarisch-programmatischen Anspruch. Da sie die herrschende Rhetorik des Vorurteils direkt zu Wort kommen lassen, werden als Gegenproben entstehungs- und rezeptionsgeschichtliche Dokumente angeführt, die in der Tat nur als Manifeste gedächtnisloser Gegenwart gelesen werden können (Kap. III). Die „Gedächtniskrise" des 19. Jahrhunderts hatte eine Flut autobiographischer und diaristischer Schriften ausgelöst. Unter allen Textgattungen
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kann die Erinnerungswerkstatt Tagebuch für sich beanspruchen, der Metapher vom Speicher des Gedächtnisses am nächsten zu kommen: Die tägliche Aufzeichnung ist das Einschreiben, die Lektüre ist das Abrufen von Inhalten. Schnitzler entwickelte fürs Schreiben eine rhetorische, fürs Lesen eine didaktische Disziplin. Manchem Kritiker seiner spröden und faktenorientierten Eintragungen mag es überraschend gekommen sein, daß er vom Wert seines Tagebuchs so überzeugt war: „Mir ist, als wären einzelne Partien dieses Tgb. das einzige von meinen Sachen, worin Kraft".72 Aber diese Kraft zieht das Tagebuch für Schnitzler aus seiner Qualität, ein Lehrbuch der Erinnerung zu sein (Kap. IV, 1). - In der Autobiographie wird das Konstrukt eines „diaristischen Ich" um die Konstruktion einer Lebensgeschichte erweitert. Daß es keine „unschuldigen Erinnerungen" gibt, sondern daß Autobiographien „Überredungsversuche" sind, 73 war Schnitzler dabei nur allzusehr bewußt. Der verführerischen Teleologie der literarischen Lebensbeschreibung hat er vielfach widerstanden, ebenso wie der autobiographischen Tendenz, die „Zersplitterung" des erlebenden Ich schleunigst zu reparieren. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen hat Schnitzler das „unrettbare Ich" nicht nachträglich im Sicherheitsnetz der Autobiographie geborgen. Seine Jugend in Wien' reflektiert das Ein- und das Aussetzen der Erinnerung. Ihr Thema sind nicht so sehr Erinnerungen als vielmehr das Erinnern, wie es gelingt und wie es versagt. Im Sinne dieser „Wahrheit" kann Schnitzlers Autobiographie die Authentizität nicht der erinnerten Fakten, sondern der faktischen Erinnerung für sich reklamieren (Kap. IV,2). - Einer Versuchung hat Schnitzler aber offenbar nicht widerstehen können: Erinnerungsfähigkeit und Vergeßlichkeit zu Veranlagungen, ja sogar zu anthropologischen Konstanten zu erklären. In seinem Diagramm ,Der Geist im Wort und der Geist in der Tat' (1927) folgt er einmal dem Zeitgeist, indem er dem verbreiteten Hang zur Typologie nachgibt. In dieser Skizze konträrer „Geistesverfassungen" stehen einander „Kontinualist" und „Aktualist" diametral gegenüber, die geläufige Figurenopposition wird nunmehr theoretisiert. Schnitzlers immerhin befremdlicher Exkurs ins statische Denken der zeitgenössischen Charakterologie basiert allerdings auf völlig anderen Traditionen. Paradoxerweise hatte er sich an Jacob Burckhardts .Weltgeschichtlichen Betrachtungen' und an der kabbalistischen Lehre von den göttlichen Eigenschaften inspiriert. Auf solchen versteckten Wegen fließen sogar noch in den Determinismus von Schnitzlers Charaktermodell Elemente aus der Historiographie und aus der jüdischen Überlieferung ein, aus den Gebieten also, die für Schnitzler die vorzüglichsten Gedächtnisspeicher waren (Kap. IV,3).
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses
Die vorgeschlagene Lektüre faßt Schnitzlers Texte als literarische Reaktionsbildungen auf die zeitgenössische Gedächtniskrise auf. Als Antworten auf dieses sozial-, kultur- und psychohistorische Syndrom entwickeln sie sich von der Diagnose zur Kritik; den gattungsgeschichtlichen Übereinkünften, welche das Gedächtnis des Publikums entsprechend manipulieren, setzen sie mnemotechnische Darstellungsstrategien entgegen. Das spezifische Gewicht von Schnitzlers Ästhetik der Erinnerung bestimmt sich aber in der Differenz zu anderen Bewältigungsversuchen, die Autoren seiner Generation und seines Umkreises unternommen haben. Um das unrettbare Ich zu retten, um den „flüchtigen Impressionismus" der neunziger Jahre an stabile kulturelle Traditionen anzuschließen, ziehen die Schriftsteller des ehemaligen Jungen Wien ab 1900 verschiedene Methoden in Betracht. Was diese literarischen und poetologischen Wege verbindet, ist allerdings das Motiv der Rückkehr - zu konsolidierten kulturellen Gedächtnistopoi. Drei dieser Alternativen werden diskutiert: Hermann Bahrs fröhlicher, wenn auch nicht unvoreingenommener Appell an die kulturelle Vergeßlichkeit (Kap. V,l), Hugo von Hofmannsthals suggestives und zugleich selektives Bespielen von „Erinnerungsbühnen" (Kap. V,2), Richard Beer-Hofmanns jüdisches Gedächtnistheater (Kap. V,3). Alle diese Lösungsversuche bestätigen die Virulenz der Gedächtniskrise. Sie zeigen mitunter aber auch die latenten Gefahren einsinniger Erinnerung. Die Wiederherstellung von Gedächtnisräumen geht zuweilen nicht ohne Flurschaden vor sich. Rezeptionsgeschichte antwortet auf Antworten. Der literarischen Interpretation von Ich und Welt wird zugestimmt oder widersprochen. Kritik und Kanon steuern dabei die literaturhistorische Spielart des kulturellen Gedächtnisses, sie nehmen die betreffenden Selektionsprozesse vor. Schnitzlers Wirkungsgeschichte hat sich bekanntlich höchst dramatisch gestaltet: Um 1910 erreicht er den Höhepunkt seiner Popularität, nach dem Ersten Weltkrieg wird seine Stellung als berühmtester österreichischer Dramatiker durch die öffentliche Polemik zunehmend in Frage gestellt - weil ihm als Juden die Fähigkeit zu bodenständiger kultureller Erinnerung abgesprochen wird. Dieser Prozeß eskaliert 1933 mit dem Versuch, sein Werk aus einem gleichgeschalteten kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Drei Fallbeispiele illustrieren diese Entwicklung: Theodor Reiks psychoanalytische Schnitzler-Studie von 1913 rückt den Autor wegen seiner tiefenpsychologischen Intuition an die Spitze der Avantgarde. Reik, der notorische „Mittelsmann" zwischen Schnitzler und Freud, kann durch seine Werkanalysen tatsächlich einige Rezeptionshindernisse aus dem Weg räumen
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und Verständnisschwierigkeiten der Zeitgenossen beheben. Seine Lesart unterstellt Schnitzlers Texten aber ein reines Indizienparadigma (Carlo Ginzburg), was dem ästhetischen Rang von Schnitzlers Erinnerungstechniken nicht gerecht wird (Kap. VI,1). Weitaus kritischer geht Josef Körners Schnitzler-Monographie von 1921 mit ihrem Gegenstand um: Schnitzlers Reaktionen auf die „Judenfrage" werden als künstlerisch unannehmbar disqualifiziert, womit Körner seinen Kunstbegriff nach den Regeln gesellschaftlicher Verdrängung ausrichtet. Von diesen verdrängten Inhalten wird Körner aber selbst wenig später auf tragische Weise eingeholt (Kap. VI,2). Die zeitgenösssische Literaturgeschichtsschreibung schließlich hat ihre Gedächtnisrahmen zunehmend verengt - als biologistische und rassistische Selektion von Autoren. Josef Nadlers stammesgeschichtliche Variante ist das repräsentative Beispiel für diese systematische Partialisierung eines kulturellen Gedächtnisses, das zuletzt an die gewaltsame Unterdrückung „fremder" Inhalte geht. Die Geschichte hat eine solche freiwillige Vorarbeit dann grausam beim Wort genommen (Kap. VI,3). Heute ist Schnitzler gewiß kein Autor, an den man erinnern müßte. Theater, Schule und Wissenschaft haben seit der „Schnitzler-Renaissance" Anfang der sechziger Jahre in ihrer Auseinandersetzung mit seinen Werken nicht nachgelassen; vor allem die Forschung ist lawinenartig angeschwollen.74 Seit den siebziger Jahren sind dabei vor allem die sozialgeschichtlichen, seit den achtziger Jahren die „jüdischen" Aspekte seines Schreibens unterstrichen worden. 75 Trotzdem werden selbst heute Schnitzlers Stücke fallweise zu konsumfertiger Wiener Folklore uminszeniert, was sie dann prompt selbst wieder unter Trivialitätsverdacht stellt. Und die längst umstrittene Etikette des „Impressionismus" haftet dem gesamten Werk noch immer zähe an. Das war ein Motiv, dem nachzugehen, woran die Texte erinnern - und Anna Meinholds hermeneutischem Hinweis zu folgen, daß dieses Erinnern „doch wohl was bedeutet haben" muß. Ein zweites Motiv war das déjà vu, das sich im Hinblick auf die Gedächtniskrisen des ausgehenden 20. Jahrhunderts einstellt. 76 Gerade, was das Erinnern betrifft, erreichen Schnitzlers Texte mitunter eine antizipatorische Qualität. Daß das neue Fin de siècle unter den Folgen eines „verengt komponierten kollektiven Gedächtnisses" leidet, 77 muß gewiß nicht belegt werden. Der trockene Befund des Kulturhistorikers Pierre Nora gilt der Gegenwart: „Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt".78 Was Schnitzlers Texte auf die Frage nach der Erinnerung, nach dem Umgang mit der Vergangenheit antworten, beantwortet wohl auch die Frage nach ihrer Aktualität.
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Anmerkungen 1 Vgl. Harald Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 23-26. Als „Zentralmetaphern" nennt Weinrich Magazin und Wachstafel. 2 Im Sinn dieser metaphorischen Differenz werden die Begriffe „Gedächtnis" und „Erinnerung" im folgenden verwendet, vgl. Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Hrsg. v. A.A. u. Dietrich Harth. Frankfurt 1991 ( = Fischer-Tb 10724), S. 13-35, S. 14: „Verbleiben wir auf dem Boden des alltäglichen Sprachgebrauchs, dann erscheint Gedächtnis
als virtuelle Fähigkeit und organi-
sches Substrat neben Erinnerung als aktuellem Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte." - Beim alltäglichen Sprachgebrauch zu bleiben, ist insofern ratsam, als Schnitzler selbst seinen Figuren geläufige Wendungen in den Mund legt, die beide Funktionen vermischen, z.B.: „Ihre Stimme war viel schöner, als seine Erinnerung sie bewahrt hatte" (E 1,651). - Zur Problematik der terminologischen Trennung von „Erinnerung" und „Gedächtnis" vgl. Johannes Baptist Metz: Erinnerung. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner u. Christoph Wild. 6 Bde. München: Kösel 1973f., Bd. 2, S. 386-396, S. 386f. - Die neuere Gedächtnisforschung unterscheidet freilich scharf zwischen den beiden Begriffen und versteht unter Gedächtnis eine „neurophysiologische Funktion", unter Erinnerung eine „kognitive Konstruktion"; Erinnerung kann tatsächlich nicht mehr als Zugriff auf „gespeicherte Daten" vorgestellt werden. Gedächtnisleistungen können durchaus unbewußt ablaufen, Erinnerungsleistungen nicht (vgl. dazu den Überblick des Herausgebers: Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven. In: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. Frankfurt 1991 ( = stw 900), S. 9-55, bes. S. 33-36). 3 Eine Zusammenfassung dieser poetologischen Entwicklung gibt Gotthart Wunberg: Mnemosyne. Literatur unter den Bedingungen der Moderne: ihre technik- und sozialgeschichtliche Begründung. In: Assmann/Harth (Hrsg.), Mnemosyne, S. 83-100. 4 Renate Lachmann vertritt die These, „daß mit der Mnemotechnik elementare Leistungen imaginativen Erinnerns pragmatisiert worden sind, wie sie allen Akten des Schreibens als Gedächtnishandlungen zugrunde liegen". Indem Lachmanns Konzept die Möglichkeit bietet, „Intertextualität und Gedächtnisarchitektur zusammenzudenken", setzt es die Priorität der memoria
vor der imaginatio
schon voraus: „Der literaturwissenschaftlich brisante Punkt
liegt in den Weisen der Kreuzung von Gedächtnisimaginafio und dichterischer Einbildungskraft. Sind dies parallele Prozesse, die einander spiegeln und kommentieren, oder verhält es sich nicht eher so, daß literarische Ikonographie immer auf die des Gedächtnisses rekurriert, daß der Bildspender der Literatur der nämliche wie der des Gedächtnisses ist, oder noch anders: daß sich die Bildtätigkeit des Gedächtnisses die poetische Einbildung einverleibt?" - Wenn „das Gedächtnis
des Textes die Intertextualität seiner Bezüge ist", tritt jeder
Text in das Gedächtnistheater ein, das andere Texte aufgebaut haben, und spielt seinerseits in diesem Theater mit (Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 34, 36f.). - Von dieser Prämisse ausgehend, ist die Spezifik jener Texte zu bestimmen, die Erinnerungsvorgänge als Symptomatik einer kulturellen Gedächtnisirise thematisieren.
Anmerkungen
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5 Joyces Ausspruch wurde von Frank Budgen in seinen Erinnerungen überliefert; Budgens Reaktion zeigt, daß man eine solche Definition durchaus als Limitierung der Vorstellungskraft und als Angriff auf die Konzepte von Inspiration und künstlerischer Auserwählung empfinden konnte: „I once broached the question of imagination with Joyce. He brushed it aside with the assertion that imagination was memory. This puzzled me into silence. If Joyce was right then all the poet would have for his creations would be the chance-governed events of his own life, and that only to the extent that he could memorize them. Imagination I had always thought of as a knowledge of all possible experience bestowed on some favoured few at birth as an act of grace" (Frank Budgen: Myselves When Young. London: Oxford University Press 1970, S. 187). - Zu diesem Zusammenhang vgl. Klaus Reichert: Joyces Memoria. In: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann. Frankfurt 1991 (= es 1653), S. 328-355, S. 329. 6 Marcel Proust: Jean Santeuil [1952; üs. v. Eva Rechel-Mertens, rev. ν. Luzius Keller], Hrsg. v. Mariolina Bongiovanni Bertini. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp 1992 (= Frankfurter Ausgabe 111/1,2), Bd. 1, S. 214. - Vgl. dazu Hans Robert Jauß' Klassiker: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ,A la recherche du temps perdu'. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt 1986 (= stw 587), S. 75. 7 Siegfried Trebitsch: Chronik eines Lebens. Zürich: Artemis 1951, S. 11. 8 Eintragung v. 10.9.1912. In: Stefan Zweig: Tagebücher. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt: S. Fischer 1984 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 9. 9 The Correspondence of Arthur Schnitzler and Raoul Auernheimer with Raoul Auernheimer's Aphorisms. Ed. with Introduction and Notes by Donald G. Daviau and Jorun Β. Johns. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1972 (= University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 73), S. 141. 10 Das gesamteuropäische Phänomen wird im folgenden zwangsläufig auf den Begriff der .Wiener Moderne' eingeengt. Zur Problematik der zeitlichen Abgrenzung und inhaltlichen Definition vgl. zuletzt die konzise Dokumentation des Diskussionsstands in: Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. Stuttgart 1995 (= Sammlung Metzler 290), S. 1-30. 11 Alessandro Cavalli: Die Rolle des Gedächtnisses in der Moderne. In: Kultur als Lebenswelt und Monument. Hrsg. v. Aleida Assmann u. Dietrich Harth. Frankfurt 1991 (= Fischer-Tb Wissenschaft 10725), S. 200-210, S. 200. 12 Vgl. auch im folgenden die grundlegende Studie von Richard Terdiman: Present Past. Modernity and the Memory Crisis. Ithaca: Cornell University Press 1993. - Terdiman untersucht Texte von Musset, Baudelaire und Proust; die letzten Kapitel gelten Freud. 13 Cavalli, Die Rolle des Gedächtnisses in der Moderne, S. 203. 14 Eintragung v. 29.12.1910 (TB); vgl. z.B. die Notate ν. 30.3.1904 („mein schlechtes Gedächtnis"), 30.11.1909 („Mein schlechtes Gedächtnis"), 5.7.1914 („Gedächtnis- und Concentrationsschwächen"), passim. 15 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. München: Matthes & Seitz 1980, S. 145f. 16 Renate Lachmann: Die Unlöschbarkeit der Zeichen: Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In: Haverkamp/Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst, S. 111-141, S. 122. - Vgl. Dies.: Gedächtnis und Weltverlust - Borges' memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemo-
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Einleitung: Kritik und Krise des Gedächtnisses nisten. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hrsg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann unter Mitwirkung v. Reinhart Herzog. München: Fink 1993 (= Poetik und Hermeneutik XV), S. 492-519. - Lachmann bezieht sich auf den von A.R. Lurjia dokumentierten Fall des „Mnemopathen" Venjamin Solomonovic Sereäevskij, dessen Gedächtnis über keinerlei Selektionsmechanismen verfügte. Die erinnerte Bilderflut konnte nicht mehr gesteuert werden und überwältigte sein Bewußtsein.
17 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [1925; üs. v. Lutz Geldsetzer]. Frankfurt 1985 (= stw 538), S. 368. - Zur rhetorischen und institutionellen Organisation des kollektiven Gedächtnisses vgl. neuerdings Alfons Silbermann: Zur Handhabung von Erinnern und Vergessen. In: Menora 3 (1992), S. 13-20. 18 Vor allem die moralkritische Schnitzler-Forschung der fünfziger und sechziger Jahre, die dem Typus Verantwortungs-, Bindungs- und Skrupellosigkeit vorwarf, pflegte zu tun, als sei der „impressionistische Mensch" um 1900 tatsächlich in den Straßen Wiens herumgelaufen; sittliche Empörung muß ihr Objekt natürlich beglaubigen. Über den „long-cherished belief of German literary historians that there is such a creature as ,der impressionistische Mensch'", hat sich Hunter G. Hannum schon 1967 lustig gemacht (.Merely Players': The Theatrical Worlds of Arthur Schnitzler and Jean Genet. In: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur. Hrsg. v. Egon Schwarz, Hunter G. Hannum u. Edgar Lohner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 367-384, S. 369). - Der Begriff „impressionistisch", als stilistische wie als literaturhistorische Kategorie mittlerweile umstritten oder gar obsolet, meint im folgenden ausdrücklich nur die psychische Disposition, welche in der zeitgenössischen Debatte problematisiert, in den literarischen Figuren reflektiert und kritisiert wird (zur Problematik der „Impressionismus"-Debatte vgl. etwa William M. Johnston: Der Wiener Impressionismus. Eine neue Wertung einer einst beliebten Kategorie. In: Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit'. Hrsg. v. Giuseppe Farese. Bern: Peter Lang 1985 (= JbflG A/13), S. 201-212). 19 Hermann Bahr: Impressionismus. In: Ders.: Dialog vom Tragischen. Berlin: S. Fischer 1904, S. 102-114, S. 114. 20 Eintragungen v. 28. u. 29.9.1904 (TB). - Hinweise auf Ernst Machs Schriften finden sich allerdings schon vor diesem Datum; im Juni 1898 wurde Schnitzler beispielsweise von Richard Beer-Hofmann auf „ein gutes Buch", Machs .Populärwissenschaftliche Vorlesungen' (1896), aufmerksam gemacht (Brief v. 18.6.1898 [AS-RBH 120]). - Die große Wirkung der 1886 erschienenen .Analyse der Empfindungen' begann aber generell erst mit der Jahrhundertwende: Neuauflagen erschienen 1900, 1902 und 1903. - Grundsätzliche Übereinstimmungen mit Machs Theorien lassen sich jedoch auch an früher entstandenen Texten plausibel zeigen; zur „Familienähnlichkeit" zwischen Schnitzler und Mach, z.B. hinsichtlich der in .Leutnant Gusti' und .Fräulein Else' vorgeführten Vergegenständlichung von Empfindungen, vgl. Klaus Günther: ,Es ist wirklich, wie wenn die Leute wahnsinnig wären.' Bemerkungen zu Arthur Schnitzler und Ernst Mach. In: Arthur Schnitzler in neuer Sicht. Hrsg. v. Hartmut Scheible. München: Fink 1981, S. 99-116. - Zum Einfluß Machs auf die Zeitgenossen vgl. Claudia Monti: Mach und die österreichische Literatur. Bahr, Hofmannsthal, Musil. In: Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit', S. 263-283.
Anmerkungen
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21 Paradigmatisch für eine solche Lektüre war Manfred Dierschs Studie: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin: Rütten & Loening 1977 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 36). - Hier wurden Bahrs Aufsätze als publizistische, Schnitzlers .Else' und ,Gusti' als literarische Popularisierungen von Machs Thesen ausgelegt. - Zur grundsätzlichen Problematik von Dierschs Ansatz vgl. Horst Thomé: Sozialgeschichtliche Perspektiven der neueren Schnitzler-Forschung. In: IASL 13 (1988), S. 158-187, S. 176. 22 Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1886]. M. e. Vorwort v. Gereon Wolters. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991 (Bibliothek klassischer Texte), S. 19. 23 Zu den spärlichen Belegen von Schnitzlers Nietzsche-Lektüre vgl. Herbert W. Reichert: Nietzsche and Schnitzler. In: Studies in Arthur Schnitzler. Centennial Commemorative Volume. Ed. by H.W.R. and Herman Salinger. Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1963 (= University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 42), S. 95-107, und Roland Duhamel: Schnitzler und Nietzsche. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 4 (1975), S. 1-25. - Gerade was das Erinnerungsproblem betrifft, kommt Duhamel allerdings über bloße Generalisierungen („Nach Schnitzler kann niemand je etwas vergessen", S. 15) und Simplifizierungen nicht hinaus: Nietzsches Position in den .Unzeitgemäßen Betrachtungen' wird nicht erwähnt. 24 In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München/Berlin: dtv/de Gruyter 1980, Bd. 1, S. 243-334, S. 250. 25 Ebda., S. 326. 26 Terdiman, Present Past, S. 14. 27 Vgl. zu Schnitzlers und zu Hofmannsthals Selbstaussagen Kap. IV,1 und V,2. 28 1966 argumentierte Erhard Friedrichsmeyer, Schnitzlers „Augenblicksmenschen" sistierten die Zeit, um sich selbst absolut zu setzen; der „Augenblick" sei ihnen die „Kategorie [. . .], in der die immerselbe Wahl, die Zeitvernichtung, und, wichtiger, dadurch ihre Selbstverewigung, verwirklicht werden soll" (Zum .Augenblick' bei Schnitzler. In: GRM N.F. 16 (1966), S. 52-64, S. 63). Noch 1981 hielt Wolfdietrich Rasch dem entgegen, der gegenwärtige Moment werde von Schnitzlers Figuren in der Vergangenheit erlebt, der Augenblick sei nicht zu halten, es komme zu einer „disparition du présent" und daher auch zu einer „disparition de la réalité" (La dévalorisation du présent, expérience de la décadence dans l'oeuvre d'Arthur Schnitzler. In: Arthur Schnitzler: Actes du Colloque du 19-21 Octobre 1981. Présentation et traductions de Christiane et Gilbert Ravy. Paris: Presses Universitaires de France 1983 (= France-autriche 4; Publications de l'université de Rouen), S. 11-26, S. 15 passim, S. 22; zur Kritik an Friedrichsmeyer vgl. Fußn. 2, S. 13). 29 Ewald Hering: Über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Wien: Gerold 1870, S. 11, 14. 30 Ebda., S. 14. 31 Herrn.[ann] Ebbinghaus: Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig: Duncker & Humblot 1885, S. 1. 32 Die Bizzarrerie von Ebbinghaus' Gedächtnistest hat Friedrich A. Kittler ungemein deutlich gemacht. Die sinnlosen Silben, mit denen trainiert wird, damit sich kein mnemotechni-
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Einleitung: Kritik u n d Krise des Gedächtnisses
scher Hilfseffekt einstellt, müssen ja zuvor aufgeschrieben werden. Diesen Silbenthesaurus kann kein Gedächtnis einholen: „Genau das ist aber die Bedingung, um Gedächtnis psychophysisch erforschbar zu machen: Es wird den Leuten abgenommen und an ein materielles Aufschreibesystem delegiert" (Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Fink 21987, S. 216). - Ebbinghaus arbeitet also an dem Vergessen mit, das er bekämpft. Aber vielleicht erlaubt es gerade dieses Paradox, sein Experiment als Panikreaktion auf die Gedächtniskrise zu deuten. 33 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist [üs. v. Julius Frankenberger). Frankfurt 1982 (= Ullstein-Materialien 35126), S. 122. 34 Ebda., S. 66. 35 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache [1901/02]. 3 Bde. Frankfurt 1982 (= Ullstein-Materialien 35145-35147), Bd. 1, S. 405. 36 Ebda., S. 538. 37 Ebda., S. 472, 655. 38 Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. 192. 39 E.[rnst] Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig: Barth 1905, S. 19, 63. 40 Terdiman, Present Päst, S. 240. 41 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe II; Fischer-Tb Wissenschaft 7302), S. 550. 42 Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Fragen der Gesellschaft - Ursprünge der Religion. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe IX; Fischer-Tb Wissenschaft 7309), S. 191-270, S. 201. - Schnitzler kannte beide Werke, vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1983, S. 223. 43 Terdiman, Present Past, S. 287. 44 Der Zusammenhang wird überaus einleuchtend entwickelt in Terdimans zweiten FreudKapitel, „Mnemo-Analysis", ebda., S. 289-343. - Zu den Schwierigkeiten, die Freuds Unterscheidung zwischen „fixed memories" und „unreliable recollections" aufwirft, vgl. auch Israel Rosenfield: The Invention of Memory. A New View of the Brain. New York: Basic Books 1988, S. 72-80. 45 Vgl. v.a. Worbs, Nervenkunst, S. 252-258, und Horst Thomé: Kernlosigkeit und Pose. Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie. In: Fin de siècle. Zur Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Hrsg. v. Klaus Bohnen u. Conny Bauer. Kopenhagen/München: Fink 1984 (= Text & Kontext SR 20), S. 62-87. - Zur Doppelgänger-Diskussion, zu den Prioritätstheorien und zu Schnitzlers Kritik an der Psychoanalyse vgl. Kap. VI,1. 46 Vgl. Arthur Schnitzler: Über Psychoanalyse [Hrsg. v. Reinhard Urbach]. In: Protokolle 1976/2, S. 277-284, S. 281. 47 Ebda., S. 283f. 48 28. Januar [1908]. In: Hermann Bahr: Tagebuch. Berlin: Paul Cassirer 1909, S. 164. - Ausführlich diskutiert wird dieser bemerkenswerte Text bei Viktor 2megac: Kunsttheorie und Gesellschaftskritik in der Wiener Moderne. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von
Anmerkungen
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der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980). Hrsg. v. Herbert Zeman. Tl. 1. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989 ( = Die österreichische Literatur [4/1]), S. 475-496, S. 478-481. 49 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis [1950; üs. v. Holde Lhoest-Offermann], M. e. Geleitwort v. Heinz Maus. Frankfurt 1985 ( = Fischer-Tb Wissenschaft 7359), S. 151. 50 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt 1971 ( = Fischer-Tb 6144), S. 206. 51 Ebda., S. 193. 52 Diese Schlagworte werden nichtsdestoweniger fixe normative Chiffren, sowohl für den Schriftsteller als auch für den Leser Schnitzler. Auch das Tagebuch spricht von „Intensität, Continuität, Einheit als Kriterien des Kunstwerks" oder von „Einheit, Continuität und Intensität als Kriterien des Kunstwerks" (17.8.1908; 14.12.1911). Über Hofmannsthals .Elektra' heißt es allerdings: „Continuität - Intensität - Einheit - alles da. Aber Notwendigkeit?-" (22.3.1909). 53 Gerd Theissen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. v. Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frankfurt 1988 (= stw 724), S. 170-196, S. 175 passim. 54 Vgl. Jan Assmann: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Assmann/Harth (Hrsg.), Mnemosyne, S. 337-355. 55 Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis [üs. v. Elisabeth Hartfelder]. Fïankfurt/Paris: Campus/Éditions de la Maison des Sciences de l'Homme 1992 ( = Historische Studien 6), S. 104. 56 Franz Mußner: Traktat über die Juden. München: Kösel 1979, S. 161. 57 Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis [üs. v. Wolfgang Heuß]. Berlin 1996 ( = Wagenbachs Taschenbuch 260), S. 10. 58 Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur. Göttingen: Wallstein 1996 ( = Politik Sprache - Poesie 1), S. 29. 59 Horst Folkers: Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung. In: Assmann/Harth (Hrsg.), Mnemosyne, S. 363-377, S. 366. 60 Steven Beller erläutert diese säkulare Überlieferung traditionell jüdischer Werte anhand eines Panoramas des Wiener Kulturlebens bis zum „Anschluß" (Vienna and the Jews. 1867-1938. A cultural history. Cambridge: Cambridge University Press 1990; zu Schnitzler vgl. v.a. S. 217-221). Zur Situation der jüdischen Intelligenz im Wien der Jahrhundertwende vgl. auch Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität [üs. v. Robert Fleck], Wien: ÖBV 1990, S. 259-408. - Beschwörend schrieb Lion Feuchtwanger 1930 ein Kapitel über den .Nutzen des jüdischen „Gedächtnisses" für die Welt': „Daß die Literatur das Gedächtnis der Menschheit ist, daß sich die Ereichnisse der Art nur durch Sprache und Schrift fortpflanzen lassen, ist eine der frühesten Erkenntnisse dieser Menschengruppe" (Der historische Prozeß der Juden. In: Lion Feuchtwanger: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt 1984 ( = Fischer-Tb 5823), S. 460-466, S. 466). 61 Zu dem von Philip Rieff entliehenen Begriff vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum [üs. v. Wolfgang Heuß]. Berlin: Wagenbach 1992, S. 27f. 62 Peter Burke: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Assmann/Harth (Hrsg.), Mnemosyne, S. 289-304, S. 297. - Dasselbe gilt beispielsweise auch für sprachliche Randgruppen, vgl.
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Einleitung: Kritik u n d Krise des Gedächtnisses das Kapitel ,Am Leitfaden der Erinnerungen' bei Iso Camartin: Nichts als Worte? Ein Plädoyer für Kleinsprachen. Frankfurt 1992 (= st 1974), S. 220-241, S. 221: „Die Geschichte erweist sich immer als die größte Sinnreserve, wenn diese in der Gegenwart knapp wird das gilt auch für große Kulturen. Dringlicher auf Erinnerungen angewiesen ist jedoch, wem die Zukunft wenig Lockendes entgegenhält, wer zu befürchten hat, mit seinem Los und seinem Einsatz zu den Verlierern zu gehören."
63 Vgl. Schnitzlers Brief an Richard Charmatz v. 4.1.1913 (B 11,4); zu diesem Zusammenhang vgl. Kap. 111,2. 64 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann/Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, S. 9-19, S. 13. 65 Mario Erdheim gibt zahlreiche historische Beispiele dafür, daß die Verdrängung aggressiver Impulse ins Unbewußte der jeweils Regierten eine überaus effektive Herrschaftstechnik ist (Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt 1984 (= stw 465), S. 369-435; zum Schnitzler-FreudParallelismus bei der „Entdeckung des Unbewußten" vgl. S. 76-81, 103-107). - Analog funktioniert die außengesteuerte „Verdrängung" subversiver sozialer oder historischer Erinnerung. Das klassische literarische Fallbeispiel ist George Orwells .Nineteen EightyFour' (1949). 66 Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und vom Vergessen [1979; üs. v. Franz Peter Künzel]. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 7. - Dieser Satz hat bei Kundera allerdings ein höchst intrikate doppelte Moral: Sein Sprecher, ein tschechischer Dissident, der belastendes Material, Briefe und Protokolle, aus archivalischem Furor aufhebt, führt nicht nur für sich, sondern auch für seine Freunde die Katastrophe herbei. Die Anstrengungen des Regimes, die Erinnerung an die Verhafteten zu löschen, gibt dem Satz erst dialektisch recht. - Das Zitat hat Jorge Semprún seinem Erinnerungsbuch ,Was für ein schöner Sonntag!' (OA 1980) als Motto vorangestellt. Zwischen vielen Schriftstellern und Schriftstellerinnen scheint es eine geheime Brüder- und Schwesternschaft des Erinnerns zu geben. 67 Thomé, Kernlosigkeit und Pose, S. 65. 68 Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler und die Aufklärung. München: Fink 1977, S. 10. 69 .Fräulein Else' (1924) stellt einen Sonderfall dar. Hier hat die Modernität der Erzählstrategie den Trivialitätsverdacht tatsächlich unterbunden. 70 Zur generellen Programm- und Theorielosigkeit des Jungen Wien vgl.: Einführung des Herausgebers. In: Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902. Ausgew., eingel. u. hrsg. v. Gotthart Wunberg. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1976, Bd. 1: 1887-1896, S. XXXVII-XC, bes. S. LXXXVIf.; Ders.: Wien und Berlin: Zum Thema Tradition und Moderne. In: Cahiers d'études germaniques 24 (1993), S. 219-229, S. 220ff. 71 Vgl. die wegweisende Studie von Norbert Abels: Sicherheit ist nirgends. Judentum und Aufklärung bei Arthur Schnitzler. Königstein: Athenäum 1982, S. 37. - Die Wendung „Treue des Gedächtnisses" zitiert einen Aphorismus Schnitzlers: „Das Vergangene abgetan sein lassen, die Zukunft der Vorsehung anheimstellen - beides heißt den eigentlichen Sinn der Gegenwart nicht verstehen, die überhaupt nur so weit als Realität gelten kann, als sie durch Treue des Gedächtnisses das Vergangene zu bewahren, durch Bewußtsein der Verantwortung die Zukunft in sich einzubeziehen versteht" (AB 47). 72 Eintragung v. 22.5.1905 (TB).
Anmerkungen
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73 Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 292. 74 Zur Literatur bis 1975 vgl. Herbert Seidler: Die Forschung zu Arthur Schnitzler seit 1945. In: ZSfdtPh 95 (1976), S. 567-595; danach Thomé, Sozialgeschichtliche Perspektiven der neueren Schnitzler-Forschung. - Neben den Schnitzler-Bibliographien von Richard H. Allen und Jeffrey B. Berlin bieten eine erste Orientierung die Kommentare und Einführungen von Reinhard Urbach (Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München: Winkler 1974), Hartmut Scheible (Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1976 [= rowohlts monographien 235]) und Michaela L. Perlmann (Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987 [= Sammlung Metzler 239]). Auch das biographische Interesse an Schnitzler ist ungebrochen, nach Renate Wagner: Arthur Schnitzler. Eine Biographie. Wien: Molden 1981, erschienen zuletzt: Ulrich Weinzierl: Arthur Schnitzler. Lieben - Träumen - Sterben. Frankfurt: S. Fischer 1994; Roberta Ascarelli: Arthur Schnitzler. Pordenone: Edizioni Studio Tesi 1995 (= Iconografia 9); Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Una vita a Vienna 1862-1931. Milano: Mondadori 1997; Friedrich Rothe: Arthur Schnitzler und Adele Sandrock. Theater über Theater. Berlin: Rowohlt 1997 (Paare). - Die Diskussion des Forschungsstandes wird daher jeweils von den untersuchten Texten ausgehen und bleibt auf sie hin perspektiviert. 75 Anfang der achtziger Jahre tritt generell ein zunehmendes literaturwissenschaftliches Interesse am Thema „Literatur und Judentum" auf. Zu den prekären methodologischen und ideologischen Altlasten, mit denen eine solche Fragestellung zu tun hat, vgl. Konrad Feilchenfeldt: Die Wiederentdeckung des „Juden" in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Christoph König. Frankfurt 1996 (= Kultur und Medien; Fischer-Tb 12963), S. 231-244. 76 Auch in der gegenwärtigen Krise spielen neue Medientechnologien die entscheidende Rolle; neben ungeahnte technische Speicherkapazitäten tritt eine globale Konsumindustrie, die immerfort Vergeßlichkeit produziert. Die Reaktion auf dieses Doppelphänomen verläuft ebenfalls analog und zeigt sich seit etwa zehn Jahren als forciertes interdisziplinäres Interesse für die Mechanismen des Gedächtnisses und ihre kulturelle Bedeutung: „Gedächtnisforschung hat Konjunktur" (Schmidt, Gedächtnisforschungen, S. 9). Aleida Assmann stellt außerdem die Frage, ob es sich dabei nicht um eine typische Fin de siècle-Erscheinung handle und ob nicht der Respekt vor der Jahrtausendschwelle den Blick zurückwende (Mnemosyne. Bericht über die Tagung vom 10. -13. April 1988 im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg. Typoskript; zit. nach Schmidt, ebda., S. 10). 77 Vgl. Dan Diner: Gedächtnis und Institution. Über zweierlei Ethnos. In: Ders.: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 113-121, S. 119. 78 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis [üs. v. Wolfgang Kaiser], Berlin: Wagenbach 1990 (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16), S. 11.
ZWEITER TEIL
VERGESSEN UND ERINNERN. TRIVIALLITERATUR UND K U N S T
1. Vergeßliche Verse. Schnitzlers lyrische Anfänge Ich will Dich erinnern und
flüstern:
Dein, Liebster, vergeß ich nie. Und wenn Dich alles verlassen, Ich bleib Dir, die Poesie. (Arthur Schnitzler, 28. November 1880)
A. Am Ursprung des Jungen Wien: Die .Schöne Blaue Donau' Voll Empörung beklagte sich Schnitzler im März 1890 bei seiner „Muse", der Thalhofwirtin Olga Waissnix, über ein offenbar gravierendes Produktionshindernis: Alles, was deutsch spricht oder liest, fühlt sich als Familienblattpublicum und zittert für die keuschen Frauen und die zarten Töchterlein. Was wirklich geschieht, darf man noch nicht schreiben und über die banalsten Wahrheiten gerathen sie in Entsetzen. Mich ekelts, - stellen Sie sich vor, immer diese Antworten: „Schreiben Sie was für die Familien." Und diese moderne „Familie", die niedrigste Lüge, und aus den gemeinsten Instincten hervorgegangen! 1
Der ekelgeschüttelte Autor greift ein Feindbild aus dem Fundus des Naturalismus an: Kaum ein Vierteljahr später wird die Berliner .Freie Bühne' ein Drama uraufführen, das im Untertitel ,Eine Familienkatastrophe' heißt. In Gerhart Hauptmanns .Friedensfest' sollte die „gequälte, plumpe Lüge" der bürgerlichen Familie entlarvt werden. 2 Schnitzlers Anleihe bei der naturalistischen Polemik und seine demonstrativ snobistische Pose sind zu einem guten Teil apologetisch zu verstehen. Denn erstens hatte Schnitzler zehn Jahre zuvor, in einem Gedicht aus dem Jahr 1880, noch heiterer von seiner unbürgerlichen Kunst gedacht: Frivol nennt ihr die kleinen Lieder hier, Nun gut, ich will's Euch weiter nicht verdenken Und gebe zu: es ist justr kein Brevier, Ums jungen Mädchen zur Lektür zu schenken. (FG 27)
Und zweitens hatte er bis dato fast alle Veröffentlichungen einem Familienblatt zu verdanken: Die Skizzen .Mein Freund Ypsilon', .Amerika' und .Der Andere', der .Anatol'-Einakter .Episode' und acht seiner Gedichte waren erst im vergangenen Jahr in der Zeitschrift ,An der Schönen Blauen Donau' erschienen. 3 Drittens stellte Schnitzler auch nach seinem rhetori-
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
sehen Protestbrief die Mitarbeit an dem Journal keineswegs ein. Bis zum Jahresende 1890 brachte die ,Schöne Blaue Donau' sein Dramolett ,Alkandi's Lied' und weitere fünf „Anatol"-Gedichte.4 Es beklagt sich also einer, der noch kaum andere Publikationsmöglichkeiten zur Verfügung hatte als ein Periodikum, das sich programmatisch an die Familie wandte, um ihr „eine reichhaltige abwechslungsvolle und gesunde Lecture zu bieten". 5 Das 1886 von Fedor Mamroth (1851-1907) in Wien gegründete „Unterhaltungsblatt für die Familie" bediente seine Leser mit einer typischen Mischung, die das Erfolgsrezept aller Familienblätter war.6 Noch Jahrzehnte später glossierte die literarische Kritik die ängstliche Konformität der Redaktionen: „Die stetige Furcht vor der Unzufriedenheit der Abonnenten und vor dem Ideenreichtum der Konkurrenz bringt es zu Wege, daß alle unsere illustrierten Familienblätter sich äußerlich und innerlich so verzweifelt ähnlich sehen", urteilte etwa Ernst von Wolzogen. „Alle haben sie ihre Rätsel- und Spielecke, die Abteilung ,Für unsere Frauen', ,Für unsere Kleinen'"7 - natürlich hatte sich auch die .Schöne Blaue Donau' beeilt, eine „Frauen-Zeitung" und eine „Spiel-Zeitung" einzurichten. Generell neigte die Gattung zur Infantilisierung und war bestrebt, sich als „einen idealen literarischen Kindergarten" zu präsentieren, „in dem die zartesten Gemüter auch ohne elterliche Aufsicht vor jedem rauhen Hauch der Wirklichkeit bewahrt sind".8 Ganz in diesem Sinn und mit deutlicher Orientierung am jungen weiblichen Publikum verhandelte die .Schöne Blaue Donau' Einzelheiten der Gesundheits- und Schönheitspflege sowie des guten Tons. In „Fragetafeln" wurden Themen wie: „Ist die traditionelle Abneigung gegen Schwiegermütter gerechtfertigt?" oder „Welches ist die bessere Gewähr für das dauernde Glück einer Ehe, die Neigung oder die Mitgift?", den Leserinnen und Lesern zur Diskussion gestellt.9 Als sich die Redaktion im Oktober 1888 dann erkundigte: „Darf man die .Schöne Blaue Donau' Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren bedingungslos in die Hand geben?", konnte sie zwei Nummern später befriedigt melden, die eingelaufenen Zuschriften hätten diese Frage „mit erdrückender Majorität" bejaht.10 Schnitzler war daher bereits mit seinem allerersten Beitrag zum Jahrgang 1886 ernsthaft an die Grenzen der Familienblatt-Toleranz gestoßen. Er hatte drei Gedichte eingesandt, von denen die Redaktion eines auswählte; wegen des erotischen Themas wurde es aber vorsichtshalber anonym in den Leser-,Briefkasten' gesetzt. Den Abdruck „an dieser Stelle" begründete man mit dem „pathologischen Zug" der Verse, „der viel-
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Die Titelvignette der ersten Jahrgänge zitiert unmißverständlich die .Gartenlaube' und bildet Zielpublikum und ideale Lektürehaltung ab.
leicht d e m einen oder dem anderen unserer dilettierenden Poeten zur L e h r e d i e n t " . P a t h o l o g i s c h w i r k t d e r T e x t h e u t e gar n i c h t m e h r -
höch-
stens diätetisch: Geheimniß. Wie wir so still an einem Tische saßen, Als hätten wir uns früher nie geseh'n; Und ganz geruhig unsern Spargel aßen, Als wäre gar nichts zwischen uns gescheh'n. Und wie, als wenn ich's nicht am besten wüßte Die Leute mir erzählten, wer Du bist, Und ich zum Abschied Dir das Händchen küßte, Als hätt' ich Deinen Nacken nie geküßt. 11 Der redaktionelle K o m m e n t a r wollte nicht e i n m a l die pikanten erotischen Konnotationen gelten lassen: Liebende, die Spargel essen! Die Komik dieses Bildes war gewiß keine beabsichtigte. Die Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Dichter über das Menu der Tafel berichtet, bringt die hübsche Idee um, die seinen Versen zugrundeliegt. 12
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
Geradezu prophetisch klingt in diesem Zusammenhang ein Gedicht, das Schnitzler bereits 1880 geschrieben hatte: Wehe, meine Dichterlaufbahn Ist beendigt, ist durchwandelt, Holde Muse! treulos hast Du An dem einstgen Lieb gehandelt. Muß mir eine andre suchen, Eine Muse keusch und stille, Nicht wie Du, so kühn und sinnlich Prangend in durchglühter Fülle. Eine brave, deutsche Muse, Die, sobald es mein Verlangen, An mein Herz sich liebend schließet, Mir die Lippen küßt und Wangen. Geh nur, geh nur, wilde Muse Will zu einer andern eilen, Werde mir die Muse ausleihn Von L'Arronge, vielleicht von Weilen. (FG 26) 1 3
Ironischerweise sollte er sich im Jahrgang 1886 der .Schönen Blauen Donau' wirklich an der Seite des Letztgenannten wiederfinden; der loyale Josef von Weilen, Redakteur des Kronprinzenwerks .Österreich-Ungarn in Wort und Bild', steuerte unter anderem das Poem .Einem Fürstenkinde. Zum zweiten Namenstage' bei. 1 4 Drei Jahre später begann Schnitzler trotzdem, regelmäßig in der ,Blauen Donau' zu publizieren, wozu gewiß auch seine Freundschaft mit Paul Goldmann (1865-1935) beigetragen haben mag; Goldmann war Mamroths Neffe und von April 1889 bis Mai 1890 Mitredakteur der Zeitschrift. 15 Mamroth selbst hatte 1888 die Herausgeberschaft zurückgelegt; er wechselte 1889 als Feuilletonredakteur zur .Frankfurter Zeitung', gehörte aber noch bis 1890 dem Redaktionskomitee der .Schönen Blauen Donau' an. 16 Unter Paul Goldmanns Ägide verjüngte sich der Beiträgerkreis erheblich; sogar für allerlei Frivolitäten gab es jetzt Lizenzen. Im Juli 1989 erschienen beispielsweise Schnitzlers .Lieder eines Nervösen', die sich nun tatsächlich demonstrativ „pathologische Züge" angeschminkt hatten. Die vier mit „Anatol" unterschriebenen Gedichte lehnten sich elegisch ans Zeitthema
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der weltschmerzlichen Dekadenz an. Schon der Titel des zweiten, .Apathie', signalisierte eine Bestandsaufnahme depressiver Symptome: Von süßem Weine trank ich Glas um Glas; Die trüben Sinne könnt' ich nicht berauschen. Ein holdes Kind an meiner Seite saß, Doch ihren Worten wüßt' ich nicht zu lauschen. Ein lustig Singen schallte um mich her Mir war es nichts als ein Gewirr von Tönen. Mein Auge, tauchend in ein Lichtermeer, War allzu müd, daran sich zu gewöhnen. Und Alles lebte, Alles freute sich, Manch Herzenskranken sah ich neu gesunden. Die Maid an meiner Seite küßte mich Ich schaute auf - ich hatte nichts empfunden. 1 7
Das lyrische Ich posiert melancholische Skepsis und spöttische Verachtung für jede Liebesillusion: „Ich mag in tiefsten Rausch versinken - / An eine Treue glaub ich nicht". 18 Nur das letzte Lied, .Moderne Erfahrung und Philosophie', in dem Freundschaft, Liebe und Poesie nacheinander als trügerische Fiktionen verabschiedet werden, zeigt wenigstens eine Spur von Selbstironie: „Möchte mich gern zu was entschließen; - / Bin zu wehleidig, mich todtzuschießen . . .".19 Dieser schwach pointierte Anlauf zu einer „Nervenkunst" wurde denn auch von Richard Beer-Hofmann, dem internen Kritiker des Jung-Wien, höflich gerügt. 20 Für die .Schöne Blaue Donau' war der Abdruck solcher Texte aber schon eine sehr weitgehende Konzession an die nicht ganz geheure „moderne" Richtung und kam wohl nur durch Paul Goldmanns unermüdliche Begeisterung für die jüngste Literatur zustande. Selbst der sechzehnjährige Hugo von Hofmannsthal hat sein allererstes Gedicht, .Frage', im Juni 1890 in der .Schönen Blauen Donau' veröffentlicht, weitere Beiträge folgten. 21 Auch für Felix Saiten, Felix Dörmann und Rudolph Lothar hatten sich die Spalten des Blattes geöffnet, 22 so daß die Redaktionsstube der .Schönen Blauen Donau' um diese Zeit als „ein Zentrum aller an moderner Literatur interessierten österreichischen Dichter" gelten konnte. 23 Wenn die Ursprungsgeschichte des Jungen Wien immer wieder auf die 1890 von Eduard Michael Kafka gegründete und programmatisch am Naturalismus orientierte Zeitschrift .Moderne Dichtung' zurückgeführt wird, gerät die
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
Rolle der .Schönen Blauen Donau' dadurch ein wenig ins Hintertreffen. Zumindest die zeitliche Priorität darf Mamroths Journal für sich beanspruchen; die Geburt der Wiener Moderne, soviel ist zuzugeben, verdankt sich nicht zuletzt dem Geist des Familienblatts. Denn an den Richtlinien der Zeitschrift, die auf die Zielgruppe der Familie hinausliefen, hatte sich nichts geändert. Nach dem ungeschriebenen Gesetz der Familienblätter war auch in der .Schönen Blauen Donau' für tagespolitische, soziale und konfessionelle Fragen keine Seite frei. Die Redaktion konnte sich auch nur deswegen so weit mit den poetischen Neuerern einlassen, weil der Wiener Ästhetizismus im Unterschied zum gesellschaftskritischen Berliner Naturalismus all diese Themen von vornherein vermied. Für den Erfolg der publizistischen Gattung „Familienblatt" war ein apolitischer Quietismus ausschlaggebend. 24 Der Siegeszug dieses Zeitschriftentyps hatte nach 1848 begonnen, als die Tagespresse unter den Zensurbedingungen litt. Das neue Periodikum antwortete mit der Verklärung privater Harmonie in der Familie und wurde zum eigentlichen „Nutznießer der gescheiterten .bürgerlichen' Revolution". 25 Freisinnige Herausgeber wie Karl Gutzkow, der ab 1852 die .Unterhaltungen am häuslichen Herd' leitete, gerieten mit dem deklarierten Verzicht auf jede „Tendenz" noch in Konflikt; aber schon der liberale und im Vormärz noch mit Gefängnisstrafen belegte Ernst Keil hielt sich mit seiner Gründung, der .Gartenlaube', streng an die Auflagen, die eine Verbreitung erst möglich machten. Im Sog der .Gartenlaube' (1853-1944), des „Prototyps" der Gattung, 26 wurden die Familienblätter für ein Vierteljahrhundert zu den auflagestärksten Periodika; sie lösten den Durchbruch der Massenpresse aus. Mit der knappen Preiskalkulation und dem Vertriebssystem der Kolportage erreichten sie neue, kleinbürgerliche Leserschichten; die Einschränkung auf „häusliche" Interessen gewann ihnen vor allem ein weibliches Publikum. Einsendungen wurden in „Briefkästen" beantwortet, was eine starke Leserbindung schuf. Obwohl die Tagespolitik tabu blieb, spekulierten die deutschen Blätter ab 1870/71 durchaus auf vaterländische Interessen und konnten auch dadurch den Absatz steigern. Wenn die .Gartenlaube' im Jahr 1875 mit 382.000 Exemplaren die höchste je erreichte Auflage eines Presseprodukts vorweisen konnte, so wird die Attraktivität des Familienblattes auch für seine Beiträger deutlich; kein anderes Publikationsorgan war in der Lage, seinen Autoren zu gleicher Popularität und ähnlichen Einkünften zu verhelfen. Das Familienblatt „machte" seine Schriftsteller - mit der .Gartenlaube' war Eugenie Marlitt berühmt geworden, mit ,Über Land und
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Ab dem Jahrgang 1889 wird dann das patriotische Interesse im Schild geführt: Die neue Vignette zeigt nicht nur das Reichswappen, sondern stellt die Laube auch vor den offenen Hintergrund des Wien-Panoramas. Diese „Horizonterweiterung" des Blattes fällt tatsächlich mit dem Generationswechsel der Beiträger zusammen, obwohl sich die jungen Autoren natürlich keineswegs dem vaterländischen Anliegen verpflichten.
Meer' Friedrich Hackländer - , und es zog mit Stolz auch „erste Namen" an wie Theodor Storm, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe oder Marie von Ebner-Eschenbach. 2 7 Als Schnitzler und Hofmannsthal mit ihren ersten Veröffentlichungen ins Familienblatt gerieten, waren sie an einer Adresse, die um den Preis der Anpassung an die familiengerechten Vorgaben durchaus als Karrieresprungbrett hätte dienen können. Allerdings hatte das Medium in den achtziger Jahren den Höhepunkt seiner Entwicklung bereits überschritten. Der Funktionsverlust der bürgerlichen Familie spiegelte sich im Absatzrückgang der großen Zeitschriften, was eine Pressekonzentration zur Folge hatte. Viele Blätter gingen ein oder wurden fusioniert. Insofern fallen die Erscheinungsjahre der ,Schönen Blauen Donau' schon in die Krisenzeit der Gattung, wozu noch kommt, daß in Österreich-Ungarn der Erfolg der deutschen Vorbilder ohnehin nie erreicht worden war. 28 Zwar befolgte die Redaktion streng alle Strategien des Familienblatts : Die Zusammenstellung der belletristischen und musikalischen Beiträge orientierte sich am häuslichen Leserkreis, die Interessen des weiblichen Publikums wurden vorgezogen, die „Leserbindung" wurde
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durch den „Briefkasten", durch die „Fragetafeln" und durch Leserumfragen, sogenannte „Plebiscite", befördert. 29 Noch 1889 unterstrich eine redaktionelle Notiz zwei weitere Absatzfaktoren, Patriotismus und Preis: ,Die Schöne Blaue Donau', „dieses vaterländische Unternehmen", sei zwar zu einer geringfügigen Preiserhöhung gezwungen - ein Nummer kostete von da an 18 Kreuzer - , behaupte aber immer noch „ihren Rang als das billigste unter den deutschen Familienblättern". 30 Trotzdem mußte die Zeitschrift schon im Jahr darauf zu einem Mittel greifen, das man vielfach zur Sanierung gefährdeter Periodika einsetzte: Ab 1891 konnte das Blatt nur mehr als Beilage der Tageszeitung ,Die Presse' weitergeführt werden. Im Jänner 1896 erschien die .Schöne Blaue Donau' zum letzten Mal, mit Jahresende stellte auch die .Presse' selbst ihr Erscheinen ein. Der Rückgang des Familienblattes ab den achtziger Jahren traf mit einer massiven Kritik der Gattung zusammen, die von zwei Seiten geführt wurde - von den Naturalisten und von den Frauen. 31 Die 1885 gegründete Münchner ,Gesellschaft' rechnete programmatisch mit der „geist- und freiheitmörderischen Verwechslung von Familie und Kinderstube" durch die Familienblätter ab. 32 Der naturalistische Anspruch auf „Wahrheit" konturierte sich als Polemik gegen den Pseudo-Idealismus des Familienblattromans; die Differenz zwischen dem Familienblatt-Kanon und der literarischen Avantgarde in Deutschland wurde unüberbrückbar. Die Trivialität der Gattung führte man auf den hohen Anteil weiblicher Autoren und Leser zurück, wogegen sich wiederum engagierte Frauenrechtlerinnen zur Wehr setzten. Rosa Mayreder etwa drehte die Argumentation um und warf der Familienblattliteratur vor, sie züchte bewußt den Typus des angepaßten jungen Mädchens; sie zähle zu den „wirksamsten Suggestivmitteln, durch welche die traditionelle Weiblichkeit herangebildet wird". Die Gattung beschränke sich darauf, „die geistige Verproviantierung des Familientisches zu besorgen": Die Welt, wie sie hier dargestellt werden muß, ist von chinesischen Mauern eingeschlossen, innerhalb welcher die Vorgänge sich nach feststehenden Regeln abspielen, sie ist eine Puppenbühne, auf der eine Anzahl stereotyper Figuren und Gedanken in ewig wiederholten Variationen die fable convenue aufführen, die für den Familientisch das menschliche Leben und Treiben repräsentiert. 33
Die „keuschen Frauen und die zarten Töchterlein", auf die das Familienblatt Rücksicht zu nehmen vorgab, waren damit als Strohmänner handfester patriarchalischer Motive entlarvt; dem Scheincharakter des Zielpublikums Familie entsprach die literarische Pseudokunst, die ihm gebo-
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ten wurde. Schnitzler hatte mit seinem entrüsteten Schreiben an Olga Waissnix zwar eine eilige Selbstrechtfertigung getrieben - der Richtigkeit seines Befundes tut das keinen Abbruch. „Was wirklich geschieht, darf man noch nicht schreiben": Wirklich geschah eine Adaption der Literatur an die Interessen der Kulturindustrie, und das Familienblatt war ihr Prophet. Die zeitgenössische Kritik an der Scheinkultur des Familienblattes traf eine „idyllische Verklärungsform", welche die Familie als homogenen Rezipientenkreis nur mehr fingierte. Gerade die vollständige Kommerzialisierung der Zeitschriftensparte führte nicht die familiäre Gesprächssituation, sondern bloß isolierte Unterhaltungsmomente herbei: Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption. 34
Die Stereotypie und Trivialität der Familienblattliteratur befriedigt damit ein immer gleiches Leserbedürfnis, welches es zugleich erweckt, ein Regelkreis, in dem das ursprünglich liberale Vorhaben der Volksbildung verkommt. Wenn die einzelnen Familienblätter so austauschbar sind wie der Inhalt ihrer Nummern, so deswegen, weil sie der Originalität ihrer Beiträge ebensowenig zutrauen wie dem Gedächtnis ihrer Leser. Das Familienblatt ist das erste massenhafte Presseprodukt, das den Kulturkonsum, also die Annullierung kultureller Erinnerung, gesellschaftsfähig gemacht hat. 35 Sein langsames Verschwinden gegen die Jahrhundertwende zu beruht dann auch nur darauf, daß dem Zerfall von Familie, bürgerlicher Öffentlichkeit und kulturellem Gedächtnis ein anderes Medium, die „moderne" Illustrierte, noch viel besser entspricht.
B. ,Der widerspänstige Pegasus'. Lyrik im Familienblatt Von dem Trivialisierungsprozeß, den die Literatur im Familienblatt durchmacht, ist eine Gattung besonders betroffen: die Lyrik.36 Schon vor 1848 richtet sich die zeitgenössische Kritik gegen den Verfall poetischer Normen. Der Dilettantismus der Klassik-Epigonen übte sich in der Reproduktion eingeschliffener lyrischer Verfahren. Paradoxerweise schlägt das Übermaß an Traditionen in einen Traditionsverlust um, in „ein gleichsam .leeres' Traditionsbewußtsein ohne Geschichtsbindung, das zwangsläufig zu
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lyrischer Klitterei führen mußte". 37 Allerdings tritt dieser Entwicklung im Vormärz eine poetische Avantgarde entgegen, die mit dem klassischromantischen Formenarsenal experimentiert und es (auch ironisch) reflektiert. 38 Aber um die Mitte des Jahrhunderts setzt eine lyrische Massenproduktion ein, die noch die spät- und nachromantischen Vorbilder gnadenlos banalisiert. Vermittlungsformen sind die Familienblätter und die - zum Teil aus der Familienblattpoesie kompilierten - dutzendweise erscheinenden Anthologien. 39 Die Orientierung am Zielpublikum und die entsprechende Selbstzensur der Periodika schlagen auf die Qualität der Gedichtbeiträge so einschneidend zurück, daß die Gattung selbst, sofern sie überhaupt Breitenwirkung erzielt, in der zweiten Jahrhunderthälfte verfällt: „Das Medium des Familienblatts diktiert die Poesie und kommandiert ihre Hersteller". 40 Die Auswahl wird gesteuert durch konventionelle formale Normen wie etwa metrische Korrektheit, aber auch durch ein inhaltliches Themenregister, das poetischen „Gelegenheiten" wie der Begegnung mit der Natur, dem Ablauf der Jahreszeiten, Fest- und Feierstunden und patriotischen Anlässen verpflichtet ist. 41 Nach solchen rezeptionsverengenden Vorgaben werden nicht nur die jeweils aktuellen Beiträge ausgestanzt; die simple Gliederung bereitet auch eine trivialisierende Lektüre des klassischen Lyrikkanons vor. Die Unterschiede zwischen Goethe und Geibel, Schiller und Scheffel werden durch schlichte Nachbarschaft nivelliert. Und ausgeblendet bleibt alles, was sich mit den Harmonisierungstendenzen dieser Beschwichtigungspoesie nicht vertragen mag: die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Krisenerfahrungen in der Ära des Industriekapitalismus. Vor der technisierten Gegenwart tritt die Lyrik die Flucht in ein deutsch-patriotisch verstandenes Mittelalter, in eine exotische Wunschgeographie oder in eine idyllisch verklärte Natur an. 42 Diese Kulissenschieberei bezweckt immer nur eins: die möglichst große Distanz zur kruden Realität. Ein solcher Eskapismus verkleinert die Lesererwartung ebenso wie den lyrischen Gegenstand: Die populären Gedichte verkümmern zu Nippes. Eine „Ausstattungs- oder Requisitenlyrik" 43 stellt völlig beliebige poetische Gegenstände gleichsam zum Makart-Strauß zusammen. Dem gefälligen Arrangement entspricht ein konsumorientiertes Leserverhalten; die Texte werden kompensatorisch rezipiert, ihre Hauptfunktion besteht darin, eine widerständig erfahrene Wirklichkeit auszublenden: „Der Blick gründerzeitlicher .Kultur' schweift hinaus und zurück, geht bewußt vorbei an der eigenen Epoche, deren Ärgernisse vergessen zu machen zum Hauptgeschäft der Kunstschaffenden wird". 44
1. Vergeßliche Verse. Schnitzlers lyrische Anfänge
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Der vehemente Protest der Naturalisten gegen die Familienblattliteratur greift daher mit besonderem Ingrimm die „Höflingsschaar alternder Pegasusreiter", den „Salat von .Gartenlauben-Blüten'" und den „abgestandenen Quark der Familienblätter-Genies" an. 4 5 Polemische Attacken treffen natürlich wieder jene Publikumsgruppe, die für das ganze lyrische Elend verantwortlich sein soll: Von der „Tyrannei der .höheren Töchter' und der .alten Weiber beiderlei Geschlechts'" will man sich emanzipieren. 4 6 Tatsächlich hatte sich die Gattungsrezeption im 19. Jahrhundert geschlechtsspezifisch verschoben, eine Entwicklung, die Günter Häntzschel
lapidar
resümiert hat: „Lyrik bildete eine Domäne der Mädchenschulen. Die eigentlichen Rezipienten der Lyrik sind Mädchen und Frauen". 47 Mit Rücksicht auf den (zuvor) beschränkten weiblichen Bildungshorizont wird ein Kanon vermittelt,
dessen wichtigste Funktion die ästhetische
Aus-
schmückung des häuslichen Bereichs ist. Im Gedicht wird der gesellschaftliche Status quo ideologisch verschönert und das herkömmliche Geschlechterverhältnis zementiert. Unter Berufung auf die „keuschen Frauen und die zarten Töchterlein" ist es nicht nur gelungen, die Familienblätter als einzige Periodika mit massenhafter Verbreitung für die Trivialliteratur zu reservieren; mithilfe der propagierten Unschuld des weiblichen Gemüts wird eine literarische Gattung, was ihre populären Ausformungen betrifft, über Jahrzehnte zum Domestikationsinstrument pervertiert. Die .Schöne Blaue Donau', in der den lyrischen Beiträgen verhältnismäßig viel Platz eingeräumt wird, führt diese Funktionalisierung der Poesie exemplarisch vor: Ein Text kann gar nicht anders rezipiert werden denn als Gebrauchs- und Gelegenheitsgedicht, weil die Lyrik familienblattgerecht nach jahreszeitlichen Anlässen sortiert ist. Im ersten Jahrgang beispielsweise erscheint im März ein Poem namens ,Die Königin des Frühlings', im Mai natürlich ein,Mailied', im Juni die Juninacht', im November .Allerseelen' und in der letzten Nummer .Kaiser Heinrich's IV. letzte Weihnacht', .Vor Weihnachten' und .Weihnachtsboten'. 48 Der „natürliche" Zeitzyklus von Jahreszeiten und Festen wird durch das Periodikum, auch gleichsam „natürlich", perpetuiert - ein Zirkel, der jede Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart erspart. Der Zuschnitt der Gedichtauswahl auf das apolitische Familienpublikum ist dort mit Händen zu greifen, wo die Familienbeziehungen selbst lyrisch thematisiert werden. Am häufigsten und innigsten widmet sich die Panegyrik der Familie dabei selbstverständlich der Mutter, dem zentralen Agens bürgerlicher Häuslichkeit. Der zweite Jahrgang der .Schönen Blauen Donau' etwa unterstreicht diesen Adressatenbezug durch
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
die Beiträge ,Das Bild der Mutter', .Strophen aus der Fremde. An die Mutter', ,Der Mutter Grab', aber auch durch das Dialektgedicht ,'s Voadan sein Stolz'. 49 Zum entscheidenden Familienereignis, der .Vermälung', wird poetische Begleitung angeboten - und noch die strapaziertesten Familienbindungen werden idyllisch untermalt, wie im Widmungsgedicht, An den Bräutigam meiner Tochter'. 50 Über die praktische Verwertbarkeit solcher Rezitationsvorlagen hinaus wandelt sich Lyrik zur Lebenshilfe: Viele Gedichte übernehmen ganz dezidiert Seelsorge- und Trostfunktionen - im dritten Jahrgang tragen sie die Titel .Trost',,Trostspruch' und .Verklärtes Leid'. 51 Diese ideellen Raster der Gedichtauswahl bleiben unerschüttert - auch dann, als mit dem vierten Jahrgang von 1889 und unter der Redaktion von Paul Goldmann einer jüngeren Generation von Beiträgern die Seiten der .Schönen Blauen Donau' geöffnet werden. Zwar erledigt hier Schnitzlers ,Liebesgeständnis' mit großer nihilistischer Geste jede Liebesillusion: Liebe gebe es nicht, nur „Begier und Neid; / Das and're wird von uns dazu gelogen": Ja, könntet, Weiber, Ihr die Wahrheit hören, So sagt' ich kühn: der Neid und die Begier, Sie ziehen mich allmächtig hin zu Dir Das wär' so meine Art von Liebeschwören.52
Damit ist die andere Art von Liebeschwören in der .Schönen Blauen Donau' aber keineswegs erledigt. Im selben Jahrgang sind Gedichte zu finden wie .Ich liebe Dich!', ,Lenz und Liebe' oder .Mein Eigen!', in denen die Liebe, göttlich verklärt, zu Brautschaft und Eheglück führt: Ich liebe Dich, wie Menschen lieben können, In Liebe, die zu Göttern Menschen macht Und wie sie Götter nur den Menschen gönnen, In deren Brust ihr heilig Glüh'n entfacht. Es hat die Liebe sich dem Lenze, Dem jungen Maiensohn, vermält Und sich mein Herz zum Brautgemache, Zum glückverborgenen, erwählt. Wie muß sich Alles noch schlichten und neigen Bist Du für ewig doch Mein Weib, mein Eigen! 53
1. Vergeßliche Verse. Schnitzlers lyrische Anfänge
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Im Potpourri dieser Texte gelesen, ist Schnitzlers „Anatol"-Zynismus nichts anderes als eine kecke Arabeske an der trivialen Glücksverheißung, die von der Familienblattpoesie ungerührt weiter offeriert wird. Auch wenn im darauffolgenden Jahrgang 1890 mehrere Autoren aus dem Umkreis des Jungen Wien, neben „Loris" auch Saiten oder Dörmann, zu Wort kommen - an den ästhetischen Prinzipien der .Schönen Blauen Donau' ändert das nichts. Ihre poetologischen Vorgaben werden durch programmatische Gedichte immer wieder bekräftigt und .Einem Dichter' ans Herz gelegt. Die .Modedichter' holen sich eine kräftige Abfuhr, und das Geburtstagspoem ,Der widerspänstige Pegasus' macht klar, worauf es in der Lyrik ankommt: „Will das Herz, so sprechen Steine, / Ohne Herz wird Kunst zum Spott". 54 Mit dieser herzlich-betulichen Poetik wollte sich „Anatol" zwar nicht abfinden, aber sein programmatisches Gedicht von 1890, ,An die Alten!' läßt den Protest der „Söhne" gegen die Generation im „stillen Winkel" ebenfalls in Resignation auslaufen: Ergebung heißt die Tugend! Bald schau'n auch die wie Ihr in Ruh' Dem ewigen Kampf der Straße zu Und seufzen: Kranke Jugend! 55
Gegen das Beharrungsvermögen der Gattung richtet auch das jugendliche Pathos nichts aus. Im Genre Familienblatt zeigen sich die Anatoliaden als das, was sie sind: als adoleszente Abweichungen, die von der „Familie" weitgehend toleriert werden können. Den Wahrheitsanspruch, den Schnitzlers Gedichte einfordern, können sie selbst ästhetisch nicht tragen - der Skandal, den sie hätten machen müssen, blieb aus.
C. Schnitzlers Gedichte: Poesie und Pose Vom Niveau des Familienblatts hatten Schnitzlers Beiträge keineswegs abweichen können. Daß seine Lyrik nur „eine bescheidene Seite seiner Kunst" ausmachte, konzedierte selbst der Herausgeber seiner .Frühen Gedichte' (FG 7). Die Auswahl ließ man dann bestenfalls als „Lebensdokument" und „aufschlußreiche Ergänzung zu seinem dramatischen und epischen Schaffen" gelten; 56 von der Banalität der Texte selbst war man mit Recht enttäuscht. Schnitzlers früheste poetische Versuche sind in der Tat nichts anderes als Klitterungen romantischer und nachromantischer Versatzstücke. Seine Nacht-, Herbst- und Wanderergedichte lassen sich mit den kleineren und größeren Gattungsvorbildern parallel lesen:
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O laß mich, ahnende Frühlingsnacht, Deinen flüsternden Stimmen lauschen: [ . . . ] Und die Wipfel der Buchen rauschen, [ . . . ] Warm flutet dahin leis wonniges Wehn [ . . . ]
[Felix Dahn, Frühlingsnacht)57 Hört ihr das ferne, erbrausende Rauschen? Dumpf stürzt das Wasser von felsigen Höh'n; Träumend und sinnend steh' ich zu lauschen, Leis durch das Tal zieht der Winde Wehn.
(Schnitzler, Nacht im Gasteiner Tal)58 Mürrisch braust der Eichenwald, Aller Himmel ist umzogen, Und dem Wandrer, rauh und kalt, Kommt der Herbstwind nachgeflogen.
[Nikolaus Lenau, Herbstgefühl)''9 Herbstlich gelbe Blätter flüstern, Nächtig dunkle Wolken ziehn. Durch den Wald, den einsam düstern, Wandern Musikanten hin.
(Schnitzler, Wandemde Musikanten)60 Bis in den (daktylischen, trochäischen) Rhythmus hinein trifft der Schüler Schnitzler (die genannten Gedichte entstanden 1875 und 1877) Tonfall, Stimmung und Themen des traditionellen Naturgedichts. Die vierzeilige jambische Volksliedstrophe
mit Kreuzreim oder
halbem
Kreuzreim, die in der zweiten Jahrhunderthälfte als Hohlform liedhafter Schlichtheit und volkstümlichen Empfindens ad libitum strapaziert wird, bleibt auch später Schnitzlers bevorzugte metrische Schablone. Aber sie wird nach und nach mit anderen Sujets gefüllt; altersangemessen beschäftigt nunmehr die weibliche Natur den „Schreiber": „Liest jetzt in dem Buch des Lebens, / Schreibt Gedichte an die Weiber" (FG 22). Mit einem Beispiel dieser Weiber-Strophen - es ist das Rollengedicht .Liebeslied der Ballerine' - gelingt dem Achtzehnjährigen auch die allererste Publikation; der Text erscheint am 13. November 1880 im Münchner .Freien Landesboten'. Mit ostentativer Abgebrühtheit geht es in diesem .Liebeslied' um den „Tausender", den „mein herzliebster Bankier" zu bieten hat (FG 21). Schnitzlers Studentenpoesie greift wohl auch auf drastische
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Eindrücke seiner medizinischen Ausbildung zurück, in Gedichten wie .Prosektur' oder .Frühlingsnacht im Seziersaal' (FG 18ff.), macht aber aus der persönlichen Erfahrung einen stereotypen carpe
díem-Appell n a c h
dem Muster akademischer Trinklyrik: O genießt so lang Ihr genießen könnt, Und liebet und freuet Euch, Ob er im Grab, ob im Brunnen ruht, Das ist dem Toten gleich.61 Fortan gefällt sich das lyrische Ich in zynischer Welt- und Frauenverachtung. Es greift auch nicht mehr wahllos in den poetischen Fundus, sondern schränkt sich zunehmend auf ein Vorbild ein, dessen desillusionierende Wendungen es zu imitieren versucht; seine weiteren Selbstaussprachen umweht „a pervasive Heine aroma". 6 2 In Rhetorik, Reim und Topoi paraphrasieren Schnitzlers „kleine Lieder" (FG 27) Heines große Schmerzen. Aus dem ,Buch der Lieder' stammt die „alte Geschichte" (FG 55], die, „wem sie just passieret", das Herz entzweibricht: Heine, 1827:m
Schnitzler,
Í880-1889
Ich küsse, umschlinge und presse dich wild, Du Stille, du Kalte, du Bleiche! Du reizend Schöne, Tolle, Wilde, Lass' mich umschlingen Deinen Leib [ . . . ] Es treibt mich ein dunkles Sehnen Hinauf zur Waldeshöh', Dort lös't sich auf in Thränen Mein übergroßes Weh'. Was Sonderbares klingt hervor Und füllt mein Herz mit Sehnen: Das Lied vom Glück, das ich verlor Von stummen, klagenden Tränen. So wandl' ich wieder den alten Weg, Die wohlbekannten Gassen [ . . . ] Da sitz ich im wohlbekannten Gemach Und spiele die alten Walzer und Lieder [ . . . ]
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Mit dem obstinaten Heine-Ton und der angestrengten Heine-Pointe - „Daß auch ein Herz bei diesem Spiel gebrochen, / Ist Nebensache und gehört nicht her" (FG 31) - protestiert das lyrische Ich bereits gegen die Familienblatt-Grenzen, die der poetischen „Wahrheit" gezogen sind: Gerade bei Heine-Gedichten, wenn sie denn überhaupt aufgenommen wurden, pflegten die Herausgeber der verbreitesten Anthologien die malizösen Schlußverse einfach auszulassen.65 Schnitzlers Gedichte tragen gleichsam diese gestrichenen Zeilen nach; aber ihr rhetorisches Aufbegehren bleibt eben deshalb epigonale Allüre. In den schriftstellerischen Selbstfindungskrisen der achtziger Jahre diente eine identifikatorische Heine-Lektüre zur Illustration der eigenen Stimmungen: „Zu Hause las ich unglücklicher Weise noch Heine", notierte Schnitzler im Frühjahr 18 8 2.66 Die eigenen Verse finden dann für das Unglück nur die geborgten Worte. Paradoxerweise läuft der Versuch, dem Sittlichkeitsdiktat der populären Lyrik zu entkommen, in die Trivialität der Nachahmung aus. Was auf diese Weise scheitert, sind Selbstbehauptungsversuche eines lyrischen Ich, das sich als „Poet" versteht und thematisiert. In die Genese der Gedichte ist Schnitzlers Adoleszenzkrise und die „Zerrissenheit" zwischen entfremdetem Mediziner-Alltag und der imaginären poetischen „Heimat" unmittelbar eingegangen. Der Kontrast zwischen diesen beiden obligaten Topoi, den auch die Tagebucheintragungen der Studienjahre ständig verschärfen, treibt eine lyrische Produktion hervor, deren Problem eben darin besteht, daß sie selbst die Verheißungen der allegorisch stilisierten „Poeterei" (FG 24) nicht einlösen kann: Was stört mich auf so wilde, Von Leich- und Krankenduft? Aus welchem Lustgefilde Weht solche berauschte Luft? Dies leise Tönen und Wogen Dem hab ich oft gelauscht, Bin einmal selbst gezogen Durchs Land, dem es entrauscht. So hat es nur dort geklungen Und jubiliert und gelacht, Und hat geduftet, gesungen Und hat mich selig gemacht.
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Nun will mir nicht heiter werden, Wo mich Dein Grössen fand, Du fernes, Du verlassnes Phantastisches Heimatland. 67
Je kläglicher diese poetische Selbstdarstellung gerät, desto beharrlicher wird sie weiterbetrieben. Deshalb ist das lyrische Ich in Schnitzlers Versen zuallererst mit sich selbst befaßt. Häufig nimmt es die Spitzenstellung ein und beansprucht von der ersten Zeile an die lyrische Regie: Ich glaub, es ist die Ruhe
(FG 27)
Ich wollte heiße Lieb von Herz zu Herzen
(FG 30)
Ich glaub an Deine Liebe, holdes Weib
(FG 32)
Ich möchte gern Dein dunkles Aug besingen
(FG 38)
Ich dacht es sei zu End einmal
(FG 41)
Ich glaubte der Freund war gut und rein
(FG 45)
Ich kenn auf dem Klavier ein seltsam Stück
(FG 48)
Ich wollte so schöne Verse schreiben
(FG 57)
Ich hab Dir viel gegeben
(FG 69)
Litaneiartig kehrt das „Ich" endlos wieder zu sich selbst zurück. Beginnt ein Gedicht einmal „dialogisch" Du fühlst Dich glücklich, wunderschönes Kind
(FG 27)
Du bist ein Weib wie andre Weiber mehr
(FG 31)
- so wird umgehend deutlich, daß sich das „Ich" nur in eine klischierte Weiblichkeitsimagination hinein entwirft. Raumbestimmungen hängen vollständig von der Ich-Position ab: Sitz des Abends im Kaffehaus
(FG 17)
Da sitz ich im wohlbekannten Gemach
(FG 52)
Vor meinem Schreibtisch sitze ich 6 8
(FG 55)
Je nach seinen Seelenzuständen stellt das lyrische Ich auch eine recht langweilige Zeitrechnung an: Heut morgen ruht ich im Dunkeln
(FG 22)
Die helle Früh brach an, als wir uns trafen
(FG 28)
Zwei Tage sind es, daß ich Dich verlassen
(FG 46)
Die egozentrische Ausrichtung der ersten Zeile macht jedes Gedicht zum Spiegelkabinett des Ich. In der boshaften ,Morgenandacht' (FG 61ff.) wird
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noch diese Projektionstätigkeit des Ich zynisch reflektiert. Der Zauber der Geliebten, die in der Nacht „gebenedeit" und „emporgehoben" wurde, ist im Frühlicht „verflossen", aus dem „süßen Mädel" ist eine „Dirne" geworden: Und alles, was uns aufgeblüht So trunken, wird zunichte, Ja, was so heilig Dich umglüht War Licht von meinem Lichte. (FG 63)
Was als verächtliche Pointe gemeint ist, fällt auf das Ich zurück: Es fälscht sich seine Welt im Licht seiner Stimmungen. Das traditionelle Erlebnisgedicht wird gleichsam ironisch zitiert und gebrochen. Aber um diese Brüche in ein ästhetisches Verfahren umzusetzen, ist diese Ich-Fiktion zu schwach. „Mein fadenscheiniges Ich" behilft sich mit ebenso abgetragenen lyrischen Surrogaten, „die vielen Risse / An meinem Selbst" werden mit epigonalem Plunder gestopft. 69 „Erlebt" wird nur mehr in Fiktionen und Zitaten - aber die sind aus dem postromantischen Fundus geborgt. Bei allem angestrengten Sarkasmus rufen die Gedichte immer wieder des „Mondes bleiche Strahlen", den „Abendmaien", die „wunderstille Nacht", die „grüne Au" und die „schöne Maid" auf (FG 21,40,43). Die tendenziell „moderne", reflexive Verfassung des lyrischen Ich scheitert an den abgestumpften poetischen Gegenständen, an denen es sich spiegelt. Die neue Wahrheit ist aus dem Fundus der Familienblattlyrik nicht mehr zu holen. Zu Anfang der neunziger Jahre hat Schnitzler die „Poeterei" aufgegeben. Der Konflikt zwischen Medizin und Literatur war entschieden, und mit der .Modernen Rundschau', der .Frankfurter Zeitung' und der .Freien Bühne' standen Schnitzler Publikationsmöglichkeiten zur Verfügung, die keine odiosen Rücksichten zu nehmen hatten; in den anderen Gattungen des Einakters und der Prosaskizze stellten sich langsam Erfolge ein. Trotzdem ist die kleine Münze von Schnitzlers Gedichten nicht nur das Lehrgeld, das er während seiner schriftstellerischen Identitätssuche zahlte. Die Einsicht in sein mangelndes lyrische Talent mag durch den Vergleich mit der faszinierenden Begabung Hofmannsthals beschleunigt worden sein. Aber mit dem Verzicht auf weitere mittelmäßige Verse hat Schnitzler auch seine Weigerung, „für die Familie" zu schreiben, in die Tat umgesetzt - wenn auch etwas verspätet. Von der Trivialität eines Genres, über das er selbst nicht hinauskonnte, hat er sich verabschiedet. Seine Absage gilt einer Kunst, an der nur ihr Erfolg merkwürdig ist. Wenn die Dichter „seit Menschengedenken die professionellen Organe des kulturellen Gedächtnisses"
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gewesen sind, 7 0 dann hat die Familienblattlyrik dieses Gedächtnis dem Publikumsgeschmack ausverkauft. Schnitzler karikierte später nicht nur die anempfundene romantische Wanderpoesie; im Roman ,Der Weg ins Freie' schließen die Verse des Kaffeehauspoeten Winternitz mit dem Ausruf „Hei, so jag ich durch die Welt", worauf Heinrich B e r m a n n ein- für allemal klarstellt, daß der junge Mann nicht „der Mensch [ist,] ,hei' zu rufen" (ES I,754f.). Im .Einsamen Weg' aber werden Verse zum Gedächtnis gemacht und im Gedächtnis behalten. Stephan von Sala hat nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter ein Gedicht geschrieben, an das sich Johanna Wegrat noch nach sieben Jahren erinnert: JOHANNA [ . . . ] Vor sich hin „Nun gingt ihr beide, gingt ihr Hand in Hand, die dunkle Straße in ein lichtes Land . . ." SALA Was Sie für ein Gedächtnis haben, Johanna. (DW 1,765) In der Prosa und im Drama wird Schnitzler von jetzt an u m ein solches Gedächtnis schreiben.
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Anmerkungen 1 Brief v. März 1890. In: Arthur Schnitzler - Olga Waissnix: Liebe, die starb vor der Zeit. Ein Briefwechsel. M. e. Vorwort v. Hans Weigel. Hrsg. v. Therese Nicki u. Heinrich Schnitzler. Wien: Molden 1970, S. 184. 2 In: Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hans-Egon Hass u. Martin Machatzke. 11 Bde. Frankfurt: Propyläen 1962-74, Bd. 1: Dramen [1966], S. 99-165, S. 121. - Die Uraufführung fand am 1.6.1890 statt. - Zum Verhältnis des .Friedensfests' zur Tradition des Familiendramas einerseits, zur zeitgenössischen Familienkritik andererseits vgl. Helmut Scheuer: Gerhart Hauptmanns Das Riedensfest. Zum Familiendrama im deutschen Naturalismus. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hrsg. v. Robert Leroy u. Eckart Pastor. Bern: Peter Lang 1991, S. 399-416. 3 SBD 4 (1889): .Mein Freund Ypsilon' (S. 25-28); .Amerika' (S. 197); .Episode' (S. 424-426); ,Der Andere' (S. 490-492). - Die Gedichte veröffentlichte Schnitzler unter dem Pseudonym „Anatol": .Lieder eines Nervösen. I. Landpartie. II. Apathie. III. Beim Souper. IV. Moderne Erfahrung und Philosophie' (S. 297); .Liebesgeständnis' (S. 374), ,Der Blasirte' (S. 449). SBD 5 (1890): ,Am Flügel' (S. 12). - Zum ersten Gedicht, .Geheimniß', im Jahrgang 1886 s. unten. - Zur .Schönen Blauen Donau' vgl. Jugend in Wien. Literatur um 1900. Ausstellung und Katalog: Ludwig Greve u. Werner Volke. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1987 ( = Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums 24), S. 94-96. 4 SBD 5 (1890): .Alkandi's Lied' (S. 398-400, 424-426); ,An die Alten!' (S. 132); .Wildenstein' (S. 232); .Der And're' (S. 302); .Intermezzo' (S. 373); ,An gar Manche' (S. 520). 5 SBD 1 (1886), S. 64. 6 Die im Verlag von Carl Konegen erscheinende Halbmonatsschrift legte besonderen Wert auf die Notenbeilagen; die Familienunterhaltung schloß die Hausmusik mit ein. Literarische Beiträger des ersten Jahrgangs waren u.a. Ludwig Anzengruber, Ada Christen, Marie Eugenie delle Grazie, Robert Hamerling, Theodor Herzl, Max Kalbeck, C. Karlweis, Betty Paoli, Peter Rosegger, Gustav Schwarzkopf, Ferdinand von Saar, Bertha von Suttner und Josef von Weilen, was durchaus einem repäsentativen Querschnitt durch die österreichische Literatur der achtziger Jahre entsprach. - Vgl. dazu auch: Thomas Dietzel u. Hans Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880-1945. Ein Repertorium. Hrsg. v. Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. 5 Bde. München: K.G. Saur 1988, Bd. 1, S. 73. 7 Ernst von Wolzogen: Das Familienblatt und die Literatur. In: Das literarische Echo 9/3 (1906), Sp. 177-185, Sp. 181. 8 Ebda. 9 SBD 1 (1886), S. 370; 4 (1889), S. 329. - In den darauffolgenden Heften wurden die Leserantworten abgedruckt. 10 SBD 3 (1888), S. 475; S. 522f. 11 SBD 1 (1886), S. 600 (mit einer Textvariante in FG 29: „Und wie sie mir - - als wenn ich es nicht wüßte — / Im Flüsterton erzählten, wer Du bist"). 12 Ebda. 13 Adolphe L'Arronge (1838-1908), Autor zahlreicher Volksstücke, Possen und Singspiele, war
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zu dieser Zeit Leiter des Deutschen Theaters in Berlin; Josef Weil Ritter von Weilen (1828-1889), u.a. Verfasser „hofrätlicher" Gedichte, war Präsident des Schriftstellervereins .Concordia'. Schnitzler nennt also zwei Epigonen, die Schlüsselstellen im Literaturbetrieb besetzten. 14 SBD 1 (1886), S. 12. 15 Schnitzler hatte Goldmann im Frühjahr 1889 in der Redaktion der .Schönen Blauen Donau' kennengelernt (vgl. JiW 319f.); „verständnisvoller Mensch", notierte er im Tagebuch (Eintragung v. 31.5.1889). Es entwickelte sich eine Freundschaft, die auch noch weiterbestand, als Goldmann ab 1890 in Berlin, Brüssel und Paris Theaterkorrespondent war. Goldmanns persönlicher Einsatz in der Dreyfus-Affaire - er duellierte sich mit einem Anti-Dreyfusard - hat Schnitzler wohl besonders für ihn eingenommen (vgl. Β I,307ff.). Den Parisaufenthalt im Frühjahr 1897 verbrachte Schnitzler zum großen Teil in seiner Gesellschaft. Ab der Jahrhundertwende wurde die Beziehung zwischen Autor und Kritiker aber zunehmend kühler; Schnitzler faßte Goldmanns kritische Reserve als Loyalitätsmangel auf, es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen. Im Jahr 1906 widmete Schnitzler dem Freundfeind ein Gelegenheitsgedicht; Mein Lieber unter vier Augen Da wusst es Dir immer zu taugen Mein sogenanntes Talent. Nur leider unter den Linden Vermag es Dein Gruss nicht zu finden Mein so genantes Talent. Doch wenn aus dem Blick meiner Schemen Das Leuchten von ewgen Problemen Einmal ins Gewissen Dir brennt, Dann selbst auf belebteren Wegen Neigst Du den untadligen Degen Dem, nennen wirs ruhig - Talent. (Dat. Marienlyst, 4.8.1906; Nachlaß DLA, Mappe 49/Rolle 39). Trotzdem bestand der Kontakt bis in Schnitzlers letzte Lebensjahre weiter. 16 Vgl. Johanna Mamroth; Vorwort. In: Fedor Mamroth: Aus dem Leben eines fahrenden Journalisten. Berlin: Egon Fleischel 1907, S. 1-12, S. 7. 17 SBD 4 (1889), S. 297 (mit einigen Textvarianten in FG 40). 18 .Beim Souper', ebda. (vgl. FG 44f.). 19 Ebda. (vgl. FG 45f.). 20 Vgl. Brief v. 30.5.1891 (AS-RBH 30). 21 Unter dem Pseudonym „Loris Melikow" erschienen .Frage' und ,Was ist die Welt?' (SBD 5 (1890), S. 273, 352); unter „Loris" veröffentlichte Hofmannsthal ,Für mich' und .Gülnare' (S. 501, 563). - Das zweite Heft des 6. Jahrganges (15.1.1891) eröffnete „Loris" mit einem Widmungsgedicht an Grillparzer (.Denkmal-Legende', [S. 25]); in dieser Nummer sind auch sechs .Sprüche in Versen' von Schnitzler enthalten (S. 39). 22 Saiten und Lothar waren schon im Jahrgang 1888 vertreten, Saiten mit dem Gedicht .Ohne Wunsch?' (S. 110), Lothar mit der „neuphilologischen Novelle" .Das Liebesgericht'
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(S. 557-559). Dörmanns erster Beitrag, das Gedicht ,Am Clavier', erschien 1889 im selben Heft wie Schnitzlers .Amerika' (S. 201). 23 Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königstein: Athenäum 1985, S. 47. - Zur Bedeutung der .Modernen Dichtung' vgl. ebda., S. 43ff. 24 Die folgenden Angaben stammen aus der grundlegenden Studie von Dieter Barth: Zeitschrift für alle (Blätter für's Volk). Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland. Münster: Regensberg 1974 (= Arbeiten aus dem Institut für Publizistik der Universität Münster 10); vgl. auch: Ders.: Das Familienblatt - ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Beispiele zur Gründungsund Verlagsgeschichte. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 15/1 (1975), Sp. 121-316. 25 Barth, Zeitschift für alle, S. 119. 26 Ebda., S. 51. - Vgl. auch Hartwig Gebhardt: Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel [Frankfurt] / Buchhandelsgeschichte 2 (1983), S. B41-B65. 27 Zu sozialer Herkunft, Beruf und Publikationsorten der Familienblattautoren vgl. auch die Übersichten bei Barth, Zeitschrift für alle, S. 442-446. 28 Die Auflage des ab 1850 vom Oesterreichischen Lloyd/Triest herausgegebenen .Illustrirten Familienbuchs' lag zwischen 8-10.000 Exemplaren; die in Wien ab 1876 erscheinende und von der Regierung subventionierte .Heimat', ein offensichtliches ,Gartenlauben'Imitat, erreichte zwar schon im folgenden Jahr 16.000 Abonnenten, mußte aber wegen finanzieller Schwierigkeiten bereits zwei Jahre später an ein Privatkonsortium verkauft werden; Peter Roseggers ebenfalls 1876 gegründeter ,Heimgarten' hatte eine durchschnittliche Auflagenhöhe von etwa 3.000 Stück (vgl. Barth, Zeitschrift für alle, S. 438; Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. [Hrsg. v.] Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler u. Eduard Castle. 4 Bde. Wien: Carl fromme 1899-1937, Bd. 3: 1848-1918 [1929], S. 658f.; Karl Wagner: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen: Niemeyer 1991 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 36), S. 119ff.). - ,Die Gartenlaube' und .Über Land und Meer' brachten zudem österreichische Ausgaben heraus; auch die süddeutsch-katholischen Familienblätter versorgten den österreichischen Markt. 29 1887 fragte die .Schöne Blaue Donau' beispielsweise: „Welches ist nach ihrer Meinung der beste deutsche Roman?" (S. 139), worauf 592 Einsender reagierten (S. 188). Genannt wurden die Best- und Longseiler des bildungsbürgerlichen Realismus. Es führte Freytags .Soll und Haben' (1855) mit 192 Nennungen, gefolgt von Scheffels .Ekkehard' (1855; 133) und Dahns ,Kampf um Rom' (1876; 51). Weit abgeschlagen rangierte Goethes .Wilhelm Meister' (21) als einzige Nennung eines Klassikers. 30 SBD 4 (1889), S. 1. - Genauso hatte die .Gartenlaube' 1854 argumentiert, als man den Abonnementpreis anheben mußte (der Preis einer Nummer betrug nun „etwas über neun Pfennige"); unter den Blättern Deutschlands sei sie „noch immer das Billigste" (zit. nach Barth, Zeitschrift für alle, S. 326).
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31 Vgl. die Belege bei Barth, Zeitschrift für alle, S. 385-389. 32 [Michael Georg Conrad:] Zur Einführung. In: Die Gesellschaft 1 (1885), S. 1-3, S. 1 (Reprint Nendeln: Kraus 1970). 33 Rosa Mayreder: Familienliteratur [1905], In: Dies.: Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays. Zusammengestellt u. eingel. v. Hanna Schnedl. München: Frauenoffensive 1982, S. 126-133, S. 132, 127. 34 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied: Luchterhand 1962 (= Politica 4), S. 178; zur .Gartenlaube' vgl. S. 180. 35 Dem widerspricht auch nicht, daß die Familienblätter, wie Gerhart v. Graevenitz gezeigt hat, im Titelblatt die Memoria-Technik der Zeitschriften, „Doppelung von Arrangement und Rearrangement der Welt", abbilden (Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen .Bildungspresse' des 19. Jahrhunderts. In: Haverkamp/Lachmann/Herzog (Hrsg.), Memoria, S. 283-304, S. 295). Die Illustration der Nachrichtenselektion in Raumordnungen der memoria, die Graevenitz anhand der .Leipziger Illustrirten Zeitung' belegt, gilt wohl ohnehin nur mit Einschränkung für jene Familienblätter, die Aktuelles von vornherein aussparen. Verstehen sie sich immerhin noch als „Gedächtnisbücher", so zeigen die Titelblätter jedenfalls eine „Überlagerung von Topographien des Differenten": „Es gibt eben im Medium keine Bewußtseinsinstanz, in deren Horizont etwas zur Einheit von .Erinnerung' und .Geschichte' verschmelzen könnte" (S. 297). Wenn, wie in der .Schönen Blauen Donau', der Bildungsfaktor des Blattes überhaupt durch Unterhaltungswerte ersetzt wird, ist die Titelarabeske selbst nur mehr „Zitat" einer Memoria-Funktion, die nicht mehr erfüllt wird. Das Titelblatt verhielte sich zum Inhalt dann so obsolet wie die Illustriation der Dampfkraft durch die Allegorie; das Memoria-Zitat verkäme zur reinen Ironie - oder zur Tarnung. Als Beispiele für die literarische Selbstthematisierung einer Position im „Gefüge der Arrangements und Re-arrangements der Presse-memoria" wählt Graevenitz mit Storms .Schimmelreiter', Fontanes .Effi Briest', ,Der Stechlin' und .Irrungen, Wirrungen' denn auch Texte, die für das Reflexionsniveau der Familienblatt-Literatur nicht eben typisch sind. 36 In der Trivialliteraturforschung ist die Lyrik erstaunlicherweise recht stiefmütterlich behandelt worden; systematische Darstellungen fehlen. Zu den Untersuchungen einzelner Aspekte der Trivialisierung der Gattung im 19. Jahrhundert vgl. Peter Nusser: Trivialliteratur. Stuttgart 1991 (= Sammlung Metzler 262), S. 95-101 bzw. die Bibliographie S. 116f. 37 Helmut Koopmann: Die Vorteile des Sprachverfalls. Zur Sprache der Lyrik im 19. Jahrhundert. In: Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Hrsg. v. Rainer Wimmer. Berlin: de Gruyter 1991 (= IDS Jahrbuch 1990), S. 307-324, S. 311. 38 Vgl. Günter Häntzschel: ,In zarte Frauenhand. Aus den Schätzen der Dichtkunst'. Zur Trivialisierung der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: ZSfdtPh 99 (1980), S. 199-226, S. 209. 39 Vgl. die Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840-1914. Unter Mitarbeit v. Sylvia Kucher u. Andreas Schumann hrsg. v. Günter Häntzschel. 2 Tie. München: Saur 1991. 40 Günter Häntzschel: Lyrik-Vermittlung in Familienblättern. Am Beispiel der Gartenlaube 1885 bis 1895. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 22 (1981), S. 155-185, S. 164.
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41 Vgl. ebda., S. 160-165, ferner Jörg Schönert: Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Zusammenhang von Anthologiewesen und Trivialliteraturforschung. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 272-299 und Anne-Susanne Rischke: Die Lyrik in der .Gartenlaube' 1853-1903. Untersuchungen zu Thematik, Form und Funktion. Frankfurt: Peter Lang 1982 ( = Europäische Hochschulschriften 1/516). - Rischke beschreibt die leserorientierten Strategien, denen die Lyrikproduktion der .Gartenlaube'-Beiträger von vornherein dienstbar gemacht wird. Gemäß der nationalliberalen Ausrichtung dieses Familienblattes begleiten vaterländische Gedichte die politische Entwicklung bis zur Reichsgründung; von der üblichen Abstinenz in Tagesfragen geht die Kulturkampflyrik der siebziger Jahre entschieden ab. Die „Familienpoesie" folgt allerdings den Regeln des Mediums, sich das Publikum, das es braucht, durch ideologische Appelle erst herzurichten (vgl. bes. S. 112-139). 42 Vgl. die Einführung in: Lyrik der Gründerzeit. Ausgew., eingel. u. hrsg. v. Günther Mahal. Tübingen: Niemeyer 1973 ( = Deutsche Texte 26; dtv WR 4264), S. 31. - „Fluchthilfe" und „Konsolation" sind primäre Funktionen populärer Lesestoffe im 19. Jahrhundert, vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt: Klostermann 1970 ( = Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 5), S. 478-484. 43 Rischke, Die Lyrik in der .Gartenlaube', S. 160; vgl. im folgenden S. 170-174, und Georg Bollenbeck: .Mich lockt der Wald mit grünen Zweigen aus dumpfer Stadt und trüber Luft'. Zu Trivialisierungstendenzen des Wanderermotivs in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 241-271, bes. S. 255. 44 Mahal (Hrsg.), Lyrik der Gründerzeit, S. 30. 45 M.[ichael] G.[eorg] Conrad: Es rumort in der Schriftstellerwelt! In: Die Gesellschaft 1 (1885), S. 289-292, 406-408, S. 291f. 46 Conrad, Zur Einführung, S. 1. 47 Häntzschel, In zarte Frauenhand, S. 204. 48 SBD 1 (1886), S. 166, 272, 328, 587, 677, 681, 683. - Der prominenteste Beiträger ist Karl Gerok (,Vor Weihnachten'). 49 SBD 2 (1887), S. 139, 271, 38, 109. - Dialektpoesie, und zwar aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, wurde von der .Schönen Blauen Donau' erstaunlich häufig gebracht auch das ein Indiz für die literarische Stadtflucht und die lebensferne Verklärung des Ländlichen im Familienblatt. 50 SBD 2 (1887), S. 28, 37. - Die Schwiegermutter war Fifi Prokesch. 51 SBD 2 (1887), S. 128, 249, 369. 52 SBD 4 (1889), S. 374 (mit Textvarianten in FG 48f.). 53 SBD 4 (1889), S. 439, 201, 370 [Ausschnitte]. 54 SBD 5 (1890), S. 53, 418, 60. - Verfasser des .Pegasus' war Joseph Winter (1857-1916), Autor einer preisgekrönten .Hymne für das deutsche Volk in Oesterreich', dem Schnitzler zehn Jahre zuvor „großes lyrisches Talent" bescheinigt hatte (Eintragung v. 17.4.1880 [TB]; vgl. Werner Welzig: Der junge Mann und die alten Wörter. In: TB 1879-1892, S. 471-488, S. 472ff.). 55 SBD 5 (1890), S. 132 (mit Textvarianten in FG 53f.).
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56 Wolfgang Nehring: [Rez. zu FG]. In: GQ 44 (1971), S. 607f. - Vgl. auch Herbert Lederer: Arthur Schnitzler als Lyriker. In: Festschrift für Werner Neuse. Hrsg. v. H.L. u. Joachim Seyppel. Berlin: Die Diagonale 1967, S. 94-103; Gabriella Rovagnati: Spleen e artificio. Poeti minori della Vienna di fine secolo. Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane 1994 (= Collana ESI/UNI 22), S. 175-198 (,I peccati di gioventù di Arthur Schnitzler'). 37 In: Felix Dahn: Gedichte. Zweite Sammlung. Abtheilung 1. Stuttgart: Cotta 1873, S. 276 (Zeilen aus der 1. und 2. Strophe). - Das Gedicht ist enthalten in: Mahal (Hrsg.), Lyrik der Gründerzeit, S. 130. 58 FG 15 (7. September 1875, 1. Strophe). 59 [1832]. In: Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1: Gedichte bis 1834. Hrsg. v. Herbert Zeman u. Michael Ritter in Zusammenarbeit m. Wolfgang Neuber u. Xavier Vicat. Wien: Deuticke/Klett-Cotta 1995, S. 125 (1. Strophe). 60 FG 15f. (16. August 1877, 1. Strophe). 61 .Prosektur', 18. April 1880 (FG 18f.; mit Lesefehler im Titel: ,Prosektor'). 62 R.K. Angress [Rez. zu FG]. In: Monatshefte 63 (1971), S. 293f. 63 Ausschnitte aus: .Lyrisches Intermezzo' (XXXII und XL) und ,Die Heimkehr' (XVIII). In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. I/l: Buch der Lieder. Text. Bearb. v. Pierre Grappin. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 163, 173, 229. 64 Ausschnitte aus: FG 27 (ohne Titel, um 1880; das Gedicht ging in die .Episode' ein, vgl. DW 1,52); FG 56 (ohne Titel, 1889?); FG 52 (,Am Flügel', 18. August 1889). 65 Vgl. Schönert, Die popuären Lyrik-Anthologien, S. 297f. 66 Eintragung v. 27.3.1882 (TB). 67 Dat. 19.12.1880 bzw. Juli 1883, Nachlaß DLA, Mappe 49/Rolle 39 (in FG nicht enthalten). 68 Das letztere Gedicht (um 1889) ist eine melancholische Kontrafaktur von Eichendorffs .Frischauf!' (1836). Nicht nur der Gedichtanfang („Vor meinem Schreibtisch sitze ich") antwortet auf Eichendorffs erste Zeile: „Ich saß am Schreibtisch bleich und krumm". Eichendorffs Appell, die poetische „Heimat" in der Natur zu finden, geht beim siebenundzwanzigjährigen Schnitzler in eine nostalgische Altersklage über. „Ist das die alte Geschichte?" heißt es anstelle von Eichendorffs: „ist's denn schon Frühling wieder?", und Eichendorffs Schlußzeilen: „Mir aber war's, als war' ich wieder jung, / Und wußte der Lieder noch genung!" werden skeptisch kontrastiert vom Bewußtsein, Gedichte im nachhinein zu schreiben: „Ist es die heilige Jugendlieb', / Die mir verspätet winket". Verspätung und Epigonalität werden hier einmal sehr bewußt reflektiert (Joseph von Eichendorff: Gedichte. Versepen. Hrsg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1987 (= Werke 1; Bibliothek deutscher Klassiker 21), S. 332). 69 Vollständig lautet das auf den 14. Juli 1880 datierte Gedicht (Nachlaß DLA, Mappe 49/Rolle 39; mit zwei Varianten in FG 19): AN DIE GELIEBTE Gern möcht ich reparieren Mein fadenscheiniges Ich Meine Seele zusammennähen Für Dich mein Kind, für Dich.
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst Wohl gefall ich Dir, Süsse, Bin ich erst repariert Dich haben die vielen Risse An meinem Selbst geniert. Ich wollt beinahe glauben Du könntest selber nähn, Du aber hast nur furchtsam Die Risse Dir angesehn. Ich will nun weiter wanden, Bis ich nen Schneider find', Erst wenn ich zusammen geflickt bin Komm ich zurück, mein Kind.
70 Aleida Assmann: Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung. In: Haverkamp/Lachmann (Hrsg.), Memoria, S. 359-382, S. 373.
2. Geschichtsdrama und Historismus Als Verseschmied ist Schnitzler auch später nicht gut weggekommen; an seinen Dramen in allzu gebundener Rede haben schon die Zeitgenossen ironische Kritik geübt - sogar dann, wenn es sich eigentlich um Prosa handelte: Robert Musil beispielsweise beanstandete an der .Komödie der Verführung' (1924) die gestelzte Sprache der Frauenfiguren: „Ihre Zunge hat Holzbeine, daß es ein Jambus ist". 1 Was erst die absichtlichen Jambendramen betrifft, von ,Alkandis Lied' (1890) bis ,Der Gang zum Weiher' (1926), so sind sich Kritik und Forschung in ihrem Urteil weitgehend einig: In diesen Stücken habe Schnitzler seine Stoffe bloß „gewaltsam in die Versform gezwängt". 2 Vor allem das erste fünfaktige Versdrama, ,Der Schleier der Beatrice' (1900), gilt als opportunistische Wallfahrt nach dem Burgtheater. Schnitzler erliege dem Zeitgeist, kommentierte Hartmut Scheible, er konkurrenziere nachgerade mit Makarts Historienbildern: „über fünf Akte wird ein angestrengt shakespearisierendes Gemälde aus der Zeit der italienischen Renaissance entworfen, in Versen, die poetisch sein wollen und doch nur geschwätzig ornamental sind". 3 Daß Schnitzler am Ende der neunziger Jahre nach den Einaktern und Dreiaktern in Prosa plötzlich zu den historistischen Dramatikern überläuft, nimmt man ihm übel. Die Versdramen werden als „traurige Beispiele einer unwürdigen Anbiederung an die unflexible Gesellschaft" der Habsburgermonarchie gescholten; Schnitzler habe seinem Ehrgeiz nachgegeben, „der nationale Dichter, sozusagen der Schiller Österreichs zu werden", und von der .Beatrice' bis zum ,Gang zum Weiher' (1926) nichts als „manieristischen Sprachbombast" produziert. 4 Das unfreiwillig komische Pathos seiner Bilder läßt sich unstreitig mit bizarren Zitaten belegen, etwa: „Saugt denn der laue Atem dieser Nacht / Aus ihren Kissen alle Schläfer heut" (D II,795). 5 Darüber hinaus, heißt es, seien dem Freud-Kenner geradezu naive Sexualmetaphern unterlaufen; als beispielsweise der Herzog auf Besitz und Bestrafung der untreuen Beatrice verzichtet, klingt das so: „Mein Dolch trägt kein Verlangen mehr nach dir!" (D 1,675). 6 Mit diesem Schwulst sei der scharfsinnige Diagnostiker und subtile Dialogiker Schnitzler tief unter sein eigenes Niveau gefallen. Die Versdramen gelten daher vielfach als die ästhetischen pudenda
in Schnitzlers
Werk; die Forschung hat sie denn auch meistens mit diskretem Stillschweigen übergangen. Die Verdikte über Schnitzlers dramatischen Rückschritt suggerieren allerdings eine schiefe Chronologie von Progression und, bestenfalls,
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
Stagnation. Schnitzler hat seine Geschichtsdramen aber immer als Parallelaktion zu den Zeitstücken ausgeführt. Blankvers und Stildekor tauchen auch nicht erst „plötzlich" mit der .Beatrice' auf; davor und danach hat Schnitzler historische Stoffe im Ein-, Drei- und Fünfakter, in Prosa und in Jamben bearbeitet. Die Handlungszeit der Vers-Einakter .Paracelsus' (1898) und .Die Frau mit dem Dolche' (1902) ist jeweils der Beginn des 16. Jahrhunderts; das Napoleon-Stück ,Der junge Medardus' (1910) kombiniert den Fünfakter mit Prosa; um 1850 spielen der Dreiakter ,Der Ruf des Lebens' (1906) und der Fünfakter ,Der Gang zum Weiher' (1926), der eine in Prosa, der andere im Blankvers; mit dem Rokokostück .Die Schwestern' (1919) wird einmal der Dreiakter versifiziert.7 Die Gleichungen „Einakter - Prosa - Gegenwart = innovativ" und „Fünfakter - Verse - Historie = epigonal" lassen sich so nicht halten, zumal die Kritik Schnitzlers Revolutions-Einakter .Der grüne Kakadu' (1899) seit jeher zugebilligt hat, „virtuos" und „fulminant" in seiner Modernität zu sein.8 Was die Forschung gegenüber .Beatrice' besonders mißtrauisch machte, war allerdings der Umstand, daß Schnitzler hier ein zeitneutrales Handlungsmotiv - den vergessenen Schleier - nachträglich mit einer historischen Kulisse umgab.9 Der Eindruck, es handle sich um eine bloße „Kostümierung aktueller Problemlagen", ist dann nicht von der Hand zu weisen.10 Dazu kommt noch, daß die Kostümwahl in .Beatrice' und .Die Frau mit dem Dolche' ausgerechnet auf die italienische Renaissance gefallen war - ein historischer Fundus, der von den Zeitgenossen eben dramatisch geplündert wurde. Man borgte sich diese Vergangenheit, um das Publikum mit der Fiktion eigener Größe zu versorgen; „Aus der Geschichte wurde die Stütze zur Täuschung, aus der ästhetischen Deformation die Bestätigung einer immer noch ruhmreichen und großartigen Gegenwart entliehen".11 Der Ansicht, Schnitzlers Renaissancedramen seien eine Neuauflage des gründerzeitlichen Historismus, ist schwer zu widersprechen, vor allem, weil Schnitzler mit dem .Schleier der Beatrice' tatsächlich einen (vergeblichen) Anlauf zur Bühne des Hofburgtheaters genommen hatte. Nachdem der „Revolutions"-Einakter ,Der grüne Kakadu' 1899 den Unwillen des Hofes erregt hatte, verschleppte Burgtheaterdirektor Paul Schienther im folgenden Jahr die Inszenierung der .Beatrice' und verzichtete schließlich ganz.12 „Weinte vor Zorn", notierte Schnitzler. 13 Wenn er schon so sicher mit der Burgtheater-Aufführung gerechnet hatte, liegt der Verdacht nahe, er habe auch seine ästhetischen Mittel spielplangerecht kalkuliert. Schnitzlers historische Dramen müssen vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Repertoires gelesen
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werden; ihr Verhältnis zur Geschichte ist dort zu bestimmen, wo sie sich von diesem Kanon abheben.
A. Fassadenkunststücke. Das Burgtheater in der Gründerzeit In die siebziger und achtziger Jahre fallen die Amtszeiten der Burgtheaterdirektoren Franz von Dingelstedt (Dezember 1870 - Mai 1881) und Adolf Wilbrandt (November 1881 - Mai 1887). Nach Wilbrandts Rücktritt wurde der Schauspieler Adolf Sonnenthal provisorisch mit der Leitung des Hauses beauftragt; die Ära des neuen Direktors August Förster dauerte aber nur knapp über ein Jahr (Oktober 1888 - Dezember 1889). Wieder sprang Adolf Sonnenthal ein, bis mit Max Burckhard (Februar 1890 bis Jänner 1898) der umstrittene Neuerer der Traditionsbühne auftrat. 14 Die „Gründerzeit" des Hofburgtheaters war daher am 14. Oktober 1888 mit seiner Übersiedlung in das neue, im Stil der Spätrenaissance erbaute Gebäude an der Ringstraße im Grunde abgeschlossen. Als repräsentativer Vertreter der Epoche gilt Dingelstedt, der aus dem Theater einen prosperierenden Betrieb machte, „mit der Unerschrockenheit einer vom Strebertum nicht freien Unternehmungslust, die vergrößerte, zum Teil auch vergröberte Verhältnisse nach sich zog, [. . . ] von der Sucht zu glänzen geleitet und mit dem Talent fürs Effektvolle, Sensationelle ausgestattet". 15 Als Direktor hatte er „das Glück, gerade zurecht in die Makartzeit zu kommen";16 seine Vorliebe für malerische Massenszenen war der Dekorationslust des Wiener Salonmalers kongenial. In prunkvollen Massenszenen übertrug er das zeitgenössische Historiengemälde auf die Bühne. Obwohl sein „Ausstattungstheater" bereits von manchen Zeitgenossen spöttisch kommentiert wurde, 17 waren Regie und Dekoration des Burgtheaters bis zur Jahrhundertwende von dieser Tradition bestimmt. 18 Wilbrandts historische Dramen waren in diesem Stil inszeniert worden, bevor er selbst die Direktion übernahm. Was die Qualität des Spielplans betrifft, so gingen in diesen zwanzig Jahren vom Amtsantritt Dingelstedts bis zur Ernennung Burckhards, vom Dezember 1870 bis zum Februar 1890, 215 Uraufführungen in Szene. 19 Dramatischer Spitzenreiter war niemand anderer als Adolf Wilbrandt (17 Inszenierungen), gefolgt von Shakespeare (10), Gustav von Moser (9), Eduard von Bauernfeld (7), Paul Lindau (7), Josef von Weilen (6), Oskar Blumenthal (5) und Friedrich Gustav Triesch (5). Während es Emile Augier, Roderich Benedix, Salomon Hermann Mosenthal und Siegmund Schlesinger immerhin noch auf vier Premieren brachten, hatte etwa Grillparzer drei Neu-
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
Inszenierungen zu verzeichnen, Goethe eine, Schiller gar keine. Die Erfolgsstücke dieser Periode blieben lange im Repertoire; bis zur Saison 1913/14 führten Moser (465 Aufführungen), Wilbrandt (459), Shakespeare (290), Edouard Pailleron (194) und Triesch (96). Das meistaufgeführte Stück dieser Epoche war übrigens Paillerons dreiaktiges Lustspiel ,Die Welt, in der man sich langweilt' (1884); es wurde bis zum Ersten Weltkrieg 151 Male gegeben. 20 Der Titel wurde sprichwörtlich; 21 es handelte sich ironischerweise um die Persiflage einer literarischen Öffentlichkeit, deren Zeit bereits vorbei war. Die „Welt, in der man sich langweilt" entpuppt sich als der Salon der Gräfin von Ceran, in dem sich streberhafte Beamte, eitle Gelehrte und unbegabte Dichter zu treffen pflegen. Während die Komödie mit den bewährten Mitteln der Personenverwechslung und der Briefintrige auf das ebenso probate Ende der Doppelhochzeit zusteuert, mokiert sie sich fortwährend über ihr ernsthaftes Gegenstück - die langweilige Tragödie. Im zweiten Akt liest nämlich der Dichter Desmillets sein erhabenes historisches Drama von König Philipp II. vor, in Versen und fünf Akten - aber hinter der Bühne, in einem gedachten Nebensaal; auf die Szene kommen nur die Tragödienflüchlinge, denen die Zeit zu lang geworden ist. Komödien- und Tragödienhandlung sind also simultan zu denken - nur, daß das Geschichtsdrama bereits hinter die Kulissen verschwunden ist. Wie Desmillets entflohene Zuhörer spöttisch berichten, enthält seine Dichtung „ganz hübsche Sachen und einen recht schönen Vers". 22 Am Ende wird dieser ominöse Vers denn auch zitiert: „Die Ehre ist heutzutage einem Gotte vergleichbar, welcher keinen einzigen Altar mehr hat". 23 Die realen Zuschauer applaudierten also nicht nur einer Satire auf die traditionelle Bildungselite, sondern zugleich einem Satyrspiel zur zeitgenössischen Tragödie, zum traditionellen Versdrama und zu seinem theatralischen und epigonalen Idealismus. Daß die heitere und keineswegs tiefsinnige Selbstentlarvung der späten Gründerzeitkultur zugleich ihr größter Erfolg wurde, wirft zumindest ein Licht auf jene Erwartungen, die mit den tragischen Historien verbunden waren. Die Bedürfnisse eines Publikums, das im Rollenspiel literarischer Rezeption gut trainiert war und auf eine längst durchschaute Mitleid-und-Furcht-Haltung gleichsam umschalten konnte, richteten sich auf den Unterhaltungswert, den ein Geschichtsspektakel eben noch abwerfen konnte. Das Repertoire des Traditionshauses trug dem herrschenden Geschmack ohnehin Rechnung und bevorzugte das Lustspiel bzw. die französische Gesellschaftskomödie und - allerdings erst in zweiter Linie - die zeitgenössische historische Tragödie, keineswegs die deutschsprachigen Klassiker,
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auf deren Pflege man sich etwas zugute tat. Auch Wilbrandts Ägide (1881-1887) war zugestandenermaßen von Publikumsrücksichten bestimmt, obwohl ihm das Programmniveau durchaus am Herzen lag. Sophokles, Euripides und Calderón übersetzte und inszenierte er selbst; 1883 richtete er eine bewunderte .Faust'-Aufführung ein, und, wie Rudolph Lothar schrieb, er hätte „auch die deutschen Modernen zu Worte kommen lassen, wenn es zu seiner Zeit Moderne gegeben hätte". 24 Mit seinen eigenen Stücken konnte er frühere Erfolge nicht mehr wiederholen; die Tragödie ,Kriemhild' (1885) wurde zwar noch mit dem Schillerpreis ausgezeichnet, erzielte aber nur mehr drei Aufführungen. 25 Wilbrandts Glanzzeit als dramatischer Autor war mit der Dingelstedt-Ära vorbei. Aber auch damals hatte er nicht in erster Linie mit historischen Dramen reüssiert: Seine Burgtheaterkarriere begann mit den Lustspielen Jugendliebe', ,Die Vermählten' und ,Die Maler' (alle 1871), und den Aufführungsrekord hielt das Gesellschaftsstück ,Die Tochter des Herrn Fabricius' (1880). 26 Auch Wilbrandts Römerdramen konnten es also, der Legende zum Trotz, in puncto Publikumsgunst nicht mit dem leichteren Genre aufnehmen. In ihrer Sparte kamen .Graccus der Volkstribun' (1872),,Arria und Messalina' (1874) und die mit dem Grillparzerpreis ausgezeichnete ,Nero'-Tragödie (1875) aber dem Idealtypus gründerzeitlicher Burgtheaterdramatik nahe. 27 Dingelstedts Aufführungsstil ließ die historischen Details der Stücke hinter einer psychologischer Monumentalität verschwinden, und dabei geschah ihnen nicht einmal Unrecht. Denn daß es Wilbrandt nicht auf die politische Dramatik seiner Stoffe angekommen war, sondern auf ihre Ergiebigkeit in Sachen erhabener Tugend und wilder Leidenschaft, stellten nicht nur seine naturalistischen Kritiker fest. Selbst seine späteren Apologeten mußten einräumen, daß ,Nero' zwar ein „schönes Seelendrama", aber wohl keine große soziale Tragödie geworden sei, 28 und daß .Gracchus der Volkstribun' sich von seiner historischen Vorlage überhaupt verabschiedet habe: „Es ist also kein Ausschnitt aus der Geschichte, den uns Wilbrandt vorführt, sondern ein Drama, so alt wie die Menschheit selbst, eingerahmt durch Geschehnisse einer bewegten Zeit". 29 In ,Arria und Messalina' schließlich werden die historischen Hüllen dann gleichsam ganz fallen gelassen: Die Lesefrüchte aus Tacitus sind nur mehr Accessoires zur „schwelgerischen Ausmalung" Messalinas, einem „Abbild der modernen dekadenten Salondame". 30 Daß das bürgerliche Burgtheaterpublikum Wilbrandts Dramen als Salonintrigen in antiker Verkleidung rezipierte, ist umso plausibler, als die Zuschauer wohl weder die Ära der römischen Volkstribunen noch die frühe Kaiserzeit als Spiegel der eigenen
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Habsburgischen Gegenwart verstehen konnten. Nicht einmal im geeinten Deutschen Reich wollte die nationale Selbstinszenierung im Historiendrama so recht gelingen; auch hier wurde der theatralische Moment gefeiert, nicht eine geschichtliche Erinnerung: „Grossartige Kostüme, Glanz und Blut, ein Tanz von Macht und Eros sind nicht selten das Einzige, was man in der Geschichte sucht". 3 1 Dem franzisko-josephinischen Bürgertum wiederum wäre es wohl seit 1866 nicht mehr in den Sinn gekommen, die Burgtheaterbühne zum Ausgangspunkt einer politischen Standortbestimmung zu machen. 3 2 Die psychologische Verengung von Wilbrandts historischer Dramatik entsprach nicht nur der spätliberalen Geschichtslosigkeit; sie kompensierte außerdem aktuelle gesellschaftliche Zwänge. Moralische Zensurvorschriften konnten in ästhetischer Deckung außer Kraft gesetzt werden., Arria und Messalina' ist das Paradebeispiel für eine Tugendheuchelei, die voyeuristische Blicke auf eine schockierende Sittenlosigkeit wirft. Der außerordentliche Erfolg der Burgtheaterinszenierung ging nach Wilbrandts eigenem Eingeständnis auf Charlotte Wolter zurück, die aus der Rolle der Messalina eine Apotheose der femme fatale machte und zum Jubel der Zuschauer eine hochstilisierte Choreographie von Eros und Gewalt vorführte, und zwar in einer Ausstattung von Hans Makart. Wolter hatte eine Art der Heroinendarstellung kreiert, bei der das schaulustige und sensationsgierige Wiener Publikum auf seine Kosten kam - auch darin zeigte sie sich als „eine vollkommene Tochter der Makartzeit". 3 3 Daß Wilbrandts verworfene Heldin weitaus attraktiver war als ihre moralisch einwandfreie Gegenspielerin, deutet auf die wohl wichtigste Funktion des gründerzeitlichen Geschichtsdramas. Das historische Kostüm ist die Verkleidung, in der sich die epochalen erotischen Phantasien zeigen dürfen. 3 4 Denn ,Arria und Messalina' arbeitet mit der simplen Opposition von Tugend und Laster. Zwischen diesen beiden Konzepten gerät der junge Marcus in eine aussichtslose Klemme: Der Sohn der tadellosen Arria verliebt sich in die verrufene Kaiserin. Der Konflikt wird dadurch verschärft, daß Marcus' Vater, der rechtschaffene Pätus, das Volk hinter sich hat und als Hochverräter angeklagt ist. Während Arria und Pätus ein bürgerliches Rührstück von Ehre und Treue aufführen, steht Messalina für die gedächtnislose Ekstase. Was sie sagt, gilt nur für den Augenblick: „So wahr ich Messalina bin, vergaß ich's", ist ihre Devise. 3 5 Die Leichen auf ihrem Weg quittiert sie mit einem: „Vergessen sind die Todten". 3 6 In seinem Liebeswahn verliert auch Marcus zwei Akte lang sein Gedächtnis; im dritten kehrt es aber unter dem Einfluß seiner Mutter zurück: „Ich hatte nur ver-
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gessen, wer ich war".37 Die wiedergewonnene Selbsterkenntis wird sofort mit dem ehrenhaften Selbstmord besiegelt. Das Laster wird also mit Rausch und Amnesie, die Tugend mit Nüchternheit, Ahnentreue und Gedächtnis identifiziert. Weil Messalinas theatralische Momente die langweiligen häuslichen Ehedialoge aber immerfort dramaturgisch übertrumpfen, feiert sich auf der Bühne im Grunde die leidenschaftliche Selbstvergessenheit. Arria und Pätus sorgen nur für die bürgerliche Camouflage; um den Preis ihrer Lippenbekenntnisse darf die ruchlose Verdrängung beklatscht werden. Marcus' einsetzende Erinnerung dient lediglich dem bühnengerechten Sterben, die römische Geschichte nur der angemessenen Dekoration. Beides, Erinnerung und Geschichte, verkommen zum Mittel zum Zweck der Publikumswirksamkeit. Was dieses historische Drama vor Augen führen soll, ist bloß eine Welt, in der man sich nicht langweilen muß. Die Ära des „Neuen Burgtheaters" wird mit dem Umzug ins Ringgebäude und mit Max Burckhards Amtsantritt datiert. Dem heftig angefeindeten und als Jurist fachfremden Direktor, zu dessen schwierigsten Aufgaben es gehörte, das überalterte Ensemble zu verjüngen und die Repertoirestücke den Erfordernissen der neuen Bühne anzupassen, gelang es tatsächlich, den Spielplan zu modernisieren - Schnitzler verdankte ihm seine erste Burgtheaterpremiere (.Liebelei', 1895). An der Spitze der Neuinszenierungen stand Ibsen (6 Premieren), gefolgt von Gerhart Hauptmann und Ludwig Fulda (je 4). Aber auch zu Burckhards Zeiten erreichten Wilbrandts Novitäten die höchste Aufführungszahl (73). Und obwohl in Burckhards Repertoire Klassiker an der Spitze standen, nämlich Shakespeare (270), Grillparzer (149) und Schiller (132), blieb das französische Gesellschaftsstück, vertreten durch Victorien Sardou (100), Octave Feuillet, Eugène Scribe und anderen, mit insgesamt 471 Vorstellungen trotzdem eine Stütze der Kasse. 38 Das war umso nötiger, als Burckhard im neuen Haus mit der bis dahin üblichen kaiserlichen Subvention von 84.000 Gulden nicht mehr auskam; trotz einer Erhöhung auf jährlich 200.000 Gulden pflegte er mit einem Defizit von etwa 90.000 Gulden abzuschließen.39 Deshalb war auch er gezwungen, dem Publikumsgeschmack Konzessionen zu machen; seinen Ruf als „Experimentator"40 hat der Wiener Theaterklatsch mit Sicherheit übertrieben. Die Kritik der Wiener Moderne an der Dramenproduktion der vorhergehenden Jahrzehnte ist von Burckhard nicht in eine entsprechende Theaterpraxis überführt worden. Dafür mag der institutionelle Status der Hofbühne mitverantwortlich gewesen sein; ausschlaggebend waren das Publikumsinteresse und sein Beharrungsvermögen.
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Bis zur Jahrhundertwende erfüllte das Burgtheater-Repertoire daher Unterhaltungsfunktionen, die ihm offenbar erst später vom neuen Medium des Films abgenommen wurden. Man hat das literaturhistorische Urteil über die „triviale" gründerzeitliche Dramatik darauf zurückgeführt, daß sie zwischen der klassizistischen Poetik der fünfziger und sechziger Jahre einerseits und der „modernen" Ästhetik der neunziger Jahre andererseits gewissermaßen eingeklemmt worden war. 41 Aber der dramatische „Verfall" der Epoche geht wohl nicht nur auf diese programmatische Umzingelung zurück. Im Burgtheater, dem Schauplatz kultureller Selbstbestätigung des Wiener Groß- und Bildungsbürgertums, diente der ästhetische Opportunismus des Lustspiels wie des historischen Dramas dem „Fassadenkunststück" der Gründerzeitgesellschaft, Solidität und Schlüpfrigkeit zugleich zu demonstrieren. 42 Das Schauspiel imitierte und bestätigte die gesellschaftliche Schauspielerei. Und während die Gesellschaftskomödie dieses histrionische Verhalten einfach zurückspiegelte, verdoppelte das historische Drama noch einmal die Verkleidung: „Solche Formen des Geschichtsdramas sind lediglich Maskerade, wo die innere Wahrheit durch das äußere Kostüm, der vom Dichter geschaute Charakter durch die Larve, die im Geschichtlichen wirkenden Kräfte durch Staffage und Effekt ersetzt werden sollen". 43 Der historische Stoff ermöglicht eine beliebige Kostümwahl, wie den Makartzug oder den Faschingsball. In dieser Versinnlichung von Geschichte entfällt das, was Walter Hinck „substantielle Geschichtserfahrung" genannt hat. 4 4 Geschichte wird in solchen Inszenierungen nicht dramatisch gedeutet, sondern auf theatralische Momente reduziert, zu „Wolterschreien" zusammengepreßt. Wenn der Impressionismus den klassizistischen Fünfakter in einzelne Akte zerfallen läßt, so hat ihm das historische Drama der Gründerjahre dabei vorgearbeitet. Indem es aus der Geschichte einen Fundus effektvoller Augenblicke macht, bietet es dem Publikum lediglich die „passenden Bruchstücke der Vergangenheit" zur Vergegenwärtigung an. Kein historisches Gedächtnis wird als Korrektiv der Gegenwart aufgerufen; bedient wird immer nur die „genehme Erinnerung". 45 Als passionierter Theaterbesucher war Schnitzler in den siebziger und achtziger Jahren dramatisch sozialisiert worden. Seine eigenen historischen Schauspiele gehen vom gründerzeitlichen Kanon aus. Sie sind merkwürdig ambivalente Versuche, ihn zugleich fort- und gegen ihn anzuschreiben. Sie testen immerzu die Möglichkeiten aus, Geschichte wieder als Kontinuität zu begreifen. Aber wenn sie bemüht sind, in der Form Tradition zu wahren und sich in ein literaturhistorisches Kontinuum zu stellen, droht die Gefahr des
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Epigonalen. Aus dieser Zwickmühle stammen ihre ästhetischen Verrenkungen. Trotzdem sind sie als dramaturgische Experimente zu lesen, Geschichte nicht theatralisch stillzustellen, sondern sie als Objekt und Ursache historischer Erinnerung zu präsentieren. 46 Im besten Fall geben sie eine Kritik des Impressionismus und des Historismus zugleich. 47
B. Historische Skepsis. .Paracelsus' und ,Der grüne Kakadu' Schnitzlers erstaufgeführtes „historisches" Drama 48 ist das Versspiel .Paracelsus', 1894 begonnen, im Frühjahr 1898 wieder aufgegriffen und beendet; am 1. März 1899 fand - mit mäßigem Erfolg - die Burgtheaterpremiere statt, mit Emerich Robert in der Titelrolle und Katharina Schratt als Justina. Schauplatz ist Basel am Beginn des 16. Jahrhunderts; Schnitzler hatte sich also für das Kostüm der „Deutschen Renaissance" entschieden, jene Stilrichtung, die in der Architektur der siebziger Jahre die italienische Renaissance bereits abgelöst hatte. 49 Auf den ersten Blick ist dieses setting tatsächlich nichts als Verkleidung, denn mit dem Hypnoseexperiment des Paracelsus an der Basler Bürgerin Justina scheint Schnitzler die ,Frage an das Schicksal' (1890) bloß um rund 360 Jahre zurückverlegt zu haben. Daß es Schnitzler um die zeitgenössischen psychiatrischen Kontroversen und den Paradigmenwechsel in der Hysterieforschung 50 gegangen ist, liegt auf der Hand. Mit dem umstrittenen Heilkünstler als Protagonisten ist das historische Ambiente zumindest plausibel gewählt: Der Konflikt zwischen dem medizinischen Reformator und der orthodoxen Basier Fakultät (1527/28) war als Spiegel der aktuellen Auseinandersetzung gedacht. 51 Vordergründig läßt sich Schnitzlers geschichtlicher Rückgriff als polemisches Votum für die jeweils fortschrittlichere Theorie erklären; Paracelsus wäre dann der „andere" Charcot oder Bernheim, und die angegriffenen Autoritäten Galen und Avicenna - „Er spottet Avicennas! höhnt Galen!" (D 1,469) - hätten die Wiener Professoren Theodor Meynert und Richard von Krafft-Ebing zu vertreten. Wenn die wissenschaftliche Debatte des ausgehenden Jahrhunderts in die Medizingeschichte zurückversetzt wird, so behauptet das Versspiel anscheinend einen historischen Parallelismus, der jeweils zugunsten der neuen Lehre ausgeht. .Paracelsus' illustrierte dann denn immer wiederkehrenden Konflikt zwischen wissenschaftlichem Dogma und innovativer Forschung. Geschichte wäre aber dadurch gerade nicht als Wiederholung des Immergleichen, sondern als ein Entwicklungsprozeß gedeutet, der gegen alle Widerstände als fortschreitende Aufklärung verläuft.
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Tatsächlich hat sich der ehemalige Meynert-Schüler Schnitzler aber mit einer solchen eindimensionalen Institutionskritik nicht begnügt. Dazu ist sein Paracelsus eine viel zu ambivalente Figur. Beim simplen Kontrast zwischen der Weitläufigkeit des Wanderheilers und der biederen Borniertheit der Basier Bürger bleibt es nämlich nicht. Parcelsus' eigentlicher dramatischer Gegenspieler ist nicht die Ärzteschaft, sondern Justinas Ehemann, der spießige Waffenschmied Cyprian. Und diesen kantigen Gegensatz zwischen einem genialen Naturforscher und einem bestenfalls tüchtigen Kunsthandwerker hatte Schnitzler ursprünglich gar nicht vorgesehen. Im Manuskript ist Cyprian nämlich Künstler, und zwar Orgelmusiker; 52 zwischen den beiden Männern ging es um die für Schnitzler biographisch virulente Opposition von Kunst und Medizin. Welchem Talent der Vorzug zu geben ist, blieb im Streit der Protagonisten offen. 53 Diese Gleichrangigkeit wird in der Druckfassung vorerst zugunsten Paracelsus' aufgegeben. Aber schon bald wird sichtbar, daß der Wunderdoktor den Waffenschmied vor allem in puncto Selbstgerechtigkeit übertrifft. Seine therapeutischen Fähigkeiten stellt er in den Dienst privater Rache an dem ehemaligen Rivalen um Justinas Gunst. Der Gedanke, Justina in Hypnose einen imaginären Ehebruch zu suggerieren, ist schon perfide genug, um das Mißtrauen gegen seine Heilmethoden zu wecken, die ihm schließlich auch noch über den Kopf wachsen: „Schlägt mir überm Haupt / Des eignen Zaubers Schwall mit Hohn zusammen?" (D 1,490).54 Damit schwächt Schnitzler die Parteinahme für Paracelsus' Alternativmedizin wieder deutlich ab und wendet sich gegen allzu sensationslüsterne Hypnoseversuche, wie sie - auch von ihm selbst - vorgenommen worden waren; er hatte dergleichen Experimente, die von Kollegen bereits hämisch als „Vorstellungen" apostrophiert wurden, 1889 abgebrochen. 55 Das lineare Geschichtsmodell gerät einigermaßen ins Trudeln; Paracelsus' Seelenimperialismus deutet vielmehr auf eine skeptische Dialektik der Aufklärung hin. Diese Relativierung entschärft die aktuelle Tendenz des Stücks, nimmt ihm aber auch einiges an dramaturgischer Klarheit; daß es „mit der Gerechtigkeit im Drama nicht geht", meint nicht nur der weise Nürnberger im ,Weg ins Freie' (E 1,929). Das historische Kostüm rückt nun wieder stärker als Verkleidung in den Blickpunkt. Und dieses Motiv hat Schnitzler nun offensiv eingesetzt. Was in der medizinischen Praxis Anstoß gab, nämlich die Theatralik der Hypnose-Veranstaltungen, wird auf der Bühne nachgespielt. Paracelsus inszeniert eine Handlung, die aber den konventionellen plot der Boulevardkomödie auf den Kopf stellt. Während dort hinter den Kulissen der Ehe-
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bruch stattfindet, der mit viel szenischem Aplomb vertuscht werden muß, wird hier ein Ehebruch aufgedeckt, den es nicht gegeben hat. Diese Umkehrung attackiert die Selbstverständlichkeit des hypokritischen Rollenspiels, und Paracelsus' vielzitierte Verse sind an ein Publikum gerichtet, das sich seine gesellschaftlichen Schizophrenien gewohnheitsmäßig vorführen läßt: Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. [ . . . ] Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug. (D 1,498)
Man hat diese Sätze lange für Schnitzlers Credo gehalten, 56 obwohl er selbst sich schon entschieden dagegen verwahrt hatte; 57 die Identifikation des Autors mit seiner Figur unterschlägt seine moralische Distanzierung. Denn Paracelsus' zweiter Versuch mit Justina, der Auftrag: „Seid wahr, wenn ihr erwacht, / Wahr, wie Ihr nie gewesen" (D 1,493), ist schließlich sehr erfolgreich. Nach dem Ende der Aufrichtigkeit im sozialen Verhalten, selbst nach dem Ende der Wahrhaftigkeit des individuellen Bewußtseins existiert eben noch eine Wahrheit der Träume und des Unbewußten. Gerade diese Wahrheit hatte Paracelsus aber zuvor auf unzulässige Weise manipuliert. .Paracelsus' repräsentiert deshalb nicht nur die Psychoanalyse, 58 sondern auch die Psychoanalyseirifi/c avant la lettre; 59 hier kommt nämlich, als Analyseziel, die Gleichung von Wahrheit = Erinnerung ins Spiel. Zuerst tritt Paracelsus als ein Anwalt des therapeutischen Erinnerns auf: PARACELSUS
Scheut Ihr Erinnerung?
Man kann ihr besser nicht die Schauer nehmen, Als wenn man sie zum Leben wieder weckt. CYPRIAN Wen schauert hier? Vergangnes ist vergangen. [ . . . ] Zu fürchten hab' ich nichts . . . Erinnrung nicht Und keine Schwärmerei. Vom Gegenwärtigen Umschlossen und gebändigt ist das Weib. (D I,477f.)
Hier scheinen der aufgeklärte Paracelsus und der beschränkte Cyprian in Schnitzlers zentrale Figurenkonstellation von Erinnernden und Vergeßlichen einzutreten; aber diese Opposition löst sich noch schneller auf als der Gegensatz zwischen der medizinischen Avantgarde und der Orthodoxie. 60 Denn schon wenig später ist es Paracelsus selbst, der für den „Augenblick" plädiert:
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst Mehr als die Wahrheit, die da war und sein wird, Ist Wahn, der ist. . . der Augenblick regiert! Vermöchtet Ihr gelebte Jahre gleich Beschriebnen Blättern vor Euch aufzurollen, Ihr würdet kaum ein Blatt zu deuten wissen. Denn das Gedächtnis trügt fast wie die Hoffnung Geheimnis alles . . . Der Moment von früher Wie jeder nächste! Nur der Augenblick Ist unser - und der flattert schon davon. (D 1,481)
Paracelsus' impressionistische Devise setzt die Ernsthaftigkeit seiner analytischen Ambitionen außer Kraft. Die Lehre, die er Cyprian erteilen will - sich nicht so sicher zu sein - , fällt dann auf ihn selbst zurück. Denn Justina erinnert sich zwar an ihre Mädchenliebe, räumt aber der inzwischen verstrichenen Zeit ihr Recht ein: Paracelsus steht als „Schatten meiner Jugend" (D 1,496) vor ihr. Ihr trockenes Resüme: „Ein friedlich Glück, / Ist's auch nicht allzu glühend, bleibt das beste" (D 1,494), nähert sich zwar der hausbackenen Pseudomoral des bürgerlichen Schwanke, ist aber wenigstens durch ihr eigenes Verhalten beglaubigt. Justinas „wahre" Erinnerung blamiert sowohl Cyprians ahnungslose Gegenwart als auch Paracelsus' spektakuläre Gedächtnissimulationen. Die Vergangenheit der Basler Bürgerin war weder eine so unangefochtene Ehegeschichte, wie ihr Mann, noch eine so trübe Langeweile an der Seite eines Unebenbürtigen, wie ihr ehemaliger Geliebter glauben will. Diese eigene Vergangenheit läßt sich Justina nicht nehmen. 61 Das Publikum, dem die üblichen Lustspiel-Pointen unvermittelt entzogen wurden, zeigte sich mäßig amüsiert; .Paracelsus' erlebte genau zwölf Vorstellungen. Zur kühlen Aufnahme mag beigetragen haben, daß die Hypnoseaufführung, Justinas fiktiver Ehebruch, jenes „Spiel im Spiel" vorwegnimmt, das Schnitzler in ,Der Grüne Kakadu' souverän zur Entlarvung der Zuschauer einsetzen sollte. Anders als im ,Kakadu' wird aber das reale Publikum nicht in die Täuschung einbezogen; es hat sich zuvor von Justinas Sittenhaftigkeit überzeugen können und weiß im Gegensatz zu Cyprian (und Paracelsus), daß kein Ehebruch stattgefunden hat. Daher kann es Justinas „Lasterkomödie" durchschauen - und sich immerhin vom Gegensatz zur konventionellen Tugendkomödie getroffen fühlen. Schnitzlers Versspiel setzt sich daher vom Gesellschaftsstück entschieden ab; aber es unterläuft auch die Erwartungen ans historische Drama. Der moralische Sieg gehört in .Paracelsus' einem unaufgeregten weiblichen Lebenslauf; 62 und dazu kommt noch eine historische Einkleidung, die dem zünftigen
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Waffenschmied Cyprian im Grunde besser steht als dem geheimnisumwitterten Wunderheiler. Die Requisiten der deutschen Renaissance, Butzenscheiben und Lutherstühle, sind immer schon auf Seiten des Ehemanns. Ein Jahr nach der Paracelsus-Affaire wurde das historische Basel protestantisch. Dieser nüchterne bürgerliche Humanismus konnte freilich keinen Zuschauerjubel auslösen; man war es anders gewöhnt. 63 Wenn schon in ,Paracelsus' eine deutliche Reserve gegenüber dem geschichtlichen Fortschritt zu spüren ist, so wird der revolutionäre Umsturz im ,Grünen Kakadu' völlig desavouiert. 64 Die Wahl des Zeitpunkts, der Vorabend der Französischen Revolution, erwies sich für Schnitzlers berühmtesten historischen Einakter als Glückstreffer; der bevorstehende Ausbruch der Massenrevolte erzeugt schon automatisch suspense, die Vorgänge auf der Bühne verlaufen als countdown zum großen Ausbruch der Gewalt. Während sich ein dekadentes Aristokratenpublikum in der Kellerschenke des Wirtes Prospère über ein Schauspielerensemble amüsiert, das ihnen Verbrechen und Aufruhr vorspielt, bereitet sich oben auf den Straßen die Volkserhebung vor. Der dramaturgische Kunstgriff, die Vorgänge im .Grünen Kakadu' mit einem epochalen Moment der französischen Geschichte zu synchronisieren, bedeutet aber noch nicht, daß es Schnitzler prinzipiell auf die Darstellung dieses historischen Ereignisses angekommen wäre. 65 Trotzdem ist die Kostümierung nicht nur ein Vorwand für Schnitzlers angebliches Lieblingsmotiv, die unentwirrbare Vermischung von Sein und Schein. 66 ,Der grüne Kakadu' hat sehr wohl mit Geschichte zu tun; er ist geradezu Schnitzlers historisches Lehrstück. Wenn je ein Geschichtsdrama seiner Zeit einen Spiegel vorgehalten hat, dann dieses. Denn mit den blasierten Adeligen auf der Bühne ist das Publikum des Illusionstheaters karikiert. In der hedonistischen Gesellschaft, die sich Hurerei und Mord vormachen läßt, um sich daran zu delektieren, durfte man sich wiedererkennen. 6 7 Das „Spiel im Spiel"-Arrangement, mit dem .Paracelsus' experimentiert hatte, wird im ,Grünen Kakadu' zum dramaturgischen Motor. 68 Wenn die fiktiven Zuschauer die Wirklichkeit mit dem Theater verwechseln und umgekehrt, so läßt Schnitzler sein Publikum derselben Täuschung aufsitzen: Prospères Starschauspieler Henri, der Gatte der untreuen Léocadie, „spielt" ein Eifersuchtsdrama - er habe den Geliebten seiner Frau, den Herzog von Cadignan, ermordet. Die anwesenden Aristokraten halten das für eine seiner Deklamationen - der Vicomte von Nogeant findet sie sogar etwas outriert (D 1,546). Aber Prospère, der von
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Léocadies Treuebruch weiß, ist von der Wahrheit seiner Worte überzeugt, und mit ihm der Zuschauer jenseits der Bühne. Fiktion kippt ins Faktum und wieder zurück in Fiktion: Henri war, wie sich herausstellt, ahnungslos, sein Monolog „Komödie". Aber am Ende schlägt die Inszenierung endgültig in die Realität um. Den nun auftretenden Cadignan ersticht Henri, inzwischen im Bilde, tatsächlich. Im Wechselbad von Spaß und Ernst (D 1,519) wird dem „wirklichen" Publikum der Kopf gewaschen; sein Rollenverhalten in und außerhalb des Theaters ist gemeint. Bei den Besuchern des .Grünen Kakadu' rufen die blutigen Tragödien, die Prospères Truppe vorspielt, nämlich bloß ein „süßes Zittern" 69 hervor - „ich fühle mich angenehm erregt", sagt die Marquise (D 1,551) - , und keineswegs eine moralische Wirkung. Schnitzler hat in sein „Revolutionsdrama" in vorauseilender Ironie schon den Zensor gesetzt: Ein „Kommissär" überwacht die Aufführung. Diesem Beamten versichert Prospère eingangs, bei ihm gehe gar nichts Aufrührerisches vor - „schon aus dem Grunde, weil sich mein Publikum nicht aufrühren läßt" (D 1,521). Indem Schnitzler die politische Apathie des - bürgerlichen - Publikums ebenso karikiert wie seinen blutrünstigen Voyeurismus, wird im .Grünen Kakadu' das Theater doch wieder zur moralischen Anstalt. In einem Punkt präzisiert Schnitzler seine Publikumskritik. Diese adeligen Kunstkonsumenten - und die Autoren, die sie bevorzugen - können sich nichts merken. „Sie haben ein kurzes Gedächtnis", wirft die Marquise dem Dichter Rollin vor (D 1,543); das kann als Motto für die ganze Gesellschaft gelten. Rollins neues Stück, das in der Comédie gegeben wird, wird folgendermaßen besprochen: HERZOG [ . . . ] - da kommt so ein hübscher Vergleich vor. Erinnern Sie sich nicht? FRANÇOIS Ich habe gar kein Gedächtnis für Verse HERZOG Ich leider auch nicht . . . ich erinnere mich nur an den Sinn . . . (D 1,535)
Damit ist nicht nur der Schrecken des Schriftstellers, ein gedächtnisloses Publikum, aufs Korn genommen, sondern auch eine Kunst, die es nicht zu bleibenden Eindrücken bringt. „Vor allem jedoch gehört es zum Wesen des Spiels, daß es vergessen sein will." 70 Die impressionistische Vergeßlichkeit kennzeichnet aber nicht nur die Kunst und ihre Rezeption, sondern eben auch das Leben. Für den Schauspieler Henri, der eben die lockere Léocadie geheiratet hat und sich mit ihr aufs Land in eine Rousseausche Idylle zurück-
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ziehen will, ist die Annullierung der Erinnerung gleichsam eine Frage des Überlebens. Im Dienste seiner Gemütsruhe muß Léocadies einschlägige Vergangenheit zum Verschwinden gebracht werden; und so versucht sich Henri mit einer beschwörenden Litanei des Vergessens zu beruhigen: Nun ist alles vorbei, was einmal war. In einem solchen Augenblick löscht vieles aus [ . . . ] , man darf alles vergessen, was vorher geschehen ist. [ . . . ] Was war, ist ausgelöscht [ · . . ] , nur so können wir alles vergessen. [ . . . ] Alles, alles wird ausgelöscht sein. (D 1,527,529)
Anders als Cyprian ist Henri aber kein naiver Anwalt der Gegenwart; die Macht des Vergangenen zeigt sich gerade an der Dringlichkeit, mit der er sich seine „Auslöschung" suggeriert. Als ihn die Vergangenheit einholt - in Gestalt von Léocadies Geliebtem - , löscht er sie dann blutig aus. Henri will programmatischer Impressionist sein und muß wider Willen die Unhaltbarkeit des Augenblicksschwindels belegen. Seine private Geschichte mit Léocadie statuiert das tragische Exempel auf eine Gegenwart, die nichts anderes sein kann als das Resultat dessen, was vorher war. An Henri wird ein Lehrsatz demonstriert; er lautet: „Gestern war Vergangenheit - und du maßest dir das Recht an, zu vergessen?" (AB 28) Wenn die Gegenwart mit „historischerNotwendigkeit" (vgl. AB 35) aus der Vergangenheit folgt, dann müßte der,Grüne Kakadu' über die Analogie zwischen dem spätfeudalen Adel auf der Bühne und dem spätliberalen Bürgertum im Parkett hinaus etwas über den Zusammenhang zwischen dem Untergang des Ancien régime und dem Fin de siècle verraten. Sicher ist, daß sich Schnitzler diesen Zusammenhang nicht als klassenkämpferischen Fortschritt gedacht und seinen Einakter als prophetische Drohgebärde gegen sein eigenes Milieu gemeint hat.71 Denn unzweifelhaft bringt der .Kakadu' der Französischen Revolution, die sich hinter seinen Kulissen abspielt, keinerlei historische Sympathien entgegen.72 Die Kerle, die unter der Leitung des ehemaligen Komödianten Grasset am Ende in die Schenke eindringen und die Nachricht von der Erstürmung der Bastille bringen, sind keineswegs die Bannerträger der Freiheit, die sie so lautstark ausrufen. Henris Mord an dem Herzog reklamieren sie als revolutionäre Tat, wodurch die Schwindelhaftigkeit ihrer Gesinnung entlarvt ist. Ihre „Revolution" ist daher bloßes Theater, politische Inszenierung; während die Komödianten bisher die Revolte gespielt haben, ist der reale Aufstand der Massen nichts als ein blutiges Spiel. Die große Geschichte erscheint daher im .Kakadu' ebenfalls als theatralisches Spektakel,73 als ein Theater gefälschter Ideen.
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Trotzdem wäre es voreilig, den ,Grünen Kakadu' für nichts anderes als den Ausdruck eines radikalen Geschichtspessimismus zu nehmen. Denn daß Schnitzler die emanzipatorischen Anliegen des 18. Jahrhunderts nicht denunzieren, sondern eben ihre Fälschung und Pervertierung attackieren wollte, steht außer Frage. Noch in seinen Notizen zum Krieg hat er an ein durch Aufklärung zu erreichendes Ziel der Geschichtsbewegung geglaubt und die Friedensarbeit charakterisiert als eine „Etappe auf dem Weg, den die Demokratie bis zu ihrem endgültigen Sieg über den Absolutismus im weitesten Sinn zu gehen hat. Dies aber scheint mir der Sinn der ganzen Weltgeschichte" (AB 223). Und noch 1918, als das Thema des .Kakadu' durch die Oktoberrevolution und den Umsturz in Österreich ungeahnte Aktualität gewonnen hatte,74 konzedierte er der Volkserhebung von 1789, sie habe „doch immerhin als eine Revolution des Geistes" begonnen: „Um Befreiung handelte es sich, um Befreiung des Geistes, und diese Uridee wirkte immer noch nach, selbst als die Jakobiner wüteten" (AB 233f.). Schnitzler konnte sich den Geschichtsfortschritt nur als Ku/furfortschritt denken, eine Entwicklung, die aus seiner Sicht durch die politische Praxis immer nur kompromittiert worden ist. Das ändert nichts an der Virulenz der „Ideen": Daß Henris rousseausche Sehnsucht nach dem „Frieden der weiten Ebene" nicht erfüllt, daß seine Wunschphantasie - „der große Friede wird über uns kommen" (D 1,528) - durch den Gang der Dinge auf das brutalste enttäuscht wird, diskreditiert nicht den utopischen Vorschein, der an dieser Stelle in Prospères finstere Kaschemme fällt. 75 Eine totale Absage an die Geschichtsmächtigkeit aufklärerischer Ideen ist auch dem ,Kakadu' nicht abzulesen, wohl aber die Überzeugung, daß das Freiheitsgeschrei, das „Brüllen allein", es nicht tut (D I,551f.,525) - was einem Schriftsteller zusteht, der es in diesem Punkt mit der Devise seines „Doppelgängers" hielt: „die Stimme des Intellekts ist leise". 76 Wie Freud hat Schnitzler, trotz aller Skepsis, auch an die Fortsetzung des Satzes geglaubt: „aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat." Daher ist der ,Grüne Kakadu' kein nihilistischer Widerruf von Geschichte, sondern, im Gegenteil, der vehemente Einspruch gegen die Reduktion von Geschichte auf den theatralischen Augenblick. Nicht die Geschichte, sondern ihre Präsentation durch das Geschichtsdrama steht auf dem Prüfstand. Der ,Grüne Kakadu' ist die „Zurückweisung", die „Persiflage", die „konsequente Negation aller gängigen Geschichtsdramatik" 77 - keine Negation der Geschichte selbst. Das ganze kalkulierte „Spiel im Spiel" gilt der Kritik eines Publikums, das Geschichte als Unterhaltung konsumiert und sie nicht als Erklärung der
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eigenen Gegenwart begreift. Diesen Appell übermittelt der .Kakadu' - und er ist umso dringender, als jener Erkenntnisgewinn, den Schnitzler als einzigen Ausweis des geschichtlichen Fortschritts akzeptieren mochte, in seinen Augen auf dem Theater weit eher zu gewinnen war als auf den Foren der Politik. Natürlich kam diese Botschaft bei den Zuschauern, denen die gewohnte Distanz zum Geschichtsspektakel eben auf irritierende Weise verkürzt worden war, kaum an. „Das Stück wurde vorzüglich gespielt", schrieb die ,Neue Freie Presse' am Tag nach der Uraufführung, „allein das Publicum des Burgtheaters war seltsam überrascht und wußte nicht recht, was es damit anfangen sollte". 78
C. Moderne Renaissance. .Beatrice' und ,Die Frau mit dem Dolche' Von alten Sachen hat er nichts wissen wollen. Immer nur fürs Moderne: Alles hat Renaissance sein müssen. (Raoul Auemheimer: Das Paar nach der Mode)
Fünf Tage nach dem Abschluß des .Grünen Kakadu', am 4. Juli 1898, nahm Schnitzler die Niederschrift des .Schleiers der Beatrice' in Angriff; Vorstufen existierten bereits. Daß er von einem zum anderen Drama vergessen haben sollte, was er dem Publikum des .Kakadu' ans Herz gelegt, und selbst ins Genre des Historiengemäldes verfiel, das er zuvor so souverän demontiert hatte, mag in der Tat wunder nehmen. 79 Seine eigene .Physiologie des Schaffens', die er ausgerechnet an diesem Drama exemplifizierte, hilft nicht weiter. .Beatrice', heißt es dort, sei „von einem Einfall aus" entstanden: „Eine Braut will sich mit ihrem Liebhaber umbringen, er stirbt, sie verliert im letzten Augenblick den Mut, flieht, vergißt den Schleier und muß, da sie zuhause erwartet wird, nochmals die Stiege hinauf, um den Schleier aus dem Zimmer des Toten zu holen" (AB 380f.). Der Stoff, zunächst als Pantomime bearbeitet, wird danach als „Kostümstück" in „das Wien vom Anfang des 19. Jahrhunderts" versetzt, „zu welchem Entschluß weniger eine innere Notwendigkeit und eine wirkliche Beziehung zwischen Figuren und Stoff einerseits und Zeit und Ort andererseits, als eine gewisse Neigung leitet, daß sich die Gestalten gerade innerhalb dieser Atmosphäre ausleben möchten" (AB 382). Mitten in der Niederschrift kommt es, wie auf dem Theater, zu einer „Verwandlung":
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[ . . . ] die eine der Figuren scheint in geheimnisvoller Weise ihre Maske abzuwerfen, oder besser: die intuitive Gewalt des Autors (was hier keine künstlerische Wertung, sondern nur den psychologischen Vorgang bedeuten soll) macht, daß sich die betreffende Figur zur Gestalt emporspricht, emporhandelt und - von diesem Augenblick an auch den Gesetzen menschlicher Wahrheit Untertan - sich als das zu erkennen gibt, was sie eigentlich ist, als einen Fürsten aus der Renaissance. (AB 3 8 3 )
Wenn Schnitzler durch die Berufung auf die künstlerische Intuition und das Wahrheitskriterium suggeriert, daß jene „innere Notwendigkeit", die der ersten Fassung fehlte, in der zweiten erreicht sei, dann läßt er den Leser mit einem argumentativ nicht zugänglichen Moment dichterischer Produktion und einem Leitbegriff einer sehr viel älteren Ästhetik allein; „Wahrheit" war das Schlüsselwort des programmatischen Realismus. 80 In Gustav Freytags .Technik des Dramas', der einzigen Dramaturgie, die Schnitzler gelesen haben will, 81 bedeutet es schlicht Plausibilität durch Allgemeinverständlichkeit: In der dramatischen Poesie wird dies U m w a n d e l n der Wirklichkeit in poetische Wahrheit dadurch hervorgebracht, daß die Hauptsachen durch eine causale Verbindung zu innerer Einheit verbunden und alle Nebenerfindungen als wahrscheinliche und glaubliche Momente der dargestellten Begebenheit begriffen werden. 8 2
Das moralische Pathos, mit dem der Naturalismus oder die „Moderne" das Wahrheitspostulat aufladen - in den Worten Hermann Bahrs: „Wir haben kein anders [!] Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet" 83 - , gibt dem Realitätseffekt nur noch einen Aspekt gesellschaftskritischer Relevanz mit. Für Schnitzlers Bericht von der Entstehungsgeschichte der .Beatrice' ist das ohne Belang; wenn die Figur „ihre Maske" abwirft und zu erkennen gibt, was sie in Wahrheit ist, denkt sich Schnitzler das Wahrscheinlichkeitskriterium in merkwürdig theatralischen Kategorien. Ihm hat die Anagnorisis des Herzogs die historische Tiefe der Figur intuitiv enthüllt; für den Leser kann sich diese Plausibilität aber erst post festum einstellen, wenn die geschichtliche Situierung des Dramas ihre Notwendigkeit erwiesen hat. Und da scheint .Beatrice' zu versagen. Schon die zeitgenössische Kritik klang nach Verteidigung, wenn sie behauptete, Schnitzlers Drama sei „wirklich Renaissance, nicht nur ihr Kleid". 84 Und später ist sich die Forschung einig im Urteil über Schnitzlers „konventionelles Historiengemälde" 85 , das gar nicht in der Absicht geschrieben sei, „die historische Dimension wirklich zu erschließen". 86
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Wenn es aus der Retrospektive so scheinen mag, als habe sich Schnitzler bei der herrschenden Renaissancemode angebiedert, dann müssen hier allerdings Abstriche gemacht werden. Wie Gerd Uekermann gezeigt hat, ist das gründerzeitliche Renaissancedrama ein literarischer Mythos, an dessen Zustandekommen Hugo von Hofmannsthal nicht unschuldig ist. 1906 weigerte er sich, für Richard Strauss ein Renaissance-Libretto zu schreiben, mit der überzeugend vorgebrachten Begründung, daß „keinem Kostüm auf der Bühne eine geringere Suggestionskraft innewohnt [ . . . ] als jener bis zum Grausen abgebrauchten Lieblingsdrapierung der sechziger bis achtziger Jahre: Renaissance!" 87 Tatsächlich trifft Hofmannsthals Befund nicht zu; gegenüber der architektonischen hatte sich die literarische Renaissance der Renaissance um fast drei Jahrzehnte verspätet. Das Geschichtsdrama der Gründerzeit hatte keineswegs besonders häufig zu Stoffen aus dieser Epoche gegriffen; ihre dramatische Ausbeutung war vergleichsweise rezent, sie hatte erst um die Jahrhundertwende eingesetzt. Auch im Burgtheater sind erst jetzt die betreffenden Erfolgsstücke zu sehen: D'Annunzios ,La Gioconda', mit der gastierenden Eleonore Duse in der Titelrolle (April 1900); das Lustspiel .Renaissance' von Franz von Schönthan und Franz Koppel-Ellfeld (Oktober 1900); Ludwig Fuldas .Zwillingsschwester' (1902), Maeterlincks ,Monna Vanna' und Fuldas .Novella d'Andrea' (1903). 88 Hätte Burgtheaterdirektor Paul Schienther das im Dezember 1899 eingereichte Manuskript der .Beatrice' gleich zur Aufführung gebracht - und nicht nach langen Ausflüchten endlich zurückgegeben - , so hätte Schnitzlers Drama sogar die RenaissancePeriode des Burgtheaters einleiten können. Für Schnitzler, der - wie viele seiner Zeitgenossen - kurz vor der Jahrhundertwende auf der zeittypischen Bildungsreise die italienische Renaissance „entdeckt" 89 und in Bologna den Schauplatz seines Dramas gefunden hatte, war das Kostüm des Cinquecento wirklich „modern"; noch hatte es kein übermäßiger Gebrauch ausgeleiert. Der Vorwurf der konventionellen Stoffwahl muß deswegen erst einmal zurückgenommen werden. Schnitzler selbst hatte durchaus das Gefühl, sich auf völlig neuen Bahnen zu bewegen. Im Jänner 1899 schrieb er an Georg Brandes: „Und jetzt bin ich mit einer ganz phantastischen fünfactigen Sache beschäftigt; mir scheint überhaupt als käme ich jetzt in andere Gegenden. Wer weiß ob alles bisherige nicht doch nur Tagebuch war". 90 Mit „Tagebuch" kann hier gar nichts anderes gemeint sein als das Subjektiv-Momentane seiner bisherigen Produktion, ihre autobiographische und „impressionistische" Seite.
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.Beatrice' ist aus der Sicht des Autors ein Akt - in fünf - der Selbstdisziplinierung. Wenn das Drama ästhetisch mißglückt ist, dann scheitert mit ihm Schnitzlers Versuch, im klassizistischen Geschichtsdrama den „impressionistischen" Typus zu kurieren. Denn wie Henri ist Filippo, der Dichter, ein vergeßlicher Held. Gleich in der ersten Szene kann er sich nicht mehr an ein Lied erinnern, das er noch vor wenigen Wochen verfaßte: „Und so entfremdet meinem Heut dies Gestern, / Daß sie, 'genüber Aug' in Aug' gestellt, / Einander nicht erkennen, Brüdern gleich, / Die nachts auf dunkler Straße sich begegnen" (D 1,556). Wie bei Henri gilt auch bei Filippo das cherchez la femme: Er hat das Lied vergessen, weil es seiner Verlobten Teresina gewidmet war, an deren Stelle die kindliche Beatrice Nardi getreten ist. Filippos Gedächtnisschwund ist allerdings ein Shakespeare-Zitat; auch Romeo erinnert sich Julias wegen nicht an Rosalinde: „Vergessen ist der Nam und dieses Namens Pein".91 Schnitzler hat .Beatrice' später selbst einmal als „äußerlich shakespearisirend" bezeichnet; 92 aber das weltliterarische Motiv des vergeßlich-treulosen Liebenden ist nur der dramaturgische Anlaß für die Präsentation eines prototypischen Impressionisten. Filippo vertritt das Programm des erfüllten Augenblicks und gerät damit in die obligate weltschmerzliche Krise, bis hin zu Suizidgedanken: War nicht [ . . . ] In diese eine Stunde alle Lust Der Welt geschlossen? [ . . . ] Was blieb zurück? Nichts als befreites Atmen, Daß es vorbei, und Sehnsucht nach Alleinsein! So wär' auch dieses ohne Sinn versucht, Und nichts mehr weiß ich, was mich hält, zu gehn! (D 1,618)
Im dritten Akt führt er diese Absicht denn auch aus. Obwohl seine Symptome dem zeitgenössischen klinischen Bild des suizidgefährdeten Neurasthenikers durchaus entsprechen, 93 reichen sie für eine bühnengerechte Motivation seines Todes nicht zu. Wieso Filippo sterben muß, sah Schnitzler später selbst nicht mehr recht ein: „Warum sich Filippo eigentlich umbringt, bleibt unklar - das ist ja gewiß der Grundfehler des Stücks. Die Möglichkeit des Selbstmordes muß zugegeben werden, die Notwendigkeit fehlt", notierte Schnitzler anläßlich der Proben zur Berliner Aufführung 1903.94 Geradezu ratlos war Schnitzlers Freund Paul Goldmann nach der Lektüre des Manuskripts:
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Es geht nun einmal nicht so leicht mit dem Sterben. Das Alles sagt Filippo selber mit den herrlichsten Worten. Und auf einmal bringt er sich um. Weshalb? Ich kann es nicht begreifen. [ . . . ] Ich mag die jungen Leute nicht, die sich aus Psychologie vergiften. 95
„Aus Psychologie" läßt sich Filippos Tod auch nicht begründen, „aus Poetik" jedoch schon. Denn Filippos Impressionismus kollidiert mit seinem Künstlertum. Was nämlich Anspruch auf zeitüberdauernde Kontinuität hat, ist einzig die Kunst. Ein Dichter, der seine eigenen Lieder vergißt, muß sterben, damit die Erinnerung posthum weiterleben kann. Und daher übernimmt ab dem dritten Akt jene Figur die Regie, die sich als „Fürst aus der Renaissance" zu erkennen gegeben hat. Der Herzog spricht Filippo einen Nachruf, der seinem Werk die Dauer zuerkennt, die seinem Leben fehlte: Ein Lied von dem, verweht's der Zufall nicht Ist ew'ger als der kühnste unsrer Siege, Der wieder nur Vergängliches erringt! Dran werden Menschen einer späten Zeit, Der unsre Taten nichts als Worte sind, In kühlen Stein gegraben zum Gedächtnis, Wie wir, die Mitgebornen, sich erfreun Mit gleichem Lächeln und mit gleichen Tränen. Denn dieser war ein Bote, ausgesandt, Das Grüßen einer hingeschwundnen Welt Lebendig jeder neuen zu bestellen Und hinzuwandeln über allen Tod. (D I,676f.)
Nur in der Kunst ist Geschichte aufgehoben. Indem sie die „Menschen einer späten Zeit" noch zu rühren vermag, macht sie die Vergangenheit „lebendig". Schnitzlers Herzog soll für eine Synthese von Historie und Leben sorgen, er soll in persona Nietzsches Historismuskritik widerlegen, Geschichte sei bloß ein „Surrogat des Lebens". Als Renaissancefürst verkörpert er den kraftvollen Vitalismus, den das Fin de siècle ins Cinquecento zurückprojizierte; aber in seiner Gestalt steht auch der ideale Kunstrezipient auf der Bühne. Die geschichtliche Wirksamkeit seiner Taten stellt er hinter die Unvergänglichkeit der Kunst zurück. Damit präsentierte Schnitzler seinem Publikum den exemplarischen Adressaten: Das wäre einer, der Kunst und Geschichte zusammenzudenken imstande ist. Schon Schnitzlers früher Einakter ,Alkandi's Lied' (1890) hatte mit einer Figurenopposition von Künstler und Herrscher gearbeitet, um die Suprematie der Kunst
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zu bekräftigen. König Assads Eifersucht auf den toten Sänger Alkandi ist nur zu berechtigt: . . . Längst modert hier dein königlich Gepränge Vergessen Assad's Thron und Macht und Recht Noch träumen von Geschlechte zu Geschlecht Sich unvergänglich fort - der Lieder Klänge. (D 1,17)
Assad hatte noch versucht, die Lieder des posthumen Rivalen durch Zensur zu unterdrücken; Beatrices Herzog hingegen ist von Filippos Liedern „mehr bewegt als alle" (D 1,565). Dieser vorbildliche Umgang des Fürsten mit der Kunst ist nicht der einzige Publikumsappell in .Beatrice'. Auch .Beatrice' enthält, wie der .Kakadu', ein „Spiel im Spiel"-Arrangement - was die Forschung immer übersehen hat. Auch hier wird das Publikum mitgetäuscht. Nachdem Beatrice auf wundersame Weise dem Herzog angetraut worden ist, kehrt sie von der Hochzeitstafel zu Filippo zurück, um mit ihm zu sterben. Filippo gibt ihr zu trinken, wartet ein Weilchen und läßt sie dann wissen, sie habe ihre Absicht auch schon ausgeführt, der Wein sei vergiftet gewesen. Beatrice reagiert entsetzt und verzweifelt - aber nur auf diesen Test ist es Filippo angekommen, in Wirklichkeit war „kein Quentchen Tod" in ihrem Glas (D 1,639). Wie im .Kakadu' sind auch die Zuschauer Versuchspersonen des fiktiven Experiments, auch sie konnten nicht wissen, daß Filippo „Komödie" gespielt hat. Der Ausgang des Versuchs bringt das Publikum dann auch noch um den angekündigten Liebestod. Das Thema des bürgerlichen Rührstücks, den Doppelselbstmord, hatte Schnitzler schon in einer frühen Verserzählung, .Vereinigt sterben', ironisiert: Das Gift ist hin, das Dasein ist gewonnen, Sie haltens fest, wie sie sich selber halten In freier Liebe unbegrenztem Walten. Und aus der Wollust üpp'gem Wunderbronnen Berauschen sie aufs neu sich Nacht für Nacht Und haben sich bis heut nicht umgebracht. 9 6
Und nun bricht Beatrice desillusionierend aus dem Tristan-und-IsoldeSchema aus und düpiert die Zuschauererwartungen. Ihr wirkungsvoller Bühnentod ist vorerst aufgeschoben, die Tragödie halbiert. Mit Filippos Trick wird auch dem Todesvoyeurismus ein Streich gespielt und der Genuß des kostümierten Sterbens geschmälert.
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Für diese Einbuße wurde das Publikum allerdings im vierten Akt durch eine aufwendige Inszenierung entschädigt: Das Renaissancefest am Hof des Herzogs setzt Beatrices Lebensgier ins Recht. Ihr „Leben!" (D 1,642) ist der Schlachtruf der Jahrhundertwende, die das todesmüde ennui der neunziger Jahre verabschiedet hat.97 Diesen Schlachtruf übernimmt der Herzog im fünften Akt wortwörtlich; er formuliert ihn als „heroic couplet" 98 vor dem Kampf mit den Feinden Bolognas: Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit, Und noch der nächste Augenblick ist weit! (D 1 , 6 7 9 ) "
Filippos todesverliebter Impressionismus wird von diesem lebensphilosophischen Wahlspruch abgelöst, der allerdings seinerseits einen morbiden Aspekt hat. Denn schließlich hatte die tapfere Lebensbejahung des Herzogs die unmittelbar bevorstehende Todesgefahr gebraucht: „Des Lebens Fülle ist der Gewinst gestundeter Zeit". 100 Der Garant dafür, daß sich die beschworene Lebensfülle im nächsten Augenblick nicht wieder verflüchtigt, muß dann eben die Kunst sein, die solcher Lebensintensität zur Dauer verhilft. Ist schon diese Rechnung etwas ungleich, weil der Künstler sie immerhin mit seinem Tod zu bezahlen hat, so geht auch das Kalkül mit der Form, in die Schnitzler sein Kunstprogramm kleidet, nicht glatt auf. Die Wahl fällt auf das fünfaktige Versdrama, weil es, als Muster der Gattungstradition, ästhetische Kontinuität schon vor jedem Inhalt verspricht. Die strenge Disziplin des Pyramidenbaus und des Blankverses soll die impressionistische Flüchtigkeit des Prosaeinakters korrigieren und den festen Rahmen für ein monumentimi aere perennius bilden. Und auch das historische Dekor soll als Zeichen von Dauerhaftigkeit gelten. Schnitzler gehörte zu jenen, die der verspäteten Rezeption von Jacob Burckhardts .Kultur der Renaissance in Italien' (1860) ihr Bild der Epoche verdankten.101 Als Vorarbeit zur .Beatrice' hatte er die zwei Bände der vierten Auflage von 1884 ausführlich exzerpiert. Zu diesen Notizen gehört die Liste der Hochzeitsgeschenke, die Marco Fiorenti 1447 der Catarina Macinghi übergab, darunter ein „weißes Damastkleid mit Marderfell", „siebzehn gestickte Hemden", „ein Kleid von rothem Atlas und Sammetbrokat mit weißem Pelz garnirt", „ein Kranz von Pfauenschweifen in Silber gefaßt", „ein rother, golddurchwirkter Gürtel mit vergoldeter Schnalle, eine goldene Schulterverzierung mit zwei Saphiren und drei Perlen, ein Perlenhalsband" und so fort.102 Was der leidenschaftlich entflammte Herzog der Handwerkerstochter Beatrice anbietet - „Steine / und Kleider aus Damast und Perlenschnüre" (D 1,612) - , ist Nachklang dieser Liste und zugleich zeittypisches Symbol für
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das Unvergängliche. Denn das Fin de siècle treibt einen Kult mit Schmucksteinen und Edelmetallen: „Zu der ästhetizistischen Suche nach dem Kostbaren, Erlesenen, Seltenen und Ungewöhnlichen tritt das Bedürfnis, die eigene Schwäche, das Erlebnis von Vergänglichkeit und Auflösung, durch eine Anhäufung kostbarer Minerale und Metalle, die dem Verfallsprozeß widerstehen, zu kompensieren".103 Im Zeichen des Kristalls sucht die Literatur der Jahrhundertwende eine Bürgschaft für die „Etablierung von Ordnung und Identität in einer Epoche der Verflüssigung des geistigen Instrumentariums, der Fragmentierung des Sinns".104 Dramaturgisch hat das fünfaktige Versdrama die Qualitäten einer solchen „Preziose": Es entspricht dem kristallinen Aufbau, seine starre Struktur gittert das Impressionistisch-Skizzenhafte. Wie der metaphorische Edelstein signalisiert es ein Ordnungsprinzip, das sich gegen das Chaos augenblicklicher Stimmungen durchsetzt. Daß bei Schnitzler die Rückkehr zum kanonisierten Dramentyp dann aber auch „preziös" gerät - oder „snobish", wie Hofmannsthal einmal über die .Beatrice' sagt105 - , liegt daran, daß sich das überschäumende „Leben", dessen ästhetische Inbilder aus der Renaissance geholt werden, in diese Form nicht mehr abfüllen läßt. Auch das Versdrama zeigt die Spuren seines Gebrauchs und seiner Trivialisierung im 19. Jahrhundert. Die Stabilität, die der reglementierte Aufbau und die gebundene Sprache versprechen, stellt sich als Erstarrung heraus. An den literaturgeschichtlichen Altlasten der Gattung hatte auch Schnitzlers Drama zu schleppen; deshalb war es auch gegen historische Mißdeutungen nicht immun. Schnitzlers Haltung im Ersten Weltkrieg gilt als tadellos.106 Unverdächtiger Zeuge war immer Karl Kraus, der von Schnitzlers Werken wenig hielt, seiner pazifistischen Integrität aber Respekt zollte: „Sein Wort vom Sterben wog nicht schwer. / Doch wo viel Feinde, ist viel Ehr: / er hat in Schlachten und Siegen/geschwiegen". 107 Im Gegensatz zu vielen seiner Schriftstellerkollegen hat sich Schnitzler wirklich nie zu einem billigen Hurrapatriotismus hergegeben. Allerdings hat er seine öffentlichen Vorlesungen während des Krieges gerne mit den letzten Versen aus .Beatrice' beendet.108 Und in diesem Kontext bekommt der Schlußmonolog des Herzogs vor der Schlacht um Bologna einen völlig neuen Sinn: [ . . . ] wir gehn Von allen Abenteuern, die im Dunkel warten, Dem neusten und gewaltigsten entgegen! [ . . . ] Ich freue mich des guten Kampfs, der kommt; [ . . . ] Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit, Und noch der nächste Augenblick ist weit! (D I,678f.)
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In der „großen Zeit" sollte sich herausstellen, wie effektiv die lebensphilosophischen Theoreme der Jahrhundertwende der Kriegsbegeisterung, dem „Kampfwillen" und dem „Todesmut" vorgearbeitet hatten. 109 Dem Fürsten in seiner Renaissancetracht konnte problemlos der Waffenrock übergezogen werden, weil das historistische Kostüm dem theatralischen Waffengeklirr Vorschub leistete. Von all den heldischen Geschichtsdramen war die Form der .Beatrice' nicht mehr zu trennen. Diese ominöse Aktualisierbarkeit des Schlusses zeigt, daß sich gerade die traditionelle Gattungskonvention noch mit der blutigsten Geschichte kurzschließen ließ; und dagegen konnte selbst das „Spiel im Spiel" des dritten Aktes nichts ausrichten, welches dem Publikum doch demonstriert hatte, daß es „nun einmal nicht so leicht mit dem Sterben" sei. Daher geht Schnitzlers Experiment, geschichtliche Erinnerung in klassizistischer Einkleidung zu konservieren, nicht gut aus. Trotzdem ist die .Beatrice' kein ideologischer Rückfall hinter den .Kakadu'; das Schauspiel scheitert daran, daß die wirkungsästetischen Strategien des Einakters nicht mehr ins „absolute Drama" des Renaissancetyps rückübersetzt werden konnten. In der .Beatrice' hat Schnitzler aber ein verdecktes Programm aufgestellt: Die Kunst sei die einzige Möglichkeit, Geschichte „lebendig" zu bewahren; nur sie sei ein gültiges kulturelles Gedächtnis. Für diesen Burckhardtschen Historismus waren andere dramatische Spielarten zu suchen. Dazu gehört der Versuch, ein Renaissance-Szenario mit einer Gegenwartshandlung in Prosa zu rahmen. Der Einakter ,Die Frau mit dem Dolche' (1902) verlegt die Ausgangssituation recht pragmatisch in das RenaissanceKabinett einer Bildergalerie. Hier macht der junge Leonhard der angebeteten Pauline, die einem der Frauenportraits sprechend ähnlich sieht, sein Liebesgeständnis. Ihr Mann - ein gefeierter Schriftsteller - beute sie aus, sagt Leonhard, sie sei ihm nur der Stoff zu seinen Schlüsseldramen. Pauline lehnt Leonhards Antrag ab; statt dessen tritt sie gleichsam in ein Bild an der Wand ein, eben in ,Die Frau mit dem Dolche'. 110 In das folgende Traumspiel hinein verschiebt sich die bevorstehende Eifersuchtstragödie. Von der Beziehung zwischen Prosa-Rahmen und Renaissancebild sind Aufschlüsse über den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erwarten, den Schnitzler im Sinn hatte. Die Vergangenheit tritt aber zuerst nur als verkleidete Zukunft auf: Im venezianischen Ambiente tragen sich die Konsequenzen der prospektiven Liebesnacht zu. Paola hat Lionardo, den Malschüler ihres Mannes, erhört, obwohl sie ihn nicht liebt. Meister
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Remigio verweigert verächtlich das Duell, weshalb Lionardo droht, ihn zu töten. Da kommt Paola ihm zuvor, ersticht den Geliebten und verharrt erhobenen Dolches; diese Pose hat Remigio noch gebraucht, um das Bild seiner Frau zu vollenden. - Die klapprige Mantel-und-Degen-Konstruktion wirkt, als sei Schnitzler nun doch auf das gründerzeitliche Todespathos zurückgefallen. Um dem Stück etwas abzugewinnen, muß man es schon, wie Theodor Reik, als Kostümierung des ödipalen Konflikts zwischen Remigio und Leonardo lesen, 111 oder, wie Hans-Peter Bayerdörfer, als Entlarvung von Paulines Kitschphantasien.112 Beides hat Schnitzler allerdings nicht beabsichtigt. Nach wie vor geht es um das Verhältnis von Kunst und Leben, wobei die Rahmenhandlung wiederum eine Kritik des Publikums unternimmt. Denn daß Pauline von dem Schriftstellergatten degradiert wird, der ihre Geheimnisse „vor den Pöbel" hinwirft (D 1,705), daran besteht kein Zweifel.113 Sein eben uraufgeführtes Drama hatten die Zuschauer unschwer als Verlautbarung des gemeinsamen Privatlebens verstanden: LEONHARD [. . . ] Nicht pathetisch Prinzessin Maria! und jeder wußte, es ist die, die da oben in der Loge sitzt. Meister Gottfried! und jeder wußte, der hat das Stück geschrieben. Und alle Worte und Küsse unten auf der Bühne - und sein Verrat - und ihre Verzweiflung - und seine Rückkehr und ihr Verzeihen - und alle Erbärmlichkeit und alle Glut - alles wahr - und Herr Gottfried hatte daraus ein Stück gemacht - und Prinzessin Maria saß in der Loge und sah der Komödie zu. (D 1,705)
Mit „Meister Gottfrieds" exhibitionistischer Schriftstellerei steht zugleich der Voyeurismus des Publikums zur Debatte. Daß der Dichter-Ehemann in der Traumeinlage zum Maler mutiert, verdankt sich zwar dem Zwang des Bildmotivs, konnte aber auch die Erinnerung an jenen anderen Maler, Makart, aufrufen, in dessen Atelier tout Vienne geeilt sein soll, um die Portraits prominenter Damen der Gesellschaft zu besichtigen. Leonhards Empörung ist auch gegen die Sorte Zuschauer gerichtet, für die das Wort „beklatschen" erfunden ist. Seine Wiedergabe des Premierenabends zitiert nochmals schwach das Spiel im Spiel oder das Theater auf dem Theater und variiert Schnitzlers beharrliche Anstrengungen, das Publikum und seine Unarten in seinen Stücken zu spiegeln. Den Typus Schriftsteller, der den Guckkasten zum Schlüsselloch verengt, stellt Marias Ehemann dar - der übrigens anonym bleibt. Wenn er von Schnitzler als „der völlig unmenschliche Literat" gemeint sein sollte, der mit Menschen wie mit Puppen spielt,114 so wird dieser Autorenspiegel dadurch
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verunklart, daß Pauline sich so hingebungsvoll als Objekt zur Verfügung stellt: „Vielleicht hat mein ganzes Leben gar keinen andern Sinn gehabt" (D 1,705). Das romantische Motiv der Frau, die sich opfert, um der Kunst ihres Mannes aufzuhelfen, wird keineswegs gänzlich entmythologisiert. 115 Daß es ein Unwürdiger ist, dem das Opfer gilt, gehört sogar zur tragischen Aura dieses Frauenbildes. 116 Pauline braucht nämlich keine Paracelsische Analyse, um ihren verborgenen Wünschen auf die Spur zu kommen; daß sie durch Leonhard „in Gefahr" ist, weiß sie und hat es in unverbrüchlicher Loyalität ihrem Mann auch eingestanden: „Ich hab' ihm die Wahrheit gesagt wie immer" (D 1,707). Ihr Verhalten ist durch diese Tugenden aufgewertet; und daher ändert sich in der Binnenhandlung auch die Qualität der Kunst ihres Mannes. Die Malerei des „Meisters Remigio" ist keine parasitäre Ausbeutung des Lebens mehr; sie beansprucht jene Fortdauer über Generationen, die der Herzog den Liedern des Filippo attestiert hatte. Selbst der wütende Rivale Lionardo muß vor diesen Kunstwerken kapitulieren: Ich hass' Euch so, daß ich Euch töten will, [ . . . ] Und hass' Euch tausendfach, weil aller Tod Von meiner Hand Euch doch nicht töten kann, Der Ihr der Welt fortlebt in Euerm Werk [ . . . ] ! (D 1,717)
Paolas Portrait, das dann um den Preis von Lionardos Tod vollendet wird und noch Jahrhunderte überlebt, ist auch für die Zuschauer der augenscheinliche Beweis, das Dingsymbol dieser Macht über die Zeit. In den Kontrast zwischen Remigios unvergänglichem Werk und der Schmarotzerkunst von Paulines Mann hat Schnitzler auch seine Aversion gegen den zeitgenössischen Kulturbetrieb hineingelegt. Mit dem Bild, das sich verlebendigt, wählte Schnitzler außerdem einen Gegenstand, der in der zeitgenössischen Prosa eine außerordentliche Rolle spielt - und auffallend häufig leiten diese Pygmalion-Varianten eine dezidierte Kunst- und Ästhetizismuskritik ein. Auch in Heinrich Manns Novelle ,Die Gemme' (1897) ist die Heldin, ein Prototyp der femme fatale, einem Vor-Bild ähnlich; sie trägt die Züge eines Porträtschnitts, der angeblich - von Benvenuto Cellini stammt. Das Wiedererkennen eines Frauenkopfes im klassischen Kunstwerk, offenbar eine kollektive Phantasie, zieht erotischen Reiz aus der Folie von Jahrhunderten. Das individuelle Gesicht wird zum zeitenthobenen Idol, die bewundernden Blicke aus der Vergangenheit machen es gleichsam zum Fetisch. Heinrich Mann hat diese Idolatrie aber sofort wieder ironisiert: Nicht nur die Dame stellt sich als
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Abenteurerin heraus, auch die Gemme war eine Fälschung, oder vielmehr doch bloß ein zeitgenössisches Porträt, wobei der Erzähler den Schöpfer des Schmuckstücks immerhin als großen Künstler gelten läßt. Gerade diese Desillusionierung macht deutlich, wie sehr die Attraktivität des Liebesobjekts durch seine Verdopplung im künstlichen Vorbild verstärkt worden war. Die Projektion ist eine zweifache: In dem Maß, in dem sich das Kunstwerk durch den Vergleich belebt, wird die Nachfolgerin aus Fleisch und Blut stilisiert, stillgestellt, „mortifiziert". Richard Beer-Hofmann hat in der Novelle ,Der Tod Georgs' (1900) ein Beispiel dafür gegeben, wie aus der Optik des Erzählers die lebendige Frau immerfort zur Ikone gepreßt und verflacht, wie ihr solchermaßen das Leben entzogen wird - bis hin zum tödlichen Ausgang. 117 Die kühle Schilderung dieses mörderischen Narzißmus hat wiederum Heinrich Mann in .Pippo Spano' (1905) zur Satire auf den unproduktiven, nervenschwachen, „modernen" Künstler weiterentwickelt. 118 Der Dichter Malvolto kann sein blutloses Werk auch nur künstlich reanimieren, indem er am Leben anderer schmarotzt und es vampirisch aussaugt. Die Geliebte ist ihm lediglich „Stoff zu Worten". 119 Malvolto will nicht sie, sondern sich selbst im Bild wiedererkennen, es ist ebenfalls ein Kunstwerk aus der florentinischen Renaissance, nämlich Andrea del Castagnos .Philippus Hispanus', und auch dieses Bild scheint zum Leben zu erwachen. Aber je mehr Malvolto seinen Drang nach ungehemmter, rücksichtsloser Vitalität auf das Porträt des Condottiere projiziert, desto läppischer werden seine eigenen Imitationsversuche, eine jämmerliche „Komödie"; er macht sich gleichsam zum Affen der Renaissance. Heinrich Mann kritisiert hier nicht nur den parasitären Ästhetizismus, sondern er analysiert auch die Renaissancebegeisterung der Zeit: Die „Verlebendigung" der Kunst des Cinquecento wird als Projektion ebenso entlarvt wie deren narzißtische und kompensatorische Motive. Während diese Prosatexte die Anagnorisis der Gegenwart im Kunstwerk der Vergangenheit problematisieren, hat Schnitzlers Einakter dem zum Leben erwachten Bild die Plastizität einer Bühnenhandlung gegeben; das Motiv wirkt schon deswegen relativ naiv und ungebrochen. Trotzdem gibt es auch bei Schnitzler keine unvermittelte Kongruenz zwischen Einst und Jetzt; die Kunst des Meisters Remigio ist in dem .Prinzessin Maria'-Stück des skrupellosen Schlüsseldramatikers eben nicht wiederzuerkennen. Darf die Malerei des Cinquecento den Vorrang über das Leben beanspruchen, weil sie Jahrhunderte überdauern wird, so steht dieses Prärogativ in der Gegenwart zumindest noch aus, und ob es durch
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Paulines Entschluß, nun doch Leonhards Geliebte zu werden, zu einem Remigio-Erlebnis ihres Mannes kommen wird, bleibt am Ende offen. 120 Und deshalb schließt ,Die Frau mit dem Dolche' trotz ihrer spektakulären Theatralik die Vergangenheit nicht einfach mit der Gegenwart kurz. Vergangenes wird statt dessen als vergessene Erinnerung zur Sprache gebracht. Leonhard und Pauline tun das zuerst scherzhaft. Pauline, die der abgebildeten Dame „so ähnlich" sieht, bemerkt, daß man sich „damals schöner getragen als heut": PAULINE
lächelnd Wenn Sie mir ein solch einer Tracht begegnet wären, ja dann -
LEONHARD PAULINE
LEONHARD PAULINE
Ich bin untröstlich, daß ich damals nicht das Vergnügen hatte.
Was wissen Sie denn? - wir erinnern uns vielleicht nicht. Ich versichere Sie, gnädige Frau, das hätt' ich nicht vergessen.
nachdenklich
werdend Vielleicht gehört nur ein fester Wille dazu.
(D I,703f.)
Die Verwandlung in das Atelier des Cinquecento-Malers wird von Erinnerungsappellen gerahmt: PAULINE
Erinnern Sie sich nicht, Leonhard? [ . . . ]
LEONHARD Erinnern . . . ? PAULINE Lionardo, erinnerst du dich nicht? (D 1,708) [ßinnenszene] PAULINE
Erinnerst du dich - ? (D 1,718)
Diese Appelle gehen, wie immer, auch ans Publikum. Das Renaissancebild soll nicht voyeuristisch genossen, sondern mit „festem Willen" als Erinnerung aufgerufen werden, als Erinnerung an einen kulturellen Zusammenhang. Das wäre die angemessene Haltung gegenüber der unvergänglichen Kunst. Diese Zuschauer-Anleitung gerät durch die Atelier-Effekte der Binnenhandlung aber wohl wirklich in Vergessenheit; die pompöse Renaissance-Inszenierung sprengt den Gegenwartsrahmen. Auch die knappe Form des Einakters kann sie nicht mehr zusammenhalten. Während der Probearbeiten im Deutschen Theater in Berlin kamen dem Regisseur Otto Brahm die Konstruktionsmängel so stark zu Bewußtsein, daß er von der Aufführung absehen wollte: „das Paradoxe und für mein Gefühl - Sie verzeihen! - verschrobene der Idee macht mir immer mehr Bedenken, um nicht zu sagen Bangen". 121 Schnitzler zog ,Die Frau mit dem Dolche' nicht zurück: „Als ich ihn fragte, was er gegen sie habe, sagt er, ,ich finde sie dumm'. Nach der Premiere, beträchtlicher Erfolg des Stücks, sagt er zu mir:
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,Da bin ich der Dumme gewesen.'" 122 Brahm war ein überaus kluger Regisseur. Die Renaissance-Kulisse hat Schnitzler von da an gemieden.
D. Patriotische Geschichte. ,Medardus' und ,Der Gang zum Weiher' Nach der .Kakadu'-Affaire war Schnitzler im Burgtheater persona non grata gewesen; seine Renaissancedramen hatte man auf dieser Bühne gar nicht gesehen. Erst 1905 nahm Direktor Schienther wieder ein Schnitzler-Stück an, das .Zwischenspiel'. Josef Kainz sorgte als Amadeus für einen großen Publikumserfolg; im Jänner 1908 wurde Schnitzler für die Komödie mit dem Grillparzer-Preis geehrt, wobei Schienther aber zuerst für ein anderes Drama votiert hatte, nämlich für Karl Schönherrs ,Familie'. 123 Den Tiroler Autor, nicht den Wiener, hätte der (deutsche) Direktor gern zum neuen österreichischen Klassiker promulgiert. Und als im darauffolgenden Jahr das Zentenarium der Schlacht bei Aspern und des Tiroler Freiheitskampfes (1809) den Anlaß für ein vaterländisches Schauspiel bot, 124 verschleppte Schlenther wiederum Schnitzlers „Dramatische Historie" vom jungen Medardus, um Schönherrs ,Tiroler Bauern im Neunerjahr' den patriotischen Lorbeer vorzubehalten; „das Stück - und das Stückchen mißlang aber", notierte Schnitzler, als sich Schönherrs dramatische Skizze noch gar nicht als bühnenfertig erwies. 125 Das Jubiläumsjahr war immerhin versäumt; erst unter dem neuen Burgtheaterdirektor Alfred von Berger konnte ,Der junge Medardus' am 24. November 1910 uraufgeführt werden. Von Kleinkunst, wie sie Schnitzler immer wieder vorgeworfen war, konnte hier gewiß nicht mehr die Rede sein. Das Monumentaldrama, unter Aufgebot des gesamten Ensembles und aller technischen Möglichkeiten in Szene gesetzt - kaum ein Rezensent vergaß, die vorgesehenen 79 Rollen und sechzehn Umbauten zu erwähnen -, 1 2 6 wurde ein Erfolg, allerdings nicht ohne Einschränkungen. Für die Figur des Medardus bürgerte sich die Bezeichnung „(österreichischer) Hamlet", oder, wie es Alfred Kerr prägnanter formulierte, „Herr von Hamlet'l" ein. 127 Denn der Wiener Buchhändlersohn entschließt sich zwar heldenhaft, ein Attentat auf Napoleon zu begehen, er scheitert aber noch viel kläglicher als sein historisches Vorbild, der Erfurter Predigersohn Friedrich Staps. Medardus verliebt sich nämlich in Helene, die Tochter des blinden Herzogs von Valois, der sich als den rechtmäßigen französischen Thronerben betrachtet. Wie ein mittelalterlicher Minneritter verliegt sich Medardus bei Helene und vergißt seinen histori-
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sehen Auftrag; als Helene ihm mit dem Tyrannenmord schließlich zuvorkommen will, ersticht er wunderlicherweise sie anstelle des Kaisers. Auf Napoleons Gnade verzichtet er edelmütig und wird auf diese Weise doch noch zum Märtyrer seiner Idee. Diese komplizierte Psychologie wollte der Kritik nicht recht einleuchten; einen patriotischen Helden stellte man sich schon entschlossener vor. Dazu kam ein zweites: Die Liebestragödie hatte Schnitzler in zahlreiche Milieu-Szenen eingebettet, die das Verhalten der Wiener Bevölkerung während der französischen Belagerung und Besatzung illustrieren sollten. Den Gegensatz zwischen hoher Intrige und Altwiener Genre empfand man als zu krass; schon Hofmannsthal empfahl nach Schnitzlers Vorlesung die Konzentration auf das Helene-Medardus-Zugstück unter „Opferung des Bagage-trains". 128 Auch die Kritiker fanden an diesem „Beiwerk" einiges auszusetzen. Aber Schnitzler lagen gerade die inkriminierten Volksszenen am Herzen; für einen Vorabdruck vor der Premiere wählte er ausgerechnet die figurenreiche und handlungsarme „Bastei-Szene" des dritten Aktes. 1 2 9 Denn in diese anekdotischen Passagen hatte Schnitzler nicht nur eine „Geschichte von unten" verpackt, sondern eine neue Variante der Publikumskritik. Wenn sich die französischen Aristokraten im ,Grünen Kakadu' imaginäre Verbrechen und fiktiven Aufstand als Theater hatten vorspielen lassen, so zeigt Schnitzler jetzt das Wiener Kleinbürgertum, wie es die realen Kriegswirren als Spektakel wahrnimmt. In der erwähnten Bastei-Szene strömt das Volk sensationslüstern zu den Befestigungsanlagen, um die beste „Aussicht" (D 11,118) auf die französischen Truppen zu haben. Was sich die Wiener da betrachten, ist ein „Panorama", wie das 19. Jahrhundert es liebte. Die Ansicht gerät ihnen zum aufregenden Theater; 1 3 0 den Wiener Charakter kennzeichnet eines: „spectatorship". 1 3 1 Klartext sprach Schnitzlers Manuskript, in dem ein französischer Emigrant zu sagen hat: Caillard. [ . . . ] im übrigen sind [die Wiener] so lustig als wenn es sich um die Ankündigung eines neuen Ausstattungsstückes handelte. Es wäre das beste Geschäft, wenn man Billets zur Besichtigung der bevorstehenden Belagerung verkaufen würde.132
Wohl macht die Kanonade der Franzosen dem Schauspiel ein Ende, aber trotz der Brände und trotz der Verwundeten lautet das gemütliche Fazit: „Aber schön hat's ausgesehn, von der Bastei aus!" (D 11,147), oder: „wie großartig das ausg'schaut hat" (D 11,159) - ein kleinbürgerliches Echo der Marquise im ,Kakadu', die von der Bastille kommt, um zu melden: „Es ist
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ein prächtiger Anblick; Massen haben doch immer was Großartiges" (D I,538f.). Der Kommentar zur historischen Entscheidungssituation heißt auf wienerisch denn auch: „ich hab' zug'schaut" (D 11,158) - Weltgeschichte verkommt zur Schaustellung, und wenn sich Schnitzler bei dieser Charakteristik der Wiener Bürger von 1809 auch auf die zeitgenössischen Quellen berufen konnte, so war doch das Publikum des MakartZuges von 1879 mitgemeint. Schnitzler greift eine Sozietät an, die sich zur Politik so verhält wie das Publikum des Historiendramas, das sich die Geschichte zu konsumierbaren Maskenspielen herrichten läßt. Diese Haltung hat Schnitzler auch später immer wieder bitter kritisert: Politische Überzeugung? - Das ist oft nichts anderes, als die bequeme Larve, hinter der ein Lump seine widerliche Fratze verstecken möchte, um unter dem Schutz der Maskenfreiheit auf dem politischen Faschingsrummel, den wir am Aschermittwoch Weltgeschichte zu nennen lieben, ungestraft oder gar bejubelt sein feiges Unwesen zu treiben. (AB 90)
Für die komödiantische Inszenierung vaterländischer Gesinnung gibt der ,Medardus' noch ein (historisches) Beispiel, und zwar wieder als TheaterBericht auf der Bühne. In der „Schloßhofszene" des fünften Aktes berichtet der Drechslermeister Berger von einer „Demonstration" während einer Aufführung. Eine „Komödie von Zschokke" wurde gegeben, und Berger referiert, was ein Schauspieler im zweiten Akt zu sagen hat: „Noch ist nicht alles verloren", - es hat sich natürlich auf was ganz andres bezogen - was nämlich im Stück vorgekommen is. „Noch ist nicht alles verloren", sagt er, „jeder gute Bürger gibt den letzten Blutstropfen her für seinen Fürsten." Na und wie er das sagt, da geht's los. Ein Applaus im ganzen Theater, daß die Schauspieler ein paar Minuten gar nicht haben weiterreden können. Es war großartig. Zum Weinen. Ein paar französische Offiziere waren im Theater drin, die haben sich nur so ang'schaut gegenseitig. [D 11,198)
Bergers Bericht ist authentisch; Heinrich Zschokkes Schauspiel ,Der Unbegreifliche' wurde im Theater an der Wien am 13. September 1809 uraufgeführt. 133 Das Schauerdrama - es spielt sogar in der italienischen Renaissance - vereint die Motive der feindlichen Brüder und der getrennten Liebenden mit Zschokkes Spezialität, den dunklen Umtrieben anrüchiger Geheimbünde. In der Tat bezieht sich die zitierte Passage „auf was ganz andres" - das Leben des Herzogs Lorenzo ist durch einen Anschlag der Dunkelmänner bedroht, und die Höflinge machen sich zur
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Verteidigung bereit. 134 Jedenfalls stößt die aktualisierte Rezeption dieser Historie bei Bergers Zuhörern auf Widerstand: „Das fehlt uns noch - ! für'n Krieg? - Frieden wollen wir!" Berger muß sich geradezu dafür verteidigen, applaudiert zu haben; und er tut es mit Worten, die das theatralische Selbstverständnis der Wiener Bürger unnachahmlich zusammenfassen: Na ja . . . Und Sie hätten's auch getan . . . Aber natürlich! . . . Ich bitt' Sie, im Theater! (D 11,198)
Genau diese Stelle bekam das Burgtheaterpublikum übrigens nicht zu hören; sie fiel einem der zahlreichen Striche zum Opfer. 135 Schon wegen dieser satirischen Bloßstellung einer töricht klatschenden Bürgerschaft konnte man Schnitzlers ,Medardus' selbst keinerlei patriotischen Enthusiasmus entgegenbringen. Seine nachgeborenen Landsleute mußten sich von der Bühne aus auch noch weitere Kränkungen sagen lassen. Denn was die Wiener Episodenfiguren mit dem halben Helden Medardus teilen, ist die Vergeßlichkeit. Medardus ist ja ein Flüchtling aus dem Geschichtsdrama, weil er es zur historischen Tat eben nicht bringt. Er verkörpert geradezu die Kollision von Erinnern und Vergessen. Das (ebenfalls historische) Soldatenlied Heinrich von Collins, das im Vorspiel gesungen wird, 136 gibt die Devise an, die Medardus nicht einholen wird: Gesungen wird von einem Helden, der „über seiner Liebe nicht / Des Vaterlands vergaß" (D 11,52). Medardus' Attentatsplan ist zuerst dem Gedächtnis an seinen Vater geschuldet, der während der ersten französischen Besatzung zum stundenlangen Wachestehen in eisiger Kälte gezwungen worden und am Fieber einen sinnlosen Tod gestorben war. Durch das ganze Drama ziehen sich die Mementi, wobei Medardus Widerstand und Erinnerung zuerst recht wacker bei anderen einklagt: MEDARDUS
Sich fügen hieße vergessen, Mutter. Bist du eine - die vergißt, Mut-
ter? FRAU KLÄHR
Es kommt darauf an, was man vergessen nennt. (D II,94) 137
Auch das Verhältnis zu Helene Valois geht Medardus zuerst aus Rache für seine Schwester Agathe ein, die vom Standesdünkel der herzoglichen Familie in den Tod getrieben wurde: MEDARDUS
Hast du vergessen, was geschah? Agathe war ihnen zu schlecht,
Etzelt, und darum hat sie sterben müssen! Hast du's vergessen, Etzelt? Ich nicht! (D ΙΙ,ΙΙΟ) 138
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Noch nach der ersten Liebesnacht wehrt er sich mit viel rhetorischem Nachdruck gegen den Verdacht, er habe seine Erinnerungspflicht vernachlässigt: „So meinst du - ich vergaß meines Schwures [ . . . ] ! ? Du meinst, in ihren Armen vergaß ich meines Schwurs -?" (D II.125) 129 Tatsächlich erinnert er sich noch in der Umarmung: MEDARDUS
Glücklich! - Das werden wir nicht. . . Wir haben zu viel zu verges-
sen! [ . . . ] HELENE
Die Stunde ist unser, Medardus! - Ich vergesse was war - und was sein
wird! (D 11,155)
Aber während Helene gerade nicht vergißt, fällt Medardus in seinem „Glück" doch aus der Zeit: „Das Gestern ist so ferne wie der Tag, da die Welt erschaffen wurde, das Morgen ferne wie der Tod" (D 11,162). Als er zur Besinnung kommt und nun doch seine verspätete Rache an Napoleon üben will, tritt ihm dann Helene, ihrerseits „vergessen, wie ein verzerrtes Bild der Erinnerung" (D 11,212), in den Weg und lenkt zum letzten Mal seinen Willen ab. Während Medardus' Konflikt immer noch ein Kampf gegen das Vergessen ist, so vertreten die wienerischen Episodenfiguren eine skrupellosopportunistische Gedächtnislosigkeit. 140 Alle Gesinnungstüchtigkeit ist eine Fälschung, wie sich sofort herausstellt, wenn es gilt, Napoleon und seine malerische Garde zu bejubeln. Es ist der skeptische Meister Eschenbacher, der diese praktische Amnesie seiner Mitbürger nicht vergessen kann: Erinnerst du dich noch vor vier Jahren, wie die Franzosen herangerückt sind und unser Kaiser Wien verlassen hat? Wie sie sich damals das Maul zerrissen haben, deine dynastisch fühlenden Wiener! Mancher sprach nicht viel besser als ein Hochverräter. Und dann, wie der Kaiser zurückkam nach geschlossenem Frieden, - der Jubel, die Illumination, das Glück! War alles echt. Das Geschimpf gradso wie die Lichter. (DW 11,36)
Auch diese Stelle war, was kaum überraschen kann, für die Burgtheateraufführung gestrichen worden. 141 Aber das devote Kalkül, mit dem sich die Wiener der Besatzung anbiedern und „die werten Feinde" (D 11,159) ihrer Anhänglichkeit versichern, wird in den Genreszenen breit genug ausgemalt. Die monumentale Form, die Schnitzler für sein Geschichtsdrama gewählt hat, dient daher nicht in erster Linie dem patriotischen Anlaß. .Medardus' ist kein Denkmal wienerischer Freiheitsliebe; die Schlacht bei Aspern wird hinter den Kulissen geschlagen. Erinnert wird, in der ganzen
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Ausführlichkeit der „Historie", an ein zeitloses politisches Verhalten, das Schnitzler seiner Heimatstadt vorwirft: ein Manko an Gesinnung, das zugleich ein Manko an Gedächtnis ist. Über diese Kautelen, die Schnitzlers „vaterländischem" Drama eingebaut waren, mußte sich das heimische Publikum erst hinwegsetzen - gelobt wurden sie selbstverständlich von der ausländischen Kritik: Gunnar Castrén besprach voll Sympathie die „so ehrliche, so wenig pathetische, so wenig national hochgeschraubte Erzählung" des .Medardus', 1 4 2 und Georg Brandes identifizierte sich ausdrücklich mit Schnitzlers Mißtrauen gegenüber patriotischen Kundgebungen: Die ganze Wieneratmosphäre vor 100 Jahren haben Sie geben wollen. Und wenn ich nicht irre, lag es Ihnen besonders am Herzen, zu zeigen, auf welchem Hintergrund von Spießbürgerlichkeit und lässiger Frivolität, die in Wien zu Hause waren, und auf welchem Hintergrund von unnationalem Wesen und Gehorsam dem Eroberer gegenüber, die in Deutschland hervortraten, der Heroismus einiger Wenigen sich geltend machte. Eine nachsichtige Menschenverachtung durchdringt das Schauspiel und findet u.a. in mir ein Echo. 1 4 3
Diesen Widerhall konnte der ,Medardus' bei den heimischen Rezensenten freilich nicht hervorrufen. Trotzdem behauptete sich das Stück im Repertoire; und seine historische Relevanz sollte sich später zeigen, die Rezeptionsgeschichte arbeitete sie heraus. Denn im Oktober 1914 stand der .Medardus' auf dem Spielplan des Berliner Lessingtheaters, und die Kritik stimmte darin überein, daß das „Kriegsdrama" von 1809 „in unsere Zeitstimmung irgendwie hineinpassen" hätte können. 1 4 4 Aber rasch war man sich ebenso einig, „daß das Schauspiel Schnitzlers nur gerade ein verhallendes Echo dessen ist, was jetzt außerhalb der Theatermauern dröhnend an unser Ohr schlägt". 1 4 5 Anlaß zur Kritik bot nicht der Umstand, daß der österreichische Bundesbruder so schlecht wegkam; Schnitzlers Darstellung seiner Kompatrioten passierte unwidersprochen, weil sie ja gerade das eigene Vorurteil bestätigte: „Seine Landsleute haben kein Vaterland, keinen Charakter. Sie sind lau, leichtsinnig, naschhaft, klatschsüchtig und käuflich". 1 4 6 Angedeutet wurde vielmehr, daß Schnitzlers eigene Stärken, „Witz" und „Wehmut", dem „stählernen Pathos einer Ausnahmsepoche" eben doch nicht gewachsen seien. 1 4 7 An der „großen Zeit" gemessen, erschien das halbherzige Heldentum des .Medardus' entschieden zu klein. In Wien dachte man kaum anders darüber: Obwohl der .Medardus' von der Premiere im Oktober 1910 bis Mai 1914 47 Vorstellungen erlebt hatte, wur-
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de er während des Krieges kein einziges Mal gegeben. 1 4 8 Nach dem Zusammenbruch las mans aber wiederum vollkommen anders. Im Mai 1922, zu Schnitzlers 60. Geburtstag, präsentierte das Burgtheater eine Neueinstudierung, und die Kritik rehabilitierte eilig das, was ihr vorher zu wenig heldisch erschienen war; zehn Jahre nach der Uraufführung wurde der ,Medardus' begrüßt wie nie zuvor, etwa von Felix Saiten: Als hätte es das Blut dieser zehn Jahre in sich gezogen, pocht nun in diesem Werk der fiebernde Puls unsrer Zeit. [ . . . ] Was hier poetisch gestaltete Vergangenheit ist, dramatisierte Geschichte, erscheint jetzt fast wie Prophetentum. Furchtbar begreiflich enthüllt sich das Walten der rücksichtslosen Gewalt, die Ohnmacht des Einzelschicksals, enthüllt sich österreichischer Menschenwert und österreichische Erbärmlichkeit. Es zeigt sich jetzt, da dieses Stück nach mehr als zehn Jahren wieder auf die Bühne gelangt, daß es Lebenskraft für eine lange, eine sehr lange Zukunft in sich birgt. 149
Nüchterner, aber prinzipiell übereinstimmend äußerte sich Leopold Jacobson: „vor zwölf Jahren, ehe Krieg war, schilderte Schnitzler vorausahnend, mit dem zweiten Gesicht begabt, Kriegsstimmungen von heute; erschaute den echten und den falschen militaristischen Geist; das Heldentum und den Mitläufer; den ins Elend geratenen, lästig gewordenen Invaliden; die Hungerstimmung; den Charakterwandel; die Resignation". 150 Hier hatte, aus der Sicht der Rezensenten, die Geschichte das Drama einmal nachträglich bestätigt, die Gegenwart konnte sich wiedererkennen. Schnitzlers kritische Botschaft erreichte einen Moment lang ihr Publikum. Aber diese Zuhörer blieben eine winzige Minorität, zu Zeiten, wo gegen den Verfasser des .Reigen' bereits die massivsten Pressekampagnen aufgeboten worden waren. 1 5 1 In den folgenden Jahren wurden unbequeme Erinnerungen, wie der ,Medardus' sie festhielt, schleunigst wieder unterdrückt. Als das Burgtheater 1932, im Jahr nach Schnitzler Tod, noch einmal einen Versuch mit .Medardus' machte, resümierte die Kritik: „Man hat die Historien satt". 1 5 2 Das galt wohl auch für Schnitzlers letztes Versdrama, den ,Gang zum Weiher'; erst fünf Jahre nach der Buchausgabe (1926) fand die Uraufführung am Burgtheater statt. Die Kritik verhielt sich ehrerbietig, machte jedoch kein Hehl daraus, daß sie diesen schuldigen Respekt einem Alterswerk entgegenbrachte. 1 5 3 Sogar Schnitzler selbst nannte das Stück „ein bischen zu sehr ,Alterswerk'" - allerdings auch „das jugendlichste Alterswerk, das es gibt". 154 Ein Alterswerk ist der ,Gang zum Weiher' denn auch in doppelter
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Hinsicht. Schon der erste Entwurf von 1906 skizzierte eine Art Marienbader Erlebnis zwischen einem greisen Dichter und einem jungen Mädchen, dessen kluger Vater die Affaire hintertreibt. 1 5 5 Noch weiter zurück liegt eine Notiz über die unheimliche Lautlosigkeit der Altersfurcht: „Man wundert sich als junger Mensch oft, dass nicht die ganze Welt vor der ewigen Angst der alten Menschen und der Sterbenden sozusagen widerhallt". 1 5 6 Zwischen 1907 und 1 9 1 4 wurden weitere Einfälle zum Drama aufgezeichnet; Schnitzler schwankte hier noch, ob das Handlungsmotiv ins 18. Jahrhundert oder in die Kongreßzeit zu setzen sei. 1 5 7 Erst im Jahr 1915 entstand ein Szenarium, in dem das Spieltempo von einer drohenden Kriegsgefahr bestimmt wird; als Handlungszeit ist jetzt endgültig die Mitte des 18. Jahrhunderts gewählt. In die Arbeit gehen nun sowohl Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg als auch die immer virulentere Altersproblematik ein; die autobiographischen Züge des Werks sind nicht zu verkennen. 1 5 8 Die Figurenkonstellation folgt einer Matrix von Alt und Jung: Der Dichter, Sylvester Thorn, ist das Bilderbuch-Beispiel einer midlife crisis avant la lettre; er verbrennt seine Jugend-Tagebücher als unerwünschte Zeugnisse seines jüngeren Selbst und glaubt, in der Beziehung zu der neunzehnjährigen Leoniida seine Lebensjahre annullieren und sein Zeitkapital erhöhen zu können. Demgegenüber setzt Leoniidas Vater, der ehemalige Reichskanzler Mayenau, auf Tradition und Kontinuität und rettet seine Jahre durch die Aufzeichnung seiner Memoiren. Kenntnis und Reflexion der Geschichte bestimmen ihn zum Kriegsgegner. Das wache Bewußtsein seines Alters veranlaßt ihn, die Affaire zwischen Leoniida und dem jungen Konrad von Ursenbeck zu dulden, welcher die Ödipus-Konfiguration nun endgültig herausstellt. Konrad ist Offizier, wünscht den Krieg und huldigt einem temporeichen Aktionismus, der jede Dauer auf den Augenblick der Tat reduziert. Während der Konflikt der Männer auf diese Weise mehrfach gestaffelt ist, führt das Objekt Leoniida als „Nixe" und Naturwesen im zeitlosen Weiher ein mythisches Zeitsystem ein und repräsentiert ewige Kräfte der Natur 1 5 9 - wobei diese reichlich altmodische Weiblichkeitsimagination zweifach korrigiert wird, einmal durch Leoniidas Tante Anselma, einem Inbild des Realitätsprinzips, zum anderen Mal durch Leoniida selbst, die am Ende entschiedenen Anspruch auf Selbstbestimmung und Mündigkeit erhebt. Die Interferenz verschiedener Zeiten oder Zeitbegriffe unterstreicht das Drama durch die Präzision seiner Zeitangaben. 1 6 0 Seine Zeitarchitektur beruht auf dem Verhältnis zwischen „Gestern" und „Heut" (D 11,809). Die häu-
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figsten Wörter im Text sind ohne Zweifel „Jahre", „Wochen", „Tage" und „Stunden". Gleich eingangs beklagt sich der Diener Dominik über die „sechs Jahre", die der Freiherr von Mayenau nun schon fern des Hofes verbracht hat (D 11,741); er selbst ist seit siebzehn Jahren bei Mayenau im Dienst (D 11,742), Sylvester hat „vor zehn Jahren" das Land verlassen (D 11,754), Mayenau war „zwanzig Jahre lang" Freund des Kaisers (D 11,759), dessen Vorfahren erst vor „neunhundert Jahr'n" ins Land kamen, während die Mayenau schon längst auf ihrer Burg saßen (D 11,750), und so fort. Konrads Auftritt beschleunigt dieses gemächliche Tempo. Von der Front zum Kaiser geschickt, um endlich den Befehl zum Angriff zu holen, hat er „drei Stunden scharfen Ritts" vor sich und nur Zeit zu „kurzer Rast" (D 11,757): KONRAD Soll der nach Wochen, soll nach Tagen zählen, Dem die Minuten Ewigkeiten sind? FREIHERR Du stellst die Uhr nach deiner Ungeduld. (D 11,758)
Zwischen dem kriegsbegeisterten Konrad und dem Fteiherrn entwickelt sich ein Disput, in dem Konrad die historische Zeit inflationär steigert und damit entwertet: KONRAD Raub sagt Ihr? Raub, Herr Ohm, an einem Land, Das doch das uns're war vor dreißig Jahren - ? FREIHERR Vor achtzig ihr's. KONRAD Und wessen vor dreihundert? Vor tausend? Und wem war's bestimmt vor Gott? FREIHERR So bist du rasch am Ende aller Fragen. (D 11,758)
Sorgt dann der Auftritt Sylvesters für ein retardierendes Moment, so entwickelt sich in der Folge eine Konkurrenz der Zeiten; „rechtzeitig" will Konrad den Marschbefehl, der Freiherr den Friedensschluß, Sylvester das Heiratsversprechen. Daher wird immerfort um Fristen gehandelt, etwa: „Du hast noch Zeit", „'s ist hohe Zeit", „Bis Abend ist noch Zeit", „Ich kam zur Zeit", „zur rechten Zeit", zu „rechter Stunde" (D 11,767,779,810,811,830, 836 passim). Zwischen dem „zu früh" (D 11,753,779,840) und dem „zu spät" (D 11,753,800,823,835) entsteht eine Konkurrenz, die schließlich Konrad,
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sowohl was Leoniida, als auch was den Kriegsausbruch betrifft, für sich entscheidet. Die Tempowechsel zwischen beruhigten Passagen und Momenten der Plötzlichkeit nehmen ihrerseits an Geschwindigkeit zu, und der Triumph des Jetzt, die „ungeheu're Stunde" des Kriegsausbruchs (D 11,834), scheint die Bemühungen des Freiherrn um eine „gegönnte Frist" des Friedens (D 11,813) auch dramaturgisch hinter sich zu lassen. Gegen die Evidenz und Effektivität des dramatischen Augenblicks setzt das Drama und das ist leider auch wirkungsästhetisch zu verstehen - sein eigenes Zeitmaß, nämlich den Vers. Sylvesters Protest gegen das „leidige Gesetz" des Alterns im „gleichgemess'nen Takt der Sterne" (D 11,793) bleibt ohnmächtig, das Drama selbst aber folgt dem „gleichgemess'nen Takt". Der Blankversrhythmus reguliert das Zeitmaß und soll dem Drama Dauer geben, genauso wie das traditionelle fünfaktige Gerüst und das klassische Pathos des Stils. 1 6 1 Die Autorität der Form soll, wie Ernst Offermanns argumentiert hat, auch den didaktischen Absichten des Schauspiels zuhilfe kommen. 162 Wenn Mayenau für einen zwar skeptischen, aber vernünftigen Glauben an einen fortschreitenden Kulturprozeß steht - und damit als Schnitzlers „spokesman" gelten darf 163 - , gebührt seinen Worten die formale Stütze, die Gemessenheit und Gebundenheit der Rede. Dies umso mehr, als sein humaner Optimismus und seine pazifistische Überzeugung ja am Ende unterliegen, eine Niederlage, deren katastrophale Folgen Schnitzler in seinen Aufzeichnungen zum Krieg gerade erschüttert registriert hatte. 164 Daß die Disziplin des Verses ebenso wie die historische Einkleidung des Stoffes auch „Entlastungs- und Trostcharakter" gewinnen, 165 ist offensichtlich. Schnitzlers Bedürfnis, in der klassizistischen und historisierenden Formensprache die Stimme der Vernunft zu konservieren, wird hier überdeutlich. Sein Drama gibt sich mit der Kontingenz der Geschichte nicht zufrieden und meldet mit seiner Form den programmatischen Anspruch an die Kunst an, die diffundierenden historischen Sinnsysteme nicht einfach zu beobachten, sondern ein Prinzip der Integrität dagegenzusetzen. Und dieses Prinzip ist - psychologisch wie poetologisch - die Erinnerung. Wenn der Freiherr spricht, so zitieren nicht nur die Verse eine kulturgeschichtliche Tradition; die Figur darf dieses Gedächtnis auch verbalisieren. Mayenau verfügt über eine reflektierte Erinnerungsfähigkeit, und die Opposition zwischen ihm und Sylvester deckt sich natürlich wieder mit dem Gegensatz zwischen Erinnerung und Vergessen. Als Sylvester ankündigt, seine Tagebücher zu verbrennen, entgegnet Mayenau:
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FREIHERR Verglimmt das Wort, - glüht nicht Erinn'rung weiter? SYLVESTER Was ist Erinn'rung? - Zwischen Nichts und Etwas Ein Ungestaltes, Nie-zu-Fassendes; Und so wie Ufersand von Meereswelle Von neuen Lebensfluten stets bedroht. (D II,774f.) 166
Auch Leoniida hat ein gutes Gedächtnis; als sich ihr Vater wundert, daß sie sich noch an Sylvester erinnert, obwohl sie neun Jahre alt war, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, antwortet sie: „Erinnerung? - Wie wenig wäre das -1 Et lebt in mir" (D 11,754). Natürlich kann der heimkehrende Sylvester solche Gedächtnistreue nur krass enttäuschen; seine Erinnerung ist Leoniidas nicht gewachsen. „Hast du vergessen?", „Du weißt nicht mehr?", fragt sie ungläubig (D 11,777). Denn Sylvester ist einer von Schnitzlers furchtbar Vergeßlichen; daß seine Freundin ein Kind erwartet, sagt er Leoniida nicht, und auf ihr entsetztes: „Und das - verschwieg er mir?" entgegnet der Freiherr lakonisch: „Nein, er vergaß" (D 11,780). Nur daß auf Mayenau pünktlich gegessen wird, weiß Sylvester noch - und der Freiherr darf kaustisch kommentieren: „Das / Vergaß er nicht" (D 11,779). Als Sylvester sich entschließt, seine Erinnerungen zu vernichten, legt er noch ein letztes impressionistisches Bekenntnis ab: Fahr wohl, Vergangenheit! Vergessen bleibt Die einz'ge Andacht, würdig dir zu weih'n. Der Tag ist unser - nein, der Augenblick. (D II,784f.)
Gegen dieses Programm kommt Sylvesters Werk, in dem er „Verfließendes, Verflossenes" (D 11,775) festzuhalten versucht hat, nicht mehr auf. Mit seiner Vergangenheit zerstört Sylvester buchstäblich seine Lebenszeit - und daher muß er auch den Freitod wählen. Mayenau und Leoniida hingegen sind vernünftige und liebende Erinnernde, Vorbilder der Erinnerung. In kaum einem anderen Schauspiel hat Schnitzler das freiwillige und unfreiwillige Erinnern so häufig gestisch darstellen lassen wie hier: „SYLVESTER sich erinnernd", „KONRAD sich erinnernd", „FREIHERR sich erinnernd", „ANSELMA ihn [ ... ] erinnernd" (D 11,777,805,820, 840). Diese Regieanweisungen gelten nicht nur den Figuren, sondern wieder auch dem Publikum, sie sind versteckte Lese- und Höranleitungen. Was der Freiherr gegen Konrads Draufgängertum einzuwenden hat, war zwar durch die Geschichte beglaubigt; die Erinnerung an die Ursachen
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des Weltkriegs war aber schon längst dabei, revisionistisch zu entschwinden. Die historische Einkleidung des ,Gang zum Weiher' verdeckt aber noch einen zweiten Sitz im Leben, nämlich Schnitzlers Auseinandersetzung mit der „Heimat". Noch 1984 war das Thema so mißverständlich, daß man dem Stück „eine Reihe penetranter Nationalismen" vorwerfen und den Namen „Sylvester Thorn" beanstanden konnte - ein „germanischerer Name" tauche „im ganzen Werk Schnitzlers nicht auf". 167 So ironisch ist die Rezeptionsgeschichte: Tatsächlich befürchtete Schnitzler im Jänner 1931, einen Monat vor der Uraufführung, antisemitische Demonstrationen gegen das Stück. 168 Denn Sylvester hatte seine Heimat verlassen, weil er, ein „Fremdling" nach seiner Abstammung, vom „Pöbel" beschimpft und attackiert worden war (D II,767f.). Erst nach zehn Jahren und angesichts der Kriegsgefahr, die dem Land droht, kehrt er wieder zurück: Denn Heimat war es nun - nicht Vaterland, Nicht eines Fürsten Zufallsreich, das morgen Vielleicht zerfallen wird, wie's gestern ward. Jetzt war's die Heimat erst, die mich umgab Der Erdenfleck, der mir gehört, so wie Ich ihm, wer immer ihn als Fürst beherrsche. Und schrien sie alle, die von Urzeit her In diesem Lande hausen, meine Fremdschaft Ins Antlitz mir - und schichteten sie selbst Den Holzstoß für mich auf: - mir könnte nimmer Ihr Droh'n, ihr Hassen das Gefühl verwirren. Du Erde weißt, das ich aus dir erwuchs, Du Himmel, daß du Heimat überglänzest, Und kein Verworfner atm' ich zwischen euch. (D 11,771)
Das Szenario enthielt diese Stelle übrigens in schlichterer Prosa: „Man sprach mir das Recht ab mich wie ein Ansässiger hier zu fühlen. Selbst ward ich zu Zeiten irr, suchte ein anderes Vaterland. Doch findet man keines. Es gibt nur eins". 169 Der Freiherr spielt die Gefahr, in der Sylvester geschwebt hatte, entschieden herunter: „Kein Mensch hat dich verjagt. Und hätte einer / Dergleichen nur versucht, nicht das Gesetz nur, / Auch deine Freunde waren stark genug, / Dich zu beschützen" (D 11,768). Allerdings wird seine politische Urteilskraft ja durch den Gang der Handlung auch in einem anderen Fall widerlegt. Sylvester, der Vergeßliche, hat als zeitloser Typus des „freiwilligen" Emigranten in einem Fall die Erin-
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nerung bewahrt; wozu ihm der Freiherr rät, ist jener „Wahn des Geborgenseins", den Heinrich Bermann im Roman ,Der Weg ins Freie' als gefährliche Krankheit charakterisiert (E 1,832). Die Verlagerung in ein historisches Niemandsland des 18. Jahrhunderts tarnt hier nur schwach Schnitzlers allerletzte Erfahrungen mit antisemitischen Pressekampagnen und öffentlichen Beschimpfungen. Die Zusammenrottung vor Sylvesters Haus war eine Bedrohung, die für Schnitzler seit den .Reigen'-Skandalen konkret geworden war. 170 Die bitteren Erfahrungen mit dem „Vaterland" als politischem Gebilde werfen Sylvester auf ein quasi-natürliches Verhältnis zur „Heimat" zurück; Landschaft, Erde und Himmel sollen eine unvermittelte Zugehörigkeit begründen - eine Rechnung, die nicht aufgeht, weil Sylvester, indem er seine Erinnerungen vernichtet, ja gerade jene Identität aufgibt, die er gegen die Angriffe von außen verteidigt hatte. 171 Trotzdem ist Sylvester an dieser Stelle Sprachrohr seines Autors; seine Sätze zur Heimat, der schmerzhaften „Fremdschaft" abgewonnen, sind gewiß ein patriotisches Bekenntnis. Zur Entstehungszeit des .Weiher', im Mai 1915, hatte Schnitzler sich ausnahmsweise einmal einem jüdischen Kollektiv zugerechnet: „Wir [ . . . ] empfinden das Schicksal dieses Landes so tief wie andre, tiefer vielleicht. Wie verwurzelt ist man doch mit dem Land, das einen geboren! Was gehn uns am Ende die Mitbürger, die Diplomaten, die Monarchen an? Das Land! Die Heimat! - " 1 7 2 Wenn sich auch Sylvester die „Wurzeln" seiner eigenen Geschichte abschneidet, so hält sein Opponent Mayenau an der Verantwortung für die Geschichte fest, die nichts anderes sein kann als Erinnerung. In diesem Sinn ist ,Der Gang zum Weiher' Schnitzlers Legat an seine Heimat. Sie hat damit nichts anzufangen gewußt. Zwei Monate nach der Uraufführung wurde das Stück abgesetzt. „Was vollbracht war, mag vergessen werden und bewahrt sein in der Gegenwart. Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene Versprechen eines Neuen", hat Adorno über Ibsen geschrieben - und den Bruch des Versprechens den Nachgeborenen angelastet. 173 Schnitzlers historische Dramen, oder jedenfalls einige von ihnen, mögen als veraltet und mißlungen gelten, weil sich die Geschichte nicht mehr in die alte Form pressen ließ, weil die Kunst eben die Kontinuitäten aufkündigte, die Schnitzler ihr sichern wollte. Aber das Versprechen eines Neuen, nämlich: eine erinnerungsmüde Gesellschaft aufzuwecken, haben sie nicht gebrochen - höchstens verschoben. 174
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Anmerkungen 1 Arthur Schnitzlers .Komödie der Verführung' [13. Oktober 1924], In: Robert Musil: Kritik. Literatur - Theater - Kunst 1912-1930. Reinbek: Rowohlt 1978 (= Gesammelte Werke 9), S. 1664-1668, S. 1667. 2 Reinhard Urbach: Arthur Schnitzler. Velber 1968 (= Friedrichs Dramatiker des Welttheaters 56), S. 75. 3 Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 71. 4 Walter Glogauer: Die Signifikanz von Arthur Schnitzlers Vers- und Prosasprache. Eine vergleichende Untersuchung. In: LuK 19 (1984), S. 270-287, S. 274f., 282. 5 Vgl. ebda., S. 279. 6 Vgl. Elsbeth Dangel: Wiederholung als Schicksal. Arthur Schnitzlers Roman .Therese. Chronik eines Frauenlebens'. München: Fink 1985, S. 136f. 7 Der Übersicht halber: (1890) Alkandi's Lied
la.
Blankvers
(1898) Paracelsus (1899) Der grüne Kakadu
la. la.
Blankvers Prosa
(1789)
Blankvers Blankvers
(Beginn 16. Jh.; (Beginn 16. Jh.;
(Beginn 16. Jh)
(1900) Beatrice
5a.
(1902) Die Frau mit dem Dolche (1906) Der Ruf des Lebens
la. 3a.
Prosa
(um 1850)
(1910) Der junge Medardus
5a.
Prosa
(1919) Die Schwestern (1926) Der Gang zum Weiher
3a. 5a.
Blankvers Blankvers
(1809) (um 1750) (um 1850)
8 Vgl. z.B. Franz Norbert Mennemeier: Aspekte des naturalistischen Dramas der Jahrhundertwende - von Emile Zola bis Arthur Schnitzler. In: Drama und Theater der Jahrhundertwende. Hrsg. v. Dieter Kafitz. Tübingen: Francke 1991 (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 5), S. 1-19, S. 17f. 9 Vgl. dazu Schnitzlers Angaben in .Zur Physiologie des Schaffens. Die Entstehung des „Schleier der Beatrice'" ([1904]. In: Neue Freie Presse v. 25.12.1931; jetzt um eine Passage aus dem Nachlaß erweitert in AB 379-383) und Otto P. Schinnerer: Schnitzler's Der Schleier der Beatrice. In: GR 7 (1932), S. 263-279, S. 264-268. 10 Ernst L. Offermanns: Geschichte und Drama bei Arthur Schnitzler. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 34-53, S. 41. - Die erste Fassung der .Beatrice' spielte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien; die Handlung wurde gleichsam gestaffelt immer weiter in die Vergangenheit versetzt. 11 Lea Ritter Santini: Maniera Grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. v. Roger Bauer u.a. Frankfurt: Klostermann 1977 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 35), S. 170-205, S. 190. 12 Schnitzlers eigene Aufzeichnungen zur .Kakadu'-Affaire sind wiedergegeben in: Reinhard Urbach: Schauspieler und Gesellschaft im Werk Arthur Schnitzlers. Untersuchungen zur dramaturgischen Durchführung, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte des .Grünen
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Kakadu'. Wien: phil Diss. 1975, S. 314-321; vgl. Otto P. Schinnerer: The Suppression of Schnitzler's Der grüne Kakadu by the Burgtheater. Unpublished Correspondence. In: GR 6 (1931), S. 183-192; Ders., Schnitzler's Der Schleier der Beatrice. - Vgl. ferner, auch im folgenden, Renate Wagner u. Brigitte Vacha: Wiener Schnitzler-Aufführungen 1891-1970. München: Prestel 1971 (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts 17), hier S. 31-37. 13 Eintragung v. 18.6.1900 (TB). 14 Vgl. zur Direktionsperiode 1870-1890 das Kapitel ,Die letzten Zeiten des alten Burgtheaters' in: Nagl/Zeidler/Castle (Hrsg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 661-687. 15 Helene Richter: Unser Burgtheater. Zürich: Amalthea 1918, S. 53. 16 Hermann Bahr: Direktion des Burgtheaters. In: Hundertfünfzig Jahre Burgtheater 1776-1926. Eine Festschrift. Hrsg. v. der Direktion des Burgtheaters. Wien: Krystall-Verlag 1926, S. 22-26, S. 25. - Vgl. dazu auch Walter Hinck: Geschichtsdrama und Anachronismus. Probleme moderner Inszenierungen. In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart: Metzler 1990, S. 353-364, S. 354. 17 Vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien: Jugend & Volk 1992, S. 157. 18 Vgl. Rudolph Lothar: Das Wiener Burgtheater. Berlin: Schuster & Loeffler [1905], S. 64f. 19 Die Angaben basieren auf: Das Burgtheater. Statistischer Rückblick [8.4.1776-1.1.1913], Zusammengestellt v. Otto Rub. Wien: Knepler 1913. - Vgl. auch die entsprechenden Jahrgänge des .Deutschen Bühnen-Spielplans' (Leipzig: Breitkopf und Härtel). - Im folgenden beziehen sich die Datierungen der Stücke auf die Erstaufführungen im Burgtheater. 20 Die Statistik bis 1914 wurde ergänzt durch: Der Spielplan des neuen Burgtheaters 1888-1914. Ausgearb. u. eingel. v. Alexander von Weilen. Wien: Verlag des Literarischen Vereins 1916 (= Schriften des Literarischen Vereins 22). - Die Zahlen weichen mitunter leicht ab, je nachdem, ob Neubearbeitungen einer Inszenierung extra gezählt werden oder nicht; an der Spitzenstellung der genannten Autoren besteht jedenfalls kein Zweifel. 21 Vgl. den Brief Beer-Hofmanns an Schnitzler v. 7.7.1910 (AS-RBH 209). 22 E.[douard] Pailleron: Die Welt, in der man sich langweilt. Lustspiel in drei Akten. Wien: Wallishausser 1883 (= Wiener Theater-Repertoir 368), S. 31, vgl. 32, 37. - Das Drama war im November 1881 sehr erfolgreich am Wiener Stadttheater aufgeführt worden; das Burgtheater übernahm ein Stück, dessen Publikumswirksamkeit sich schon bewährt hatte. 23 Ebda., S. 47. 24 Rudolph Lothar: Das Wiener Burgtheater. Leipzig: Ε. A. Seemann 1899 (= Dichter und Darsteller 2), S. 165. 25 Nur das im Hofoperntheater gegebene .Märchen vom Untersberg' (1884) kam mit 57 Vorstellungen an frühere Zahlen heran; die Gesellschaftsstücke Johannes Erdmann' (1881) und .Assunta Leoni' (1883) wurden ebenso wie das Lustspiel Johann Ohlerich' (1884) nach wenigen Aufführungen abgesetzt. 26 Bis zum März 1909 wurde sie 97mal gegeben. 27 .Arria und Messalina' hielt sich mit 73 Vorstellungen bis 1898 auf dem Spielplan.
2. Geschichtsdrama u n d Historismus
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28 Victor Klemperer: Adolf Wilbrandt. Eine Studie über seine Werke. Stuttgart: Cotta 1907, S. 167. 29 Eduard Scharrer-Santen: Adolf Wilbrandt als Dramatiker. München: Hans Sachs-Verlag 1912, S. 29. 30 Renate Richter: Studien über das Drama des Historismus (1850-1890). Potsdam: Hoffmann & Kirchner 1935 [Rostock: phil. Diss. 1935], S. 35f. 31 Friedrich Sengle: Das deutsche Geschichtsdrama. Geschichte eines literarischen Mythos. Stuttgart: Metzler 1952, S. 177. - N o c h den national-historischen Dramen der neunziger Jahre hat man ,,geschäftstüchtige[n] und streberhafte[n] Patriotismus" vorgeworfen, allerdings zu einer Zeit, wo die Unterscheidung zwischen Gesinnungsstärke und Opportunismus ebenfalls schwerfällt (Lotte Cleve: Das politisch-historische Drama vom Naturalismus bis zum Ende des Weltkrieges. Potsdam: Hoffmann & Kirchner 1935 [Rostock: phil. Diss. 1935], S. 11). 32 Zum Umbruch in der Publikumsstruktur des gründerzeitlichen Burgtheaters vgl. Elke Calaitzis: Das Burgtheater-Publikum von Wilbrandt bis zum Dreierkollegium. In: Das Burgtheater und sein Publikum. Bd. 1. Hrsg. v. Margret Dietrich. Festgabe zur 200-Jahr-Feier der Erhebung des Burgtheaters zum Nationaltheater. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1976 (= Sitzungsberichte der Philosophisch-historischen Klasse 305; Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung 3), S. 369-477, und Fritz Fuhrich: Burgtheater und Öffentlichkeit: Von Laube bis Dingelstedt, ebda., S. 335-367. - Die Verteuerung der Kartenpreise führte zu einem Schwund des traditionellen adeligen und bildungsbürgerlichen Abonnentenpublikums zugunsten neuer Besucher aus Unternehmer- und Finanzkreisen. 33 Felix Saiten: Schauspieler. In: Direktion des Burgtheaters (Hrsg.), Hundertfünfzig Jahre Burgtheater, S. 27-36, S. 28. 34 Vgl. Rossbacher, Literatur und Liberalismus, S. 157-169. 35 Adolf Wilbrandt: Arria und Messalina. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Wien: L. Rosner 1874, S. 8. 36 Ebda., S. 114. 37 Ebda., S. 77. 38 Vgl. dazu: Hans Brunow: Das Burgtheater unter der Leitung Max Burckhardt (1890-1898). Wien: phil. Diss. 1923. 39 Vgl. Lothar, Das Wiener Burgtheater, 1899, S. 193. 40 Vgl. ebda., S. 191. 41 Vgl. Helmut Schanze: Probleme der „Trivialisierung" der dramatischen Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst. Hrsg. v. Helga de la Motte-Haber. Frankfurt: Klostermann 1972 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 18), S. 78-88; Ders.: Drama im Bürgerlichen Realismus (1850-1890). Theorie und Praxis. Frankfurt: Klostermann 1973 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 21), bes. S. 8f., 30-36, 153-155. Die Trivialliteraturforschung hat sich mit der Trivialisierung der kanonischen Gattung des Geschichtsdramas weniger auseinandergesetzt als mit einzelnen Genres, die von vornherein auf das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zugeschnitten sind, wie Rührstück und Ritterdrama, Posse und Schwank (vgl. Nusser, Trivialliteratur, S. 88-95, 115f.).
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
42 Vgl. Volker Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie - Posse - Schwank - Operette. München 1980 ( = dtv Wissenschaft 4357), S. 178-181. 43 Benno von Wiese: Geschichte und Drama [1942], In: Geschichtsdrama. Hrsg. v. Elfriede Neubuhr. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980 ( = Wege der Forschung 485), S. 381-403, S. 393. - An von Wieses nationalidealistischer Position sind allerdings selbst wieder einige Abstriche angebracht. 44 Einleitung: Zur Poetik des Geschichtsdramas. In: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Hrsg. v. Walter Hinck. Frankfurt 1981 ( = stm 2006), S. 7-21, S. 17. 45 Gertrud M. Koch: Zum Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung. Theorie und Analyse. Frankfurt: Peter Lang 1983 ( = Arbeiten zur Ästhetik, Didaktik, Literatur- und Sprachwissenschaft 10), S. 191. 46 Ausnahmen machen das in ein imaginäres Niemandsland verlegte „Dramatische Gedicht" .Alkandi's Lied' (1889), das Schauspiel ,Der Ruf des Lebens' (1905) und das Lustspiel ,Die Schwestern oder Casanova in Spa' (1919). ,Der Ruf des Lebens', bereits formal ein mühsames Konstrukt, entwickelt in zwei Akten den Konflikt zwischen unbändigem Lebenswillen und Kindes- bzw. Ehrenpflicht. „Danach fiel Schnitzler nichts mehr ein", konstatierte Hartmut Scheible (Im Bewußtseinszimmer. Arthur Schnitzlers Einakter. In: Text & Kontext 10/2 (1982), S. 220-288, S. 235). Der Schlußakt präsentiert tatsächlich sehr unvermittelt eine biedermeierliche Idylle, womit die Handlungszeit „etwa in der Mitte des vorigen
Jahrhun-
derts" nicht schon motiviert ist (D 1,963). Lebensphilosophische Ideen der Jahrhundertwende kleiden sich hier wirklich in ein beliebiges historisches Kostüm, und die existenzielle Hochspannung der beiden ersten Akte will sich mit einem „vernünftigen" Geschichtsbegriff nicht vertragen. In Beer-Hofmanns liebevoller Satire auf Schnitzlers Stück fällt die Bemerkung, vor dem letzten Akt sei „jede Tiefe eine Grube, die sich der Dichter gräbt" (AS-RBH 199); aus dieser Grube heraus klingt der ,Ruf des Lebens' ziemlich hohl. - Ernst Offermanns allerdings argumentiert, auch im ,Ruf' erscheine .„Leben' immer bereits in bestimmten Formen als Resultaten des historischen Prozesses", was wohl zutrifft, aber in dieser Allgemeinheit die Wahl der Handlungszeit nicht plausibilisieren kann (Geschichte und Drama bei Arthur Schnitzler, S. 42). Schnitzlers „Lustspiel" ,Die Schwestern' hingegen, während des Krieges entstanden, sucht im Casanova-Stoff eine Auseinandersetzung mit dem Abenteurer als Prototyp „impressionistischer" Lebensform. Anders als in der parallel geschriebenen Novelle .Casanovas Heimfahrt' dient Casanovas leichtlebige Augenblicksexistenz, die Zeit und Dauer aufhebt, hier als Korrektiv bürgerlichen Besitzdenkens, sowohl im Finanziellen als auch in eroticis; der eifersüchtige Andrea lernt seine Lektion in Lebenskunst. Den guten Ausgang forcieren sowohl die Gattungserfordernisse als auch das Rokoko-Ambiente als Projektion arkadischer Harmonie, als Hintergrund einer fête galante. Aber trotzdem kann das happy end nur durch den Auftritt einer dea ex machina erreicht werden und bleibt daher im Grunde „erborgte Idylle" und künstliche Versöhnung. Die historische Situierung, Gegenbild zur katastrophalen Gegenwart des Weltkriegs, fällt als „Fluchtort" aus der Geschichte heraus (vgl. v.a. Friedbert Aspetsberger: .Drei Akte in einem'. Zum Formtyp von Schnitzlers Drama. In: ZSfdtPh 85 (1966), S. 285-308; das Kapitel .Die erborgte Idylle des „Lustspiels"' in: Ernst L. Offermanns: Arthur Schnitzler. Das Komödienwerk als Kritik des Impressionismus.
2. G e s c h i c h t s d r a m a u n d Historismus
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München: Fink 1973, S. 110-127; Angelika Gleisenstein: Die Casanova-Werke Arthur Schnitzlers. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 117-141; G.J. Weinberger: Arthur Schnitzler's The Sisters, or Casanova in Spa as Bildungskomödie. In: Turnof-the-Century-Vienna and its Legacy. Essays in Honor of Donald G. Daviau. Ed. by Jeffrey B. Berlin, Jorun B. Johns and Richard H. Lawson. [Wien:] Edition Atelier 1993, S. 89-102. - Zum Rokoko-„Bild" der Jahrhundertwende vgl. auch Heide Ellert: Abschied von Kythera? Zu Arthur Schnitzlers .Komödie der Verführung' und der Rokoko-Rezeption des Fin de siècle. In: Sprachkunst 22 (1991), S. 215-229). 47 Zum ambivalenten Verhältnis „Jung-Wiens" zum Historismus, zu seiner heiklen Balance zwischen Abhängigkeit und Distanzierung, vgl. v.a. Reinhard Urbach: ,Was war, ist'. Das Problem des Historismus im Werk Arthur Schnitzlers. In: Studia Schnitzleriana. Hrsg. v. Fausto Cercignani. Alessandria: Edizioni dell'Orso 1991, S. 97-106; Gotthart Wunberg: Historismus und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Actes du colloque international ,La littérature de fin de siècle, une littérature décadente?' Numero spécial de la Revue Luxembourgeoise de Littérature Générale et Comparée (1990), S. 13-47; Ders: Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 309-350; Ders., Wien und Berlin, S. 223ff.; Hubert Lengauer: Historismus und Moderne. Gesellschaft und Literatur der franzisko-josephinischen Epoche. In: Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914. Hrsg. v. Helmut Rumpler. Wien/München: Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg 1991, S. 186-193; Dirk Niefanger: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen: Niemeyer 1993 (= Studien zur deutschen Literatur 128), bes. S. 28f. - Was Hugo von Hofmannsthal betrifft, so liest Jacques Le Rider dessen ganzes Werk als Auseinandersetzung mit dem Historismus. Hofmannsthals spezifische Modernität läßt sich dann gerade an der Subtilität der Lösungen messen, die er für dieses Problem findet (Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende [üs. v. Leopold Federmair]. Wien: Böhlau 1997 [= NHS 6]). 48 Das „Dramatische Gedicht" ,Alkandis Lied' (1890) blieb unaufgeführt; Otto Brahm, dem Schnitzler vorgeschlagen hatte, es zusammen mit der .Liebelei' zu geben, winkte ab (vgl. Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 139). 49 Vgl. Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienischen Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende. Berlin: de Gruyter 1985 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 84), S. 7-13. 50 Vgl. Horst Thomé: Vorwort. Arthur Schnitzlers Anfänge und die Grundlagenkrise der Medizin. Walter Müller-Seidel zum siebzigsten Geburtstag. In: Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Wien: Szolnay 1988, S. 11-59. 51 Vgl. dazu und auch im folgenden: Michaela L. Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers. München: Fink 1987 (= Münchner Germanistische Beiträge 37), S. 82-88. - Michael Worbs weist die Übereinstimmungen mit Fïeuds Theorieansätzen nach. Hier war Schnitzler tatsächlich auch Vorläufer: Worbs zitiert Freuds von Ernst Jones überlieferten Ausspruch nach einem Besuch der Burgtheateraufführung des .Paracelsus', er sei erstaunt, „wieviel von den Dingen so ein Dichter weiß"
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
(Nervenkunst, S. 228ff.). - Im .Bruchstück einer Hysterie-Analyse' (1905) merkt Freud an, daß Schnitzler das Phänomen des Krankheitsgewinns in .Paracelsus' richtig dargestellt habe (In: Sigmund Freud: Hysterie und Angst. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe VI; Fischer-Tb Wissenschaft 7306), S. 83-186, S. 119, Fußn. 1). - Zu Schnitzlers Abweichungen von der historischen Überlieferung vgl. Hans Urner: Schnitzlers Paracelsus. In: Paracelsus. Werk und Wirkung. Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Sepp Domandi. Wien: Verlag Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1975, S. 345-352, S. 346f. 52 Daher hält sich auch der Junker Anselm zwecks Orgelstudium in Basel auf (D 1,475). In der Druckfassung ist natürlich weniger plausibel, warum der Orgelschüler Gast im Haus des Waffenschmieds ist. 53 Vgl. die handschriftliche Fassung [datiert: 18.10.1894], Nachlaß ULC, Mappe 89 (Korrekturen im Manuskript werden der Lesbarkeit halber nicht wiedergegeben). - Zuerst behauptet Paracelsus die Priorität seiner Begabung, und zwar interessanterweise mit dem Hinweis auf die kulturellen Grenzen der Kunst: Wenn einer lahm wird u. ich mach ihn gehn Wenn ich den Blinden wieder sehend mach. Wer beugte sich vor diesen Wundern nicht? Sie haben auch in Asien mir gehuldigt [ . . . ] Bring deine Lieder dorthin; lass dich dort Als Meister auf der Orgel Tasten hören Wer würde dich verstehn? Sie liefen fo[rt] Ihr heißt es Musik - Lärm nur ists für jene, Geräusch ist uns, was jenen Klang bedeutet. Doch meine Künste sind für alle Menschen. In der nächsten Variante aber räumt er dem Cyprian den Vorrang ein: [Du], Cyprianus, darfst mich nicht beneiden In einer Melodie, die [Dir] gelingt, Liegt tiefrer Zauber als in meinen Werken. - [ . . . ] Mir hat Natur wohl mancherlei verrathen, Weil ich mit offnen Sinnen sie beleuchtet Du aber schaffst - aus Deinem eignen Geist Vor mir erschauern sie - Du kannst berauschen - woraufhin wieder Cyprian edelmütig die Verteidigung des Paracelsus übernimmt. - Die Pattstellung der Positionen, die Schnitzler im Entwurf durchprobierte, erwies sich dann wohl als Sackgasse für einen dramatischen Konflikt. 54 Helga Schiffer hingegen vertritt die These, daß Schnitzler „Experiment und Ethik als die eigentlichen Charakteristika des Paracelsus anspricht [ . . . ] : in dem Maße wie Paracelsus auf ein festes Ziel verzichtet, vermittelt er eine Ethik des Experiments". Justina, Cyprian und der in Verdacht geratene Junker Anselm sehen das anders (Experiment und Ethik in Arthur Schnitzlers Paracelsus. In: Aufsätze zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. v. Gerhard Kluge. Amsterdam: Rodopi 1984 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 18), S. 329-357, S. 340, 357).
2. Geschichtsdrama u n d Historismus
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55 Vgl. JiW 319 und Felix Saiten: Aus den Anfängen. Erinnerungsskizzen. In: Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde 18/19 (1932/33), S. 31-46, S. 33f. - Zur biographischen Mehrdeutigkeit dieser Versuche vgl. Weinzierl, Arthur Schnitzler, S. 42f. - Zur Medizin- und Wissenschaftskritik Schnitzlers, auch in anderen Zusammenhängen, vgl. Walter Müller-Seidel: Moderne Literatur und Medizin. Zum literarischen Werk Arthur Schnitzlers. In: Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit', S. 60-92. 56 Vgl. z.B. Th.[eodorus] C.[ornelis] van Stockum: Schnitzlers Paracelsus als ,Homo ludens'. In: Neophilologus 40 (1956), S. 201-206. 57 Reinhard Urbach nennt die ersten Interpreten, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre mit dieser Deutung brachen (Schnitzler-Kommentar, S. 164). - Schnitzlers Vorbehalt wird inzwischen häufig mitzitiert: „,Wir spielen immer, wer es weiß ist klug', sagt Parazelsus, aber nicht ich" (AB 464). 58 „Paracelsus [ . . . ] represents psycho-analysis avant la lettre", hatte Martin Swales formuliert; auch er betont die moralische Relativierung der tiefenpsychologischen Einsichten: „Paracelsus is a significant statement of Schnitzler's relationship to psycho-analysis in that it recognizes the value of the insights it gives - and at the same time relativizes that value in terms of a reticent and yet passionate moral intention" (Arthur Schnitzler. A Critical Study. Oxford: Clarendon Press 1971, S. 136ff.). 59 Vgl. Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 71f. - HansPeter Bayerdörfer nennt .Paracelsus' eine „Analyse des Analytikers", die „Spannweite und Grenzen der analytischen Technik" absteckt. Gemeint ist dabei aber die Struktur des Dramas, das die Aufdeckung der Vergangenheit zur dramatischen Aktion macht (Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie. Zu Arthur Schnitzler Einaktern. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 516-575, S. 556-559). - Die Äquivokation ist vielsagend: Schnitzler kann als der Autor gelten, der das naturalistische analytische Drama mit dieser tiefenpsychologischen Dimension ausgestattet hat. 60 Im Manuskript (Mappe 89) war denn auch Cyprian, nicht Paracelsus, Justina gegenüber der Anwalt der Erinnerung gewesen: Cyprian. [ . . . ] Scheust du Erinnerung? .. Man kann ihr besser nicht den Schauer nehmen, Als wenn man sie zum Leben wieder weckt. Und spräch ich nicht davon, mit lauten Worten Dass dieser Mann einstmals um dich geworben So läge dies Gedenken schwer auf uns Als wäre jener Zeit nicht längst vergessen .. 61 Vgl. aber Wolfgang Neuber: Paradigmenwechsel in psychologischer Erkenntnistheorie und Literatur: Zur Ablöse des Herbartianismus in Österreich (Herbart und Hamerling, Freud und Schnitzler). In: Zeman (Hrsg.), Die österreichische Literatur, S. 441-474, S. 469. - Neuber weist darauf hin, daß Justinas Verhalten unter dem posthypnotischen Befehl zur Affirmation familiärer Bürgerlichkeit gerät, was sich mit Freuds Familialismus berührt. Figurenpsychologisch gesehen, ist diese biedermeierliche Beschränkung aber der Preis, der hier
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noch entrichtet werden muß, um Justina überhaupt zu so etwas wie einer reflektierten Position zwischen den Projektionen beider Männer zu verhelfen. 62 Gunter Selling hält allerdings Cyprian für den Gewinner; er handle schließlich aus „Verantwortungsgefühl" Justina gegenüber und könne seine Haltung auch entsprechend reflektieren. Cyprians heroic couplet - „Es war ein Spiel, doch fand ich seinen Sinn; - / Und weiß, daß ich auf rechtem Wege bin" (D 1,498) - kann aber nur dann als Moral der Geschichte gelten, wenn die warnenden Ironiesignale, mit denen diese Figur ausgestattet ist, übersehen werden (Die Einakter und Einakterzyklen Arthur Schnitzlers. Amsterdam: Rodopi 1975, S. 51f.). 63 Hofmannsthal nahm Schnitzlers Einakter zum Anlaß, ein völlig andere, magische Deutung der Paracelsus-Figur zu skizzieren. In den Entwurfsblättern zu einem geplanten „Phantasiestück" ,Paracelsus u. Dr Schnitzler' (1900) wird der Dichter - eben Schnitzler - durch Paracelsus mit dem eigenen physischen und metaphysischen Wesen, mit „Thiernatur" und „Feuernatur", konfrontiert (Rudolf Hirsch: .Paracelsus u. Dr Schnitzler'. In: MAL 10 (1977), 3/4, S. 163-167). 64 Abgesehen von den Zyklen .Anatol' und ,Reigen' ist der .Kakadu' wohl Schnitzlers meistinterpretierter Einakter. Was die Gattungszuordnung betrifft, ist bereits Schnitzlers Untertitel („Groteske in einem Akt") kritisch oder zustimmend diskutiert worden (vgl. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg: Stalling 1957, S. 143f.; Holger Sandig: Deutsche Dramaturgie des Grotesken um die Jahrhundertwende. München: Fink 1980, S. 143-148; Geneviève Roussel: Arthur Schnitzler et la Révolution. Le perroquet vert: prologue en forme de grotesque. In: Germanica 6 (1989), S. 71-86). Zum .Kakadu' als „Komödie" vgl. Klaus Kilian: Die Komödien Arthur Schnitzlers. Sozialer Rollenzwang und kritische Ethik. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1972 (= Literatur in der Gesellschaft 7), S. 66-72. - Genau analysiert und dokumentiert wird das Stück erstmals bei Reinhard Urbach, Schauspieler und Gesellschaft im Werk Arthur Schnitzlers. 65 In der neueren Literatur bleibt nur Amy-Diana Colin bei der Annahme, das Stück behandle „das Phänomen der Revolution" (Arthur Schnitzlers ,Der grüne Kakadu'. In: LuK 13 (1978), S. 220-231, S. 228). 66 Vgl. zu dieser Auffassung zuletzt Karl Zieger: Hamerling - Schnitzler - Kralik: Trois approches littéraires (très différentes) de la Révolution Française. In: Austriaca 14/29 (1989), S. 91-98, S. 95: „le Paris du 14 juillet 1789, l'ambiance révolutionnaire ne sont que le prétexte pour mettre en scène le jeu de l'être et du paraître, le jeu de la réalité et de l'illusion". 67 Zum Adressatenbezug des .Kakadu' vgl. schon den Hinweis bei Bernhard Blume: Das nihilistische Weltbild Arthur Schnitzlers. Stuttgart: phil. Diss. 1936, S. 12; ferner Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle [üs. v. Horst Günther]. Frankfurt: S. Fischer 1982, S. 11. - Zum .Kakadu' als „Analyse des Publikums" vgl. die Interpretation Bayerdörfers (Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 559-565). 68 Die Forschung hat der raffinierten Anlage dieses „Spiels im Spiel" besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum Verhältnis von „Sein" und „Schein", zur Theatralisierung der Wirklichkeit und zur Verschränkung der verschiedenen Fiktionsebenen im .Kakadu' vgl. v.a. Hannum, .Merely Players'; Christa Melchinger: Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers. Heidelberg: Winter 1968 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3/7),
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S. 116-125; Anna Stroka: Arthur Schnitzlers Einakter .Paracelsus', ,Die Gefährtin' und ,Der grüne Kakadu'. In:Germanica Wratislaviensia 13 (1969) (= ActaUniversitatis Wratislaviensis 110), S. 57-66; Herbert Singer: Arthur Schnitzler: ,Der grüne Kakadu'. In: Das deutsche Lustspiel. Hrsg. v. Hans Steffen. Tl. 2: Göttingen 1969 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 277S), S. 61-78; Gerhart Baumann: Arthur Schnitzler: Spiel-Figur und Gesellschafts-Spiel. In: Ders.: Vereinigungen. Versuche zu neuerer Dichtung. München: Fink 1972, S. 145-172; Alfred Doppler: Die Form des Einakters und die Spielmetapher bei Arthur Schnitzler. In: Ders.: Wirklichkeit im Spiegel der Sprache. Aufsätze zur Literatur des 20. Jahrhunderts in Österreich. Wien: Europaverlag 1975, S. 7-30, S. 23-28; Selling, Die Einakter und Einakterzyklen Arthur Schnitzlers, S. 67-128; Walter Hinderer: Der Aufstand der Marionetten: Zu Arthur Schnitzlers Groteske Der grüne Kakadu. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler i. Verb. m. Herbert Lehnert u. Gerhild S. Williams. Frankfurt: Athenäum 1987, S. 12-32. 69 Zu dem von Friedrich Nicolai in der Abhandlung ,Von dem Trauerspiele' (1756) geprägten Begriff vgl. Kurt Wölfel: Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hrsg. u. eingeleitet v. Reinhold Grimm. 2 Bde. Frankfurt: Athenäum 1971, Bd. 1, S. 45-122, S. 108. 70 Baumann, Arthur Schnitzler: Spiel-Figur und Gesellschafts-Spiel, S. 167. 71 Zur generell skeptischen Haltung der österreichischen Liberalen gegenüber der Französischen Revolution vgl. Jacques Le Rider: La représentation de la Révolution Française dans la pièce Au perroquet vert d'Arthur Schnitzler. In: Austriaca 14/29 (1989), S. 99-108, S. 105f.; Peter Horwath: The Literary Treatment of the French Revolution: A Mirror Reflecting the Changing Nature of Austrian Liberalism (1862-1899). In: MAL 6 (1973), S. 26-40. - Im ,Grünen Kakadu', so Horwath, sei die Revolution „a meaningless event"; nur die gegenwartsbezogene Darstellung einer dekadenten Oberschicht mache das Stück zum „death-song of Austrian liberalism" (S. 35f.). 72 Vgl. zuletzt Hans-Wolf Jäger: Zwischen Décadence und Expressionismus. „Revolution" bei Schnitzler, Heym, Heinrich Mann und Klabund. In: Schreckensmythen - Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur. Essays. Hrsg. v. Harro Zimmermann. Frankfurt 1989 (= Athenäums Taschenbücher 130), S. 222-250; Franz Norbert Mennemeier: Die Revolution, von unten gesehen. Zu Arthur Schnitzlers ,Der grüne Kakadu'. In: Leroy/Pastor (Hrsg.), Deutsche Dichtung um 1890, S. 391-397; Wolfgang Nehring: Arthur Schnitzler and the French Revolution. In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 75-94. 73 Deswegen hat man Schnitzlers Groteske nicht nur als „modern", sondern bereits als „postmodern" bezeichnet: „Une des dimensions du .postmoderne' est le sentiment que le monde vit désormais au rhythme de la .posthistoire': l'Histoire semble avoir perdu tout sens, et paraît se réduire à un spectacle, tantôt grand-guignolesque, tantôt absurde et sanglant." Dem entspreche das Geschichtsbild des .Grünen Kakadu' : „Le Perroquet vert représente une radicale démystification, postmoderne avant la lettre, de l'histoire-spectacle" (Jacques Le Rider: Une démystification postmoderne de l'histoire. Post-scriptum au commentaire du .Perroquet vert' de Schnitzler. In: Austriaca 15/30 (1990), S. 141f.). - Auch Marianna Squercina verwies auf die Antizipation poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Theoreme in Schnitzlers Einakter (History and fiction in a drama on revolution: Arthur Schnitzler's Der grüne Kakadu. In: New German Review 5/6 (1989/90), S. 98-109).
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74 Am 12. März 1920 brachte das Wiener Volkstheater eine Neuinszenierung des .Kakadu' heraus. Das Burgtheater wartete allerdings noch ein Jahrzehnt, bis zum 2. Februar 1930, mit einer Wiederaufführung. Bei dieser Gelegenheit resümierte Raoul Auernheimer die Rezeptionsprobleme des Stückes: „Nur stoffbefangenem Denken kann der .Grüne Kakadu' als ein revolutionäres Stück gelten, als welches er seinerzeit im Burgtheater angesehen und auf höheren Wink rasch abgesetzt wurde. In Wirklichkeit ist er ebensosehr ein gegenrevolutionäres Werk, insofern er den Schwindel und die verbrecherische Beimischung jedes gewaltsamen Umsturzes entschleiert, und vielleicht erklärt sich aus dieser Janusköpfigkeit sein Schicksal, daß er, zur Kaiserzeit unbeliebt, in den Jahren des Umsturzes erst recht aus dem Burgtheater verbannt blieb. Damals nahm man ihm die Erstürmung der Bastille übel, und nachher, daß sich die feinen Herrschaften auf der Bühne mit so feinen Worten über alle Pöbelhaftigkeit lustig machten" (R.A.: Burgtheater. Drei Einakter von Arthur Schnitzler. In: Neue Freie Presse v. 4.2.1930). 75 Die ethischen Aspekte von Henris Phantasie unterstreicht Erhard Friedrichsmeyer; er deutet diese Figur sogar als „positiven Typus" im Sinn von Schnitzlers Diagramm ,Der Geist im Wort', wobei allerdings Henris Rolle als Programmatiker des Vergessens unberücksichtigt bleibt (Schnitzlers ,Der grüne Kakadu'. In: ZSfdtPh 88 (1969), S. 209-228, S. 221-225). 76 Die Zukunft einer Illusion [1927]. In: Freud, Fragen der Gesellschaft, S. 135-189, S. 186. Besonders ironisch nimmt sich in diesem Zusammenhang der Umstand aus, daß zu den wenigen Eingriffen, welche die Zensur vor der Aufführung des .Grünen Kakadu' verlangte, die Streichung der „Freiheit"-Rufe am Ende des Einakters gehörte (vgl. Schinnerer, The Suppression of Schnitzler's Der grüne Kakadu, S. 184). 77 So Axel Schalk: Geschichte im Einakter. Arthur Schnitzler: Der grüne Kakadu - Jean Anouilh: Majestäten - Dieter Kühn: Herbstmanöver. In: Literatur für Leser (1986), S. 134-143, S. 137; Annette Delius: ,Der grüne Kakadu': Arthur Schnitzlers Groteske in einem Akt. In: DU 40 (1988), S. 54-63, S. 58ff.; Bayerdörfer, Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 564, Fußn. 66. 78 [Anonym:] Theater- und Kunstnachrichten. In: Neue Freie Presse v. 2.3.1899. - Die Kritik hingegen hatte die Botschaft wohl gehört; Schnitzlers bislang „genialster Wurf" sei „von blutiger Satyre durchtränkt", schrieb Rudolph Lothar (Der Einacter. In: Die Wage 11/10 v. 5.3.1899, S. 162f.); Jakob Julius David wurde deutlicher: „Ein leidenschaftlicher Athem weht durch das Stückchen. Ein ehrlicher Haß gegen jene Bande, die den stärksten Kitzel des Entsetzens mit in den Dienst ihres Vergnügens stellt" (Aus ungleichen Tagen. In: Neues Wiener Journal v. 2.3.1899). - Selbst Samuel Lublinski lobte „das kleine Meisterwerk"; was die Darstellung der „Revolutionäre" anbetrifft, konnte er aber nicht umhin, den Boten für die Botschaft zu prügeln: „Wirklich eine Revolution entsteht doch erst, wenn auch die Edelsten, Guten und Besten vom Fieber ergriffen und in den Strudel geschleudert werden. Hier hätte Schnitzler einsetzen, hier uns das tiefere Gesetz und Schicksal und damit die höchste Symbolik und Schönheit offenbaren müssen. Er konnte es nicht . . ." (Wiener Romantik. In: Das literarische Echo 2/4 (1899), S. 224-227, S. 227). - Eine ausführliche Dokumentation von Kritiken zur Uraufführung gibt Urbach, Schauspieler und Gesellschaft im Werk Arthur Schnitzlers, S. 242-276. 79 Vgl. dazu, auch im folgenden, Konstanze Fliedl: Moment und Gedächtnis. Dramatische Geschichte in Schnitzlers Der grüne Kakadu und Der Schleier der Beatrice. In: Austriaca 39 (1994), S. 21-31.
2. Geschichtsdrama und Historismus
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80 Vgl. Ulf Eisele: Empiristischer Realismus. Die epistemologische Problematik einer literarischen Konzeption. In: Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpretationen. Hrsg. v. Klaus-Detlef Müller. Königstein: Athenäum 1981, S. 74-97, S. 75. 81 Brief an Otto Weizsaecker v. 22.11.1919 (B 11,172). 82 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig: Hirzel 1863, S. 44. 83 Hermann Bahr: Die Moderne. In: Moderne Dichtung 1 (1890), S. 13-15, S. 15. 84 Maximilian Harden: Der Schleier der Beatrice. In: Die Zukunft 42/26 v. 28.3.1903, S. 517-539, S. 529. 85 Bayerdörfer, Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, Fußn. 58, S. 560. 86 Perlmann, Der Traum in der literarischen Moderne, S. 108. 87 Brief an Richard Strauss ν. 27.4.1906. In: Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Gesamtausgabe. I. Auftr. v. Franz u. Alice Strauss hrsg. v. Willi Schuh. Zürich: Artemis 3 1964, S. 20. - Vgl. Uekermann, Renaissancismus und Fin de siècle, S. 16f. 88 Auch Hofmannsthals älterer Renaissanceeinakter ,Der Tod des Tizian' (1892) wurde erst jetzt, im Februar 1902, im Münchner Künstlerhaus inszeniert. Mit .Gestern' (1891) und dem Fragment der Renaissancetragödie .Ascanio und Gioconda' (1892) war Hofmannsthal ein Pionier des literarischen Renaissancismus gewesen, was ihn auch veranlaßt haben mag, das Genre nachträglich zu historisieren. - Zu dem erstaunlichen Umstand, daß die in den neunziger Jahren entstandenen Renaissance-Dramen des Jung-Wien auf den Wiener Bühnen entweder verspätet oder gar nicht aufgeführt wurden, vgl. das Kapitel .Renaissance' bei W.E. Yates: Schnitzler, Hofmannsthal, and the Austrian Theatre. New Haven: Yale University Press 1992, S. 15-21, S. 17. 89 Vgl. Uekermann, Renaissancismus und Fin de siècle, S. 19-22. 90 Brief v. 12.1.1899 (GB-AS 71). 91 Romeo und Julia [üs. v. August Wilhelm von Schlegel]. In: William Shakespeare: Sämtliche Dramen. 3 Bde. München: Winkler 1987f„ Bd. 3: Tragödien, S. 281-368, S. 312. 92 Eintragung v. 28.6.1912 (TB). 93 Vgl. Emile Durkheim: Der Selbstmord [1897; üs. v. Sebastian u. Hanne Herkommer]. Frankfurt 1983 ( = stw431), 65f. - Filippo, schreibt Walter Rehm, sei „der typische Moderne [ . . . ] , der Lebensentwurzelte und Labile" (Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: Ders.: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900. Hrsg. v. Reinhardt Habel. Göttingen 1963 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 306S), S. 34-77, S. 60). 94 Brief an Olga Gussmann v. 24.2.1903 (B 1,455). 95 Brief v. 11.2.1900, Nachlaß DLA. 96 .Vereinigt sterben', Novelette in Versen, Nachlaß DLA, Mappe 49, S. 11. 97 Zum „Leben" als „Grundwort" und „Zentralbegriff" der Epoche vgl. Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart: Metzler 1967, S. 1-48, 294-299, S. 17f. 98 Vgl. Urbach, Arthur Schnitzler, S. 76. 99 In diesem Aktschluss klingt noch eine Erinnerung an einen Text mit, der für die Zeitgenossen gleichsam zum Refrain der Renaissance geworden ist, ein Lied des Lorenzo Medici, das bei Jacob Burckhardt zu finden war: „Quanto è bella giovinezza, / Che si fugge tuttavia!
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst / Chi vuol esser lieto, sia: / Di doman non c'è certezza" (Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 4. durchgesehene Aufl. besorgt v. Ludwig Geiger. 2 Bde. Leipzig: Seemann 1885, Bd. 2, S. 155). - Im Renaissancedrama der Jahrhundertwende wird diese Strophe permanent zitiert; Gerd Uekermann nennt ein Dutzend Stücke, in denen sie in verschiedenen Übersetzungen als Liedeinlage enthalten ist (Renaissancismus und Fin de siècle, S. 51-54).
100 Heinz Politzer: Diagnose und Dichtung. Zum Werk Arthur Schnitzlers. In: Ders.: Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart: Metzler 1968, S. 110-141, S. 117. 101 Vgl. Uekermann, Renaissancismus und Fin de siècle, S. 42-55. 102 Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, Bd. 2, S. 97f.; vgl. Schnitzlers Exzerpte, Nachlaß ULC, Mappe 83a. 103 Heide Ellert: Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle. In: Bauer (Hrsg.), Fin de siècle, S. 421-446, S. 421f. 104 Ulrich Johannes Beil: Die Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Frankfurt: Peter Lang 1988 (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 6), S. 47. - Vgl. in dieser sehr materialreichen Arbeit auch den Abschnitt über Hofmannsthals Kristallmetaphorik für Wort und Sprache, S. 248-250. 105 Brief v. 15.2.1903 (HvH-AS 167). 106 Zu Schnitzlers antimilitaristischer Haltung vgl. A. Clive Roberts: On the Origins and Development of Arthur Schnitzler's Polemical Critique of Patrotism, Militarism, and War. In: MAL 19 (1986), 3/4, S. 213-225. - Daß sich Schnitzler in den ersten Wochen des Krieges der allgemeinen Kriegsbegeisterung nicht völlig entzogen hat, ist allerdings nicht zu leugnen, vgl. Richard Miklin: Heimatliebe und Patriotismus. Arthur Schnitzlers Einstellung zu Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg. In: MAL 19 (1986), 3/4, S. 197-212, S. 198f. 107 Karl Kraus: Arthur Schnitzler [1918]. In: Ders.: Gedichte. Frankfurt 1989 (= Schriften 9; st 1319), S. 154. 108 Z.B. bei Lesungen im Volksheim (27.12.1914 und 21.1.1917), im Arbeiterbildungsverein (7.3.1915), im Konzerthaussaal (31.3.1915), im Volksbildungsverein (2.12.1917) (vgl. TB). 109 Der Schauspieler Bernhard von Jacobi hatte Schnitzler nach Kriegsausbruch eine „erste Feldpostkarte" gesandt: „wie er nun den Schlussvers der Beatrice verstehe!" - Jacobi fiel am 25. Oktober 1914 (Eintragung v. 30.10.1914 [TB]). 110 Die Regieanweisung spricht von einem Gemälde „in der Manier des Palma Vecchio"; der Katalog, den Pauline im Stück zu Rat zieht, schreibt es einem unbekannten, um 1530 gestorbenen Maler zu (D I,702f.). Möglicherweise dachte Schnitzler an die .Lukrezia' nach Palma il Vecchio (um 1520/30, Kunsthistorisches Museum, Wien, Inv.Nr. 3687); das Bild zeigt sie mit offenem Haar und Hemd, in der Hand ein Kurzschwert. 111 Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog. Minden: Bruns [1913], S. 179f. 112 ,Die Frau mit dem Dolche' zeige, so Bayerdörfer, „Wunschbilder einer in die Trivialität abgesunkenen Renaissance-Mode": „Die klischeehafte Handlung ist schon der Niederschlag des erwarteten Erlebnisses im Filter von Paulines literarischer Phantasie, sentimentales Rührstück in neuromantischem Geschmack. ( . . . ) Diese fragwürdige Ausrichtung des
2. Geschichtsdrama u n d Historismus
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Lebens auf eine effektvolle Drapierung als Kunst entlarvt das Drama durch die Parallelisierung von Traum- und Rahmenspiel" (Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie, S. 554). - Auch Jeffrey B. Berlin las die Binnenhandlung als Wunschphantasie, die von Pauline lediglich als déjà vu getarnt wird (Arthur Schnitzler's Die Erau mit dem Dolche: Déjà Vu Experience or Hypnotic Trance? In: MAL 7 (1974), 1/2, S. 108-112). 113 Schnitzler stellte den Einakter mit .Lebendige Stunden', .Die letzten Masken' und .Literatur' zum Zyklus zusammen; das Thema des unverantwortlichen Literatentums kontextualisiert diese Stücke und vereindeutigt auch die sehr ambivalente Auseinandersetzung zwischen Haushofer und Heinrich - als Vertreter von „Leben" und „Kunst" - in den .Lebendigen Stunden'. 114 Selling, Die Einakter und Einakterzyklen Arthur Schnitzlers, S. 137. 115 Zur Entstehung von Kunst durch den Tod der Frau vgl. Klaus Theweleit: Buch der Könige. Bd. 1: Orpheus und Eurydike. Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1988; Christina von Braun: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt: Neue Kritik 1989, S. 61-64 (zu Friedrich von Hardenberg und Sophie von Kühn); Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann 1994, S. 516-552 (Kap. ,Die tote Geliebte als Muse'). 116 Auch für dieses Motiv liefert der Zusammenhang des Zyklus Interpretationsvorgaben·, in den .Lebendigen Stunden' hat sich die todkranke Mutter des Schriftstellers Heinrich umgebracht, um ihm die psychische Belastung zu ersparen, unter der seine Arbeit gelitten hat. 117 Vgl. Rainer Hank: Mortifikation und Beschwörung. Zur Veränderung ästhetischer Wahrnehmung in der Moderne am Beispiel des Frühwerkes Richard Beer-Hofmanns. M. e. Anhang: Erstveröffentlichung von Richard Beer-Hofmann, „Pierrot Hypnotiseur" (1892). Frankfurt: Peter Lang 1984 (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur 7). 118 Vgl. die grundlegende Interpretation der Novelle bei Renate Werner: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1972 (= Literatur in der Gesellschaft 11), S. 148-163; zum „Bildzitat" des Philippus Hispanus vgl. Heide Ellert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart: Rranz Steiner 1991, S. 155-161. 119 Pippo Spano. In: Heinrich Mann: Novellen. Hamburg: Ciaassen 1963, S. 287-330, S. 308. 120 Die Undeutlichkeit des Schlusses hatte schon Schnitzlers Berliner Regisseur Otto Brahm kritisiert (vgl. Brief v. 13.9.1901 [AS-OB 93]). Nach Hartmut Scheible hat Schnitzler mit dieser Unentschiedenheit die Perspektive der Frau als Opfer verschenkt (Im Bewußtseinszimmer, S. 247-250). 121 Brief v. 17.12.1901 (AS-OB 104). 122 .Charakteristiken aus den Tagebüchern', Nachlaß DLA, Mappe 187, Bl. 297. 123 Vgl. Eintragung v. 15.1.1908 (TB). 124 Das Tiroler Gedenkjahr gipfelte in einem Festzug mit 33.000 Teilnehmern; diese Gelegenheit nahm man zum Anlaß, die Schützenkompanien einheitlich zu uniformieren, wobei die betreffenden Trachten oft schon untergegangen waren und nun aufgrund alter Bilder erneuert wurden - ein außerordentlich „historistisches" Gedenken also (vgl. Sigurd Paul Scheichl: ,Die Krone tirolischer Geschichte.' Anno Neun und das Tiroler Selbstverständnis. In: Der literarische Umgang der Österreicher mit Jahres- und Gedenktagen. Hrsg. v.
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Vergessen u n d Erinnern. Trivialliteratur u n d Kunst Wendelin Schmidt-Dengler, redigiert v. Brigitte Oberleitner. Wien: ÖBV 1994 (= Schriften des Instituts für Österreichkunde 59), S. 56-74, S. 67).
125 Eintragung v. 21.12.1909 (TB). 126 Laut einer Notiz im .Neuen Wiener Extrablatt' v. 9.12.1910 waren für Dekorationen, Kostüme und Requisiten nicht weniger als 82.000 Kronen ausgegeben worden; jede ausverkaufte Vorstellung spielte brutto 6.500 Kronen ein. 127 Alfred Kerr: Dramatiker. In: Die neue Rundschau 22 (1911), S. 1771-1779, S. 1774. 128 Brief v. 7.11.1909 (HvH-AS [247]). 129 Arthur Schnitzler: Bastei-Szene. In: Neue Freie Presse v. 27.3.1910. - Gerade gegen diese Szene hat Alfred Polgar im Sinn dramatischer Ökonomie am heftigsten polemisiert: „Die Bastei-Szene ist ganz armselig. Man kommt und geht, benimmt sich furchtsam oder lächerlich oder heldenhaft, kurz: Typen! Der gesprochene Text ist hier so gleichgültigbelanglos, daß er ruhig wegbleiben könnte. In der bildhaften Wirkung der Szene liegt der ganze Zauber. Und so wirkt überhaupt die ins Schnitzlersche Werk verflochtene Historie. Rein illustrativ, Bildbeilagen zum Schauspiel. Diese Szenen stehen im Stück wie Steine im seichten Strom. Das Drama fließt um sie in Schleifen herum, statt daß es durch sie ein stärkeres Gefälle bekäme" (Arthur Schnitzler: Der junge Medardus [1910]. In: Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit m. Ulrich Weinzierl. 6 Bde. Reinbek: Rowohlt 1982ff., Bd. 5, S. 44-50, S. 48f.). 130 Vgl. dazu Françoise Derré: Der junge Medardus ou l'ambiguità du patriotisme. In: Ravy/Ravy (Hrsg.), Arthur Schnitzler, S. 61-77. - Derré spricht von einer „comédie du patriotisme", die von den Bürgern aufgeführt wird: „Après la lâcheté, c'est ce goût incoercible du spectacle que Schnitzler blâme avec le plus de rigueur chez ses concitoyens" (S. 72f.). - Vgl. auch den Abschnitt über .Medardus' in: Françoise Derré: L'Oeuvre d'Arthur Schnitzler. Imagerie viennoise et problèmes humains. Paris: Didier 1966 (= Germanica 9), S. 301-318, bes. S. 316. 131 Richard H. Allen: 79 Personen: Character Relationships in Schnitzler's Der Junge Medardus. In: Studies in German Literature of the Nineteenth and Twentieth Centuries: Festschrift for Frederic E. Coenen. Ed. by Siegfried Mews. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1970 (= University of North Carolina Studies in the German Languages and Literatures 67), S. 149-156, S. 155. 132 Fassung 1808/9, Typoskript, Nachlaß ULC, Mappe 92, S. 132f. 133 Vgl. Anton Bauer: 150 Jahre Theater an der Wien. Zürich: Amalthea 1952, S. 286. - Bis zum 15. Mai 1810 wurde ,Der Unbegreifliche' neunmal gegeben. 134 Vgl. [Heinrich] Zschokke: Der Unbegreifliche. Ein Schauspiel in vier Aufzügen. Wien: Wallishausser 1809. - Bergers Gedächtnis ist natürlich nicht ganz verläßlich; das Zitat stammt aus dem vierten Aufzug und lautet: „Jetzt ist noch Rettung möglich. [ . . . ] Jeder redliche Unterthan gibt seinen letzten Blutstropfen für die Rettung seines Fürsten" (S. 75). 135 Vgl. die Burgtheaterkopie, Typoskript, Nachlaß ULC, Mappe 235/236, S. 250f. - Ironischerweise wurden, außenpolitischer Gründe wegen, meist solche Stellen weggelassen, die als franzosenfeindlich hätten aufgefaßt werden können; auch das Bild Napoleons wurde schön gestrichen (vgl. Susanne Fröhlich: Kulturpolitik 1888/89-1938 und ihre Auswir-
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kung auf Inszenierungen im Wiener Burg- und Volkstheater (Geschichte und Werkanalyse). Wien: phil. Dipl. 1994, S. 98-102). 136 Das Lied heißt ,Der Bräutigam' und ist enthalten in: H.[einrich] J.[oseph] v. Collin: Lieder Oesterreichischer Wehrmänner. Erste Abtheilung. Wien: Anton Strauß 1809, S. 21-23: ferner in der von Schnitzler benutzten Chronologie von Karl August Schimmer: Die Französischen Invasionen in Österreich und die Franzosen in Wien in den Jahren 1805 und 1809. Wien: Jakob Dirnböck 1846, S. 200f. - Zu Schnitzlers Quellen vgl. Urbach, SchnitzlerKommentar, S. 182f. und Derré, Der junge Medaidus, S. 65f.,74. 137 Das Manuskript verstärkte diese Stelle noch: „Vergisst Du was geschehn, Mutter, den ganzen Sinn, den letzten Anlass?" (Fassung 1808/9, S. 174). 138 Im Manuskript gesteht Medardus später seine Vergeßlichkeit ein: „Nun steh ich hier auf dem Grabe meiner Schwester, wo alles seinen Anfang nahm. Dich zu retten schwur ich und habs vergessen .." (Ebda., S. 370). 139 Etwas abgebrühter reagierte Medardus im Manuskript: „[. . . ] ja es gibt auch ein Vaterland, dem ich was schuldig bin. Es wird mir wieder einfallen, wenns an der Zeit ist" (S. 227). 140 Françoise Derré spircht von einer „étonnante faculté d'oubli", die schon von den zeitgenössischen Quellen bezeugt wird (Der junge Medardus, S. 74). 141 Vgl. das Typoskript, Nachlaß ULC, Mappe 235/236, S. 13. 142 Gunnar Castrén: Arthur Schnitzler: Der junge Medardus [1911]. In: Weder - noch. Tangenten zu den finnisch-österreichischen Kulturbeziehungen. Hrsg. v. Georg Gimpl. Redigiert v. Susanne Frejborg. Helsinki: Gummerus Oy Jyväskylä 1986 (Mitteilungen aus der Deutschen Bibliothek), S. 163-166, S. 164. 143 Brief v. 18.12.1910 (GB-AS 98). 144 Emil Faktor: Arthur Schnitzlers: ,Der junge Medardus' im Lessing-Theater. In: Berliner Börsen Courier v. 25.10.1914. 145 Fritz Engel: ,Der junge Medardus'. In: Berliner Tageblatt v. 25.10.1914. 146 [Anonym:] Der junge Medardus. In: Die Schaubühne 10/43 v. 29.10.1914, S. 314-316, S. 314. 147 Faktor, Arthur Schnitzlers: ,Der junge Medardus'. 148 Vgl. Weilen (Hrsg.), Der Spielplan des neuen Burgtheaters, und: Deutscher Bühnen-Spielplan 19 (1914/15) bis 23 (1918/19). 149 Felix Saiten [Rez. zu: Schnitzler, Der junge Medardus], In: Neues 8 Uhr Blatt v. 15.5.1922. 150 Leopold Jacobson: Burgtheater. In: Neues Wiener Journal v. 16.5.1922. 151 Zu den .Reigen'-Skandalen 1920/21 vgl. v.a. die Dokumentation von Alfred Pfoser, Kristina Pfoser-Schewig u. Gerhard Renner: Schnitzlers .Reigen'. 2 Bde. Frankfurt 1993 (= FischerTb 10894-5). 152 E.L.: ,Der junge Medardus'. Neu einstudiert im Burgtheater. In: Wiener Neueste Nachrichten v. 8.5.1932. 153 „Ein Alterswerk? Aber das Werk was für eines Alters!", kommentierte Ludwig Ullmann; „Ein Alterswerk? Sicher. Aber das ist nicht in herabsetzendem Sinn gemeint", beeilte sich Oscar Maurus Fontana zu versichern. Das Stück sei ein „Adagio eines Lebensabends", schrieb Raoul Auernheimer; es habe „die schöne Jugend des Alters", ver-
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sicherte Otto Stoessl. Nur die .Reichspost' machte eine Ausnahme und rügte, Schnitzler habe „den Sinn des Alters [ . . . ] immer noch nicht erfaßt." - Einige Rezensenten nützen die Gelegenheit, Schnitzler gegen die „aktuelle" Dramatik auszuspielen, so Hanns Saßmann: „Der Gang zum Weiher ist kein starkes, aber ein notwendiges Stück. Es gibt dem Theater nicht allzuviel Substanz, aber es gibt dem Zuschauer einen Begriff, wie das Theater aussehen müßte, dem er statt seinem aktuellen wieder sein ästhetisches Interesse zuwenden könnte." - Und der damals 78jährige Ludwig Bauer erklärte kategorisch: „Wie sagt der Kanzler? Die Welt riecht nach Jugend! Ja, aber die Jugend schreibt keine gute [!] Stücke" (Ludwig Ulimann: Der Schnitzler-Abend des Burgtheaters. ,Der Gang zum Weiher'. In: Wiener Allgemeine Zeitung v. 17.2.1931; Oscar Maurus Fontana: Schnitzler-Uraufführung. In: Der Wiener Tag v. 15.2.1931; R.A.: Burgtheater. In: Neue Freie Presse v. 17.2.1931; Otto Stoessl: ,Der Gang zum Weiher'. In: Wiener Zeitung v. 17.2.1931; B.: ,Der Gang zum Weiher'. In: Reichspost v. 17.2.1931; Hanns Saßmann: Burgtheater. In: Neues Wiener Journal v. 15.2.1931; Julius Bauer: ,Der Gang zum Weiher'. In: Der Morgen v. 15.2.1931). 154 Eintragung v. 23.6.1920 (TB) und Brief an Suzanne Clauser v. 9.2.1931 (B 11,766). - Vgl. G.J. Weinberger: The Autobiographical Element in Schnitzler's Der Gang zum Weiher. In: Michigan German Studies 15 (1989), S. 39-50, S. 41. 155 Entwurfsblatt (dat. 20.7.1906), Nachlaß ULC, Mappe 111: „Junges Mädchen verliebt sich in einen grossen aber alten Dichter. Will seine Frau werden. Kluger Vater. Lässt eines Nachts ihren früheren Bräutigam wie aus Versehen in ihrem [!] Zimmer. Oder besser noch, rät dem jungen Burschen an einer stillen Stelle im See zu baden, wo wie er weiss auch die kleine immer badet. [-] Der Vater sieht das anmutige Wesen im See, das nicht weiss dass es gesehen wird, kommt dadurch auf die Idee." 156 Notizblatt (dat. 1904), ebda. 157 Vgl. den Typoskript-Entwurf (dat. 10.7.1911), ebda. 158 Vgl. Weinberger, The Autobiographical Element in Schnitzler's Der Gang zum Weiher. 159 Vgl. Harold D. Dickerson: Water and Vision as Mystical Elements in Schnitzler's Der Gang zum Weiher. In: MAL 4/3 (1971), S. 24-36. 160 Wieviel Sorgfalt Schnitzler auf das Zeitgerüst des Dramas gewendet hat, geht auch daraus hervor, daß er noch im letzten Typoskript Jahres- und Datumsangaben immer wieder korrigiert und beispielsweise zwischen „sekundenlang" und „minutenlang" nuanciert hat (vgl. Typoskript, Nachlaß ULC, Mappe 110, S. 20 mit D 11,748; passim). 161 Die Typoskriptvorlage hatte noch drei Akte; für die Druckfassung hat Schnitzler den ersten und den dritten in jeweils zwei Aufzüge geteilt, was aber nach wie vor nur durch ein kurzes Heben und Senken des Vorhangs angedeutet wird (D 11,765,821). In der Druckfassung wurde auch die Stillage in vielen Fällen gehoben. Beispielsweise warnt der Freiherr Leoniida vor dem Wiedersehen mit Sylvester, weil sich der Freund in zehn Jahren verändert haben mag. Im Typoskript gibt er zu bedenken, daß „der, der kommt, / Ein Andrer war als der, den du erwartest". Jetzt lautet die Stelle: „Ein and'rer könnte sein, als des du harrest". Aus „Als ich bei meinem Eintritt ihn gegrüsst" wird „Als den Gesandten kommend ich gegrüßt"; aus „meldete" wird „Kunde gab" usw. (Typoskriptfassung, Mappe 110, S. 33,314,59; D 11,754,813, 766).
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162 „Auch die befremdende Verwendung des Blankverses, die die prekäre Diskrepanz zwischen moderner Problem- und Bewußtseinslage und einem anachronistischen Stil und damit einen epigonalen Grundzug in Kauf nimmt, zielt auf das Repräsentativ-Verbindliche, auf Beglaubigung mittels einer traditionell-formalisierten, typisierenden Metaphernsprache, die mitunter Verkündigungscharakter annimmt" (Ernst Offermanns: Arthur Schnitzlers Schauspiel ,Der Gang zum Weiher'. In: ,Die in dem alten Haus der Sprache wohnen'. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Zus. m. Thomas Althaus u. Burkhard Spinnen hrsg. v. Eckehard Czucka. Münster: Aschendorff 1991 (Literatur als Sprache, Suppl.-Bd.), S. 277-286, S. 278). 163 Weinberger, The Autobiographical Element in Schnitzler's Der Gang zum Weiher, S. 39. 164 ,Und einmal wird der Friede wiederkommen . . .' (AB 187-230). - In Françoise Derrés Interpretation, die vom Vergleich mit Jean Giraudoux' ,La guerre de Troie n'aura pas lieu' perspektiviert wird, ist das Problem des Stückes „celui de la vanité des efforts par lesquels l'homme prétend vaincre la nécessité de la guerre" (Une recontre singulière: J. Giraudoux et A. Schnitzler. In: Études Germaniques 21 (1966), S. 19-32, S. 19). 165 Offermanns, Geschichte und Drama bei Arthur Schnitzler, S. 41. 166 Im Typoskript lautet diese Stelle: Und so wie Ufersand von Wind und Welle, Von jedem neuen Hauch umhergewirrt Stets neu bedroht von Fluten des Vergessens [ . . . ] (Mappe 110, S. 76). 167 Glogauer, Die Signifikanz von Arthur Schnitzlers Vers- und Prosasprache, S. 279. - Zur Beruhigung: in den Entwürfen hieß Sylvester zuerst „Gottfried", dann „Sylvester Klang" (Typoskript-Entwurf und Szenarium (1915), Mappe 111). 168 „Vielleicht arrangieren die Antisemiten eine Hetze gegen das Burgtheater, um die Aufführung zu verhindern, ich glaube es natürlich nicht, aber unter den heutigen Verhältnissen ist hier alles möglich" (Brief an Otto P. Schinnerer v. 8.1.1931 [B 11,739]). 169 Mappe 111, S. 31. 170 Am 16. Februar 1921 war die Wiener .Reigen'-Aufführung am 16. Februar 1921 von Demonstranten gesprengt worden; einen Monat später notierte Schnitzler: „Von [Dr. Kurt Sonnenfeld] erfahr ich, dass ich in jenen Tagen thatsächlich in persönl. Gefahr geschwebt; man wollte sogar eine Garde zu meinem Schutz bilden; S. selbst wohnte einer Versammlung in unserm Bezirk bei, in der gegen Reigen und mich gehetzt und betont wurde, daß ich ,ganz in der Nähe, Sternwartestr. 71 wohne . . .' - Wahrscheinlich war es von Vortheil für mich, dass man bergauf hätte .stürmen' müssen" (Eintragung v. 15.3.1921 [TB]). 171 Vgl. dazu Primus-Heinz Kucher: Ein dramatischer Abgesang auf eine abgelebte Welt. Zu Arthur Schnitzlers Gang zum Weiher. In: Cercignani (Hrsg.), Studia Schnitzleriana, S. 71-95, bes. S. 91. 172 Eintragung v. 20.5.1915 (TB). 173 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Fïankfurt 1976 (Bibliothek Suhrkamp), S. 116. 174 Das Wort von der „erinnerungsmüden Gesellschaft" stammt von Siegfried Lenz; er meinte die Gegenwart (Über das Gedächtnis. Reden und Aufsätze. Hamburg: Hoffmann und Campe 1992, S. 11).
3. Exkurs: Das Weib und das Vergessen 1915 las Schnitzler die .Erinnerungen' wieder, eine dramatische Skizze aus dem Jahr 1888, in der es um die Erinnerungsqualen eines Eifersüchtigen geht. Nachträglich fand er den Text „burgtheatralisch" und „recht kindlich": „Meine damalige Stellung zu Mann und Frau. Immer war ich auf seiner Seite. - " 1 Laut Josef Körner verharrte Schnitzler aber noch bis 1921 in dieser Stellung: Weil Arthur Schnitzler seine Frauengestalten nur als Sinnenwesen, immer nur vom Standpunkt des Mannes, ja meist gar mit den Augen seines jeweiligen männlichen Helden (mit dem er sich allzusehr identifiziert) betrachtet, vermißt der Leser an den weiblichen Charakteren die volle Ausführung. 2
Ganz anders sah das Lou Andreas-Salomé, wohlgemerkt „als Frau"; sie sei „außerordentlich bereit", Schnitzlers Figuren „jede nur denkbare Lebenswahrheit zuzugestehn": Auffallend ist es, wie schlecht der Mann überhaupt in Ihren Dichtungen wegkommt, - so schlecht, daß man versucht ist, an ein klein wenig Verläumdung zu glauben. [ . . . ] Eine wunderliche Sorte von Selbstverläugnung des Autors liegt in fast jedem Strich, mit dem der Mann den Frauen gegenüber geschildert ist, - wer den Mann so schildert, räumt der Frau damit den Platz. 3
(Eigentlich hätte also jeder, ob Mann, ob Frau, mit Schnitzler zufrieden sein können.) Dergleichen kontroverse Einschätzungen hielten sich in der Forschungsliteratur lange, bis jüngere Studien Schnitzler eindeutig als „Anwalt der Frauen" oder sogar als „Verfechter der Interessen der Frauenbewegungen" reklamierten und die Frage definitiv zugunsten seiner Frauenfreundlichkeit entschieden. 4 An Schnitzlers später Prosa wird jedenfalls unisono das außerordentlich sensible Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche gelobt. Kommen allerdings autobiographische Dokumente ins Spiel, so räumen selbst die wohlwollendsten Deutungen ein, daß sich die Lebenspraxis zumal des jungen Schnitzler nicht ganz auf der Höhe seiner literarischen Theorie gehalten hat. Gerade Schnitzlers frühe Dramen problematisieren männliches Balz- und Besitzverhalten sehr viel entschiedener, als die Selbstkritik des Verfassers im Tagebuch ausfiel. 5 Sieht man einmal von der Frage ab, wieweit ein Autor für die Einsichten seiner Figuren oder die entsprechenden Implikationen des narrativen oder dramatischen Arrangements persönlich haftbar ist - ein Gesichtspunkt, unter dem
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Schriftsteller generell nicht einwandfrei abzuschneiden pflegen - , so können selbst die Kriterien für das mehr oder minder avancierte Bewußtsein im Text nur annähernd angegeben werden. Natürlich agieren Schnitzlers Heldinnen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten zur „Frauenfrage" beziehungsweise zur Psychologie der Weiblichkeit. Aber in den Figuren amalgamieren sich solche Diskurse mit ästhetischen Kodierungen. Unter Umgehung des laienrichterlichen Urteils, ob Schnitzler halt doch ein Kind seiner Zeit oder ob er ihr weit voraus gewesen ist, läßt sich danach fragen, welche poetologischen Überlegungen mit den Weiblichkeitsentwürfen seiner Texte zusammengehen. Wenn Schnitzler seine Ansprüche an das Kunstwerk auf das Gedächtnis gestellt hat, dann müßten in seinen Frauenbildern jene Zuschreibungen virulent werden, die sich mit der weiblichen Erinnerungsfähigkeit befassen. Und in der Tat: wenn Schnitzlers Werk die Frau „emanzipiert", dann emanzipiert es sie zum Gedächtnis.
A. „Daß Frauen ein schlechtes Gedächtnis haben . . In den neunziger Jahren war von solcher Emanzipation aber noch keine Rede. Statt dessen bedient sich Schnitzler eines reichlich misogynen Verfahrens, um seine frühen Helden zu entlasten. Daß die Autoren des Jungen Wien den „impressionistischen Augenblicksmenschen" nicht verklärt haben, ist nach einigen moralisierenden Fehldeutungen akzeptiert worden; gerade die diskontinuierliche Zeiterfahrung macht ihn zum problematischen Charakter, und Schnitzler, Hofmannsthal und Beer-Hofmann haben ihre allzu heutigen Lebemänner nicht geschont. Aber kaum werden diese vergeßlichen Figuren einer kritischen Behandlung unterzogen, als ihre Gedächtnislosigkeit auch schon verschwindet; sie wird dorthin verschoben, wo man obsolete Eigenschaften - wie etwa Empfindsamkeit - immer schon abzulegen pflegte: in die Weiblichkeit. Der Impressionist will ja auch genial sein, aber das Genie zeichnet sich eben durch die Fähigkeit aus, all seine Assoziationen präsent halten zu können; das Augenblickserleben oder das Vergessen wird also abgewertet - und schleunigst weiblich besetzt. Fast zwangsläufig tauchen daher neben den vergeßlichen Helden die immer noch vergeßlicheren Heldinnen auf. Hinter der Verweiblichung des schlechten Gedächtnisses steht ein psychologisches Motiv, das aber gar nicht verdeckt, sondern unverhohlen vorgezeigt wird: das männliche Trauma von der weiblichen Untreue. Die literarischen Eifersuchtsphantasien schießen ins Kraut, was auch als tendenzielle Reaktion auf die Agitation
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der Ersten Frauenbewegung gelten kann, die - ohnehin schüchtern und ansatzweise - das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingefordert hatte. Schlagartig wird der Mann gedächtnis-treu; mit der Erinnerung verliert die Frau auch die Tugend. Es beginnt Ende 1888 mit zwei heiteren Petitessen. Schnitzlers .Episode' aus dem ,Anatol'-Zyklus, im Oktober und November entstanden, rechnet unbekümmert mit dem Unterhaltungswert einer Geliebten, die sich nichts merken kann. Die Zirkusreiterin Bianca vertritt das Stereotyp vom losen Mädchen mit dem noch loseren Gedächtnis. Zwar hat Anatol, in der Rolle des männlichen Impressionisten, gerade ein „Asyl" für seine Vergangenheit gefunden und sie in Form von Liebessouvenirs bei Max deponiert (D 1,50). Aber Bianca hat sich noch viel endgültiger von ihrer gemeinsamen Geschichte oder Episode verabschiedet: Sie erkennt Anatol zuerst gar nicht wieder und sucht dann „augenscheinlich in ihren Erinnerungen", ohne viel Erfolg. Anatol ist schwer gekränkt; Bianca hingegen bewahrt ihren Hausverstand: „man kann sich doch nicht an alles erinnern" (D I,60f.). - Wenig später, im Dezember 1888, liefert Hermann Bahr eine recht grobianische Variante des Stoffes. Seine Erzählung ,Die treue Adele' befaßt sich holzschnittartig und simpel mit der Liaison von Untreue und Gedächtnislosigkeit: Der siebzehnjährige Friedrich hatte sich romantisch, stumm und hoffnungslos in die Handschuhverkäuferin Adele verliebt, zu deren zahlreichen Verehrern auch ein lustiger Doktor gehörte. Nach einem Jahr trifft Friedrich Adele wieder und ist hingerissen, als sie ihn aufs zärtlichste begrüßt: , [ . . . ] Hast geglaubt, daß ich Dich nicht mehr kenne, weil es schon ein Jahr her ist! Aber ich bin nicht von denen, die so leicht vergessen. [ . . . ] Ich bin treu. Was ich einmal liebe, das vergesse ich nicht wieder.' 6
In Friedrichs Wohnung vermißt Adele dann allerdings das drollige Skelett - sie hat ihn mit dem Doktor verwechselt. Den verstörten Liebhaber tröstet ein Freund über die „Weiber": ,Sie sind nun einmal so, ein vergeßliches Geschlecht, eine wie die andere. Das macht - sie haben um so viel weniger Gehirn, weißt Du?'7
Die physiologische Begründung wird zwölf Jahre später der Leipziger Neurologe Paul Julius Möbius „wissenschaftlich" bestätigen. Aber zuvor ereigneten sich noch sehr ernsthafte literarische Eifersuchtstragödien. 1891 stilisiert Hofmannsthal das Thema vom anspruchslos Unterhaltsamen ins überaus Erlesene. In seinem Renaissance-Dramolett .Gestern' stellt sich der
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„Impressionist" in Gestalt des Ästheten Andrea vor - um mit dem Programm des glücklichen Augenblicks sofort Schiffbruch zu erleiden. Wie Schnitzler läßt Hofmannsthal erst seinen Helden, dann seine Heldin aus der Kontinuität der Erinnerung fallen: Die Vorzeichen der Gedächtnislosigkeit wechseln von männlich auf weiblich. Eben hat Andrea vor Arlette noch sein großes Bekenntnis zum „Heute" abgelegt: Mußt du mit gestern stets das Heute stören? [ . . . ] Vergiß das Unverständliche, das war: Das Gestern lügt und nur das Heut ist wahr! (GD 1,218)
Die untreue Arlette spielt ihm dann seine eigene unvorsichtige Deklaration zurück: „Ein Abgrund scheint von gestern mich zu trennen [ . . . ] / Vergib, vergiß dies Gestern" (GD 1,242). Nun ist Andrea klüger geworden, vollzieht eine radikale Kehrtwendung und behauptet das Gegenteil: Dies Gestern ist so eins mit deinem Sein, Du kannst es nicht verwischen, nicht vergessen: Es ist, so lang wir wissen, daß es war. [ .. . ] Und heute - gestern ist ein leeres Wort. Was einmal war, das lebt auch ewig fort. (GD 1,242)
Flugs sind die moralischen Gewichte ausgetauscht; das Augenblickserleben ist weiblich geworden. Zwar hatte Andrea zuvor einen kurzen Versuch gemacht, das männliche Monopol aufs „Heute" zu reflektieren: Und jeder ist des Augenblickes Knecht, Und nur das Jetzt, das Heut, das Hier hat recht! Das gilt für mich . . . nicht minder gilts für sie, Und seltsam, daran, glaub ich, dacht ich nie . . . (GD 1,238)
Aber in der letzten Szene hat der zum Hüter des Gedächtnisses geläuterte Andrea das auch schon wieder vergessen. Erinnerungslosigkeit wird zum Kapitalverbrechen und kann als Schuld ausschließlich den „ungetreuen Frauen" zugeschoben werden: Wie sie ein jedes Gestern für jedes Heut begraben, Und wie sie nicht verstehen, wenn sie getötet haben. Tränen ersticken seine Stimme. (GD 1,243)
Gerade die thesenhafte Dialektik dieses Proverbs galt bereits der frühen Hofmannsthal-Forschung als Beleg dafür, daß hier Credo und Kritik des
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Impressionismus zusammenfallen; der Manifestation des „impressionistischen Ich" folgt der Zusammenbruch auf dem Fuß. Daß die negativen Eigenschaften des Typus dabei umgehend an Arlette delegiert werden, hat die Interpreten nicht weiter beschäftigt. Die Verschiebung des Impressionistischen ins Weibliche wurde nicht nur unbesehen akzeptiert, sondern moralisierend wiederholt: Andrea, der das „Gestern" verworfen hat, um nun bitter daran zu leiden, sei im Grunde auch nie Impressionist gewesen, wohl aber Arlette, „das triebhafte Wesen", das sich durch „völligen Mangel an Bewußtheit und Gewissen" auszeichne. 8 Die Kritik des Impressionismus nimmt sich in Wirklichkeit gar nicht die männlichen Helden vor, sondern die weiblichen. In der Folge wird die weibliche Vergeßlichkeit in eroticis zum Gemeinplatz. Auch Schnitzler hat diese ,idée reçue' bis zur Trivialität wiederholt, wie in der folgenden, erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Skizze von 1894: Man sprach über das schlechte Gedächtnis. Ich weiß noch immer nicht, ob sie mich nicht vergessen hat. Ich freue mich des kleinen Abenteuers, das ich mit der Geliebten des Th. gehabt habe. Ich besuche sie am Tag drauf. Ich finde sie weinend. Was gibt's denn? Denken Sie: Th. hat mich gesehen, wie ich mit der Rolla [ . . . ] und mit ihrem Geliebten soupieren war. Er will mit mir brechen. Wegen sowas Nichtigem! Ich, die ihn anbetet! Ich, die ich ohne ihn nicht leben kann! Ich, die ich ihn nie belüge! - Sie hat den gestrigen Tag ganz vergessen. Ich gehe sehr erstaunt weg. [ . . . ] Daß Frauen ein schlechtes Gedächtnis haben . . . (EV 220f.)
Die Platitüde hatte mittlerweile alle Empirie außer Kraft gesetzt. Sie konnte so geläufig werden, weil ihr die gängigen Weiblichkeitsimaginationen des 19. Jahrhunderts ausreichend vorgearbeitet hatten.
B. Am Pflock des Augenblicks: Schopenhauer - Nietzsche - Weininger Ein halbes Jahrhundert Misogynie liegt zwischen Schopenhauers schmalem Traktat ,Ueber die Weiber' (1851) und Otto Weiningers umfangreicher Dissertation .Geschlecht und Charakter' (1903), beide Schriften gleichermaßen populär und folgenreich, mindestens noch weitere fünfzig Jahre lang. 9 Schopenhauers zehn Paragraphen begründen die Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern, die schon das 18. Jahrhundert pädagogisch fundiert hatte, 10 mit dem Axiom von der prinzipiellen moralischen Min-
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derwertigkeit der Frau. Ihrer natürlichen Berufung, nämlich der „Propagation des Menschengeschlechts", ordnet sich ihr Gewissen in jedem Fall unter, weil auch Betrug und Ehebruch im Dienst der Fortpflanzung stehen. Denn die „geheime, unausgesprochene, ja unbewußte, aber angeborene Moral der Weiber" glaubt sich berechtigt, den Versorger zu hintergehen, wenn das „Wohl der Species" durch einen zeugungskräftigeren „jungen, starken und schönen" Mann gesichert werden kann. Zur Pflege der Nachkommenschaft sind die Weiber dann insofern besonders geeignet, als sie „selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit Einem Worte, Zeit Lebens große Kinder sind: eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist". 11 Die Infantilisierung des Weiblichen, an der ebenfalls schon seit dem 18. Jahrhundert emsig gearbeitet wurde, erreicht hier einen vorläufigen Höhepunkt. Kindlichkeit ist eine verbreitete Qualität der Weiblichkeitsimaginationen des 19. Jahrhunderts, und noch die fragile Kindfrau der Jahrhundertwende wird dem konventionellen didaktischen Verhältnis von Mann und Weib einen Teil ihrer Faszination verdanken. 12 Die Entwicklung zum Erwachsenen hat das weibliche Wesen, so Schopenhauer, jedenfalls nicht völlig durchgemacht. Naturgemäß steht das Weib auch dem Tier näher, und zwar aufgrund seiner knapp bemessenen Geisteskräfte, die ihm keine Verfügung über die Zeit erlauben: Die Vernunft nämlich ist es, vermöge deren der Mensch nicht, wie das Thier, bloß in der Gegenwart lebt, sondern Vergangenheit und Zukunft übersieht und bedenkt [ . . . ] . Der Vortheile, wie der Nachtheile, die Dies bringt, ist das Weib, in Folge seiner schwächern Vernunft, weniger theilhaft: vielmehr ist dasselbe ein geistiger Myops [Kurzsichtiger], indem sein intuitiver Verstand in der Nähe scharf sieht, hingegen einen engen Gesichtskreis hat, in welchen das Entfernte nicht fällt; daher eben alles Abwesende, Vergangene, Künftige, viel schwächer auf die Weiber wirkt, als auf uns [ . . . ]. 1 3
Mit Einem Worte: Die Weiber haben kein Gedächtnis. Amoral, Infantilität/Bestialität und Erinnerungslosigkeit werden bei Schopenhauer so eng verbunden, daß sich an seine Überlegungen mühelos ein ganzes Netz philosophischer Theoreme über die Weiblichkeit anknüpfen läßt. Das Kreatürliche vergißt: Die „Vortheile" wie die „Nachtheile" des historischen Denkens hat Nietzsche 1874 ausführlich beschrieben. Auch beim ihm ist das „Thier" am Pflock des Augenblicks kurz angebunden und deshalb glücklich, im Gegensatz zum Menschen, der das Vergessen nicht lernen kann:
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„Dann sagt der Mensch ,ich erinnere mich' und beneidet das Thier, welches sofort vergisst". 14 Aus der Sicht biologistischer Weiblichkeitstheorien kann aber an der Stelle des weidenden Schafs umgehend die Frau angepflockt werden. Denn daß das Weib „einem zarteren, wunderlich wilden und oft angenehmen Hausthiere" gleicht, stand für Nietzsche ebenfalls fest. 15 Das animalisch reduzierte Bewußtsein der Frauen wird von nun an wie selbstverständlich vorausgesetzt und anatomisch-physiologisch expliziert, wie noch im legendären Pamphlet des Paul Julius Möbius (1900), der die „Thierähnlichkeit" der Frau bekanntlich auf die mangelhafte Entwicklung der weiblichen Gehirnteile zurückführte. 1 6 1903 wird es Otto Weininger auf den Punkt bringen. Selbstverständlich muß auch er das anthropologische Monopol aufs Gedächtnis verteidigen: Die Tiere haben Bekanntheitsqualitäten und Erwartungsgefühle [ · . . ] , aber sie besitzen keine Erinnerung und keine Hoffnung. Sie vermögen wiederzuerkennen
[...],
aber sie haben kein Gedächtnis,17
Aber bei Weininger entfällt der Vergleich des Weibes mit dem Tier, da die Fauna eines nicht kennt: Amoral, und daher weitaus höher rangiert als der weibliche Mensch. Wenn Weininger trotzdem sofort auf die Gedächtnislosigkeit der Frauen zu sprechen kommt, dann unter dem Aspekt der moralischen Degeneration, der Verstellung und der Lüge: [ . . . ] einem jeden Wesen, dessen Gedächtnis ein so minimales wäre, daß, was es gesagt, getan, erlitten hat, später nur im dürftigsten Grade von Bewußtheit ihm noch gegenwärtig bliebe, einem solchen Wesen muß, wenn ihm die Gabe der Sprache verliehen ist, die Lüge leicht fallen [ . . . ] . Und noch stärker muß sich diese Versuchung geltend machen, wenn das Gedächtnis dieses Wesens nicht von jener kontinuierlichen Art ist, die nur der Mann kennt, sondern wenn das Wesen, wie W, sozusagen nur in Augenblicken, diskret, diskontinuierlich, zusammenhanglos lebt, in den zeitlichen Ereignissen aufgeht, statt über ihnen zu stehen [ . . . ].18
Weinigers Argumentation führt aber nicht nur eine jahrzehntelange misogyne Diskussion ins ressentimentgeladene Extrem. Die immense Verbreitung von .Geschlecht und Charakter' geht auch darauf zurück, daß die Opposition von M und W, höherem und niederem Bewußtsein, in den zeitgenössischen feministischen Schriften genauso auftaucht, zwar entsprechend frauenfreundlich gewendet, aber prinzipiell intakt. Die Bedeutung von Weiningers Buch liegt tatsächlich darin, eine Chronik der „Phantasmen seiner Kultur" zu sein 1 9 - von Weiblichkeitsphantasien, deren Sugge-
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stionskraft sich auch noch eine sympathetische Rede von der Frau nicht entziehen kann. Denn im letzten Drittel des Jahrhunderts gewinnt die Erste Frauenbewegung an öffentlichem Einfluß. Deren bürgerlicher Flügel setzte aber nach wie vor auf die Komplementärtheorie: Mann und Weib sind nicht gleich, sondern fundamental unterschieden, auf daß sie sich, natur- und gottgewollt, gegenseitig ergänzen mögen. Von der Anatomie auf die Psychologie übertragen, folgt daraus auch eine Polarität mentaler Dispositionen, die einerseits biologistisch, andererseits ontologisch begründet wird. Die Frau erscheint als „das Undifferenzierte, Molluskenhafte, Vorindividuelle, durch Natur- und Gattungsgesetze Bestimmte". 20 Gegenüber dem hochkomplex entwickelten Männlichen verkörpert sie das schlicht Elementare. Selbst Schnitzler hat mit dem weiblichen Atavismus gerechnet, „wie ja die Frauen überhaupt mit den Urelementen verwandter sind als die Männer".21 Mit solchen Vorstellungen operierte - bei nachdrücklicher Distanz zu den radikalen Frauenrechtlerinnen - auch eine biographisch so unangepaßte Publizistin wie Lou Andreas-Salomé. Ihr Essay ,Der Mensch als Weib' (1899) beginnt mit einem Satz, der ebensogut in .Geschlecht und Charakter' stehen könnte: Aller Frauen-Emanzipation, und was sich so nennt, zum Entsetzen, kann man sich der Mahnung daran nicht entschlagen, wie tief in der Wurzel allen Lebens schon das weibliche Element als das geringer Entwickelte, als das Undifferenziertere, aufkommt, und grade dadurch seinen hervorstechendsten Zweck erfüllt. 22
Wie Weininger geht Andreas-Salomé von einem graduellen Unterschied zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit aus (mehr/weniger differenziert), um beim Dualismus der Geschlechtercharaktere (Geist versus Physis, Kultur versus Natur) zu landen. 23 In Analogie zur physiologischen Beschaffenheit von Ei- und Samenzelle entwickelt sie den „Wesensgegensatz" der Geschlechter. Die große Differenz, die Mann und Weib auf ewig trennt, besteht eben in der größeren „Differenzierungkraft" des Mannes. 24 Die Frau, in allem einheitlicher, fällt gleichsam auf den Status eines Einzellers zurück: Sie ist „das undifferenzierte Stück Natur".25 Daher bleibt sie unmittelbar auf ihre Physis und auf ihre Sexualität reduziert. Im Vergleich zu Andreas-Salomés Schlußfolgerungen wirken Weiningers Thesen dann keineswegs mehr originell. Das Weib lebe das Geschlechtliche in seinem ganzen Wesen aus, behauptet Andreas-Salomé; Weiblichkeit sei „universelle Sexualität", dekretiert Weininger.26 Die Wahrheit des Mannes sei
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logisch, die der der Frau alogisch, sagt sie; „Der Mann fühlt sich zur Logik verpflichtet, die Frau nicht", sagt er.27 Hier finden sich M und W in seltener Übereinstimmung. Andreas-Salomés weiblicher Selbstentwurf steht über so weite Strecken im Einklang mit Weiningers späteren Doktrinen, daß die breite Akzeptanz von .Geschlecht und Charakter' verständlich wird. Zwar übte Rosa Mayreder, eine Vertreterin des linken Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, harsche Kritik an ihrer Geschlechtsgenossin: Andreas-Salomé habe nur die alten misogynen Vorurteile modernisiert und nochmals aufgelegt. Mayreder ihrerseits hatte mit bemerkenswerter Unvoreingenommenheit alle biologistischen Begründungen von Weiblichkeit endgültig abgefertigt; konsequent verurteilte sie Andreas-Salomés Aufsatz als „eine Zusammenstellung aller Eigenschaften, die sich aus den physiologischen Bedingungen der weiblichen Korporisation ableiten lassen", eine in ihren Augen unzulässige Verleugnung der kulturellen und sozialen Determinanten des Geschlechtstypus. 28 Trotzdem vertrat Lou AndreasSalomé, nicht Rosa Mayreder, den mainstream der Geschlechterdebatte. Nur in einer einzigen Sache gehen Andreas-Salomés und Weiningers Auffassungen auseinander: dort, wo es sich um die Rolle des Künstlers und den Begriff der Kreativität handelt. Bei Andreas-Salomé sind das Weib und der Künstler eng verwandt, weil sie ein Merkmal teilen, nämlich die hoch entwickelte Sensitivität: „der geniale Mensch berührt sich eben mit dem noch gering differenzierten Wesen auf dieser praktischen Grundlage alles Schöpferischen". 29 Obwohl Andreas-Salomé sofort hinzusetzt, im Gegensatz zum Künstler besitze das Weib diese Qualität keineswegs als „Geistesbefähigung", sondern einfach als Lebensart, wird der weibliche Anspruch auf künstlerischen Selbstausdruck pro domo verteidigt. Weininger hingegen plaziert den genialen Künstler in alleräußerster Entfernung vom Pol W. Denn die Bestimmung des Genius bestehe darin, mit seinen Werken die Zeit zu besiegen; Zeitlosigkeit wird aber nur durch die maximale Apperzeption und die perfekteste Erinnerung erreicht: Das Gedächtnis ist vollständige Besiegung der Zeit nur dann, wenn es, wie im universellen Menschen,
in der universellen Form auftritt. Der Genius ist somit der
eigentlich zeitlose Mensch
[...].30
Es läßt sich also keine größere Opposition denken als die zwischen Genie und Weib, weil W „dieses Gedächtnis so wenig als Kontinuität sonst irgend kennt". 31 Die Fähigkeit zur Erinnerung, die Kontinuität gerantiert und daher die Voraussetzung eines stabilen „Ich" bildet, gehört bei Weininger aus-
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schließlich dem M. Damit hat Weininger die Opposition zwischen diskontinuierlichem, „impressionistischem" Bewußtsein und dem genialen Gedächtnis auf den Begriff gebracht - und damit macht auch der vollständige Symptomkomplex des Impressionisten eine Geschlechtsumwandlung durch. Das unrettbare Machsche Ich, das den Figuren des Jungen Wien als theoretisches Modell ihrer Psyche immer wieder untergeschoben worden ist, mutiert bei Weininger zum rein femininen. Machs .Zeichnung des Ich' stelle „ganz richtig das Ich des vollkommenen Weibes dar". 32 Die literarischen Variationen auf das schlechte weibliche Gedächtnis sind daher durch Weiningers Studie nachträglich theoretisch legitimiert. Gedächtnislosigkeit scheint als weibliches Wesensmerkmal endgültig festgeschrieben zu sein. (Allerdings: Schon Rosa Mayreder hatte gezeigt, daß Pauschalurteile über Weiblichkeit immer so ausfallen, daß auch das Gegenteil stimmt. Ihre ironische Blütenlese gegensätzlicher weiblicher Prädikate - Unterordnung versus Herrschsucht, Konservativismus versus Neuerungsstreben, Monogamie versus Polyandrie und so fort - kann selbst über eine so stabile Zuschreibung wie die Gedächtnislosigkeit beruhigen. 33 Trotzdem erleichtert es, von Stefan Zweig eine Bestätigung zu hören - die ihrerseits auch nochmals eine physiologische Begründung in Anspruch nimmt: Merkwürdig und grundlegend fiel es mir jüngst ein, dies Problem der Frau- und Mannheit. Wir Vorlust, deshalb Erschöpfung mit Erfüllung, sie die Nachlust, weil Phantasielos [!]. Frauen leben zurück, wir nach vorwärts, weshalb sie auch meist das bessere Gedächtnis haben. 34 )
C. „Ich erinnere mich nicht mehr": Die Schauspielerin Die Symptome des diskontinuierlichen Bewußtseins, „Zersplitterung" und Zerstreuung, die Unsicherheit des Zeitgefühls und die Unfähigkeit, länger bei der Sache (oder bei einem Menschen) zu bleiben, hat Schnitzler im Tagebuch zuerst an sich beschrieben, bevor er sie an anderen beobachtete. „Unheimlich" berührte ihn dabei wohl das besonders Vertraute: Es gibt Wesen, die nicht in der Continuität leben, die dadurch jederzeit von ihrer Vergangenheit, ja selbst von ihrem gestern unsäglich getrennt sind und sich selber nie ganz haben können. Sie wirken geradezu unheimlich. (Dilly.) Andere fühlen die Continuität ihres Lebens zuweilen, andre immer (was wieder schmerzlich und auch unheimlich ist; - der Künstler, der producirende, der Dichter). 35
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Das Schriftsteller-Ich hat sich auf diese Weise vorderhand in Sicherheit gebracht und die irritierende Erfahrung an die reproduzierenden Künstler abgegeben. Nicht zufällig verkörpert die Schauspielerin (Dilly war Schnitzlers Kosename für Adele Sandrock) den Typus der Vergeßlichen. Ein Komödiant, der gedächtnislos von einer Rolle in die andere schlüpft, bietet sich als „Aktualist" geradezu an, und Weiblichkeit verdoppelt diese Eigenschaft. 3 6 Schnitzler greift hier die Kritik des Schauspielers auf, wie sie Nietzsche in der .Fröhlichen Wissenschaft' (1882) als einen ganzen Katalog von Charaktermängeln formuliert hatte: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten .Charakter' bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen
Schein
hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen [ . . . ]. 3 7
Nietzsche erklärt diese „mimicry" sozialgeschichtlich, als Folge des ökonomischen Drucks, der auf den „Familien des niederen Volkes" lastet. Ähnliche Anpassungsstrategien werden von jenen Assimilationszwängen erzeugt, unter denen diskriminierte Gruppen zu leiden haben: Was aber die Juden betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen [ . . . ] von vornherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche SchauspielerBrutstätte [ . . . ] . - Endlich die R-auen: man denke über die ganze Geschichte der Frauen nach, - müssen
sie nicht zu allererst und -oberst Schauspielerinnen sein?
[ . . . ] Was kommt immer dabei heraus? Dass sie „sich geben", selbst noch, wenn sie - sich geben . . . Das Weib ist so artistisch . . . 3 8
Die logischen Schauspielanwärter sind also Außenseiterfiguren. Trotz der weitreichenden soziologischen Begründungen bleibt Nietzsches ironische Aufzählung von gesellschaftlich
produzierten
Verstellungskünstlern
durchaus in der Schwebe zwischen Aufklärung und Ressentiment. Otto Weininger hingegen wird die Fähigkeit zur Dissimulation, die auch bei ihm den Juden und Frauen gemeinsam ist, mit blanker Vernichtungswut attackieren: „unendliche Veränderungsfähigkeit" charakterisiert beide, und von beiden gilt: „sie sind nichts, und können eben darum alles
werden".39
Denn im späten 19. Jahrhundert richtet sich die Kritik am Schauspieler direkt gegen bestimmte Modernitätserfahrungen. Die Dissoziation von öffentlicher Rolle und privatem Selbst, die schon im 18. Jahrhundert proble-
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matisiert worden war, nimmt zu; am Ende zerfällt das konsistente Individuum in das bloße Ensemble seiner gesellschaftlichen Inszenierungen. Als hohle Kleiderpuppe verschwindet das „Ich" unter der Garderobe seiner verschiedenen Kostüme. Im Schauspieler kann diese Gefährdung des „Ich" symbolisiert und ausgelagert werden; er zieht die entsprechenden Identitätsängste als Aggressionen auf sich. Bei der Schauspielerin verstärkt sich diese Abwehr noch, da der Typus den invariablen weiblichen Geschlechtscharakter auszuhöhlen droht. Als Natur darf die Frau nichts anderes sein als sie selbst; die theatralische Rollenfiktion sprengt diese Einfalt des Seins, die das Weib dem Mann schuldet, gerade weil er selbst unter der Heterogenität seiner sozialen Rollen leidet: „Natur und Rolle, Schauspielkunst und Weiblichkeit treten deshalb in ein agonales Verhältnis". 40 Das moralische Vorurteil, das die Komödiantin seit dem 18. Jahrhundert trifft, geht nicht nur darauf zurück, daß sie sich in der Öffentlichkeit bewegt und damit die Beschränkung der Frau aufs Haus durchbricht. Viel schlimmer ist, daß die Schauspielerin Weiblichkeit als Kunst fingiert, während sie doch Natur sein soll. Ihre Aufführung indiziert einen heiklen Punkt in der Frauenerziehung: Was die Mädchen eigentlich gar nicht zu lernen brauchten, weil sie es ja sind, nämlich naiv, bringt die „Naive" im Rollenfach auf die Bühne und fordert damit die Einsicht heraus, daß die „Natur" der Frau vielleicht auch nichts anderes sein könnte als ein andressiertes Spielverhalten. Wenn das Bild der Frau daher bedrohlich verschwimmt, so ist auch auf ihren Besitz kein Verlaß mehr: „Das konservative und treue Wesen der vormodernen Frau veruntreut die Schauspielerin in ganz bestimmter und paradigmatischer Weise". 41 Aus diesem Grund wird sie sofort unter Promiskuitätsverdacht gestellt; eine Schauspielerin ist schon immer eine „Gefallene". Sie bildet eine hervorragende Projektionsfläche männlicher Eifersucht, ihr Spiel maskiert die Heuchelei in eroticis, mit den Rollen wechselt sie die Männer. Die Affekte gegen das weibliche Komödiantentum lassen auch dann nicht nach, wenn die entsprechenden Phantasien mit de facto-Leistungen auf der Bühne konfrontiert werden. Selbst außerordentliche Begabung und unbestrittener Erfolg bewahren die einzelne Aktrice nicht vor dem pauschalen Verdikt. Während ihr das „Genie" im Sinn Weiningers tautologisch abgesprochen wird - von „Natur" aus hat sie keinen Anspruch auf die männliche Qualifikation - , ist sie schauspielerisch eben deshalb so gut, weil sie als Frau moralisch schlecht ist: Ihre wesensgemäßen Eigenarten wie Eitelkeit, Gefallsucht und Verstellungskunst prädestinieren sie für den
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Beruf. 42 Aus dieser Zwickmühle „natürlicher" Zuschreibungen gibt es kein Entkommen. Sozialgeschichtlich gesehen, wurde das SchauspielerinnenKlischee durch die Arbeitsbedingungen für weibliche Ensemblemitglieder begünstigt. Die Theaterdirektionen der Monarchie gewährten Anfängerinnen keinen fixen Arbeitsvertrag; bei minimalem Gehalt hatten die Elevinnen - im Unterschied zu männlichen Kollegen - für Kostüme, meist aufwendige Toiletten, und Accessoires wie Schmuck und Spitzen selbst aufzukommen. Sogar im Fall einer mehrjährigen Beschäftigung konnte der Direktor die Vertragsverlängerung jederzeit verweigern, 43 und schließlich stand ihm das Recht zu, eine Darstellerin mit dem Tag ihrer Eheschließung zu entlassen: Eine verheiratete „jugendliche Liebhaberin" wollte man dem Publikum nicht zumuten. Unter diesen Umständen waren viele Schauspielerinnen tatsächlich zur Theaterprostitution oder zu Zweckliaisons gezwungen. Trotz der Verbürgerlichung des Schauspielerstandes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 44 und trotz der Idolatrie, die gerade in Wien mit der Theaterprominenz getrieben wurde, blieb die Schauspielerin ein Objekt praktischer und ideeller Ausbeutung. In .Freiwild' (1896) hat Schnitzler die tugendhafte Naive Anna Riedel als Opfer der einschlägigen männlichen Borniertheit auftreten lassen. Trotzdem kalkulierte auch er mit der Suggestionskraft des Typs; dazu kommt, daß Schnitzler das „Komödiantische", den habituellen Rollenwechsel, als gefährliche Schwäche auffaßt, als Mangel an Kontinuität, und das heißt: an Gedächtnis. Noch viel später ist „Kernlosigkeit", ein Zentralbegriff seiner Psychologie, 45 vorrangig mit der Frau auf der Bühne assoziiert: Die Seele mancher Menschen scheint aus einzelnen gewissermaßen flottierenden Elementen zu bestehen, die sich niemals um ein Zentrum zu gruppieren, also auch keine Einheit zu bilden imstande sind. [. . . ] Die große Mehrzahl der Menschen ist in diesem Sinne kernlos, doch erst an merkwürdigen und bedeutenden Menschen fällt uns eine solche Kernlosigkeit auf, die übrigens vorzugsweise bei reproduzierenden Talenten, vor allem bei genialen Schauspielern, insbesondere Schauspielerinnen, zu beobachten ist. (AB 53f.)46
Die assoziative Brücke zwischen „Schauspielerin" und „Gedächtnislosigkeit" wird durch ein Theoriefragment der zeitgenössischen medizinischen Forschung gestützt. Durch die theatralische Inszenierung ist die Schauspielerin mit der Hysterikerin verwandt. Denn die epidemische Zeitkrankheit Hysterie zog vornehmlich kulturelle Deutungen auf sich; bedrohliche Weiblichkeitsimaginationen konnten auf diesem Weg wissenschaftlich
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rationalisiert und klinisch behandelt werden. Der „große Anfall" galt dabei als eine Art pathetisch-pathologischer Pantomime, eine „Aufführung" der Kranken, „wie eben überhaupt die ganze hysterische Erscheinungswelt an ein Theaterspiel, an eine Komödie erinnerte". 47 Den Verdacht, die Hysterikerin setze sich mit Lüge und Verstellung in Szene, äußern noch die trockensten diagnostischen Studien, und das Krankheitsbild verdeckt im Grund einen sittlichen Defekt - eine Annahme, die sich durch die erotische „Besessenheit" der Patientinnen legitimierte. Zur sexuellen Ätiologie der Hysterie, dem eigentlichen Skandalon der Krankheit, tritt außerdem der Erinnerungsverlust: Neben der „Pseudologia phantastica", also der Lügenrede, gehört die Amnesie zum Symptomenkomplex: Gedächtnistäuschungen und -lücken kennzeichnen das diskontinuierliche hysterische Bewußtsein. 48 Noch Freud betonte im .Bruchstück einer Hysterie-Analyse' (1901/05), es fehle der Kranken „nie an wirklichen Amnesien, Gedächtnislücken, in welche nicht nur alte, sondern selbst ganz rezente Erinnerungen hineingeraten sind, und an Erinnerungstäuschungen, welche sekundär zur Ausfüllung dieser Lücken gebildet wurden". 49 Die Veränderung der Zeitfolge von Begebenheiten, Vergessen und „Fehlerinnern" sind also charakteristische hysterische Störungen; im Verhalten der Hysterikerin werden „falsche" Erinnerungen realisiert. 50 Die um die Jahrhundertwende ausufernde Hysterie-Debatte lieferte daher das argumentative Gelenk zwischen Gedächtnisschwäche und Untreue; diese Koppelung kam dem Versuch, das impressionistische Syndrom zu feminisieren und die moralischen Implikationen der Erinnerungslosigkeit an das „Weib" weiterzugeben, ausgesprochen gelegen. Die literarischen Heldinnen der neunziger Jahre haben (sich) dann ununterbrochen zu vergessen, zumal wenn sie Schauspielerinnen sind. Bei Schnitzler fällt die .grande comédienne' zwar unbedingt in diese Kategorie; zugleich gehen seine Dramen aber den sozialpsychologischen Voraussetzungen des Berufs nach. Daraus resultiert die ambivalente Position seiner Helden, die das .Märchen' der Weiblichkeitsstereotype zwar rational entlarven, sich aber emotional nicht davon lösen können. Im .Märchen'-Drama (1891) ist es die Schauspielerin Fanny Theren, die mit der kollektiven Geringschätzung zu kämpfen hat. Anders als in .Freiwild' kompliziert sich das Problem, weil Fedor Denner, Fannys Geliebter, die öffentliche Diskriminierung ins Private überträgt. Daß es vor ihm schon andere gegeben hat, kann er nicht verwinden; wie sein Autor bringt er es in der Eifersucht auf die Vergangenheit weiter als selbst der Spezialist für
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die „amour moderne", Paul Bourget. 51 Der Fiktionalisierungsaufwand ist gering; das Stück geht recht unvermittelt autobiographisch vor. 52 In Schnitzlers Beziehung zur Schauspielerin Marie Glümer (1867-1925) spielt der alte Verdacht gegen das Komödiantentum der Naiven eine Hauptrolle: „Ihre Naivität hat etwas gräßliches weil ich sie als unwahr empfinde". 5 3 Schnitzlers Tagebucheintragungen reflektieren obsessive Erinnerungen, die gar nicht die eigenen sind; der Gedanke an Marie Glümers verflossene Liebhaber ruft quälende Gedächtnisbilder, „images physiques", auf. Die fixe Idee ist nicht abzustellen, „solang irgend wer sich erinnern dürfe, sie besessen zu haben". 54 Im Tagebuch notiert Schnitzler die beruhigenden Versicherungen der Geliebten als theatralische direkte Rede; sie sind kontraproduktiv, weil sie nur wieder die weibliche „Gedächtnislosigkeit" bestätigen: „Jetzt erst weiss ich was Liebe ist - alles ist wie ausgelöscht aus meinem Gedächtnis - [ . . . ]"'.55 Paradoxerweise hat er ihre Erinnerungen geradezu monopolisiert und zwingt ihr beständig auf, was sie vergessen haben will: Ich erklärte es ihr wieder, wie mitten in meinem Glück jene andern aufstiegen, der Gedanke daß ich meine Erinnerung zu theilen habe - daß auch sie sich erinnern müsse. - „Ich erinnre mich an nichts! Was hat denn noch Raum in mir als du du du!" 56
Aber an die Liebe als romantische Passion, die noch die Vergangenheit überflutet, kann aus Mißtrauen nicht mehr geglaubt werden. Die Leidenschaften der Eifersucht hingegen werden im Tagebuch fiktionalisiert; bezeichnenderweise protokolliert Schnitzler in aller Ausführlichkeit einen verräterisch literarischen Traum seiner Freundin. Sie träumt, er wolle sich von ihr trennen, worauf sie von ihm Gift verlangt, um zu sterben. Auf diese dramatische Exposition folgt eine märchenhafte Parabel von der ambivalenten Präsenz des Gedächtnisses: Sie schläft in meinen Armen ein, wacht auf und hat alles vergessen. Im Kasten hängen lauter weiße Kleider. Sie geht in den Stadtpark, hat Rosen in der Hand. Setzt sich auf eine Bank. Schlecht aussehender Mensch neben sie. Gespräch. Sie verlieben sich. In einen andern Garten. - Der Mann: Erinnern Sie sich nicht, daß Sie mich schon einmal geliebt haben? - Sie erinnert sich absolut nicht. - „Ich bin A. S." - Sie weiss aber von jenem vergangnen A. S. gar nichts mehr. Sie wird nun mit dem sehr glücklich; er (ich) quält sie aber immer, daß sie sich nicht erinnre, ihn früher geliebt zu haben. - 5 7
Die vergeßliche Geliebte bedroht die Identität des „er (ich)"; bestraft wird
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sie durch das double-bind, nicht vergessen zu dürfen, was zu erinnern unerträglich ist. Mit dieser Schere operiert auch das ,Märchen' und verschärft sie noch durch Fannys ökonomische Zwangslage. Gleich eingangs stellt ihr eine großzügige Freundin den eigenen Schmuck für die nächste Rolle zur Verfügung, ein Angebot, das Fanny umso freudiger annimmt, als ihr die eigenen Mittel den vorgeschriebenen Aufwand nicht gestatten (D 1,128). Aber damit setzt sie sich natürlich sofort den Gerüchten aus: „Es ist immer wahrscheinlicher, daß man Brillianten von einem Fürsten geschenkt als von einer Kollegin geliehen bekommt" (D 1,185). Fannys Mutter kommentiert die Beschwerlichkeiten des Berufs recht unnachsichtig: „Sie hätt' ja heiraten können" (D 1,129) - ein handfester Hinweis auf die unvereinbare Alternativen von Bühnenkarriere und Ehe, welche das Verhältnis zwischen Fanny und Fedor von vornherein belasten. Diese sozialgeschichtlichen Realien setzen Fanny gegenüber den Moralphilistern des Stückes ins Recht, nicht aber gegenüber dem skrupulösen Fedor, der sich mit Fannys Privatvergangenheit nicht abfinden kann. Fedor ist ein profanierter Andrea; auch er gefällt sich in einer unbürgerlichen These: Das Weib habe ein Recht auf „natürliche" Liebe (D 1,150). Wieder wird das Axiom entkräftet, weil Fedor die Anwendung auf sich selbst nicht erträgt. Fanny verteidigt sich mit dem obligaten Satz: „Ich habe nichts erlebt - ich erinnere mich nicht mehr" (D 1,162). Das mag Fedor nicht glauben, schon gar nicht, als sein Vorgänger auftaucht: „Wenn man bedenkt, daß Sie sich vor einer Minute an nichts erinnerten . . . und jetzt erbeben . . ." (D 1,163). Wenig später hat er sich ihre Erinnerungen schon völlig angeeignet und verfügt über sie, als wären es die seinen. Als Fanny ihn beschwört, sich ihr nicht zu entziehen, muß sie bereits entsprechend paradox argumentieren; sie versucht ihn zu überreden, „daß in diesem Augenblicke keine Ihrer Erinnerungen stärker ist als ich" (D 1,171). 58 Trotzdem entlockt ihr Fedor noch ein Schuldgeständnis, indem er ihr verspricht, was er nicht halten kann: „Und wenn Sie das letzte Wort gesprochen haben, dann wird alles vorbei sein, vergessen . . ." (D 1,173). Zögernd erzählt Fanny von einer Vergangenheit, die ihr bereits vollkommen „fremd" erscheint. Wie Hofmannsthals Arlette fühlt sie sich mit ihrem früheren Selbst nicht mehr identisch. „Ein Abgrund scheint von gestern mich zu trennen, / Und fremd steh ich mir selber gegenüber" - das waren Ariettes Worte (GD 1,242), und Fannys prosaischere Wiederholung lautet: „Mir ist, als müßte ich von einer anderen erzählen . . ." (D 1,173). Fannys wahrhaftiges Bekenntnis wirkt als retardierendes Moment; für
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einen Augenblick scheint die romantische Passion zu überwiegen: „Und die Ewigkeit, die wir uns lieben werden, verschlingt die paar dummen Jahre" (D 1,175). Aber Fedor fällt immer wieder in die qualvolle Erinnerung zurück, bis zum bösen Ende. Den Schluß von 1891 - Fedors ekelgeschüttelten Abgang und Fannys weinenden Zusammenbruch - hat Schnitzler in einer zweiten Fassung (1894) gekürzt, in einer dritten (1902) zu Fannys selbstbewußter Replik umgearbeitet. 5 9 Freilich entwickeln diese Varianten das emanzipatorische Potential des Stückes; 6 0 trotzdem lösen sie seine immanente Widersprüchlichkeit nicht auf. Schnitzler hat seine Figuren in eine
aporetische
Konstellation
hineinmanövriert:
Selbst
wenn
die
spießbürgerliche Moral ausgespielt hätte - der ethische Appell, sich zu erinnern und nicht zu vergessen, bleibt in Kraft. Fanny kann ihre Unschuld nur als Vergeßliche zurückgewinnen; der Gedächtnislosigkeit macht sie sich weiter schuldig. Daher geht der sozialkritische Anspruch des Dramas ins Leere. Der Konstruktionsfehler des .Märchen' besteht darin, daß der Protest gegen die gesellschaftlichen Intoleranz mit dem Topos der weiblichen Gedächtnislosigkeit verkreuzt wird. Später wird es solche dramatische Inkonsequenzen nicht mehr geben, weil Schnitzler die Pflicht zur Erinnerung gegen die bürgerliche Doppelmoral ins Treffen führen wird. Aber noch tritt die erinnerungslose Frau nicht von der Bühne ab, im Gegenteil; sie erhält allerdings eine neue Aura. Um die Jahrhundertwende verwandelt sich ihre triviale Vergeßlichkeit in ein geheimnisvolles und ästhetisch vieldeutiges weibliches Unbewußtes.
D. „Du warst ganz vergessen": Beatrice und ihre Schwestern Vor den zwei literarischen Heldinnen des Jahres 1900, Jakob Wassermanns ,Renate Fuchs' und Schnitzlers .Beatrice', standen die Zeitgenossen mit einiger Ratlosigkeit. 61 Renate und Beatrice verkörpern das diskontinuierliche weibliche Bewußtsein bis zur völligen Unwahrscheinlichkeit. Beide wandeln wie im Schlaf von einem Mann zum andern, und die einzige mögliche Erklärung schien zu sein, daß sie sich an den jeweils vorhergehenden einfach nicht erinnern können. Im Fall von Schnitzlers Drama wurde das Problem insofern virulent, als Beatrices irrationales Verhalten auch den logischen Gesetzen der Bühnendramaturgie widerspricht. Auf den ersten Blick lassen sich Schnitzlers fünfaktiges Renaissancedrama und Wassermanns Zeitroman in Form und Fabel kaum vergleichen. Beatrices Vater ist ein Bologneser Wappenschneider, Renate Fuchs eine
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Münchner Fabrikantentochter. Trotzdem verbindet beide Texte nicht nur der Umstand, daß Schnitzler und Wassermann im Jahr 1899 auf einer gemeinsamen Fußtour durch Südtirol die beiden Manuskripte mitgetragen haben. 62 Tatsächlich sind sowohl Beatrice als auch Renate Verlobte eines Herzogs und geben Macht und sozialen Rang zugunsten eines Geliebten auf, der deutliche Züge des Fin de siècle-Décadents trägt. Wie Beatrices Dichter Filippo ist auch Renates Verführer, der junge Privatier Anselm Wanderer, ein ästhetischer Typus mit geradezu feminin empfindsamen Zügen (dazu kommt, daß er in Wien aufgewachsen ist). Im ödipalen Konflikt mit dem Herzog rutschen die weiblichen Objekte vom Mutter- auf den Kindstatus zurück. Unermüdlich wird dem Leser/Zuschauer versichert, daß beide Heldinnen gar nicht ganz erwachsen sind. Filippo spricht zu Beatrice „wie zu einem Kind"; „Du Kind!", „Du eitles Kind", sagt er zu ihr (D 1,569,571,574). Er liebt sie auch nur, weil er an ihr Vaterstelle vertreten kann: „Wie gut, daß du ein Kind, so wirst du mein, / Wie du es mußt" (D 1,573). Am Ende billigt ihr der Herzog mildernde Umstände zu: „Warst du nicht, Beatrice, nur ein Kind", fragt er rhetorisch, und freilich lautet die selbst gegebene Antwort: „du warst ein Kind" (D I,675f.). 63 Auch Renate Fuchs benimmt sich „wie ein Kind", redet „wie ein furchtsames Kind", „wähnt sich selbst noch Kind". 64 Durch ihre unerschütterliche Infantilität sind beide Heldinnen von jeder moralischen Verantwortung entlastet. Denn beide sind gedächtnislos. Beatrices Empfindungen beschränken sich auf den traumhaften „Augenblick" (D 1,602); in der handschriftlichen Fassung des Stücks warf ihr das ausgerechnet der impressionistische Filippo vor: Was weißt du von dir selbst, du Sucherin! Deine Augenblicke hängen nicht zusammen.. Du kannst nicht wahr sein u du kannst nicht lügen. 65
Auch Renates Gedächtnis enthält nur „fahle Erinnerungen an Träume", und am Ende werden auch die gelöscht: „erinnerungslos war plötzlich ihr Geist". 66 Die alte Weiblichkeitsimagination von Unschuld und Kindlichkeit wird immens aufgebläht, damit sie noch ihren Gegensatz, die bedrohliche Untreue, enthalten und in einen vorzivilisatorischen Amoralismus auflösen kann. Beatrices und Renates traumwandlerischer Somnambulismus läßt die Regeln der Sittlichkeit ungerührt links liegen. Das geht im Drama wie im Roman nicht ohne psychologische Inkonsistenzen ab. Die Unmotiviertheit von Renates und Beatrices Reaktionen
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schlägt als Motivationsmangel auf die Texte zurück. Schon Filippo kann nicht recht begreifen, warum Beatrice von der Hochzeitstafel des Herzogs wieder zu ihm zurückkehrt. In der Manuskriptfassung des Stücks hatte Beatrice noch versucht, ihm ihre Handlungsweise zu erklären, brachte es aber auch nur zu rätselhaften Auskünften wie: „du warst ganz vergessen". Umgekehrt weiß sie in den Armen Filippos nichts mehr von Hof und Heirat: „Der heiße Athem dieses Augenblicks / trinkt jegliche Erinnerung durstig auf". 67 Wie Filippo kam dann auch die Kritik mit diesem literarischen „Rätsel Weib" nicht durchwegs zurecht. Paul Goldmann, damals bereits Literaturkritiker in Berlin, meldete brieflich Bedenken an: „Kann die weibliche Inconscience so weit gehen?" 68 In seiner recht ungünstigen Rezension zur Berliner Aufführung bewies er aber zumindest in diesem Punkt Loyalität und plädierte für die Wahrscheinlichkeit von Beatrices seltsamer geistiger Absenz, und zwar gerade mit dem Hinweis auf ihre gesteigerte Weibsnatur: Beatrice sei „vielleicht noch ,plus femme' als der Durchschnitt der Frauen". 69 Auch Alfred Kerr war sich über Beatrices Identität nicht ganz im klaren, zog aber durchaus schon einen Wechsel von Weiblichkeitsparadigmen in Betracht: „Wer ist sie? Ist Beatrice ein Weib des wohlbekannten Schlags: der entweder ausstirbt, aus Gründen der neuen Bildung; oder niemals ausstirbt, aus Gründen der alten Gebärmutter?" 70 Auch ,Renate Fuchs' konnte die Kritik nicht überzeugen. Der pragmatische Georg Brandes lehnte Wassermanns „Nachtwandlertheorie" aus Gründen des common sense ab: „Ein Weib, das sich dem ersten besten hinwirft, kann gute Eigenschaften haben, reizend, liebenswürdig sein, es ist jedoch einfach eine Affectation, sie als rein darzustellen und uns einreden zu wollen, ihre Lebensführung habe nichts mit ihrem Seelenleben zu tun". 71 Schnitzler seinerseits hat .Renate Fuchs' noch gegen Richard Schaukais unverhältnismäßig bösartige Invektiven in Schutz genommen; 7 2 aber sogar ihm leuchtete ihre Unzurechnungsfähigkeit nicht recht ein: Leben der Renate in Wien. Irgend was muß doch in ihr vorgegangen sein, wenn sie mit den Kerls zusammen gewesen ist. [ . . . ] Gründe, warum uns der Autor so viel verschweigt. Er muß es doch wissen, wenn auch Renate selbst nicht. 73
Allerdings hat auch der Autor der .Beatrice' viel verschwiegen und aus seiner Figur eine opake Gestalt gemacht, deren Aktionen psychologisch kaum zu plausibilisieren sind. Schnitzler und Wassermann hatten es gewagt, das „andere" weibliche Bewußtsein zu präsentieren, ohne es sofort dem morali-
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sierenden Zugriff auszusetzen; aber sie zeigen es eben in seiner undurchschaubaren Andersartigkeit. Die neue Projektion behält die alten Merkmale „Kindlichkeit" und „Erinnerungslosigkeit" bei, entwirft aber den Gegensatz zur männlichen Ratio nun nicht mehr als Stupidität, sondern als geheimnisvolles Irrationales. Der alte misogyne Geschlechtscharakter wird von einer „moderneren" Weiblichkeitsimagination abgelöst, die das Enigmatische des weiblichen Seelenzustands ästhetisch ausspielt. 74 Gerade daß Beatrices und Renates Verhalten mit herkömmlichen Vernunftgründen nicht zu rationalisieren ist, deutet auf die krisenhafte Erfahrung der Moderne, eine aufklärerische Logik könne sich der Wirklichkeit nicht mehr gewachsen zeigen. Die Strategie, den Verlust an Sicherheiten durch imaginäre weibliche Geschlechtseigenschaften zu kompensieren, ist aber nicht neu: Das drohende Versagen des traditionellen Fortschrittsbegriffs und die Entfremdung des männlichen Subjekts durch die immer stärker ausdifferenzierten Arbeitsprozesse hatten schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts dazu geführt, daß man dem Phantasma „Weiblichkeit" all die schmerzlich vermißten Qualitäten zuordnete, wie Natürlichkeit, Instinkthaftigkeit, harmonische Beschränktheit. 75 Daher wird die traditionelle Opposition zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit auch jetzt nicht kassiert, sondern sogar noch unterstrichen: Der alte Gegensatz von Geist und Natur vertieft sich, wenn zumindest die Weibsnatur sich der rationalen Kontrolle entzieht - und entziehen soll. Mit der Verrätselung des Frauenbildes um die Jahrhundertwende wird eine Mythisierung des Weiblichen betrieben, die noch ein letztes Mal das undomestizierte, unzivilisierte, „schöne" Leben herbeizaubern soll. 76 Daß diese geballte Naturkraft Weib ebenso verherrlicht wie in ihrer anarchischen Destruktivität gefürchtet wird, versteht sich. 77 Das „Rätsel Weib" entwickelt sich zum ästhetisch schönen Bild, dessen Hermetik alle unaufgelösten Widersprüche der Weiblichkeitskonzepte enthält. Allerdings haben beide Autoren, Wassermann wie Schnitzler, die „moderne" Führung ihrer weiblich-problematischen Charaktere nicht durchgehalten. Zwar wird Beatrice moralisch freigesprochen - und zwar von der höchsten Autorität, dem Herzog - , am Ende muß sie aber doch für ihre Verfehlungen büßen. Das Theater als moralische Anstalt verlangt energisch ihren Bühnentod, der aber wiederum wenig motiviert wirkt, weil Beatrice durchaus keine tragische Figur ist; die vernünftige Wahl und der freie Wille des idealistischen Subjekts fehlen ihr ja gerade. Der Bruder, die die Familienehre rächt und Beatrice mit dem Dolch durchbohrt, wirkt deshalb, als habe er sich ins falsche Stück verirrt. Wassermanns Erzähler ist da weit-
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aus progressiver und verteidigt seine Renate gegen Spießertum und Heuchelei; aber auch er scheut zum Schluß vor keinem theatralischen Effekt zurück. Renate wird nämlich buchstäblich „erlöst", 78 und zwar durch eine männliche Heilsgestalt mit messianischen Zügen, jenen Agathon Geyer, der aus Wassermanns Erstlingsroman ,Die Juden von Zirndorf' (1897) in Renates Geschichte eingewandert ist. 79 Sterbend zeugt Agathon mit Renate den Sohn „Beatus", und Renates Weiblichkeit, das weiß der Leser, wird im Mutterberuf geheilt werden. Beide Texte, sowohl Schnitzlers ,Der Schleier der Beatrice' als auch Wassermanns .Geschichte der jungen Renate Fuchs', setzen ihren neuen Frauentyp also zuerst in eine moralfreie Sphäre, um die Provokation durch eine Dramaturgie der ausgleichenden Gerechtigkeit oder durch einen deus ex machina 80 am Ende zu entschärfen. Die ästhetische Vieldeutigkeit von Renate und Beatrice fällt schließlich konventionellen dramatischen und narrativen Techniken zum Opfer. Das Plausibilitätsmanko von Drama und Roman beruht auf der vorsichtigen Unentschiedenheit, mit der ein modernes Weiblichkeitsphantom anfangs in Bewegung gesetzt und dann wieder stillgelegt wird. Vier Jahre später hat Beer-Hofmann, ein Erinnerungskünstler par excellence, 81 nochmals eine Kindfrau auf die Bühne gestellt, deren vergeßliche Handlungen die Zeitgenossen befremdeten. Desirée, die Tochter des Gerichtspräsidenten und spätere Frau des ,Graf von Charolais' (1904), ist der Inbegriff der „femme fragile", ein durchstilisiertes Bild im Rahmen der Renaissancekulisse des Dramas. Ein infantiler, minderer Grad an Bewußtsein zeichnet sie auch dann noch aus, wenn er sie auszeichnet: „Entwöhnt ward nur der Mann; das Weib, es darf / Noch immer träumen an der Erde Brüsten, / Dem Werden nah" (GW 382). Desirées weibliches Monopol aufs Natürliche scheint die Erinnerungslust aller übrigen - männlichen - Protagonisten zu konterkarieren. Denn Desirées Vater wählt Charolais eben wegen dessen unverbrüchlicher Gedächtnistreue zu seinem Schwiegersohn. „Nachdem dies geschehen ist (drei Akte sind verbraucht), übersiedelt das Stück mit all seinem geistigen und menschlichen Fundus auf eine andre Ebene", kommentierte der Rezensent Alfred Polgar. 82 In der Tat führen die beiden folgenden Akte gleichsam ein neues Drama ein, und diese Heterogenität meinte Schnitzler, als er zur Berliner Premiere telegraphierte: dieser wünsch sei meinem freund geweiht dass in seinem sehr geliebten werke jeder alle Weichheit alle staerke einer ungebrochenen menschlichkeit keiner den beruehmten brach bemerke = arthur 8 3
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Der Wunsch war insofern vergeblich, als der „berühmte Bruch" Desirées unverständlicher Ehebruch ist. Im Chor monierte die Kritik den unwahrscheinlichen Vorfall: „Der Fehler der Dichtung von Beer-Hofmann liegt in der halbwegs unbegreiflichen Figur der Desirée. [ . . . ] Warum Desirée Mann und Kind verläßt und dem Liebhaber in ein gemeines Haus folgt, bleibt unerklärt", tadelte Karl Frenzel diskret. Drastischer formulierte es Alfred Kerr. Es sei „denkbar unglaublich, . . . nicht daß sie fällt, doch daß sie auf Anhieb den Weg in ein stinkendes Bordell macht und sich ins Bett legt".84 Desirées weibliche „inconscience" geht wirklich etwas weit. „Ich weiß es nicht", pflegt sie jedenfalls zu sagen, gleichgültig, ob ihr Vater sie nach einem Mann fragt, der ihr selbst gefiele, oder ob Charolais später nach dem Grund ihrer Untreue forscht (GW 385,453). Trotzdem unterscheidet sich Desireé deutlich von allen ihren pflichtvergessenen Vorgängerinnen; ein Wort ihres Vaters will sie sich nicht nur „gemerkt" haben: [. . . ] .Gemerkt' ist nicht Das Wort; was man sich merkt, kann man vergessen. Es fiel in mich so wie in einen Brunnen [ . . . ] ! (GW 387)
Und noch den ersten Annäherungsversuch ihres Verführers pariert sie mit dem guten Gedächtnis. „Vergiß! - / Kannst du's denn nicht", fragt er, und sie antwortet: „Vergessen? Nein!" (GW 426) Damit steht die Figur der Desirée an dem Punkt, wo sich das Frauenbild - mysteriös und schuldigunschuldig, wie es ist - vom Stereotyp der Erinnerungslosen emanzipiert. Das Thema des Ehebruchs wird vom Merkmal der Vergeßlichkeit gelöst und dadurch noch um einen Grad motivationsbedürftiger. Für Desirées Handlungsweise läßt sich tatsächlich keine stringente Erklärung mehr finden, auch nicht für ihren Bühnentod, den sie selbst herbeiführt, was paradoxerweise nochmals an das Tugendsterben der Virginias und Emilias erinnert. Beer-Hofmann deutet am Ende einen neuen Beweggrund an: ,„Es' trieb uns - treibt uns! ,Es'!" (GW 464), ein Vorgriff auf eine neue Logik des Unbewußten, die aber sowohl männliches wie weibliches Verhalten determiniert. Zwanzig Jahre vor Freuds zweiter Topik des psychischen Apparates, die den Begriff des „Es" einführen wird, 85 ist die tiefenpsychologische Dimension von Beer-Hofmanns Figuren als Plausibilitätskriterium noch zu schwach, jedenfalls in den Augen des Publikums. Bei aller Jugend-Stilisierung setzt Desirées Absage an die Vergeßlichkeit aber das Signal für einen Paradigmenwechsel der weiblichen Zuschreibungen: In Beer-Hofmanns alttestamentarischen Dramen werden zukünftig auch die Frauen - Rebek-
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ka und Rachel - Sprachrohr für die kollektive Erinnerung des Volkes Israel sein. Nach 1900 haben sowohl Beer-Hofmann als auch Schnitzler die Gedächtnislosigkeit zunehmend als allgemeines gesellschaftliches Phänomen begriffen und mit ihren poetologischen Techniken der
Erinnerung
bekämpft; das Vergessen bezeichnet nun die grassierende kulturelle und politische Banausie. Was sich deshalb endlich erübrigt, ist die Kritik des vergeßlichen Frauenzimmers. Als Schnitzler nach der Jahrhundertwende den Zusammenhang von Untreue und weiblichem Gedächtnisverlust entkoppelt, sind es seine Helden, die jetzt wieder vergeßlich werden, als späte Impressionisten, deren Handlungen aber nicht mehr von ästhetizistischer Unverbindlichkeit, sondern von gravierender moralischer und politischer Tragweite sind. Am auffallendsten geht diese Veränderung mit Schnitzlers Schauspielerfiguren vor sich. Energisch gibt die „Komödiantin" das Markenzeichen der Gedächtnisschwäche wieder an ihren männlichen Kollegen ab. Obwohl die Schauspielerin im ,Reigen' (1900) immer noch eine vorbildliche ,grande comédienne' ist, reicht sie bereits den ganzen verbalen Aufwand um Liebe, Treue und Erinnerung als ironisches Klischee an ihren Partner zurück: SCHAUSPIELERIN
Ich bitte sich zu erinnern, Herr Graf, ich bin soeben ihre
Geliebte gewesen. GRAF
Ich werds nie vergessen! (D 1,384)
Und plötzlich verfügen die Frauen über das bessere Gedächtnis. Ausgerechnet die Schauspielerinnen Irene Harms in ,Der einsame Weg' (1904) und Anna Meinhold in ,Das weite Land' (1911) zeichnen sich durch besondere Erinnerungskraft aus. Die ,Große Szene' (1915) hat die Umbesetzung vollständig durchgeführt und den männlichen Schauspieler mit den ehemals weiblichen Attributen ausgestattet; er ist untreu, gewissen- und gedächtnislos. Erinnern muß und kann sich jetzt seine Frau. Konrad Herbot, Star des Berliner Schauspielhauses, firm in der Verstellung auf der Bühne wie im Leben, hat gerade einen Ehebruch hinter sich; trotzdem ist die betrogene Sophie zu ihm zurückgekehrt: SOPHIE
Nun bin ich ja wieder da. Also reden wir nicht mehr darüber. Wir wollen
es vergessen. HERBOT
Vergessen! Ja, wenn man das so könnte. Du hast wohl keine Ahnung,
was für eine Zeit ich hier durchgemacht habe. (D 11,509)
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Die alte Opposition weibliches Vergessen - männliches Erinnern funktioniert aber nur mehr als satirisches Zitat. Herbot verkörpert den Schauspieler stricto sensu, was sich sofort herausstellt, als er vorgibt, der Name einer weiteren Seitensprungskandidatin sei ihm entfallen: SOPHIE HERBOT
Du hast wohl überhaupt ein schlechtes Gedächtnis. Für so was soll man auch noch ein Gedächtnis haben, das fehlte mir.
Denk doch nur, was in dem Schädel da alles Platz haben muß. Die herrlichen Worte der Meistergestalten unserer großen Dichter und der janze moderne Dreck; da ist natürlich für andere Erinnerungen kein Raum. SOPHIE HERBOT
Für gar keine? Jedenfalls hab ich das ganz in meiner Gewalt. Ich erinnere mich und
ich vergesse, wie es mir paßt. (D 11,511)
Der glänzende Mime ist ein Konglomerat verschiedener Rollen und nichts anderes. Bei seinem letzten Auftritt in der ,Großen Szene' trägt er bereits das Hamlet-Kostüm der nächsten Vorstellung und darüber seinen Straßenmantel; das Hemd der Bühne ist ihm also näher als der Rock der Wirklichkeit. Mit dieser Figur kehrt Schnitzler zur alten Nietzsche-Kritik des Schauspielers zurück. Und darüber hinaus trifft seine Gedächtniskritik nun schon die Vertreter aller möglichen Berufe, vom Musiker Georg von Wergenthin (,Der Weg ins Freie', 1908) über den Unterrichtsminister Flint (.Professor Bernhardi', 1912) bis zum Leutnant Willi Kasda (,Spiel im Morgengrauen', 1926). Was das Gedächtnis behält und was es verliert - aus der Verantwortung dafür hat Schnitzler seine Figuren nicht mehr entlassen. Schnitzlers ,Große Szene' hat ein sehr ambivalentes happy end. Wenn Sophie schließlich doch bei Herbot bleibt, dann deshalb, weil sie ihn in seinen Rollen liebt. Genau dieses Motiv hatte .Frau Beate' (1913) an sich festgestellt. Die Witwe des Schauspielers, Lügners und Ehebrechers Ferdinand Heinold wäre ihm „ja davongelaufen im ersten Monat ihrer Ehe", wenn sie nicht von den Täuschungen auf der Bühne überwältigt gewesen wäre: Der, den sie liebte, war nicht Ferdinand Heinold gewesen; Hamlet war es, und Cyrano und der königliche Richard und der und jener, Helden und Verbrecher, Sieger und Todgeweihte, Gesegnete und Gezeichnete. (E II,94f.)
Während Beate den Part der Frau und Witwe spielen muß, stand ihrem Mann immer schon eine Palette verschiedener fiktiver Charaktere zur Verfügung; sein Beruf symbolisiert jetzt auch die souveräne Rollenvielfalt, in der ein Mann auftreten kann. Dem männlichen Prärogativ, sich eine Iden-
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tität zu wählen, steht die eng definierte und sozial streng überwachte Frauenrolle gegenüber.86 In seiner späteren Prosa, von .Frau Berta Garlan' (1901) bis zum „Frauenroman" .Therese' (1928), hat Schnitzler die gesellschaftlich verengten Handlungsspielräume seiner Heldinnen beschrieben. Wenn der Erzähler diese weiblichen Subjekte trotz ihrer Beschränkung privilegiert, indem er ihrer Perspektive folgt, dann deshalb, weil er ihnen jene Fähigkeit gönnt, die nach Schnitzler das „Ich" überhaupt erst konstituiert: die „Continuität", das Gedächtnis. Die Definitionen des weiblichen Geschlechtscharakters hatten schließlich darauf hingearbeitet, ein weibliches „Ich" überhaupt zu annullieren;87 auch für diese tendenzielle Abschaffung weiblicher Identität hatte Weininger die endgültige Maxime gefunden: „Das absolute Weib hat kein Ich".88 Mit dem Gedächtnis gibt Schnitzler seinen Protagonistinnen nichts anderes als die Möglichkeit der Ich-Konstitution zurück - und damit überholen manche seiner Texte tatsächlich die zeitgenössischen Frauenbilder. Die Krisen, die Täuschungen und die Ausfälle der Erinnerung bleiben auch diesen Figuren nicht erspart; Schnitzler führt aber von nun an vor, wie soziale Regulative das weibliche Vergessen produzieren. Und ganz unauffällig wird am Ende die schlichte Gouvernante Therese eine vorbildliche Rolle spielen - weil sie sich erinnern kann.
3. Exkurs: Das Weib und das Vergessen
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Anmerkungen 1 Eintragung v. 24.4.1915 (TB). 2 Josef Körner: Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme. Zürich 1921 (= Amalthea-Bücherei 23), S. 34. - Noch 1949 konnte Susanne M. Polsterer diesem Befund „auf Grund meiner Untersuchungen beipflichten"; ihre Dissertation setzte sich tapfer zum Ziel, „der Herabsetzung des Oesterreichertums und besonders der Wienerin durch Schnitzler, bzw. durch diejenigen, die seine sexomanen und meist sehr charakterschwachen und asozialen Frauengestalten als Prototypen der Wienerin hinstellen, entgegenzutreten". „Jugendliche und Ausländer" werden vor der Lektüre gewarnt. Tatsächlich zählt Polsterer (allein in Schnitzlers Stücken, ohne die Prosa!) 81 Mädchen und Frauen, die „ausserehelichen Geschlechtsverkehr pflegen"; davon verhalten sich 14 „monandrisch", 21 „successiv polyandrisch", 28 „simultan polyandrisch (selektiv)" und 18 „simultan polyandrisch (ziemlich promisk)". Da das männliche Sample nicht ausgezählt wurde, bestünde immerhin die Möglichkeit, daß auch der Wiener nicht besser wegkommt (Die Darstellung der Frau in A. Schnitzlers Dramen. Wien: phil. Diss. 1949, S. 25ff„ 5, 30, 116-120). 3 Brief an Schnitzler v. 15.5.1894, Nachlaß ULC, Box Aa. - Andreas-Salomé bezog sich auf das .Märchen' (1890 begonnen) und auf ,Die überspannte Person' (1894 begonnen). 4 Renate Möhrmann: Schnitzlers Frauen und Mädchen. Zwischen Sachlichkeit und Sentiment. In: DD 68 (1982), S. 507-517, S. 513, 517 (auch in: Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit', S. 93-107); Barbara Gutt: Emanzipation bei Arthur Schnitzler. Berlin: Volker Spiess 1978, S. 158. - Einen langsamen Übergang von männlicher zu weiblicher Perspektive in Schnitzlers Werk beschreibt Alfred Doppler: Der Wandel der Darstellungsperspektive in den Dichtungen Arthur Schnitzlers. Mann und Frau als sozialpsychologisches Problem. In: Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit', S. 41-59. - Ulrike Weinhold differenziert diese Befunde; Schnitzler habe zwar zwischen der männlichen Definition von Weiblichkeit und der sozialen Realität der Frau unterschieden; als Produkte dieses „Bruchs zwischen Vorstellung und Sein" erscheinen seine Frauenfiguren notwendig als Entfremdete. Zu einer alternativen, authentischen Darstellung weiblicher Existenz komme es aber auch bei Schnitzler nicht (Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs. Zur Problematik des Frauenbilds der Jahrhundertwende. In: JbflG 19/1 (1987), S. 110-145, v.a. S. 119). 5 „Man mag produktionsästhetische Spekulationen über die distanzierende, Freiräume der Reflexion eröffnende Funktion der Fiktion damit verbinden, wird aber auch erwägen müssen, daß das traditionelle, aber für Schnitzler immer noch gültige Prinzip der poetischen Gerechtigkeit das Gleichgewicht der Figuren fordert und auf eine künstlerische Verklärung hinarbeitet, die dem Tagebuch fremd ist" (Horst Thomé: Arthur Schnitzlers Tagebuch. Thesen und Forschungsperspektiven. In: IASL 18/2 (1993), S. 176-193, S. 183). 6 Hermann Bahr: Die treue Adele [Paris, Dezember 1888). In: Ders.: Fin de Siècle. Berlin: Zoberbier 1891, S. 71-88, S. 85. 7 Ebda., S. 88.
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8 Richard Alewyn: Hofmannsthals Anfang: .Gestern' [1949]. In: Ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 4 1967 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 57/57a/57b), S. 46-63, 190, S. 51f., 55, 60. 9 Zwei Einzelbelege: In Erich Kästners ,Das fliegende Klassenzimmer' (1933) rät ein intellektueller Tertianer den libidinösen Primanern, sie „sollten lieber einmal lesen, was Arthur Schopenhauer über die Weiber schreibt" (Wien: Ueberreuter 1962, S. 23); der 1917 geborene Heinrich Boll erinnerte sich, als Schüler den „alten Weininger" gelesen zu haben (Was soll aus dem Jungen bloß werden? Oder: Irgendwas mit Büchern. Bornheim: Lamuv 1981, S. 71). - Daß die Werke bei beiden Autoren als Gymnasiastenlektüre erscheinen, ist möglicherweise kein Zufall; Otto Basil bezeichnete .Geschlecht und Charakter' als „postpubertäre Explosion" (Arabeske über die Jugendstilfrau. In: Ein wilder Garten ist dein Leib. Die Frau um die Jahrhundertwende. Auswahl u. Nachwort v. Otto Basil. Wien: Forum 1968, S. 107-126, S. 116). - Zur literarischen Rezeption Weiningers vgl. Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Wien: Locker 1985, S. 220-243; zu seiner Stellung im philosophischen und zeithistorischen Kontext vgl.: Otto Weininger. Werk und Wirkung. Hrsg. v. Jacques Le Rider u. Norbert Leser. Wien: ÖBV 1984 (= Quellen und Studien zur Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 5). 10 Zur Entwicklung eines weiblichen „Geschlechtscharakters" und seiner theoretischen Absicherung in der bürgerlichen Gesellschaft vgl. die beiden grundlegenden Aufsätze von Karin Hausen: Die Polarisierung der .Geschlechtscharaktere'. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Hrsg. v. Werner Conze. Stuttgart: Klett 1976 (= Industrielle Welt 1). S. 363-393 und Barbara Duden: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47 (1977), S. 125-140. - Zur wissenschaftsgeschichtlichen Kodierung der Geschlechterdifferenz vgl. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt: Campus 1991. 11 Arthur Schopenhauer: Ueber die Weiber. In: Ders.: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Zürich: Diogenes 1977, Bd. II/2 (= Zürcher Ausgabe X), S. 667-681, S. 671f„ 668. 12 Daß die „femme fragile" aber ebenso ein Produkt adoleszenter Erotik und sexueller Infantilität auf Seiten ihrer Erfinder ist, zeigt vollkommen schlüssig schon die Studie von Ariane Thomalla: Die .femme fragile'. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1972 (= Literatur in der Gesellschaft 15), S. 60-84. 13 Schopenhauer, Ueber die Weiber, S. 669. 14 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, S. 249. 15 Jenseits von Gut und Böse [1886]. In: Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 9-243, S. 177. 16 P.J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes [1900]. München: Matthes & Seitz 1977 (= KuKu 3), S. 34. 17 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 186. 18 Ebda., S. 187f. 19 Roberto Calasso: Der Philosoph und die .Kokotte', ebda., S. 662-667, S. 666. - Zum zeitgenössischen Umfeld von Weiningers Theorie, zur „Geschlechtswissenschaft" und vor al-
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lem zum komplizierten Verhältnis von Weinigers Frauenverachtung und Karl Kraus' misogyner Gynolatrie vgl. Nike Wagner: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt: Suhrkamp 1982. 20 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt 1979 (= es 921), S. 31. 21 Brief an Hermann Bahr v. 24.6.1906 (B 1,537). - Der ironische Ton des Briefes deutet allerdings daraufhin, daß das männliche Dogma nicht mehr ganz so ernst zu nehmen ist. Dafür spricht auch, daß Schnitzler in der wenig später entstandenen Erzählung ,Der tote Gabriel' den Satz seinem Anastasius Treuenhof, einer Karikatur Peter Altenbergs, in den Mund gelegt hat: „die Frauen [sind] mit den Urelementen verwandter als die Männer" (E 1,974). Und wenn der in jedem Sinn leichtgläubige Gottfried Wehwald im .Tagebuch der Redegonda' (1911) annimmt, daß die Geliebte „als Weib den Urgründen des Lebens [. . . ] näher war als ich" (E 1,989), so läßt der Ausgang der Erzählung keinen Zweifel daran, daß er sich damit im Irrtum befindet. 22 Lou Andreas-Salomé: Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriss. In: Dies.: Die Erotik. Vier Aufsätze. Neu hrsg. m. e. Nachwort v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt 1985 (= Ullstein Materialien 35213), S. 7-44, S. 9. 23 Selbst ein so unorthodoxer Denker wie Georg Simmel hatte die Falle der polaren Geschlechtscharaktere nicht vermeiden können, obwohl ihm sehr daran gelegen war, die üblichen Urteile über Weiblichkeit zu relativieren bzw. das „empirische" Verhalten der Frauen auf seine sozialen Bedingungen zurückzuführen. Die „mangelnde Differenzierung" der weiblichen Spezies bleibt aber auch bei ihm die Prämisse aller folgenden Überlegungen, sei es zum impulsiveren, subjektiveren weiblichen Urteil, sei es zur ungeteilteren sexuellen Hingabe. Unter dem Strich ergibt sich das gängige Fazit: Das Geistesleben der Frauen sei auf einer frühen Entwicklungsstufe stehengeblieben, wie sie für „Tiere und niedere Völker" charakteristisch sei (Zur Psychologie der Frauen [1890]. In: Ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Hrsg. v. eingel. v. Heinz-Jürgen Dahme u. Klaus Christian Köhnke. Frankfurt 1985 (= es 1333), S. 27-59, S. 34). 24 Andreas-Salomé, Der Mensch als Weib, S. 14f. - Auch Weininger beruft sich auf die Analogie zwischen dem Sexualverhalten und der Beschaffenheit von Ei und Spermatozoon, vgl. Geschlecht und Charakter, S. 355, Fußn. 1. 25 Andreas-Salomé, Der Mensch als Weib, S. 33. 26 Ebda., S. 18; Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 351. 27 Ebda., S. 25f.; Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 192. 28 Frauen und Frauentypen [1901]. In: Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit, S. 107-125, S. 108. 29 Andreas-Salomé, Der Mensch als Weib, S. 22. 30 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 173f. 31 Ebda., S. 191. 32 Ebda., S. 259. 33 Grundzüge [1903], In: Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit, S. 35-45, S. 36ff.
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34 Eintragung v. 21.12.1912. In: Zweig, Tagebücher, S. 36. 35 Eintragung v. 16.1.1895 (TB). 36 Vgl. dazu das Kapitel .Psychologische und moralische Aspekte des Schauspielerischen' bei Urbach, Schauspieler und Gesellschaft im Werk Arthur Schnitzlers, S. 141-177. 37 In: Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 343-651, S. 608. 38 Ebda., S. 609. 39 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 429; Weininger belegt die Wandlungsfähigkeit des Judentums allerdings mit dem Journalismus, nicht mit der Schauspielkunst. Beide Berufssparten ziehen sich aber - auch bei Schnitzler - wegen ihrer „Kernlosigkeit" dieselbe Verachtung zu. - Zu Schnitzlers Komödie ,Fink und Fliederbusch' (1917), in der die „gespaltene Persönlichkeit" des Journalisten satirisch auf die Bühne gebracht wird, vgl. zuletzt Ernst Offermanns: .Héros du jour - et déchu': quelques aspects du personnage de Mimosas dans la comédie Les Journalistes d'Arthur Schnitzler. In: Les Journalistes de Arthur Schnitzler. Satire de la presse et des journalistes dans le théâtre allemand et autrichien contemporain. Éd. par Jacques Le Rider et Renée Wentzig. Hisson: Du Lérot 1995 (.Transferts'), S. 72-84. - Aus guten Gründen hat Schnitzler die Figuren seiner Journalistenkomödie nur sehr diskret mit „jüdischen" Zügen versehen, vgl. dazu Sigurd Paul Scheichl: Juden, die keine Juden sind. Die Figuren in Schnitzlers Fink und Fliederbusch. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hrsg. v. Mark H. Gelber, Hans Otto Horch u. Sigurd Paul Scheichl. Tübingen: Niemeyer 1996 (= Conditio Judaica 14), S. 225-238. 40 Vgl. auch im folgenden Ursula Geitner: Die Frau als Schauspielerin. Auskünfte einer Metapher. Nachwort [zu:] Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frau in die Moderne. Hrsg. v. U.G. Bielefeld: Haux 1988, S. 252-284, hier S. 252. 41 Ebda., S. 260. 42 Vgl. auch zum Folgenden die materialreiche Dissertation von Helga Terharen: Von der Schmierenkomödiantin zur Hofschauspielerin. Die Demaskierung eines Mythos. Zur sozialen und materiellen Stellung der Schauspielerinnen des k.k. Hofburgtheaters in Wien (1888-1918). 2 Bde. Wien: phil. Diss. 1991, hier Bd. 1, S. 14-16. 43 Terharen dokumentiert den Fall der Ottilie Metzl, Felix Saltens späterer Frau, die von 1891-1899 Mitglied des Hofburgtheaters war. Direktor Schienther weigerte sich, ihren Vertrag zu verlängern, und einiges deutet darauf hin, daß er damit Rache für Saltens burgtheaterkritische Artikel nahm. Schnitzler und Hofmannsthal legten Protest ein; die Intervention blieb ohne Erfolg (ebda., S. 178-181, u. Bd. 2, S. 36). 44 Vgl. ebda., Bd. 1, S. 71-78. 45 Vgl. dazu und im folgenden Horst Thomés maßgebliche Studie .Kernlosigkeit und Pose'. 46 Hervorhebung von mir. - Es handelt sich um einen Aphorismus aus dem .Buch der Sprüche und Bedenken' von 1927; in dieses Werk sind allerdings auch ältere aphoristische Aufzeichnungen eingegangen. Viel spricht dafür, daß der vorstehende Text aus den neunziger Jahren stammt; Schnitzler hielt ihn bei der Buchpublikation aber offenbar noch für gültig. - Zur Entwicklung von Schnitzlers Aphoristik vgl. Rainer Noltenius: Hofmannsthal Schröder - Schnitzler. Möglichkeiten und Grenzen des modernen Aphorismus. Stuttgart: Metzler 1969 (= Germanistische Abhandlungen 30), S. 191ff.
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47 Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt 1992 ( = Reihe Campus 1054), S. 58. 48 Vgl. ebda., S. 102-106, und Thomé, Kernlosigkeit und Pose, S. 65-68. 49 Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, S. 96. 50 Vgl. Lucien Israel: Die unerhörte Botschaft der Hysterie [üs. v. Peter Müller u. Peter Posch]. München: Ernst Reinhardt 1987, S. 51ff. 51 Vgl. Brief an Olga Waissnix v. Februar 1891 (B 1,114): „Ich bin im Bourget im übrigen nicht mit allem einverstanden; insbesondre in der Jalousie bin ich analytisch viel weiter als er." 52 Zum Verhältnis zwischen subjektivem Privatverhalten und objektiver literarischer Diagnose im .Märchen' vgl. Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 46-51. - Zu Entstehung und Rezeption des Dramas vgl. Rieckmann, Aufbruch in die Moderne, S. 147-150. - Zum Vorbild der „Fanny" vgl. Renate Wagner: Frauen um Arthur Schnitzler. Frankfurt 1983 ( = Fischer-Tb 5614), S. 60-82. 53 Eintragung v. 11.3.1891 (TB). 54 Eintragung v. 19.9.1890 (TB). - Das .Märchen' wurde geschrieben, um sich von diesen phantastischen Vorstellungen zu befreien, vgl. die Eintragung v. 30.11.1890: „Begann das ,Mährchen' zu schreiben. ,Das Mährchen von der Gefallenen.' Befreie mich. - Psychologisches aus meinem Verhältnis mit Mz. - auch viel äußere Umstände - hoffe, daß es gelingt! - " 55 Eintragung V. 7.6.1891 (TB). 56 Eintragung v. 5.9.1891 (TB). 57 Eintragung v. 9.11.1891 (TB). 58 Hervorhebung von mir. 59 Die erste Fassung erschien in Wien als Bühnenmanuskript, die zweite bei Pierson in Dresden, die dritte bei S. Fischer in Berlin. - Die betreffenden Stellen sind abgedruckt bei Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 1 4 3 - 1 4 7 . - Alfred Doppler zieht diese Varianten als Belege für den , Wandel der Darstellungsperspektive' in Schnitzlers Werken heran; während Schnitzler bis zur Jahrhundertwende die Stellung der Frau in der ausgehenden Habsburgermonarchie zwar schon diskutiere, „aber ausschließlich aus der Perspektive des Mannes", stelle die personale Erzählweise von .Frau Berta Garlan' bis zu .Therese' den Zustand der patriarchalischen Gesellschaft aus der Sicht der Protagonistinnen dar (Der Wandel der Darstellungsperspektive in den Dichtungen Arthur Schnitzlers, Zitat S. 45). 60 Renate Möhrmann belegt anhand der Publikumsreaktionen auf die Uraufführung, daß die Zeitgenossen Fedors freidenkerisches Votum nicht skandalös fanden; der zweite Akt, der nach viel Erinnerungsdiskussion endlich zur Liebesszene führt, rief sogar großen Beifall hervor; zum Protest kam es erst nach Fedors schwächlichem Rückzug im dritten Akt. Eine „Amor-omnia-vincit-Dramaturgie" hätten die Zuschauer akzeptiert. Das „gesellschaftskritische Potential" des Stücks sieht Möhrmann deswegen in der Konsequenz, mit der Schnitzler Fedor als Repräsentanten einer kaschierten Alt-Moral dargestellt hat. Daß Fanny aber durchaus noch die Merkmale der Gedächtnislosen tragen muß - „Beim Himmel, ich würde nicht zurückdenken müssen, wenn du mich nicht immer gewaltsam erinnertest" (D 1,188) - , um für Fedor als Geliebte überhaupt in Betracht zu kommen, gerät dabei ein wenig aus dem Blick. Möhrmanns Plädoyer für Schnitzler, den „Anwalt der Frauen", gleicht
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den Widerspruch zwischen der sozialdiagnostischen Schärfe und den Spuren zeitgenössischer Weiblichkeitsklischees im fi-üiiwerk etwas einseitig aus (Schnitzlers Frauen und Mädchen, S. 512f., 517). 61 Beide Texte kamen 1901 bei S. Fischer heraus; .Beatrice' war 1.12.1900 in Breslau uraufgeführt worden, ,Die Geschichte der jungen Renate Fuchs' war von Jänner bis Juli 1900 in Fortsetzungen in der .Neuen Deutschen Rundschau' erschienen. - Vgl. im folgenden Konstanze Fliedl: .Der von mir doch gewiß sehr geschätzte Autor'. Arthur Schnitzler als Kritiker. In: Studia austriaca. Hrsg. v. Fausto Cercigniani. Mailand: Edizioni dell'Arco 1992, S. 89-105, bes. S. 95-98. 62 Vgl. den Kommentar zum gemeinsamen Telegramm von Schnitzler, Beer-Hofmann und Wassermann an S. Fischer v. 13.8.1899 (F-BW 468,990). 63 Daß Beatrices Infantilität eine ¡nfantilisierung ist, weil ihr das Kindsein immer nur zugesprochen wird, haben ihre Interpreten meist nicht gesehen; Reik weist zum Beispiel auf ihre „kindliche Hemmungslosigkeit" hin (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 223). Unter Berufung auf Reik hält noch Heinz Politzer Beatrices Träume für psychologisch plausible „Wunschphantasien eines Teenagers aus der Renaissance" (Diagnose und Dichtung, S. 134). - Eine Ausnahme macht Vincent LoCicero, der früh darauf hinwies, daß Filippo und der Herzog mit Beatrices angeblicher Kindlichkeit nur die eigenen „erwachsenen" Realitätskonstrukte rationalisieren: „Not the child, but the adult plays in the world of Schnitzler" (Schnitzler, O'Neill, and Reality. In: JIASRA 4/3 (1965), S. 4-26, S. 11). 64 Jakob Wassermann: Die Geschichte der jungen Renate Fuchs (1900). Berlin: S. Fischer "1910, S. 172, 315, 480; vgl. S. 512 passim. 65 Manuskript des 3. Aktes, Nachlaß ULC, Mappe 83, S. 102. 66 Wassermann, Die Geschichte der jungen Renate Fuchs, S. 489, 504f. 67 Manuskript des 3. Aktes, Nachlaß ULC, Mappe 83, S. 77, 81. 68 Brief an Schnitzler v. 11.2.1900, Nachlaß DLA. 69 Paul Goldmann: Berliner Theater. ,Der Schleier der Beatrice' von Arthur Schnitzler. In: Neue Freie Presse v. 13.3.1903 (wiederabgedruckt in: Ders.: Aus dem dramatischen Irrgarten. Polemische Aufsätze über Berliner Theateraufführungen. Frankfurt: Rütten & Loening 1905, S. 109-124, Zitat S. 115). 70 Alfred Kern Rückblick. In: Die neue Rundschau 12 (1901), S. 434-438, S. 437f. 71 Georg Brandes: Jakob Wassermann. In: Ders.: Gestalten und Gedanken. Essays. München: Langen 1903, S. 25-30, S. 30 (vgl. auch den Brief an Schnitzler v. 16.6.1901 [GB-AS 89]). Brandes' Kritik war auf dänisch schon 1901 erschienen; Wassermann versprach Besserung, s. seinen Brief an Brandes v. 21.12.1901, in: Klaus Bohnen: .Zauber des Unbedingten' und .Gebändigtes Gefühl'. Zu Jakob Wassermanns literarischer Entwicklung in unveröffentlichten Briefen an Georg Brandes. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1980), S. 403-420, S. 411. 72 Schaukal nannte das Buch ein „Machwerk", „unglaublich geschmacklos, lächerlich ungeschickt, stillos"; Schnitzler fühlte sich zu „gerechterem Urtheil" aufgefordert (Briefe v. 2. und 20.5.1901. In: Richard Schaukal - Arthur Schnitzler: Briefwechsel (1900-1902). Hrsg. v. Reinhard Urbach. In: MAL 8 (1975), 3/4, S. 15-42, S. 22 und 32). 73 [Notiz aus dem Nachlaß, zit. nach:] Schaukal/Schnitzler, Briefwechsel, S. 17.
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74 Ulrike Weinhold hat diese Spielart der Weiblichkeitsimagination modellhaft an Schnitzlers Erzählung ,Die Fremde' (1902) dargestellt; es zeige sich die luzide Einsicht des Autors in die Brüchigkeit der traditionellen Subjekt-Logik (Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs, S. 115-122). - Allerdings hat eben nicht nur Schnitzler mit dieser neuen Frauendarstellung operiert; die Mystifikation des Weiblichen ist ein zeittypisches Phänomen, dessen Auftreten etwa mit den Daten von Wedekinds .Lulu'-Dramen, ,Der Erdgeist' (1895) und ,Die Büchse der Pandora' (1902), zusammenfällt. 75 Vgl. den bis heute weder über- noch eingeholten Essay von Brigitte Wartmann: Die Grammatik des Patriarchats. Zur .Natur' des Weiblichen in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Ästhetik und Kommunikation 13 (1982), H. 47 (Weibliche Produktivität), S. 12-32. 76 Als ikonographische Projektionsflächen tauchen in der Kunst bzw. in der Kunsttheorie des Fin de siècle die Sphinx und das rätselhafte Lächeln der Gioconda auf; vgl. dazu: Ortrud Gutjahr: Lulu als Prinzip. Verführte und Verführerin in der Literatur um 1900. In: Lulu, Lilith, Mona Lisa . . . Frauenbilder der Jahrhundertwende. Hrsg. v. Irmgard Roebling. Pfaffenweiler: Centaurus 1989 (= Frauen in Geschichte und Gesellschaft 14), S. 45-76, und Ursula Renner: Mona Lisa - Das „Rätsel Weib" als „Frauenphantom des Mannes" im Fin de Siècle, ebda., S. 139-156. 77 Die „andere Seite" des metaphorisch verrätselten Frauenbilds ist der dämonische Vamp, die „femme fatale", ein Kompositum ikonographischer, mythologischer und literarischer Zitate. Bei aller Enigmatik bringt diese Projektion ihr misogynes Motiv, die Sexualangst, in unverhüllter Deutlichkeit zum Vorschein. - Vgl. Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: Metzler 1990. 78 Vgl. dazu Alan Corkhill: Emancipation and Redemption in Jakob Wassermann's Novel Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. In: Seminar 22 (1986), S. 299-311. 79 Zu .Renate' als eine Art Forsetzungsroman vgl. Fritz Martini: Jakob Wassermann: Die Utopie eines Messias in der Moderne. Zu dem Roman Die Juden von Zirndorf. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter Müller-Seidel. Stuttgart: Kröner 1984, S. 461-484. Eine Interpretation des Romans als Entwicklungsgeschichte gibt Herbert Tiefenbacher: Textstrukturen des Entwicklungs- und Bildungsromans. Zur Handlungs- und Erzählstruktur ausgewählter Romane zwischen Naturalismus und Erstem Weltkrieg. Königstein: Forum Academicum/Athenäum 1982 (= Hochschulschriften Literaturwissenschaft 54), S. 103-119. 80 Wassermann selbst bezeichnete den Agathon des .Renate'-Romans als einen „Gott aus der Maschine" (Brief an Richard Dehmel v. 17.9.1906 [F-BW 842)). 81 Vgl. Kap. V.3, und im folgenden: Konstanze Fliedl: Gedächtniskunst. Erinnerung als Poetik bei Richard Beer-Hofmann. In: Richard Beer-Hofmann (1866-1945). Studien zu seinem Werk. Hrsg. v. Norbert Otto Eke u. Günter Helmes. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 116-127. 82 [Richard Beer-Hofmann:] Der Graf von Charolais [1923]. In: Polgar, Kleine Schriften, Bd. 5, S. 294-298, S. 294. 83 Telegramm vom 23.12.1904 (AS-RBH 171). 84 Karl Frenzel: Die Berliner Theater. In: Deutsche Rundschau 12/1 (1905), S. 296-309, S. 299; Alfred Kerr: Beer-Hofmann: Der Graf von Charolais. Bearbeitungen. Es gibt keine Tragik!
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Vergessen u n d Erinnern. Trivialliteratur u n d Kunst [1905] In: Ders.: Der Ewigkeitszug. Berlin: S. Fischer 1917 (= Gesammelte Schriften 1,2), S. 310-319, S. 317.-Lediglich Lou Andreas-Salomé fand Desirées Verhalten plausibel - sie unterstellte ihr das Motiv der freien Liebeswahl (Der Graf von Charolais. In: Die Zukunft 50 (1905), S. 286-293).
85 Das Ich und das Es [1923]. In: Sigmund Freud: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe III; Fischer-Tb Wissenschaft 7303), S. 273-330. 86 Anders sieht das Rolf Allerdissen, der an .Frau Beate und ihr Sohn' generell die Inauthentizität der maskenhaften Existenz erläutert; beide, sowohl Ferdinand als auch Beate, seien dem Zwang zum Komödiespielen ausgeliefert. Diese pauschale Deutung unterdrückt die Differenzierung von männlicher und weiblicher „Rolle", die Schnitzler sehr wohl vorgenommen hat (Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn: Bouvier 1985 (= Studien zur Literatur der Moderne 11), S. 253-257). 87 Vgl. Christina von Braun: NICHTICH. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt: Neue Kritik 1985. 88 Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 240.
4. Die Schule der Frauen Α. Damenlektüre und Frauenroman Die Frauenfiguren in Schnitzlers späterer Prosa sind Lesende. Allerdings halten sie sich an einen Lektürekanon, der den höheren Weihen literarischer Bildung kaum entspricht. ,Frau Berta Garlan' (1901) blättert „in einem Roman von Gerstäcker, den sie schon zehnmal gelesen" (E 1,442). Es ist intensives kompensatorisches Lesen, was Berta hier betreibt: Der Hinweis auf den Abenteuerschriftsteller verrät viel von ihrer Sehnsucht, aus der kleinbürgerlichen Enge des Provinzdaseins in eine imaginäre weite Welt zu flüchten - allerdings setzt sich dieses Wunschbild eben aus trivialen Klischees zusammen. 1 .Frau Beate' (1913), als Witwe des Schauspielers Ferdinand Heinold mit dem klassischen Bühnenrepertoire gut vertraut, hat hingegen ernsthafte Ambitionen, zu seriösen Gattungen zu wechseln: Sie [ . . . ] erzählte endlich, daß sie daheim während des Abendessens in einem französischen Memoirenwerk gelesen habe, das sie fabelhaft interessiere. Sie lese überhaupt nur mehr Lebenserinnerungen und Briefe großer Männer; an Romanen und dergleichen fände sie keinen Gefallen mehr. (E 11,77)
Leider lügt Beate, denn denn mit der Lektüre der französischen Denkwürdigkeiten2 hatte sie gerade erst begonnen, dazu „nicht recht bei der Sache, unruhig und müde zugleich"; bei einem zweiten Versuch hatte sie sich „noch weniger gefesselt" gefühlt (E 11,66,76). Schnitzler läßt seine Heldin ein Interesse fingieren, das in Wirklichkeit sein eigenes war; seinen Lektürenotizen zufolge zog er autobiographische Schriften der Belletristik tatsächlich zunehmend vor.3 Was ihn selbst an diesen Werken faszinierte, waren die Textkonstrukte für die Kontinuität des gelebten Lebens, die brieflich-dialogisch oder aus der Perspektive eines erinnernden Ich entstehen. Daher rangieren dergleichen „Gebrauchstexte" hoch oben in seiner literarischen Hierarchie. Wenn sein Erzähler Frau Beate als Schwindlerin entlarvt, ist damit angedeutet, daß Beate dieser Kontinuität lesend nicht gewachsen ist - und sie auch selbst nicht erreicht. .Therese' (1928) schlägt denn auch wieder einen Hackländerschen Roman auf,4 fühlt sich von einem Kriminalroman „vollkommen gefangen", abonniert sich in einer Leihbibliothek und entlehnt wahllos, „immer gespannt und oft ganz versunken in eine phantastisch-triviale Welt" (E 11,664,690,707). Das Faible fürs Triviale scheint in den Lebensgeschichten dieser Frauen durchzuschlagen;
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was sie erleben, bleibt so sterotyp, daß man es für eine „Romanphrase" halten könnte (E 1,485). In der Forschung fallen daher immer wieder Bemerkungen über die Banalität dieser Lebensläufe; zu .Berta Garlan' hieß es: „Der Plot ist denkbar einfach und ohne weiteres auch als der einer Trivialstory denkbar", oder: „Der Vorgang ist von einer fast schon provozierenden Trivialität". 5 Der ,Frau Beate' haben schon die Zeitgenossen den sentimentalen Schluß und den „wertlosen" Stoff vorgeworfen. 6 Auch das Schicksal der .Therese' gilt als „recht banale Angelegenheit": „Les événements qui surviennent, les sentiments de l'héroïne sont rendus ou relatés de la façon la plus banale". 7 Selbst wenn die Interpreten umgehend klarstellen, daß es Schnitzler ohnehin nicht auf ein sensationsträchtiges Geschehen angekommen ist, deuten diese Befunde doch an, in welch prekäre Nähe zum zeitgenössischen „Frauenroman" Schnitzler gerät; schon das Sujet einer weiblichen Biographie steht unter Trivialitätsverdacht. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich ein sekundärer literarischer Bereich als weibliche Domäne des Kulturlebens etabliert. 8 Die literarische Sozialisation der Mädchen sieht dabei nicht nur Lesestoffe ad usum delphini vor, sondern auch ein Surrogat für den Bildungsroman, der als klassisches Genre ja nur die Entwicklung eines männlichen Subjekts verhandelt. Die entsprechende Anpassung der jungen Leserin an die vorgeschriebene Ehefrau- und Mutterrolle wird durch zahllose Identifikationstexte betrieben, die für die fehlende Bildungsgeschichte eine Reihe von Liebesverwicklungen einsetzen, welche das unvermeidliche happy end eine Weile hinausschieben. Als verlockende Gratifikation für die Heldin ist natürlich mit der Heirat ein sozialer Aufstieg verbunden. Dieses Aschenputtel-Modell übersteht alle Modifikationen, die mit den liberalen und frauenrechtlerischen Bemühungen um eine adäquate Mädchenerziehung immerhin erforderlich werden; 9 es überlebt sogar den sprunghaften Anstieg der weiblichen Berufstätigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der „Frauen"- oder „Liebesroman", der solchermaßen stereotype Erwartungen bedient, ist auf doppelte Weise fatal: Einerseits verewigt er die „natürlichen" Geschlechtsunterschiede, fixiert den Mann auf den (meist intellektuellen) Beruf und die Frau auf seelenvolle Hingabe, wobei die weibliche Reproduktionsarbeit bezeichnenderweise nicht vorkommt, und gerät dadurch zur raffinierten Domestikationsparabel, 10 die noch das eiskalte Kalkül des bürgerlichen Ehehandels in die Addition von Liebe und Luxus umrechnet. 11 Zugleich bleibt er natürlich aus dem literarischen Kanon ausgegrenzt und wird als der triviale
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Schund verachtet, der er ja auch ist. Die Diskurse zur Gattung - und zu ihrem weiblichen Subjekt ähneln sich interessanterweise zum Verwechseln: Im ganzen 19. Jahrhundert war die Polarisierung der Geschlechtscharaktere parallel zur Dichotomisierung von „hoher" und „niederer" Literatur verlaufen. Die verschärft misogynen Polemiken der Jahrhundertwende finden dann noch ein verspätetes Echo, als nämlich die Kulturpublizistik in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine hektische Abgrenzung von Kunst und Kitsch vornimmt. Dieselben moralischen Verurteilungen, die sich fünfzig Jahre zuvor das „Weib" zuzog, treffen in dieser Debatte das Triviale. Eine Synopse der zentralen Argumente gerät zum verblüffenden déjà vu:12 [Die Weiber] sind streng konservativ und hassen das Neue
-
Diese Trivialliteratur ist formal und ethisch meist höchst konservativ
Das Weib ist verlogen
-
eine kitschige Dichtung [ist] unwahr, verlogen
Für das absolute Weib gibt es kein Principium identitatis
[ . . . ] weil der Kitsch eine eigene Idenität nicht besitzt
Das Weib ist die Schuld des Mannes 13
Der Kitsch ist das Böse im Wertsystem der Kunst 14
Die Analogie der Werturteile deutet auf die Zählebigkeit der Ausgrenzungsstrategien hin, die jegliche Kulturleistung als männliche Domäne reklamieren. In der Kritik am Frauenroman konvergiert die Verachtung der trivialen Gattung und der Produzentin bzw. Rezipientin. Literatur von/über/für Frauen ist a priori Afterkunst. Ein perfider Zirkel der Geringschätzung setzt sich in Gang: Das weibliche Publikum wird von der Hochkultur ausgeschlossen und mit einem zweitklassigen Lektürekanon versorgt, der jenen schlechten Kunstgeschmack erst herstellt, für den das „Weib" dann so gerügt wird, als wäre er ihm angeboren. Die Leserinnen werden zweifach diskriminiert, einmal literaturkritisch, als Konsumentinnen einer bornierten Pseudokunst, dann aber nochmals literarisch, durch das reaktionäre Rollenangebot im Text. Dabei sind die Vorwürfe gegenüber dem Genre berechtigt: Seine Funktion und das Geheimnis seines Erfolges besteht ausschließlich in der restlosen Erfüllung einer Lesererwartung, die ihre Träume vom „Glanz dahinter" an das endlos wiederkehrende Schema geknüpft hat. 15 Damit läuft der „Frauenroman" auf das hinaus, was sich die Trivialliteratur generell angelegen
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sein läßt: die Vernichtung des Lesegedächtnisses. Der Satz: „Wer einen kennt, kennt alle", ist geradezu die Bedingung seiner Möglichkeit, - „eine Geschichte, die sie glaubte schon hundertmal gelesen zu haben", wie es in .Therese' heißt (Ε II, 742). Die Besonderheiten eines jeden individuellen Exemplars der Gattung werden im Rezeptionsprozeß getilgt, zugunsten des leeren Handlungsmodells. Der immense Romanumsatz einer Hedwig CourthsMahler etwa beruht nur darauf, daß der jeweils letzte Bestseller schon vergessen ist, wenn der nächste erscheint. 16 Im Interesse des Marktes wird hier pausenlos Vergeßlichkeit produziert. Daß man Schnitzlers Erzählungen in die Nähe der inflationären Frauenromane stellt, beweist einen automatisierten Leserreflex, der eben meint, schon zu kennen, was er noch gar nicht gelesen hat. Denn Schnitzler zeigt einmal, was das Klischee in den Köpfen seiner Heldinnen anrichtet. Wie Flauberts .Madame Bovary', deren literarisches Echo sie ist, 17 orientiert sich .Berta Garlan' mit ihren Glücksvorstellungen an den Versatzstücken einer scheinheiligen Romantik. Gerade ihre Aschenputtel-Situation - „Er, der große Künstler, und sie, eine arme Witwe mit einem Kind . . ." (E 1,446) - löst eine Flut von Wunschphantasien aus, die dem Genre entliehen sind. Zwar erwägt Berta auch die tragische Variante: „Sie fährt nur nach Wien, um seine Geliebte zu werden und nachher, wenn's sein muß, zu sterben" (E 1,446); im Grunde interessiert sie aber doch die obligate, kleinbürgerlichspießige Schlußfassung: Und später würde er sie ja doch heiraten . . . . ganz gewiß. Sie war auch eine so vortreffliche Hausfrau . . . . Und wie wohl mußte ihm das tun, nach soviel ungeordneten Wanderjahren in einem wohlbestellten Hauswesen zu leben, ein braves Weib an seiner Seite, das nie einen anderen geliebt hat als ihn. (E 1,492)
Selbst,Beate' ist immerhin noch anfällig für die rudimentären Glücksversprechen des Genres, obwohl sie sehr gut zwischen der imaginären Belohnung, die auf eine literarische Heldin wartet, und der Realität einer Ehe unterscheiden kann: [ . . . ] und doch schien es ihr, daß sie [ . . . ] sich eher als die Gattin des Direktors denken könnte, ja sie mußte sich gestehen, daß diese Vorstellung eines gewissen Reizes für sie nicht entbehrte. Heute war ihr sogar, als hätte dieser Mann sie seit jeher interessiert [ . . . ] . Wahrhaftig, dachte sie weiter, es wäre so übel nicht, eines Tages dort oben einzuziehen, in die fürstliche Villa mit dem großen Park. Welcher Reichtum, welcher Glanz! (E II,93f.)
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In .Therese' sind solche Aussichten von vornherein Fiktion, verlegt in die „abgeschmackten Geschichten" (vgl. E 11,650) ihrer Mutter. Die alternde Schriftstellerin konserviert damit Erinnerungen an ihre Jugend, als sie „auf dem elterlichen Gut in Slavonien als kleine Baronesse in einem urwalddichten eigenen Park auf feurigem Pony umhergesprengt war" (E 11,629). Die Heldin ihres ersten Romans kann gar nicht anders sein als „engelrein und blond, eine wahre Märchenprinzessin" (E 11,650). Von solcher Märchenhaftigkeit bleibt nur mehr ein ironisches Zitat, wenn Therese später von ihrem windigen Liebhaber „Prinzessin" genannt wird (E II, 677f., 680, 870). Denn Schnitzler hat die Viten seiner Frauenfiguren als Kontrafakturen des trivialen Aschenputtel-Schemas angelegt.18 Thereses sozialer Abstieg verläuft in zynischem Kontrast zum Wunscherfüllungsmodell des Liebesromans; dessen Schicksalsautomatik, die alles zum Besten wendet, wird umgekehrt. Als Therese einmal schließlich doch geheiratet werden soll, travestiert der Roman sarkastisch die Brautprüfungsszenen aus dem .Aschenputtel': Man schenkt Therese einen Frühjahrsmantel - er paßt „wie nach Maß gemacht" - und Handschuhe: „Sechsdreiviertel, die Nummer stimmt doch?" (E 11,820) Aber der gute Zufall des Märchens schlägt um, der Bräutigam, ein auf den alternden Fabrikanten reduzierter Prinz, stirbt unmittelbar vor der Hochzeit. Auch Berta und Beate haben ihre Wunschvorstellungen einer bitteren Realitätsprüfung auszusetzen.19 Schnitzler unternimmt in diesen Erzählungen nicht nur die Kritik am beschränkten Bewußtsein seiner Figuren, sondern er hält auch unmißverständlich fest, aus welchen literarischen Quellen sich ihre klischeehaften Vorstellungen und Selbstbilder speisen. Von dem Hintergrund des trivialen Frauenromans hebt er seine Schilderungen ab, und er schreibt damit gegen ein Genre an, das die reale Geschichte der Frauen immerfort annulliert, um sie als Märchen neu zu erfinden. Schnitzlers Erzählungen richten sich nicht nur gegen die Vergeßlichkeit seiner Heldinnen, sondern gegen die Vergeßlichkeit einer literarischen Gattung.
B. Das Einsetzen der Erinnerung. Drei Fallgeschichten Wie ich mich erinnre. Anders. (Ingeborg Bachmann, Todesarten)
a. Berta G. Um sich selbst als romantische oder romanhafte Liebende und Geliebte sehen zu können, muß Berta Garlan ihre eigene Lebensgeschichte dem romanhaften Schema anpassen. Deshalb wird es nötig, ihre Erinnerungen
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schlicht zu fälschen. Auftauchende sexuelle Wünsche kaschiert sie mit der Erdichtung eines Liebesromans. 20 Schnitzler läßt im Bewußtsein seiner Figur drei Erinnerungsprozesse ablaufen, die Bertas Selbsttäuschung sukzessive illustrieren. Eingangs sieht Berta auf die bisherigen Epochen ihres Lebens zurück (E 1,391-395). Sie denkt an ihre musikalischen Studien am Wiener Konservatorium, deren Fortsetzung der Vater in einer philiströsen Aufwallung verboten hatte; an ein untätiges Intervall, in dem sie verschiedene Bewerber um ihre Hand abwies, und an die Vernunftehe mit dem Provinzbeamten Garlan, zu der sie sich nach dem Tod der Eltern entschloß. In die Konservatoriumszeit fällt die Beziehung zu einem noch anonymen „jungen Violinspieler"; ausdrücklich heißt es, daß sie später „wegen jener längstvergangenen aussichtslosen Geschichte", „die sie selbst zu vergessen anfing", von ihren Eltern Vorwürfe zu hören bekam (E I,392f.). Ganz anders akzentuiert ist die zweite Erinnerungssequenz, die nun deutlich von Bertas erotischen Bedürfnissen eingefärbt wird (E 1,417-421). Zu dieser zweiten Retrospektive kommt es während Bertas erster Wienreise, die ja bereits unterschwellig als Abenteuer geplant war. 21 Jetzt fällt Berta der betreffende Antrag des Geigers ein, der mittlerweile als berühmt gewordener Virtuose Emil Lindbach identifiziert ist - allerdings: „des Wortlauts entsann sie sich nicht mehr". Auch seine Adresse hat sie vergessen: „Sonderbar, wie gänzlich ihr das entfallen war!" (E 1,419) Lückenhaft bleibt auch die Erinnerung an die Liebesgespräche mit Emil, „an deren Ton sie sich so gut und an deren eigentlichen Inhalt sie sich gar nicht mehr erinnerte" (E 1,420). Gerade weil ihr Gedächtnis so unzuverlässig ist, kann die vergangene Beziehung mit emotionalem Mehrwert aufgeladen werden: „Wie lieb hatte sie ihn doch gehabt [ . . . ]!" (E 1,419). Trotzdem behält Berta einen Rest realitätsgerechter, vernünftiger Skepsis: „es schien ihr fast unmöglich, daß er sich noch ihrer Existenz erinnern könnte" (E 1,420). Emils Biographie imaginiert Berta dann aber ungezügelt als ein Abenteuerpotpourri, in das „wirre Erinnerungen aus gelesenen Romanen" hineinspielen, Projektionen eigener Wünsche, für die sie keine anderen inneren Bilder hat als die abgegriffensten Kulissen des internationalen Kitsches: Sie dachte sich ihn in Venedig, in einer Gondel mit einer russischen Fürstin, dann wieder sah sie ihn am Hofe des bayrischen Königs, wo Herzoginnen seinem Spiel lauschten und sich in ihn verliebten, dann erschien er ihr im Boudoir einer Opernsängerin, dann auf einem Maskenball in Spanien, von verführerischen Masken umschwärmt. (E I,420f.)
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Wenig später hilft Berta ihrem Gedächtnis auf die Sprünge (E 1,425-429), durch eine Relektüre von Emils Briefen. Von Schnitzlers .Episode' bis zum ,Gang zum Weiher' spielen Briefe als Devotionalien der Erinnerung eine Rolle, und von ihrer sicheren Verwahrung wird viel Aufhebens gemacht - Berta hat die ihren auf dem Dachboden verstaut, mit anderen Souvenirs von verschiedenen Verehrern, die ihr jetzt wieder einfallen: „wie in ein Staunen versank sie, daß alle diese Erinnerungen so lang in der alten Reisetasche und in ihrer Seele geschlafen hatten" (E 1,426). Mit Hilfe von Emils Briefen kann Berta jetzt auch die letzte Begegnung und Emils „kühnes Wort" rekonstruieren, das schon vergessen war (vgl. E 1,428). Und schon erinnert sie sich des zuvor anonymen Geigers als „des einzigen, den sie geliebt hatte" (E 1,427). Der Leser ist gewarnt genug, um Bertas Gedächtnis nicht mehr zu trauen. Wenn Berta gleich darauf Kontakt mit Emil aufnimmt, mit ihm in seiner Absteige landet und bis zu seiner deutlichen Abfuhr immer noch ihre Liebesillusion vorschiebt, so kann kein Zweifel mehr daran bestehen, welchen Zweck diese Gedächtnismanöver gehabt haben. Aber Berta lernt ihre herbe Lektion. Schon auf der ersten Wienreise war Berta der Kinderwunsch eingefallen, den Emil in ihr geweckt hatte; auch diese Erfahrung kann nur mit der allerbanalsten Wendung ausgedrückt werden, nämlich „daß sie in jenem einzigen Momente verstanden hatte, was die Phrase besagen wollte, die sie zuweilen in Romanen gelesen: ,er hätte aus ihr machen können, was er wollte'" (E 1,417f.). Am Totenbett der bewunderten Anna Rupius, die an den Folgen einer Abtreibung stirbt, taucht diese Erinnerung wieder in Berta auf (E 1,512). Auch für sie selbst wäre eine Schwangerschaft jetzt keine Wunscherfüllung, sondern die katastrophale Konsequenz des Leichtsinns. Diese traurige Realitätskontrolle korrigiert Bertas Gedächtnis und macht sie fähig, ihr „Schicksal" noch einmal umzudeuten; sie hat dadurch, wie es heißt, „ganz verstehen" gelernt (E 1,513). In einer überaus konzisen Analyse der Novelle hat Horst Thomé Bertas psychische Manipulationen auf die Grundannahmen von Schnitzlers Psychologie bezogen. Berta demonstriert die Arbeit am „Mittelbewußtsein", jenem psychischen Bereich, dessen Inhalte laut Schnitzler „ununterbrochen zur Verfügung" stehen, das heißt, dem Zugriff des Bewußtseins prinzipiell ausgesetzt sind - es sei denn, es treten Störungen ein, welche ihrerseits von verdrängten Strebungen verursacht sein können. Schnitzler bleibt aber dabei, daß eine zutreffende Exploration des Mittelbewußtseins grundsätzlich möglich und der Verantwortung des Subjekts aufgegeben ist. Da Berta aber immerfort bestrebt ist, „den verpönten sexuellen Impuls in
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einen Liebeswunsch" umzufälschen, erscheinen ihre Legitimationsanstrengungen als „Prozeß der .Schiefheilung'".22 Auch nachdem Berta mit Emils aktuellem Verhalten konfrontiert ist, bedient sie sich verschiedener „Abwehroperationen", um die Liebesenttäuschung nicht zugeben zu müssen. Daher zerfällt ihr Denken in dissoziierte Vorstellungskomplexe, Einsicht und Illusion lösen sich beliebig ab.23 Erst am Ende gelangt Berta zu einer Synthese von Erinnerung und Realitätswahrnehmung, zu einem bewußten „Erkenntnisakt".24 An Thomés Interpretation läßt sich die Frage anknüpfen, wie Schnitzler Bertas Gedächtnisarbeit konturiert. Denn wenn die Erinnerung ein ethischer Auftrag ist, muß das Subjekt ja entsprechende Strategien entwickeln können, um in das „Mittelbewußtsein" einzudringen. Hier zeigt sich allerdings, daß Bertas Erinnerungen zum großen Teil von zufälligen Anstößen abhängig sind, mémoires involontaires, die nur dann willkommen sind, wenn sie sich in Bertas Wunschkonstruktionen integrieren lassen. An Emil Lindbachs Namen erinnert eine Zeitungsmeldung (E 1,399), an seine Zärtlichkeiten eine Liebkosung des Neffen (E 1,404) oder die Schwangerschaft der Cousine (E 1,417). Daß all diese Gedächtnisinhalte nur auftauchen, wenn sie der Camouflage von Bertas Triebwünschen zupaß kommen, läßt sich an einem sehr versteckten Indiz ablesen. Tatsächlich hat Berta noch vor dem ersten Lebensrückblick eine Photographie Lindbachs in einer illustrierten Zeitung gesehen und wohl auch besprochen: „Die Schwägerin hatte gefunden, er sehe aus wie ein polnischer Graf" (E 1,400). Dieser Anlaß, sich der Jugendliebe zu erinnern, scheint aber noch völlig ungenützt vorübergegangen zu sein. Will Berta bewußt bestimmte Gedächtnisinhalte abrufen, gelingt es ihr nie (E I, 419f.). Der Fall Berta G. ist daher noch keine Selbstanalyse. Berta betreibt nur ein Zweckerinnern im Dienst des psychischen Spannungsausgleichs. An Berta hat Schnitzler einen Erinnerungsmechanismus vorgeführt, der auf sprunghafte Assoziationen angewiesen ist. Was aus Bertas Mittelbewußtsein gehoben wird, vertritt immer noch das „Wichtige", ihr sexuelles Verlangen, und bleibt lediglich „Deckerinnerung".25 Ihre bittere Erkenntnis am Ende ist nicht das Resultat konsequenter Gedächtnisarbeit, sondern eine schockartige Einsicht, die nur um den Preis von Annas Tod zu haben ist. Das Frauenopfer, um das Berta eben noch herumkommt, fordert die Erzähllogik dann doch stellvertretend ein. Was Berta also verstanden oder „geahnt" hat, ist deshalb ein höchst ambivalenter Satz, der zwischen Erzähler- und Figurenperspektive ebenso gleitet wie zwischen Anpassung und Widerstand:
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Und sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward, als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist. (E 1,513)
b. Beate H. Auch Frau Beate ist gezwungen, sich „anders" zu erinnern. Die Witwe des Schauspielers Ferdinand Heinold verfügt zu Beginn der Novelle über einen Gedächtnisschatz an idyllischem Ehe- und Familienglück. In der Sommerfrische, „wo die Erinnerung an den vor fünf Jahren hingeschiedenen Gatten stets mit besonderer Lebendigkeit in ihr wach wurde" (E 11,42), vergegenwärtigt sie sich die liebevollen Zärtlichkeiten und die mütterliche Vertrautheit, die sie mit Mann und Sohn verbanden. Die Vorgeschichte ihrer Hochzeit enthält auch noch den heroischen Akt, den der „Liebesroman" der tugendhaften Heldin abfordert, nämlich die Auseinandersetzung mit einer erotisch erfahrenen Gegenspielerin: Und sie erinnerte sich, wie sie sich Ferdinand, nicht nur gegen den Willen ihrer Eltern, deren frommer Bürgersinn den leisen Schauder vor dem Komödianten auch nach vollzogener Heirat nie ganz verwinden konnte, sondern auch gegen einen viel bedenklicheren Feind zu erobern verstanden hatte. (E 11,46)
Der „Feind" war eine reiche und alternde Geliebte, von der sie nicht ohne theatralischen Effekt die Lösung des Verhältnisses gefordert hatte; da Ferdinand später diese Geschichte „mit heiterem Stolz" erzählt (E 11,47), wird der Leser auch an einen anderen Ferdinand denken dürfen, und an die Szene zwischen Luise Miller und Lady Milford, die seinetwegen ausgefochten wird. Anders als in Schillers bürgerlichem Trauerspiel endet die Konfrontation der Rivalinnen mit dem happy end, an das sich Beate vorläufig erinnert. Aber schon wenig später gerät ihr Gedächtnis in eine Krise. Das erste typische Symptom ist die Verwirrung des Zeitgefühls. „Eben erst" hatte Beate im Haus der Baronin Fortunata den dramatischen Auftritt von damals wiederholt, um ihren Sohn Hugo vor einer Liebesintrige zu schützen. „Eben erst? [ . . . ] Wie viele Stunden oder Tage lang war sie von dort bis hierher gegangen!" (E 11,62) Schnitzler hat diese „impressionistische" Erfahrung vielen seiner Figuren mitgegeben; 26 immer wieder entgleitet ihnen die chronologische Zeit. 27 Auch Berta hatte diese „Regellosigkeit der Stunden" erlebt: „Wie ging das nur zu, daß ihr die Zeit so auseinanderrann?"
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(E 1,442,396) Noch Therese erinnert sich vergangener Jahre so undeutlich, daß „immer ein Frühjahr ins andere, Sommer in Sommer, Herbst in Herbst, Winter in Winter gleichsam zusammenflössen" (E 11,722). Bei Beate steigert sich diese Unfähigkeit, tumultuose Erinnerungen zeitlich zu ordnen: „Ein Abend kommt ihr ins Gedächtnis - war es vor drei, vor acht Tagen? - sie weiß es nicht, die Zeit dehnt sich, verkürzt sich, die Stunden schwimmen ineinander und bedeuten nichts mehr" (E II,90f.). Im Rinnen, Fließen und Verschwimmen der Zeit gerät das Koordinatensystem von Welt- und IchErfahrung bedrohlich aus den Fugen. Als zweites Symptom stellt sich daher auch gleich ein abrupter Bruch mit der Vergangenheit ein. Die Zeitkontinuität verwirrt sich nicht nur, sie löst sich gleichsam auf, und damit geht der Zusammenhang mit der Geschichte des eigenen Ich verloren. Beate fühlt, „daß sie nicht dieselbe ist, die sie war" (E 11,91). Auch diese Empfindung teilt sie mit Berta und Therese; beiden kommt die lebensgeschichtliche Identität abhanden. Berta sind ihre eigenen vergangenen Gefühle „so fremd, daß ihr war, als hätte ihr einmal eine ihrer Freundinnen davon erzählt" (E 1,395). Bei Therese geht diese Ich-Spaltung so weit, „daß ihr ganzes Leben, die Vergangenheit bis zum heutigen Tage, ihr so fern und fremd erschien, als wenn es gar nicht die ihre wäre" (E II,699). 2 8 Diese Entfremdung tritt ein, weil das biographische Kontinuum in kontingente und heterogene Erinnerungen zerfällt. Was Beate einbüßt, ist ihre Gedächtnistreue - in doppeltem Sinn. Ihr Selbstbild als tadellose Witwe war nämlich gleichsam von einer akustischen Erinnerung untermalt: „Ruhig, ohne Anfechtung wandelte sie durchs Dasein, in unbeirrter Treue jenes Einzigen denkend, dessen Stimme ihr heute noch, in der Erinnerung, hallender über die Höhe klang, als alle Stimmen Lebendiger zu klingen [ . . . ] vermochten" (E 11,72). Ein demonstrativer Unterton ist in dieser Passage nicht zu überhören; Beate hat an dieser Stelle nämlich schon die ersten Erinnerungstäuschungen hinter sich. Eine Almwiese, die sie zuletzt vor zehn Jahren mit Ferdinand betreten hatte, erkennt sie kaum wieder, „so völlig anders, weiterhingestreckt und leuchtender, hatte sie sie in der Erinnerung bewahrt" (E II,68). 2 9 Und nun beginnt sie auch das Gedächtnis zu narren, was die Stimme des „Einzigen" betrifft. Nachdem Beate sich in ein Verhältnis mit Fritz, dem Freund ihres Sohnes, eingelassen hat, klingt diese Stimme auf einmal „unbegreiflich verändert": Sie schwang nicht mehr in dem edeln Hall, der ihr noch in der Erinnerung herrlicher tönte als die Stimme aller Lebendigen; sie klang leer, affektiert und falsch. (E II, 85)
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Und als sich Beate später „der wahren Stimme ihres Gatten erinnern wollte, gelang es ihr nicht" (E 11,87). Das Bild Ferdinands verzerrt sich; der geliebte Heldendarsteller entpuppt sich als „geckischer Komödiant" (E 11,85). Wie Berta interpretiert Beate ihre Vergangenheit plötzlich um; aus der Idylle wird eine Beziehungshölle: [ . . . ] und Erinnerungen wachten in ihr auf, die, harmlos oder gar heiter bisher, sich mit neuen, höhnischen Gebärden vor ihre Seele drängten. Und statt der Einen, auf die ihr Verdacht gelenkt worden war, zog eine ganze Reihe von Frauen an ihr vorüber, die, zum Teil bis auf die Gesichtszüge vergessen, vielleicht alle, wie sie mit einem Male denken mußte, Ferdinands Geliebte gewesen waren [ . . . ] . (E 11,84)
Gedächtnisinhalte, die bislang verdrängt waren, um das harmonische Erinnerungszenario von der heilen Familie nicht zu gefährden, verselbständigen sich zu heillosen Szenen einer Ehe. Wenn sich Berta ihre Erinnerungen passend zu einer Liebesillusion zurechtfälscht, dann räumt Beate anscheinend radikal mit einer Gedächtnis- und Lebenslüge auf. Die Interpreten der Novelle haben sich mit dieser Aufdeckung nicht zufriedengegeben, sondern das Verdrängte hinter dem manifesten Text aufgespürt. Seit Theodor Reiks erster Untersuchung (1913) gilt ,Frau Beate und ihr Sohn' als Inzestfall. 30 Im Hinblick auf Schnitzlers nachgelassenes Manuskript wirkt der analytische Aufwand allerdings etwas übertrieben; die erste Fassung machte aus dem Liebestod keinerlei Geheimnis. 31 Im Entschlüsselungseifer wurde leicht übersehen, woran sich Beate selbst erinnert. Gesteht man hingegen der Figur die tiefenpsychologische Einsicht zu, die von den Analytikern des Textes reklamiert wird, dann könnte man Beates Geschichte als schmerzhaften Prozeß der Selbsterkenntnis deuten. Indem Beate ihre bislang zurechtstilisierte Vergangenheit authentisch rekonstruiert, kann sie sich auch das sexuelle Verlangen zugeben, dessen wahres Objekt der Sohn ist. Einer solchen geradlinigen Lektüre setzt Schnitzlers Erzählung allerdings auch einigen Widerstand entgegen. Der zweite, subversive Erinnerungsvorgang bleibt nämlich so ambivalent wie das ursprüngliche fromme Gedächtnisritual. Ob Ferdinand wirklich ein so skrupelloser Ehebrecher war, wie Beate nun annimmt, wird vom Erzähler weder bestätigt noch widerlegt; der Leser ist lediglich auf die Figurenperspektive angewiesen. Weil Beate sich erst „anders" erinnert, nachdem eine heimliche Affaire ihr Gewissen belastet, könnte die Umdeutung der Ehegeschichte sehr wohl auch eine Zweckerinnerung sein, die Beates eigenen posthumen Ehebruch apo-
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logetisch relativiert. Dafür spricht die eigenartige „Verzerrung" der neuen Erinnerungsbilder. Denn den Anlaß für Beates Gedächtnisrevision geben zwei Auslöser, ein optischer und ein akustischer, beides Verdopplungen und trügerische Spiegelungen. Der eine ist das „lebensgroße Brustbild" Ferdinands über Beates Bett: In der ersten Zeit nach Ferdinands Tod hatte dieses Bild für Beate ein seltsam eigenes Leben weitergeführt. Sie hatte es lächeln oder trübe blicken, heiter oder schwermütig gesehen; ja manchmal war ihr gewesen, als spräche aus den gemalten Zügen in geheimnisvoller Weise Gleichgültigkeit oder Verzweiflung über den eigenen Tod. Im Lauf der Jahre war es freilich stumm und verschlossen worden; blieb eine gemalte Leinwand und nicht mehr. (E 11,84)
Dieses Porträt betrachtet Beate jetzt nicht mehr direkt und gleichsam Auge in Auge, sondern sie liegt auf dem Bett, und ihr Ankleidespiegel wirft ihr einen verschwommenen und unscharfen Reflex des Gemäldes zu. Das Bild des „geckischen Komödianten", das plötzlich auftaucht, ist also gebrochen durch einen narzißtischen Effekt; es ist gedeutete Wahrnehmung im Auge der Betrachterin. Der zweite Erinnungsreiz wird ebenfalls durch ein fragwürdiges Medium entstellt. „Spiegel" ist ein junger Mann, Rudi Beratoner, ein Freund von Hugo und Fritz, der sich unter den Kameraden mit seinen Schauspielerimitationen eine zweifelhafte Berühmtheit erworben hat. Beate läßt es zu, daß dieser respektlose Lümmel ihren verstorbenen Mann in seinen Rollen kopiert - mit geschlossenen Augen hört sie den gespenstischen „Abglanz" seines Vortrags. Deswegen pervertiert sich Beates lebendigste Erinnerung, und sie ist nicht mehr imstande, Ferdinands „wahre Stimme" zurückzurufen (E II,86f.). Die Impulse von Beates Gedächtnisrevision, Bild und Ton, sind daher keine echten Mementi, sondern künstliche Konserven, Surrogate, Pseudodokumente; in dieser kleinen Münze wird auch die zweite Erinnerung gefälscht. Der Ausverkauf intimer Erinnerungen fällt böse auf Beate zurück. Als sie sich an Beratoners pietätlose Inszenierung erinnert, wird es Beate klar, sich an Ferdinands Andenken versündigt zu haben (E 11,87), ein Verrat, der sich an ihr sofort verdoppelt: Sie hört ein zweites Mal, diesmal heimlich, Beratoners Stimme, im Dialog mit Fritz, der Einzelheiten ihres Verhältnisses ausplaudert (E 11,97-100). Erst dieser Schock führt die Katastrophe herbei. Beates Hoffnung, sie könne „wieder werden sie sie war" und ihr Abenteuer hinter sich lassen wie „einen bald vergessenen Traum" (E 11,92), bleibt illusionär. Die Reise nach Italien, die für Beate und Hugo als rettende Am-
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nesie geplant war - „Aber wenn du so vieles Schöne und Neue siehst, so wirst du vergessen. Sehr schnell wirst du vergessen" (Ε II, 89) - , wird nicht mehr angetreten. Denn jetzt ist Beate einem gnadenlosen öffentlichen Gedächtnis ausgeliefert: „Nie wird jene Stunde ungewesen sein [ . . . ]; - noch in zehn, in zwanzig, in fünfzig Jahren, als uralter Mann wird sich Rudi Beratoner der Stunde erinnern" (E 11,102). In die Kontrolle des eigenen Gedächtnisses, die Beate schon gelungen war, mischt sich eine Außeninstanz ein, und diese Erfahrung ist psychisch nicht mehr integrierbar. Für Beate und Hugo gibt es am Ende nur mehr den Ausweg des Suizids, der alle Erinnerungen löscht. c. Therese F. Am unauffälligsten und konsequentesten absolviert die Gouvernante Therese Fabiani ihre Gedächtnislektion. Ihr gelingt ein Erinnern gegen alle Wahrscheinlichkeit, ein freiwilliges Aufdecken verborgener Regungen mit allen bitteren Konsequenzen für das Ego. .Therese' ist Schnitzlers Modell einer nichtfreudianischen Psychoanalyse ohne Therapeuten. Seine Skepsis gegenüber der quasi unschuldigen Verdrängung und seine Forderung, die Inhalte des „Mittelbewußtseins" ohne Zimperlichkeit selbst freizulegen, hat er hier behutsam ins Literarische übertragen. Daß der Roman eine Psychoanalysekritik liefert, hat die Forschung bislang übersehen, weil der späte Roman immer wieder auf seine frühe novellistische Vorstufe ,Der Sohn' (1892) zurückgeführt worden ist. 32 Diese Erzählung geht der Frage nach, ob prä- und postnatale Erlebnisse als determinierende psychische Faktoren aufzufassen sind. Ein unehelicher Sohn entwickelt sich zum schlimmen Tunichtgut und wird am Ende zum Räuber und Muttermörder. Die Sterbende verteidigt ihr Kind, weil sie sich selbst in höherem Sinn schuldig fühlt: Sie hatte es nach seiner Geburt zu ersticken versucht. Daß sie ein völlig klares Bewußtsein ihrer Tat hat - „ich erinnere mich allzu deutlich jener Nacht" (E I, 96) - , wurde dabei nicht als Merkwürdigkeit registriert, weil der Akzent des Textes auf der Spekulation über die prägende Macht frühkindlicher Erinnerungen liegt. Die Erzählerperspektive verstärkt dieses Interesse; der Bericht stammt, in Ich-Form, von dem Arzt, dem sich die Mutter anvertraut hat: Bleiben uns selbst von den ersten Spuren unseres Daseins verwischte Erinnerungen zurück, die wir nicht mehr deuten können und die doch nicht spurlos verschwinden? [ . . . ] Und wenn der erste Blick der Mutter uns mit unendlicher Liebe umfängt, schimmert er nicht in den blauen Kinderaugen süß und unvergeßlich wieder? - Wenn aber dieser erste Blick ein Blick der Verzweiflung und des Hasses
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ist, glüht er nicht mit zerstörender Macht in jene Kinderseele hinein, die ja tausenderlei Eindrücke aufnimmt, lange bevor sie dieselben zu enträtseln vermag?
(E 1,97) Die entwicklungspsychologische Frage, die das Fallbeispiel des ,Sohns' aufwarf, bestimmte lange Zeit auch die Diskussion des ,Therese'-Romans. 33 Dreieinhalb Jahrzehnte nach der juristisch-medizinischen Exposition hatte Schnitzler aber die Perspektive und das erzählerische Gewicht zugunsten der Erinnerungsleistung der Mutter verschoben. Denn Therese entwickelt im Lauf der Jahre ein immer sensibleres Bewußtsein für den unheilvollen Zusammenhang zwischen ihrer einstigen Tötungsabsicht und dem moralischen Absterben des Heranwachsenden. Dabei ist Therese nicht von vornherein gegen die Beschwichtigungsdynamik des Gedächtnisses gefeit: Nach dem Tod ihres Vaters verfälscht sie die Erinnerung an ihre Eltern ins Sentimentale. Ihre Mutter erscheint ihr „hell und jugendlich, ja, so strahlend, wie sie sie in Wirklichkeit eigentlich niemals gesehen" (E 11,672). Der erste Liebhaber - und die narzißtische Kränkung des Verlassenwerdens - schwindet dagegen fast spurlos aus ihrem Gedächtnis: „Therese wunderte sich manchmal selbst, daß sich ihr Herz, ja, daß sich kaum ihre Sinne mehr jener verflossenen Seligkeiten in den Armen des Leutnants zu erinnern vermochten" (E 11,674). Wenn Therese später von ihrem Leben erzählt, so ist es, „als wenn sie ein Album mit Photographien aufblätterte" (E 11,823) - hier gerinnt ihre Vergangenheit zu rührseligen Augenblicken. Solche Vergegenwärtigungen bleiben episodisch; nirgends schließen sie sich zu einer erinnerten Kontinuität zusammen. 3 4 Aber die Geburtsnacht wird zum Prüfstein ihrer Erinnerung; an diesen Moment tastet sich ihr Gedächtnis in einer jahrelangen Anstrengung heran. Anfangs stellt sich nur „ein gewisses Schuldgefühl" ein, „als hätte sie an ihrem Buben etwas gutzumachen", „als hätte sie etwas an ihm gutzumachen", „als hätte sie ihrem eigenen Kind etwas abzubitten" (E 11,734,749,765). Aber dann verwandelt sich das Als-ob der Reue in eine immer konkretere Annäherung an die unwiderrufliche Vergangenheit. Langsam taucht auf, was durch die Jahre schon fern gerückt war; wenn Therese die Bevorzugung eines Pflegekinds vor ihrem Sohn als Schuld empfindet, dann weiß sie, „daß es nicht die erste war, deren sie sich ihrem Kind gegenüber anzuklagen hatte" (E 11,765). Angesichts seiner ersten Gaunereien fühlt sie „ihre eigene Schuld tiefer denn je" (E 11,777). Thereses Empfindung von „Unrecht" und „Untreue" löst allmähliche Gedächtnisimpulse aus. Einen kleinen Neffen im Arm, erinnert sich Therese schon einmal „der ersten
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Lebenswochen" ihres eigenen, mittlerweile elfjährigen Sohnes (E 11,791). Unter seinen vorwurfsvollen Augen durchbricht die traumatische Erinnerung wenig später die Bewußtseinsschranken: Und unter diesem fahlen Blick stieg eine Erinnerung in ihr auf, fern, verschwommen, die sie zu verscheuchen suchte, die aber immer näher, immer lebendiger vor ihr sich aufrichtete. Zum ersten Male nach langer Zeit dachte sie der Nacht, in der sie ihn geboren, - der Nacht, in der sie ihr neugeborenes Kind zuerst tot geglaubt, in der sie es tot gewünscht hatte. (E 11,794)
Ab nun lassen sich die fast vergessenen Gedächtnisinhalte nicht länger unterdrücken. Sie manifestieren sich bald überdeutlich, etwa als Therese den schlafenden Vierzehnjährigen betrachtet und an seinen Kinderschlaf denkt: Ja, auch er hatte einmal ein Kindergesicht gehabt, auch er war einmal ein Kind gewesen, und auch heute - oh, das war gewiß, sähe sein Gesicht anders aus, wenn sie ihn nicht einmal umgebracht hätte. Unwillkürlich, wie aus einer verschütteten Tiefe, war dieses Wort ihr ins Bewußtsein emporgestiegen, und sie hatte doch etwas ganz anderes gemeint: wenn ich mich um ihn mehr hätte kümmern können [ . . . ] . (E 11,817)
Und einen weiteren Stoß erhält Thereses Erinnerung, als ihr Bräutigam, die Prinzenkarikatur, stirbt. Therese gibt sich zu, ihn nie wirklich geliebt zu haben, und vermutet eine geheimnisvolle Beziehung zwischen ihrer inneren Untreue und seinem frühen Tod: Oh, es gab solche Zusammenhänge, das fühlte sie. Geheimnisvolle, tief verborgene Schuld gab es, die zuweilen nur flackernd in der Seele aufleuchtet und gleich wieder verlischt - und ihr war, als wenn die Mitschuld an Wohlscheins Ende nicht die einzige wäre, die wie eine unsichere, bleiche Flamme auf dem tiefsten Grund ihrer Seele schwelte. Das Wissen von einer schwereren, dunkleren Schuld schlummerte in ihr; und nach langer, langer Zeit dachte sie wieder einmal einer fernen Nacht, da sie ihren Sohn geboren und umgebracht hatte. (E 11,868)
Und als dieser Gedankenmord ihr durch die Tat vergolten ist, setzt jene klare und kathartische Erinnerung ein, die das Ziel jedes therapeutischen Prozesses ist: „wessen sie sich immer wieder erinnert und was sie sich doch niemals ins Gedächtnis zu rufen gewagt hatte; - die Stunde - vielleicht war es nur ein Augenblick gewesen - , in dem sie Mörderin gewesen war, lebte mit so völliger Klarheit wieder in ihr auf, daß sie sie fast wie etwas Gegen-
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wärtiges erlebte" (E 11,880). Aus ihrer Perspektive ist gerade dieser Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart der einzig „sinnstiftende" ihres Lebens.35 Sterbend besteht sie darauf, das Jetzt mit dem Damals zu erklären, und so kommt es, „daß das Bewußtsein ihrer Schuld in dieser Stunde sie nicht bedrückte, sondern befreite, indem ihr nun das Ende, das sie erlitten hatte oder erleiden sollte, nicht mehr sinnlos erschien" (E 11,880). Mit Thereses Ende ist auch ihre Selbst-Analyse beendet; es sind „die Dunkelheiten des Falles aufgeklärt, die Erinnerungslücken ausgefüllt, die Gelegenheiten der Verdrängungen aufgefunden".36 Aber Therese war weder einem eigenen Kindheitstrauma noch einem libidinösen Wunsch auf der Spur gewesen. Schnitzler hat in seinen Text seine alte Skepsis gegenüber Freuds Theorie von der frühkindlichen Sexualität genauso aufgenommen wie die Überzeugung, die Psychoanalyse weiche allzurasch in die Untersuchung des Unbewußten aus, während doch das „Mittelbewußtsein" in eigener Verantwortung aufgehellt werden kann. Was Therese eigentlich unbedingt hätte verdrängen und vergessen müssen, wird von ihr selbst tapfer zurückgerufen. Die .Chronik eines Frauenlebens' ist daher auch der Modellfall einer Schnitzlerschen Analyse, so wie er sie sich gedacht hat: in Eigenregie. C. Kunst und Kontinuität Was Schnitzler seinen Figuren abverlangt, geht als Appell auch an die Leser, deren Merkfähigkeit herausgefordert wird. Parallel zu den Gedächtnisanstrengungen der Figuren zielen Schnitzlers Textstrategien auf die Aktivierung kultureller Erinnerung.37 Eines dieser Verfahren ist das „Kunstzitat".38 Das Bild- und Bühnengedächtnis ist gefragt, wenn Schnitzler seine Heldinnen mit Kunstwerken konfrontiert, die als Gedächtnisschatz verstanden werden wollen. Schnitzlers Renaissance-Dramen waren selbst hochstilisierte „Kunstzitate" gewesen, die das Cinquecento-Ambiente als Dekor und Kulisse benutzten. In der .Frau mit dem Dolche' bildet das Gemälde „in der Manier des Palma Vecchio" geradezu die Einstiegstelle in die Handlung. In der Prosa schrumpfen die zitierten Kunstwerke zu unauffälligen Hinweisen, zu versteckten Aufforderungen, Bild und Szene, Wort und Melodie als Untermalung der Handlung, als leitmotivische Charakteristik einer Figur, als Begleitung ihrer seelischen Regungen mitzudenken. Mitunter setzt Schnitz-
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1er seine Anspielungen auch ironisch und kontrapunktisch ein. Er legt seinen Helden Bildungsphrasen in den Mund - „doch kein leerer Wahn, das Frühstücken", denkt Gusti (E 1,364) - oder zeigt sie als naive Rezipienten, die vom verborgenen Hintersinn eines ästhetischen Arrangements eingeholt werden. Wenn der Freiherr von Leisenbogh der Sängerin Kläre nahelegt, nach dem Tod ihres fürstlichen Liebhabers zum erstenmal wieder als „Königin der Nacht" aufzutreten, „in der Erwägung, daß das dunkle Kostüm am ehesten ihrer Stimmung entsprechen würde" (E 1,580), dann ahnt er nicht, daß die leidenschaftlich Verehrte für ihn selbst zur Fürstin der Dunkelheit werden wird. Aber darüber hinaus haben Schnitzlers Kunstzitate die selbstreflexive Funktion, die für die Zitattechnik der Moderne charakteristisch ist. Als Spiegelung und „Verdopplung" des ästhetischen Zeichens setzen sie einen poetologischen Prozeß in Gang, der unterschwellig stets mit der eigenen künstlerischen Position beschäftigt ist; es geht im Grunde um nichts Geringeres als um eine Selbstlegitimation der Kunst. 39 In der Literatur um 1900 stellen die zitierten Artefakte einen „Metatext" her, der das Kunstwerk in der Kunst simultan interpretiert. Damit „ist in der Tat jene ,Potenzierung' von Kunst, ist jener Totalitätsanspruch erreicht, auf den das ästhetische Selbstverständnis der Jahrhundertwende abzielte". 40 Allerdings hat sich Schnitzler von dieser ästhetizistischen Selbstvergewisserung auch wieder entschieden entfernt. Schon früh problematisieren seine Kunstzitate den quälenden Widerspruch zwischen einer Poetik, die dem Kunstwerk immer noch „Einheitlichkeit, Intensität, Kontinuität" abverlangt (AB 96), und einer innovativen Schreibpraxis, die genau das Gegenteil: die Heterogenität, Flüchtigkeit, Dissoziation eines modernen Bewußtseins wiedergibt. Ab 1900 arbeitet sich Schnitzlers Prosa an dieser Dialektik ab; sie „zitiert" das Paradox einer Kunst, die Kontinuität, also Erinnerung, sein will, wo keine mehr sein kann. Kunst, sagen Schnitzlers Zitate, setzt ein Gedächtnis voraus, das vom Kunstbetrieb selbst bedroht ist und immer nur in der prekären Nähe zur Musealität, zum Bildungsprivileg und zum Manierismus zu haben ist. Dieses Gedächtnis kann die Kunst nur einfordern, wenn sie es herstellt. a. . . . nach alten Niederländern: Genre und Geschichte „Ich glaube, an dieses Bild erinnere ich mich", sagt Berta, als ihr der invalide Herr Rupius den .Pfeifenraucher' von Ostade zeigt (E 1,406). Ganz sicher ist Berta nicht, denn sie war schon „viele Jahre [ . . . ] nicht mehr im Museum" (E 1,407). Auch die Intensität, mit der sich der Gelähmte seinen
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Stichen „nach alten Niederländern" widmet, ist ihr fremd. Rupius wird den ganzen Sommer brauchen, um sie zu kennen, „was ich eben heiße, ein Bild kennen. Darunter verstehe ich, ein Bild im Inneren sozusagen nachzeichnen können, Linie für Linie" (E 1,406). Und dann folgt tatsächlich eine Bildbeschreibung, die dem Leser nachzeichnet, was Berta und Rupius sehen: Das hier ist ein Falckenborgh - wundervoll, nicht wahr? Nur ganz im Vordergrund scheint es so nichtig, so begrenzt; ja, nichts als ein Bauer, der mit einer Bäuerin tanzt, und da eine Alte, die sich darüber ärgert, und hier ein Haus, und aus der Tür tritt einer mit einem Eimer Wasser. Ja, das ist freilich nichts, aber da hinten, sehen Sie, da ist die ganze Welt, blaue Berge, grüne Städte, der Himmel drüber mit Wolken und nebstbei ein Tournier - haha! - es gehört wohl nicht dazu in gewissem Sinn, aber in einem andern Sinn gehört es eben doch dazu. Denn Hintergründe sind überall, und darum ist es sehr richtig, daß hier gleich hinter dem Bauernhaus die Welt anfängt mit ihrem Tournieren und ihren Bergen und Flüssen und Festungen und Weingärten und Wäldern. (E 1,406)
In dem Sehnsuchtsbild 4 1 spiegelt sich zuerst nur das Fernweh, das beide Betrachter, der Invalide und die Witwe, in ihrem kleinstädtischen Käfig empfinden. Als Berta mit dem Zug nach Wien reist, tritt sie gleichsam in den Hintergrund des Bildes ein; ihre Perspektive suggeriert, daß der Ausflug in die ganze, große Welt führt: Die Stadt lag vor ihnen. Jenseits des Flusses ragten Schlote in die Höhe, langgestreckte, gelb angestrichene Häuser reihten sich aneinander, Türme stiegen auf. Über allem lag die milde Maisonne. (E 1,413)
Die Bildbeschreibung illustriert damit die zwei zentralen Topoi der Novelle - Kleinstadt/Metropole - und Bertas Pendelbewegung zwischen beiden. Aber die Funktion des Valckenborch-Zitats ist damit nicht erschöpft. Denn daß diese ausführliche Schilderung eine programmatische poetologische Erklärung sein muß, liegt auf der Hand; Schnitzler verteidigt offenbar den „nichtigen Vordergrund" mit dem Hinweis auf eine Fern- und Weitsicht, die sich im Bild sehr wohl eröffnet. Bertas beschränkte Perspektive, so ließe sich die Nutzanwendung auf die Novelle machen, wird ergänzt durch den Hintergrund gesellschaftlicher Bedingungen; was ihr zustößt, ist repräsentativ für „die ganze Welt". In Rupius' Bildkommentar spricht dabei leise noch eine andere Stimme mit, die durch ihre literarische Autorität seine Deutung unterstreicht. Rupius zitiert eine bereits kanonische typologische Bildbeschreibung, einen kunstgeschichtlichen Abriß über die Ablösung
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der alten byzantinischen Heiligendarstellung durch die Naturmalerei. Das neue Sujet, heißt es dort, sei auch noch durch würdige und bedeutende Gegenstände vertreten worden, „auf starren Felsen vielfach übereinander getürmte Schlösser, tiefe Täler, Wälder und Wasserfälle": Diese Umgebungen nahmen in der Folge immer mehr überhand, drängten die Figuren ins Engere und Kleinere, bis sie zuletzt in dasjenige, was wir Staffage nennen, zusammenschrumpften. Diese landschaftlichen Tafeln aber sollten, wie vorher die Heiligenbilder, auch durchaus interessant sein, und man überfüllte sie deshalb nicht allein mit dem, was die Gegend liefern konnte, sondern man wollte zugleich eine ganze Welt bringen [ . . . ] .
Es spricht Goethe, in seinem Aufsatz zur .Landschaftlichen Malerei' (1818/1832).42 Die Anleihe beim Weimarer Klassiker ist nicht nur ein Beispiel für die Verschachtelung von Kunstzitaten, wie sie die Moderne zunehmend betreibt. Goethes Hinweis wird auch benützt, um eine verachtete Gattung zu adeln. Denn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gilt die Genremalerei längst als obsolet, als epigonales, trivialisiertes Kunstsurrogat.43 Wenn Schnitzler den Herrn Rupius gegen das geläufige Vorurteil der Nichtigkeit und Begrenztheit votieren läßt, plädiert er natürlich nur für das eigene „Genre" - den „Frauenroman". Dieses „Genre" wird in Schutz genommen gegen den Banalitätsverdacht; Kunst ist keine Frage des Sujets, sondern sie zeigt sich in dem Ausmaß, in dem ihr „nichtiger" Gegenstand das „Ganze" eines Weltverständnisses reflektiert. Wie sich Schnitzler gegen die automatische Abwertung des Frauenromans zur Wehr setzt, so bezieht er durch die Verteidigung des Genres natürlich auch Stellung gegen den Vorwurf der Kleinmalerei, der ihn seit dem ,Anatol' verfolgte. Aber darüber hinaus erinnert das Gemälde des Valckenborch auch noch an etwas anderes. Denn es zeigt einen ikonographischen Registerwechsel an, von einem kunsthistorischen Kanon zum anderen, von Italien zu den Niederlanden. Die Renaissance-Theatralik der .Beatrice' weicht einem Prosa-Realismus, der sich die Alltäglichkeit der flämischen Genreszene zum Vorbild nimmt. Geschichte wird nicht mehr in der pompösen Cinquecento-Kulisse inszeniert, sondern als Lebensgeschichte eines unbedeutenden Individuums in einen zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt. Dieser Wechsel hat polemische Qualität, weil das „Genre" schon im 17. Jahrhundert unter den italienischen Zeitgenossen verpönt war;44 er ist Parteinahme für eine Kunst ohne Pathos und für eine Kunstbetrachtung, die sich nicht von der heroischen Geste imponieren läßt, son-
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dem „Linie für Linie" sorgfältig bis zu einem imaginären Fluchtpunkt verlängert. Diese Fluchtlinien gehen in die zeitliche Tiefe: Das „Tournier" im Bild des Valckenborch ist zwar ein lächerlicher („haha!") Anachronismus, aber es ist das Zeichen für die Geschichte, die in der „ganzen Welt" präsent ist. Bertas kunsthistorische Lektion bei Rupius läuft nicht nur auf eine Absage an den Ästhetizismus hinaus, sondern sie will das Auge des Betrachters auf Tiefenschärfe einstellen. Diese Lehre geht als Lektüreanweisung an den Leser, der indirekt auch dazu verhalten wird, den Text so zu „kennen" wie Rupius seine Stiche. An Berta ist Rupius' Nachhilfestunde nicht verloren; als sie mit Emil durchs Museum spaziert, kann sie sich erinnern: „Plötzlich fand sie sich vor einem der Bilder, das sie aus der Mappe des Herrn Rupius kannte. Während Emil vorüber wollte, blieb sie stehen und begrüßte das Bild wie einen alten Bekannten" (E 1,458). Berta, die Fälscherin ihres eigenen Selbstbildes, kommt zumindest an diesem Punkt zum „Original" zurück. Diese mnemotechnische Übung am Bild wird dem Leser exemplarisch vorgeführt. Der „Falckenborgh" ist dann eine dreifache Chiffre: Als Kunstzitat bebildert er die Raumaufteilung der Novelle und symbolisiert die psychische Wunschlandschaft der Figuren; als Apologie des „Genres" betreibt er die Legitimation der Textgattung und beansprucht die Literaturfähigkeit des kleinen Frauenschicksals; als poetologische Erklärung liefert er das Modell einer Erinnerungsübung. Den „Hintergrund" von Schnitzlers Bildzitat bildet so eine kulturelle Gedächtnistiefe, die dem Kunstwerk kongenial wäre. b. Zum Andenken: Richard, Cyrano, Hamlet Frau Beate Heinold erinnert sich an ihren Mann in den Rollen, in denen er aufgetreten ist, „als Hamlet, als Cyrano, als der königliche Richard" (E 11,44). Diese Figuren treten in Beates Erinnerungen leitmotivisch wieder auf; denn zuerst will sie ihren Mann geliebt haben, „weil sie in seinen Armen des königlichen Richard Geliebte war und Cyranos und Hamlets" (E 11,46, vgl. 61); nach der Gedächtnisrevision hat sie aber eben nicht ihn geliebt, sondern „Hamlet war es, und Cyrano und der königliche Richard" (E 11,94). Was dem Leser in so litaneihafter Wiederholung ins Gedächtnis geprägt wird, ist nichts anderes als das Paraderepertoire des Burgtheaterstars Josef Kainz (1858-1910). Kainz hatte ab 1897 in Wien als Hamlet gastiert; als er 1899 ins Burgtheaterensemble eintrat, übernahm er von Ernst Hartmann auch den Part des Cyrano. In der Neuinszenierung von .Richard II.' von 1901 spielte er die Titelrolle. 45 Schnitzler hatte all diese Aufführungen gesehen; 46 seine
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Novelle ist deshalb auch eine (höchst ambivalente) Hommage an den 1910 verstorbenen Schauspieler, dessen Wandlungsfähigkeit bereits Legende war. Hinter der,Kabale und Liebe'-Reminiszenz aus der Vorgeschichte von Bertas Ehe verbirgt sich bereits eine Anspielung auf Kainzens Karrierestart: Als Ferdinand hatte Kainz im Jahr 1883 sein Debut am Deutschen Theater in Berlin gegeben. Die amourösen Intermezzi eines Künstlergatten hatte Schnitzler 1905 im .Zwischenspiel' auf die Bühne gebracht; diese Rolle, die Kainz auf den Leib geschrieben war, füllte er denn auch mit großer Lebensnähe aus. Aber als Kainzens brillanteste darstellerische Leistungen würdigten die Zeitgenossen immer wieder diese drei: Richard, Cyrano und Hamlet. Kainz sei „einer der interessantesten Verkörperer von Shakespeares zweitem Richard" gewesen, hieß es in Heinrich Stümckes Nachruf. 47 Victor Klemperer widmete Kainz einen gereimten Epitaph, betitelt ,Die beiden Cyranos'. 48 Und als Hamlet scheint Kainz seine Zuschauer überwältigt zu haben. Noch im Jahr vor seinem Tod riß ein .Hamlet'-Gastspiel am Neuen Schauspielhaus in Berlin Publikum und Kritik zu Beifallsstürmen hin: „Wir haben einen großen Mann auf der Höhe seines Lebens wie seines Wirkens gesehen - wir werden es nie vergessen!"49 Mit den Rollenzitaten setzt auch Schnitzlers Novelle der schauspielerischen Größe eines durchschnittlichen Ehemannes ein kleines und nicht unproblematisches Denkmal; aber darüber hinaus haben .Richard, Cyrano, Hamlet' natürlich noch eine weit wichtigere Funktion. Die Erinnerungen der Schauspielerwitwe gehen als Signale an den Leser, Shakespeares Dramen und Rostands Komödie als Begleittexte zu Beates Geschichte mitzuhören. Alle drei Stücke sind Selbstthematisierungen des Theaters, und da sich Beate ja durchaus mit den weiblichen Rollenangeboten identifiziert, dürfen sie als literarischer Kommentar zu Beates Witwendrama gelten. Shakespeares Historie gibt dabei noch die feudale Legitimation ihrer Rolle her. König Richard und sein Nachfolger Bolingbroke wissen zwar genau, wie man Majestät inszeniert, 50 und deshalb wird der gestürzte Monarch auch von seinen Untertaten angesehen, wie „im Theater wohl der Menschen Augen, / Wenn ein beliebter Spieler abgetreten, / Auf den, der nach ihm kommt, sich lässig wenden". 51 Aber die Frauenfiguren, die Königin, die Herzogin von Gloster und die Herzogin von York, sind noch unversehrte Ikonen der Gattentreue und der Mutterliebe - ganz so, wie sich Beate eingangs zu stilisieren pflegt. ,Hamlet' aber illustriert ihren Verrat: Die Aufführung der Schauspielertruppe, kanonisches Modell aller „Spiele im Spiel" bis hin zu Schnitzlers .Grünem Kakadu', wird von Hamlet seiner
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Mutter, der untreuen Königin, zugedacht, geht als Gewissensappell aber auch an Beate. Denn was die Darsteller da vortragen, ist eine ironische Vorwegnahme des Versprechens, das Beate gegeben hat, nämlich Ferdinands Andenken nicht anders zu weihen „als durch heiteres Erinnern, ja durch ein unbekümmertes Ergreifen neuen Glücks" (E 11,43). Der Schauspielerdialog von „König" und „Königin" in .Hamlet' konterkariert diesen Vorsatz: KÖNIG im Schauspiel: Ja, Lieb, ich muß dich lassen, und das bald: Mich drückt des Alters schwächende Gewalt. Du wirst in dieser schönen Welt noch leben, Geehrt, geliebt; vielleicht wird, gleich ergeben, Ein zweiter Gatte KÖNIGIN im Schauspiel: O halt ein! halt ein! Verrat nur könnte solche Liebe sein. [ . . . ] KÖNIG im Schauspiel: Ich glaub, Ihr denket jetzt, was Ihr gesprochen, Doch ein Entschluß wird oft von uns gebrochen. Der Vorsatz ist ja der Erinnrung Knecht [ . . . ] . Notwendig ist's, daß jeder leicht vergißt Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist. [ . . . ] KÖNIGIN im Schauspiel: [ . . . ] Mag alles, was der Freude Antlitz trübt, Zerstören, was mein Wunsch am meisten liebt, Und hier und dort verfolge mich Beschwerde, Wenn, einmal Witwe, jemals Weib ich werde!52 „Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel", äußert Hamlets Mutter dazu. Diese Szene bildet das verborgene Spiel im Spiel in der Novelle. Für den Leser, dem sie präsent ist, deckt sie auch Beates Verrat an Ferdinands Andenken auf. 5 3 Verglichen mit Shakespeares englischem König und dänischem Prinzen ist der französische Kadett Cyrano von Bergerac nach sozialem und literarischem Rang zunächst ein Außenseiter. Aber Rostands 1897 in Paris uraufgeführte Erfolgskömodie war durchaus nicht nur ein harmloser Kassenschlager; Schnitzler nannte sie, in seltenem Überschwang, „wahrhaft entzückend". 5 4 Edmond Rostands Haltung zum Dreyfus-Prozeß hatte gewiß auch Schnitzlers Sympathien erregt; die Pariser Premiere, die unmittelbar nach Emile Zolas ersten publizistischen Stellungnahmen zur Affaire Drey-
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fus stattgefunden hatte, war vom Publikum durchaus als politisches Votum verstanden worden. 55 Denn noch sterbend und phantasierend beweist Cyrano seinen Mannesmut und tritt gegen die Niedrigkeiten an, die er sein Leben lang bekämpft hat: Was kommt dort an? - Welch lästiges Geschmeiß? Der ganze Troß der alten Widersacher! Die Lüge? (Er sticht mit seinem Degen ins Leere.) Da! - Der überlebte Brauch, Feigheit und Vorurteil! (Ersticht wieder.) Glaubt ihr, ich treibe Schacher? Niemals, niemals! - Aha, die Dummheit auch! Ich weiß, ihr triumphiert u n d bleibt im Rechte; Was liegt daran? Ich fechte, fechte, fechte! 56
Rostands Cyrano ist daher eher ein Repräsentant der französischen Aufklärung als ein Zeitgenosse des dreizehnten und vierzehnten Ludwig, wie sein historisches Vorbild, Savinien de Cyrano (1619-1653). Diese Aktualisierung der Figur und ihre besondere Aktualität im Kampf gegen den Antisemitismus mögen zu Schnitzlers Wertschätzung beigetragen haben. Im ersten Aufzug wird überdies das „Theater im Theater" - Cyrano stört eine Aufführung im Hôtel de Bourgogne - zu einem temporeichen Auftritt von burleskem Witz beschleunigt. Aber vor allem ist Cyrano ein Schauspieler seiner Liebe. Seiner langen Nase wegen, meint er, könne ihn die geliebte Roxane nicht erhören; ihrem gutaussehenden, aber dummen Galan Christian schreibt er daher die Liebesbriefe und souffliert ihm die Stichworte des erotischen Dialogs. Das Mädchen liebt am schönen Tölpel in Wirklichkeit Cyranos Geist; die fingierten Briefe entspringen Cyranos wahrer Zuneigung. Aus dieser Verschränkung von Wahrheit und Fiktion, Sein und Schein bezieht das Schauspiel seine Pointen. Eine dieser Szenen hat Schnitzler in ,Beate' zitiert; vorsichtshalber hat er dem Leser noch eine Spur gelegt: Das Segelboot, mit dem Ferdinand Regattatriumphe gefeiert hat, heißt „Roxane" (E II, 72). Höhepunkt des ,Cyrano' (111,6) ist eine ironische Balkonszene: Da dem Christian, wie immer, die Worte fehlen, übernimmt Cyrano in der Dunkelheit seinen Part; als Komödiant legt er ein authentisches Liebesgeständnis ab. Roxane wird getäuscht - und nicht getäuscht: „So hört' ich Ihre Stimme niemals klingen!" 57 Das ist gleichsam Beatens Stichwort, aber ihr pervertiert sich die Stimmenimitation: Nachdem sie so lange die Erinnerung an Ferdinands Stimme gehütet hat, 58 klingt
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sie ihr plötzlich „leer, affektiert und falsch" (E 11,85). Die „falsche" Stimme des unverschämten Gigolos, der ihren verstorbenen Mann in seinen Rollen kopiert hat, verdeckt ihr die „wahre" Stimme Ferdinands (E 11,87). Die Szene, in der Beate hinter dem Fenster mithören muß, wie unten im Garten ihr Liebhaber demselben frechen Burschen von ihrem Verhältnis erzählt, ist eine bittere Travestie der Balkonszene im ,Cyrano'. Beate spielt den Part einer tragischen Roxane: Aus ihrem falschen Geliebten wird nie der richtige. Auf diese Weise verwebt sich mit Beates Geschichte ein Netz literarischer Beziehungen. .Richard, Hamlet, Cyrano' heißt der Akkord, dessen Obertöne die Handlung begleiten und kontrapunktieren. Die „Stimmen", die da mitsprechen, müssen aber in der Erinnerung des Lesers hörbar werden. Allerdings „zitiert" Schnitzler keineswegs in der enigmatischen Verschlüsselung des Ästhetizismus; dem zeitgenössische Theaterpublikum, an das er sich auch als Prosaist wendet, waren die Kainz-Aufführungen noch präsent. Trotzdem appelliert Schnitzlers Novelle an das kulturelle Gedächtnis: Die Lektüreanstrengungen arbeiten dem entgegen, was bei Shakespeare „viehisches Vergessen" heißt. „O Himmel! Vor zwei Monaten gestorben und noch nicht vergessen! So ist Hoffnung da, daß das Andenken eines großen Mannes sein Leben ein halbes Jahr überleben kann." 59 Nach dem Tode von Josef Kainz legte es sich nahe, Hamlets Worte über seinen Vater zum Epitaph des großen Hamlet-Interpreten zu machen. 60 Schnitzler aber ging es nicht nur um die Schlüsselfigur des Ferdinand Heinold. Auch ,Beate' ist für eine Gesellschaft geschrieben, die sich nach einem Sprichwort verhält, das schon Hamlet höhnisch aufs Korn nimmt: „Denn oh! denn oh! Vergessen ist das Steckenpferd."61 c. Entrückte Bilder Während Josef Kainz das unzweideutige Vorbild für Ferdinand Heinold war, fühlte sich Schnitzler zu Unrecht verdächtigt, als sich Julie Wassermann, Jakob Wassermanns geschiedene Frau, in der Julie Fabiani des .Therese'Romans wiedererkennen wollte. 62 Julie Wassermann kann von ihrer eigenen literarischen Arbeit nicht allzugut gedacht haben. Die Schriftstellerei von Thereses Mutter wird im Roman nämlich nicht nur als triviale Romanfabrik dargestellt. Die schrullige Autorin Fabiani bestiehlt auch ihrerseits das Leben: In einer ihrer Geschichten plagiiert sie alte Liebesbriefe an ihre Tochter, was Therese durch Zufall entdeckt. Auf ihren ironischen Brief hin bietet
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ihr die Mutter immerhin ernsthaft Tantiemen an (E 11,743). Thereses Erfahrungen sind als Stoffe käuflich, so wie dann die fertige Romanware, die der Mutter mitunter fast soviel einbringt wie „eine halbjährige Oberstleutnants pension" (E 11,644). Diese schonungslose Konfrontation mit einer in jedem Sinn marktgängigen Literatur trägt nicht dazu bei, Thereses Umgang mit der Kunst aufzuhelfen. Ihre Schulausbildung ist dürftig und hat lediglich die Fähigkeiten geschult, die als Aussteuer der höheren Töchter vorgesehen waren: Handarbeiten, Französisch und Klavierspiel. Dabei wurde offenbar ein Repertoire bevorzugt, das sich entweder bei sentimentalen Anlässen einsetzen oder gegebenenfalls als pädagogische Qualifikation wiederverwerten läßt: Für Alfred intoniert Therese „schlecht und recht ein Chopinsches Nocturno", mit einem Zögling dilettiert sie vierhändig in „Haydn- und Mozartschen Quartetten" (E 11,631,724). Ihre Theatererfahrungen scheinen sich auf Boulevardstücke oder Operetten zu beschränken (E 11,656,680). Um als ungeprüfte Lehrerin arbeiten zu können, muß sie daher immer wieder nachlernen (E 11,724,798). Daher gerät sie auch arg in Verlegenheit, als eine ihre Schülerinnen, die kühle und zurückhaltende Thilda, über Kunsterfahrungen verfügt, die ihr selbst völlig fehlen. Thilda, der Thereses letzte, so rückhaltlose wie heimliche Liebe gilt, besitzt eine „kleine, gewählte" Bibliothek, darunter auch kunsthistorische Literatur: Bei der Betrachtung des .Barberino' fragte Thilda Therese, ob sie denn nicht das Original kenne, es hinge hier im Kunsthistorischen Museum; Therese mußte gestehen, daß sie dieses seit einem längst verflossenen Besuch mit einer ihrer Schülerinnen nicht wieder betreten hatte. (E 11,813)
Die Exkursion wird nachgeholt, ohne daß es Therese gelänge, Thildas Distanziertheit zu überbrücken: [. . . ] und manchmal war ihr, als müßte sie die blonde Frau des Palma Vecchio, den Maximilian von Rubens und manche andere dieser entrückten Bildnisse beneiden, denen gegenüber Thilda sich freier, vertrauter, inniger zu geben schien als gegenüber Theresen und vielleicht gegenüber allen anderen lebenden Menschen. (E 11,814)
Eine „kleine, gewählte" Galerie: beim .Barberino' handelt es sich möglicherweise um das .Bildnis eines jungen Mannes' des Jacopo de' Barbari, genannt .Barberino Veneziano', der Hofmaler Maximilians I., Friedrichs III. und der Statthalterin der Niederlande, Margarete von Österreich, war. 63 Die „blonde Frau" des Palma Vecchio ist eines seiner hochstilisierten Damen-
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Vergessen u n d E r i n n e r n . Trivialliteratur u n d Kunst
Palma Vecchio: Junge Frau in blauem Kleid
Jacopo de' Barbari: Bildnis eines
mit Fächer (um 1512/1514)
Mannes (um 1505/1506)
Peter Paul Rubens: Maximilian I. (um 1600)
jungen
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porträts, die Junge Frau in blauem Kleid mit Fächer'. 64 Zusammen mit dem Porträt Maximilians 65 ergeben diese Bilder ein Triptychon von Jugend, Schönheit und Reichtum beziehungsweise Macht, das sich gleichsam um Thilda herum aufbaut und sie abschirmt. Der unbeteiligte Blick des Jungen Mannes', die idealisierte bellezza der ,Dame'66 und der Panzer des Kaisers bekräftigen noch den Abstand des Betrachters, der für Therese unüberwindlich ist. Die drei Figuren werden zu Allegorien alles dessen, wovon Therese ausgeschlossen ist. Das Attribut „entrückt" ist vielsagend: Einerseits sind die Bilder in ihrer musealen Reserviertheit dem Kunstmarkt entzogen und repräsentieren die Alternative zur käuflichen Ästhetik der Unterhaltungsindustrie, mit der Therese bislang auskommen mußte. Zugleich verweigern sie den identifikatorischen Blick des Betrachters, bestehen auf der Fremdheit einer unverwechselbaren historischen Identität und verdoppeln so Thereses Verlust an Selbstgefühl; ihr selbst sieht noch im Spiegel ein ,,fremde[s] Gesicht" entgegen (E 11,708). Drittens sind diese Bildnisse auch der Zeit „entrückt": Sie konservieren einen Augenblick zur Dauer. Wenn Schnitzler hier nochmals auf die Kunst der Renaissance zurückkommt, dann nicht mehr in der Form historistischer Aktualisierung. Therese nimmt die Bilder in einer unverkürzten Ferne wahr, sie bedeuten eine Vergangenheit, von der sich die Gegenwart keine Anleihen nehmen kann, es sei denn als Schätzwert der Erinnerung. Im Kunstwerk ist die Zeit aufgehoben, und diese Qualität läßt sich durch keine naive Annäherung reduzieren. Die Porträtgalerie in .Therese' verbildlicht daher nicht nur Schnitzlers endgültige Absage an den ästhetizistischen Kunstgenuß, dem das beliebige Werk zum Stimulans gerät. Mit Thereses frustraner Erfahrung ist auch das Dilemma bezeichnet, daß noch die kongeniale Rezeption von Kunst ein Luxus und ein Privileg ist und Zeit kostet, die Therese nicht gegeben ist. Indem der Roman ein durchschnittliches Frauenleben literaturfähig macht, thematisiert er auch die Bildungsbarrieren, die den Zugang zum Schatz kultureller Erinnerung versperren. Damit ist dem Lesepublikum die Reflexion der Dialektik moderner Kunst aufgegeben - einer Kunst, die sich elitär zurückziehen muß, um nicht zur Konsumierbarkeit zu verkommen. Aus diesem Befund hat aber Schnitzlers ,Chronik' selbst noch einmal Kunst gemacht.
D. Lesezeichen. Die Knoten im Taschentuch Das Genre hatte Schnitzler für sich reklamiert; über den engen Horizont seiner Figuren hinaus fällt ein Blick auf „entrückte" Bilder, und durch die
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
Bilder hindurch auf die Kunst, die Erinnerung noch dann zu vermitteln hat, wenn das individuelle und das kollektive Gedächtnis an Amnesie leiden. Erinnerung ist für Schnitzler daher auch eine wirkungsästhetische Kategorie. Erstens wird dem Leser auf der Handlungsebene das Verschwinden und das Wiederauftauchen von Erinnerungen in den Köpfen seiner Protagonisten vorgeführt. Zweitens erfordern die Kunstzitate eine Lektüre, die das kulturelle Gedächtnis aktivieren muß. Drittens versucht Schnitzler, seine Wirkungsabsicht durch die narrative Struktur selbst mitzuteilen. Die Erzählhaltung zielt permanent auf das bessere Gedächtnis des Lesers, der ja die Erinnerungen der Figuren für sich korrigieren muß. In .Berta', ,Beate' und .Therese' folgt Schnitzler der Perspektive seiner Heldinnen, ohne jedoch, wie bei .Fräulein Else', die Unmittelbarkeit des Inneren Monologs aufzunehmen. Trotz der Diskretion des Erzählers wird die Lesersteuerung durch eine Instanz, die dem Figurenbewußtsein überlegen ist, keineswegs aufgegeben. 67 Freilich kann der Leser nicht mehr zusehen, wie eine verwirrte Heldin durch eine episch geordnete Welt stolpert; die Modernität dieser Texte besteht eben auch darin, daß der Erzähler darauf verzichtet, die apperzeptiven und kognitiven Defizite seiner Figuren dem Leser gegenüber auszugleichen. Wenn Berta nicht dahinterkommt, in welchen erotischen Beziehungen Emil steht (E I,476f.,480ff.); wenn Beate von Hugo nicht erfährt, welch demütigende sexuelle Erfahrungen er im Haus der Baronin gemacht hat (E II,110f.); wenn Therese sich das Verhalten von Mutter und Bruder, von Arbeitgebern und Liebhabern sehr oft nicht erklären kann (vgl. z.B. E II,628f.), dann kommt auch dem Leser keine Aufklärung zu. Die Rat- und Orientierungslosigkeit dieser Frauen schaltet kein Erzähler aus; ihr Eindruck von der Undurchschaubarkeit der Welt wird unvermittelt an den Leser weitergereicht. Aber die Form, in der das geschieht, ist ihrerseits transparent. Alle wesentlichen Motive sind in Wiederholungsstrukturen eingebettet, die für den Leser selbst dann erkennbar sind, wenn sie sich mit Unauffälligkeit tarnen. 68 Und seien es die Kastanienbäume, unter denen Berta spaziert (E 1,391,442, 499), sei es das Ährenfeld neben Beates Garten (E 11,43,63, 102), sei es der Ahornbaum, der zu Thereses Enzbacher Erinnerungen gehört (E 11,719,722,747,829) - kein Detail ist umsonst in diese Texte gepflanzt, der Erzähler wird darauf zurückkommen. Der Ringschluß in ,Frau Berta Garlan', der tryptichonale Aufbau von ,Frau Beate', der chronikalische Bericht in .Therese', deren Lebensepisoden Varianten nach einem einzigen Grundmuster bilden 69 - alle diese Erzählstrategien laufen auf ein Prinzip der Wiederholung hinaus, das keine Ein-
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zelheit verloren gehen läßt. Über die Motivverknüpfungen stiftet Schnitzlers erzählerische Ökonomie genau die Bezüge, Zusammenhänge und Kontinuitäten, die dem Bewußtsein seiner Heldinnen fehlen. Diese Erzähltechnik, die dem Kalkül des Poetischen Realismus durchaus noch verpflichtet ist, sichert die von Schnitzler geforderte Einheitlichkeit des Werkes gegenüber aller dargestellten Diskontinuität der Welterfahrung zugleich ist sie die Ursache dafür, daß Schnitzlers Spätwerk von den Zeitgenossen altmodisch gefunden wurde. Aber dieses Erzählen ist die Kunst, die Schnitzler meinte: Es hält alle seine Momente im Gedächtnis. Kongenial wäre ein Leseverhalten, das sich keinen einzigen narrativen „Rapport", keine einzige Wiederholung des Musters, entgehen ließe und in der Lage wäre, dem Text „Linie für Linie" zu folgen, wie Herr Rupius seinen Kupferstichen. Solche Lektüre wollte Schnitzler herausfordern; sogar von kleinen didaktischen Merkaufgaben hat er dabei nicht abgesehen, vor allem im ,Therese'-Roman, dessen konsequente Gleichförmigkeit von der Kritik ja auch als einschläfernde Monotonie empfunden wurde. Schnitzler hält sich aber mit absichtlicher Beiläufigkeit an nebensächliche Details. Als Therese schwanger ist und auf Abhilfe sinnt, verlangt der Text beispielsweise eine solche Lesereminiszenz: Sie wußte natürlich, daß es Mittel und Wege gäbe, ihr zu helfen, doch es war ihr auch nicht unbekannt, daß dergleichen mit Gefahr verbunden war, daß man krank werden, sterben oder auch in den Kerker kommen konnte. Und irgendeine halb vergessene Geschichte, die sich vor zwei oder drei Jahren in Salzburg ereignet und ein tragisches Ende genommen hatte, wachte dumpf in ihrem Gedächtnis auf. (E 11,692)
Welche Geschichte das war, sagt der Erzähler an dieser Stelle nicht - aber der Leser weiß nicht nur, daß dieser Fall exakt zwei Jahre her ist, sondern er erinnert sich auch an Thereses Zeitungslektüre im Salzburger Mirabellgarten: [. . . ] plötzlich kam sie auf eine Überschrift, die sie fesselte: Mordversuch am Geliebten. Da war die Geschichte von einer ledigen Mutter erzählt, die den treulosen Geliebten angeschossen und schwer verletzt hatte. Maria Meitner, so hieß das arme Geschöpf. (E 11,642)
Damals hatte sich Therese vorgenommen, klüger zu sein: „man mußte kein Kind haben", weshalb sie sich wohl auch nicht erinnern kann. Ironischpointiert wird der Leser nicht nur mit einer tragischen Variante von Thereses Geschichte konfrontiert - ihm wird auch die Erinnerung abgefordert,
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über die Therese nicht mehr verfügt. Ähnlich verfährt der Erzähler, als Therese, inzwischen Anfang dreißig, von einem Geliebten in die Wiener Donauauen geführt wird: Irgendwoher tönte der langgezogene Pfiff einer Lokomotive; nah und doch unsichtbar ratterte ein Bahnzug über eine Brücke. Theresen war es, als hätte sie das alles schon einmal erlebt, aber sie wußte nicht wann und wo. (E 11,783)
Der Leser aber weiß es; es war eine Abendstunde der Siebzehnjährigen mit dem schüchternen Verehrer Alfred, „draußen vor der Stadt" Salzburg, im Grünen, „der Pfiff einer Lokomotive hallte lang und leise, jenseits der Wiese". Daß Therese den Anlaß vergessen hat, ist nicht zufällig, denn „wenn sie später dieser ersten Liebe dachte, war es immer wieder diese Abendstunde, die in ihrem Gedächtnis aufschwebte: [ . . . ] verklingende Pfiffe aus der Ferne" (E 11,643); bloß in derselben Situation mit einem anderen Liebhaber muß die Erinnerung verdrängt werden. Hier könnte der Leser der vergeßlichen Heldin jeweils aushelfen, vorausgesetzt, er selbst kann sich erinnern. Worauf Schnitzler also hinauswill, ist nichts weniger als eine textuelle ars memorativa. Die gedächtnislose Weiblichkeit der neunziger Jahre hatte er mit seinen simplen Heldinnen, den Witwen und der Gouvernante, als Klischee entlarvt. Das Genre des „Frauenromans" erfüllt keine glänzenden Wunschträume mehr; statt dessen erinnert es fortwährend an die beschränkte Rollenexistenz, an die verlorene Lebenszeit dieser Frauenfiguren. Denn ihnen hatte Schnitzler auch die bitteren Strapazen der Gedächtnisarbeit zugeschrieben. Wenn ihre Lebensgeschichte offenbare Zeitverschwendung ist, so richtet sich auch Schnitzler nach dem Prinzip, „daß das Kunstwerk das einzige Mittel ist, die verlorene Zeit wiederzufinden".70
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Anmerkungen 1 Friedrich Gerstäcker (1816-1872) war der Prototyp eines Reiseschriftstellers, der seine Sujets auch noch durch den eigenen abenteuerlichen Lebenslauf beglaubigte. Als Autor der .Gartenlaube' sank er aber vielfach auf Kolportageniveau. - Gerstäcker seinerseits wollte sein Leben auch nach einer literarischen Vorlage ausgerichtet haben; er behauptete, durch Defoes .Robinson Crusoe' beeinflußt worden zu sein (vgl. Bernd Steinbrink: Friedrich Gerstäcker. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hrsg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 6: Realismus, Naturalismus und Jugendstil. Stuttgart 1989 (= RUB 8616), S. 45-50, S. 45). 2 Im Manuskript werden diese „Denkwürdigkeiten" noch identifiziert; es handelt sich um die .Mémoires' des Jean-Baptiste de Marbot, die Schnitzler auch im Hinblick auf den historischen Kolorit des Jungen Medardus' gelesen hatte (vgl. Eintragungen v. 22.12.1902 u. 20.11.1908 [TB]). Vgl. die Manuskriptfassung (1909/10), Nachlaß ULC, Mappe 136, S. 94. 3 Allein in den Entstehungsmonaten der Erzählung (Dezember 1909 bis April 1910 und April 1911 bis Februar 1912) las Schnitzler u.a. Lily Brauns .Memoiren einer Sozialistin', Karl Gutzkows .Rückblicke auf mein Leben', den .Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe', Emil Rhiseos Rhankabes' .Erinnerungen aus dem deutsch-französischen Krieg 1870-71 von einem Griechen in preussischen Diensten', Adolf Kussmauls Jugenderinnerungen eines alten Arztes' und Richard Wagners .Mein Leben' (Eintragungen v. 25.12.1909, 7.2. und 24.3.1910, 6.5., 14.10., 15.11. und 31.12.1911 [TB]). - In .Frau Beate' ironisiert Schnitzler seine Leidenschaft, denn Beate erhält ein Paket mit Memoiren und Briefen „großer Staatsmänner und Feldherren" von einem beflissenen Verehrer, dem Anwalt Teichmann; der „kleine Advokat" bringt solchen Persönlichkeiten nämlich „die höchste Bewunderung" entgegen (E 1,63). 4 Friedrich Wilhelm Hackländer (1816-1877) signalisiert - wie Gerstäcker - einen bestimmten Typus trivialer Literatur; da Therese seinen Roman im Zimmer ihres Geliebten, eines Leutnants, findet, wird man wohl an Hackländers Spezialität, die Soldatenhumoreske, zu denken haben. Als Gründer der Zeitschriften ,Hausblätter' und .Über Land und Meer' steht Hackländer hier auch als Vertreter des Familienblattromans. 5 Gutt, Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 72; Horst Thomé: Autonomes Ich und .Inneres Ausland'. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen: Niemeyer 1993 (= Hermaea N.F. 70), S. 653; vgl. auch Beverly R. Driver: Arthur Schnitzler's Frau Berta Garlan: A Study in Form. In: GR 46/4 (1971), S. 285-298, S. 285: „The plot itself is trivial and melancholy." 6 Eduard Engel: Literatur. In: Über Land und Meer 111 (1914), S. 650. 7 Richard Thieberger: Therese. In: Ders.: Gedanken über Dichter und Dichtungen. Essays aus fünf Jahrzehnten. Hrsg. v. Alain Faure, Yvon Flesch u. Armand Nivelle. Bern: Peter Lang 1982, S. 75f.; Derré, L'Oeuvre d'Arthur Schnitzler, S. 148. 8 Vgl. Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850-1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Hrsg. v. Günter Häntzschel. Tübingen: Niemeyer 1986 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 15). - Häntzschel weist nach, daß diese
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Feminisierung der Belletristik schon in den achtziger Jahren heftig kritisiert wird, macht sich dabei aber das zeitgenössische double-bind-Argument zu eigen: „viele Literaten erkennen, daß die weibliche Kultur entscheidenden Anteil an der Trivialisierung der Literatur hat" (S. 41). - Gattungsgeschichtlich ist der „Frauenroman", verstanden als zeitgenössischer Diskurs zur Frauenrolle, natürlich älter; zur Herausarbeitung des weiblichen Geschlechtscharakters in Texten des 18. Jahrhunderts vgl. Helga Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. Berlin: Guttandin & Hoppe 1983 (= Reihe Métro 14). - Massenhafte Verbreitung bei gleichzeitiger ideologischer Begradigung findet die Gattung aber eben erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. 9 Zur eigenartigen Rolle der Eugenie Marlitt (1825-1887), die verspätete liberale Konzepte mit der Wunscherfüllungsstrategie des Märchenschemas kombiniert, vgl. Michael Kienzle: Reichsgräfin Gisela (1869). Zum Verhältnis zwischen Ideologie und Tagtraum. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Hrsg. v. Horst Denkler. Stuttgart: Reclam 1980, S. 217-230. 10 Was diese Texte erzielen wollen, nannte Ruth K. Angress eine „Sklavenmentalität", die sich mit „den bestehenden Machtverhältnissen [ . . . ] nicht nur abfindet, sondern ihnen auch mit Leib und Seele dient" (Sklavenmoral und Infantilismus in Frauen- und Familienromanen. In: Popularität und Trivialität. Fourth Wisconsin Workshop. Hrsg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Frankfurt: Athenäum 1974 ( = Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft), S. 121-139, S. 123. 11 Vgl. Franziska Ruloff-Häny: Liebe und Geld. Der moderne Trivialroman und seine Struktur. Zürich: Artemis 1976 (= Züricher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte 45). 12 Vgl. Konstanze Fliedl: Das Weib und der Kitsch. In: Sturzflüge 5/17 (1986), S. 31-36. - Die betreffenden Phänomene auf dem Gebiet der darstellenden Kunst beschreibt Helga Kämpfjansen: Kitsch - oder ist die Antithese der Kunst weiblich? In: Frauen - Bilder - Männer Mythen. Kunsthistorische Beiträge. Hrsg. v. Ilsebill Barta u.a. Berlin: Reimer 1987, S. 322-341. Auch Kämpf-Jansen vergleicht die zentralen Begriffe aus den Weiblichkeits-Diskursen der Jahrhundertwende und den Kitschtheorien der fünfziger und sechziger Jahre - es sind dieselben: Falschheit, Verrücktheit, das Böse, die Nichtigkeit. Kämpf-Jansens Fazit lautet: „Auf der Ebene der begrifflichen Bestimmung durch den Mann sind die Einschätzungen des ästhetischen Phänomens .Kitsch' und die Einschätzungen nicht nur der ästhetischen Aktivitäten der Frau, sondern auch ihrer wesensmäßigen Bestimmung weitgehend gleich" (S. 324f.). 13 Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, S. 34; Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 384, 191, 401. 14 Rudolf Henz: Literarischer Kitsch - literarische Konfektion. In: Wort in der Zeit 7/1 (1961), S. 2-6, S. 3; Max Wehrli: Wert und Unwert in der Dichtung. Köln: Hegner 1965, S. 37; Pawel Beylin: Der Kitsch als ästhetische und außerästhetische Erscheinung. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hrsg. v. H.R. Jauß. München: Fink 1968 (= Poetik und Hermeneutik 3), S. 393-406, S. 397; Hermann Broch: Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches. Ein Vortrag [1950]. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Frankfurt 1975 (= Kommentierte Werkausgabe 9/2; st 247), S. 158-173, S. 170 (vgl. auch Brochs Essays ,Das Weltbild des Romans' und ,Das Böse im Wertsystem der Kunst' [1933], ebda., S. 89-118, 119-157).
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15 Zu Ernst Blochs „Vor-Schein-Ästhetik" vgl. u.a. Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt 1973 (= es 622), S. 66f. 16 Hedwig Courths-Mahler (1867-1950) gilt als der auflagenstärkste deutschsprachige Autor [!]; bis 1941 waren ihre Romane bereits in etwa 30 Millionen Exemplaren verbreitet; inzwischen sollen einige Einzeltitel auch schon auf diese Auflagenziffer gekommen sein. Insgesamt verfaßte sie 207 Romane; im Rekordjahr 1920 allein veröffentlichte sie 14 Bücher (vgl. Walter Krieg: .Unser Weg ging hinauf'. Hedwig Courths-Mahler und ihre Töchter als literarisches Phänomen. Ein Beitrag zur Theorie über den Erfolgsroman und zur Geschichte und Bibliographie des modernen Volkslesestoffes. Wien: Heinrich Geitner 1953/54). 17 Bertas innerer Freudeschrei: „ich hab aber einen Geliebten, Geliebten, Geliebten!" (E 1,490) wiederholt Madame Bovarys legendären Ausruf: „Ich habe einen Geliebten! einen Geliebten!" Richard Specht nannte Berta denn auch „die österreichische .Madame Bovary'" (Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie. Berlin: S. Fischer 1922, S. 286; vgl. dazu Gutt, Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 71, 77). - Schon im .Reigen' hatte Schnitzler .Madame Bovary' zitiert, indem er das Ehepaar „Emma" und „Karl" nennt; die selbstgefällige Feststellung des Jungen Herrn', der mit „Emma" die Ehe bricht, klingt wie eine zynische Kontrafaktur des weiblichen Liebesseufzers: „Also jetzt hab ich ein Verhältnis mit einer anständigen Frau" (D 1,347). - Zu weiteren .Bovary'-Zitaten bei Schnitzler vgl. Barbara Surowska: Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ,Die Toten schweigen'. In: Orbis Litterarum 40 (1985), S. 372-379. 18 Vgl. Konstanze Fliedl: Verspätungen. Schnitzlers „Therese" als Anti-Trivialroman. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 33 (1989), S. 323-347. 19 G.J. Weinberger liest .Frau Berta Garlan' daher als weiblichen Bildungsroman: Der Text schildere gleichsam eine verspätete Adoleszenzkrise, eine Entwicklung von Bertas ursprünglicher Weltfremdheit bis zur Selbsterkenntnis (Arthur Schnitzler's Frau Berta Garlan: Genesis and Genre. In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 53-73). Folgt man seiner Auffassung, dann hätte Schnitzler die Gattung „Frauenroman" zum Äquivalent des männlichen Bildungsromans emanzipiert. Tatsächlich entspricht Bertas Lebenssituation aber dem bürgerlichen Sozialstatus der Frau am Ende des 19. Jahrhunderts, der eine Bildungsgeschichte eben noch nicht oder bestenfalls in Ansätzen vorsieht; Bertas abgebrochene Konservatoriumsausbildung illustriert dieses Defizit genau. Schnitzlers Novelle reflektiert vielmehr gerade den Umstand, daß ein literarisches „Frauenschicksal" die gattungsgeschichtliche Aufnahmsprüfung in den Bildungsroman nicht bestehen konnte. 20 Auch Bertas Traum in der Eisenbahn (E I,423f.) ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Wunschtraum; Theodor Reik hat seine Einzelheiten in diesem Sinn interpretiert (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 223-235). Michaela Perlmann hat darüber hinaus gezeigt, in welchem Maß Schnitzlers Lektüre der .Traumdeutung' für die psychanalytische Plausibilität dieser Traumdarstellung verantwortlich ist: „Eine derart unmittelbare Reaktion auf Freuds wissenschaftliches Werk dürfte innerhalb der Literatur um 1900 einmalig sein". Zugleich weist Perlmann auch auf die formalen Funktionen des Traums hin: Er fungiert tektonisch als Vorausdeutung, ästhetisch als Verschlüsselung des erotischen Themas und wirkungspsychologisch als Appell an die Aufmerksamkeit und Analysefähigkeit des Lesers (Der Traum in der literarischen Moderne, S. 99-108, bes. S. 106f.).
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21 Auch hier gibt es eine signifikante Differenz zwischen dem aktuellen Heimweh nach Wien und einer vergangenen Idiosynkrasie, die sich Berta offenbar im Dienst der ehelichen Zufriedenheit zugezogen hatte. Während der glücklichen Jahre mit ihrem Mann war sie nämlich ungern in die Hauptstadt gefahren: „Der Lärm, die Unruhe der großen Stadt erschienen ihr in der Erinnerung wie etwas Unangenehmes, beinahe Gefährliches" (E 1,394). 22 Thomé, Autonomes Ich und .Inneres Ausland', S. 654ff. 23 Ebda., S. 660-664. 24 Ebda., S. 665. - Ob Berta am Ende der Erzählung an Einsicht gewonnen habe oder nicht, ist in der Forschung nicht unumstritten. Nach Beverly Driver lernt Berta dazu, allerdings ist das eine „moral lesson" im Sinn sittlicher Normen; Berta gewinne „the peace of mind, the calm resignation, and the wisdom of maturity" und werde zur Überzeugung gebracht, „that her role in life is that of the mature woman who, although resigned to an unexciting personal existence, brings sympathy and understanding to the lives of those around her" (Arthur Schnitzler's Frau Berta Garlan, S. 295). Pessimistisch urteilen Barabara Gutt und Rolf Allerdissen. Laut Gutt zieht Berta die „falsche Lehre" und tritt einen „Rückzug in das sanktionierte Rollenleitbild von provinzieller Enge" an; laut Allerdissen betreibt sie nur mehr das „naiv-dümmliche Verdrängen schon geahnter tieferer Zusammenhänge zugunsten eines gewaltsam herbeigeführten und moralisch verbrämten Verzichts auf alle Sexualität" (Gutt, Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 78f.; Allerdissen, Arthur Schnitzler, S. 250). Für Alfred Doppler folgt das Scheitern von Bertas Hoffnungen zwangsläufig aus den in der Erzählung angedeuteten familiären und gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen (Der Wandel der Darstellungsperspektive in den Dichtungen Arthur Schnitzlers, S. 50f.). 25 Freud verwendet den Begriff (.Über Deckerinnerungen', 1899) selbstverständlich für unwichtige íúMfieííserinnerungen, die das Wichtige vertreten; in der .Traumdeutung' werden mehrere Beispiele gegeben. 26 Anläßlich der Relektüre seiner Texte für die .Gesammelten Werke' (1912) notierte Schnitzler, „auffallend oft wiederkehrend" sei die „Unsicherheit des Zeitgefühls . . . die Zeit dehnt sich, schiebt sich zusammen . . . (.Zeit ist nur ein Wort.' -) - " (Eintragung v. 23.3.1912 [TB]; das Zitat stammt aus ,Der Schleier der Beatrice', D 1,602). 27 Vgl. z.B. noch die späte Novelette ,Ich' (1917/1927): „Es war ihm, als säße er sehr lange da und er blickte auf die Uhr. Er war nur drei Minuten da gesessen, ja, dies war bestimmt eine Uhr, wenn auch auf dem Deckel nicht eingegraben stand, daß sie eine war" (EV 444). 28 Vgl. Dangel, Wiederholung als Schicksal, S. 144; Dangel zitiert z.B. auch Cäcilie aus dem .Zwischenspiel': „Ich bin schon heute nicht mehr, die ich war" (D 1,936). 29 Im Manuskript war diese Stelle näher ausgeführt: [ . . . ] - die Stämme waren näher gestanden - und jene Hütte war doppelt oder dreimal so groß gewesen - und der Himmel, ja der Him[mel] viel dunkelblauer - nicht so blaß wie heute . . Und eine Stimme war da [ . . . ] gewesen . . so tief - so voll. . . < s o > . . . . ja . seine Stimme . . diese ewige hallende Jugendstimme, und die ganze Welt war gleichsam dröhnender . . < lebendig > gewesen (Manuskriptfassung [1909/10], Nachlaß ULC, Mappe 136, unpaginierte Seiten; Rechtschreibkorrekturen und wieder verworfene Einfügungen werden hier der Lesbarkeit wegen
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nicht angeführt). - Das Manuskript spricht einmal sogar ausdrücklich von einem „Gedächtnisfehler" (S. 158v). 30 Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 155-163; Ders.: Schnitzler, ,Frau Beate und ihr Sohn'. In: Imago 3 (1914), S. 537-539. - Vgl. Worbs, Nervenkunst, S. 242-251. 31 Im Manuskript war das erotische Finale weitaus stärker akzentuiert, als Bruch aller moralischen Tabus, an denen Berta noch festgehalten hatte: und statt des Ekels .. der Verzweiflung, die sie aus der Tiefe ihrer Seele herausschöpfen wollte . . . Kam andres süßeres .. furchtbares
schamlos wilde Bilder stiegen vor ihr auf". Im ultimativen
sexuellen Akt wird das Gewissen suspendiert: „und sie gaben sich einer Lust hin, die ohne Reue war, da sie wußten, daß es für sie kein Morgen gab" (Manuskriptfassung, Nachlaß ULC, Mappe 136, unpaginierte Seiten). Auch sonst wird diese Textstufe um einiges deutlicher als die Druckfassung: Wilhelmine Fallehn war die Geliebte von Fortunatas Mann (S. 57), Fortunata selbst hat ihre Jugend „in einem schlechten Haus" verbracht (S. 76"). Mehrere Details verstärken die sinnlich aufgeladene Atmosphäre des Badeorts: „in jedem Blick, in jeder Miene, in jeder Bewegung der Hüften sprach sich sofort aus: Ich bin ein Mann . . . ich bin ein Weib" (unpaginierte Seite). Dergleichen drastische Einzelheiten hat Schnitzler diskret gestrichen; aber vor allem das Ende der Erzählung straffte er durch Selbstzensur. Insofern hatte Theodor Reik völlig recht, als er die Vermutung aussprach, „daß der Dichter anfänglich das Inzestmotiv in noch größerem Umfange und in noch stärkerer Ausgestaltung hervortreten ließ" (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 158; Worbs' Kommentar zu dieser Bemerkung ist unklar, da er sich auf die kurzen Entwürfe von 1906 und 1909 bezieht, die das Inzenstmotiv noch nicht herausarbeiten [Nervenkunst, S. 251]). 32 Von der Literaturwissenschaft ist .Therese' überhaupt lange Zeit vernachlässigt worden; erst die sozialgeschichtliche Wende der Schnitzler-Forschung schaffte Abhilfe. R.K. Angress hat den Text erstmals als „Frauenroman" vor dem Hintergrund der ausgehenden Monarchie gelesen (Schnitzlers ,Frauenroman' Therese. In: MAL 10 (1977), 3/4, S. 265-282). Zwei Jahre später setzten auch die Dissertationen von Christina Mattedi und Emory Wesley Carr die sozio-ökonomische Situation der Frau um die Jahrhundertwende in Beziehung zur Psychologie und Form des Romans (Christina Mattedi: Arthur Schnitzlers Roman „Therese - Chronik eines Frauenlebens" (Eine Interpretation). Innsbruck: phil. Diss. 1979; Emory Wesley Carr: Arthur Schnitzler's Therese: Chronik eines Frauenlebens. Binghampton: phil. Diss. 1979). Trotzdem mußte Jean Améry dem Publikum .Therese' noch 1981 „besonders eindringlich ans Herz legen"; und obwohl Sigrid Schmid-Bortenschlager vor allem den Kunst-Charakter von Schnitzlers „Chronik" betont und mit dem musikalischen Begriff des „Ritornells" beschrieben hatte, blieb beispielsweise Zdenko Skreb dabei, Schnitzler sei mit .Therese' „in nächste Nähe zum Kitsch" geraten (Jean Améry: Inmitten des alten Österreich - Arthur Schnitzler. In: LuK 16 (1981), S. 37-85, S. 39; Sigrid Schmid-Bortenschlager: Ritournelle et épisode dans Thérèse de Schnitzler. In: Ravy/Ravy (Hrsg.), Arthur Schnitzler, S. 47-59; Zdenko Skreb: Schnitzlers Therese. In: Neohelicon 11/1 (1984), S. 171-184, S. 179). Seit Elsbeth Dangels Arbeiten steht der Rang des Werks aber nun wohl endgültig außer Frage (Vergeblichkeit und Zweideutigkeit. .Therese. Chronik eines Frauenlebens'. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 164-187; Dangel, Wiederholung als Schicksal). Dangels Monographie geht von der Sozialgeschichte der Gouvernante aus und interpretiert Sujet, Erzählstruktur und Motivik behutsam und überzeugend im Hinblick auf
Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst
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die gesellschaftskritische und ästhetische Relevanz des Romans. - Zur zeitgenössischen Kritik und zu weiteren Forschungsbeiträgen vgl. Maya Kündig: Arthur Schnitzlers .Therese'. Erzähltheoretische Analyse und Interpretation. Bern: Peter Lang 1991 ( = Narratio 5), S. 130-165. 33 Über die pränatale Psychologie hinaus beruft sich Amy Colin in ihrer .Therese'-Interpretation auf die von Nicolas Abraham und Maria Torok vertretene These, „Familiengeheimnisse" prägten unbewußt noch das Verhaltensmuster der nachfolgenden Generationen. Im Roman entstehe eine Art Semiotik der Schuld: Thereses Handlungen sind „Zeichen" für die Verfehlungen der Eltern, Franz wiederholt nur das bislang imaginäre Verbrechen (Time, Death, and Secrets in Arthur Schnitzler's Therese: Chronik eines Frauenlebens.
In: MAL 25
(1992), 3/4, S. 215-239). - Obwohl Schnitzler in der Psychologie seiner Figuren hereditäre Aspekte durchaus berücksichtigt hat, deutet nichts darauf hin, daß er mit einer Quasi-Vererbung verdrängter Bewußtseinsinhalte gerechnet hätte. - Elsbeth Dangel deutet die Beziehungen der Familie Fabiani hingegen sehr plausibel im Sinn der Freudschen Familienneurose (Wiederholung als Schicksal, S. 44). 34 Vgl. dazu das aufschlußreiche Kapitel ,Die unerreichbare Vergangenheit' bei Dangel, Wiederholung als Schicksal, S. 94-101: „Jeder Zusammenhang zwischen dem Gewesenen und der Gegenwart, der den Lebensfluß in einem sinnfälligen Ablauf evident machen könnte, ist von vornherein ausgeschaltet, weil mit dem Vergangenen keine Erfahrung gemacht wurde, die sich in eine Lebenskontinuität einschreiben ließe. Die Erinnerung kann schon deswegen im Roman keine sinnstiftende Kraft sein, weil sie überhaupt nur in unausweichlichen Konfrontationen mit der eigenen Vergangenheit wachgerufen wird, meist bleibt sie völlig hinter den Anforderungen der Gegenwart zurückgedrängt" (S. 98). - Eine Ausnahme ist dabei allerdings zu machen, eben Thereses Erinnerung an die Geburtsnacht; Dangel schränkt daher an späterer Stelle auch ein: „Im Bewußtsein, Schuld auf sich geladen zu haben, konstituiert sich für Therese etwas, was sie sonst nirgends erfahren kann: die Erinnerung an eine Kontinuität des eigenen Lebens, in der sie für ihr Leben Verantwortung übernimmt" (S. 126). 35 Eine völlig konträre Einschätzung des Romanendes findet sich bei Thomé, weil Therese der „bewußten Bewältigung" ihres Schuldgefühls ausgewichen sei (Autonomes Ich und .Inneres Ausland', S. 617, Fußn. 59). „Bewältigung" schließt der Roman in der Tat aus; hingegen ist Thereses Schicksal teleologisch auf die Erinnerung der Geburtsnacht hin konzipiert. Thereses ambivalentes Verhalten ihrem Sohn gegenüber wird in der Literatur häufig für dessen negative Entwicklung verantwortlich gemacht; Schnitzler habe Therese „in ihrer Doppelrolle als Täterin und Opfer" vorgeführt (Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 179). Die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühle kommt Therese aber sehr wohl zu Bewußtsein; nur deutet sie alle spätere Schuld als Kausalfolge der „ersten", der Tötungsabsicht. 36 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916/17], Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe I; Fischer-Tb Wissenschaft 7301), S. 435. - Zwei Jahre vor dem Beginn der Arbeit am Roman las Schnitzler die .Vorlesungen', vgl. Eintragung v. 23.6.1922 (TB). 37 Diese Verfahren können beschrieben werden als nachdrückliche Markierung intertextueller Bezüge. Sie arbeiten strategisch heraus, was prinzipiell für alle Texte gilt: „Alle Texte partizipieren, wiederholen, sind Gedächtnisakte, alle sind Produkte der Abweisung und der Überbietung des Vorläufertextes, alle haben neben manifesten Spuren fremder Texte und
4. Die Schule der Frauen
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evidenter Transformationsformen kryptische Elemente [ . . . ] . Alle Texte wenden mnemotechnische Verfahren an" (Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 39). 38 Der Begriff wird in dem Sinn gebraucht, den Heide Ellert ihm gegeben hat: Er umfaßt das literarische „Zitat", aber auch das „.Hereinspielen' von nicht primär literarischen Kunstgattungen (Gemälden, Skulpturen, Instrumentalmusik, Opern-, Theater- und Tanzvorführungen)" (Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung, S. 19). 39 Heide Ellert hat diese strukturellen und programmatischen Funktionen exemplarisch dargestellt. Das letzte Kapitel ihrer materialreichen Studie ist Schnitzler gewidmet; untersucht werden die Musikzitate in ,Der Weg ins Freie' und .Fräulein Else'. Im „Künstlerroman" des Georg von Wergenthin thematisiert die Musik, vor allem Wagners .Tristan', die Ideale von Liebe und Kunst, an denen Georg scheitert; in die Monolognovelle sind die Notenzitate aus Schumanns .Carnaval' als optische/akustische Signale eingelagert, die Elses Finale synchron begleiten und ihre Träume und Phantasien musikalisch interpretieren (ebda., S. 315-335). - Zur Bedeutung von Musik und Oper in Schnitzlers Werk vgl. auch die eingehende Studie von Marc A. Weiner: Arthur Schnitzler and the Crisis of Musical Culture. Heidelberg: Winter 1986 (= Reihe Siegen 69); Ders.: Parody and Repression: Schnitzler's Response to Wagnerism. In: MAL 19 (1986), 3/4, S. 129-148. 40 Ellert, Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung, S. 350. 41 Ein Sehnsuchtsbild ist dieses Gemälde tatsächlich; unter den bekannten Bildern der Malerfamilie Valckenborch entspricht keines ganz dieser Beschreibung, obwohl beispielsweise das „Tournier" in der .Frühlingslandschaft' (1587) des Lucas van Valckenborch vorkommt (Kunsthistorisches Museum/Wien, Inv.Nr. 1065); tanzende Bauernpaare kennt die niederländische Genremalerei natürlich zuhauf. Schnitzler zitiert hier vielmehr ein Pasticcio von Bildelementen des Genres, ruft also die Erinnerung die Hintergrundbehandlung von Bildern dieser Art in toto auf. - Vgl. Alexander Wied: Lucas und Marten van Valckenborch (1535-1597 und 1534-1612). Das Gesamtwerk mit kritischem Oeuvrekatalog. Freren: Luca Verlag 1990 (für Dr. Alexander Wieds Recherchen und seine Briefauskunft v. 11.12.1995 danke ich an dieser Stelle herzlich). - Ein ähnliches Sehnsuchtsbild entwirft, aus ähnlichen Motiven, auch Johanna im ,Einsamen Weg': „Einmal hab ich zusammen mit dir im Belvedere ein Bild gesehen, an das denk' ich oft: Da ist eine Wiese mit Rittern und Damen - und ein Wald, ein Weinberg, ein Wirtshaus, und Burschen und Mädeln im Tanz, und eine große Stadt mit Kirchen und Türmen und Brücken. Und über die Brücke marschieren Soldaten, und auf dem Fluß gleitet ein Schiff dahin. Und weiter draußen ist ein Hügel, und auf dem Hügel ein Schloß, und in der Ferne hohe Berge. Und über dem Berg stehen Wolken, und über die Wiese schwimmen Nebel, und über die Stadt ergießt sich Sonnenglanz, und über das Schloß zieht ein Gewitter, und auf den Bergen liegt Schnee und Eis. - Und wenn einer sagte ,die weite Welt', oder wenn ich das Wort irgendwo las, so hab' ich immer an das Bild denken müssen" (D 1,805). 42 In: Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. München: dtv 1982 (= Hamburger Ausgabe 12), S. 216-223, S. 220 (Hervorhebung von mir). - Den Hinweis auf Goethe verdanke ich Alexander Wied: Lucas van Valckenborch. Innsbruck: phil. Diss 1970, S. 8f. - Was Jacob Burckhardt 1874 über die niederländische Genremalerei vorgetragen hatte, konnte Schnitzler dabei noch nicht kennen, weil es erst 1933 publiziert wurde: daß nämlich die Meisterschaft dieser Bilder den Ein-
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Vergessen u n d Erinnern. Trivialliteratur u n d Kunst
druck erwecke, „als werde nicht sowohl diese oder jene Szene an sich, sondern ein Moment des Weltganzen dargestellt, welchen der Maler zufällig im Nu fixiert habe und ohne welchen unsere Kunde von der Welt unvollständig wäre" (Über die niederländische Genremalerei. In: Jacob Burckhardt: Vorträge. Hrsg. v. Emil Dürr. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1933 (= Gesamtausgabe 14), S. 110-150, S. 128). 43 Vgl. Ute Immel: Die deutsche Genremalerei im neunzehnten Jahrhundert. Heidelberg: phil. Diss. 1967, S. 324f.: „Das Genre hatte sich ausgelebt und sank auf das Niveau des Kitsches ab." - Zur Kritik am literarischen Genrebild vgl. auch Eberhard Seybold: Das Genrebild in der deutschen Literatur. Vom Sturm und Drang bis zum Realismus. Stuttgart 1967 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 3). Seybold zitiert z.B. Heine - „Die vermaledeiten Genrebilder!" -, aber auch den Popularästhetiker Carl Lemcke: „Die ganze Welt ist Genre" (S. 223, 24). 44 Vgl. Jacob Burckhardt: Erinnerungen aus Rubens [1898]. In: Ders.: Antike Kunst. Skulptur der Renaissance. Erinnerungen aus Rubens. Hrsg. v. Felix Stähelin u. Heinrich Wölfflin. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1934 (= Gesamtausgabe 13), S. 367-517, S. 489. 45 Vgl. dazu: 175 Jahre Burgtheater. 1776-1951. Fortgeführt bis Sommer 1954. Zusammengestellt u. bearbeitet v. d. Direktion des Burgtheaters. Wien: Antaios/Wiener Bücherwurm Verlag [1955]; Burgtheater 1776-1976. Aufführungen und Besetzungen von 200 Jahren. Hrsg. v. Österreichischen Bundestheaterverband. 2 Bde. Wien: Ueberreuter [1979], 46 Schnitzler kannte die Berliner .Hamlet'-Inszenierung von zwei Besuchen im Oktober 1896. Am Burgtheater sah er Kainz als Darsteller des .Richard II.' im Mai 1901 und im Juni 1904, in der Rolle des .Cyrano' im April 1907 (Eintragungen v. 15. u. 30.10.1896, 12.5.1901, 4.6.1904, 23.4.1907 [TB]). 47 Heinrich Stümcke: Josef Kainz t . In: Bühne und Welt 13/1 (1910), S. 1-7, S. 7. - Stümcke erwähnt auch, daß Kainz kurz vor seiner Krankheit auch noch Richard III. spielen wollte; dazu ist es nicht mehr gekommen. 48 In: Bühne und Welt 13/1 (1910), S. 8f. - Kainz hatte die Rolle schon unter am Deutschen Volkstheater mit Begeisterung gegeben, wie der Regisseur Brahm mitteilte: „Über den .Cyrano' geriet er in helles Entzücken und versprach: ,Da sollen Sie Ihre Freude an mir haben'" (Otto Brahm: Kainz. Gesehenes und Erlebtes. Berlin: Egon Fleischel 1910, S. 34). 49 Konrad Falke: Kainz als Hamlet. Ein Abend im Theater. Zürich: Rascher 1911, S. 276. - Vgl. auch Brahm, Kainz, S. 43. 50 Vgl. die dritte Szene des fünften Aktes, als die Herzogin von York zu Bolingbroke kommt, um für das Leben ihres Sohnes zu bitten: „BOLINGBROKE: Das Schauspiel ändert sich; sein Ernst ist hin: / Man spielt ,den König und die Bettlerin'" (König Richard der Zweite [üs. v. August Wilhelm von Schlegel]. In: Shakespeare, Sämtliche Dramen, Bd. 2: Historien, S. 79-157, S. 150). 51 Ebda., S. 145. 52 Hamlet, Prinz von Dänemark [üs. v. August Wilhelm von Schlegel], In: Shakespeare, Sämtliche Dramen, Bd. 3, S. 589-701, S. 646f. 53 Freuds Hamlet-Interpretation kannte Schnitzler aus der .Traumdeutung'. Das Inzest-Thema (Hamlet zögert, den Mann zu töten, der seinen Vater beseitigt und seine Mutter geheiratet hat, weil jener nur seine eigenen Wünsche verkörpert) würde durch diese Assoziation frei-
4. Die S c h u l e der Frauen
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lieh verstärkt: Hugo, der figurativ ja seinen Vater doubelt und von seinem Freund vertreten wird, wäre der „andere" Hamlet. Daß Schnitzler diese Analogie mitzitieren wollte, muß in Anbetracht seiner Skepsis gegenüber Freuds Ödipus-Theorie zumindest zweifelhaft bleiben; allerdings hat Schnitzler ja nur das Axiom bestritten, die sexuelle Entwicklung des Knaben sei prinzipiell nicht ohne ödipale Phase zu denken. Hugo und Beate, als eindeutig inzestuöses Paar, könnten aber Schnitzlers Ausnahmefall sein, auf den Freuds Regel zutrifft. 54 Eintragung V. 23.4.1907 (TB). 55 Emile Zola hatte im .Figaro' drei Artikel publiziert, in denen er sich leidenschaftlich für die Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzte (15.11., 1. u. 5.12.1897); die Uraufführung des .Cyrano' fand am 28. Dezember statt; am 13. Januar 1898 erschien dann Zolas offener Brief J'accuse' (zu Zolas Engagement und zur Stellung der Intellektuellen vgl. Eckhardt Fuchs u. Günther Fuchs: J'accuse!'. Zur Affäre Dreyfus. Mainz: Decaton-Verlag 1994; zur Haltung der französischen Schriftsteller vgl. Susan Rubin Suleiman: The Literary Significance of the Dreyfus Affair. In: The Dreyfus Affair. Art, Truth, and Justice. Ed. by Norman L. Kleeblatt. Berkeley: University of California Press 1987, S. 117-139). 56 Edmond Rostand: Cyrano von Bergerac. Romantische Komödie in fünf Aufzügen [üs. ν. Ludwig Fulda]. M. e. Nachwort v. Ralf Steyer. Stuttgart 1994 (= RUB 8595), S. 151f. 57 Ebda., S. 87. 58 Von der Faszination durch Friedrich Kainz' Stimme berichten viele Zeitgenossen. Sie sei, so Otto Brahm mit ungewohntem Pathos, „aller Gewalten mächtig, funkelnder Reize voll" gewesen (Brahm, Kainz, S. 52); eine „Damaszener Klinge" nannte sie Jacob Minor (Josef Kainz. In: Jacob Minor: Aus dem alten und neuen Burgthater. M. e. Begleitwort v. Hugo Thimig. Zürich 1920 (= Amalthea-Bücherei 16/17), S. 203-215, S. 208). Ausführlicher war wie immer Hermann Bahr: „Seine Stimme kann locken und schmeicheln und betören [ . . · ] . Aber seine Stimme kann auch schmettern und dröhnen, wie Schall von scharfen Trompeten, wie Ruf tiefer Horner. Sie hat nicht nur alle Gewalten der großen Redner, sie hat mehr: sie übt unmittelbare musikalische Wirkungen aus. Das ist keine Rede mehr, das ist wie eine Symphonie eines ungeheuren Orchesters" (Josef Kainz. Wien: Wiener Verlag 1906, S. 45). 59 Shakespeare, Hamlet, S. 667, 644. 60 Konrad Falke nahm die Verse zum Motto seiner Studie über ,Kainz als Hamlet', die zwei Monate nach Kainz' Tod abgeschlossen wurde und 1911 erschien (S. IX). 61 Shakespeare, Hamlet, S. 644 [im Original: „the hobby-horse is forgot"]. - Das „hobby-horse" war eine bei Umzügen übliche Verkleidung; durch puritanischen Einfluß kam diese Maskerade ab. Warum das „hobby-horse" in Volkslied und Sprichwort etwas Vergessenes bedeutet, ist nicht ganz geklärt: „What is certain is that the hobby-horse, while very much remembered, became a byword for being forgotten" (Hamlet. Ed. by Harold Jenkins. London: Methuen 1982 (The Arden Edition of the Works of William Shakespeare), S. 500f.). 62 „Von Julie Wassermann ein unglaublich dummer Brief, in dem sie mich bezichtigt — in Julie Fabiani' (Therese) - ein Zerrbild von ihr geschaffen zu haben!! (Nie hatt ich an sie gedacht [ . . . ].)" (Eintragung v. 21.5.1928 [TB]). Schnitzler entgegnete in einem energischen Schreiben („Ihr Brief gehört wohl zu den phantastischesten Erlebnissen meiner Schriftstellerlaufbahn") und erklärte „jeden, der eine äußere oder innere, meinetwegen nur zufällige Ähnlichkeit zwischen Julie Fabiani und Julie Wassermann zu erkennen glaubt oder vor-
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Vergessen und Erinnern. Trivialliteratur und Kunst gibt, für einen Dummkopf oder bewußten Hetzer, jeden aber, der in der Mutter der Therese eine beabsichtigte Karikatur Ihrer Person vermutet, für ein Gemisch von beiden" (Brief v. 20.5.1928 [B II,553f.J). - Was Schnitzler allerdings von Julie Wassermanns literarischer Produktion hielt, ergibt sich aus dem intrikaten Nebensatz, „daß ich Sie [ . . . ] keineswegs für eine Romanschreiberin halte". - .Frau Berta Garlan' hingegen hatte ein unbestrittenes Vorbild gehabt, nämlich Schnitzlers Jugendfreundin Fanny Reich (1862-1930), die 1888 geheiratet hatte, nach Schlesien gezogen und 1896 Witwe geworden war. Zur Wiederbegegnung kam es im Mai 1899 (vgl. Wagner, Fïauen um Arthur Schnitzler, S. 11-19). Schnitzler hatte wohl auch sich selbst in Emil Lindbach porträtiert; die Novelle wurde daher oft für eine Art literarischer Wiedergutmachung gehalten: „Dafür hat er seiner Fanny jene Menschenwürde, die er in ihrem Leben mißachtete, in der Literatur mit Zins und Zinseszinsen zurückgegeben" (Ulrich Weinzierl: Eine anständige Frau. [. . . ] Arthur Schnitzler: Frau Berta Garlan (1901). In: Romane von gestern - heute gelesen. Hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki. 3 Bde. Frankfurt: S. Fischer 1989f„ Bd. 1: 1900-1918, S. 17-22, S. 22).
63 Um 1505/6; Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 7719. - Die Bezeichnung .Barberino' für dieses Bild ist nicht gängig; ein anderes Porträtbildnis eines .Barberino' existiert im Kunsthistorischen Museum aber nicht. - Vgl. Luigi Servolini: Jacopo de' Barbari. Padova: Le Tre Venezie 1944, S. 144f. 64 Um 1512/14; Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 63. - Vgl. Philip Rylands: Palma Vecchio. Cambridge: University Press 1992, S. 97f., 153f. 65 Um 1600; Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 700. - Rubens benützte ein zeitgenössisches Bildnis als Vorlage, vgl.: Peter Paul Rubens 1577-1640. Ausstellung zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. Wien: Kunsthistorisches Museum 1977, S. 92. 66 „Unberührbarkeit" nannte es György Gombosi (Palma Vecchio. Des Meisters Gemälde und Zeichnungen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1937 (= Klassiker der Kunst 38), S. XXIX). 67 Zu Fragen der Erzählhaltung in ,Frau Berta Garlan' vgl. Driver, Arthur Schnitzler's Frau Berta Garlan; sie spricht von einem „active, but neutral narrator" (S. 296). Michael Levene faßt das Ende der Novelle als expliziten Erzählerkommentar auf („daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist" [ES 1,513]); dieser Eingriff sei überflüssig, ja „a distinct stylistic flaw" (Erlebte Rede in Schnitzler's Fïau Berta Garlan. In: Robert Musil and the Literary Landscape of his Time. Ed. by Hannah Hickman. University of Salford: Department of Modern Languages 1991, S. 228-246, S. 240). Was .Therese' betrifft, so hat Maya Kündig die These aufgestellt, das Romangeschehen werde praktisch ausschließlich aus der Perspektive der Hauptfigur wiedergegeben. Die Frage, wie dann die Differenzen zwischen Thereses Bewußtsein und dem Standpunkt des Erzählers zu erklären sind, versucht Kündig durch die Konstruktion zu lösen, Therese sei ein „erinnernder Reflektor", eine „zeit- und körperlose Instanz", die quasi sich selbst begleitet (Arthur Schnitzlers .Therese', S. 53ff., 122). Warum die Lesersteuerung durch den Erzähler um jeden Preis eliminiert werden soll, bleibt unerfindlich. Mit einem Begriffsinventar, das auf die Terminologiebildung Franz K. Stanzeis, Käthe Hamburgers und Eberhard Lämmerts zurückgeht, wird der Roman bei Kündig gleichsam überprüft. Die Problematik eines solchen Vorgehens zeigt sich schon an Kündigs Analyse von ,Der Sohn': Ein Textphänomen,
4. Die S c h u l e der Frauen
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das aus ihrem erzähltheoretischen Rahmen fällt, wird dem Autor als „Fehler" angelastet (S. 45). - Daß Therese nur als „quasi-narrator" fungiert, während die Informationsvorgabe nach wie vor dem Erzähler, einem „anonymous, but privileged, observer", vorbehalten bleibt, unterstreicht David S. Low (Therese. Chronik eines Fïauenlebens. Reflections on Schnitzler's „Other Novel". In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 199-213). Gerade weil dieser Erzähler dann darauf verzichtet, Thereses unsichere Wahrnehmungen und Urteile zu korrigieren und den Leser mit zusätzlichem Wissen zu versorgen, werde der Entfremdungsprozeß nachvollziehbar, den Therese durchmacht (S. 202f., 208f.). 68 „Es gehört zu den Prinzipien Schnitzlers, den Erzählprozeß durch die Wiederaufnahme, Ausarbeitung und überraschende Umwertung des anfänglich unauffällig Präsenten voranzutreiben" (Thomé, Autonomes Ich und .Inneres Ausland', S. 647). 69 Vgl. Dangel, Wiederholung als Schicksal, S. 173f. 70 Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit [ils. v. Eva Rechel-Mertens]. Frankfurt 1984 (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7; st 988), S. 302.
DRITTER TEIL
POLITIK UND GEDÄCHTNIS
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„ D E R W E G INS F R E I E " UND „ P R O F E S S O R BERNHARDI"
Hatte die Kritik Schnitzlers psychologische Intuition seit jeher gelobt und sich schließlich auch auf seine feine Einfühlungsgabe ins weibliche Seelenleben geeinigt, so warf sie ihm immer noch vor, einem anderen Gebiet vollkommen verständnislos gegenübergestanden zu sein. Jahrzehntelang hielten seine Interpreten daran fest, eines habe Schnitzler einfach nicht interessiert: die Politik. „Schnitzler has always and rightly been considered an outstanding type of non-political writer" (1963); „Schnitzler's work is remarkably lacking in overt social comment. It has little or nothing to say about the broader political issues of his time" (1971); „Arthur Schnitzler besaß einen originären Sinn für die Geschichte ebensowenig wie für die Politik" (1981); „It is no secret that Schnitzler was not highly involved in history or politics" (1992). 1 Freilich macht man seit der sozialgeschichtlichen Wende der Schnitzler-Forschung in den siebziger Jahren auch entschiedene Einschränkungen; als scharfsichtiger Gesellschaftskritiker habe sich Schnitzler dann zwangsläufig auch mit dem politischen Rahmenbedingungen seines Milieus auseinanderzusetzen gehabt, trotz lebenslangen Ekels vor dem verlogenen Geschäft staatlicher Interessenvertreter: Machen wir uns nicht mitschuldig an der Lügenhaftigkeit der Welt, insbesondere am Komödienspiel der Politik, wenn wir uns immer wieder anstellen, als hätten wir innere Ansichten, Überzeugungen, Ideen zu bekämpfen, da wir doch wissen, daß uns nur Parteiinteresse, Gedankenlosigkeit und Bosheit gegenüberstehen. (AB 239)
Schnitzlers oft geäußerter Widerwille hat die These von seiner politischen Abstinenz zwar begünstigt, seine konkreten Stellungnahmen, etwa zum Militarismus und „Patriotismus", lassen aber keineswegs auf Politikferne schließen; im Gegenteil, sie analysieren sehr genau die gelenkten Mechanismen politischer Willensbildung.2 Richtig ist allerdings, daß Schnitzler seinen Werken erst allmählich präzisere politische Konturen gab, aus einem immer drängenderes Motiv: Die politische Formation des bislang latenten Antisemitismus in den achtziger und neunziger Jahren3 hat den jüdischen Autor Schnitzler politisiert.4 Auf den Druck des Vorurteils reagierte er offensiv, umso mehr, weil man ihn ja eben als Künstler disqualifizierte. Das Hauptargument des sogenannten Kulturantisemitismus besagte, daß „der Jude an der Culturarbeit der Völker nirgends und keinerlei Antheil genommen" habe.5 Das zunehmende antijüdische Ressentiment traf Schnitzler auch in seiner Identität als Autor. Wenn daher der Roman ,Der Weg ins Freie' (1908) und die „Komödie" .Professor Bernhardt (1912) literarische Antworten auf die sogenannte „Judenfrage" sind, so nicht im
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Politik und Gedächtnis - „Der Weg ins Freie" und „Professor Bernhardi"
Sinn einer pragmatischen politischen Lösung oder einer persönlichen Entscheidung, sondern im Sinn einer poetologischen Reflexion: Wie war in einem gesellschaftlichen Klima, in dem jüdische Künstler doppelt ausgegrenzt wurden, noch Kunst zu machen, und wie hatte sie auszusehen? In beide Werke ist auch formal eingegangen, worauf Schnitzler unter dem Druck ständiger polemischer Angriffe zurückgriff: eine spezifisch jüdische Fähigkeit zur Erinnerung. Den bedrohlichen politischen Entwicklungen hatte (und hat) die Literatur nur eines entgegenzusetzen: ihre Eigenschaft, das sich abschottende kollektive Gedächtnis zu korrigieren.
1. „Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich": Georg und die Juden 6 A. „Wenn ich dein vergesse, Jerusalem": Zur Entstehung In seiner Autobiographie erwähnt Schnitzler, daß es im Gymnasium noch „kaum Spuren" des Antisemitismus gegeben habe (JiW 329). Erst in den achtziger Jahren setzte die gezielte antisemitische Propaganda ein, und sie hat wohl viele assimilierte Juden erst daran erinnert, Juden zu sein. „Ein Jude ist ein Mensch, den die anderen als solchen betrachten" - Sartres „schlichte Wahrheit"7 wurde damals buchstäblich am eigenen Leib empfunden: Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er ein Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen n i c h t u n d die J u d e n n o c h weniger. M a n hatte die Wahl, für u n e m p f i n d l i c h , zudringlich, frech oder für empfindlich, schüchtern, verfolgungswahnsinnig zu gelten. U n d a u c h w e n n m a n seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß m a n weder das eine n o c h das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein M e n s c h gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren ließ, aber mit w a c h e n und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt. (JiW 328f.)
Diese Erfahrung aktivierte das, was die jüdische Tradition für Gefahrensituationen vorsah: eine wachsames Gedächtnis.8 Jüdische Erinnerung ist auch eine Vorsichtsmaßnahme mit dem Ziel, sich vor der Illusion der Geborgenheit zu hüten. Für diese besondere Spielart des Gefahrengedächtnisses kennt die Bibel ein exemplarisches Beispiel, den Überfall der
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Amalekiter auf die sorglosen Israeliten während der Wüstenwanderung (Ex 17,8-16). Dieses historische Trauma ist ständiger Anlaß für den Aufruf „Bleib dessen eingedenk", „Vergiß das nicht!" (Deut 25, 17-19) 9 Im „Amalekitersyndrom" wird geschichtliche Erfahrung wach- und für gegenwärtige Krisensituationen bereitgehalten. Einem jüdischen Schriftsteller bedeutete das Erinnerungsgebot daher nicht nur eine poetologische Doktrin; für ihn hatte es die Dringlichkeit einer notwendigen Warnung. Das so aufgerufene Gedächtnis stieß aber auf ein zynisches Paradox. Der Antisemitismus, der die jüdische Fähigkeit zur Erinnerung zwangsweise hervorrief, sprach den Juden zugleich genau dieses Erinnern polemisch ab. Das Vorurteil identifizierte „den Juden" gerade mit dem Unsteten, dem Flüchtigen, mit allem, was der Kontinuität des Gedächtnisses zuwiderläuft. Man grenzte die Juden zuerst als Fremde aus und dementierte dann ihren Anteil an der Geschichte und Erinnerung des Gastlands. Als Außenseiter weiß der Jude, „daß er genau wie die anderen an der Zukunft der Gemeinschaft mitwirkt, die ihn verstößt. Aber wenn auch die Zukunft ihm gehören mag, so verweigert man ihm zumindest die Vergangenheit".10 Als quasi gedächtnisloses Individuum verkörperte er für die Antisemiten den Verlust traditioneller Bindungen - und hatte ihn daher auch zu verantworten. Aus dem Fundus der literarischen Dekadenz- und Impressionismuskritik der neunziger Jahre holte sich die antisemitische Agitation neue Munition, wobei zwischen Figur und Autor ebensowenig Unterschied gemacht wurde wie zwischen Diagnose und Krankheit. Die „pathologischen" Züge des Jungen Wien führte man auf den jüdischen Einfluß zurück und erklärte Dekadenz zu einem „semitischen" Phänomen.11 Zur Identifikation mit dem Juden lud die Fungibilität des „impressionistischen Menschen" geradezu ein. Seine Symptome - Nervosität, Reizabhängigkeit, Verantwortungsscheu und „Wurzellosigkeit" - brauchten nicht mehr als kollektives soziopsychologisches Syndrom gelesen zu werden, sondern ließen sich in das Stereotyp des Fremden übernehmen.12 Alle Bedrohlichkeit des Modernisierungsprozesses wurde auf das Feindbild projiziert. Die Opposition gegen Modernität konnte sich gegen die Darstellung von Modernisierungsprozessen richten und damit die „modernen" jüdischen Künstler denunzieren. Sie hat es im Fall Schnitzler, unter dem Deckmantel sittlicher Empörung, in der Form kaum verhüllter rassistischer Polemik, oft genug getan.13 Tendenziell signalisierten die Angriffe bereits die Absicht, das Werk eines Schriftstellers, der keine bodenständige Erinnerung zu vertreten hat, aus dem Gedächtnis der Zeitgenossen zu streichen.
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Im Roman ,Der Weg ins Freie' hat Schnitzler auf diese feindselige Paradoxie, die den Juden zugleich Erinnerung aufzwingt und abspricht, reagiert. Entstehungsgeschichtlich gesehen, enthält der Roman ein verdecktes Epitaph und ein programmatisches Memento, die beide für die Zeitgenossen unschwer zu entziffern waren. Am Geburtstag seines Sohnes, dem 9. August 1902, schrieb Schnitzler die erste Seite des lang erwogenen Romans nieder. „Eigentlich begonnen" wurde die Niederschrift im März 1903, abgeschlossen im November 1907. 1 4 Obwohl Schnitzler später selbst erwähnte, der Roman spiele gegen Ende der neunziger Jahre, 15 konnten die Zeitgenossen doch vielfach rezentere Vorfälle mitlesen. In den ersten Monaten des Jahres 1905 arbeitete Schnitzler am dritten Teil des Romans, dem „Sophienalpen"-Kapitel; es schildert einen Herbstausflug und enthält eine lange Debatte zwischen dem jüdischen Schriftsteller Heinrich Bermann und dem jüdischen Musiker Leo Golowski (E 1,719—723).le Thema der Auseinandersetzung ist der Zionismus - die politische Bewegung, die auf den Antisemitismus mit einer ganz pragmatischen Erinnerung an den eigenen Herkunftsort, das biblische Land der Väter, reagiert hatte. Die „wichtigste historische Erinnerung für alle Juden", den Exodus, hat Theodor Herzl „personalisiert und vergegenwärtigt". 17 Im Roman vertritt Heinrich Bermann die Einwände der assimilierten Juden gegen den Zionismus: Gegen das Ahnengedächtnis führt er an, daß „hier, gerade hier meine Heimat ist und nicht in irgend einem Land, das ich nicht kenne" (E 1,720). Als deutschsprachiger Autor kann Heinrich, den man vielfach als Sprachrohr Schnitzlers verstanden hat, von einer Auswanderung nach Palästina nichts halten. 18 Leo Golowski hingegen verteidigt die „Sehnsucht nach Palästina [ . . . ] als ein echtes, nie erloschenes und nun mit Notwendigkeit neu aufflammendes Gefühl", und er berichtet „von seinen Erlebnissen auf dem Basier Zionistenkongreß, an dem er im vorigen Jahre teilgenommen hatte". Dort sei zum Zorn und Schmerz der Versammelten erklärt worden, „daß man die Hoffnung auf Palästina vorläufig aufgeben und sich mit Ansiedlungen in Afrika und Argentinien begnügen müsse" (E I,720f.). Dergleichen wurde nach Auskunft der stenographischen Protokolle allerdings weder auf dem ersten Basier Kongreß von 1897, noch auf den beiden folgenden verhandelt. Präsent war Schnitzlers Lesern wohl vielmehr der 6. Kongreß von 1903; er ist der letzte Kongreß von Schnitzlers Schreibzeit her gesehen und der letzte, bei dem Herzl selbst noch den Vorsitz führte: 1904 fand wegen Herzls Tod keine Zusammenkunft statt. Auf diesem 6. Kongreß also wurde das sogenannte Uganda-Projekt, eine Offerte der britischen Regierung an
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Herzl, dort ein Territorium zur Verfügung zu stellen, heftig und kontrovers diskutiert. Obwohl es vielen Delegierten unerträglich schien, den Gedanken an eine Rückkehr ins Land der Väter fallenzulassen, wurde der Antrag über die Entsendung einer Kommission nach Uganda mit Stimmenmehrheit angenommen; Herzl aber hielt in seiner Schlußrede daran fest, die Hoffnung auf Palästina sei nicht verloren: „Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, verdorre meine Rechte!" (Ps 137,5)19 Trotz Schnitzlers entschiedener Distanz zum Zionismus und trotz seines nicht immer ungetrübten Verhältnisses zu Theodor Herzl ist der ,Weg ins Freie' auch ein Buch des Gedenkens an den Mann, der „nie erfahren hat, wie sehr ich ihn respektirt, ja bewunderte",20 und ein Dokument der Treue, nicht zu einer „Heimat", aber zu einer Herkunft. B. Diskrete Mementi: Zur Struktur In die Konstruktion des Romans ging der Antagonismus von Opfergedächtnis und gesellschaftlicher Amnesie unmittelbar ein, und zwar mit einer Anlage, die dem Autor schon von der zeitgenössischen Kritik heftig verübelt wurde. Denn Schnitzler verteilte Erinnerung und Vergessen als Figurenopposition. Da ist in der Tat Georg von Wergenthin, „Freiherr, Germane, Christ" (E I, 908), dazu noch Musiker, der sich in die kleinbürgerlich-katholische Musiklehrerin Anna verliebt; ein Kind ist unterwegs, eine Reise wird gemacht, das Kind kommt tot zur Welt, und Georg löst seine Beziehung zu Anna, um als Kapellmeister in eine deutsche Provinzstadt zu gehen. Und da sind Georgs jüdische Bekannte, Großbürger, in deren Salon er verkehrt, Künstler, mit denen er sich unterhält, die alle Facetten jüdischen Verhaltens in einem antisemitisch verengten Handlungsspielraum darstellen. Der Vorwurf lautete, Schnitzler habe Georgs Geschichte mit den jüdischen Kreisen nicht ausreichend verhakt.21 Aber was in dem Roman tatsächlich passiert, ist, daß Georg die modern-krisenhafte Flüchtigkeit und Bindungslosigkeit vertritt, während die jüdischen Figuren unter dem Zwang des Erinnerungsgebots handeln, ihm wohl auch ausweichen oder von ihm deformiert werden. Georg selbst ist unbedingt ein „impressionistischer Charakter".22 Daß er dem Augenblick zugeneigt und der Verantwortung abhold sei, hat die Forschung selbst dann nicht bestritten, wenn ihr Georg sympathisch war. Ohne moralischen Zeigefinger ließ sich sein Verhalten später als Ausdruck einer Identitätskrise und als Folge seiner Ich-Schwäche deuten.23 Vor allem
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aber ist Georg eins: ein Vergeßlicher. Alle neuen Abschnitte seines Lebens verdrängen seine unmittelbare Vergangenheit zunächst einmal gänzlich. Daß ihm die musikalischen Entwürfe seiner Knabenzeit „so vollkommen entschwunden" sind, daß er sie als die Aufzeichnungen eines anderen jederzeit akzeptiert hätte (E 1,638), mag ja noch hingehen; aber in den zwei Monaten der Inkubationszeit nach dem Tod seines Vaters hat er an Anna Rosner „die ganze Zeit über nicht gedacht" (E 1,639), der letzten Nacht seines Vaters „dachte er heute zum erstenmal" (E 1,644), und überhaupt fällt ihm auf einmal vieles ein, „woran ich kaum mehr gedacht hatte" (E 1,647). Sein Gedächtnis, wenn er eins hat, ist recht unverläßlich: Annas Stimme ist denn auch gleich „viel schöner, als seine Erinnerung sie bewahrt hatte" (E I, 651). Auch die ganze Anna verschwindet zuweilen offenbar so spurlos aus seinem Gedächtnis, daß er sie einmal gar nicht erkennt, als sie zur Tür hereintritt (E 1,740). Georgs schwache Merkfähigkeit betrifft zuweilen sogar seine Künstlerschaft, über die er sich doch definiert: „Er vergaß nur sozusagen manchmal, daß er ein Künstler war" (E 1,711). Mitunter müht sich Georg redlich, seine Erinnerungen zu kultivieren, aber „mit Willen" bringt er es lediglich zu einem „öden" oder „müden" oder „trockenen" Erinnern (E 1,711,793,954). Hingegen rufen Orte wohl zuweilen einen „Duft der Erinnerung" hervor (E 1,941). Sinnliche Auslöser führen zu einer Kulinarik des Gedächtnisses, quasi zu einem Tourismus der Erinnerung, den Georg ursprünglich auch im Zug konsumierte: „Es ist so schön daliegen und sich erinnern". 24 Daß es ihm immer wieder entfällt, Bücher, die er sich ausgeliehen hat, zurückzugeben, mag noch Schnitzlers ironischer Kommentar zu diesem Typus sein; Georg bringt es aber auch fertig, während eines erotischen Abenteuers Anna und die bevorstehende Geburt seines Kindes völlig zu vergessen, was selbst ihn noch eine Weile beschäftigt. Aber als Georg sich schuldig fühlen und annehmen will, daß seine Vergeßlichkeit den Tod des Kindes gewissermaßen herbeigeführt habe, 25 winkt Heinrich ab: „Nie in ihrem Leben wär' Ihnen etwas Derartiges eingefallen, wenn Sie nicht mit einem Subjekt meiner Art verkehrten" (E 1,957). Denn die jüdischen, vor allem die alten jüdischen Männer des Romans haben ein Monopol aufs gute Gedächtnis. Als Doktor Stauber Georg von den Besuchen bei seinen, Georgs, Eltern erzählt - „Sie werden sich kaum daran erinnern" - , ist Georg „verwundert über das gute Gedächtnis des Arztes" (E I,659f.). Auch der alte Eißler kannte Wergenthins - „Daran werden Sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern können" - , und wirklich: „Georg suchte in seinem Gedächtnis. Es war ihm entfallen" (E 1,749). Aber
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auch Heinrich Bermann rechnet schon mit Georgs Erinnerungsschwäche: „Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich" (E 1,669). Er selbst, Heinrich, wird von Erinnerungen gepeinigt; die anonymen Briefe von der Untreue der Geliebten packt er in einen Umschlag mit der Aufschrift „Nicht vergessen, nie dran vergessen". Daß er selbst dieses Pathos als „kindische Spielerei - oder Affektation" bezeichnet, verdankt sich nicht nur seiner Einsicht, daß kein Mensch mit den Erfahrungen eines anderen etwas anfangen kann. Was Heinrich hier vorführt, ist buchstäblich - in den „großen, römischen Buchstaben" der Aufschrift - die Säkularisierung des alten biblischen Erinnerungsgebotes (E I,833ff.). Um diese Opposition - zwischen Vergessen und Erinnerung - dreht sich der Roman. Sie ist getarnt mit einigen Engführungen zwischen Georg und den jüdischen Figuren. Schon Schnitzler selbst hatte auf Parallelen in den plots hingewiesen. Gleich nach Erscheinen des Romans Ende Mai 1908 hatte Georg Brandes, der erste Gewährsmann der Doppelroman-Theorie, zu bedenken gegeben: „Aber haben Sie nicht zwei Bücher geschrieben? Das Verhältnis des jungen Barons zu seiner Geliebten ist Eine Sache, und die neue Lage der jüdischen Bevölkerung in Wien durch den Antisemitismus eine andere, die mit der ersteren, scheint mir, in nicht notwendiger Beziehung steht. Die Geliebte ist nicht Jüdin". 26 Schnitzler konzedierte zwar, es wäre vielleicht „klüger, künstlerisch klüger" gewesen, Anna zur Jüdin zu machen, aber: „Ich konnte nicht. Die Gestalt der Anna stand von Anfang an eben so unwidersprechlich als katholisch da". Statt dessen schlug er behutsam vor, die Gemeinsamkeiten der Figuren mitzulesen: „aber fiel es Ihnen nicht auch auf, wie sowohl Georg als Heinrich Bermann als Leo Golowski jeder ein Menschenleben auf dem Gewissen haben? Georg metaphysisch oder in der Einbildung der Mörder seines ungeborenen Kindes Heinrich läßt seine Geliebte aus Eitelkeit [ . . . ] zu Grunde gehn - Leo bringt seinen Gegner im Duell um". 27 Eine zweite Parallele besteht zwischen der Liebesgeschichte und den zahlreichen amourösen Nebenhandlungen, wobei gerade die verschiedenen Optionen der jüdischen Figuren eine Rolle spielen. Oskar Ehrenberg, der in seiner Assimilation bis zur katholischen Camouflage geht, ist gleich anfangs im Begriff, seinem Vorstadtmädel den Abschied zu geben; die Sozialistin Therese Golowski hat ein Sommerverhältnis mit dem „Herrenreiter" Demeter Stanzides; und Heinrich, zu dessen Identitätsproblematik es gehört, daß er sich für keine der ausgewiesenen jüdischen Positionen entscheiden will, läßt seine Freundin fallen, die Schnitzler mit einem gol-
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denen Kreuzchen um den Hals ebenso unwidersprechlich wie Anna als Katholikin dastehen läßt (E 1,835). Die jüdische Geliebte des Grafen Schönstein erhält „bei dem Beichtvater einer Erzherzogin" Glaubensunterricht (E 1,732), und für das Kind, das sie erwartet, werden boshaft Namen erfunden wie „Israel Pius" oder „Rebekka Portiunkula" (E 1,926). Hier gibt es also die klügeren Liebesallianzen - wenn sie auch so lose sind wie Georgs Beziehung zu Anna. Und noch ein drittes Moment verbindet Georg entschieden mit Heinrich: die Schwäche und Unentschlossenheit, mit der sie ihre künstlerische Produktion betreiben. 28 Begonnene und liegengelassene Arbeiten scheinen sie als epochentypische Repräsentanten des Dilettantismus zu charakterisieren. Unter den Bedingungen „impressionistischen" gesellschaftlichen Zerfalls kann die Herstellung geschlossener ästhetischer Strukturen nicht mehr angemessen sein; aber Georgs und Heinrichs Projekte bleiben unfreiwillig Fragment. Vor allem diese permanente Schaffenskrise verbindet Georg mit seinem Antipoden, und daher hat man in der Künstlerproblematik auch häufig die thematische Synthese der Figurenkreise des Romans sehen wollen. In sie gehen auch die aktuellen Schreibhemmungen des Autors ein - Schnitzlers Konzentrationsschwächen, Depressionen, Selbstzweifel während der Arbeit, von denen die Tagebücher berichten. Aber darüber hinaus war die Frage, wie zur Kontinuität eines Werks gefunden werden konnte, zeittypisch - und Schnitzler hat sie gerecht an beide Figuren, Heinrich und Georg, gestellt. Denn Schnitzler hat es auch peinlich vermieden, den Gegensatz zwischen seinen Figuren durch eindeutige Sympathiesignale zu unterstreichen. Obwohl der Erzähler auch gelegentlich der Innensicht jüdischer Figuren wie Heinrich oder Berthold Stauber folgt, ist Georgs Perspektive so dominant, daß seine Urteile über die Vertreter „dieses Volkes" oft als bare Münze des Erzählerwillens genommen wurden. 29 Daß Georg Antisemit sei, wurde in der Literatur zum Roman ebenso behauptet wie bestritten. 30 Schnitzler war, was Georgs Haltung - und was den Protest und die Anklage der jüdischen Figuren betrifft, von einer unglaublichen Diskretion. Hier lohnt sich ein Blick auf die nachgelassenen Entwürfe, vielmehr die verworfenen Passagen zum ,Weg ins Freie', die sich viel weniger zurückhalten. Im endgültigen Text gibt es Verschwiegenes und Ausgespartes. Besonders Leo Golowski kürzt ab. In der besagten Diskussion mit Heinrich äußert er sich über den antisemitischen Josef Rosner und seine Radfahrkumpanen :
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Aber daß diese Leute sich als die Einheimischen ansehen und Sie und mich als die Fremden, das kann man ihnen doch nicht übel nehmen. Das ist doch schließlich nur der Ausdruck ihres gesunden Instinktes für eine anthropologisch und geschichtlich feststehende Tatsache. Dagegen und daher auch gegen alles, was daraus folgt, ist weder mit jüdischen noch mit christlichen Sentimentalitäten etwas auszurichten. (E 1,719)
„Was daraus folgt", sagt er nicht, und darüber gibt das Manuskript Auskunft: Dass man in Ihnen und in mir die Andern und andersartigen sieht, entspringt am Ende doch nur dem eingeborenen Instinkt der Bevölkerung für eine anthropologische Tatsache. Dass dieses Gefühl sich vor allem in Abneigung, Verachtung und Hass umsetzt, beruht auf einer ziemlich allgemeinen Anlage des Menschengeschlechts. Dass dieser Hass sich in allerlei Schurkerei, in Ungerechtigkeit, Verläumdung und Mord zu äussern vermag, das beruht mit darauf dass wir uns in der Minderzal [!] befinden. 3 1
Später wendet sich Leo gegen die antizionistischen Argumente Heinrichs; er hält dessen Gesichtspunkt - als deutsch schreibender Autor - für „beschränkt" und „egoistisch", weil es sich gar nicht um ihn, Heinrich, handle, sondern „um ganz andre Menschen, die Sie nicht genau oder gar nicht kennen" (E 1,720). Auch darüber ist Genaueres aus der gestrichenen Fassung zu erfahren: Es handelt sich hier um andere Leute: um die Millionen, die leiden, wirklich leiden, die in steter Gefahr und Angst leben und überdies sich nicht zuhause fühlen, so wenig Sie sich zuhause fühlen würden, wenn man Ihnen die Fenster einschmisse, Ihnen die Knochen zerschlüge und Ihre Braut schändete [ . . . ] . 3 2
Solch unverhohlene Mementi hat Schnitzler also zurückgenommen. Georg ist nicht Angeklagter, und er ist auch nicht Verfolger. In derselben diskreten Schwebe wie das Verhältnis von Georg zum Judentum hält Schnitzler den Titel. Wiederum ist umstritten, ob Georg tatsächlich den ,Weg ins Freie' findet, also im Deutschen Reich ein strammes und tüchtiges Mitglied der Gesellschaft wird, oder ob in Georgs Kapellmeisterei in (ausgerechnet) Detmold nicht vielmehr Schnitzlers ironischer Kommentar zum philiströsen Fluchtweg der Figur zu sehen ist. 33 Auch hier läßt das Manuskript zumindest keinen Zweifel daran, in welche Umgebung Georg „im Freien" geraten ist. Vom Detmolder Konzertmeister, von dem es im Roman nur mehr heißt, daß Georg gelegentlich mit ihm zu speisen
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pflegte (E 1,913), erfährt man in der ursprünglichen Textstelle nun doch ein wenig mehr: Als Georg ihm einmal von seinen Wiener Bekannten erzählte, hatte er sich nicht wenig gewundert, dass jener mit manchen Juden auf gutem, geradezu freundschaftlichem Fuss zu verkehren schien, und es nur mit einigen bekannten wienerischen Eigenschaften, wie Gutmütigkeit und Oberflächlichkeit zu entschuldigen vermocht. Er verachtete überhaupt den österreichischen Antisemitismus in seiner Unaufrichtigkeit und Verpfaffung und lobte sich den gesunden deutschen Standpunkt, sich einfach die Vertreter dieser fremden Rasse vom Leibe zu halten. „Für mich", sagte er einmal, „gibt es keine Judenfrage, so wenig als es eine Neger- oder Chinesenfrage für mich gibt." Und als ihm Georg von dem Duell zwischen Leo Golowski und dem Oberleutnant Schefranek erzählte, nicht ohne die Absicht, Leo als ein Bild jüdischen Heldenmuts und Ehrgefühls hinzustellen, beklagte er kaum das Los des Gefallenen, der es dadurch verdient, dass er einen Juden gewissermassen als Seinesgleichen behandelte, wenn auch nur dadurch, dass er ihn gequält und beschimpft hatte. Er leugnete auch durchaus nicht, dass bei den Juden allerlei gute Eigenschaften vorkommen mögen, nur seien sie eben Menschen andrer Rasse, anderer Art, ja das sei er bereit zu schwören, anderen Geruch[s] - mit denen es für einen Arier nun einmal eine innere Gemeinschaft so wenig geben könne, als mit irgend einem Tier, das ja auch in seiner Art etwas vorzügliches bedeuten könne.. . 34 Georg befindet sich also jetzt in einer Gesellschaft, die ihre Feindbilder bestialisiert und daher selbst auf dem Weg zur Bestialisierung ist - und daß Schnitzler diesen Befund einspart, zeigt die Disziplin, mit der er sich an Georgs eingeschränkte Perspektive hält. Was Georg nicht sehen, was er vergessen will, läßt auch Schnitzler weg. Während die gestrichenen Passagen nachtragen, was hinter Georgs unentschiedener Beziehung zu den Juden steckt, hat der Roman selbst noch eine leise, aber exakte Begleitung zum Thema: Es ist dies die Musik, die Georg hört oder m a c h t . 3 5 Wie Notenschrift liegt unter dem Text noch ein musikalisches Zeichensystem, das sich als eindeutiger Kommentar zur „Judenfrage" entziffern läßt. Während der wackere Detmolder nicht zu erwähnen vergißt, daß die Juden „den grossen Kunstwerken der Deutschen, insbesondere Wagner innerlich vollkommen fernstünden", 3 6 fällt eine solche Bemerkung im Roman nicht; wohl aber ist vor allem ,Tristan und Isolde' leitmotivisches T h e m a . 3 7 Abgekürzt werden Richard Wagners antisemitische Polemiken; und als Georg die neueinstudierte Tristan-Aufführung besucht, wird über den Dirigenten nichts gesagt. Seine Stelle bleibt gewissermaßen leer, damit Georg sich in sie hineinphantasieren
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kann. Unter einer neuen Tristan-Inszenierung konnten sich die Zeitgenossen aber nur die von Oktober 1898 oder die vom Februar 1903 vorstellen beide besorgt und dirigiert von Gustav Mahler. Georg sieht sich selbst anstelle des Operndirektors, der während seiner Amtszeit immerfort antisemitischen Angriffen ausgesetzt war, obwohl er sich hatte taufen lassen. Dieser tote Winkel in seiner Wahrnehmung entsteht durch „Georg's compulsion to repress Judaism, to seperate it from his life, his heritage, his career and his artistic production". 38 Und seine Identifikation mit Tristan, die ihm erlaubt, die (jüdische) Wirklichkeit zu übergehen, hat eine verborgene Kennmelodie - im Text der Oper: „Vergessens güt'ger Trank, - / dich trink ich sonder Wank!" 39 Was Georg auszublenden versucht, ist das Schlaglicht, das auf die Juden fällt und bei ihnen Trotz oder Anpassung oder sogar gegenseitiges Ressentiment erzeugt. Heinrich erzählt Georg im Roman die betreffende, vielzitierte Anekdote „von dem polnischen Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahnkupee sitzt, sehr manierlich - bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß der auch ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten ,ä soi' die Beine auf den Sitz gegenüber ausstreckt" (E 1,755). Sigmund Freud hatte sie als Beispiel jüdischer Selbstkritik genannt, 4 0 aber Theodor Lessing wird sie als Beispiel jüdischen Selbsthasses anführen. 4 1 Jedenfalls ist selbst diese Respektlosigkeit voreinander, die Schnitzler vor allem in der Form von Verrissen jüdischer Kritiker zu spüren bekam, noch eine Konsequenz des äußeren Druckes. 42 Eine ständige Folge von Herabsetzungen erzeugt die Empfindlichkeit, die Georg als fixe Idee oder Verfolgungswahn zu pathologisieren versucht. Aber Heinrich kontert sofort, daß es vielmehr um den „Wahn des Geborgenseins" (E 1,832) gehe das trügerische Sicherheitsgefühl, auf das die jüdische Tradition mit ihren Erinnerungsaufrufen reagierte. Georg kann sich erinnern, wenn er will die Juden müssen es. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss" - was Nietzsche als grausame moralische Didaktik charakterisiert hatte, 43 ist bei den Juden die brutale Mnemotechnik der Geschichte.
C. „Sie stört nicht unnützes Erinnern": Zur Rezeption In den Tagebüchern hat Schnitzler immer wieder mit Verblüffung notiert, daß sich seine Vorbilder ganz und gar so verhielten, wie er es im ,Weg ins Freie' bereits aufgeschrieben hatte: Sie sprechen, „was schon in meinem
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Roman steht".44 Wie wahrhaftig - und antizipatorisch - Schnitzlers Roman gewesen ist, läßt sich bereits an den publizistischen Reaktionen der Zeitgenossen präzise ablesen. Die Buchausgabe wurde Ende Mai 1908 ausgeliefert. In seinem .Tagebuch' vom 10. Juni plaudert Hermann Bahr auch von Schnitzlers Roman; er hatte das Thema Erinnerung wohl genau registriert, wendet es aber in einer höchst doppeldeutigen Argumentation gegen die Juden - im Text und in der Wirklichkeit. Mit Nietzsche beklagt er den Nachteil der Historie. Die fruchtlose Betrachtung der Vergangenheit ist bei ihm aber ein österreichisches Dilemma. Dem Judentum hingegen spricht er die gemeinsame Tradition und Erinnerung ab. Zwangsläufig landet er bei den bekannten antimodernistischen Affekten: Da sind wir nun aber dort, wo ich die Juden nicht verstehe. Sie hätten es so leicht. Ich beneide sie. [ . . . ] Sie stört nicht, zu lebendiger Zeit, unnützes Erinnern. Diese ganze rostige Kultur, mit der wir uns schleppen, in der wir, von den Vätern her, ersticken, ist ihnen fremd. Sie hätten es so leicht: Benutzt die Gegenwart mit Glück! Sie könnten uns dabei die besten Helfer sein. [ . . . ] Wie können sie an einer Vergangenheit leiden, die sie gar nicht haben? Statt aber darin ihren Stolz und den Mut zu sich selbst zu finden, züchten sie sich jetzt unsere Vergangenheit an, was natürlich gar nicht möglich ist und sie nur lächerlich und verächtlich macht. Alle leiden wir an jenem unnützen Erinnern. Wir erkennen, daß wir genau so viel leisten und vor der Zukunft einst gelten werden, als es uns gelingt, Vergangenheit zu vergessen und Vergangenheit vergessen zu machen. Eben das aber, was wir vergessen wollen, daran spritzen sich die Juden jetzt ein künstliches Erinnern ein. 45
Auch hier darf man zwischen den Zeilen noch etwas anderes lesen. Bahr zitiert aus Goethes Spruch an die Vereinigten Staaten („Amerika, du hast es besser"46). Im Gegensatz zum alten Kontinent stört dort zu „lebendiger Zeit" kein „unnützes Erinnern". Wenn Amerika es besser hat, suggeriert Bahrs Text, könnten es die Juden doch auch anderswo besser haben. Aus dem biederen Kopfschütteln über ihre Assimilationsversuche wird ein Wink mit dem Zaunpfahl. Daß Schnitzler Bahrs Anmerkungen zwar „fabelhaft dumm" fand, ihn bei „all seiner Unfähigkeit jemals irgend eine Sache klar, frei, rein anzusehen" aber als „ein wundervolles Exemplar Mensch" gelten läßt, ist schon erstaunlich großzügig.47 Denn Bahrs Kommentar ist nicht nur ein Plädoyer für die Vergeßlichkeit. Indem er die Juden als wurzellose Moderne herabsetzt, bereitet er die Argumente vor, die in den antisemitischen Debatten auftauchen werden. Auch mit dem Gedächtnis der Freunde Leopold von Andrian und Hugo von Hofmannsthal hatte Schnitzlers Roman kein Glück. Zwei Jahre nach
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Erscheinen führte Andrian den Erfolg des Buches darauf zurück, „daß es so gut ausgeht . . . daß die zwei sich am End doch heiraten" (Schnitzler empfahl neuerliche Lektüre). 48 Hofmannsthal hingegen übte „künstliches" Vergessen. Er teilte Schnitzler im Oktober 1910 mit, daß er das Buch „halb zufällig halb absichtlich in der Eisenbahn liegen" gelassen habe, und erbat ein neues Exemplar. Schnitzler nahm das mit einigem Recht als Ausdruck von Hofmannsthals ,,unglückliche[m] Verhältnis" zu seinem Werk. Hofmannsthal entschuldigte sich und berief sich auf die von Freud beschriebenen Fehlleistungen, was die Sache nicht besser machen konnte; schließlich erklärte er, nicht er, sondern seine Frau habe das Buch im Zug vergessen, „also eine Gedächtnis-täuschung meinerseits". 49 Daß Hofmannsthal hier als ein zweiter Georg agierte, ist nicht verwunderlich angesichts seiner Berührungsangst mit dem „national-stolze [n]" Judentum, die sich in einem späteren Konflikt mit Richard Beer-Hofmann zeigen sollte. 50 An Beer-Hofmann selbst schrieb Schnitzler im September 1908 ironisch, eben sei die 14.-20. Auflage des Romans erschienen: „Ich werde trotzdem nicht irre an ihm . . ,".51 Tatsächlich verkaufte sich das Buch gut, S. Fischer brachte 1928 das 86. Tausend heraus, und im Jahr darauf erschien die Neuausgabe im Sieben Stäbe-Verlag in 50.000 Exemplaren. Von diesen Verkaufszahlen auf eine einhellig begeisterte Kritik zu schließen, verbietet sich natürlich. Selbstverständlich traf ein, wogegen sich Schnitzler schon vor Erscheinen gewehrt hatte: Georg wurde ein literarischer Ahnenpaß ausgestellt, der zu Anatol zurückreichte. Und den im Roman geschilderten Verhaltensmustern folgten die Rezensenten mit reflexhafter Automatik. Anlaß war fast immer die vielberufene doppelte Handlungsführung und ihre mangelnde Verbindung. „Ja, wenn Anna Jüdin wäre - " lautete der kritische Stoßseufzer. 52 Der Kritiker der .Times' nahm sich das gleich zu Herzen und behauptete in schlichter Fehlleistung und „Gedächtnis-täuschung", daß Anna Jüdin sei.53 Auch wenn die Rezensenten Annas Konfession nicht vergessen hatten - daß man jeweils einen Teil des Buches vergessen könne, haben sie den Lesern im Brustton der Überzeugung versichert. Welche Seite das wäre, richtete sich nach der persönlichen Einstellung des Kritikers: Überflüssig war entweder die Liebesgeschichte oder die „Judenfrage". Die politischen Optionen der Figuren bildeten sich haargenau in den Besprechungen ab. Stefan Großmann, der Rezensent der ,Arbeiter-Zeitung', vertrat die Therese-Golowski-Position: Er warf Schnitzler vor, sich nur mit dem wohlhabenden Wiener Judentum zu beschäftigen; außerdem neige der
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Roman zu „allerlei pathetischen, aber haltlosen Zionismen". 54 Umgehend behauptete die zionistische ,Welt' das Gegenteil. Sie lobte den ,Weg ins Freie', weil sie ihn als Votum für Palästina mißverstand. Schnitzler habe „beinahe ein zionistisches Buch" geschrieben, obwohl er doch doch selbst „eines der Schoßkinder des Assimilationsprotzentums" sei. 55 Die liberalen Blätter, die ,Zeit' und die ,Neue Freie Presse', haben schließlich auch noch den Roman assimiliert. Im ,Zeit'-Feuilleton war es Felix Saiten, der sich zum Problem des bürgerlichen Judentums nicht äußern wollte: „ich käme zu sehr ins Weite". 56 In der .Presse' unterdrückte Raoul Auernheimer beharrlich den Inhalt der „Tages- und Zeitfragen", auf die sich Schnitzlers Roman bezog. Else Ehrenberg ist bei ihm „das typische Wiener Mädchen aus gutem Hause", ohne daß mit einem Wort gesagt wird, welche Krisen das jüdische Haus erschüttern, aus dem sie stammt. 57 Die Jüdische Zeitung' hat gegen dieses „feige, unaufrichtige Sich-Drücken", das bekanntlich die gezielte Politik der .Neuen Freien Presse' war, denn auch heftig polemisiert. 58 Viel virulenter aber ist eine Spielart der Kritik, die sich Schnitzlers Zurückhaltung in der Vergabe von Sympathiewerten zunutze macht. Man erinnere sich an Leos Sätze im Gespräch mit Heinrich: Aber daß diese Leute sich als die Einheimischen ansehen und Sie und mich als die Fremden, das kann man ihnen doch nicht übel nehmen. Das ist doch schließlich nur der Ausdruck ihres gesunden Instinkts für eine anthropologisch und geschichtlich feststehende Tatsache. Dagegen und daher auch gegen alles, was daraus folgt, ist weder mit jüdischen noch mit christlichen Sentimentalitäten etwas auszurichten. (E 1,719)
Und man erinnere sich daran, daß Schnitzler gestrichen hat, was Leo ursprünglich hinzufügt: Hinter diesem „gesunden Instinkt" verbergen sich Abneigung, Verachtung, Haß, Schurkerei, Ungerechtigkeit, Verleumdung und Mord. Erhalten blieb nur die bitter-ironische Einleitung. Genau diese gekürzte Stelle aber setzte das .Deutsche Volksblatt' als Motto über einen antisemitischen Leitartikel; Schnitzler wird perfiderweise zum antijüdischen Kronzeugen. 59 Die (jüdischen) Rezensenten, die sich über die schlechten Eigenschaften der (jüdischen) Figuren hermachen, arbeiteten einer Kritik zu, die aus der Analyse des „geschliffenen, unbewußt rassenegoistischen jüdischen Intellektualismus" 60 ganz andere Folgerungen zog: Georgs ,Weg ins Freie' rette ihn aus seiner semitischen Umgebung in den Norden. Der Roman wurde mit einem Zynismus ohnegleichen als Diagnose jüdischer Dekadenz, jüdischer Krankhaftigkeit, jüdischer Asozialität in
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den Dienst genommen. Die Konsequenz solcher Deutungen lag wohl darin, daß die ersten Schwarzen Listen der Nazis zur Bücherverbrennung 1933 den ,Weg ins Freie' als einziges Werk Schnitzlers ausdrücklich vom Verbot ausnahmen.61 Am 1. Jänner 1909 hatte Schnitzler im Tagebuch geschrieben: „An der Stelle, die ihm gebührt wird der Roman erst in der reinem Atmosphäre späterer Jahre sich behaupten. - " In späteren Jahren lautet eine Eintragung: „Wohl uns dass wir nicht in die Zukunft sehen können". 62 Wenn der ,Weg ins Freie' trotzdem antizipatorische Qualitäten besitzt, verdankt er sie einer Vorstellungskraft, die nichts anderes ist als „Erinnerung, und zwar nicht einmal Tatsachenerinnerung, sondern Wort- oder Bilderinnerung" (AB 201). Die Ursachen einer Zukunft, die auch von Schnitzler nicht zu prognostizieren war, hat der ,Weg ins Freie' jedenfalls mit großer Treue aufbewahrt.
2. „Donnerwetter, du hast ein gutes Gedächtnis": Bernhardi und der Minister A. Affairen und Amnesien: Zur Entstehung Nach der letzten Korrektur des ,Weg ins Freie' im Jänner 1908 nahm Schnitzler einige alte Pläne auf, ohne sich zu einer neuen Arbeit recht entschließen zu können: „Finde viel gute Einfälle und nirgends den Griff". 63 Erst am 14. März gab eine aktuelle Kontroverse den Ausschlag, sich für einen Entwurf zu entscheiden: „Mit O. über das Aerztestück viel geredet (anläßlich der Affaire Wahrmund, gegen den die Clericalen eine infame Hetze vollführen) und über meinen Vater. -" 6 4 Zwei Tage später begann Schnitzler zu schreiben, und nach weiteren zwei Tagen tauchte der endgültige Titel auf: „- Nm. am Aerztestück (Prof. Bernhardi?) -" 6 5 Die „Affaire Wahrmund", der betreffende entstehungsgeschichtliche Anstoß, beschäftigte damals seit Wochen die Presse. Der Innsbrucker Ordinarius für Kirchenrecht, Ludwig Wahrmund (1860-1932), hatte am 18. Jänner einen öffentlichen Vortrag gehalten, der unversehens zum Politikum wurde: Wahrmund konstatierte, recht polemisch, die Unvereinbarkeit von .Katholischer Weltanschauung und freier Wissenschaft'. 66 Daraufhin setzten wütende Proteste und Gegenproteste ein. Auf die Sympathiekundgebungen freisinniger Studenten folgten Massendemonstrationen kirchlicher Vereinigungen; am 12. März hatten die katholischen Tiroler Abgeordneten eben beim (liberalen) Unterrichtsminister Gustav Marchet interveniert. In den folgenden Wochen eskalierte die Auseinandersetzung: Im Herrenhaus kam es zu einer Interpellation, es folgten Studentenunruhen, Universitätsbesetzungen und schließlich ein Generalstreik an den Hochschulen. Am Ende siegte die katholisch-konservative Seite: Wahrmund wurde im Juni nach Prag versetzt. 67 Der Fall war exemplarisch, für die öffentliche Hysterie, die durch Verleumdung und polemische Verzerrung geschürt werden konnte, für liberalen Opportunismus und klerikale Intrige. Das „Aerztestück", an dem Schnitzler in den folgenden Jahren mit Unterbrechungen arbeitete, sollte auf diese Dynamik politischer Manipulation zurückkommen. Im Juni 1912 wurde es abgeschlossen, im September dem Wiener Volkstheater eingereicht, im Oktober verboten. 68 Schon bei der Vorlesung im Mai, vor Olga Schnitzler, Beer-Hofmann, Saiten, Arthur Kaufmann, Gustav Schwarzkopf und Leo Van-Jung, waren von Akt zu Akt die „Censur- und praktischen Bedenken" gestiegen; darüber hinaus fand
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Saiten, „ein Jud sollte das doch nicht schreiben". „Kurz", notierte Schnitzler, „das Stück fing an . . . kaum daß ich es vorgelesen hatte. -" 6Q Denn daß die „Komödie" von einem Arzt und Professor, der die Letzte Ölung einer Sterbenden nicht zulassen will, um sie nicht aus dem Zustand der Euphorie zu reißen, ein Schauspiel öffentlicher Erregung zur Folge haben würde, lag auf der Hand. Zu schonungslos wurden auf der Bühne die „Geschäfte der Klerikalen" benannt (D 11,396), zu ungeschminkt trat ein majoritätshöriger Unterrichtsminister auf. Und daß es ein jüdischer Spitalsdirektor ist, der wegen Religionsstörung verurteilt wird, trug Schnitzler den Vorwurf ein, er habe lediglich pro domo geschrieben. Selbst Georg Brandes teilte diese Bedenken. In einem Artikel im ,Merker' wies er darauf hin, das Stück behandle ein Schicksal, wie es auch Schnitzlers Vater widerfahren sei, den man ebenfalls aus Gründen des „Religions- und Rassenhasses" aus dem selbstgegründeten Hospital hinausgedrängt habe. Aus künstlerischen Rücksichten erhob Brandes vorsichtigen Einspruch gegen „Werke, in denen der Dichter so gerade und offen eine Sache in Bezug auf Verhältnisse führt, die ihn persönlich gekränkt und gequält haben. Sie gestalten sich ebensosehr zur Polemik wie zur Poesie".70 Schnitzler stellte das umgehend richtig; sein Vater sei, trotz manchen Undanks, nicht aus der Poliklinik hinausintrigiert worden, und der .Professor Bernhardi' habe von ihm nur wenige Züge entliehen, so daß man keineswegs von einem Schlüsselstück sprechen könne: „Meine Komödie hat keine andre Wahrheit als die, daß sich die Handlung genau so, wie ich sie erfunden habe, zugetragen haben könnte, - zum mindesten in Wien zu Ende des vorigen Jahrhunderts".71 Daß sie sich so zugetragen haben könnte, war nicht nur durch die spätere „Affaire Wahrmund" belegt, sondern bereits durch die Kampagnen der klerikalen Hetzpresse in den neunziger Jahren - es waren dieselben Zeitungen, die dem .Bernhardi' dann böswillige Entstellung vorwerfen sollten. Die .Reichspost' und das .Deutsche Volksblatt', beide nach den Worten Karl Luegers als Kampforgane gegen die „Riesenmacht" der „judenliberalen" Partei und Presse gegründet,72 promulgierten in Leitartikeln und Berichterstattung einen militanten Antisemitismus, gegen den sich die Judenfeindschaft der Ebenwald und Filitz im Drama noch geradezu harmlos ausnimmt. Schnitzlers fiktiver .Bernhardi'-Skandal wirkt außerordentlich moderat gegenüber den historischen Anlässen wilder Polemik, beispielsweise der „Kreuzzeichen-Affaire" vom Herbst 1892 und der „Rettungsgesellschaft-Affaire" vom Sommer 1894. Ein Erlaß des Bezirksschulrats von Wien vom 10. Oktober 1892 sah vor, daß die katholischen Schulkinder das
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Kreuzzeichen von nün an schweigend zu machen hätten, was umgehend auf die „Verjudung" des Schulwesens zurückgeführt wurde. Die antiliberale und antisemitische Agitation des „Katholischen Schulvereins" erreichte einen Höhepunkt. Auf einer Großversammlung wußte Prinz Aloys Liechtenstein von einer jüdischen Verschwörung, die hinter dem Erlaß stecke: „Entzieht uns das Judenthum unseren Glauben und die Summe civilisatorischer Kraft und moralischer Schätze, die ihm entfließen, dann sind die christlichen Völker eine atomisirte Masse, reif für die Knechtschaft, die Geißelhiebe und die Frohnarbeit, eine wehrlose Beute. [ . . . ] Nur im Interesse des Großjudenthums liegt es, daß wir Christen die Religion verlieren, die uns miteinander verbindet".73 Im Anschluß an seine Rede wurde eine Resolution verfaßt, die vom Minister für Kultus und Unterricht die Auflösung des „christenfeindlichen" Wiener Bezirkschulrates forderte; der Kreuzzeichenbeschluß wurde danach wegen eines Formfehlers kassiert. Der zweite Vorfall betraf die Wiener Rettungsgesellschaft; im Juni 1894 mußten sich zwei ihrer Ärzte dem Vorwurf antisemitischen Verhaltens stellen. Ein Untersuchungsausschuß wurde einberufen, und man zog unter anderen einen Universitätsprofessor bei, den Pathologen Hermann Nothnagel. Daraufhin traten die christlichen Sanitäter aus der Rettungsgesellschaft aus, und eine wütende Pressekampagne setzte ein. Die nationalklerikale Studentenschaft organisierte erbitterte Demonstrationen gegen den „parteilichen" Hochschullehrer. Die Kontroverse endete damit, daß die Vorlesungen Nothnagels nicht wiederaufgenommen werden konnten; drei jüdische Studenten, die auf seiner Seite gestanden waren, wurden relegiert.74 Mochten solche Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen im .Bernhardi' noch zufällig sein, so gab es im Jahr zwischen diesen beiden Vorfällen, trotz Schnitzlers Auskunft an Brandes, tatsächlich auch eine .Poliklinik'-Affaire. Kurz vor seinem Tod, im April 1893, hatte Johann Schnitzler sich zu einer bösen Intrige an seinem Spital äußern müssen. Nachdem der (jüdische) Rechnungsführer der Poliklinik durch den Ärztestab seines Amtes enthoben worden war, beschwerten sich eben diese Kollegen bei Direktor Schnitzler, er sei Gerüchten über die antisemitischen Beweggründe dieser Absetzung nicht energisch genug entgegengetreten.75 Johann Schnitzler nahm zu den Antisemitismus-Vorwürfen außerordentlich ironisch Stellung - „der tückische Zufall der eigentümlichen Majoritäts- und Minoritätsbildung bei Ihrer Abstimmung gab solcher Auffassung immerhin einen Schein von Berechtigung, und Ihre, nicht meine Sache wäre es
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gewesen, nachzuweisen, dass bei der Enthebung des Rechnungsführers einzig und allein sachliche Erwägungen für Sie ausschlaggebend waren" -, aus seiner Erbitterung über die Illoyalität der Klinikumsmitglieder machte er aber kein Hehl.76 Arthur Schnitzler hat diesen Brief seines Vaters im Juli 1915 wiedergefunden und dazu notiert: Heute fallen mir diese Blätter in die Hand, die ich seit gewiss 10 oder 15 Jahren nicht gelesen, und die mir, insbesondere als ich den .Bernhardi' schrieb, bis auf die Tatsache ihrer Existenz (inclusive) aus dem Gedächtnis geschwunden waren. Sie sprechen für sich selbst, für den ,Bernhardi', für meinen Vater, der 14 Tage nach Abfassung der vorstehenden Antwort gestorben ist. 77
Daß Schnitzler den Anlaß vergessen haben will - vielleicht als einen Präzedenzfall von Verhältnissen, „die ihn persönlich gekränkt und gequält haben" -, macht den .Bernhardi' zu einem kuriosen Fall unbewußter Bewältigung, zu einer Art subliminaler Gedächtnisarbeit. Denn wenn seine Komödie sich auch einer eindeutigen Kollision von historischen Kräften entzieht, wenn sie nicht versucht, „den Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche oder gar [ . . . ] den Streit zwischen zwei Religionen darzustellen oder am Ende in irgend einer Richtung zu entscheiden",78 so ist sie einem agonalen Gegensatz mit Sicherheit nicht ausgewichen. Auch im .Bernhardi' bestimmt eine radikale Opposition das Handeln der Figuren: Gedächtnis und Vergeßlichkeit. B. Populist und Privatmann: Zur Struktur Bernhardis Gegenspieler auf diesem Feld ist der Politiker Flint. Anfangs setzen Bernhardis Kollegen im „Elisabethinum" große Hoffnungen auf den neuernannten Minister für Kultus und Unterricht; als ehemaliger klinischer Professor, meinen sie, würde er gewiß auch für ärztliche Interessen eintreten. Der Dermatologe Tugendvetter und der Neurologe Cyprian, die seinerzeit mit Bernhardi die Klinik gegründet haben, spekulieren mit Flints Unterstützung, Tugendvetter überbringt Bernhardi schon einmal Flints Grüße: „Er erinnert sich noch mit Vergnügen der Zeit, wo ihr zusammen bei Rappenweiler Assistenten wart" (D 11,347). Der Enthusiasmus der beiden Gründungsmitglieder, die es besser wissen müßten, setzt Bernhardi in Erstaunen: „Ihr seid in einer Weise vergeßlich!" (D 11,354) Denn er erinnert sich an anderes, nämlich an Flints Versuche, die Errichtung des Spitals zu hintertreiben und den Ärztestab rufschädigend zu kompromittieren: „Wärst
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du eine Viertelstunde länger bei ihm geblieben, hätte er sich eingebildet, ich sei sein bester Freund gewesen. Und geradeso ist vor zehn Jahren das Elisabethinum, erinnere dich nur, ein Seuchenherd mitten in der Stadt gewesen, und wir - eine bedenkliche Clique allzu strebsamer junger Dozenten" (D 11,374). Noch bevor Flint selbst aufgetreten ist, läßt sich sein Typus bestimmen, er ist eine Neuauflage des gedächtnislosen Impressionisten79 in seiner gefährlichsten Variante: als schauspielernder Politiker. In klassisch-impressionistischer Manier richtet sich Flint nach der „Stimmung" des Augenblicks, nur daß die Stimmung nicht mehr vom Individuum selbst abhängt, sondern vom Kollektiv. Flints parlamentarische Auftritte regelt eine einzige Instanz: die Gunst seiner Zuhörer.80 In einer satirischen Mini-Szene des „Theaters auf dem Theater" hat Schnitzler nochmals die Bloßstellung des kernlosen Komödianten mit einer Publikumskritik enggeführt: Unter vier Augen wird Bernhardi Flints pompöse rhetorische Selbstinszenierung mit ironischem Applaus quittieren - „Ich dachte, es würde dir fehlen" (D 11,456). Wenige Minuten später fällt der letzte Vorhang, und das klatschende Theaterpublikum müßte den imaginären Schritt in die politischen Zuschauerränge schon getan haben: Gemeint ist eine Wählerschaft, die ihre Vertreter nach ihren selbstdarstellerischen Qualitäten honoriert. Flint, der seine Uberzeugungen jederzeit und mühelos wechseln kann und noch allen Ernstes deklamiert: „Man sollte keine Erinnerungen haben in unserer Stellung" (D 11,449), ist ja nur das öffentliche Exempel eines gedächtnislosen Opportunismus, der unter erfolgreicher Politik die jeweils geglücktere Schaustellung versteht. Bernhardi hingegen beansprucht im Dialog mit Flint mehrmals und mit großem Nachdruck das, was seinem Gegenspieler gänzlich fehlt: FLINT
Solltest du nachträgerisch sein, Bernhardi?
BERNHARDI
Ich habe nur ein gutes Gedächtnis. (D 11,381)
Flint plädiert sofort dafür, „die Jahre des Kampfes vergessen" sein zu lassen, was Bernhardi pariert: „Es erschiene mir wie eine Treulosigkeit gegen meine eigene Vergangenheit, wenn ich so leicht darüber hinweggehen könnte" (D 11,382). Er habe jedenfalls nie gegen seine Überzeugung gehandelt, wendet Flint ein; auch das läßt Bernhardi nicht gelten, und er erzählt nun eine seiner Erinnerungen an die Assistentenzeit. Ein Patient - „ich weiß sogar noch seinen Namen, Engelbert Wagner" - war an einer Fehlbehandlung gestorben; Flint, als einziger, hatte die richtige Diagnose gestellt und hätte den Kranken retten können, schwieg aber, um sich bei seinem
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Professor nicht unbeliebt zu m a c h e n . „Erinnerst du dich?", insistiert Bernhardi, und: „Donnerwetter, du hast ein gutes Gedächtnis", konzediert Flint (D 11,383). Sogleich weiß er sich aber auf die höheren Z w e c k e seines Handelns h i n a u s z u r e d e n u n d wirft Bernhardi seinerseits vor, er h a b e in der S a c h e mit dem Pfarrer „vergessen [ . . . ] , d a ß wir in e i n e m c h r i s t l i c h e n Staate leben". Bernhardi kontert: „Du wirst dich wieder einmal über m e i n gutes Gedächtnis wundern". Er w e i ß noch, daß Flint einmal vorhatte, ein kirchenkritisches Pamphlet zu schreiben; über den Titel „Gotteshäuser Krankenhäuser" war er allerdings nicht hinausgekommen (D 11,385). A m Ende liefert Flint n o c h m a l s ein Kabinettstückchen der Vergeßlichkeit, als Bernhardi in Anwesenheit von Hofrat Winkler auf ebendiesen Artikel zu sprechen kommt: FLINT Ja, lieber Hofrat, einer aus meiner - revolutionären Zeit. Wenn er Sie interessiert, so will ich ihn gern einmal hervorsuchen und BERNHARDI Er existiert? FLINT sich an die Stime greifend Nein, was es für Erinnerungstäuschungen gibt, - ich habe ihn ja nie geschrieben [ . . . ] . (D 11,460) Wird der Gegensatz von Erinnern und Vergessen z w i s c h e n Bernhardi und Flint entwickelt, so trennt er als unsichtbare Parteigrenze auch die anderen Figuren. Der bei Flint antichambrierende Tugendvetter beispielsweise ist ganz perplex, als er dem haftentlassenen Bernhardi gegenübersteht: „Ich - ich - ja weißt du, daß ich total daran vergessen hatte, [ . . . ] ich hatte total vergessen, daß deine Kerkerstrafe heute abläuft" (D 11,452). Oskar Bernhardi wiederum gibt sich an einem kleinen Detail als S o h n seines Vaters zu erkennen: FEUERMANN Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern werden OSKAR Aber Feuermann, ob ich mich deiner noch erinnere! Reicht ihm die Hand. (D 11,360) Ironischerweise wird das Erinnerungsgebot, dem alle Figuren unterstehen, auch von Bernhardi einmal verletzt: Obwohl er Flints Vergeßlichkeit so gut im Gedächtnis behalten hat, vertraut er dann doch der Loyalität des M i n i sters. Daß ihn Flint im Parlament prompt und skrupellos verrät, ist die bittere Probe aufs E x e m p e l seiner eigenen M a x i m e : „erinnere dich n u r " (D 11,374). Der dramatische Antagonismus zwischen Bernhardi und Flint wurde in Kritik und Forschung aber immer weit weniger beachtet als die Konfronta-
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tionen zwischen Bernhardi und dem Pfarrer Reder. 81 Auf diese Auseinandersetzung konzentrierten sich die Lesarten des Dramas, die einen „Religionsstreit" vor sich haben wollten, wobei nur die klerikale und die völkischnationale Presse bestritt, daß Schnitzler den Argumenten des Pfarrers tendenziell das gleiche Gewicht gegeben hatte wie denen Bernhardis. Dabei beruht die Wirkung der auch rhetorisch präzise ausgewogenen „Pfarrerszene" des vierten Aktes ja gerade auf der Ebenbürtigkeit der vertretenen Standpunkte, auf einem subjektiv jeweils unbestreitbaren Recht. Deshalb kommt es zwischen den Gesprächspartner zu einem „impasse"; 82 weil es zwischen ihren Positionen keinen objektiven Ausgleich mehr geben kann, weil sie auf unheilbar partikularisierten Werten beruhen, muß die Komödie eine weltanschauliche „Lösung" ausdrücklich negieren. Solche dramatische Gerechtigkeit konnte, wie Schnitzler genau wußte, nicht gut ankommen. Daß Bernhardi der Reihe nach auf juristischen Einspruch, auf ein Gnadengesuch, auf eine publizistische Verwertung des Falles und ganz zuletzt noch auf die Bloßstellung seiner Gegner verzichtet, ist ihm als Hochmut, Gesinnungsschwäche oder Eskapismus ausgelegt worden. 83 Selbst Georg Brandes konnte sich nicht mit der Logik befreunden, „daß weil jemand nicht zum Märtyrer geeignet ist, er überhaupt nicht für seine Überzeugung eintreten sollte". 84 Was Bernhardi an dergleichen Initiativen hindert, ist aber sein „Gefühl des Lächerlichwerdens"; er muß sich zurückziehen, um seinen Selbstrespekt zu wahren (D II,461f.). Lachhaft erscheint ihm der Anspruch aufs allgemein verkündete Prinzip, der ihm von allen Seiten aufgedrängt wird. Eigensinnig beharrt er auf dem individuellen Fall und seiner „privaten" Entscheidung, weil es in Politik und Öffentlichkeit das Rechte gar nicht geben kann. Die Mechanismen des Parlamentarismus und der Publizistik korrumpieren selbst noch den besten Willen. Bernhardis skeptischer Rückzug scheint aber den Werterelativismus, der eintritt, wenn Mittel und Zweck, Intention und Wirkung endgültig auseinandergefallen sind, wenigstens stillschweigend zu akzeptieren; der anarchistische Hofrat Winkler formuliert das so: „Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich's weiter zu überlegen, anfing, das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige, so säße man sicher noch vorm Nachtmahl im Kriminal". Winkler hat auch das berühmte letzte Wort: An Bernhardis Stelle hätte er genauso gehandelt, wäre dann aber „grad so ein Viech gewesen" wie er (D 11,463). Sein salopper Stilbruch ironisiert das traditionelle „heroic couplet" 85 und ist deshalb ein angemessenes Fazit des fünften Akts, der ja gänzlich mit der dramatischen Konvention bricht, den ago-
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nalen Koflikt durch „Schlichtung des Kampfs und Zwiespalts" überhaupt einem notwendigen „Endresultat" zuzuführen. 86 Mit Bernhardis unheldischem Benehmen 87 und Winklers stilistischem Lapsus läuft das Stück in eine dramatische Antiklimax aus - was denn auch heftig kritisiert worden ist. 88 Wenn aber Bernhardis Haltung lediglich zu einer „rührenden, aber sinnlosen Don Quijoterie" führen sollte, wäre die Komödie freilich nichts anderes als Schnitzlers „verzweifelter Versuch", an der liberalen Vorstellung eines autonomen Ich eben noch festzuhalten. 89 Bernhardis Passivität spiegelte dann nur die bürgerliche Hilflosigkeit angesichts neuer politischer Tendenzen, wie sie von „den Herren Ebenwald, Flint und Konsorten" (D 11,425) vertreten werden, und das unheroische Finale illustrierte bloß die endgültige Kapitulation von Aufklärung und Liberalismus. 90 Nun handelt ,Bernhardi' gewiß vom Scheitern der Aufklärung - aber Schnitzler verständigt sich darüber immer noch mit aufklärerischen Mitteln. 91 Denn die humanitären Ziele der Aufklärung fatalistisch preiszugeben, wäre ja gerade ein Verstoß gegen das Erinnerungsgebot gewesen, das Bernhardi nicht müde wird zu wiederholen. Dem Andenken des fortschrittlichen 18. Jahrhunderts blieb Schnitzler verpflichtet: „Nicht von ungefähr blieb dieses geistesgeschichtliche Erbe in einer späteren Epoche, die immer verbissener auf die Verabsolutierung von .Nationalität' drängte, vor allem im deutschen und österreichischen Judentum aufbewahrt; entstammten, in Mitteleuropa, doch dieser geistigen und gesellschaftlichen Tradition die Voraussetzungen der jüdischen Emanzipation im deutschen Kulturbereich". 92 In diesem Sinn, und nicht als dramatisierter „Religionsstreit", steht .Professor Bernhardi' in der Nachfolge des .Nathan'. 93 Und wenn die Symmetrie zwischen Bernhardi und Pfarrer Reder schließlich doch zugunsten Bernhardis kippt, dann deshalb, weil die „Gesellschaft", die sich um den Priester geschart hat (D 11,434), genau dieses Erbe immerzu verächtlich macht. Auch das gehört zur Handlungszeit des ,Bernhardi': 1890 veröffentlichte der Gründer der ,Wiener Kirchenzeitung', Sebastian Brunner, eine Schrift mit dem Titel .Lessingiasis und Nathanologie', in der Lessings „Nathanschwindel" aufgedeckt werden sollte. Lessings „unverschämte Lüge" vom humanen Juden sei seinen Geldnöten entsprungen: Lessing hat im .Nathan' die Juden heiliggesprochen, und die Juden haben seither den Lessing heiliggesprochen. Ein Geschäft mit gegenseitiger Assekuranz und Prämienlosen, von denen jedes gewinnen muß.
Lessing sei für seinen „Wuthblödsinn" entsprechend honoriert worden,
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denn das „Judenthum hat ja die .Aufklärung' nur zum Höherhinaufsteigen in der Judenherrschaft ausgebeutet". 94 Gegenüber solchem Umgang mit der Tradition gibt es für Bernhardi, bei allem Werterelativismus, dann doch eine Maxime seines Handelns. Was er zur Richtschnur seines Gewissens macht, ist eben die historische, auch die lebensgeschichtliche Kontinuität. Wenn sein bürgerlicher Humanismus noch einen Anspruch stellen kann, ist es der aufs bessere Gedächtnis. Und daher entscheidet Bernhardi nicht aus dem Moment - wie Flint - , sondern nach Maßgabe dessen, was als vergangenes Recht und Unrecht immerhin bestimmt werden kann. 95 Mag dem .Bernhardi' eine verbindliche „Moral" nicht mehr abzulesen sein - die Appelle ans Erinnerungsvermögen sind im Stück unüberhörbar.
C. „Bedenkend, dass ich ein Jude bin": Zur Rezeption Wie schon beim ,Weg ins Freie' konnte Schnitzler nach der Veröffentlichung des ,Bernhardi' immer wieder feststellen, daß eintraf, was sein Werk antizipiert hatte. Die Tagebuchnotiz „Wie wahr, wie gut ist mein Stück! - " klingt nach schriftstellerischer Überheblichkeit, Schnitzler hatte seinen Preis - das Zensurverbot in Preßburg, das durch klerikale Intrigen zustandegekommen war - aber schon bezahlt. 96 Gelegentlich wurde die Fiktion von der Wirklichkeit nicht nur ein-, sondern sogar überholt. Wenn literarischer Realismus ein Wirkungseffekt ist, dann hat ihn der ,Bernhardi' erzielt 97 - die heftigen Abwehrreaktionen haben ihn noch überboten. Eine Anna Bernhardi sandte Schnitzler ihren (arischen) Stammbaum und bat ihn, seine Figur in „Bernhardy" umzubenennen: Obwohl in ihrer Familie „kaum ein wirklicher Antisemit zu finden" sei, empfinde man die Namensgleichheit doch als peinlich. 98 Daß Schnitzler den unglücklichen jungen Doktor Feuermann, dem ein ärztlicher Kunstfehler unterlaufen ist, ausgerechnet im niederösterreichischen Oberhollabrunn hatte praktizieren lassen, nahm ihm wiederum die dortige Lokalpresse ausgesprochen übel. Die ärztlichen Verhältnisse Oberhollabrunns seien „Herrn Schnitzler offenbar gänzlich unbekannt [ . . . ] . Glücklicherweise ist das Machwerk Schnitzlers nicht von der Art, daß es Oberhollabrunn dauernd vor der Öffentlichkeit kompomittieren wird". 99 Überaus entlarvend war auch die Stellungnahme der Zensur. Die Aufführung des Stückes war im Oktober 1912 von der Wiener Statthalterei - nach Hinzuziehung des niederösterreichischen Zensurbeirates - verboten worden, das Deutsche Volkstheater legte sofort Rekurs ans Innenministerium ein. Es bedurfte aber vorerst noch
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einer sozialdemokratischen Interpellation im Abgeordnetenhaus, bevor man sich - im Jänner 1913 - mit der Angelegenheit befaßte und ein Dossier mit den Stellungnahmen der Polizei, der Statthalterei und des Beirates anlegte. In diesem Akt wird Schnitzler unter anderem vorgeworfen, er schildere „eine Atmosphäre des .Strebertums' und der .Gesinnungslosigkeit', des .Cliquenwesens' und der .Gesinnungslumperei'" - worauf das Innenministerium das Verbot bestätigte. 100 Was die Kritik betraf, so wiederholte sich die Wirkung des ,Weg ins Freie' mit vorhersehbarer Automatik; nur daß die Polarisierung der Presselandschaft inzwischen fortgeschritten war. 101 Die .Arbeiter-Zeitung' war diesmal ganz einverstanden, polemisierte gegen das Zensurverbot und benützte die Gelegenheit, gegen die „Verpfaffung der Krankenzimmer" zu wettern, wofür Schnitzlers Komödie allerdings keine Handhabe bot. 102 Auch die zionistische ,Welt' fühlte sich bestätigt, sah in Bernhardis Judentum einen „Umstand von überragender Tragweite" und schloß, ebenfalls nicht ganz zulässig: „Der Künstler in Schnitzler wendet sich voll Verachtung von der Assimilation". 103 Die liberalen Blätter blieben bei ihrer mimicry. Bernhardis Judentum war ihnen peinlich. Die ,Neue Freie Presse' hielt es mindestens für überflüssig: Wie heftig er sich auch sträuben mag, der wackere Professor, Bernhardi entgeht schon deshalb nicht der Politik, weil ihn der Dichter eigenhändig bis über den Kopf in Politik eintaucht. Er hat aus ihm einen Juden gemacht, einen Wiener Juden, was vielleicht gar nicht notwendig war. In dem Stück handelt es sich ja nicht um die Frage, ob Christ oder Jude, sondern um den Kampf einer rein menschlichen und einer konfessionell gebundenen Weltanschauung. 104
Im ,Neuen Wiener Tagblatt' ärgerte sich Robert Hirschfeld über Bernhardis Abstammung: Schnitzler habe sich nicht mit der Konfrontation von Religion und Wissenschaft begnügt - „nein, das Problem wird dadurch noch verknotet, daß Professor Bernhardi Jude ist". Das ganze Stück sei ein „Verstoß gegen den künstlerischen Geschmack". 105 Das ,Pressburger Tagblatt' wußte diesen Verriß zu schätzen; am nächsten Tag schon freute es sich darüber, „mit Dr. Hirschfeld, der sich als Jude die Unparteilichkeit des Urteils zu wahren versteht, in bezug auf den Wert und Unwert der Schnitzlerschen Tendenzkomödie eines Sinnes zu sein". 106 Denn für die klerikale und nationale Presse gab es nach den Zensurverboten kein Halten mehr. Die Strategien gleichen sich aufs Haar; der Inhalt des „Tendenzstückes" wird immerfort tendenziös verdreht und verfälscht.
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Hans Ludwig Rosegger kehrte Ursache und Wirkung um; er nannte den ,Bernhardi' eine „grob inszenierte Judenschutzkomödie" und befand: „Nach der Lektüre des Stückes regten sich in mir starke antisemitische Gefühle, und so wird es wohl vielen ergehen". 107 Das sogenannte Witzblatt ,Kikeriki' brachte Verse, die in ihrer Banalität nur noch von ihrer Ekelhaftigkeit übertroffen werden: „Professor Bernhardi." Arthur Schnitzler, alter Schäker, Dünkt es wirklich dir Verfehlung, Wenn statt Gift vom Apotheker Sterbende labt letzte Ölung. Scheint dir Wissenschaft das Wahre, Du bist Arzt, so praktiziere! Doch uns Christen, Jud, erspare Jedenfalls dein letzt' Geschmiere! 108
Und wieder borgte sich die Polemik Schnitzlers eigene Worte; diesmal war es die .Reichspost'. Das Stück, befand der Rezensent, sei „ein so tendenziös-gehässiger Feldzug, daß es schwer ist, kühl und sachlich darüber zu schreiben". Die Zensur habe ganz recht getan: Von derartigen Auswüchsen muß die Bühne rein gehalten werden. Man werfe uns nicht Feindseligkeit vor. Für das, was uns von Schnitzler trennt - wahrscheinlich für alle Zeit trennen muß, ist, um mit Schnitzler selbst zu reden, „Feindseligkeit ein zu armes und kleines Wort. Es ist von höherer Art und von hoffnungsloserer." 109
Nun war zwar die Volkstheater-Aufführung des .Bernhardi' verhindert, aber die Berliner Inszenierung am Kleinen Theater war überaus erfolgreich. Im April 1913 hatte das Stück auch in Budapest Premiere, und im Jänner 1914 schlug der Publizist Anton Bettelheim .Professor Bernhardi' für den von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften verliehenen Grillparzerpreis vor. Die Vermutung, daß die Presse von dieser Absicht Wind bekommen hatte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn am 24. Jänner 1914 schrieb ,Der Sieg': Die Vernichtungsarbeit des internationalen Judentums, an der sich alle Angehörigen dieser Rasse solidarisch beteiligen, ist wahrhaft erschreckend [ . . . ] - die Juden, die im Ärztestande und im Advokatenstande, im Professorenstande der Universität dominieren, die Juden Trebitsch, Schnitzler u.a., die, getragen von einer jüdischen Reporterklique und einer korrupten Preisjury, das Burgtheater, das einst
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den Ruhm als erste deutsche Bühne genoß, profanieren, - [ . . . ] sie alle [ . . . ] sind enge verbunden und untrennbar aneinander gekettet durch das Band Stammeszugehörigkeit,
gemeinsamer
durch den einheitlichen, nie rastenden Lebensberufs-
gedanken, der sie immer und überall, in jeder Verkleidung, in jeder Stellung, bei jedem Federstrich, bei jeder Betätigung, bei jeder ordentlichen und verbrecherischen Handlung leitet: „Uns die
Weltherrschaft!"1W
Tatsächlich wurde der Grillparzerpreis nicht vergeben; und die Hintergründe erfuhr Schnitzler von Bettelheim selbst. Der Jury hatten außerdem noch der Kritiker Julius Bauer, der Burgtheaterschauspieler Hugo Thimig, der Philosoph Friedrich Jodl und der Literaturhistoriker Oskar Bulle angehört. Bauer und Thimig hatten Bettelheims Vorschlag begrüßt, Jodl und Bulle das Stück nicht gekannt. Zur zweiten Sitzung schlug Bulle einen Alternativkandidaten vor; Jodl wollte sich der Mehrheit fügen. Daraufhin stiegen Bettelheim Bedenken auf - fiele die Entscheidung nicht einstimmig, würde man ihn und Bauer, „die zwei Juden", beschimpfen. Also begann er Thimig „als Freund" zu warnen, diese Wahl könne ihn, Thimig, die Burgtheaterstelle kosten: „mich genirts natürlich nicht, wenn die Leute auf mich schimpfen, ich bin unabhängig; - aber für Thimig bedeutet es doch was andres". Thimig stimmte nicht sofort zu und war bereit, „sogar dem B. zuliebe zu fallen", ließ sich dann aber doch dazu überreden, seine Stimme zu verweigern, worauf die Vergabe des Preises unterblieb. Schnitzler resümierte: Dies erzählt er [Bettelheim] mit dem ganzen schönen Muth der Feigheit; der ganzen Aufrichtigkeit der Falschheit, - und stets von Bewunderung für mein Werk durchdrungen - mit dem Gemisch von Biederstolz und schlechtem Gewissen - die sein Wesen ist. Ich finde die Sache kostbar! - O Wundermacht des Bernhardi. Jeder decouvrirt sich bei dieser Gelegenheit - und zeigt sich, wie ich ihn kenne. Und dabei muss man ( - in Oesterreich, Wien, 1914 - und bedenkend, dass ich ein Jude bin - } noch sagen . . . „Ein ganz anständiger Mensch . . . " m
Was er von jüdischer Überanpassung hielt, war in der Tat sowohl aus .Professor Bernhardi' als auch aus dem ,Weg ins Freie' hervorgegangen. Aber Schnitzler reagierte nicht nur idiosynkratisch auf ein geducktes Strebertum, das sich ja immerhin unter dem Druck der Umstände so verkrümmt hatte. Seine Texte gingen immer auch als Warnung an die assimilierten Juden, die sich „sicher" fühlen wollten, und zwar als Appell an ihr Gedächtnis. Zum .Bernhardi' hatte ihm der Historiker Richard Charmatz geschrieben:
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Der erzieherische Eindruck ihres Stückes, sein kultureller Wert, die Grösse der Tat wäre unschätzbar gesteigert worden, wenn der Streit der Meinungen, der Gegensatz, der aus dem verschieden gerichteten und bestimmten Pflichtbewusstsein herauswächst, dem Rassenkampfe entrückt bliebe. [ . . . ] Gewiss, ich unterscheide mich in meiner Stellung zur Judenfrage sehr wesentlich von Ihnen, hochverehrter Herr Doktor. Mir hat das auserwählte Volk gar nichts gegeben, während ich das wenige, das ich bin und das wenige [ . . . ] , das ich noch zu werden hoffe, dem deutschen Volke und seiner geistigen Arbeit danke.112
In einem vielzitierten Brief hat Schnitzler darauf entgegnet: Nicht weniger stark als Sie glaube ich zu empfinden, was ich dem deutschen Volke danke. Aber selbst wenn ich, unter völliger Vernachlässigung meiner Rassenzugehörigkeit, (was mir anfechtbar erschiene) alles, was ich besitze, dem Deutschtum zu danken glaubte, so drängte sich mir doch manchmal die Überlegung auf, wie vieles das Deutschtum selbst den kulturellen und ethischen Leistungen des Judentums, so weit seine Geschichte zurückreicht, zu verdanken hat, und würde mich immerhin auch einigermaßen in der Schuld meiner Ahnen fühlen. 113
Diese „Schuld" ist für Schnitzler nicht anders einlösbar als eben durch selbstbewußtes Gedenken. ,Der Weg ins Freie' und .Professor Bernhardi' sind solche Mementi. Was der Kritik als ästhetische Inkonsistenz erschien, die Doppelsträngigkeit des Romans und die Antiklimax des fünften Dramenaktes, ist nichts anderes als die Form gewordene Einsicht, daß weder Kunst noch Gesellschaft die radikalen Antagonismen der postliberalen Ära würden schließen können. Ein kategorischer Imperativ existiert nur mehr für das einzelne Individuum. Aber daß sich das „Richtige", das einen ins Kriminal bringt, überhaupt noch erkennen läßt, leugnet auch der Hofrat Winkler nicht. Dafür gibt es für Schnitzler immer noch den unbestechlichen Maßstab des Gedächtnisses. .Professor Bernhardi' konnte erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie, am 21. Dezember 1918, im Wiener Volkstheater uraufgeführt werden. Die Premiere war ein großer Erfolg. Keine eineinhalb Jahre später, am 29. April 1920, verlangte der christlichsoziale „Tribünenwetterer" Leopold Kunschak 114 in der Konstituierenden Nationalversammlung, man möge „die Juden vor die Wahl stellen, entweder freiwillig auszuwandern oder in Konzentrationslager gesteckt zu werden". 115
Anmerkungen
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Anmerkungen 1 Robert Kann: The Image of the Austrian in Arthur Schnitzler's Writings. In: Reichert/Salinger (Hrsg.), Studies in Arthur Schnitzler, S. 45-70, S. 45; Swales, Arthur Schnitzler, S. 28; Offermanns, Geschichte und Drama bei Arthur Schnitzler, S. 34; Nehring, Arthur Schnitzler and the French Revolution, S. 75. 2 Vgl. Adrian Clive Roberts: Arthur Schnitzler and Politics. Riverside: Ariadne Press 1989 (Studies in Austrian literature, culture, and thought). - Roberts weist nach, daß Schnitzlers pazifistische Überzeugung keineswegs erst durch den blutigen Anschauungsunterricht des Ersten Weltkriegs hervorgebracht wurde; in seinen frühen Werken äußert sie sich als dezidierte Kritik am militärischen Ehrbegriff. Im Anhang (S. 184-186) ist u.a. ein frühes Zeugnis ideologischer Skepsis wiederabgedruckt, Schnitzlers Gesprächsskizze .Über den Patriotismus', seine dritte Publikation (in: Der freie Landesbote v. 15.11.1880). 3 Zur Unterscheidung zwischen „spontanem" und „herrschaftstechnischem" Antisemitismus vgl. John Bunzl u. Bernd Marin: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. M. e. Vorwort v. Anton Pelinka. Innsbruck: Inn-Verlag 1983 (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3), bes. S. 28; ferner: Hans Tietze: Die Juden Wiens. Geschichte - Wirtschaft - Kultur [1933]. Wien: Edition Atelier 21987, S. 229-283; I.A. Hellwig: Der konfessionelle Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Österreich. Wien: Herder 1972 (= Veröffentlichungen des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte/Salzburg 11,2); Wolfgang Häusler: Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918). In: Anna Drabek u.a.: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Wien: Jugend und Volk 3 1988, S. 83-140. 4 Vgl. Harry Zohn: Arthur Schnitzler und das Judentum. In: Ders.: Wiener Juden in der deutschen Literatur. Essays. Tel-Aviv: Olamenu 1964, S. 9-18; Willehad Paul Eckert: Arthur Schnitzler und das Wiener Judentum. In: Emuna 8 (1973), S. 118-130; H.R. Klieneberger: Arthur Schnitzler and the Jewish Question. In: Forum for Modern Language Studies 19 (1983), S. 261-273; Egon Schwarz: Arthur Schnitzler und das Judentum. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gunter E. Grimm u. Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein: Athenäum 2 1986, S. 67-83; Daniel Azuelos: Schnitzler et la question juive. In: Austriaca 15/31 (1990), S. 37-48; Bruce Thompson: Schnitzler's Vienna. Image of a Society. London: Routledge 1990, S. 160-176 (.Politics and the Jewish Question'). - Allerdings behauptete z.B. Siegfried Melchinger noch 1964, Schnitzler habe den Antisemitismus „nicht für erörternswürdig" gehalten (Das Jüdische in .Professor Bernhardt. In: Theater heute 5/12 (1964), S. 32-35, S. 32). 5 [Anonym:] Die .dummen Christen'. In: Deutsches Volksblatt v. 19.10.1890. 6 Vgl. im folgenden Konstanze Fliedl: Merkbuch und Memento. [Nachwort zu:] Arthur Schnitzler: Der Weg ins Rreie. Roman. Salzburg: Residenz 1995, S. 447-476. 7 Jean-Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage [1945], In: Ders.: Drei Essays. M. e. Nachwort v. Walter Schmiele. Frankfurt 1977 (= Ullstein-Tb 304), S. 108-190, S. 143.
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8 Vgl. auch zum Folgenden Abels, Sicherheit ist nirgends, hier S. 37f., sowie Ders.: Sprache und Verantwortung. Überlegungen zu Arthur Schnitzlers Roman ,Der Weg ins Freie'. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 142-163. 9 Vgl. Inge Fleischhauer u. Hillel Klein: Über die jüdische Identität. Eine psycho-historische Studie. Königstein: Jüdischer Verlag 1978, S. 17f. und Abels, Sicherheit ist nirgends, S. 37. 10 Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage, S. 151. 11 Zu Ottokar Stauf von der Marchs einschlägiger Argumentation vgl. Rieckmann, Aufbruch in die Moderne, S. 190-192. 12 Zum „Charakter der Beweglichkeit",
der dem Fremden/Juden selbst dann noch zugeschrie-
ben wird, wenn er ortsansässig ist, vgl. Georg Simmeis berühmten .Exkurs über den Fremden' (in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Berlin: Duncker & Humblot 7 1983 (= Gesammelte Werke 2), S. 509-512). 13 Zu den Pressepolemiken gegen Schnitzler vgl. Yates, Schnitzler, Hofmannsthal, and the Austrian Theatre, S. 77-87. 14 Vgl. Schnitzlers Datierung der Entstehungsstufen in Giuseppe Farese: Individuo e società nel romanzo ,Der Weg ins Freie' di Arthur Schnitzler. Rom: Mario Bulzoni 1969 (= Studi di filologia tedesca 3), S. 215. 15 Brief an Abraham Schwadron v. 10.1.1911 (Β 1,647). 16 Zu diesem Gespräch vgl. das Kapitel .Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie' bei Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Königstein: Scriptor 1981 (= Monographien Literaturwissenschaft 50), S. 7-15, bes. S. 7ff.; Schwarz, Arthur Schnitzler und das Judentum, S. 80f.; Abels, Sicherheit ist nirgends, S. 69-102. 17 Klaus Dethloff: Einleitung [zu:] Theodor Herzl oder der Moses des Fin de siècle. Hrsg. v. K.D. Wien: Böhlau 1986 (= Monographien zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte 1), S. 9-68, S. 56. 18 Zu Schnitzlers distanzierter Einstellung zum Zionismus vgl. u.a. Leon Botstein: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848-1938. Wien: Böhlau 1991, S. 98. 19 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VI. Zionisten-Kongresses in Basel [23.-28.8.1903], Wien: Verlag des Vereines ,Erez Israel' 1903, S. 340. - Vgl. auch Walter Laqueur: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus [üs. v. Heinrich Jelinek]. Wien: Europaverlag 1975, S. 146ff.; zur „Katastrophe der Uganda-Episode" vgl. zuletzt Steven Beller: Herzl. Wien: Werner Eichbauer Verlag 1996 (= Jüdische Denker 1), S. 119-129. 20 Eintragung v. 24.9.1906 (TB). 21 Häufig vermißte man in dem „Krisenwerk" die „organische und ästhetisch befriedigende Verschmelzung" der Figurengruppen (Andrew Török: Arthur Schnitzlers ,Der Weg ins Freie'. Versuch einer Neuinterpretation. In: Monatshefte 64 (1972), S. 371-377, S. 374f.). Beispielsweise konzedierte Norbert Miller, Georgs angeblicher ,Weg ins Freie' sei „ganz bewußt vom Thema der jüdischen Assimilation getrennt"; trotzdem kritisierte er diese Dissoziation als erzählerische Schwäche (Das Bild des Juden in der österreichischen Erzählliteratur des Fin de siècle. Zu einer Motivparallele in Ferdinand von Saars Novelle .Selig-
Anmerkungen
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mann Hirsch' und Arthur Schnitzlers Roman ,Der Weg ins Freie'. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. v. Herbert A. Strauss u. Christhard Hoffmann. München 1985 (= dtv 10513), S. 172-210, S. 198f., 207). Immer noch wurde die formale Inkonsistenz des Romans Schnitzlers „atomistic, impressionistic perception of reality" angelastet (David S. Low: Questions of Form in Schnitzler's Der Weg ins Freie. In: MAL 19 (1986), 3/4, S. 21-32, S. 21). Zuletzt wiederholte Wolfram Kiwit die alten Einwände: „schon allein das Faktum, daß das Verhältnis des Protagonisten zu Anna durch die Konfiguration von der Judenfrage' unberührt bleibt, zeigt, daß das Thema den Roman nicht durchdringt" (.Sehnsucht nach meinem Roman'. Arthur Schnitzler als Romancier. Bochum: Winkler 1991, S. 80). Gegen die Doppelroman-These hat sich Egon Schwarz kategorisch verwahrt: „Ich konnte diesen Bruch nie empfinden" (Arthur Schnitzler und die Aristokratie. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 54-70, S. 62). Viele Interpreten versuchten eine synthetische Lektüre und unterstrichen verschiedene strukturelle Korrespondenzen; so sah etwa Richard H. Allen die „necessary connection" der Romanpartien im Verhältnis von Schuld und Unschuld der Figuren und folgte damit einer von Schnitzler selbst vorgeschlagenen Lesart (Schnitzler's Der Weg ins Freie: Structure or Structures? In: JIASRA 6/3 (1967), S. 4-17, bes. S. 11). Nach Martin Swales liegt die Verbindung zwischen Georg und den jüdischen Figuren in ihrer aller Passivität und Inauthentizität, die von den gesellschaftlichen Bedingungen hervorgetrieben werden (Nümberger's Novel: A Study of Arthur Schnitzler's ,Der Weg ins Freie'. In: MLR 70 (1975), S. 567-575; vgl. auch Swales, Arthur Schnitzler, S. 29-51). Kenneth Segar hat vorgeschlagen, den ästhetischen Zusammenhang des Romans im „thoroughgoing psychological treatment of its two .strands'" zu suchen, wobei die jüdischen Figuren allerdings immer nur Objekte dieser psychologischen Perspektive seien (Aesthetic Coherence in Arthur Schnitzler's Novel Der Weg ins Freie. In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 95-111, S. 96). 22 Renate Möhrmann bezeichnet ihn als „als Paradebeispiel für die Machschen Theorien" (Impressionistische Einsamkeit bei Schnitzler. Dargestellt an seinem Roman ,Der Weg ins Freie'. In: WW 23 (1973), S. 390-400, S. 400). - Zu Georg als „impressionistischem" Dilettanten vgl. Gottfried Just: Ironie und Sentimentalität in den erzählenden Dichtungen Arthur Schnitzlers. Berlin: Erich Schmidt 1968 (= Philologische Studien und Quellen 42), S. 52-64. 23 Vgl. Rolf-Peter Janz: ,Der Weg ins Freie'. In: Ders. u. Klaus Laermann: Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stuttgart: Metzler 1977, S. 155-174, 193f.; Waltraud Gölter: Weg ins Freie oder Flucht in die Finsternis - Ambivalenz bei Arthur Schnitzler. Überlegungen zum Zusammenhang von psychischer Struktur und soziokulturellem Wandel. In: Scheible (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 241-291, S. 266-271. - Beide Interpretationen beziehen Figurenpsychologie und gesellschaftliche Rahmenbedingungen aufeinander; Georgs Krise sei daher repräsentativ für die Krise des Wiener Bürgertums um 1900 (vgl. Janz, ,Der Weg ins Freie', S. 173). - Gegen die sozialhistorisch orientierten Deutungen hat Fausto Cercignani neuerdings wieder die Rolle von Subjektivität, Innerlichkeit und Individualismus im Roman betont (Arthur Schnitzler e il solitario cammino dell'io. .Doktor Gräsler', .Frau Berta Garlan', .Frau Beate und ihr Sohn', ,Der Weg ins Freie'. In: Cercignani (Hrsg.), Studia austriaca, S. 61-88, S. 78ff.). 24 Verworfene Passagen zum ,Weg ins Freie', Nachlaß ULC, Mappe 133, S. 885.
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25 Zur psychoanalytischen Deutung von Georgs Todeswünschen vgl. Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, S. Uff. - Bei Reik findet sich auch die erste ausführliche Analyse von Georgs Träumen (S. 235-265). - Eine Erweiterung der psychoanalytischen Lesart dieser Traumpassagen gibt Perlmann, Der Traum in der literarischen Moderne, S. 132-150. 26 Brief v. Ende Juni 1908 (GB-AS 95). 27 Brief v. 4.7.1908 (GB-AS 97). 28 Vgl. Thomas Eicher u. Heiko Hartmann: ,Auf dämmernden Fluten . . . unbekannten Zielen entgegen.' Die Ägidius-Dichtung Heinrich Bermanns in Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie. In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 113-128. 29 So bei Harry Matter: Nachwort [zu]: Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman. Berlin: Verlag der Nation 1990, S. 411-426, S. 421. 30 Detlev Arens etwa geht prinzipiell davon aus, daß auch Georg vom Antisemitismus beherrscht sei (Untersuchungen zu Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie. Frankfurt: Peter Lang 1981 (= Europäische Hochschulschriften 1/466), S. 19). - Dagegen wendet sich Wolfgang Nehring, der Georg auch für aufrichtig und überhaupt für „eine sympathische Erscheinung" hält (Zwischen Identifikation und Distanz. Zur Darstellung der jüdischen Charaktere in Arthur Schnitzlers ,Der Weg ins Freie'. In: Kontroversen, alte und neue. Hrsg. v. Albrecht Schöne. 11 Bde. Tübingen: Niemeyer 1986 (= Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985), Bd. 5, S. 162-170, S. 169). 31 Verworfene Passagen, Nachlaß ULC, Mappe 133, S. 440f. 32 Ebda., S. 447 (der Passage wurden später handschriftliche Korrekturen hinzugefügt). 33 Vgl. z.B. die gegensätzlichen Positionen von Françoise Derré - „Wergenthin geht am Ende des Romans einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen" - und Rolf-Peter Janz: „Der Weg ins Freie führt den Helden zu nichts [ . . . ] . Er ist kein Ausbruchsversuch, kein Akt der Selbstverwirklichung, sondern Rückzug" (Françoise Derré: ,Der Weg ins Freie', eine wienerische Schule des Gefühls? In: MAL 10 (1977), 3/4, S. 217-231, S. 219; Janz, ,Der Weg ins Freie', S. 170). - Friedbert Aspetsberger schließt ironische Absichten des Titels aus, weshalb das Mißverhältnis zwischen dem angekündigten ,Weg ins Freie' und dem inauthentischen Verhalten Georgs (und der anderen Figuren) als Disproportionalität von individueller Perspektive und dem Totalitätsanspruch des Zeitromans erklärt und schließlich als ästhetisches „Scheitern" bezeichnet werden muß; Egon Schwarz hingegen zweifelt nicht am „ironisch gemeinten Titel" und an der geglückten stilistischen Darstellung des Fin de siècle-Bewufitseins (Friedbert Aspetsberger: Arthur Schnitzlers ,Der Weg ins Fïeie'. In: Sprachkunst 4 (1973), S. 65-80, bes. S. 77ff.; Egon Schwarz: Das Ende einer Sommerlüge. [. . . ] Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie (1908). In: Reich-Ranicki (Hrsg.), Romane von gestern - heute gelesen, Bd. 1, S. 72-80, S. 78ff.). 34 Verworfene Passagen, Nachlaß ULC, S. 1056f. 35 Vgl. zum Folgenden Weiner, Arthur Schnitzler and the Crisis of Musical Culture, bes. S. 138-162, sowie Ders., Parody and Repression (in diesem Aufsatz werden die WagnerKapitel der Monographie zusammengefaßt). 36 Verworfene Passagen, Nachlaß ULC, Mappe 133, S. 1057. 37 Vgl. Ellert, Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung, S. 315-321. 38 Weiner, Arthur Schnitzler and the Crisis of Musical Culture, S. 144.
Anmerkungen
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39 Tristan und Isolde. In: Richard Wagner: Die Musikdramen. M. e. Vorwort v. Joachim Kaiser. München 1978 (= dtv bibliothek 6095), S. 319-397, S. 341. - Das Zitat findet sich schon bei Abels, Sicherheit ist nirgends, S. 135. 40 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905]. In: Sigmund Freud: Psychologische Schriften. Frankfurt 1982 (= Studienausgabe IV; Fischer-Tb Wissenschaft 7304), S. 9-219, S. 78, 106. 41 Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin: Jüdischer Verlag 1930, S. 30. 42 Vgl. Ellen Butzko: Arthur Schnitzler und die zeitgenössische Theaterkritik. Frankfurt: Peter Lang 1991 (= German Studies in Canada 1), S. 16-20, 54-57 („Esoi-Kritiker"). 43 Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], In: Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 245-412, S. 295. 44 Eintragung V. 21.4.1907 (TB). 45 10. Juni [1908]. In: Bahr, Tagebuch [1909], S. 205ff. (zuerst in: Morgen 2 (1908), S. 1492-1495, S. 1492f.). 46 ,Den Vereinigten Staaten' [1827]. In: Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte und Epen I. München: dtv 1982 (= Hamburger Ausgabe 1), S. 333. - Der Hinweis auf Goethe schon bei Donald G. Daviau: Introduction. In: The Letters of Arthur Schnitzler to Hermann Bahr. Ed. by D.G.D. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1978 (= University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 89), S. 1-53, S. 51, Fußn. 81. 47 Eintragung v. 13.11.1908 (TB). 48 Eintragung v. 26.12.1910 (TB). 49 Briefe v. 29.10., 2. u. 7.11.1910 (HvH-AS 256ff.). 50 Vgl. Brief v. 20.4.1919 (HvH-RBH 145). 51 Brief v. 16.9.1908 (AS-RBH 190). 52 Carl Busse: Neues vom Büchertisch. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 23/2 (Oktober 1908), S. 317-321, S. 318. 53 [Anonym:] Two German Novels. In: The Times Literary Supplement v. 13.8.1908. 54 Stefan Großmann: Schnitzlers Roman. In: Arbeiter-Zeitung v. 16.7.1908. 55 Israel Auerbach: Der Weg ins Freie. In: Die Welt v. 11.9.1908. 56 Felix Saiten: Schnitzlers Wiener Roman. In: Die Zeit v. 30.5.1908. 57 Raoul Auernheimer: Der Weg ins Freie. In: Neue Freie Presse v. 3.6.1908. - Vgl. dazu Andrea Willi: Arthur Schnitzlers Roman ,Der Weg ins Freie'. Eine Untersuchung zur Tageskritik und ihren zeitgenössischen Bezügen. Heidelberg: Winter 1989 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3/91). - Die anderen hier genannten Besprechungen finden sich bei Willi nicht. 58 Fritz Loehner: Artur [!] Schnitzlers ,Der Weg ins Freie'. In: Jüdische Zeitung v. 14.8.1908. 59 [Anonym:] Rassenfrage und Professorenweisheit. In: Deutsches Volksblatt v. 23.2.1908. 60 Hermann Kienzl: Der Weg ins Freie. In: Grazer Tagespost v. 12.8.1908. 61 Vgl. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt: S. Fischer 1970, S. 1265. 62 Eintragung v. 3.9.1926 (TB). 63 Eintragung v. 25.2.1908 (TB).
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64 Das „Aerztestück" ging auf einen Skizze aus dem Jahr 1899 zurück, die schon das Motiv eines Konfliktes zwischen Arzt und Priester enthält. Die Frage nach einer medizinischen Ethik, zunächst konzentriert auf das Problem der Euthanasie, ging dann in die Vorarbeiten zum .Einsamen Weg' ein; die vorgesehenen Handlungsmomente erwiesen sich dann aber als zu heterogen, so daß Schnitzler das „entzwei gefallene Junggesell- und Aerztestück" in Teilen in Angiff nahm (Eintragung v. 18.4.1903 [TB]). ,Der einsame Weg' wurde im Sommer 1903 abgeschlossen, die Szenen mit dem jüdischen Mediziner Bernhardi vorerst zurückgestellt (vgl. Sol Liptzin: The Genesis of Schnitzler's Professor Bernhardi.
In: The Philolo-
gical Quarterly 10/4 (1931), S. 348-355). 65 Eintragungen v. 14., 16. u. 18.3.1908 (TB). 66 Auch Schnitzler hat den als Broschüre gedruckten Vortrag, der „so viel Staub aufgewirbelt", gelesen (Eintragung v. 28.3.1908 [TB]). 67 Vgl. Matthias Höttinger: Der Fall Wahrmund. Wien: phil. Diss. 1949 (neben der materialreichen Dokumentation liefert diese Arbeit ihrerseits heftige Kritik an Wahrmund). 68 Zur Berliner Premiere am Kleinen Theater (28.11.1912) erschien die Buchausgabe. - Zur Kritik dieser Aufführung vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: .Österreichische Verhältnisse'? Arthur
Schnitzlers
Professor
Bernhardi
auf
Berliner
Bühnen
1921-1931.
In:
Gelber/Horch/Scheichl (Hrsg.), Von Franzos zu Canetti, S. 211-224. - Bayerdörfer weist nach, daß sich die jüdisch-liberale Berliner Presse zunächst bemühte, „die Judenfrage' des Stückes unter einer Schicht von Österreich-Klischees zu verdecken" (S. 217); an den Reaktionen auf die Inszenierungen nach dem Ersten Weltkrieg zeigt sich, daß solche Verschiebungen angesichts des virulenten Antisemitismus in der Weimarer Republik nicht mehr möglich waren. 69 Eintragung v. 30.5.1912 (TB). 70 Theater und Schauspiele in Deutschland. In: Der Merker 4/3 (1913), S. 95-99, S. 98. 71 Brief an Brandes v. 27.2.1913 (GB-AS 106); einen Auszug aus diesem Brief ließ Schnitzler im nächsten Heft des .Merker' als Berichtigung abdrucken (Der Merker 4/4 (1913), S. 135). 72 [Anonym:] Verein .Christliche Presse' [Bericht über eine Presseversammlung v. 1.12.1893]. In: Deutsches Volksblatt v. 6.12.1893. 73 [Anonym:] Versammlung in Hernais. In: Deutsches Volksblatt v. 15.11.1892. 74 Beide Affairen sind nach der Berichterstattung von .Deutschem Volksblatt' und .Reichspost' dokumentiert in: Ursula Baudisch: Der Antisemitismus der Christlichsozialen im Spiegel der parteinahen Presse 1890 bis April 1897. Wien: phil. Diss. 1968, S. lOlff., 116f. 75 Die Affaire ist dokumentiert bei William H. Rey: Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi. München: Fink 1971, S. 8-10; die betreffenden Briefe sind im Anhang abgedruckt (S. 89-97). 76 Brief v. 20.4.1993 (ebda., S. 91-97, Zitat S. 95). 77 Notiz v. 16.7.1915 (ebda., S. 9). 78 Brief Schnitzlers an Richard Charmatz v. 4.1.1913 (B 11,1). 79 Vgl. Offermanns, Arthur Schnitzler, S. 95: „In dieser Gestalt verkörpert sich [. . . ] die neue, naive und aktivistische Spielart des impressionistischen Menschen, des Opportunisten mit dem guten Gewissen."
Anmerkungen
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80 Zu Flint als Schauspieler-Prototyp vgl. Urbach, Schauspieler und Gesellschaft im Werk Arthur Schnitzlers, S. 100-107. - Zum „Rollenzwang", dem auch Bernhardi nicht entkommt, vgl. Kilian, Die Komödien Arthur Schnitzlers, S. 84-97; zu Bernhardis „Illusion", er könne sich dem Rollenspiel entziehen, vgl. Melchinger, Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers, S. 95-103. 81 Der Aufbau der Komödie ordnet jeweils eine Szene zwischen Bernhardi und Reder (1. und 4. Akt) und einen Dialog zwischen Bernhardi und Flint (2. und 5. Akt) symmetrisch um die Mittelachse der Ärztesitzung (3. Akt) an. 82 Jeffrey B. Berlin macht dafür aber noch ein moralisches Versagen beider Figuren verantwortlich: „In conclusion, the conflict remains an impasse with both men refusing to defend their true convictions to society. [. . . ] Neither one expresses the truth of the situation" (The Priest Figure in Schnitzler's Professor Bernhardi. In: Neophilologus 64 (1980), S. 433-438, S. 437). 83 Swales nennt es „Bernhardi's shirking of social responsibilities": „there is clearly something morally inadequate about his total disregard of the social and political realities which lie outside the walls of his world" (Arthur Schnitzler, S. 60f.). - Noch W.E. Yates spricht von der „irresponsibility of his apolitical stance" (Schnitzler, Hofmannsthal, and the Austrian Theatre, 5. 95). - Richard Thieberger dagegen hält Bernhardis Rückzug für „une leçon de modestie et de sagesse" (Professor Bernhardi. A propos d'une représentation du ,Burgtheater' à la Comédie Française. In: Thieberger, Gedanken über Dichter und Dichtungen, S. 79-81, S. 81). 84 Brief v. 4.12.1915 (GB-AS 115). 85 Es gibt bei Schnitzler noch einen ähnlich markanten Stilbruch zum Aktschluß. Die historischen Versdramen endeten oft mit einem orthodoxen heroic couplet, etwa der .Paracelsus': „Es war ein Spiel, doch fand ich seinen Sinn; - / Und weiß, daß ich auf rechtem Wege bin" (D 1,498), oder die .Beatrice': „Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit, / Und noch der nächste Augenblick ist weit!" (D 1,678). Demgegenüber leistet sich Hofreiter im vierten Akt des .Weiten Lands', vor seinem sinnlosen Duell, folgenden Abgang: „Aber man will doch nicht der Hopf sein. [ . . . ] Vorhang" (D 11,311). Hofreiters „Hopf" ist wie Winklers „Viech" ein Reizwort, mit dem das genus grande endgültig verabschiedet wird: Tragödien kommen, wenn überhaupt, nicht mehr durch die hehrsten, sondern nur mehr durch die schäbigsten Motive zustande. 86 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik [1835]. Hrsg. v. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Berlin: Aufbau 1976, Bd. 2, S. 514. 87 Vgl. Robert O. Weiss: The ,Hero' in Schnitzler's Comedy Professor Bernhardi. In: MAL 2/4 (1969), S. 30-33, S. 34: „In summary I submit that Professor Bernhardi is in truth an appropriate hero for a character comedy: he is a rebel without a cause; a martyr without martyrdom; an avenger incapable of revenge; and he becomes a popular hero without having intended or done anything heroic." 88 William H. Rey zitiert J.P. Stern, der behauptet hatte, in der letzten Szene komme es zu einem „collapse of the argument"; Bernhardi fehle es nicht nur an Überzeugung, sondern auch an politischer Einsicht, und daher handle das Stück letzten Endes von der Niederlage des Individualismus (Introduction. In: Arthur Schnitzler: Liebelei, Leutnant Gusti, Die letzten Masken. Ed. by J.P. Stern. Cambridge: University Press 1966, S. 1-44, S. 25ff.; vgl. Rey, Arthur Schnitzler, S. 69f.).
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Politik und Gedächtnis - „Der Weg ins Freie" und „Professor Bernhardi"
89 Egon Schwarz: Die gebrechliche Beschaffenheit individualistischer Ethik oder Der doppelte .Scherenschritt' in Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi. In: Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Werner Keller. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, S. 71-77, S. 77. - Vgl. auch Schwarz, Arthur Schnitzler und das Judentum, S. 77, und Thomé, Kernlosigkeit und Pose, S. 65. 90 Vgl. Scheible, Arthur Schnitzler und die Aufklärung, bes. S. 42; vgl. auch Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 106: „Kein Drama also, eher ein Tableau: noch einmal rückt bürgerlich liberale Humanität [. . . ] zum Greifen nahe, aber die allgemeine Stagnation ist bereits erkennbar als der Indifferenzpunkt des labilen gesellschaftlichen Gleichgewichts unmittelbar vor dessen Zerfall." 91 Vgl. Heinrich Kaulen: Antisemitismus und Aufklärung. Zum Verständnis von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi. In: ZSfdtPh 100 (1981), S. 177-198, S. 185: „Schnitzlers Professor Bernhardi steht in der Tradition der Aufklärung und verfolgt seine aufklärerische Intention im Sinne einer Aufklärung über die Aufklärung selbst." - Vgl. auch Abels, Sicherheit ist nirgends, S. 33: „Im Nichtabiassen vom Begriff der Persönlichkeit, vom freien Willen des Einzelnen, gewinnt auch Schnitzler das Potential von Skepsis, das zum Widerstand wird. Gemeint ist aber nicht das wirtschaftliche Subjekt des liberalistischen Zeitalters, sondern das von der geschichtlichen Dynamik immer mehr in die Enge getriebene Individuum, das um seine Substanz, die Disposition über sich selbst, verzweifelt kämpfen muß." 92 Joachim W. Storck: Die Humanität des Skeptikers. Zur Gegenwärtigkeit Arthur Schnitzlers. In: LuK 17 (1982), 163/164, S. 45-58, S. 57. 93 Vgl. Kaulen, Antisemitismus und Aufklärung, S. 177f. - Der aufklärerische Optimismus des .Nathan' ist aber nicht mehr einzuholen, vgl. Rolf-Peter Janz: Professor Bernhardi - .Eine Art medizinischer Dreyfus'? Die Darstellung des Antisemitismus bei Arthur Schnitzler. In: Farese (Hrsg.), Akten des Internationalen Symposiums .Arthur Schnitzler und seine Zeit', S. 108-117, S. 116. - Über die Figur des Prinzen von Guastalla enthält auch der Roman ,Der Weg ins Freie' ein Lessing-„Zitat"; die Verweise auf .Emilia Galotti' machen die Geschichte von der Verführung des Bürgermädchens Anna auch als Adelskritik lesbar (vgl. Sabine Strümper u. Florian Krobb: .Ein Mensch wie ein anderer.' Einige Bemerkungen zur Figur des Prinzen Guastalla in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie. In: MAL 25 (1992), 3/4, S. 129-139). 94 Sebastian Brunner: Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus. Paderborn: Schöningh 1890, S. 284, 170, 164, 69. - Brunners Haßpamphlet ist allerdings zu großen Teilen von Eugen Dührings ,Die Ueberschätzung Lessing's und dessen Anwaltschaft für die Juden' (1881) abgeschrieben. - Den Hinweis auf Brunners Schrift verdanke ich Ursula Baudisch, Der Antisemitismus der Christlichsozialen, S. 87f. 95 Vgl. dazu Offermanns, Arthur Schnitzler, S. 100: „In der Präsenz des Vergangenen [ . . . ] als bewußter Erfahrung bahnt sich die Überwindung der personalen Diskontinuität an und ermöglicht erst jene bei Bernhardi zu beobachtende Intention, trotz des umfassenden Werteagnostizismus vorsichtig und tastend eine Moralität der konkreten Situation zu begründen." 96 Eintragung v. 29.4.1913 (TB).
Anmerkungen
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97 Peter Horwath etwa bespricht die Figuren des .Professor Bernhardt', als seien es historische Vertreter politischer Richtungen der ausgehenden Monarchie. Über der sozialgeschichtlichen Authentizität des Stückes gerät völlig in Vergessenheit, daß es sich immerhin noch um ein ästhetisches Konstrukt handelt. Daher kann Horwath die Protagonisten gegen ihren Erfinder ausspielen und beispielsweise fragen: „Wieso hat ein so tiefblickender Mensch wie Schnitzler diesen Pflugfelder S[enio]r., bzw. J[unio]r. nicht durchschaut?" Der „These, daß die Wahrheit schaden könne", sei der Autor nicht weiter nachgegangen: „Schnitzler scheint nicht bemerkt zu haben, daß Bernhardis Verhalten der Sterbenden gegenüber irgendwie im Sinne dieser Ansicht war." - Daß eine solche Emanzipation der Charaktere möglich ist, stellt ihrer „Lebenswahrheit" immerhin ein gutes Zeugnis aus (Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi". Eine Studie über Person und Tendenz. In: LuK 2 (1967), 1/2, S. 88-104,182-193, S. 94, 182). 98 Brief v. 1.12.1912; zit. nach: Werner Welzig: Kleine orthografische Abänderung. In: Programmheft der Burgtheater-Premiere v. 26.3.1981. - Vgl. Eintragung v. 10.12.1912 (TB). 99 In: Wochenzeitung für das Viertel unter dem Manhartsberge, Klosterneuburg und Umgebung v. 7.2.1913; zit. nach Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 191. 100 Dossier über das Verbot mit Stellungnahme der Beiräte und Votum zum Rekursverfahren sowie Entwurf zum Entscheid (16.1.1913); zit. nach Werner Wilhelm Schnabel: .Professor Bernhardi' und die Wiener Zensur. Zur Rezeptionsgeschichte der Schnitzlerschen Komödie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 349-383, S. 375. Schnabel rekonstruiert nicht nur den komplizierten Aktenvorgang, sondern dokumentiert umfassend die Arbeitsweise und die Kriterien der Zensurbehörde. 101 Zur Rezeption vgl. W.E. Yates: The tendentious reception oí Professor Bernhardi. Documentation in Schnitzler's collection of press cuttings. In: Vienna 1900. From Altenberg to Wittgenstein. Ed. by Edward Timms and Ritchie Robertson. Edinburgh: Edinburgh University Press 1990 (= Austrian Studies 1), S. 108-125. - Im Anhang des Aufsatzes werden zwanzig Besprechungen in Auszügen dokumentiert, z.B. auch die kongenialen Rezensionen von Berta Zuckerkandl in der .Wiener Allgemeinen Zeitung' v. 2.12.1912 und von Friedrich Hertz im .Morgen' v. 23.12.1912. - Vgl. auch Yates, Schnitzler, Hofmannsthal, and the Austrian Theatre, S. 98-105. 102 [Anonym:] Die Rechtlosigkeit der dramatischen Kunst in Oesterreich. In: Arbeiter-Zeitung v. 30.10.1912; vgl. den Ausschnitt bei Yates, Documentation, S. 119. 103 Sch.[marja] Gorelik: Schnitzlers .Professor Bernhardi'. In: Die Welt v. 24.3.1913. 104 [Anonym:] Professor Bernhardi. In: Neue Freie Presse v. 1.12.1912. 105 Robert Hirschfeld: Innere Zensur. In: Neues Wiener Tagblatt v. 30.4.1913; ein weiterer Ausschnitt bei Yates, Documentation, S. 121. 106 [Anonym:] Ein Jude über .Professor Bernhardi'. In: Pressburger Tagblatt v. 1.5.1913. 107 H.[ans] L.[udwig] R.[osegger]: Schnitzler-Verehrer. In: Heimgarten 37 (1913), S. 560. 108 Kikeriki v. 3.11.1912, S. 9. - „Gehe hin und zitiere sie", schrieb Karl Kraus. Dieses hat er nicht zitiert, denn seine eigene Glosse, .Fern sei es von mir, den „Professor Bernhardi" zu lesen', richtete sich, böse jüdelnd, gegen Schnitzler - allerdings auch gegen die .Neue Freie Presse', die eine Verteidigung des Stückes nur anonym zu bringen wagte (Die Fackel 368/369 v. 5.2.1913, S. 1-4. - Vgl.: Das Zensurverbot gegen Schnitzlers .Professor Bern-
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Politik u n d Gedächtnis - „Der Weg ins Freie" u n d „Professor Bernhardi" hardi'. Von einem hervorragenden Rechtslehrer. In: Neue Freie Presse v. 19.1.1913; einen Auschnitt aus diesem Artikel dokumentiert Yates, S. 121).
109 H.B.: Professor Bernhardi. In: Reichspost v. 3.12.1912 (ein weiterer Ausschnitt bei Yates, Documentation, S. 120). - Das Zitat stammt aus dem Dialog zwischen Bernhardi und Pfarrer Reder im vierten Akt. Reder hat Bernhardi immer wieder „Feindseligkeit" unterstellt, woraufhin dieser das Wort aufgreift: „Und wenn es so wäre! Was mir im Laufe dieser letzten Wochen widerfuhr, diese ganze Hetze gegen mich, die Sie ja selbst als verlogen und unwürdig empfinden, könnte die nicht noch nachträglich rechtfertigen, was Sie Feindseligkeit nennen, wenn so etwas wirklich schon vorher bei mir bestanden hätte?" (D 11,434) Erst dann folgt die Stelle: „Aber für das, was uns trennt, und wahrscheinlich für alle Zeiten trennen muß, Hochwürden, - dafür scheint mir - Feindseligkeit ein zu armes und kleines Wort. Es ist von etwas höherer Art, denk ich - und - von hoffnungsloserer" (D 11,435). 110 -ert.: Unser Antisemitismus. In: Der Sieg v. 24.1.1914. 111 Eintragung v. 2.4.1914 (TB). - Vgl. Werner Welzig: Preis-Geschichten. In: TB 1903-1908, S. 471-490. 112 Brief v. 14.12.1912, Nachlaß ULC, Box Bb. 113 Brief v. 4.1.1913 (B 11,4). 114 So nennt ihn Peter G.J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Gütersloh: Mohn 1966, S. 259. 115 Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung; zit. nach: Anton Staudinger: Christlichsoziale Judenpolitik in der Gründungsphase der österreichischen Republik. In: Jahrbuch für Zeitgeschichte (1978), S. 11-48, S. 39. - Staudinger merkt dazu an: „Mit aller Entschiedenheit sei hier festgestellt, daß diese Vokabel .Konzentrationslager', 1920 ausgesprochen, sich mit jenem Begriff gar nicht decken kann, der für uns heute mit der fast unvorstellbar grausamen Wirklichkeit der nationalsozialistischen Konzentrationslager und dem Assoziationsbereich von Schrecken und Entsetzen verbunden ist. Keineswegs aber darf gerade hier die Tradition solcher Vorstellungen, - rassisch, national oder politisch Diskriminierte zu internieren -, ungerechtfertigt verkürzt werden."
VIERTER T E I L
DENKMÄLER DES L E B E N S
1. Aula memoriae: Das Tagebuch Wer in späteren Jahren Tagebuch schreibt, tut es, um etwas im Gedächtnis zu behalten, und es wird ihm dieses Tagebuch ganz von selbst zum Vorratsspeicher, zur Kammer, in der er seine Schätze birgt. (Marie Luise
Kaschnitz)
Schnitzlers Tagebuch hat nicht nur Verehrer gefunden. Auf den ersten Blick verbergen sich in dieser Schatzkammer wenig Perlen unter viel Gerümpel. Deutlich enttäuscht schrieb Rüdiger Görner, die „Qualitäten" dieses Journals seien des „Tages Dürre und ereignisreiche Langeweile". Im kruden seriellen Stil habe sich der Positivist Schnitzler auf das Elementare beschränkt.1 Nicht nur Görner äußerte Überraschung über die Bedeutung, die Schnitzler selbst den Aufzeichnungen gegeben und testamentarisch abgesichert hat2 - sie scheint in seltsamem Kontrast zu stehen zur spröden Registratur von Daten, Personen und Fakten, mit der sich das Tagebuch auf weite Strecken begnügt.3 Häufig vermißte man die stilistische und intellektuelle Brillanz der großen europäischen Gattungvorbilder. An Lektüreerfahrung fehlte es Schnitzler dabei keineswegs; ein passionierter Leser von Brief- und Memoirenliteratur, widmete er sich geradeso intensiv den unveröffentlichten Aufzeichnungen, die ihm vertraulich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zukamen, wie den Journalen der Autoren von Rang. Schnitzler las, neben zahlreichen anderen, die Tagebücher von Goethe, Grillparzer, Platen und Varnhagen; von Byron, Stendhal, Flaubert und Tolstoj; aber auch die des Friedrich von Gentz, die Ludwigs II. und, mit gemischten Gefühlen, die des einstigen Schriftstellerkollegen Theodor Herzl.4 Auf ein Werk kam er immer wieder zurück; es hatte der durch keinerlei Poetik eingeschränkten Gattung jedenfalls immanente Maßstäbe gesetzt und gilt als „das bedeutendste Künstlertagebuch der deutschen Literatur", zumindest der des 19. Jahrhunderts: Friedrich Hebbels großes Diarium.5 „Hebbels Tagebücher, und mir selbst lächerlich erschienen", notierte Schnitzler am 5. Februar 1904. Das lag wohl daran, daß seine eigenen Aufzeichnungen die sentenziose Prägnanz von Hebbels Notaten nicht erreichten. Auch auf einen ästhetischen Mehrwert seiner Notizen hatte es Schnitzler offenbar nicht abgesehen. Trotzdem ist das immense, über ein halbes Jahrhundert geführte und 5000 Manuskriptseiten umfassende Journal kein Konvolut bloßer Tagesprotokolle. Schnitzler hat nicht vor der Faktizität des
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Denkmäler des Lebens
Lebens kapituliert. Über Jahre hinweg entwickelte er Schreibstrategien, die sehr wohl mit rhetorischen Kunstgriffen operierten, mit einem Code der Abkürzung und Wiederholung. Diese stenographische Rhetorik ist aber nichts anderes als das stilistische Werkzeug von Schnitzlers TagebuchMemoria. Es strukturiert die Gedächtnis-Architektur, an der das Journal von Tag zu Tag weiterbaut.
A. Rhetorische Stenogramme Während die frühen Jahrgänge des Tagebuchs als „journal intime" geschrieben sind - nicht nur wegen Schnitzlers komplizierter „BeischlafsLogistik"6, sondern auch wegen der ständigen Selbstreflexion des Schreibenden, der sich so gerne als Künstler verstehen würde - , nähern sich die Aufzeichnungen ab 1900 immer stärker dem Chronikstil an. Schon 1880 hatte sich Schnitzler zur Ordnung gerufen: „je veux seulement raconter d'une manière bien simple les événements du jour".7 Die Eintragungen verfestigen sich zu streng formalisierten Notaten; sie werden chronologisch gegliedert („Vm. - Nm. - Abd.") und halten sich eng an Tagesordnungspunkte wie: literarische Arbeit, Sozialkontakte, Lektüre und Theaterbesuche, Träume und Gesundheitszustand. 8 Diese strenge Fakten-Disziplin macht das Tagebuch zwar zum Steinbruch biographischer und sozialhistorischer Forschung, setzt aber dem ästhetisch-psychologischen Interesse des Lesers einigen Widerstand entgegen: „Insgesamt unterbindet der Aufzeichnungsduktus die Möglichkeit, die Erlebniseinheit eines Tages oder gar mehrerer Tage in ihrer dynamischen Prozessualität .erzählerisch' zu erfassen und damit auch durch die Aufdeckung leitender innerer Motive oder prägender äußerer Umstände deutend zu analysieren, und löst statt dessen .Leben' in die Abfolge partialisierter Faktizitäten (Handlungen und Ereignisse) auf". 9 Den nackten Tatsachen entspricht ein stichwortartiges, oft kürzelhaftes Notieren; die einzelne Eintragung gibt sich als nüchterner Stundenplan eines Tages; der Schreibstil wirkt schmuck- und kunstlos. Aber ebensowenig, wie das Tagebuch nur als Auszug aus dem Wiener Adreßbuch oder dem Bühnenspielplan zu lesen ist, ebensowenig erschöpft sich die Aufzeichnungsstrategie in der prosaischen Addition von Daten. Die Abweichungen von der trockenen Faktennotiz fallen umso mehr auf: Schnitzler hat manche Eintragungen rhetorisch eingekleidet. Dort, wo der chronikalische Duktus in die Stilfigur übergeht, darf man eine poetische Anstrengung vermuten, die Schnitzlers Tagebuch ansonsten unterdrückt.
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1. Aula memoriae: Das Tagebuch
a. Metapher Mit der Schilderung seiner weltschmerzlichen Stimmungen hält sich der junge Schnitzler im Tagebuch nicht zurück; trotzdem hat er seinen elegischen Klagen gelegentlich ironische Korrektive eingebaut, gekleidet in die Form von Tropen: 1 0 Ich glaube, der Grundzug meines Wesens ist Heiterkeit, nicht Melancholie; jedoch die Fensterscheiben des Humors sind angelaufen mit dem Reif des Mißvergnügens. 11
Wenn Schnitzler seine romantische Selbstdarstellung metaphorisch steigert, können die Bilder auch ins Komische oder Parodistische umkippen. Es ergeben sich Figuren von fast Nestroyscher Lakonie: - Ich gefoppter Gast! Welcher Esel hat mir denn dieses Beisel, genannt Erdenleben, empfohlen? Ich sitze da schon so und soviel Jahre und schreie: Heda, ich hab' eine Portion Glück, mehr blond bestellt, wirds bald? -
12
Das kahle Dasein nimmt sich „wie ein Glatzkopf" aus; während das Tagebuch-Ich durch das „elende Pappellabyrinth meines Lebens" stolpert, sehnt es sich nach einer Muschelsuche am Meeresgrund, wozu die „Taucherglocke Phantasie" nötig wäre. 13 Der Unterschied zwischen ödem Alltag und poetischer Sehnsucht wird in entsprechend drastische Allegorien gefaßt: Es ist so ein Dämmern das ganze Leben - ab und zu stürzt sich eine Leidenschaft dazwischen, rührt den langweiligen Brei auf - oder es bläst auch die sonderbare Köchin Schicksal oder Zufall genannt, ein wenig, so daß eine Art Bewegung hinein kommt und wir brodeln weiter im Kochtopf unsres engen Daseins, bis wir weggeschüttet werden auf gar erbärmliche Weise. [ . . . ] Brodle weiter, guter Brei, und freue dich deiner Nebenbreie - amüsire dich mit den Kochtöpfen an deiner Seite, brodle so lustig als du kannst. -
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Das Bildfeld für die profane Realität kann gar nicht banal genug sein. Interessanterweise benützt Schnitzler, ein wenn auch unwilliger Sohn der Gründerjahre, Technikmetaphern dabei noch nicht unbedingt als Ausdruck für das postromantische Industriezeitalter. Versucht er sich doch einmal in der Kritik der maschinellen Arbeitswelt, mißglückt ihm das Gleichnis, und die Inspiration kommt aus dem Abgas: Die ganze Erdenwirthschaft ist wohl dem Getriebe in einer Fabrik zu vergleichen, und wie aus dem hohen Rauchfang der Rauch in die freie Luft steigt und rings sich
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Denkmäler des Lebens
verliert, so fliegt aus dem alltäglichen Geschäftsleben - denn das gewöhnliche Leben ist ja nicht mehr als das - ein ungezwungner Nebel zum Aether auf, und schwebt hin und her und tanzt im unbegrenzten Räume - es ist der künstlerische Geist, der sich hervorhebt aus dem regelmäßigen Philisterium, das in dumpfer Begrenzung die tägliche Arbeit verrichtet. - 1 5
Die Eisenbahn hingegen, die eben in der Literatur der achtziger Jahre ihren Siegeszug antritt und wie kein anderes Motiv geeignet ist, die Beschleunigung von Wahrnehmungsprozessen metonymisch abzubilden, fährt bei Schnitzler immer geradewegs ins Reich der Dichtung: - Gut denn, ich werde meine Zeit weiter mit Warten hinbringen und ungeduldig in dem Wartesaal, benamst „gleichförmige Gegenwart" auf und abspazieren; um so aerger, als ich das Klingeln des Telegraphen schon vernehme, von dem mir das Kommen des Zugs angezeigt wird, der mich in ein schönres Land bringen soll - und der Zug will nicht kommen. In einem reservirten metaphorischen Coupé reis' ich schließlich mit meiner süßen Liebsten weg. - 1 6
Diese „Heimat", die „selige, himmelschöne Heimat", das „Heimatland Poesie" verursacht dem angehenden Mediziner fortwährend „Heimweh". 17 „Ich möchte", schreibt er zum Jahresende 1884, „mich auf den Weg machen nach meiner Heimat - dort niedersinken und den theuern Boden küssen, den ich so lange nicht betreten durfte". 18 Im Gegensatz zum Pathos dieser Bilder steht die Entfremdung der bürgerlichen Existenz, die einem Exil gleicht. Von der „Poesie" wird eine phantastische Entlastungsfunktion erwartet, die sie aber gar nicht haben kann. Die Gedichte, die zu dieser Zeit auch Eingang in das Tagebuch finden, beruhen ja teilweise auf denselben metaphorischen Verfahren - „Der Heimat Auen winken mir entgegen / Und immer näher wandl' ich meinem Glück" 19 - , scheitern aber kläglich, und zwar nicht an der Prosa der Verhältnisse, sondern gerade an dem obsoleten romantischen Bilderfundus. Als Disziplinierungsmittel wirkt nichts anderes als wieder das Tagebuch. Die „geordnete Buchführung meiner Tage" 20 gibt ihrerseits die prosaische Folie ab, von der sich die poetischen Einlagen abheben - und scheidet sie nach und nach als unangemessene Stilmittel aus. Zu Anfang der neunziger Jahre gehören die allegorischen Exkurse bereits der Vergangenheit an. Ans Tagebuch selbst hatte Schnitzler einige metaphorische Apostrophen gerichtet; es war nicht nur „ein abgeblaßtes Conterfei meiner Gefühle", sondern auch das „Tagebuch-Negligé",21 in dem es Gefühl und Sprache bequem haben:
1. Aula memoriae: Das Tagebuch
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Holder Spucknapf meiner Stimmungen und Verstimmungen, nie versiegender Bronnen meiner Gemütlichkeit und Ungemütlichkeit, Kanapee, auf dem sich mein Sinn und Unsinn schläfrig geärgert oder in lieblicher Erinnerung hinstreckt - du mein Tagebuch, sei mir gegrüßt. . . - 2 2
Damit bekommt der Schreibort Tagebuch genau die philiströse Atmosphäre, die sonst mit soviel Entrüstungsaufwand abgelehnt wird. Dem ,,stille[n] Kämmerlein" Tagebuch fehlt jedenfalls etwas „vom vollen Lichte der Sonne [ . . . ], vom Geräusch der Straße" - auf diese Feststellung läßt Schnitzler eine der damals noch seltenen Eintragungen zu Sozialismus und Antisemitismus folgen. 23 Die melancholischen Selbstbetrachtungen weichen einer größeren Faktendichte. Der Abstand zwischen Alltag und Phantasie schließt sich, als das Tagebuch die kontinuierliche Arbeit am literarischen Werk anzuzeigen beginnt. Nachdem Schnitzler ein Autor geworden ist, braucht er kein Poet mehr zu sein. Und damit dankt auch die Metapher als Stilmittel ab. Sie bezeichnet nur die erste Phase des Journals, in der sich das schreibende Ich seines Dichter-Seins noch nicht sicher ist. Die poetische Selbstinszenierung wird überflüssig, als die Tagebuchprosa das berufliche Schreiben begleitet. b. Exclamatio Daß Schnitzler den Konflikt zwischen Medizin und Literatur zugunsten der letzteren entschieden hatte, heißt aber nicht, daß sich im Tagebuch von nun an ein unangefochtenes Schriftsteller-Ich behauptet. Ebensowenig bedeutet der Verzicht auf die Tropen schon die völlige rhetorische Enthaltsamkeit. Zwar wird in späteren Jahrgängen mit Gefühlsausbrüchen sparsamer umgegangen, sie fehlen aber nicht, sondern werden stilistisch gekürzt. Der Ausruf sprengt das Tatsachenverzeichnis, und er durchläuft eine emotionale Palette zwischen Entrüstung und Resignation: O Leben. -
[2.4.1910]
Oh „Literatur"!
[14.11.1910]
O Verlogenheit!-
[15.11.1910]
Oh Leben! O Groteske des Ruhms! -
[10.12.1910]
O Hexenkessel Literatur!
[8.5.1911]
Oh Literaten. Oh Literatur.
[16.7.1912]
O du mein Oesterreich. -
[2.4.1913]
oh Jugend!
[5.10.1915]
Oh Literatur! - (Oh Literatur!) Oh Literatur! -
[27.11.1914]
O heillose Verwirrung. -
[23.5.1916]
260
Denkmäler des Lebens O du mein Oesterreich. -
[10.8.1916]
Oh Mißverstand!
[23.12.1917]
Oh Kritik!
[19.3.1918]
O du mein Oesterreich. ~ 24 O Menschen. -
[15.9.1918] [2.11.1918]
O Existenz. -
[17.11.1919]
Oh Literatentum. -
[4.9.1920]
O Ruhe! -
[14.12.1921]
Die expressionistische Gedankenfigur ist gleichsam eine Schrumpfform der wichtigsten Identitätsfragen des Tagebuchs: die nach der Stellung als österreichischer Autor. In der Litanei der Ausrufe nehmen die Stoßseufzer über die (Literatur-)Politik in der ausgehenden Monarchie und der Ersten Republik überhand. Sie sind Kürzestkommentare zu den Ressentiments, die Schnitzler als jüdischen Schriftsteller trafen. Wenn das Tagebuch als literarische Gattung auf die „Suche nach dem verlorenen Ich" geht, ja die Konstitution eines Ich erst ermöglicht,25 so reflektiert Schnitzlers Tagebuchführung schmerzlich erfahrene Widerstände im Prozeß der Ich-Identifikation. Als Fakten notiert, gehören dazu die Kommerzialisierung des Literaturbetriebs, die Cliquenbildung und Machtverteilung in Presse und Theater, die antisemitischen Angriffe der Kritik und die völkisch-nationalen Tendenzen deutsch-österreichischer Prägung. Als Attacken auf Schnitzler soziales Ich stellen sie zugleich die Identität des Tagebuchschreibers, die eine Identität als Autor ist, in Frage. Umgekehrt sind die Angriffe, die gegen Schnitzler als Schriftsteller gerichtet sind, Herabsetzungen seiner Person. Schnitzler erleidet nicht nur die üblichen Frustrationen, die der Auftritt auf dem literarische Markt mit sich bringt, bei ihm verdoppelt sich der Leidensdruck: „Complicirtheit der Sache bei mir: Oesterreicher. Jude. -" 2 6 Das Wesen einer antisemitischen Kritik besteht ja schlechterdings darin, sich nicht ans Werk zu halten, sondern an den Urheber. Schnitzlers Tagebuch verzeichnet immer wieder polemische Kampagnen, die ihm das Recht absprechen, sich einen Österreicher und einen Autor zu nennen. Perfiderweise leugnete man gerade Schnitzlers ansonsten unbestrittene Fähigkeit zur psychologischen Durchdringung seiner Figuren: Einer mußte mich neulich in einer Gesellschaft vertheidigen gegen den Vorwurf: ich sei Jude - man lasse sich offenbar, wenn meine Sachen gefallen, durch den Schein täuschen - denn als Jude könne ich ja nicht wissen, was in der Seele einer Wienerin vorgeht. So denken heute 99 % der Christen in Wien. 27
1. Aula memoriae: Das Tagebuch
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Nach der Veröffentlichung von .Leutnant Gusti' verlor Schnitzler nicht nur seine Offizierscharge, sondern in den Augen „einiger" auch die poetische Lizenz, „österreichische" Figuren darzustellen: Bei Bahr [ . . . ] ; über das „Recht" der Juden Wiener Stücke zu schreiben. Charakteristisch: B. hatte von einigen vernommen, die gegen den Ltnt. Gustel vorbrachten: ein Jude sollte doch keinen oesterr. Ltnt. schildern! - 2 B
Unter solchen Bedingungen wird das Tagebuch zum Ort des Protests und zur Chance, sich der eigenen Rolle gerade noch zu versichern. Das diarische Ich gewinnt, wie Manfred Jurgensen das genannt hat, „musterhaft oppositionellen Charakter" und „wehrt sich gegen das von außen auferlegte gesellschaftliche Bildnis". 29 Die Ich-Krise bearbeitet Schnitzler aber nicht nur implizit im Prozeß des Tagebuchschreibens, sondern auch ganz ausdrücklich. Denn als Wiener Schriftsteller ist er wiederum in Deutschland mit einer weiteren pauschalen Abwertung konfrontiert: Ein andrer hat einfach seine Individualität zu vertheidigen - Unsereiner muss zuerst das Vorurtheil gegen Wien - dann das gegen Judentum besiegen, dann kommt man erst selber dran. Und gerade wie beim Juden, auch beim Wiener: Nicht nur die andern hat er gegen sich, nein vor allem den Juden, den Wiener. - 3 0
Das „Unsereiner", das „er" werden bereits wie Schutzschilder vor das angegriffene „Ich" geschoben. Wenn sich das „Ich" einmal deklariert, so merkt man ihm den Druck an, unter dem es steht: „Ich setze meine Ansichten auseinander - als oesterr. Staatsbürger jüdischer Race zur deutschen Kultur mich bekennend".31 Allmählich nimmt sich das „Ich" im Tagebuch immer mehr zurück. Die frühen Jahrgänge, die sich so sehr mit der schwankenden beruflichen Identität abplagten, setzten das Subjekt ihrer Sätze noch ganz unbefangen: Morgen setz' ich mich aber wirklich her und studiere Hals über Kopf. - Im allgemeinen bin ich nicht gut aufgelegt. . . Eigentlich müßt ich was schreiben . . . 3 2
In den späteren Aufzeichnungen lautet ein solches Notât entweder: „Es könnte eine sehr nette Novelle werden - wenn man sich überhaupt noch zum Arbeiten entschlösse", oder schlicht: „Nichts gearbeitet", oder, in einer charakteristischen Substantivierung: „Geringe, allzugeringe Arbeitskraft. -" 3 3 Natürlich verdanken sich diese Abkürzungen auch der tagebuchtypischen Eile und Flüchtigkeit; aber bei Schnitzler führt die Ökonomisierung des Schreibens unter dem Zeitdiktat nicht zu „Ich-Improvisa-
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tionen",34 sondern zu kopflosen Sätzen. Die elliptische Syntax - „Dictirt", „Spazieren", „Gelesen" - spart das Subjekt aus. Schnitzlers Tagebuch konstituiert ein diarisches Ich und läßt es zugleich in der Grammatik verschwinden. Dieser private Rückzug des Ich ist auch eine Folge der politischen Repressalien gegen den jüdischen Autor. Nicht nur die „Suche nach dem verlorenen Ich", sondern schon der drohende Fall aus einer öffentlichen Rolle prägt Schnitzlers Eintragungen bis in die Satzstruktur. „Oh Literatentum", „Oh Kritik", „O du mein Oesterreich": Der Ausruf drückt dann sowohl Ich-Verlust als auch Ich-Behauptung aus. Subjektlos, spricht der Vokativ die Widersacher an; im Tagebuch werden sie paradoxerweise zu Dialogpartnern. Das Ich, das nicht vorkommt, ist gleichzeitig höchst präsent, der Ausruf seine direkteste Rede. Er enthält Hilflosigkeit genauso wie Empörung. So verschafft das bedrohte Ich sich Luft; es sichert sich eine kleine Rhetorik des Widerstands. c. Dubitatio Die rhetorische Frage will nichts als die rechte Antwort provozieren. Auch solche Manöver kennt Schnitzlers Tagebuch, und wenn das noch nötig wäre, würden sie den dialogischen Charakter der Aufzeichnungen belegen. Vor allem die Schilderung der Ehekonflikte ruft im Tagebuch Fragen hervor, die das schreibende Ich ins Recht setzen und bestätigen sollen: „Ist vorherwissen Schuld? - Halten wollen Schuld? -" 3 5 Viel häufiger als solche Pseudo-Erkundigungen sind aber peinigende Selbstbefragungen. Rhetorisch sind sie lediglich, weil sie Unabänderliches betreffen. Die wiederkehrende Überlegung: „Ob ich nicht ein andrer Mensch wäre, wenn das Ohr mich in Ruh ließe - und wenn ich gut hörte? -" 3 6 bleibt nutzlos und masochistisch: Wär es anders, wenn nicht das Getöse Tag und Nacht meine Nerven zu Grunde richtete? Ich muss es mich immer wieder fragen. Freilich eine müßige Frage. 37
Immerhin mögen solche Selbstzweifel noch der Überprüfung verbleibender Lebensoptionen dienen. Aber in dem Maß, in dem sich die Handlungsspielräume - auch hinsichtlich des Schreibens - altersgemäß verengen, drücken die Fragesätze Ratlosigkeit aus, in der typischen resignierten Verkürzung: Was thun?
[4.1.1909, Wohnungssorgen]
Was thun? -
[5.10.1909, Preiserhöhung]
Was thun.
[8.11.1909, Ohrenleiden]
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1. Aula memoriae: Das Tagebuch was thun? -
[12.1.1921, Ehescheidung]
Aber was thun?
[2.10.1922, Einsamkeit]
Was zu thun.
[28.9.1926, Zukunft der Tochter]
Was thun?
[28.12.1929, Zukunft des Schwiegersohns]
Die Frage verfestigt sich zur zitierbaren Formel, die dutzende Male abgerufen wird - auch das ein Charakteristikum der Tagebuchführung. Viele Tagebuchschreiber haben gleichbleibende Inhalte chiffriert, bis hin zu E.T.A. Hoffmanns graphischem Kürzel für die gewohnheitsmäßigen Räusche: , 38 Bei Schnitzler sind es nicht die künstlich beflügelten Stimmungen, sondern Depressionen und Entscheidungsschwächen, die mit derselben Wendung registriert werden. Gerade die emotionale Bewegung wird ins stilistische Stereotyp übersetzt. Gewisse Belange pflegte Schnitzler in den frühen Tagebüchern aus durchaus praktischen Gründen zu verformeln, wie eben die heikle Organisation seines Liebeslebens nach dem Schema „Vorm. bei Mz. I, Nm. Mz. Rh. bei mir". 39 Noch die Liebesbekenntnisse selbst werden gelegentlich diskret abgekürzt: „Irm. H. que j. d. 1.", oder: „Brief von Dora Sp. ob ich s. 1.?", oder: „Mir war in den letzten Tagen, als 1. i. s. w.". 40 Was hier noch frivole erotische Verschlüsselung sein mag, geht später über in fixe sprachliche Figuren, die für Lebens- und Zukunftsängste stehen. Im Tagebuch können sie wenigstens in dieser Form kurz gehalten werden. Die täglichen Eintragungen, die Konsequenz, die sie erfordern, die vorläufige Rechenschaft, die damit geleistet ist - all das kann als Identitätsstütze dienen. Für einen Menschen, dem es „um das Herausheben, um die Schärfe und Konkretheit aller Dinge zu tun ist, die ein Leben ausmachen", gibt es, laut Elias Canetti, kaum eine andere Möglichkeit: „es ist so, daß ein solcher Mensch explodieren oder sonstwie in Stücke gehen müßte, wenn er sich nicht an einem Tagebuch beruhigte".*1 Man führt ein Journal, um mit der täglichen Organisation seiner selbst das Lebenschaos in Schach zu halten. Als „Logbuch im Labyrinth", 42 als Zufluchtsort erzielt das Tagebuch therapeutische Wirkungen: Le journal est un lieu sécurisant, c'est le refuge contre le reste de l'univers, contre ce vide, ce vertige qui risque de vous happer, contre ce saut vers l'inconnu, la multiplicité, la dispersion. 43
Desintegrationserfahrungen des Schreibenden können im Notât bewahrt und insofern aufgehoben werden. Nicht nur der junge Schnitzler will sich im oder am Tagebuch festhalten: „Es ist ,das scribiren' selbst, das ihn
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stabilisiert. Die Folge der ,Tage' gewährt dem Schreibenden Sicherheit in den Tagen seines Lebens". 44 Während andere Tagebücher sich nur auf das kalendarische Gerüst verlassen, ziehen Schnitzlers Notate außerdem den Raster der Tageszeiten und die strikte thematische Ordnung hinzu. Über Jahrzehnte und in Varianten bilden sich Mustersätze heraus. Zu den Abendunterhaltungen - Theater, Oper, Konzerte oder Gesellschaften - , die für Schnitzler wegen seiner Otosklerose immer mühsamer wurden, gibt es obligate Kommentare. Sie lauten: (Ich) Hörte nicht viel / mäßig / kaum / wie von fern / wenig / zu wenig / das wenigste / ein minimum / schlecht / recht schlecht / besonders schlecht / zum Verzweifeln schlecht / miserabel / besonders miserabel / wenige Worte / keine dreißig Worte / so gut wie kein Wort / kaum eine Silbe / kaum ein zehntel / fast nichts / eher nichts / so gut wie nichts / so ziemlich nichts / nahezu nichts / einfach nichts / eh nichts. 45
Diese Gleichförmigkeit hat in der Tat etwas Beruhigendes. Canetti spricht von einer ,,feste[n] Mauer", 46 welche die Tagebuchsätze errichten - für den Leser wohl ein Rezeptionshindernis, für den Schreibenden ein möglicher Bann. Das ritualisierte Notât ist Ausdruck und Mittel einer Selbstdisziplin, mit der das Leiden ertragen - und erträglicher wird. „Die Geräusche an der Grenze des Erträglichen. Was thun", schreibt Schnitzler am 8. November 1909. Das ist die „müßige" Frage, Schnitzler kannte die Diagnose. Zukunftsängste lassen sich durch die Faktenchronik nicht restlos verbuchen. Dafür findet Schnitzler die Frageformeln - rhetorische Gesten des Zweifels, mitunter der Verzweiflung, die aber durch ihre Wiederholung doch zu minimalen Anhalts-Punkten werden. d. Conduplicatio Die Tagebücher der letzten fünfzehn Jahre sind Dokumente von Welt- und Lebenskatastrophen. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs hatten Schnitzler mitunter in fassungsloses Entsetzen gestürzt („Graun über Graun, Unrecht über Unrecht; Wahnsinn über Wahnsinn! -") 4 7 ; er besaß nicht nur Vorstellungskraft genug, sich selbst die Torturen der Sterbenden auszumalen, sondern er klagte auch den kollektiven Phantasiemangel als Kriegsursache an: „Habt Ihr nicht gewußt, daß in dem Wort Krieg wie in einer durchsichtigen und zerbrechlichen Schale alle jenen andern Worte enthalten sind: Mord, Verstümmelung, Raub, Plünderung, Seuche, Blindheit, Läuse, Vergiftung, lebendiges Verbrennen, Ersticken, Verdursten und noch hundert andere [ . . . ]?" (AB 211). 48 Was in diesen vier Jahren zusammen-
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zubrechen drohte, war sein Glaube an die prinzipielle Verbesserungsfähigkeit des Menschengeschlechts, Bestandteil einer bis dato aufrechterhaltenen liberalen Überzeugung. Das Ende der Monarchie, bei allen Befürchtungen, die es im (jüdischen) Großbürgertum auslöste, nahm sich demgegenüber nur als Debakel zweiten Ranges aus; in Schnitzlers Wirkungsgeschichte setzte es allerdings eine tiefe Zäsur, die Kritik pflegte ihn von da an als „Dichter einer versunkenen Welt" zu apostrophieren, was noch in Schnitzlers letztem Lebensjahrzehnt zu einer Serie von Identitätsund Schreibkrisen führte. In der Zwischenkriegszeit lagen die lebensgeschichtlichen Einschnitte, die jeden Zukunftsoptimismus Lügen straften: die Scheidung von Olga Schnitzler (1921) und der Selbstmord der Tochter Lili (1928). Das ganze Ausmaß von Trauer und Verzweiflung ließ sich für Schnitzler kaum zu Papier bringen: Krieg, Krieg, Krieg. Regen, Regen, Regen. Thränen, Thränen, Thränen. Allein, allein, allein. Kind, Kind, Kind . . . allein . . . allein . . . . allein . . . Melancholie, Melancholie, Melancholie. Sorgen, Sorgen, Sorgen. Vergeblich, vergeblich, vergeblich. Kind, Kind, Kind! Lili, Lili, Lili! Müd, miid, müd. Schwer, schwer, schwer. Schwer, schwer -
[25.12.1915] [5.9.1920] [28.12.1920] [10.2.1921] [5.9.1921] [29.7.1922] [5.1.1923] [12.9.1923] [13.9.1925] [30.7.1928] [31.7.1928] [15.1.1929] [5.4.1930] [27.6.1930]
Wo die Worte fehlen, wird eines dreifach gesetzt. Das Wiederholungsritual konzentriert sich in einer Formel. Schnitzler hatte gelegentlich auch Figuren der Steigerung benützt, wie beim Nachruf auf Otto Brahm („Ein Mensch! Ein Mann! Ein Freund!") oder in seiner Entrüstung über die Kriegshetzer („Ihr Schurken! Ihr Narren! Ihr Bösewichte!"). 49 Demgegenüber wirkt die Reihung wie eine flache, zusammengefallene Klimax; gesteigert wird nur noch durch Repetition. Es geht diese äußerst artifizielle rhetorische Figur an die Grenze der Sprachlosigkeit. Was kann das Tagebuch nicht sagen? Ein Journal intime' wird angelegt, um Rechenschaft abzulegen über tiefinnerste und verborgene Regungen. „Warte Kerl, ich muss dir noch auf den Grund kommen!", droht sich
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Schnitzler 1885 an. 50 Voraussetzung ist, daß alle Gefühle wahrheitsgemäß mitgeteilt werden: „Ein Tagebuch hat doch eigentlich keinen Sinn, wenn man nicht aufrichtig darin ist". 51 Trotz größter subjektiver Wahrhaftigkeit kann aber lediglich die eigene Ansicht vom Ich aufgezeichnet werden.52 In Hans Werner Richters Essay , Warum ich kein Tagebuch schreibe' ist nachzulesen, wie seine versuchsweisen Aufzeichnungen an diesem Dilemma scheitern: „Was ich an einem Abend über den vergangenen Tag schrieb, erschien mir am nächsten schon unwahr". Tagebuchschreiber müssen verfälschen, verkürzen, zurichten; sie präparieren jede Eintragung „als Vergangenheit für die Zukunft".53 Das Leben wird vom Tagebuch korrigiert, und zwar schon vor der Niederschrift. Der Effekt bleibt nicht aus, „daß schon die Absicht zu notieren die Erfahrung verwandeln kann, daß man anfängt, gewissermaßen für das wartende Journal zu erleben und zu empfinden".54 Das „Problem der Aufrichtigkeit" ist deshalb eine Sackgasse jeder Tagebuchführung: Die nüchternste Ich-Analyse schließt illusorische Selbst-Synthesen nicht aus. Das im „Ich" Vorgefundene wird meist in Wunsch- oder Leitbilder des Daseins-Entwurfes, sagen wir es ruhig, umgefälscht. Insofern „lügen" auch Diaristen der erbarmungslosen Selbstentlarvung [ . . . ] . 5 5
Schnitzler hat sich über das diaristische Ende der Aufrichtigkeit keinerlei Täuschungen hingegeben. Lapidar konstatiert er: Im übrigen - wenn man über sich schreibt, so lobt man sich immer. Spricht man von seinen Fehlern, so lobt man seine Bescheidenheit, seine Selbsterkenntnis. Nennt man sich einen Schuften, so liegt darin eine leise Verachtung für die anständigen Menschen, heißt man sich feig, so deutet man an, dass der Muth eigentlich eine lächerliche und meist verlogene Eigenschaft ist, u. s. f. 56
Zensur übt aber schon der Stil, nicht nur das Bewußtsein. Ganz abgesehen von der möglichen Differenz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung gibt der Aufzeichnungsduktus allmählich die Auswahl-, Anordnungs- und Darstellungsregeln für beliebige Inhalte vor. Schnitzlers chronikalische Eintragungen bevorzugen Reduktion und Aussparung, was seiner sprachskeptischen Zurückhaltung entspricht. Daß Schnitzler es sich weitgehend versagt hat, die einzelnen Daten zu täglichen Kurzgeschichten zu komponieren, beruht sicherlich auch auf der Einsicht, daß jede narrative Deutung sich von der „Wahrheit" entfernt. „Worte lügen" (D 11,491), auch beim Tagebuchschreiben. Gefühlen und ihrer Vergegenwärtigung sind sie jeden-
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falls nicht immer angemessen. Schon im ersten Jahrgang des Tagebuchs verzichtet Schnitzler auf die Wiedergabe amouröser Dialoge: „Es ist immer so lächerlich, wenn ich mir später aufschreibe, was wir sprachen; das kann in späterer Zeit nachgefühlt, nicht nachgelesen werden".57 Mit anfänglicher Verwunderung nimmt Schnitzler zur Kenntnis, daß sich das Erschütternde der Aufzeichnung widersetzt: Es ist wahrhaftig sonderbar. Manches, was ich mir absolut niederzuschreiben vorgenommen, kann ich jetzt nicht niederschreiben - von einzelnen Momenten aus der Vergangenheit nämlich, die mich am tiefsten erschüttern - ich kann nicht . . . Und warum? Eigentlich ganz unklar! - 5 8
Zweimal hat Schnitzler seine konsequente Tagebuchführung für längere Zeit unterbrochen.59 Als Olga Schnitzler im Dezember 1907 an Scharlach erkrankt, kann sogar das Tagebuch nicht mehr „beruhigen"; nach dem Tod der Tochter Lili, im Juli 1928, verstummt es. Schwer fallen die Notate über das Ohrenleiden oder die Altersangst, die für den Schreiber selbst Todesbotschaften sind: „Die letzten Worte niederzuschreiben hab ich mich gezwungen".60 Ein Alptraum ruft solche Schrecken hervor, „daß ichs vor Graun (oder Aberglaube?) nicht aufschreibe". 61 Schreibhemmungen und Ausdrucksmängel verfolgen Schnitzler aber bis in die Träume selbst, auch in die guten. Als er träumt, Goethes Tochter begegnet zu sein - „ein ungeheures Glücksgefühl" - , möchte er das, noch im Traum, gleich festhalten: „schreibe es ins Tagebuch, bin mit den Worten nicht zufrieden".62 „Alle Mitteilungen sind heute gefährdet. Aber derjenige, der schreibt, ob beredt oder unberedt, setzt das Schweigen dagegen."63 Schnitzlers schüttere Tagebuchführung ist außerordentlich verschwiegen. Im Tagebuch, mit dessen Hilfe ein Selbstbild als Autor gefunden und verteidigt wurde, wäre gerade das Allerprivateste oft nicht „wahr". Dafür schiebt Schnitzler seine rhetorischen Kodierungen ein. Die Wiederholung der geprägten Formeln vertextet die verzeichneten Fakten, ohne sie zur erzählbaren Geschichte zu ordnen. Im Gedächtnisspeicher Tagebuch bleiben diese Daten noch isolierte, vereinzelte, positivistische Fragmente. Aber wie sich die antike Rhetorik die ars memorativa zunutze macht, so dienen in Schnitzlers Tagebuch die rhetorischen Stenogramme umgekehrt dem Memorieren. Sie stecken die Gedächtnis-Topoi ab, die Orte, an denen die imagines, die GedächtnisInhalte, zu finden sind. Die Redefiguren bilden Rasterpunkte der Erinnerung; weil sie Form sind, und nicht Inhalt, können sie gleichsam die Regale sein, die Fächer, Schubladen, Stapeleinheiten der aufgehäuften Wirklich-
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keitspartikel. Als Regesten oder Registraturen bereiten sie die Erinnerungsgänge vor, die Schnitzler durch sein Tagebuch unternehmen wird. Jedes Kürzel wird dann auch die Erinnerungen abrufen, die das TagebuchIch de facto verschweigt. „Schwer, schwer, schwer" heißt in Schnitzlers Journal das, was schwer zu tragen und ebenso schwer zu sagen ist. Hinter den knappen Sprachgesten steckt eine Scheu vor Worten, die Schnitzler - was zugleich paradox und einleuchtend ist - auch als Autor kennzeichnet. Bei aller Minimalisierung des Inhalts fehlt es seinen Gedanken- und Stilfiguren, dem Ausruf, der Zweifelfrage und der Verdreifachung, aber nicht an Aussagekraft: In der rhetorischen Abkürzung teilt sich das gedrückte und gepreßte Ich manchmal genauer mit als in der detaillierten Stimmungschilderung der frühen Jahre. Das Subjektive objektiviert sich im Stil. Nur deswegen ist Schnitzlers Tagebuch dann auch literarische Werkstatt: Diese Objektivierung setzt sich in den Erzählungen fort. Das fiktionalisierte Ich verwandelt sich in ein fiktives. Vieles von dem, was im Tagebuch ungesagt bleiben muß, bringen Schnitzlers Novellen zur Sprache. B. Der Diarist und seine Zeit Daß die Literatur der Moderne zur tagebuchartigen Aufzeichnung tendiert, ist - im Gefolge Ernst Jüngers - oft beobachtet worden. Zur Darstellung der Isolation des Ich und der Partikularisierung von Zeit bietet sich die fiktive Tagebuchnotiz förmlich an; moderne Literatur erscheint geradezu „verzweifelt diaristisch".64 Wenn man, wie Manfred Jurgensen, das Tagebuch überhaupt als Genese der Literatur, als „Ursprung literarischer Gestaltung" versteht, ist leicht einzusehen, warum es so häufig zum „Schritt von diarischer Selbstgestaltung zur formfiktionalen Übertragung des Tagebuchs auf eine andere literarische Gattung" kommt.65 Als Journal intime' nähert sich das fiktive Tagebuch dem Inneren Monolog, als Chronik mag es die Schwierigkeit reflektieren, die Kontingenz der erlebten Welt noch auf einen narrativen Nenner zu bringen - in jedem Fall ist es elastisch genug, um innovative Erzählstrategien aufzunehmen. Vor allem lassen sich durch den Tagesraster die Verschachtelungen von Vergangenheit und Schreibgegenwart strukturieren. Die Tagebuchfiktion erlaubt einen Kontrast von Chronologie und individuell erlebter Zeit; der lebensphilosophischen Unterscheidung von objektiver Zeitquantität und und subjektiver Dauer kommt sie formal entgegen. In Schnitzlers Tagebuchnovellen falten diese Zeit-
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schichten aber immer wieder den Erinnerungsvorgang des Schreibenden aus. Diese Texte sind Schnitzlers frühe Experimentierfelder für die problematischen Lösungen, die das Gedächtnis findet. Die psychologischen Beispiele von Erinnerungstäuschungen, -trübungen und -fälschungen, die er in den späten Novellen gibt, werden hier vorweggenommen, eben durch Fiktionalisierungen des Tagebuchs, jenes Mediums, in dem er dem eigenen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen versuchte. Hier wird der erste Versuch gemacht, „das Selbst als Erinnerung" zu begreifen. 66 a. Die Vergangenheit: Literarische Tagebuchfiktionen Schnitzler frühe Tagebuchnovelletten, ,Der Andere. Aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen' (1889) und ,Blumen' (1894), fallen in eine Zeit, in der das Tagebuch-Ich des Verfassers den Tricks des Gedächtnisses noch ausgeliefert ist. Das Symptom einer Gedächtniskrise ist zu dieser Zeit der notorische Zwang, die Gegenwart zu historisieren: „Es ist mir nicht selten so zu Mute, daß mir der Augenblick erst später wieder erscheint und zur Zeit seines wirklichen Daseins ganz verträumt war. - " 6 7 Erlebnisse sind nur dazu da, um aus der Perspektive eines zukünftigen Rückblicks betrachtet zu werden: „es wird mal was hübsches zum Erinnern sein"; „Ich sah es schon in der Erinnerung"; „Das wird einmal in der Erinnerung sehr stark sein". 6 8 Während dieser hybride Erinnerungsdrang noch die Gegenwart überwältigt, tritt umgehend auch die konträre Gedächtnisstörung ein, eine erstaunliche Vergeßlichkeit - meistens die (frühere) Geliebte betreffend: „Später fiel mir ein, dass ich mich kaum daran erinner"; „Meine Erinnerungen werden schimmlig"; „als wären diese ganzen Jahre mit Mz. nicht gewesen". 69 Diese zeitweilige Amnesie kann aber wieder in veritable Vergangenheitsanfälle, ja „Vergangenheitsattacken" umschlagen. 70 Das Erinnerte wird so dominant, daß es das Aktuelle überdeckt: Was hat die Vergangenheit für eine unheimliche Macht: auch die Gegenwart zieht sie mit, so daß sie wie vergangnes erscheint. Man glaubt die Gegenwart nicht mehr. 71
Das Ich ist gleichsam der Spielball seiner Erinnerungen. Solche Willkür des Gedächtnisses wird in den Tagebuchnovellen literarisch bearbeitet; was da noch die Erzählinstanz übernimmt, sollen Schnitzlers Aufzeichnungen in Zukunft leisten: ein Korrektiv der Erinnerung zu sein. ,Der Andere' und ,Blumen' präsentieren die Tagebuchfiktion in recht lockerer Form. Als undatierte Berichte setzen sie bloß die Schreibsituation
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des Diaristen voraus, den im Grunde nur die Vergangenheit interessiert. Das Motiv der Aufzeichnungen ist beide Male das obligate Thema der weiblichen Untreue. Die beiden Novelletten nehmen auch die Strafphantasien schon vorweg: Die Frau, an die man sich erinnert, ist gerade gestorben. ,Der Andere' unterstreicht die Gattungsfiktion allerdings durch kompositorisch exakt verteilte Hinweise: „Vor meinem Schreibpulte sitze ich"; „da ich wieder hier vor meinem Schreibtisch sitze"; „Vor mir, hier auf dem Schreibtische, steht wieder ihr Bild" (E 1,40,42,46). Diese obstinate Rückkehr zum Schreibort bleibt ein sehr künstliches Arrangement, denn erzählt wird nur eines: daß der Witwer am Grabe seiner Frau mehrmals einen Unbekannten entdecken und für ihren Geliebten halten wird. 72 Die beiden Schauplätze des Textes - Schreibzimmer und Friedhof - halten aber tatsächlich eine präzise Balance von Innen und Außen. Gleich anfangs nimmt der Erzähler eine ungewohnte Helligkeit wahr: Glitzernd von den Häusern drüben spielen Lichtreflexe an meine Fensterscheiben . . . Wie neu, wie brutal das ist. . . Sie hat die Vorhänge in meinem Arbeitszimmer immer niedergelassen, wenn der Abend kam; kein Lärm der Straße, kein Licht des Gegenüber durfte zu uns herein . . .
Der Gang auf den Friedhof ist dann auch optisch schmerzhaft: „Es ist heuer ein Spätherbst mit einer kalten und frechen Sonne, und wenn ich die weiße Mauer von weitem sehe, so brennen mir die Augen" (E 1,40). Die Opposition von dämmrigem Zimmer und heller Straße erinnert durchaus an jenen Vorsatz, den Schnitzler in einer Eintragung von 1883 faßte: „Es soll doch wohl mal in dieses stille Kämmerlein, auch Tagebuch genannt, das immer mit so verhängten Fenstern ganz intim sich gibt, vom vollen Licht der Sonne was hereindringen, vom Geräusch der Straße was heraufpoltern ",73 Das Tagebuch ist das „Innen" der Erzählung, das von „Außen" her zuerst durch den Verlust der ehelichen Intimität gestört wird. Eingangs zelebriert der Erzähler das Gedenken der Verstorbenen: In mir taucht heute die Erinnerung an meine Jünglingszeit auf . . . wie ich an der Seite der Süßen, Liebsten durch den Wald schritt und so unendlich glücklich hätte sein können . . . (E 1,42)
Doch damals hatte der junge Mann das Glück des Augenblicks durch die Manie verspielt, die Schnitzler in den eigenen Aufzeichnungen schildert; auch er hatte die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit entwertet. Jetzt hingegen hindert ihn nichts, die Erinnerung an die Geliebte, „die mein
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Weib, mein Alles, mein Glück, meine Welt war" (E 1,42), fromm zu verklären. In diese weihevollen Reminiszenzen fährt der böse Verdacht, der unbekannte Mann am Grab sei „der Andere" gewesen, und es kommt zur entsprechenden Umdeutung der Erinnerung: „Plötzlich verzerrt sich mir die ganze Vergangenheit . . ." (E 1,44). Gegen die Ungewißheit gibt es kein Mittel, weil kein Indiz mehr vorhanden ist: „. . . ein kleines Briefchen, ein Zettel [ . . . ] ist leicht vergessen . . . Sie aber hat nichts vergessen" (E 1,46). Das Gedächtnis seiner Frau bringt ihr „Gedächtnis" ins Zwielicht; und damit müssen die Eintragungen auch abbrechen. Dem „unerhörten Ereignis" hält das fingierte Journal gerade noch stand; das tägliche Erinnern wird durch die Fragwürdigkeit der Vergangenheit außer Kraft gesetzt. Die Tagebuchfiktion geht gleichsam bis an ihre Grenze: dorthin, wo die Vergangenheit, die zu dokumentieren das Tagebuch da ist, nicht mehr geglaubt werden kann. Die vier Jahre später entstandene Novellette .Blumen' liest sich allerdings fast wie eine Fortsetzung der .Aufzeichnungen eines Hinterbliebenen'; inzwischen ist es Frühling geworden. In dieser Variante hat sich der Erzähler längst von der untreuen Geliebten getrennt, deren Fehltritt er nicht verziehen hatte. Obwohl sie ihm allmonatlich Blumen zu schicken pflegte, „Erinnerungen an einen unserer seligsten Tage", hatte er „kaum noch ihrer gedacht", als er von ihrem Tod erfährt (E I,221f.). Das Unerhörte geschieht recht leise: Der Blumenstrauß trifft auch noch im nächsten Monat ein. Selbstverständlich ërklârt sich der Vorfall „als etwas völlig Natürliches" (E 1,224), nämlich als Dauerauftrag an den Floristen, trotzdem bleibt der posthume Gruß seltsam irrational und ruft die Vergangenheit auf gespenstische Weise zurück. Von recht handgreiflicher Symbolik ist der Kontrast zwischen den welkenden Blumen auf dem Schreibtisch und der blühenden Natur vor dem Fenster; wieder soll die Schreibsituation gegen das störende „Außen" abgeschirmt werden: Ich kann die Vorhänge herablassen, und die Sonne ist tot. Ich will von all diesen Menschen nichts mehr wissen, und sie sind tot. Ich schließe das Fenster, kein Fliederduft mehr weht um mich, und der Frühling ist tot. Ich bin mächtiger als die Sonne und die Menschen und der Frühling. Aber mächtiger als ich ist die Erinnerung, die kommt, wann sie will, und vor der es kein Entrinnen gibt. (E 1,227)
Das Tagebuch ist diesmal der Ort eines unfreiwilligen und verstörenden Mementos. Allerdings trägt jetzt die Alltäglichkeit in Gestalt der neuen Geliebten und frischer Blumen den Sieg über die Vergangenheit davon.
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Immerhin löst die Konfrontation mit sich selbst in „diesen Blättern" (E 1,227) nicht nur eine Anamnese, sondern sogar eine selbstkritische Reflexion der Vergangenheit aus; das Ich empfindet sich plötzlich als „unversöhnlich" (E 1,223). Zu den Stimmungsvaleurs im Journal-Interieur 74 tritt plötzlich die alte pietistische Aufgabe des Tagebuchs, die Gewissenserforschung. In dieser Doppelfunktion gleicht die Tagebuchfiktion das Episodische des Textes aus. Das Problem der beiden Novelletten, wie ein episodischer Vorfall plausibel in das fingierte Kontinuum von Tagebuchaufzeichnungen eingebettet werden kann, wird in der ,Frau des Weisen' (1897) einleuchtender gelöst; der Ich-Erzähler ist ein Reisender. Reisetagebücher lassen sich viel umstandsloser fiktionalisieren, Aufbruch und Rückkehr geben plausible Eckdaten ab. Schnitzlers eigene Reisenotizen sind gewöhnlich noch fragmentarischer als die üblichen Notate; häufig bleibt es bei einer Aufzählung der besuchten Orte und Sehenswürdigkeiten. Was die Gattung Reisetagebuch leistet, wird bei ihm von der Korrespondenz mitgetragen: „Das meiste, was ich hier notiren könnte schreib' ich an Mz.", heißt es im Tagebuch der Italienreise 1892, das sich damit für seine eigene Lücken entschuldigt. 75 Der Sommeraufenthalt in Dänemark 1896 hingegen hinterließ seine Spuren in Schnitzlers nächster Tagebucherzählung. Zusammen mit Richard BeerHofmann und Paula Lissy verbrachte er zehn Tage im Badeort Skodsborg; am 7. August segelte man gemeinsam zur Insel Hven. Beer-Hofmann hat diesen Ausflug in seinem Erinnerungsbuch ,Paula' eingehend beschrieben (GW 796-801). Schnitzler beschränkte sich zunächst auf folgende Tagebucheintragung: „Gestern Segelfahrt nach Hven, schwed. Insel; recht stürmisch. Paula seekrank. Leuchtthurm; kleines Mädel mit Loch im Strumpf. -" 7 6 Aber in den Herbstmonaten arbeitete er eine schon vorliegende Novelle um, und ,Die Frau des Weisen' wurde ein fiktionalisiertes „Skodsborger Tagebuch"; die Segelpartie nach Hven bringt buchstäblich den Wendepunkt. In dieser Sommergeschichte wird der Ich-Erzähler, eben promoviert und auf Erholungsreise, sofort ins Freie geschickt: „Dies schreibe ich auf ein Blatt, während ich mich in einem Boote längs des Ufers hin rudern lasse". Von dem alten Gegensatz zwischen dunklem, leisem Innen und hellem, lärmendem Außen, zwischen Tagebuch und Wirklichkeit, Schreiben und Leben ist aber noch „die große Stille" übriggeblieben (E 1,262). Sie wird erst unterbrochen, als der Strandbesucher mit einer Frau zusammentrifft, die er lange nicht mehr gesehen hat: „Das Leben ist wieder laut für mich geworden" (E 1,263). Friederike, die Frau seines ehemali-
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gen Professors, in dessen Haus er sein letztes Gymnasialjahr verbrachte, gehört als Figur ins Fach der halbvergessenen Geliebten: Wie etwas Unbegreifliches erschien es mir plötzlich, daß man Dinge so völlig vergessen kann. Denn nun merkte ich erst: an jene Stunde vor sieben Jahren hatte ich seit lange so wenig gedacht, als wäre sie nie erlebt worden. (E 1,264)
„Jene Stunde" war der Moment des Abschieds, als Friederike ihn küßte, während ihr Mann lautlos ins Zimmer sah. Jetzt, nach der Wiederbegegnung, verliebt sich der Erzähler in Friederike, wobei er voraussetzt, sie habe seinetwegen von ihrem Mann viel zu leiden gehabt, was seine Neigung nicht wenig vertieft. Sofort wird die Zwischenzeit entsprechend umgedeutet; auf einmal weiß er, „daß ich mich oft an all das erinnert habe" (E 1,265). Im Augenblick jedenfalls hält er wahre Exerzitien der Erinnerung ab: [ . . . ] ich durchlebe alles aufs neue. Einzelheiten fallen mir wieder ein. Ich erinnere mich des Herbstmorgens, an dem ich [ . . . ] in der kleinen Stadt ankam [ . . . ] . Ich erinnere mich an mein ruhiges Arbeiten [ . . . ] . (E 1,266)
Er meint, all dies mit Friederike zu teilen: „Hinter unseren Worten glühte die Erinnerung". Allerdings wird „jene gemeinschaftliche Erinnerung" (E 1,267) nie besprochen, und als die Aussicht auf ein Liebesabenteuer steigt, tritt die Vergangenheit hinter der Gegenwart zurück: „die Erinnerungen flattern hoch über uns, wie ferne Sommervögel" (E 1,271). Die Peripetie der Handlung bildet der besagte Segelausflug nach Hven. Der Erzähler erfährt, daß Friederike von der Zeugenschaft ihres Mannes gar nichts ahnt, weil der weise Professor all die Jahre über geschwiegen hatte - woraufhin seine Leidenschaft blitzschnell erlischt. Dem vereinbarten Stelldichein zieht er die fluchtartige Abreise vor: Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich schon weit fort - weiter mit jeder Sekunde; ich schreibe sie in einem Kupee des Eisenbahnzuges, der vor einer Stunde von Kopenhagen abgefahren ist. (E 1,277)
Hofmannsthal lobte diesen klassischen Reisetagebuch-Schluß als „das, was man in der Mathematik eine .schöne Lösung' nennt". 77 In der Tat ist auch die Psychologie des Erzählers ziemlich berechenbar: Daß ihm die imaginäre Rivalität mit der Vaterfigur zusammenbricht, macht ihn gleichsam zum gehörnten Ödipus. 78 Dieses Ende wirft ein ironisches Licht auf seine Erinnerungsmanipulationen, die im Dienst seiner Illusionen standen. Über das Ausmaß seiner Vergeßlichkeit will er sich getäuscht haben - wirklich
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getäuscht hat er sich mit der Deutung seiner Vergangenheit. In seinem „Tagebuch" sind die Tücken des selbstgefälligen Gedächtnisses notiert. Nicht die Tagebuchfiktion, aber ein fiktives Tagebuch hat Schnitzler in einer weiteren Novellette eine Rolle spielen lassen. ,Das Tagebuch der Redegonda' (1911) trägt gleichsam jenen Beweis für ein verbotenes Verhältnis nach, das der Erzähler im .Tagebuch eines Hinterbliebenen' vergeblich suchte - nur ist dieser Beweis gefälscht. Die Geschichte wird von einem Rahmenerzähler präsentiert, der sie seinerseits einer unheimlichen Begegnung mit dem Geist eines Verstorbenen verdankt. Der Revenant und Binnenerzähler ist ein biederer Dr. Gottfried Wehwald. Wehwald also hat sich - zu Lebzeiten, versteht sich - in eine Rittmeisters-Gattin namens Redegonda unsterblich, aber chancenlos verliebt. Im Verlauf eines Winters durchlebt er - wohlgemerkt nur in seiner Phantasie - alle Phasen einer leidenschaftlichen Affäre, bis schließlich die Wirklichkeit in Gestalt des RittmeisterGatten bei ihm eintritt und ihn zum Duell fordert. Das Beweisstück hält der betrogene Ehemann in Händen, eben Redegondas Tagebuch, das Wehwalds Wunschträume bis ins Detail verzeichnet. 79 Eine bedrohliche Idee: Das trügerische Tagebuch-Gedächtnis wird hier vollkommen enteignet. Es handelt sich nicht mehr um ein „fiktionales Ich", sondern um ein völlig fingiertes; eine Biographie wird nicht nur selbst erfunden, sondern von einer anderen Person ausgedacht. Das Tagebuch, vom schreibenden Subjekt malgré lui immer schon gefälscht, verwandelt sich in ein fremdes Plagiat, das aber wiederum insofern echt ist, als es mit den sehnsüchtigen Vorstellungen seines Objekts zusammentrifft. Schnitzlers Text spielt mit allen Facetten der Tagebuch-Erinnerung zwischen Wahrheit, Wunsch und Fiktion. Gewiß sind diese Anteile in jedem Journal praktisch (und theoretisch) ununterscheidbar; Schnitzlers Novelle zeigt aber gerade mit ihrer unwahrscheinlichen Konstruktion eine Grenze der Fiktionalität des Tagebuchs. Die Gattung hängt, wenn auch lose, immer noch an der empirischen Biographie ihres Verfassers; auch da besteht ein Pakt, das „Ich" im Text namentlich für den Autor gelten zu lassen. Im .Tagebuch der Redegonda' wird diese Übereinkunft erschlichen, und das hat tödliche Konsequenzen. Der Rittmeister jedenfalls, ein naiver Leser, nimmt das Journal seiner Frau für authentisch und läßt seine Sanktionen folgen.80 Die totale Fiktionalisierung kippt um in eine „wirkliche" Auslöschung des Ich: Wehwald fällt im Duell, was nun den Rahmenerzähler vor die Wahl stellt, den Mann, dem er begegnet ist, für Einbildung oder für eine okkulte Erscheinung zu halten. Hinterlistig beläßt Schnitzler die Erzählung in dieser Schwebe, und treuherzig versichert der
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Erzähler, er habe alles ganz wahrheitsgemäß berichtet, um vor dem Vorwurf gefeit zu sein, „daß ich [. . . ] der Mystik, dem Spiritismus und anderen gefährlichen Dingen neue Beweise in die Hand gespielt hätte" (E 1,991).81 Diesem Einwand ist Schnitzler mit einer anderen Novelle aber nicht entgangen, und es war kein Geringerer als Freud, der ihn erhoben hat. b. Die Zukunft: .Weissagungen' Freuds Kritik richtete sich gegen Geschichten, die sich zuerst den Anschein von Realität geben, nur um hinterher mit irrealen Effekten aufzuwarten: „[Der Dichter] verrät uns dann gewissermaßen an unseren für überwunden gehaltenen Aberglauben, er betrügt uns, indem er uns die gemeine Wirklichkeit verspricht und dann doch über diese hinausgeht". Solchen „Groll über die versuchte Täuschung" habe er besonders deutlich nach der Lektüre von Schnitzlers .Weissagung' gespürt. 82 In dieser Erzählung (1905) wird eine Menschheitsphantasie möglich, der Blick in die Zukunft. Der mysteriöse Agent der Prophezeiung ist ein jüdischer Taschenspieler namens Marco Polo, der Betroffene ein Offizier, Franz von Umprecht. Visionär sieht er sich „heut in zehn Jahren" auf einer Totenbahre liegen, umgeben von Frau und Kindern (E 1,607). Während der gesetzten Frist versucht Umprecht immerfort, seinem Schicksal zu entkommen, und er glaubt es überlistet, als er in einem Laientheater eine Rolle übernehmen soll, die genau die angekündigte Situation fiktiv vorsieht; aber prompt wird aus dem Theaterspiel Wirklichkeit, Umprecht stirbt während der Aufführung.83 Die Schnitzler-Forschung hatte mit diesem Text große Mühe. Manche Interpreten folgten Freud und bedauerten, daß Schnitzler plötzlich als Agent des Okkulten auftrete.84 Neuere Deutungen halten dagegen, Schnitzler habe nicht die Proklamation, sondern die „Demaskierung des Irrationalen" bezweckt.85 In der Tat fällt es schwer, sich Schnitzler als einen Verteidiger der Hellseherei zu denken; sein Leben lang hat er gegen alle Versuche protestiert, sich vorzeitig ins Reich des Übernatürlichen zu schwindeln, sei es via Religion, Philosophie oder Psychoanalyse: „Aber natürlich sind es gerade diese schwer kontrollierbaren, unsicher begrenzten Reviere der Metaphysik, des Okkultismus und des Unbewußten, wo den Abenteurern, Spekulanten und Hochstaplern des Gedankens am wohlsten ist" (AB 71). Als Satire auf den Aberglauben müßte die Geschichte andererseits auch stichhaltiger sein und dem Leser einen Schlüssel für die vielen unerklärlichen Vorfälle anbieten. 86 Wie das .Tagebuch der Redegonda' hat auch die .Weissagung' einen Rahmenerzähler; es handelt sich um den Autor der besagten Schicksalstragö-
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die, in der Umprecht den Helden spielt. Dieser (anonyme) Dramatiker ist einer von Schnitzlers vielen Vergeßlichen. Seine Erinnerungslücken fallen auf; der wichtigsten Personen und Ereignisse der Vorgeschichte kann er sich „nicht mehr" oder „kaum entsinnen"; sogar die bevorstehende Premiere seines Stückes hatte er „völlig vergessen" (E 1,599, 601). - Die Novelle schließt mit einem .Nachwort des Herausgebers', aus dem zu erfahren ist, der betreffende Schriftsteller sei vor zehn Jahren „so gut wie verschollen" gestorben (E I, 618). Mit diesem narrativen Gewährsmann ist also einer vorgestellt, der entweder vergißt - oder vergessen ist. Selbst schwach von Gedächtnis, wird er im Gedächtnis der Nachwelt nicht weiterexistieren, es fehlt ihm sogar der Name, von seiner „Eigenschaft als Verfasser" nimmt schon bei Lebzeiten keiner Notiz (E 1,600). Der sonderbare Anonymus darf daher als eine perfekte Verkörperung sämtlicher Autorenängste gelten, die im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Gedächtniskrise virulent werden konnten. Ihm erlöschen die Zeichen und Spuren: Der Zettel, auf dem Umprecht die Weissagung notiert hatte, ist in seiner Hand plötzlich nur mehr „weiß, unbeschrieben, unbezeichnet. . ." (E 1,618). Das leere Blatt, die gelöschte Spur bezeichnet statt dessen den mnemotechnischen horror vacui, die ultimative Bedrohung des Schriftstellers. Die Gedächtnisangst des Schriftstellers hat Schnitzler in der .Weissagung' mit Umprechts Schicksalsangst verkreuzt. Die Furcht vor einer stornierten Vergangenheit überlagert sich mit der vor einer unkalkulierbaren Zukunft, oder umgekehrt: „Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ist mit dem Gefühl verbunden, das Gedächtnis verloren zu haben". 87 Die Novelle reagiert auf dieses Doppelsymptom der Gedächtniskrise mit einem Erzählexperiment unter der Prämisse: „Wenn einem seine Zukunft prophezeit worden wäre", und sie ergänzt die Versuchsanordnung mit dem Emblem des gescheiterten Gedächtnisexperiments, dem leeren Blatt. Es sei sein „brennender Wunsch", notierte Schnitzler 1918, daß seine Tagebücher nicht verloren gingen, „als könnt es mich von der quälenden innem Einsamkeit befreien, wenn ich - jenseits meines Grabs Freunde wüßte".88 Er hat also im Tagebuch nicht nur gegen das Vergessen, sondern auch gegen das Vergessenwerden angeschrieben. Nun kann aber selbst das gedächtnistreueste Tagebuch keine Kontinuität pro futuro herstellen, was Schnitzlers diaristisches Ich offenbar sehr beschäftigt. Und tatsächlich wird das Experiment der .Weissagung' im Tagebuch immerfort wiederholt - wenn auch aus einer resignierten Retrospektive.89 Dergleichen zurückprojizierte Prognosen können durchaus ironisch sein, wie am 15. Mai 1912, als Schnitz-
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1er in Venedig kein passendes Hotelzimmer gefunden hatte: „wenn man mir prophezeit hätte . . . ,am Morgen deines 50. Geburtstags wirst du obdachlos sein'. - " Fünf Jahre später, bei kriegsbedingter schlechter Versorgungslage, steht das Szenario schon bereit: „wer mir prophezeit hätte ich würde an meinem 55. Geburtstag zur Jausenzeit schlechtes Bier trinken und froh sein, daß ichs kriege".90 Die Banalität, daß erstens etwas anders kommt, zweitens als man denkt, vertieft sich angesichts schlimmerer Schicksalsschläge zum skeptischen Fatalismus. Ein Beispiel unter vielen ist das Notât vom 13. August 1919, als Schnitzlers Scheidung von seiner Frau Olga bevorsteht und er in Payerbach an seine Liebesbeziehung zu Olga Waissnix (1886) erinnert wird: Ergriffenheit und Thränen. Wer mir vor - 33 Jahren prophezeit hätte - daß ich unter diesem Himmel nach so langer Zeit wieder Thränen vergießen würde - und wieder um eine Olga - sozusagen.
Das Unvorhersehbare ist auch das „Unerhörte"; daher entwickelt sich das Voraussage-Kürzel mitunter zur novellistischen Skizze, wie in folgendem Beispiel: Am 18. März 1922, dem 23. Todestag Marie Reinhards, ist Schnitzler, seit einem Jahr geschieden, abends in der Opernloge von Bekannten zu Gast. Man gibt Hofmannsthals und Kesslers Josephslegende': [ . . . ] wenn man mir am 18. März 1899 prophezeit hätte (während ich an M. R.s Sterbebett saß und in der Burg Hugo's Stücke aufgeführt wurden): In 23 Jahren wirst du einer Première von Hugo beiwohnen; - in einer ersten Stock Loge, mit einer eleganten noch jungen Frau - [ . . . ] Hätte geschlossen: werde verheiratet sein, in sehr guten Verhältnissen,- und vom Weltkrieg - keineswegs was geahnt.
Wie in der .Weissagung' kann die Momentaufnahme des zukünftigen Augenblicks vom Schicksal mit aller Hinterhältigkeit gewählt sein. Am 13. September 1929, dem 20. Geburtstag der verstorbenen Tochter Lili, trifft Schnitzler mit seiner geschiedenen Frau in Franzensbad zusammen: Im Jahre 95 war ich zum 1. und letzten Mal dagewesen; bei M.farie] R.[einhard] [ . . . ] Ging mit ihr im gleichen Park spazieren. Wenn man mir damals
profezeiht
hätte . . - Wenn Sie das nächste Mal in diesem Park spazieren gehn - werden Sie den 20. Geburtstag Ihrer Tochter begehen . . . Und mit Ihrer Gattin im Park spazieren gehn . . - Und wenn man mir vor 20 Jahren profezeiht hätte: Am 20. Geburtstag Ihrer Tochter werden Sie in Franzensbad mit Olga im Park lachen (wie wirs thatsächlich auch gethan.) . . .
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Der literarische Einfall zur .Weissagung' von 1905 bleibt daher im Tage-
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buch jahrzehntelang der Kommentar zu den Schicksalslaunen, die das vernünftig Prognostizierbare durchkreuzen. Die rekonstruierten Prophezeiungen überbrücken biographische Kontinuitätsbrüche und sind in ihrer paradoxen Zwecklosigkeit die letzten Versuche, kontingente Erfahrungen in den Zusammenhang der Aufzeichnungen zu integrieren. Das ,Weissagungs'-Experiment wird im Tagebuch umgedreht, nicht nur durch die retrospektiven Klammern des „Wer mir damals prophezeit hätte", sondern auch, weil das Tagebuchschreiben die einzige Versicherung gegen den mnemotechnischen Schock des leeren Blattes ist. Auf diese Weise kommt ins diskrete Journal zurück, was die Erzählungen ausgebreitet hatten: Die Tagebuchnovelletten thematisierten die Unzuverlässigkeit des eigennützigen Gedächtnisses; das .Tagebuch der Redegonda' überdrehte die Fiktionalisierung des Ich; der .Weissagung' ist das Vergessenstrauma des Schriftstellers eingeschrieben. In diesen Texten hatte Schnitzler alle Varianten der Gedächtnisangst durchgenommen; sein Tagebuch entwickelte Strategien, um sie zu bekämpfen.
C. Lehrbuch der Erinnerung (drei Lektionen) Wenn Diaristen lügen, und zwangsläufig lügen müssen, dann geht Schnitzlers Tagebuch gegen zwei Täuschungen vor. Sein Faktenstil hält die notwendig tendenziösen Interpretationen von „Ich" und Geschichte nieder. Nur lügt auch die Erinnerung, und die liegt jeder Aufzeichnung voraus. Die frühen Tagebücher - und die Tagebuchnovellen aus den neunziger Jahren - beobachteten die Verzerrung des Zeitgefühls und die scheinbare Eigenmächtigkeit, mit der Gedächtnisinhalte verschwinden und wiederkommen. Aber spätestens ab 1900 entwickelt das Tagebuch seine Gegenmaßnahmen, indem es sich selbst reflektiert. Schnitzlers Relektüren führen zu Ergebnissen, die selbst wieder aufgezeichnet werden; ein „produktives Erinnern" setzt ein. 91 Deshalb ist Schnitzlers Tagebuch nicht die monomanische Lebensmitschrift eines faktenversessenen Positivisten. Schnitzler verzeichnet im Tagebuch nicht nur, was täglich der Fall ist, sondern wiederholt im Tagebuch, was dort der Fall war. Zu den schnöden Tagesnotizen kommt ein zweiter Text, ein Metatext, der die Erinnerung beschreibt, die das Tagebuch konserviert oder korrigiert hat. Erst auf diese Weise interpretiert es die aufgezeichneten Geschehensmomente. Die ersten Gedächtnistrainings im Tagebuch fallen zu bestimmten Kalendertagen an. Schnitzler vermerkt die jährliche Wiederkehr wichtiger
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Daten; erst dadurch stellt sich die Bedeutung des ursprünglichen Faktums heraus. Zuerst betrifft das die Liebe; Beginn und Dauer einer Beziehung werden verbucht, und nicht immer ist die Urszene so unschuldig wie die folgende: [22.6.1891]
Es war der zweite Jahrestag unsres ersten Kusses. Heute sinds 3 Jahr, dass ich Mz. das erste Mal geküsst.
[1892]
Heut vor fünf Jahren hab ich Mz. zum ersten Mal geküsst.
[1894]
Seriösere Gedenktage liefert die Werkgeschichte des Autors, der sich die Jubiläen seiner Premieren und Buchausgaben notiert: Heute vor - 20 Jahren war Première der Liebelei. -
[9.10.1915]
50. Aufführung Liebelei [ . . . ] erste war October 1895!
[19.1.1919]
B[urg]th. Premi[ere] Liebel[ei] vor 36 Jahren. -
[14.2.1931]
Immer öfter werden solche Datenreihen aber zu Verlustlisten. Konsequent hat sich Schnitzler an Todestage erinnert; fast alljährlich anderen gedenkt er des Vaters (t 2.5.1893), Marie Reinhards (t 18.3.1899) und der Mutter (t 9.9.1911). Häufig wird auch die Anzahl der verstrichenen Jahre genannt: „20. Todestag meines Vaters", „14. Todestag von M.R.", „Zweiter Todestag von Mama". 92 Was als bloßer Akt der Pietät gelten könnte, ist mehr: ein ritueller Anlaß zur Erinnerung, ein säkularisiertes Kaddisch. Die Trauer wird verschwiegen; statt dessen benützt Schnitzler wieder seine kargen Abkürzungen: Heute vor zehn Jahren! Heute vor - 30 Jahren! -
[Geburt des toten Kindes 1897; 4.9.1907] [Zeugung dieses Kindes 1896; 22.12.1926]
Heut vor drei Jahren - Lili! -
[Todestag; 26.7.1931]
Verzeichnet wird aber die Zeitdistanz. Der Erinnerungskult gilt nicht nur den Toten, sondern einer Periodisierung des eigenen Lebens. Schnitzler stellt dabei manchmal eine Art Schicksalsrechnung auf: „Heut ist der Tag, an dem ich genau so alt bin als mein Vater war, da er starb".93 Bei der Trennung von Olga Schnitzler rückt das magische Datum in einen zahlensymbolischen Abstand: Es sind heute 7 Jahre dass sie das Haus verliess. -
[31.1.1928]
Es wird heute gerade 77 Monate, dass sie mein Haus verliess. -
[30.6.1927]
Die präzise Zeitangabe fixiert und distanziert die Erinnerung, die sich mit dem Datum einstellte; das Gedächtnis verhält sich nun geschichtlich.
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Neben den Rhythmus der jährlichen Wiederkehr und das Präsens des Erinnerungsbilder tritt eine dritte Zeit, die historische Entfernung. Das ist die erste Lektion im Erinnern: Die mémoire involontaire wird datiert. Nicht nur Kalendertage, auch Orte fungieren als Gedächtnisreize; sie können buchstäblich als die loci von Schnitzlers ars memorativa gelten. An bestimmten Plätzen, zu denen Schnitzler besuchsweise zurückkehrt, werden ganze Erinnerungslawinen losgetreten. Nicht umsonst ist die Gefährtin der Schweizer Reise 1925 „tief verstimmt über mein Leben in der Vergangenheit". 9 4 Daß die Gegenwart über den biographischen Mementi oft zu kurz kommt, hat Schnitzler selbst konzediert, er bestand aber auf seinem Recht zur „Flucht ins Vergangne": „wozu hätte man seine Vergangenheit, wenn man nicht manchmal darin leben könnte! ~" 9 5 Nur: im Tagebuch erhält die überwältigende Erinnerung eine Struktur. Wenn bei Ausflügen und Reisen eine Revue vergangener Aufenthalte abschnurrt, die oft penibler und akribischer ist als die seinerzeitige Eintragung, dann vergißt Schnitzler nie, die exakten Daten zu nennen, wie im Hotel Gotthard in Luzern 1924: In diesem war ich zuletzt 1898. Schrieb damals - „Excentric"; und arbeitete an Bea.[trice]; - fuhr deswegen von hier nach Oberitalien. - Kam vom Genfersee, nach einer Radtour mit Hugo. M. R. war in Schladming. Ein Jahr drauf, war sie längst begraben. - Zuletzt war ich im Jahr 1910, - mit O in Luzern, im Mai . . Vorher 1885, mit Max Weinberg; - nach meinem Doctorat, verlor mein Geld in „Petits chevaux". Meine Eltern kamen nach. Und noch früher, war ich 1872 - da; - vor 52 Jahren. - 9 6
Die Besuchschronologie erhebt die Stadt zur „Stätte der Erinnerungen", 97 an der Zeitangaben und Lebensperioden miteinander verhakt werden. Schnitzler schreibt retrospektiv die Geschichte eines Ortes in seinem Leben. Das ist die zweite Lektion: Erinnerung wird nicht nur im Jahresabstand wiederholt, sondern in individuellen Zeitschritten angeordnet. Das Tagebuch macht Epoche, indem es die verzeichneten Tage nachträglich zusammenfaßt. Schon bei einem Aufenthalt im Thalhof 1905 hatte Schnitzler sämtlicher früherer Besuche gedacht; die Eintragung schließt: Und heuer sind wir mit dem Kinde da, und an der selben Stelle, wo wir, Olga und ich, uns vor 5 Jahren, spät Abends Adieu gesagt, halt ich den Buben übers Geländer und zeig ihm wie die Fische spielen. - Und es ist nicht lange her, dass zwanzig Jahre vergangen sind - Und noch 20? Nein, ich möchte nicht. Früher und ahnungslos davon. Und einiges noch niederschreiben - irgendwas, worin ich selber bin, ganz, so ganz wie in meinem Leben, das für mich etwas seltsam ergreifendes hat. - 9 8
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Vor dem (unausgesprochenen) Tod gilt nur das „Ganze". Und daher kann das Lebens-Werk am Ende nichts anderes sein als das Tagebuch. Aus diesem Grund hält Schnitzler sein trockenes Journal manchmal für „wesentlicher als alles, was ich .gedichtet' habe - , als gälte es dies zu bewahren über alle Eitelkeit und Eitelkeiten hinaus. - " " Erinnern - Wiederholen - Durcharbeiten: Die dritte Lektion ist intensives Lesen. Schnitzlers Lektüregänge durch das Tagebuch setzen Erinnerung buchstäblich ins Werk. Denn sie überprüfen und ergänzen nicht nur das Gedächtnis, sondern kreieren neue Texte. Das Tagebuch wird zur literarischen Quelle, und es verzeichnet die Ergebnisse des Erinnerns. Eine seltsame Faszination durchs eigene „Historischwerden" besteht von Anfang an: „Krame viel in alten Tagebüchern", notiert Schnitzler schon 1880. 100 Das kulinarische „Blättern" wird 1904 von der ersten systematischen Lektüre-Sequenz abgelöst; für den Roman ,Der Weg ins Freie' (1908) liest Schnitzler die Jahrgänge 1895-1899, die seine Beziehung zu Marie Reinhard, dem Vorbild der Anna Rosner, dokumentieren. 101 Die Beschäftigung mit dem Tagebuch, jetzt auch literarische Vorarbeit, wird unersetzlich: Lese Tgb. 95, dann einiges 90,91 . . . mit dem größten Interesse, gesteigert durch mein schlechtes Gedächtnis . . . Ganze Figuren treten auf. . . die ich bis auf den Namen vergessen habe . . . Habe zuweilen eine sonderbare Angst, dass das Tgb. verloren geht. 102
Schon im Jahr darauf, ab April 1905, folgt ein zweiter, kompletter Lektüredurchgang vom Anfang der Aufzeichnungen bis 1900, mit Schlagwortexzerpt „für ev. spätere Memoiren". 103 Zehn Jahre später ist der Plan zur Autobiographie gediehen. Von April 1916 bis März 1919 arbeitet Schnitzler nochmals die ersten zwei Jahrzehnte (1879-99) durch und legt für .Leben und Nachklang' Auszüge an. 104 Danach ruft er sich entschieden zur Ordnung: - Nm. las ich - am Vorabend von M. R.s zwanzigstem Todestag das Tgb. 99 - das sehr flüchtig gehalten. - Zwanzig Jahre . . . Man erschauert. Unendlich fern - ? Nah wie gestern - ! „Zeit ist nur ein Wort." - Ja - aber das Altwerden ist eine Thatsache. - Ich will nun das Lesen der Tagebücher bis auf weiteres unterbrechen; - die Zwangsperre des Safes unterstützt diesen Vorsatz.105
Aber bereits zwei Monate später, im Mai 1919, setzt eine vierte Arbeitsphase ein, die bis ins Todesjahr nicht mehr unterbrochen wird; das Mate-
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rial sind die Aufzeichnungen 1909-1927. 106 Jährlich diktiert Schnitzler Zusammenfassungen einzelner Jahrgänge, sammelt die Traumnotate und stellt Charakteristiken seiner Zeitgenossen zusammen. Diese neuen Textkonvolute ziehen aus dem Tagebuch „Geschichte"; sie stiften die Kontinuität zwischen den früheren Faktennotizen. Die Bemerkungen zum Gelesenen verweisen im Tagebuch aufs Tagebuch; es wird zum Text im Text und also zitierfähig. 107 Noch im letzten Lebensjahr kommt Schnitzler auf diese Quellenarbeit zurück; das Tagebuch von 1894, das die Affäre mit Adele Sandrock enthält, hätte Vorlage für den lange geplanten Theaterroman werden können. 1 0 8 Das Projekt blieb Fragment. Mit der Relektüre nimmt Schnitzler zuallerst den Kampf gegen sein schlechtes Gedächtnis, gegen Erinnerungstäuschungen und Konzentrationsschwächen auf. 109 Auf den Lesegängen durch die aula memoriae lassen sich oft „völlig vergessene Dinge" wiederfinden. 1 1 0 Aber das Tagebuch produziert auch neue Erinnerungen, die selber wieder aufgeschrieben werden; es wird zu einem memnotechnischen Regelkreis, zu einer Gedächtnismaschine. Wenn sie funktioniert, entsteht eine Präsenz der Vergangenheit, die Schnitzler nicht mehr für unwillkürliche Erinnerung, sondern für das eigentliche historische Vermögen hält: „Historisch aber im wahren Sinn denkt nur derjenige, der fähig ist, das Vergangene im Geiste durchaus als ein Gegenwärtiges zu erleben" (AB 148). Auf diese Aktualisierung laufen Schnitzlers Aufzeichnungen hinaus: Die Empfindung, „vieles wie gestern" zu erleben, wird zur Feststellung: „Alles war gestern". 111 Am 19. September 1890 hatte das Tagebuch eine heimliche Devise eingeführt: „Was war, ist". Mehr als drei Jahrzehnte später wird sie bestätigt: „,Was war, ist, das ist der tiefe Sinn des Geschehnen - ' noch heute Motto meines innern Lebens". 112 Solche Zusammenhänge stellen die „Continuität" her, die Schnitzler im Kunstwerk programmatisch gesucht hat. In diesem Sinn kann das erinnernde Ich im Tagebuch sagen: „Raum und Zeit werden Fiktion". 113 Die „fiktionale" Qualität des Tagebuchs, Vergangenheit präsent zu halten, erklärt die Bedeutung, die Schnitzler ihm gegeben hat. Was aufgezeichnet wird, spielt dabei gar nicht die primäre Rolle; die unbewußten Motive, die den Tagebuchautor bewegen, das eine zu notieren und das andere nicht, sind auch durch psychoanalytische Interpretation nicht vollständig rekonstruierbar. 114 Die Faktennotizen selbst bleiben tatsächlich zusammenhanglos, und insofern tendiert der Text dazu, „kontingent zu sein wie das Leben selbst". 115 Aber die Gedächtnisarbeit durch Datierung, Wiederholung und Lektüre ist intentional; der „Sinn", der den Aufzeichnun-
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gen fehlt, wird in ihre Funktion verlegt: Das löcherige Lebenskontinuum kann ihretwegen in der Erinnerung rekonstruiert werden.116 Die ästhetischen Möglichkeiten eines Tagebuchs hat Schnitzler zu rhetorischen Formeln verkürzt oder als Fiktionalisierungen ausgelagert, ein poetologisches Programm hat sein Journal aber festgehalten. Es erhebt nicht den naiven Wahrheitsanspruch eines Protokolls, sondern verfügt über die „Wahrheit" des Kunstwerks: „Das ,Geschehn' als solches wird nie gefasst,- nur Hoffnung und Angst; - und Erinnerung ist wahr".117
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Anmerkungen 1 Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung. M ü n c h e n 1986 ( = Artemis Einführungen 26), S. 74ff. 2 Vgl. Werner Welzig: Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch. In: TB 1909-1912, S. 7-33, S. 14f. - Schnitzlers Angst vor dem Verlust der Tagebücher steigerte sich mitunter zu Alpträumen, vgl. z.B. die Eintragungen v. 16. u n d 26.12.1922. 3 Vgl. Martin Swales: Arthur Schnitzler's Occasions: Reflections on the Tagebuch
1909-1912.
In: GLL 36 (1982/83), S. 368-373. - Frederick J. Beharriell vermutet folgende Motive: Schnitzler habe mit dem Tagebuch der Nachwelt ein positives Bild seiner selbst übermitteln u n d „a defensive wall against the transitoriness of life" errichten wollen (Arthur Schnitzler's Diaries. In: MAL 19 (1986), 3/4, S. 1-20, S. 18f.). Das erklärt allerdings nicht den Aufzeichnungsduktus. - Noch vor der Publikation (und der dann a u f k o m m e n d e n Kritik am Tagebuch) hat Gerhart Baumann die Bedeutung der Erinnerung in Schnitzlers Aufzeichnungen bereits betont; der letzte Abschnitt dieses Kapitels ist seinen A u s f ü h r u n g e n verpflichtet (Arthur Schnitzler: Die Tagebücher. Vergangene Gegenwart - Gegenwärtige Vergangenheit. In: MAL 10 (1977), 3/4, S. 143-162, bes. S. 146-151; Arthur Schnitzlers Tagebücher. Eine Welt in Tagen - Jahrzehnte einer Welt. In: NZZ v. 4./5.10. 1975). 4 Vgl. die Register der Tagebuchbände; Lektürenotizen zu Herzl am 5., 26. u n d 27.11. u n d 31.12.1927; zu Ludwig II. am 25.8.1928, zu Gentz am 15.9. u n d 17.10.1930. 5 Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart - Formen - Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 96. 6 Sigrid Löffler: ,Das liebste wär mir ein Harem' [Rez. zu TB 1893-1902). In: Profil v. 12.2.1990, S. 74f„ S. 74. 7 Eintragung v. 24.4.1880. - Vgl. dazu Werner Welzig: Das Tagebuch Arthur Schnitzlers. In: IASL 6 (1981), S. 78-111, S. 83. 8 Vgl. Thomé, Arthur Schnitzlers Tagebuch, S. 179. 9 Ebda. - Vgl. dazu auch das instruktive Beispiel in: Horst Thomé: Faktizität des Lebens u n d erfüllte Zeit. Zum Erscheinen von Schnitzlers Tagebüchern. In: Orbis Litterarum 40 (1985), S. 88-96, S. 91f. 10 Zu verschiedenen Sprachstilisierungen in den f r ü h e n Tagebüchern, vor allem z u m Gebrauch „altertümlicher" Wörter u n d Wendungen, sowie zur (mitunter ironischen) Funktion der zahlreichen Zitate vgl. Welzig, Der junge M a n n u n d die alten Wörter. 11 Eintragung v. 25.6.1880. 12 Eintragung v. 26.6.1880. 13 Eintragungen v. 12.7.1880 u n d 16.9.1881. 14 Eintragung v. 29.9.1880. 15 Eintragung v. 24.2.1880. 16 Eintragung v. 17.5.1880. 17 Eintragungen v. 13.11., 21.1. u n d 3.6.1882; 5.7.1885. 18 Eintragung v. 30.12.1884. 19 Eintragung v. 21.1.1882.
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20 Eintragung v. 13.2.1880. 21 Eintragungen v. 5. und 9.4.1880. 22 Eintragung ν. 27.6.1880. 23 Eintragung ν. 15.9.1883. 24 Dieser sprichwörtliche „Refrain" stammt von Franz von Suppé. Es handelte sich ursprünglich um eine Liedeinlage, ,Das is mei Österreich', in Anton von Kiesheims Komödie ,'s Alraundl' (1848). Das Lied wurde 1852 von Ferdinand Preis als Marsch bearbeitet und nun unter dem Titel , 0 Du mein Österreich' erst richtig populär; weitere Chor-Bearbeitungen folgten. Für die Silberne Hochzeit des Kaiserpaares (1879) dichtete Kiesheim eine neue Textfassung, was zur Verbreitung nicht wenig beitrug; das Musikstück galt lange als „zweite Hymne" Österreichs. Noch 1956 gab Hans Weigel eine Essaysammlung unter diesem Titel heraus. - Schnitzler seinerseits notierte am 16.7.1906 im Tagebuch den Einfall, einen Dramenzyklus unter dem Titel ,Ο du mein Oesterreich' zusammenzustellen (es handelte sich um die Vorstufen zu ,Das Wort', ,Fink und Fliederbusch' und .Professor Bernhardi'). Die Texte falten seine rhetorische Abkürzung literarisch wieder auf. 25 Vgl. Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern: Francke 1979, S. 8. 26 Eintragung v. 1.5.1913. - Barbara Gutt hat Schnitzlers Tagebuch überhaupt als „Seismograph des Emanzipationsprozesses des Schriftstellers Arthur Schnitzler" verstanden, wobei durchaus an jüdische Emanzipation gedacht ist (Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S. 131). 27 Eintragung v. 3.2.1898. 28 Eintragung v. 17.3.1903. - Die Belege ließen sich vermehren. 29 Jurgensen, Das fiktionale Ich, S. 18. 30 Eintragung v. 14.1.1908. 31 Eintragung v. 1.11.1918. - Schnitzler war aufgefordert worden, einen Aufruf des Jüdischen Nationalrats zu unterschreiben. 32 Eintragung v. 19.3.1882. 33 Eintragungen v. 2.2.1913 (gemeint ist .Doktor Gräsler, Badearzt'), 5.10.1909 und 13.8.1921. 34 Jurgensen, Das fiktionale Ich, S. 20. 35 Eintragung v. 14.2.1921. 36 Eintragung v. 4.3.1908. - Vgl. z.B.: „Mein miserables Hören verdüsterte mich noch mehr. Schlimme Laune. Wär das Höllengezwitscher nur still! - Wärs dann besser? - " (15.2.1914). 37 Eintragung v. 16.4.1917. 38 E.T.A. Hoffmann: Tagebücher und literarische Entwürfe. Hrsg. v. Hans von Müller. Berlin: Päetel 1915, passim. 39 Eintragung vom 27.12.1898. - „Mz. I" ist Marie Glümer, die „erste" Mizi; „Mz. Rh." Marie Reinhard. 40 Eintragungen v. 22.11.1897 („que je désirais longtemps" [?]), 8.6.1900 und 27.9.1891 („als liebte ich sie wieder"). - Zur Kurzschrift, zu Kryptogrammen und anderen Verschlüsselungstechniken im Tagebuch vgl. Gustav René Hocke: Das europäische Tagebuch. Wiesbaden: Limes 1963, S. 162-172 (mit Beispielen von Pepys bis Stendhal). - Arno Schmidt
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erklärte eine seiner Abbreviaturen - „Ba": „Das heißt .Brille abgenommen'; und bedeutet in der Familiensprache, daß man mich über Gebühr ennuyiert habe" (Arno Schmidt: Eines Hähers: „TUE!" und 1014 fallend. In: Das Tagebuch und der moderne Autor. Hrsg. v. Uwe Schultz [1965], Frankfurt 1982 (= Ullstein-Materialien 35137), S. 110-126, S. 125). 41 Elias Canetti: Dialog mit dem grausamen Partner. In: Das Tagebuch und der moderne Autor, S. 49-70, S. 49. - Vgl. Schnitzlers Eintragung v. 22.3.1902: „bin beruhigt weil ichs notire". 42 Vgl. Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969 (= Sammlung Metzler 85), S. 63-65. 43 Béatrice Didier: Le journal intime. Paris: Presses Universitaires de France 1976 (Collection Sup), S. 91. 44 Welzig, Das Tagebuch Arthur Schnitzlers, S. 87. 45 Eintragungen v. 16.4.1924, 21.10.1919, 15.5.1913, 28.3.1917, 21.4.1912, 26.5.1925, 29.4.1909, 22.12.1909, 11.10.1911, 28.10.1905, 25.4.1915, 4.5.1906, 29.11.1902, 20.4.1913, 16.4.1909, 29.9.1922, 22.10.1910, 27.9.1911, 10.9.1908, 30.10.1911, 1.7.1028, 15.6.1915, 25.8.1915, 23.4.1909, 19.2.1914 und 8.5.1915, passim. 46 Canetti, Dialog mit dem grausamen Partner, S. 49. 47 Eintragung v. 6.10.1915. 48 Vgl. die Eintragungen v. 6.2. und 6.3.1915 über den Krieg: „Nur die Phantasielosigkeit der Menschen macht ihn möglich!"; „Über die Kriegsschwärmer, die Phantasielosigkeit der Völker, die von den Regierungen gefördert wird." 49 Eintragungen v. 4.2.1916 und 24.8.1915. 50 Eintragung v. 7.5.1885. 51 Eintragung v. 20.4.1880. 52 Jurgensen erwähnt kurz eine naive Rezeptionshaltung, die der literarischen Qualität der Gattung widerspricht: „Zunächst glaubt der Leser, im Tagebuch authentisches Material, die Dokumentation einer Ich-Geschichte, mithin ,die Wahrheit' vorzufinden. Damit sieht er diarische Texte im Widerspruch zur literarischen Fiktion. Er unterstellt die Tagebuchliteratur einem moralischen Prinzip dokumentarischer Aufrichtigkeit" (Das fiktionale Ich, S. 22). - Genau diese Erwartung liegt der Untersuchung von Irène Lindgren zugrunde (Arthur Schnitzler im Lichte seiner Briefe und Tagebücher. Heidelberg: Winter 1993 [= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3/127]). Im Tagebuch sei Schnitzler „ganz er selbst"; seine Wahrheitsbemühungen garantierten die „Zuverlässigkeit" des Tagebuchs: „Hierin, in des Dichters unbedingtem Streben nach objektiv-kritischer Aufrichtigkeit ist eine wesentliche Vorbedingung für die Glaubwürdigkeit seiner Lebensdokumente überhaupt zu suchen, denn hierdurch wird bereits an der Ursprungsquelle selbst Dichtung von Wahrheit geschieden" (S. 65, 193). Aus dem Tagebuch lassen sich dann zwar zutreffende Beschreibungen von Schnitzlers Gemütslagen ziehen (,Die innere Zerissenheit', ,Der Zwiespalt zwischen Beruf und Berufung' usw.); Dichtung und Wahrheit, wie der Titel schon sagt, sind aber in autobiographischen Texten eben nicht zu scheiden. 53 In: Schultz (Hrsg.), Das Tagebuch und der moderne Autor, S. 95-109, S. 99, 103. 54 Wuthenow, Europäische Tagebücher, S. 10. 55 Hocke, Das europäische Tagebuch, S. 262. 56 Eintragung v. 24.9.1906.
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57 Eintragung v. 30.12.1879. 58 Eintragung v. 4.8.1890. 59 Zur Konsolidierung der Tagebuchführung und zu den Ausnahmen vgl. v.a. Welzig, Das Tagebuch Arthur Schnitzlers, bes. S. 88f., 93f. 60 Eintragung v. 17.12.1893; vgl. 9.3.1910 und 19.9.1907. 61 Eintragung v. 1.9.1923. 62 Eintragung v. 22.1.1909. 63 Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt: S. Fischer 1987, S. 104. 64 Görner, Das Tagebuch, S. 98. - Vgl. dazu auch Boerner, Tagebuch, S. 66-68 (,Ein Zeitalter der Tagebücher?'). 65 Jurgensen, Das fiktionale Ich, S. 8, 24. 66 Görner, Das Tagebuch, S. 121. 67 Eintragung V. 11.10.1880. 68 Eintragungen v. 19.10.1887, 8.7.1894 und 8.9.1896. 69 Eintragungen v. 21.8.1889, 31.8. und 10.9.1893. 70 Eintragung v. 31.8.1891; vgl. 1.9.1891: „Ich bekam einen Vergangenheitsanfall heftigsten Grades." 71 Eintragung v. 25.7.1891. 72 Das Motiv der beiden Rivalen am Grabe der Frau ist bei Schnitzler häufig; Reik deutete es als Ausdruck verdrängter gleichgeschlechtlicher Neigungen dieser Figuren (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 136). 73 Eintragung v. 15.9.1883. 74 Nach Gottfried Just sind die Helden beider Novelletten egozentrische „Repräsentanten der Sentimentalität"; sie hypertrophieren ihr „Ich" und degradieren die Welt zum „Stimmungskatalysator". Die moralisierende Kritik am „impressionistischen Typus" tendiert hier immer noch dazu, die unsympathischen Züge der Helden dem Autor anzulasten (Ironie und Sentimentalität in den erzählenden Dichtungen Arthur Schnitzlers, S. 51). 75 Eintragung V. 15.9.1892. 76 Eintragung v. 8.8.1896. 77 Brief v. 16.1.1897 (HvH-AS 77). 78 Vgl. schon die Bemerkungen bei Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 167, 173, 198. Zum Inzest-Motiv in der Novelle vgl. Robert Leroy u. Eckart Pastor: Der Sprung ins Bewußtsein. Zu einigen Erzählungen von Arthur Schnitzler. In: ZSfdtPh 95 (1976), S. 481-495, S. 492f. 79 Reik führte die Erzählung als Beispiel für die „Allmacht der Gedanken" an, hier als die Vorstellung, Wehwalds Wünsche hätten sich auf Redegonda übertragen können (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 21). Ähnlich argumentiert Michael Imboden (Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers. Bern: Herbert Lang 1971 (= Europäische Hochschulschriften 1/47), S. 69-71). Richard H. Lawson hält die Novelle für einen Doppelgängertraum des Rahmenerzählers, der, neurotisch und selbst lebensmüde, sich mit dem kurzen Heldentum Wehwalds identifiziert: „We may infer that two such identically illequipped spirits as the narrator and Dr. Wehwald are typical for the hot-house atmosphere
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of fin-de-siècle Austria" (Schnitzlers ,Das Tagebuch der Redegonda'. In: GR 35 (1960), S. 204-213, S. 205). Heftigen Widerspruch gegen Lawsons Deutung meldete James R. McWilliams an; seine Gegenthese, die Erzählung lasse sich völlig rational erklären, belegt er durch eine Reihe von Plausibilitätskonstruktionen über die Uneindeutigkeiten des Textes hinweg. Allerdings: daß Dr. Wehwald eine Geistererscheinung ist, müsse der Leser einfach akzeptieren - schließlich komme so etwas auch bei Shakespeare vor (Illusion and Reality: Schnitzler's .Tagebuch der Redegonda'. In: GLL 35 (1981/82), S. 28-36, S. 34). 80 Zu dieser Verwechslung von „authentischem" und „fiktionalem" Text vgl. Leroy/Pastor, Der Sprung ins Bewußtsein, S. 482. 81 Gottfried Just deutet die Novelle im Sinn romantischer Ironie: Die im Werk entworfene Welt werde im Spiel mit den Erwartungen des Lesers wieder aufgehoben. Ein Rest von „Zweideutigkeit" zwischen Ironie und Sentimentalität geht aber wieder zu Lasten des Autors (Ironie und Sentimentalität, S. 114). 82 Das Unheimliche [1919]. In: Freud, Psychologische Schriften, S. 241-274, S. 272f. 83 Zur Verkreuzung von Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Bühnenillusion, Rationalem und Irrationalem in der Novelle vgl. Elisabeth Lebensaft: Anordnung und Funktion zentraler Aufbauelemente in den Erzählungen Arthur Schnitzlers. Wien: Notring 1972 (= Dissertationen der Universität Wien 88), bes. S. 87. 84 Nach Gottfried Just überläßt Schnitzler die Deutung „der Willkür und den Auslegungswünschen der Interpreten". Die ästhetische Schwebe der Erzählung sei nicht freies Spiel der Ironie, sondern Resultat der Unentschiedenheit des Autors (Ironie und Sentimentalität, S. 126). Ähnlich argumentiert Michael Imboden: Schnitzlers ambivalentes Verhältnis zum „Überund Außersinnlichen" führe zu einer interpretatorisch nicht aufzulösenden „Unklarheit, und die Frage, wie der Dichter das zehnjährige Ringen Umprechts aufgefasst sehen möchte, kann nicht genau beantwortet werden" (Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers, S. 96). - Eben diese Doppeldeutigkeit hält Rolf Allerdissen für die ironische Intention des Textes, der gerade die „Unerkennbarkeit" des Schicksals bestätigen will (Arthur Schnitzler, S. 156). - Freud-Schüler waren mit dem Text nicht unzufrieden; Reik bezeichnet ihn wiederum als „typischen Fall von .Allmacht der Gedanken'" (Arthur Schnitzler als Psycholog, S. 20). Für Richard H. Lawson liegt der Schlüssel zum Text in den verborgenen Todeswünschen sowohl Umprechts als auch des Erzählers (An Interpretation of Die Weissagung. In: Reichert / Salinger (Hrsg.), Studies in Arthur Schnitzler, S. 71-78). In einem späteren Aufsatz hat Lawson die .Weissagung' dann allerdings schlicht als Geisteskrankheit Umprechts interpretiert (Pathologische Geisteszustände an der Grenze des Übernatürlichen in Schnitzlers Werken. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses. Basel 1980. Hrsg. v. Heinz Rupp u. Hans-Gert Roloff. 4 Tie. Bern: Peter Lang 1980f. (= JbflG A/8,1-4), Tl. 4, S. 476-480, S. 478f.). - Auch Geneviève Roussel, deren Lektüre der Verdoppelung und Verkreuzung von Fiktionalitätsstrukturen und Realitätsentwürfen in der Novelle folgt, kommt, was die Figurenpsychologie betrifft, auf die tiefenpsychologischen Motive der Allmachtsphantasie und des verborgenen Todeswunsches zurück (Le fantastique comme symptôme et poétique dans Die Weissagung d'Arthur Schnitzler. In: Germanica 3 (1988), S. 185-203). 85 Perlmann, Arthur Schnitzler, S. 127. - Vgl. auch Perlmann, Der Traum in der literarischen Moderne, S. 88-94: Die Erzählung sei als Kritik der Parapsychologie zu verstehen. Sowohl
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Umprecht als auch der Erzähler müßten als zweifelhafte Figuren betrachtet werden; Wirkungsabsicht des Textes sei, ihre Berichte einer rationalen Kritik zu unterziehen. Schnitzler formuliere damit seine eigene Skepsis als „Erziehungsanspruch an den Leser" (S. 91). - Michael Rohrwasser entkommt der interpretatorischen Zwickmühle, indem er den Text und Freuds Studie zum .Unheimlichen' nicht gegeneinander, sondern zusammenliest; im Kontext dieser Lektüre können dann sowohl die literaturhistorischen als auch die sozialgeschichtlichen Felder in den Blick kommen, die Schnitzlers Marco Polo durchquert (Arthur Schnitzlers Erzählung DIE WEISSAGUNG und Freuds Kommentar [unpubl. Manuskript]). 86 Auch die durchaus ambivalente Figur des Marco Polo, der die antisemitischen Ressentiments des Offizierscorps zu spüren bekommt, löst das Rätsel nicht: Ist seine Vorhersage ein Trick mit dem Ziel, Umprecht eine self-fulfilling prophecy in den Kopf zu setzen, so wäre er wirklich ein Schurke; ist er aber nur das Instrument einer höheren Macht, dann stünde das Schicksal als rächende Nemesis der Juden da. 87 Cavalli, Die Rolle des Gedächtnisses in der Moderne, S. 209. 88 Eintragung v. 22.8.1918. 89 Aus der Fülle gleichlautender Eintragungen vgl. etwa 30.11.1893 („Wer mir das prophezeit hätte"), 15.4.1907 („Wenn man mir vor 15 Jahren prophezeit hätte"), 1.7.1910 („wer mir damals prophezeit hätte"), 1.2.1921 („Wer mir damals den heutigen Tag prophezeit hätte"), 18.8.1923 („Wer mir damals prophezeit hätte"), 14.3.1925 („Wer mir [ . . . ] vorhergesagt hätte"). - Auch Schnitzlers Figuren pflegen gelegentlich das Weissagungsexperiment anzustellen, wie im folgenden, beliebigen Beispiel aus der .Kleinen Komödie' (1895): Josefine ist erfolgreiche Lebedame - „Was, meine gute Helene, wer uns das prophezeit hätte!" (E 1,181); Alfred verliebt sich in sie - „Wer es mir vor einer Woche prophezeit hätte!" (E 1,195). 90 Eintragung v. 15.5.1917. - Hervorhebungen, auch im folgenden, von mir. 91 Vgl. auch zum Folgenden Baumann, Arthur Schnitzler: Die Tagebücher, S. 146-151, bes. S. 148. 92 Eintragungen des Jahres 1913. - Zu Schnitzlers „Kult des Gedenkens" vgl. Werner Welzig: Der Anspruch der Toten. In: Die Presse/spectrum v. 17./18.10.1981. 93 Eintragung v. 6.6.1920. 94 Eintragung v. 30.6.1925. 95 Eintragungen v. 4.9.1931 und 8.2.1917. 96 Eintragung v. 22.8.1924. 97 Eintragung v. 19.8.1894. 98 Eintragung v. 3.7.1905. 99 Eintragung v. 6.4.1929. 100 Eintragung V. 28.5.1880. 101 Als im August 1902 die Niederkunft Olga Gussmanns bevorstand, hatte Schnitzler die „Tagebücher 97 angesehn", in Erinnerung an das totgeborene Kind Marie Reinhards; diese Tragödie ging in den Roman ein, den er dann eine Stunde nach der Geburt seines Sohnes zu schreiben begann (Eintragungen v. 4. und 9.8.1902).
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102 Eintragung v. 30.3.1904. 103 Eintragung v. 9.4.1905. - Im März 1906 wurde diese Relektüre abgeschlossen. 104 April 1916:
1879-86
Mai 1918:
1886-89
November 1918:
1889-92
Jänner - März 1919:
1893-99
105 Eintragung v. 17.3.1919. - „Zeit ist nur ein Wort" ist ein Zitat aus ,Der Schleier der Beatrice' (D 1,602). 106 Mai-Oktober 1919:
1909-10
M a i - J u l i 1920:
1911-12
September - Oktober 1921:
1913
November 1922:
1914-15
Mai 1924:
1916
Juli 1924:
1917
Juli 1926:
1918
Mai 1927:
1919
September - Oktober 1927:
1920
April 1929:
1921
Mai 1929:
1922
Juli - August 1929:
1923
Oktober 1929:
1924
Jänner 1930:
1925
Juni 1930:
1926
Dezember 1930-Jänner 1931: 1927 107 Am 17.8.1918 wird ζ. B. die Eintragung vom 2.9.1909 zitiert; am 24.10.1924 jene vom 14.2.1921. 108 Vgl. Eintragung v. 10.9.1931. 109 Diese Klagen durchziehen das Tagebuch; vgl. unter vielen anderen die Eintragung v. 16.12.1926: „Leider bin ich unfähig mir was zu merken". 110 Eintragung v. 9.1.1918, vgl. 18.11.1918 („Erfuhr allerlei vergessenes"), 22.2.1919 („Erfahre mancherlei über mich und andre, was ich vergessen hatte"), 8.5.1929 („es gibt doch kaum, was tiefer bewegt als das eigne Leben - besonders dieses Gemenge von vergessnem und unvergessnem wie es sich in Tagebüchern findet"). 111 Eintragungen v. 9.4.1905 und 11.11.1929 (Hervorhebungen von mir). 112 Eintragung v. 31.1.1922. - Auch die Tagebucheintragung vom 19.9.1890 „zitierte" diesen Satz bereits; in der Skizze .Gespräch in der Kaffeehausecke' (geschrieben am 3.2. und am 29.8.1890) hatte „Anatol" von ihm Gebrauch gemacht (AB 35). - Im .Märchen', das dann von November 1890 bis März 1981 entsteht, werden diese Worte allerdings Fedor Denner in den Mund gelegt, als er über die Vergangenheit Fannys doch nicht hinwegkommen kann (D 1,198). Zu diesem Zeitpunkt heißt „Nichts vergessen" auch noch „Nichts verzeihen". -
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Der Satz wandert jedenfalls von einer Prosaskizze ins Tagebuch, dann von dort ins Drama und wieder ins Tagebuch zurück; auch dies ein Beleg für „Continuität". 113 Eintragung v. 30.1.1919. 114 Darin besteht die crux der Tagebuchinterpreten; zur Problematik vgl. Thomé, Arthur Schnitzlers Tagebuch, S. 183, Fußn. 18. - Hinter Thomés Feststellung, „daß das textuelle Ich nicht naiv als Reproduktion des empirischen genommen werden kann, die Differenz zwischen beiden aber schlechterdings nicht zu fassen ist", wird man nicht mehr zurückfallen können. - Für die Selektionsregeln des Textes schlägt Thomé eine sozialgeschichtliche Lesart vor, die Schnitzlers „Grundkonzept" mit den widersprüchlichen Wertesystemen der nachliberalen Gesellschaft vermittelt; die individuellen Bedingungen des „Grundkonzepts" müssen zumindest partiell offenbleiben. 115 Ebda., S. 193. 116 Vgl. Thomé, Faktizität des Lebens und erfüllte Zeit, S. 94f.: „Offenbar hat sich bei seinem Umgang mit dem Tagebuch durch den Prozeß der Lektüre die spontane und intuitive Erfahrung von Zusammenhang eingestellt, die zwar durch eine schriftliche Fixierung verfälscht würde, aber doch als unmittelbar erlebter psychischer Akt unbezweifelbar und nicht weiter hintergehbar ist." - Schnitzler hat diesen Zusammenhang allerdings auch als Ergebnis bewußter psychischer Anstrengung erlebt und notiert, weshalb das Erinnern erst als „Aufgabe" erscheinen kann. 117 Eintragung v. 14.7.1921.
2. „Jugend in Wien": Archäologie des Ich Als Arthur Schnitzlers Fragment gebliebene Autobiographie 1968 unter dem - mittlerweile dankbar weiterverwendeten - Titel Jugend in Wien' aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, reagierte die Kritik mit gehörigem Lob für den inzwischen als österreichischer Klassiker geltenden Autor - mit einer Ausnahme. Was man sonst als epische Breite des Autobiographien respektvoll würdigte, hielt Marcel Reich-Ranicki schlicht für Langatmigkeit: Daß nämlich ein Arthur Schnitzler, also einer der besten Beobachter und Psychologen unter den Schriftstellern seiner Epoche, ein vorzüglicher Erzähler, ein Meister ebenso der intimen Analyse wie der Milieuschilderung, in jahrelanger Arbeit eine für die Nachwelt bestimmte Autobiographie verfaßt hat, die sich jetzt - trotz unzähliger Bekenntnisse und Geständnisse, trotz bemerkenswerter und schöner Passagen - als ein nicht gerade aufregendes, als ein, alles in allem, eher unerhebliches und mattes Buch erweist, das scheint mir immerhin verwunderlich und fast schon sensationell zu sein.1
Auf Reich-Ranickis Befund wird wohl mancher ermüdete Leser der Jugend in Wien' zurückgekommen sein; bloß seine Begründung - der junge Arthur Schnitzler sei für den alten einfach kein Thema gewesen - scheint nicht zuzutreffen. Gerade daß das Buch auch noch die nebensächlichste Erfahrung des Heranwachsenden thematisiert, macht die Lektüre beschwerlich. Die Beharrlichkeit, mit der diese Lebensbeschreibung den Verzweigungen der Verwandtschaft, den Eigentümlichkeiten von fernstehenden Schulkameraden und Lehrern, den Anlässen unerheblicher studentischer Vergnügungen folgt, ist in der Tat auffallend. Schnitzler ist diese Akribie selbst nicht entgangen; er erwähnt sie im Zusammenhang mit dem Motiv seiner Erinnerungen - sein „tiefes Bedürfnis in diesen Blättern wahr zu sein" (JiW 323). Im Drang - oder Zwang zur Wahrheit darf nichts ausgelassen werden: Ich frage mich auch, ob mein Wahrheitsbedürfnis nicht zum Teil aus einer Eigenschaft entspringt, die im pathologischen Gefühl der Zwangsvorstellungen wurzeln könnte, in der Neigung zu einer gewissen äußerlichen Pendanterie, die sich im Lauf der lahre vielleicht als ein Corrigens innerer Schlamperei immer entschiedener entwickelt hat. (JiW 324)
Während Schnitzler sein penibles Wahrheitsbedürfnis problematisiert, gibt es offenbar keinen Zweifel daran, daß das eigene Leben wahrhaftig in die
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traditionelle Gattung Autobiographie abgefüllt werden kann. Daß sich Schnitzler als Autobiograph vollkommen ironie- und kritiklos an das gattungsgeschichtliche Muster, Goethes ,Aus meinem Leben', hielt, 2 ist umso merkwürdiger, als andere „Selberlebensbeschreibungen" der Zeit sich von diesem Vorbild schon längst skeptisch oder parodistisch verabschiedet hatten. 3 Was allein schon die Gattung garantierte: die Identität des erzählten und des erzählenden Ich über die Dauer des gelebten Lebens hinweg, schien sich zur Zeit der Abfassung von Schnitzlers Autobiographie als eine Strategie der Selbstvergewisserung, als ein therapeutisches Mittel anzubieten. Denn entstehungsgeschichtlich ist Jugend in Wien' ein Krisensymptom. Nach verschiedenen Anläufen begann Schnitzler zu Pfingsten 1915 „.systematisch' eine Art von Autobiographie", 4 die verläufig .Leben und Nachklang. Werk und Widerhall' hieß. Mit langen Unterbrechungen wurde die Arbeit bis 1920 weitergeführt, nach der Relektüre von Jugendwerken, alten Briefen und den ersten Jahrgängen des Tagebuchs. Im Studium der Lebenszeugnisse übte Schnitzler Erinnerung, in einer Situation, die als Lebensbruch gelten kann. Krieg und Antisemitismus waren die bedrohlich aktuellen Realitäten, auf die Schnitzler mit einer autobiographischen Anstrengung reagierte. Es ging um den Versuch, die eigene Identität als die Vergangenheit des Ich zu bestimmen. Aber die Erfahrungen dieses vergangenen Ich, also des jungen Schnitzler, waren generationstypische Desintegrationssymptome gewesen; sein innovatorisches Verdienst als Autor hatte darin bestanden, für diese Erfahrungen eine adäquaten literarischen Ausdruck gefunden zu haben. Daß die Lebensbeschreibung so entschieden hinter die einmal gewonnenen ästhetischen Positionen zurückfällt, ist dann schon mehr als eine bloße Abnützungserscheinung der Avantgarde. Wenn aus der biographischen Krise die unkritische Autobiographie hervorgeht, dann hat die Gattung offenbar poetologische Funktionen übernommen, die mit einem literarhistorischen Fortschrittsbegriff nicht ohne Brüche zu verrechnen sind.
A. Impressionismus und Autobiographie Vergleicht man Schnitzlers autobiographisches Fragment mit anderen Lebensbeschreibungen aus dem Umkreis des Jungen Wien, so wird allerdings eines deutlich: Die traditionelle, „klassische" Lebensgeschichte ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Lediglich bei Peter Altenberg findet sich
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der Hinweis darauf, daß sich nicht nur das Ich, sondern auch seine Geschichte aus diffusen Lebensmomenten zusammensetzen könnte: „Ich soll für ein großes Blatt meine , M e m o i r e n ' schreiben. Ja, sind denn nicht alle diese tausend Impressionen in meinen neun Büchern bereits meine .Memoiren'?" 5 Nur Altenberg hält die impressionistische Technik auch in seiner Autobiographie durch; das mag daran liegen, daß er umgekehrt die „Autobiographisierung" 8 der vorangegangenen Texte mit gleicher Konsequenz betrieben hatte. Was aber die autobiographischen Schriften anderer prominenter Autoren der Wiener Jahrhundertwende betrifft, eben Jugend in Wien', aber auch Hermann Bahrs .Selbstbildnis' (1923), Raoul Auernheimers .Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit' (1948) oder Beer-Hofmanns .Paula. Ein Fragment' (1949), so scheinen sie alle eher die große Gattungstradition als die eigenen literarischen Neuansätze zu reflektieren. Erzählt wird kontinuierlich, chronologisch und traditionell, im Stil der „würdevollen Konzilianz" 7 des .Aus meinem Leben'. Auf das große Gattungsmodell kommt beispielsweise Hermann Bahr ganz unbefangen zurück. Gleich eingangs zitiert er Goethes Definition aus der Vorrede von .Dichtung und Wahrheit': Die Biographie habe die Funktion, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt". 8 Allerdings fühlt Bahr sich veranlaßt, diese Formel ein wenig zu korrigieren. Angesichts seiner eigenen Erfahrungen werde deutlich, „wie mir eigentlich ,das Ganze' für mein Gefühl niemals .widerstrebt' hat, sondern ich mich seit meiner Kindheit bis auf den heutigen Tag vom .Ganzen' immer nur begünstigt fand". 9 Heißt es bei Goethe, das Jahrhundert sei zu beschreiben, „als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet", so findet sich Bahr immer als ein „Williger" vor dem Leben: „es hat mich nicht erst .fortreißen' müssen, ich wartete schon auf seinen Wink, ja voll Ungeduld lief ich ihm entgegen". 10 Bahr beabsichtigt aber keineswegs eine Revision dessen, was die Gattung leisten könnte. Mit seiner Präambel erfüllt er nur die genusspezifische Erfordernis, der Lebensgeschichte einen „Metatext", eine begleitende Reflexion autobiographischen Schreibens mitzugeben. Und die Abweichung von Goethes Axiom bezeichnet nicht eine neue Funktion der Autobiographie, sondern die Devianz von Bahrs Generation: [. . . ] in meiner überstürzten Hingebung an das Leben lagen meine Fehler, ich bin im Grunde doch wesentlich ein Impressionist [ . . . ] . Deshalb muß ich auch, mein Leben überblickend, eigentlich gestehen: ich habe mich die längste Zeit gar nicht an
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ihm gebildet, ich ließ mich nur von ihm bilden, ich überließ mich ihm. Dies war meine Schwäche; es war die Schwäche meiner Generation, so furchtbar als fruchtbar. 11
Wenn der Gattungsbegriff also nicht auf den Impressionisten paßt, ist es seine Schuld und nicht die des Begriffs. Noch 1905 hatte Bahr behauptet, daß man „auf das Kapitel, das einmal erzählen wird, was wir waren, dieses Wort setzen [sollte] : der Ruf des Lebens". 12 Retrospektiv wird jetzt dieses „Leben" zur Ordnung gerufen, zum gemessenen Gang der Autobiographie. Die dionysische Lebensphantasie der Jahrhundertwende ist in der Lebensbeschreibung gebändigt. Den monistischen, überindividuellen Lebensbegriff von 1900 hat Bahr noch im Sinn, wenn er davon spricht, „daß ich mich dem Leben ganz überließ, mich ganz dem ganzen Leben, nicht bloß irgendeinem Teil davon, sondern allem über mich losstürzenden, auf mich einwirkenden, mich von allen Seiten durchdringenden Leben mit allen seinen Widersprüchen überließ". 13 Aber wenig später resümiert er: „Mein ganzes Leben bestand darin, daß mir schließlich doch nicht gelang, seinen guten Mächten zu widerstehen". 14 Das Possessivpronomen schneidet nun ja doch aus dem „ganzen Leben" einen Teil aus; das „Leben", Reizwort und Zentralbegriff des Fin de siècle, wird vom Allumfassenden ins Individuell-Biographische transportiert. Bei Raoul Auernheimer, einem im Unterschied zu Bahr ironischen Selbstbiographen, stellen sich die jugendlichen Entgrenzungsphantasien nachträglich als das „sogenannte] stark überschätzte] Leben" dar. 15 Ist das Ich dann auf ein Segment des „ganzen Lebens" reduziert, so wird seine Entwicklung mit den orthodoxesten Gattungskonzeptionen gestützt. In der Folge erzählt Bahr daher ganz traditionsgemäß, und die autobiographietypischen Metatexte beginnen zu wuchern: Immerfort deutet Bahr auf zentrale Erlebnisse voraus oder zurück und macht die Fortschritte seiner Persönlichkeitsentfaltung zum kontinuierlichen roten Faden. Die Sinngebung des erzählten Lebens verdankt sich dem augustinischen Muster der BekenntnisAutobiographik. Wegmetaphern suggerieren auch gleich das Ziel: die Konversion. Ähnliche Bilder wird man später etwa bei Alma Mahler finden, die das Schicksal Franz Werfeis immerhin noch als „Götterlieblingsweg" interpretiert. 16 Säkularisierte Varianten der Wegmetaphorik tauchen beispielsweise in Stefan Großmanns Autobiographie auf; Großmann äußert sich zwar auch zur Kontingenz seines Lebenslaufs, möchte aber dann doch nicht darauf verzichten, von einem „Serpentinenweg" zu sprechen, der ihn auf die Höhe des Lebens geführt habe. 17 Was die Autobiographie als Gattung zu verbürgen scheint, die Teleologie des geschilderten Lebens, wird in jedem Fall unbekümmert übernommen. Keine jugendstilhafte Arabeske, keine impres-
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sionistische Schraffierung lockert die kontinuierliche Linie dieser Selbstund Lebensbilder. Damit lautet „die entscheidende Frage im Hinblick auf die Autobiographie" nicht mehr nur, wie sie Roy Pascal formuliert hat: „Wie kann die Persönlichkeit aus sich selbst heraus und aus den vielfältigen Erfahrungen des Lebens eine zusammenhängende Geschichte gestalten?" 18 Statt dessen ist danach zu fragen, wie an eine zusammenhängende Geschichte des Ich überhaupt noch geglaubt werden kann, wenn Kontinuität und Identität als Regulative der Welterfahrung schon einmal verabschiedet worden sind. Wieso greifen Autoren, denen Machs These vom „unrettbaren Ich" geläufig war, auf eine sinnhafte und zielgerichtete Entwicklung dieses Ich, noch schlimmer: auf eine Entwicklung zum Dichter! zurück? Was Ernst Mach selbst betrifft, so sind von ihm, neben einem bloßen Lebenslauf für die Akademie der Wissenschaften, zwei weitere autobiographische Aufzeichnungen überliefert. 1 9 Die Geschichte ihrer Entstehung ist der kurioseste Beleg für die Wirkung seiner Theorie auf ihn selbst. Die erste Selbstdarstellung sollte er 1910 einer amerikanischen Zeitschrift zur Verfügung stellen. Während der Abfassung dieses Textes notierte Mach folgendes Gedicht: Ein Autogramm kann ich nicht schreiben, Selbst wenn die schwerste Pflicht tut treiben. Es kam ein Geist, schlug auf die Hand, Ist mit der Schrift davongerannt. 20
Durch die Er-Form, die Mach dem geforderten Lebensabriß gab, entzog er sich glücklich der Verpflichtung, ein autobiographisches Ich auftreten zu lassen. Die zweite autobiographische Skizze, entstanden 1913, sollte als Buchpublikation in einer Reihe über die .Förderer der Menschheit' erscheinen. Mach gab ein Manuskript ab, das dem Herausgeber zu dürftig erscheinen mußte - es umfaßte siebzehn maschinschriftliche Seiten - , stimmte dessen berechtigten Einwänden freudig zu, schrieb aber trotzdem keine Erweiterung und verhinderte so den Abdruck. „Ohne Ich keine Autobiographie. Ohne Selbst keine Selbstdarstellung", kommentierte Manfred Sommer diesen Vorfall in seiner Mach-Monographie. 21 Die „wahre" Autobiographie, die Mach geschrieben hat, ist aufzuspüren in den Fußnoten, Vorworten, eingestreuten Abschweifungen seiner Texte, als „adäquate Form der Präsentation seines Lebens. [ . . . ] So entsprechen einander die Dispersion der Selbstdarstellung und die Diffusion des dargestellten
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Selbst". 2 2 Wenn Machs autobiographische Verweigerung plausibel ist, so wirkt die scheinbar unproblematische Rückkehr seiner literarischen Schüler zu dieser Form umso befremdlicher.
B. Ich als Subjekt: Der Solipsismus Daß die genannten Autobiographien Machs Theorie ignorieren, ist aber nur teilweise richtig. Während die Identität und die Dauer des Ich wie selbstverständlich vorausgesetzt werden, läuft daneben eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem erzählten Ich. Anklagepunkt ist die autistische Abkapselung und die narzißtische Inszenierung des früheren Selbst. Gravierend wird dieser Vorwurf im Zusammenhang mit dem künstlerischen Selbstverständnis: Die ästhetizistische Pose von einst gilt jetzt als Verfehlung. Daß die dargestellte Welt als Bündel subjektiver Eindrücke, als bloße Impressionen arrangiert oder zum Jugendstil-Bild verflacht wurde, wird post festum als Zeichen eines jugendlichen Größenwahns gesehen. Nun betrifft diese Kritik aber durchaus eine der Implikationen von Machs These: nämlich die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt solipsistisch umzudeuten. Wenn das Ich nur mehr ein Konglomerat von Sinneseindrücken ist, reduziert sich die Welt schließlich auch auf die empfangenen Reize und ist gleichsam im Ich enthalten. Dieses Axiom und das damit verbundene Selbst- und Weltgefühl wird von den Autobiographen problematisiert; daß sie dem Ich eine traditionelle Form geben und damit auf formale Innovationen verzichten, ist freilich der Preis, den sie dafür bezahlen. Ein Ich, das nach wie vor als impressionistischer Datenschwarm oder als solipsistische Zelle verstanden wird, wäre gegen Kritik immun. Schnitzlers Arbeit an der Autobiographie fiel mit der Entstehung des Dramas ,Der Gang zum Weiher' (1926) zusammen. Am 24. Mai 1915 hatte er „plötzlich Einfälle zum Weiher,- mit Beziehung auf den Krieg"; 23 das war derselbe Tag, an dem er mit der Niederschrift von .Leben und Nachklang' begann. Die unmittelbare Nachbarschaft beider Projekte gab Schnitzler Anlaß zur Besorgnis, das Stück könne in den autobiographischen Sog mithineingezogen werden. Anfang 1916 notierte er: „Beim ,Weiher' fehlt's an der Atmosphäre, auch ist das allzu subjective vorläufig zu fürchten". 24 Tatsächlich trägt das Drama die Spuren dieses entstehungsgeschichtlichen Parallelismus: Im ,Gang zum Weiher' sind zwei Figuren mit autobiographischen Unternehmen beschäftigt. Der alternde Dichter Sylvester Thorn macht sich an eine Relektüre seiner Jugendtagebücher, die er vor Jahren
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seinem Freund, dem abgedankten Kanzler Freiherr von Mayenau, zur Aufbewahrung überlassen hatte; Mayenau seinerseits ist eben im Begriff, seine Memoiren zu verfassen, eine Arbeit, die immer wieder abgebrochen wird. Ursache für Mayenaus Schreibkrise ist das Schwanken zwischen seiner öffentlichen Rolle, die in den Memoiren dokumentiert werden soll, und seinen privaten Erinnerungen, die dieses Rollenbild beeinträchtigen. Deutlicher als die Druckfassung schildert das Prosa-Szenarium des Stücks vom Oktober 1915 die unterschiedlichen autobiographischen Intentionen: Sylvester: [ . . . ] Briefe, Tagebücher, kurz, meine ganze Jugend. Nun bin ich da sie mir holen. [Freiherr: So hast du's gemeint? Willst auch du die Geschichte deines Lebens aufbewahren? Sylvester: Aufbewahren? Das ist es nicht. Doch warum sagst du ,auch'l Freiherr: Ich bewahre das meine auf. Die Welt soll einmal, wenn ich nicht mehr bin, die Geschichte meines Falles kennen. Das Unrecht, das man an mir verübt. Sylvester: Ich will nichts mehr niederschreiben, denn es steht ja alles da. Tag für Tag.) Nur will ich einmal noch diese flammende Jugend vor mir aufblühen lassen, dann fort damit. 25
Anders als dem Freiherrn geht es Sylvester nicht um den politischen Zweck seiner Erinnerungen, sondern um die Konfrontation mit dem jüngeren Ich und dessen poetischer Schaffenskraft; der Vergleich könnte aber sehr zuungunsten der Gegenwart ausfallen. Sylvesters Absichten haben auch mit der Furcht vor künstlerischer Stagnation zu tun: Und wenn nun, frag' ich, wenn's mich später lockte, Den, der ich bin, an dem zu messen, der Ich einmal war - und das Vergang'ne sich Im jugendhellen Spiegel meines Worts Lebend'ger als die Gegenwart erwiese? (D 11,775)
Diese bedrohliche Selbstreflexion des Künstlers 26 wird danach in einem verzerrten Spiegelbild verkörpert: In Gestalt des Sekretärs Andreas Ungnad tritt Sylvester eine Parodie des Dichters entgegen. Der Begriff vom Autor als Schöpfer fiktiver Welten erscheint plötzlich als Wahn: Ungnad erklärt sich die Realität als Produkt seines Bewußtseins. Dieses „Geheimnis" vertraut er Sylvester an; gerade ihn hat er gewählt, weil „Ihr ein Dichter seid" (D 1,785). In blasphemischer und grotesker Selbstenthüllung entpuppt sich Ungnad als creator ex nihilo:
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All dies ist Schein. Auch ich, wie Ihr mich seht. Es ist mein Geist, der sich die Welt erschuf Und mittendrein sich selbst gestellt. (D 11,786)
Die Behauptung, daß im Stück „nie klar wird, ob er [Ungnad] als Studie eines Schizophrenen, als Hanswurst oder als Verhöhnung des Publikums gedacht ist", 27 greift zu kurz; vielmehr läßt sich Schnitzler mit dieser Figur auf eine direkte Auseinandersetzung mit Machs .Analyse der Empfindungen' ein. Denn dort hatte Mach unmittelbar nach der These, es gebe keine absolute Beständigkeit des Ich, die solipsistischen Konsequenzen seiner Theorie erwogen: Faßt man als Ich lediglich als Komplex sinnlicher Eindrücke auf, so gibt es im Prinzip keinen Einwand gegen das Recht, diesen Komplex immerfort zu vergrößern: „Dem entsprechend kann das Ich so erweitert werden, daß es schließlich die ganze Welt umfaßt". 28 Noch in .Erkenntnis und Irrtum' (1905) wird Mach auf diese Implikation seiner Lehre zurückkommen: Wenn ich nun die Gesamtheit meines Psychischen - die Empfindungen eingerechnet - mein Ich im weitesten Sinne nenne [ . . . ] , so kann ich ja in diesem Sinne sagen, daß mein Ich die Welt eingeschlossen (als Empfindung und Vorstellung) enthalte. 29
Theoretisch wird damit, im Anschluß an Kant, eine „konsequente solipsistische Position" bezogen, „die dem Ich die ganze Welt als phänomenales Korrelat einverleibt"; 30 praktisch hat Mach das entstehende Problem umgehend wieder verabschiedet: Daß die „ganze Welt, die Ich anderer Menschen eingeschlossen", lediglich in unserem Ich enthalten wäre, sei eine Ansicht, zu der „man sich ernstlich schwer entschließen wird". 31 Trotzdem bietet Machs „Selbstschauung" durchaus Ansatzpunkte für eine solipsistische Interpretation; quasi durch die Hintertür gehen idealistische Theoreme in den Empiriokritizismus ein. Andreas Ungnad betritt also die Bühne als ein Nachfahre des Baccalaureus im ,Faust', mit dem Goethe die Position Fichtes ironisiert hatte: „Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf". 32 Gerade diesen Vers zitieren sowohl Hermann Bahr als auch Fritz Mauthner, als sie kurz nach der Jahrhundertwende die Tradition der „Ich"-Philosophie diskutieren; 3 3 Mauthner ging es dabei vor allem um Max Stirners radikale politische Interpretation des Solipsimus. Auch der Held in Richard Beer-Hofmanns Novelle ,Der Tod Georgs' (1900) ist tendenzieller Solipsist; dem Dandy und Ästheten Paul degeniert die Welt zum Spiegelkabinett des eigenen
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Ich. Seine Wahrnehmung entspricht aufs anschaulichste der solipsistischen Weltschöpfung: [. . . ] und wenn er vor den ferne aufleuchtenden Blitzen die Augen schloß, fühlte er seine Macht. Denn rascher als das Bild des Blitzes seinen Augen entfloh, schuf er mit einem Senken seiner Lider tiefes Dunkel um sich, und zerstörte eine Welt, die er mit jedem Augenaufschlag von neuem sich erschuf. (GW 587) Eine Versparaphrase dieser Sätze spricht, ein Vierteljahrhundert später, Schnitzlers Sekretär Ungnad; für ihn ist die Welt nichts als eine Funktion seiner Sinnesorgane: [. . . ] Schließ' ich mein Auge, Erlischt das Licht. Halt' ich den Atem an, Riecht keine Blume. Schlummr' ich ein, so sinkt In Schlaf die Welt. Und wenn ich sterbe, stirbt Die Welt mit mir. (D 11,786) Das Omnipotenz-Phantasma erscheint jetzt als Sinnverwirrung einer kuriosen Figur; noch in den neunziger Jahren hatte es aber durchaus zum Selbstgefühl und zur künstlerischen Distinktion der jungen Schriftstellergeneration gehört. Berühmtester Beleg ist eine Stelle aus einem Brief Hofmannsthals aus dem Jahr 1895: Ich glaub immer noch, daß ich im Stand sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. [ . . . ] Es handelt sich freilich immer nur darum ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkin'sche Dörfer aufzustellen, aber solche an die man selbst glaubt. Und dazu gehört ein Centrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und Abhängigkeit [ . . . ] . 3 4 Die souveräne Einbildungskraft des Autors hat aber eine prekäre pathologische Seite. Was Hofmannsthal als hochgemute Erfahrung mitteilt, steht immer an der Kippe zur Identitätskrise und zum krankhaften Realitätsverlust. Den unheimlich zwanghaften Charakter der solipsistischen Ich-Manie hatte der Autobiograph Leo Tolstoj schon 1854 geschildert: Aber für keine philosophische Richtung begeisterte ich mich so wie für den Skepticismus, welcher mich zu einer Zeit einem Zustande nahebrachte, der an Wahnsinn grenzte. Ich hatte die Vorstellung, daß außer mir Niemand und Nichts in der ganzen Welt vorhanden ist, daß die Dinge nicht Dinge, sondern Vorstellungen sind, die nur dann in die Erscheinung treten, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf sie richte, und daß diese Vorstellungen sofort schwinden, wenn ich aufhöre sie zu den-
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ken. [ . . . ] Es gab Stunden, wo ich unter dem Einflüsse dieser „fixen Idee" zu einem solchen Grad geistiger Verwirrung kam, daß ich mich bisweilen schnell nach der entgegengesetzten Seite umsah, in der Hoffnung dort, wo ich nicht war, von einem Nichts (néant) überrascht zu werden.35
Hier gerät der extreme Solipsismus in die Nähe des Wahnsinns, wohin das ausgehende Jahrhundert im Gefolge Lombrosos das Genie ja plaziert hat. Daß Neurasthenie und Psychose mit außergewöhnlicher Begabung einhergehen können, betonte im positiven Sinn Emile Durkheim ebenso wie Max Nordau im negativen. In Schnitzlers .Gang zum Weiher' erkennt sich der Dichter erschrocken im Wahn des Sekretärs wieder: Verwirrter Geist, was wolltest du von mir? Tratst du als eig'nes Zerrbild mir entgegen? (D 11,787}
Seine Abwehr erledigt ein Jugendgefühl - und bezeichnet den Abstand, den die Autobiographen zur erzählten Vergangenheit einnehmen. Das narzißtisch aufgeblähte Ich fordert die autobiographische Bearbeitung heraus. Die Frage, wie man die Lebensgeschichte eines losen Bündels von Wahrnehmungen darstellen kann, wird verschoben; sie lautet vielmehr: Wie läßt sich das allumfassende Subjekt zum Objekt einer Erzählung machen? Das traditionelle autobiographische Erzählen hat seinen Gegenstand auf eine doppelte Weise zu retten: Es ist die Kur und die Kritik des empiriokritizistisch verkleinerten wie des solipsistisch vergrößerten Ich.
C. Ich als Objekt: Die Geschichte Im Aufsatz ,Das unrettbare Ich' von 1903 hatte Hermann Bahr die Faszination, die Machs Lehre auf ihn ausübte, mit der Wirkung seiner frühen KantLektüre verglichen, die für den Neunzehnjährigen ein „ungeheueres Ereignis" gewesen sei: Wie ich aber im Denken radikal bin, riß es mich fort, ich machte gleich die ganze Entwicklung bis zum letzten Solipsismus durch, der mir in der Tat auch heute noch, läßt man sich überhaupt auf Kant ein und denkt ihn aus, unvermeidlich scheint, wozu kommt, daß er doch eigentlich nur die wahre Empfindung des Jünglings ausspricht.36
Der Solipsismus erscheint aus der Sicht des vierzigjährigen Bahr gewissermaßen als geistige Jugendbewegung. Wieder ein Jahrzehnt später korrigierte Bahr allerdings auch noch den Rückblick: Im Band .Inventur' (1912),
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der den Artikel von 1903 enthält, hatte er die Stelle folgendermaßen überarbeitet: „läßt man sich auf Kant ein, ohne die Kraft, ihn auszudenken 37 [. . .]" - der jugendliche Größenwahn wird weiter reduziert. Aber auch Tolstoj schildert die bedrohliche idée fixe als Erlebnis seiner Knabenjahre. „Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf", reimt sich bei Goethe auf „Dies ist der Jugend edelster Beruf!" 38 Daß man erst alt werden muß, um den Teufel zu verstehen, wird im .Faust' ebenfalls erklärt.39 Bei vielen Autobiographen gilt der Solipsismus daher als Adoleszenzerscheinung, als eine Art kollektiver Jugendneurose mit deutlich hebephrenen Zügen. In Jakob Wassermanns autobiographischer Schrift ,Mein Weg als Deutscher und Jude' (1921) erscheint die Überwindung der solipsistischen Ich-Bezogenheit geradezu als Voraussetzung jeder psychologischen Entwicklung: Der unreife Mensch ist gewissen Verwirrungen viel weniger ausgesetzt als der reife. Dieser, sofern er an eine Sache hingegeben ist oder an eine Idee [ . . . ] , entringt sich nach und nach der Besessenheit, in der das Ich den Zauber des Unbedingten hat, und Welt und Menschheit kraft einer angenehmen und halbfreiwilligen Täuschung dem gebundenen Willen in den Transformationen der Leidenschaften zu dienen scheinen. In dem Maße, in dem die eigene Person aufhört, Wunder und Zweck zu sein, bis sie zuletzt ein kaum gespürtes Zwischenelement wird, gleichsam Schatten eines Körpers, den man nicht kennt, noch erkennen kann, in dem Maße wächst die Schwierigkeit und Gefährlichkeit des Lebens mit und unter den Menschen, sowie der geheimnisvolle Charakter alles dessen, was man Realität und Erfahrung nennt. 4 0
Damit verläßt das Ich die jugendliche „Centrums"-Position und bezieht den peripheren Standpunkt des distanzierten Beobachters - also des Autobiographen. Schon 1912 hatte Hofmannsthal das „schlechthin Schöpferische" durch ein „Aufhebendes" relativiert, welches sich mit der Reife einstelle; dieses „Aufhebende" setze „ein allmähliches Zurücktreten des Individuums durch, ein geringeres Interessiertwerden durch das Eigene". 41 Die Fragmente ,Ad me ipsum', die Hofmannsthal dann von 1916 bis zu seinem Tod aufzeichnete, addieren sich zwar nicht zu einer Autobiographie im herkömmlichen Sinn, wohl aber zu einer synthetisierenden Werkgeschichte; hier wird das „Ich als Universum" der „Praeexistenz" zugeordnet, jenem Zustand vor der Beziehung zur Welt und zum Leben, die es zu erreichen gilt (RA 111,599). Um die Kontinuität seiner Themen und Motive nachzuweisen, zitiert Hofmannsthal in den ,Ad me ipsum'-Entwürfen auch das schon 1897 entstandene Gedicht ,Der Jüngling und die Spinne'. Dort sieht der Jüngling die Welt zuerst in der obligaten solipsistischen Perspek-
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tive: „Ich schaue in den Himmel auf, da spiegeln / Die Wolkenreiche [. . . ] mich, das Ganze!" Die Erfahrung des Schmerzes stößt ein Loch in diesen Kosmos des Ego: „Die Welt besitzt sich selber, ha, ich lerne!" 42 Der Weg zu sich selbst besteht also paradoxerweise in der Reduktion des Ich. Dieses biographische Problem überlagert scheinbar völlig das ästhetisch-formale. Im Erzählen des eigenen Lebens ist das Ich nur zu retten, wenn es zur Kenntlichkeit vermindert wird. Diesen - individuell gewiß schmerzhaften - Prozeß beschleunigt nun tatsächlich das Zeitalter. Die Jugendzeit fällt bei den betreffenden Autoren in die Epoche einer saturierten Sicherheit, die aber immer schon bedroht ist: Schnitzlers und Hofmannsthals Väter verlieren Teile ihres Vermögens in der Börsenkrise von 1873. Bei Stefan Großmann setzt die autobiographische Erzählung gleich mit dem ökonomischen Zusammenbruch ein: „Mein Vater war nach dem großen Krach der siebziger Jahre verarmt". 43 Die letzte kulturelle Enklave des Wiener Bildungsbürgertums, vorab des jüdischen, verschwindet mit dem Ende des Weltkriegs: Das Zeitalter bestimmt die Unwilligen. Nichts zerstört die solipsistische Position schneller als das Pragma der Geschichte: Die Welt sieht mein Ich, mein objektives Ich, und rechnet damit und stößt es dahin und dorthin. Ich will [ . . . ] , ich will gar sehr. Aber ich kann nicht, wie ich will. Ach nein! Das andere leitet meinen Weg, unbarmherzig, in das Leben und in den Tod. In unabsehbarer Länge ziehen sich die Kettenfäden der Welt anders für jeden einzelnen Menschen hin in der Richtung des Endes, des Todes; das objektive Ich zieht mit seinem schnellen Schiffchen als Einschlag durch die Kette hin und her und wirkt das Gewebe [ . . . ] . 4 4
Nur mehr analog zu dieser Metapher kann sich die Lebensbeschreibung verstehen; ihr Impuls ist ein geschichtlicher Schock. Die Entstehungsdaten der autobiographischen Schriften können das belegen: Schnitzler arbeitet an Jugend in Wien' von 1915 bis 1920, Hofmannsthal an ,Ad me ipsum' von 1916 bis 1929, Altenbergs Autobiographie erscheint 1919, Wassermanns 1921, Bahrs 1923. Krieg und Zusammenbruch wirken als Moyens einer Bestandsaufnahme, die retrospektiv kulturkritisch argumentieren muß: Oft zitiert sind sowohl Schnitzlers als auch Hofmannsthals Absagen an ihre Herkunftswelt. 45 Das Scheitern des Liberalismus, das von den Autobiographen als Erziehungsmanko und Autoritätsdefizit wahrgenommen wurde, hatte aus der Sicht des zeitgenössischen Kulturpessimismus aber auch den Schiffbruch der literarischen Moderne zu verantworten.
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Samuel Lublinski etwa stützte seine Pauschalkritik auf eine soziologische Begründung: Den Gegenwartsautoren werde ihre soziale Herkunft aus dem „zwischen Proletariat und Bourgeoisie eingeklemmten Bürgertum" zum Verhängnis. Diese Zwiespältigkeit mache „das eigentliche Wesen" der Moderne aus; hier zeige sich die „Nabelschnur, von der sie trotz der gewaltsamsten Operationen immer noch nicht losgetrennt ist". 4 6 Lublinskis Metapher verbindet Klassenzugehörigkeit mit Infantilismus; der Ästhetizismus der neunziger Jahre wäre unter diesem Aspekt nichts anderes als das regredierende Verhalten einer nicht abgenabelten Jugend - eine Auffassung, die der Selbstkritik der späteren Autobiographen sogar recht nahe kommt. Die bürgerliche Identitätskrise nach 1 9 1 8 motiviert eine Selbstsuche, die auf die Therapie dieser psychologisch-ästhetischen Regression abzielt. Die Autobiographie ist damit auch ein Akt der Selbstgeburt, wie bei Hermann Bahr, der sich schon wenige Jahre nach der Jahrhundertwende „auf der Flucht vor dem geborenen und erzogenen Impressionisten" befunden haben will. 4 7 Sein Lebenslauf holt daher den Geburtsvorgang immer wieder nach: 1889 beginnt in Paris „ein neues Leben" für ihn, 1904 wird er auf der Akropolis „wiedergeboren". 48 Für Bahr sind diese Geburtsphasen jeweils mit einem Kunsterlebnis verbunden; auf dem Spiel steht schließlich die Künstler-Identität. Der jugendlich-solipsistische Wahn hat, so lautet die nachträgliche Lesart, diese Identität eher bedroht als entfaltet. Auch das ist ein Grund, warum die Autobiographen weniger das impressionistisch zerfallende Ich problematisieren als das monomanisch aufgeblasene: Psychische Destabilisierung gilt jetzt als allgemeine Zeitkrankheit der Jahrhundertwende, die narzißtische Zwangsidee hingegen als spezielle Pathologie des Künstlers. Dessen elitäre und isolierte Position bedarf der Korrektur; Hofmannsthals ,Ad me ipsum' definiert Identität schließlich als Weg zum Sozialen (RA III,602f.,610f.). Die kommunikative Kompetenz des Künstlers, auf die Hofmannsthal im Gegensatz zu Stefan George schon früh nicht verzichten wollte, wird in entsprechend mitteilungsfähigen Gattungen gesucht, etwa dem geistlichen Spiel. Und die Autobiographik der Zeit bewerkstelligt den „Weg zum Sozialen" durch die Rückkehr zur Gattungskonvention. Immer weist der innovative Text zunächst den Kommunikationsbedarf des Lesers ab; der konventionellere Text stützt sich auf einen längst hergestellten Konsens. 4 9 Auf diese Übereinstimmung muß sich der Autor verlassen können, wenn er seine Selbstbild nun nicht mehr durch das solipsistische „Centrumsgefühl" bestimmen darf. Diese Verschiebung trägt zur Neuen Sachlichkeit der Autobiographie bei, worunter nichts an-
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deres zu verstehen ist als das traditionelle Gattungsmuster: Der Autobiograph muß verständlich bleiben, weil er über sich, aber nicht mehr für sich sprechen darf. Die autobiographische Kur des Ego geht aber bald über die bloße Selbsttherapie hinaus. Peter Altenbergs Werke hatten sich schon lange um die psychologische und praktische Hygiene des Ich gekümmert: Sie entwickelten eine Diätetik mit Ratschlägen zur Pflege des Schlafs, zur Kleidung, Ernährung und Verdauung. In seinem .Lebensabend' versteht sich Altenberg dann prinzipiell als Repräsentant der Vielen. Paradoxerweise wird der Außenseiter zum Stellvertreter, der Dichter zum altruistischen Tasso: Du stehst, Peter, also endlich, nach langen irrsinnigen Kämpfen, mit Dir selbst, und mit dem ganzen Leben überhaupt, soweit es sich auf Deine armselige und dennoch ach so komplizierte Persönlichkeit bezieht, vor Deinen eigenen unüberbrückbaren Abgründen! [ . . . ] In einer solchen Krise meines unglückseligen Daseins schreibe ich noch rasch diese Zeilen nieder, für die Anderen, für die Anderen, die ähnlich empfinden und rettungsbedürftig sind gleich mir ohne es leider aussprechen zu können gleich mir! [ . . . ] Das ist ein Dichter, sonst gibt es keinen, Einen, der die stumme Lebens-Last aller Anderen laut tönend auf sich nimmt, um zu retten1, zu helfen'.50
Dieses Textstück ist betitelt ,DER 13. DEZEMBER 1918, 5 UHR MORGENS'. Im Kontext von Krieg und Kriegsende steht auch Wassermanns Autobiographie, die auf die zeitgenössische antisemitische Propaganda reagiert. Auch Wassermanns Suche nach einer Identität als Deutscher und Jude mündet in die (indirekte) Selbstdefinition als Schriftsteller. Eine Stimme in dieser Auseinandersetzung zu haben, löst als Aufgabe des Autors die solipsistische Vereinzelung des Ästheten ab. Sich als Objekt der Geschichte zu verstehen und zugleich als erinnerndes Subjekt zu sprechen, wird zum Programm der Autobiographie. Das Ich ist nur zu retten durch ein Wort, das dem vermeintlichen Realitätsprinzip gerecht wird.
D. Das Aussetzen der Erinnerung In Schnitzlers Jugend in Wien' steht das erzählende dem erlebenden Ich kritisch genug gegenüber. Häufig ist die Rede von den einstigen Selbststilisierungen, von den „Posen". Aber auch schon im Bewußtsein des jungen Schnitzler kaschieren diese Posen eine tiefsitzende Unsicherheit. Eine Stelle aus dem Tagebuch des Dreiundzwanzigjährigen erscheint dem Auto-
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biographen „so charakterisch", daß er sie, nach mehr als drei Jahrzehnten, wörtlich zitiert: Es entwickelt sich was in mir, das so aussieht wie Melancholie, und doch, ich habe so 'ne gewisse Sympathie für den Menschen, der mein Ich repräsentiert, daß ich manchmal denken mag, es wär' doch schad' um ihn. [ . . . ] Ich muß gestehen: Meine Eitelkeit sträubt sich manchmal recht intensiv dagegen, wenn ich sehe, wie so 'ne ganze Menge von Leuten, die der Zufall, mein Lebens- und Studienwandel in meine Nähe, ja an meine Seite gebracht hatte, sich ganz verwandt mit mir fühlt und gar nicht daran denkt, daß ich vielleicht doch einer anderen Klasse angehören könnte. Fiel' einem von diesen (manchen recht lieben Leuten) durch Zufall dieses Blatt in die Hände, so dächt' er wohl, der Kerl ist doch arroganter, als ich bisher glaubte. [. . . ] Und am End' ist's wirklich nichts als eine Art von Größenwahn. . . (JiW 192) 5 1
Nicht zufällig, sondern sehr absichtlich präsentiert der Autobiograph dieses Blatt. Das schon damals schwach entwickelte „Centrumsgefühl" wird von der autobiographischen Position aus endgültig eingezogen; das arrogante Subjekt, das sich von seinem „Ich" bereits ironisch distanzierte, wird zum kritisch geprüften Objekt. Schnitzler versucht damit auch den teleologischen Zwang aufzulösen, der die Künstlerautobiographie unweigerlich determiniert. Immer wieder tut Schnitzler argumentativ sein Bestes, um die Konsequenz, mit der die Lebensbeschreibung auf den späteren Dichter hinausläuft, zu lockern: [ . . . ] mit dem, was ich hier schreibe, maße ich mir keineswegs an, die Entwicklung eines dichterischen Genius zu schildern, sondern die einer menschlichen Seele, in der künstlerische, dilettantische und mancherlei andere Elemente einander bedingten, störten und förderten. (JiW 46)
Mehrmals heißt es von den frühen dichterischen Versuchen, sie zeigten „kaum an irgendeiner Stelle das Vorhandensein eines wirklichen dichterischen Talents" (JiW 48); ob es möglich gewesen wäre, in ihnen „eine Ahnung von Eigenart zu entdecken oder sonst irgend etwas, was einen sich entwickelnden Künstler ankündigte, möchte ich beinahe bezweifeln" (JiW 73). Allerdings gelingt es Schnitzler eben nur „beinahe", die Prädestinationsdynamik der Autobiographie außer Kraft zu setzen. Schon die klassische Einteilung in sieben „Bücher" macht aus den chronologischen Lebensabschnitten Phasen einer zielgerichteten Entwicklung. Schnitzler folgt hier einer traditionellen Gliederung der Adoleszenz, den äußeren Daten der Bildungsgeschichte: Das erste Buch reicht bis zur Barmitzwe, das zweite bis zur Matura, das dritte bis zum ersten Rigorosum, das vierte bis
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zur Promotion. Dem dritten Buch fügt Schnitzler einen aufschlußreichen Kommentar an: Blickt man in vorgerückten Jahren auf sein Dasein zurück, so scheinen sich, wie Kapitel eines Romans, mit kunstgerechter Absicht voneinander geschieden, die einzelnen Abschnitte aneinanderzureihen. Aber kaum an einem anderen Punkt vermag ich diesen Scheidestrich mit solcher Entschiedenheit zu ziehen, als im Sommer des Jahres 1882 [ . . . ] . (JiW 138)
„Kunstgerecht" und analog zum Roman verläuft die autobiographische Schilderung; Schnitzler scheint sich über die fiktionale Qualität der Gattung durchaus im klaren zu sein. Der Literarisierung der Lebensgeschichte kommt außerdem die Ambition des erzählten Ich zupaß, sich das „Leben" episch zu stilisieren. Zur Beendigung einer Kurzaffaire bietet sich ein ,,novellistische[r] Abschluß" an; die Wiederbegegnungen mit Olga Waissnix heißen ,,neu[e] Kapitel", in Anspielung auf die frühe Gewohnheit, „unser beginnendes Verhältnis novellistisch einzuteilen" (JiW 144,229). Der Dramatiker Schnitzler verzichtet als Autobiograph natürlich auch nicht auf die theatralische Inszenierung von Erinnerungen, wobei sich der Topos vom Leben als Schauspiel bewährt: Die Landschaft wird „gleichsam zur Kulisse", ein Bekannter zur „Episodenfigur", das Schicksal wartet aufs „Stichwort" (JiW 161,167,143). Die Autobiographie verbindet so einzelne Akte oder aber Romankapitel zu literarisch plausiblen Zusammenhängen und suggeriert die Finalität der biographischen Stationen. Indem die immanente Logik der Gattung einzelne Lebenszustände zu „Etappen einer notwendigen Entwicklung" macht, wirft sie einen „Profit an Kohärenz und Notwendigkeit" ab; sie macht aus einem Leben eine schlüssige und bedeutungsvolle Erzählung, was nach Pierre Bourdieu eine „Illusion der Rhetorik" genannt werden kann. 52 Schnitzler hat diese Illusion zwar durchschaut, setzt sie aber scheinbar unbefangen weiter ein. Mitunter verstärkt Jugend in Wien' die rhetorische Konsistenz der Lebensgeschichte sogar durch so gravitätisch-barocke Allegorien wie die „Fahrt über dunkle Lebensfluten" oder das „Buch des Schicksals", in dem zukünftige Ereignisse „vorgezeichnet" sind (JiW 192,315). In diesen schicksalsträchtigen Zusammenhang gehört auch die Vorstellung vom „rechten Weg", auf die sich Schnitzler durchaus einverstanden bezieht; an der prädestinierten Bestimmung, „zu werden, was ich werden sollte", gibt es offenbar keinen Zweifel (JiW 3 2 2).53 Trotz aller skeptischen Relativierungen bricht Schnitzler also keineswegs radikal mit den Überein-
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Denkmäler des Lebens
künften der Gattung; auch ihm geht es immer noch um das „Postulat des Sinns der erzählten Existenz".54 In diesen konventionellen Rahmen der Autobiographie stellt Schnitzler aber eine Art von Metatexten, die der Gattung ganz entschieden zuwiderlaufen. „Man hat es so leicht, seine Erinnerungen zu schreiben, wenn man ein schlechtes Gedächtnis hat", heißt es in Schnitzlers .Kleinen Sprüchen' (AB 131); Raoul Auernheimer hat dieses Diktum in seiner eigenen Autobiographie ironisch angeführt. 5 5 Und in den Notizen zu .Leben und Nachklang' spricht Schnitzler von den Schwierigkeiten, die seinem tiefen „Bedürfnis in diesen Blättern wahr zu sein" entgegenstehen; das sind vor allem „Gedächtnisfehler" und „Erinnerungstäuschungen" (JiW 323). Kunst wäre es also, sich gut zu erinnern. Noch viel einschneidender als seinen künstlerischen Werdegang stellt Schnitzler aber seine betreffende autobiographische Eignung in Frage, und die Häufigkeit, mit der er das tut, ist frappant. Jugend in Wien' wirkt passagenweise nicht wie ein Buch der Erinnerung, sondern wie eines des Vergessens. In immer gleichbleibenden Formeln ist die Rede von Vorfällen, die „mir vollkommen entschwunden", „mir völlig aus dem Gedächtnis geschwunden" sind, von denen „ich in meiner Erinnerung nichts wiederfinde" (JiW 125,219,234). Diese Archäologie des Ich zeitigt nicht nur Bruchstücke sie hat es auch mit irreparablen Schäden, mit unwiderruflichem Schwund und mit endgültigen Verlusten zu tun. Penibel werden Personen erwähnt, „deren Erscheinung mir nicht im Gedächtnis verblieben ist", oder an die „ich überhaupt keine Erinnerung bewahrt" habe (JiW 149, 283). Schnitzler spricht von einem Onkel, „dessen ich mich übrigens durchaus nicht zu erinnern vermag"; von einem Fräulein Rosa, das „mir völlig aus der Erinnerung verschwunden" ist; von einer Malvine, „die mir so völlig aus dem Gedächtnis geschwunden ist, als wäre ich ihr nie begegnet" (JiW 55,181,322). Diese paradoxe Rede des Autobiographen ist überhaupt nur möglich, weil Schnitzler die Lebensgeschichte offenhält für andere biographische Dokumente, Briefe und Tagebücher. Sie markieren erst die Defizite der Erinnerung. Unter den vielen Vergessenen ist eine Clara, „von deren Existenz ich keine Ahnung mehr hätte, fände ich ihren Namen in meinem Tagebuch nicht verzeichnet"; eine Helene wurde besucht, „wie ich nur mehr aus ihren noch vorhandenen Briefen entnehme" (JiW 230,261). Auch und gerade, was seine dichterischen Anfänge betrifft, unterstreicht Schnitzler nicht die Kontinuität seiner Entwicklung, sondern die Diskontinuität seiner Erinnerung. Dabei geht er
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mit der Registratur der Lücken in jedem Sinn weit. An einer Stelle mutet er dem Leser eine lange Liste von Dramen zu, die noch im Untergymnasium entstanden seien und die er „der Kuriosität halber" einrücken will: „,Die Loreley', eine Tragödie in fünf Akten und einem Vorspiel; - ,Der chinesische Prinz' in vier Bildern; - ,Die Loreley' (nochmals) in zwei Abteilungen; - ,Gold und Ehrlichkeit', ein Märchen in vier Aufzügen (in reimlosen Jamben); - .Königin Himmelblau', Märchen in vier Akten", und so fort durch insgesamt sechzehn Titelangaben. Von diesen Stücken, fährt Schnitzler fort, seien nur zwei erhalten geblieben: „Von den andern wüßte ich mich der wenigsten zu erinnern, wenn ich nicht das Verzeichnis aufbewahrt hätte" (JiW 46f.). Der Leser wird also in Kenntnis gesetzt von Texten, die weder materialiter noch im Gedächtnis des Autors mehr existieren; die Formalisierung der Erinnerung bzw. ihres Versagens wird noch um eine Stufe bis zu den leeren Namen vorangetrieben. Vorhanden ist einzig noch die Liste, die aber nicht mehr das Einsetzen, sondern das Ausbleiben der Erinnerung bezeichnet. Der archivalische Furor Schnitzlers, die fast übertriebene Sorgsamkeit, mit der Dokumente, Briefe und Tagebücher aufbewahrt wurden, beruhte natürlich auch auf der Einsicht, wie prekär die Verläßlichkeit der „freien" Erinnerung ist: „Um zu erinnern, ist man gezwungen aufzuschreiben, was man wahrscheinlich vergessen wird". 56 Aber die vorausliegenden Lebensdokumente liefern nicht einfach Stoff, der bloß autobiographisch umgeformt zu werden braucht; sie setzen zwar die Gedächtnismaschine der Autobiographie in Gang, die das Material zu sinnvollen Zusammenhängen verarbeitet, aber sie zeigen auch die Löcher, die die Maschine reißt, wenn ihr Antrieb nicht einwandfrei funktioniert. Damit scheinen diese Litaneien der Vergeßlichkeit die Autorität des Autobiographen völlig zu untergraben. Was für ein Leben könnte noch kontinuierlich geschrieben werden, wenn die Erinnerung nur nur noch brüchige Trümmer davon übrig läßt? Hier findet Schnitzlers entschiedenste Auseinandersetzung mit der Gattung statt: Erinnerungen löschen aus, und sie sind unwahr. Schnitzlers Absichtserklärung, „meine Erinnerungen völlig wahrheitsgetreu aufzuzeichen", muß er sofort durch den Zusatz einschränken: „soweit die Wahrheit der Erinnerungen überhaupt in unserer Macht liegt" (JiW 324). Gleichwohl gibt sich der „Doppelgänger" Freuds keine psychoanalytische Lizenz, entsprechende Verdrängungsmechanismen als unvermeidlich einfach vorauszusetzen. Diese naheliegende Lösung wird sarkastisch verweigert: Auf die Schilderung einer erotischen
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Niederlage - das Mädchen entscheidet sich für seinen Freund - folgt die obligate Feststellung, die Fortsetzung dieser Liebesgeschichte „nie erfahren" oder „vielleicht nur vergessen" zu haben: Eine neuere Psychologenschule würde kaum umhin können, hier die unbewußte Verdrängung einer mir unangenehmen Tatsache zu vermuten; - sollte diese Vermutung sich bewahrheiten, so bedauere ich nur, daß ich nicht verstanden habe, mein Verdrängungstalent im Laufe der Jahre weiter auszubilden. (JiW 116)
Denn seine Gedächtnislücken hält Schnitzler nicht für eine Folge der Seelenhygiene, die obsolete Inhalte ins Unbewußte verschwinden läßt. Sie sind viel mehr: ein Nachlassen der Fähigkeit, die das Ich überhaupt erst konstituiert, nach der Formulierung Mauthners: „Gedächtnis ist unser Ich, Gedächtnis allein ermöglicht uns, unser Ich der übrigen Welt gegenüberzustellen". 57 Darüber hinaus ist bei Schnitzler das Ich des Autobiographen auf die moralische Anstrengung der Erinnerung doppelt verpflichtet. Deshalb geht die Autobiographie über die Ausfälle des Gedächtnisses nicht einfach hinweg, sondern verzeichnet sie so akribisch; die Lebensgeschichte darf an diesen Stellen nicht nichts enthalten, sondern sie m u ß das Fehlen, den Mangel angeben. Indem Schnitzler die Lücken der Erinnerung, das Scheitern des Gedächtnisses markiert, ist der Gegenstand seiner Autobiographie tatsächlich nicht wiedererweckte Vergangenheit; sie handelt von der Gedächtnisarbeit, von der Mnemotechnik, die nicht das erinnerte Ich, sondern das erinnernde Ich identifiziert. Diese Identifikation verläuft nicht mehr über die Fiktion der Gedächtnistreue, die den Autobiographen zum Souverän seiner Erinnerungen stilisiert; das Ich, der Autor, steht für einen, der statt dessen mühsam verlorene Gedächtnisinhalte rekonstruiert. Darauf beruht Schnitzlers keineswegs jubilatorisches Geschäft des Autobiographen. Sein lebensgeschichtliches Programm sieht für den Verfasser wie für den Leser Strapazen vor; es übt die harte Arbeit des Erinnerns ein. Deshalb hat Marcel Reich-Ranicki also doch recht: Das Thema der Jugend in Wien' ist in der Tat nicht der junge Schnitzler. Das Thema des Buches ist die Gedächtnisleistung des alten. Schnitzler stützte seine Lebensgeschichte auf die Autorität der Gattung; aber er brauchte ihre Dignität nicht, um seine Vita bedeutungsvoll abzurunden. Die Bedeutung liegt nicht im gelebten Leben; sie liegt in der Mühe, die sich der Autobiograph mit seinen Erinnerungen gibt.
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Anmerkungen 1 Marcel Reich-Ranicki: Eine fragwürdige Selbstinszenierung [1968]. In: Ders.: Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. M ü n c h e n : Piper 1977, S. 2 2 - 2 8 , S. 22. 2 Zu einer völlig anderen Einschätzung kommt Hartmut Scheible. Er liest J u g e n d in Wien' als „Parodie" und „Anti-Autobiographie"; die Gattung parodiere sich selbst. Scheibles Kriterien sind der ironische Beschreibungsstil, die Beschleunigung des Erzähltempos, welche die Vergänglichkeit nicht bannt, sondern vorzeigt, und die Diskretion, mit der das Ich des Autobiographen im Hintergrund bleibt (Diskretion und Verdrängung. Zu Schnitzlers Autobiographie. In: S c h e i b l e (Hrsg.), Arthur Schnitzler in neuer Sicht, S. 2 0 7 - 2 1 5 ) . - Alle drei Verfahren wären allerdings durch Gegenbeispiele zu ergänzen und b l e i b e n außerdem durchaus noch im Rahmen klassischen autobiographischen Erzählens. 3 Vgl. Volker Hoffmann:
Tendenzen
in
der d e u t s c h e n
autobiographischen
Literatur
1 8 9 0 - 1 9 2 3 . In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. v. Günter Niggl. Darmstadt: W i s s e n s c h a f t l i c h e Buchgesellschaft 1 9 8 9 ( = Wege der Forschung 565), S. 4 8 2 - 5 1 9 , S. 4 8 9 . 4 Eintragung v. 2 4 . 5 . 1 9 1 5 (TB). 5 Peter Altenberg: Mein Lebensabend. Berlin: S. Fischer 1919, S. 1. 6 Hoffmann, Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur, S. 505. 7 Peter von Matt: . . . fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des m e n s c h l i c h e n Gesichts. M ü n c h e n : Hanser 1983, S. 63. - Matt weist allerdings drauf hin, daß Goethe nicht nur in seiner Autobiographie - „der weltliterarisch erste [war], der das Fragmentarische zum tatsächlichen Formelement macht". 8 Hermann Bahr: S e l b s t b i l d n i s . Berlin: S. F i s c h e r 1 9 2 3 , S. 3 (vgl. J o h a n n Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. M ü n c h e n : dtv 1982 ( = Hamburger Ausgabe 9; Autobiographische Schriften I), S. 9). 9 Ebda. 10 Ebda., S. 3f. 11 Ebda., S. 4. 12 Tagebucheintragung v. 1 9 . 9 . 1 9 0 5 ; zit. n a c h Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft. Salzburg: Residenz 1962, S. 119. - Vgl. Rieckmann, Aufbruch in die Moderne, S. 183. 13 Bahr, Selbstbildnis, S. 4; Hervorhebung von mir. 14 Ebda., S. 5; Hervorhebung von mir. 15 Raoul A u e r n h e i m e r : Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse u n d B e k e n n t n i s s e . Wien: Ullstein 1948, S. 51. 16 Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt: S. Fischer 1960, S. 90. 17 Stefan Grossmann: Ich war begeistert. Eine Lebensgeschichte. Berlin: S. Fischer 1930, S. 9. 18 Roy Pascal: Die Autobiographie als Kunstform [1959], In: Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie, S. 1 4 8 - 1 5 7 , S. 150. 19 Vgl. John T. Blackmore: Three Autobiographical Manuscripts by Ernst Mach. In: Annals of S c i e n c e 35 (1978), S. 4 0 1 - 4 1 8 .
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D e n k m ä l e r des L e b e n s
20 Zit. nach Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt: Suhrkamp 1 9 8 7 , S. 263. 21 Ebda. 22 Ebda., S. 264. 23 Eintragung (TB). 24 Eintragung v. 8 . 1 . 1 9 1 6 (TB). 25 Nachlaß ULC, Mappe 111, S. 38 (dat. 3 0 . 1 0 . 1 9 1 5 ) ; vgl. D II,774f. 26 Vgl. dazu Kucher, Ein dramatischer Abgesang auf eine abgelebte Welt, bes. S. 91. 27 Glogauer, Die Signifikanz von Arthur Schnitzlers Vers- und Prosasprache, S. 277. 28 Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. 10. 29 Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 9. 30 Hank, Mortifikation und Beschwörung, S. 208. 31 Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. 23. 32 Faust, Vs. 6 7 9 4 . 33 Hermann Bahr: Das unrettbare Ich. In: Neues Wiener Tagblatt v. 1 0 . 4 . 1 9 0 3 ; Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, S. 690f. 34 Brief v. 1 3 . / 1 5 . 5 . 1 8 9 5 (HvH-RBH 47f.); vgl. Hank, Mortifikation und Beschwörung, S. 152f. 35 Leo N. Tolstoj: Lebens-Stufen [iis. v. Raphael Löwenfeld]. Berlin: Richard Wilhelmi 1 8 9 1 ( = Gesammelte Werke 1); ,Das Knabenalter' [1854], S. 88. - Vgl. Raphael Löwenfeld: Leo N. Tolstoj, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung. Tl. 1. Berlin: Richard W i l h e l m i 1 8 8 2 , S. 39. - Vgl. auch M a x Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin: Carl Duncker 1892f., Bd. 1, S. 257f. (Nordau sieht in Tolstojs „fixer Idee" natürlich ein Stigma der „höhern Entartung"). - Schnitzler vermerkt die Lektüre von „Tolstoi Memoiren" am 3 . 8 . 1 9 0 1 (TB). 36 Bahr, Das unrettbare Ich (Hervorhebung von mir). - Vgl. Karl J o h a n n Müller: Das Dekadenzproblem in der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende, dargelegt an Texten von Hermann Bahr, Richard von Schaukai, Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 1 9 7 7 ( = Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 28), S. 48. 37 In: Hermann Bahr: Inventur. Berlin: S. Fischer 1 9 1 2 , S. 3 6 - 5 0 , S. 4 3 (Hervorhebung von mir). 38 Faust, Vs. 6 7 9 3 . 39 Ebda., Vs. 6817f. 4 0 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin: S. Fischer 1 9 2 1 , S. 7f. 4 1 Aufzeichnungen aus dem N a c h l a ß 1912 (RA 111,512). 42 RA 600, vgl. GD I,48f. (hier: „o ich lerne!"). 43 Grossmann, Ich war begeistert, S. 15. 4 4 Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, S. 6 7 3 . 45 „Nicht ungestraft habe ich meine Kindheit und m e i n e erste Jünglingszeit in einer Atmosphäre verbracht, die durch den sogenannten Liberalismus der 60er u n d 70er Jahre bestimmt war. Der eigentliche Grundirrtum dieser W e l t a n s c h a u u n g s c h e i n t mir darin bestanden zu haben, daß gewisse ideelle Werte von vornherein als fix und unbestreitbar
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angenommen wurden, daß in den jungen Leuten der falsche Glaube erweckt wurde, sie hätten irgendwelchen klar gesetzten Zielen auf einem vorbestimmten Wege zuzustreben, um dann ohneweiters ihr Haus und ihre Welt auf sicherem Grunde aufbauen zu können" (JiW 325). - „Unsere Epoche eine entsagende, ablehnende. Große Forderungen, denen wir nicht nachkommen, in der Ferne. Über das Wohinaus eine allgemeine Unklarheit. Kein Gegenwartssinn, Verlogenheit, resultiert zumeist aus dem fortgesetzten ehrerbietigen Gebrauch von Begriffen, denen eine lebendige Achtung versagt ist" (Aufzeichnung Hofmannsthals v. 1895 [RA 111,403]). 46 Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904], M. e. Nachwort hrsg. v. Gotthart Wunberg. Tübingen: Niemeyer 1974 ( = Ausgewählte Schriften I; Deutsche Texte 29), S. 181. 47 Bahr, Selbstbildnis, S. 262. 48 Ebda., S. 223, 262. 49 Zur Autobiographie vgl. Philippe Lejeunes Berufung auf Hans Robert Jauß, in: Der autobiographische Pakt [üs. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig]. Frankfurt 1994 ( = Aesthetica; es 1896), S. 379, 390f. 50 Altenberg, Mein Lebensabend, S. 352f. 51 Vgl. Eintragung v. 7.5.1885 (TB); die Wiedergabe in Jugend in Wien' weicht in Orthographie und Interpunktion teilweise ab. 52 Pierre Bourdieu: Die Illusion der Biographie. Über die Herstellung von Lebensgeschichten [üs. v. Friedrich Balke]. In: Neue Rundschau 102/3 (1991), S. 109-115, S. llOf. 53 Schnitzler gibt hier eine abgemilderte Version von Zarathustras Existenz-Auftrag „Werde, der du bist" (Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 297). 54 Bourdieu, Die Illusion der Biographie, S. 110. 55 Auernheimer, Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit, S. 15, hier in der Fassung: „Es ist keine Kunst, seine Memoiren zu schreiben, wenn man . . .". 56 Den Satz aus Paul de Mans .Sign and Symbol in Hegel's Aestetics' zitiert Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man [üs. v. Hans-Dieter Gondek]. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 1988 ( = Edition Passagen 18), S. 77. - Weniger schön ist die Übersetzung in: Paul de Man: Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen [üs. v. Jürgen Blasius]. Hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt 1993 ( = es 1682), S. 39-58, S. 53: „Um etwas im Gedächtnis zu behalten, ist man genötigt aufzuschreiben, was man sonst wahrscheinlich vergessen wird." 57 Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, S. 578.
3. Typologie und Kontinuität: Der Geist im Wort Zu Weihnachten 1925 hatte Heinrich Schnitzler seinem Vater Jacob Burckhardts .Weltgeschichtliche Betrachtungen' geschenkt. Schnitzler begann sofort mit der Lektüre und registrierte, wie er dem Sohn schrieb, ein „lebhaftes Bedürfnis", sich mit Burckhardts Ansichten zu Krieg und Religion polemisch auseinanderzusetzen: Irgendwo ist eben jeder, wenn er ins philosophiren geräth, Dogmatiker - oder wenigstens Axiomatiker; - und die „Voraussetzungslosigkeit" wäre ja wieder ein Dogma. Man begreift daß sich so viele Gelehrte „wenn es Abend wird" - in den Glauben - retten - oder flüchten, oder einfach „sich glauben legen", - wie man sich nach einer mühseligen Wanderung ermüdet schlafen legt . . aber - „was in dem Schlaf für Träume kommen mögen . .". Lieber aus Zweifeln in Verzweiflung als aus Glauben - in „Verglaubung" was doch ein noch tristerer Zustand ist. - 1
Seinen lebenslangen Skeptizismus ließ sich Schnitzler auch von dem verehrten großen Historiker nicht beeinträchtigen. Wenig später war Schnitzler aber selbst mit dem Abschluß einer Schrift beschäftigt, deren Dogmen oder wenigstens Axiome die zeitgenössische Kritik ein wenig verwirrt zur Kenntnis nahm. ,Der Geist im Wort und der Geist in der Tat' entwarf eine Art philosophisch-anthropologischen Schematismus; tatsächlich war er aus „graphischen Darstellungen" 2 entstanden. In zwei Diagrammen sollten „Urtypen des menschlichen Geistes" (AB 136) aufgezeichnet werden. Diese Urtypen entsprechen angeborenen und unveränderlichen „Geistesverfassungen". Schnitzler trennt sie scharf von „Begabungen" (wie Grausamkeit oder Güte) und „Seelenzuständen" (wie Mißtrauen oder Enthusiasmus), die nach dem Grad ihrer Veränderlichkeit gereiht werden; die Geistesverfassung hingegen gilt als das „tiefste Element der Persönlichkeit" (AB 166). Das Gebiet des Geistigen, nach Wort und Tat geschieden, wird jeweils durch zwei spiegelverkehrte Dreiecke bezeichnet. Das obere zeigt ins Positive, zum ideellen Pol „Gott", das untere zum „Teufel"; und an den Schenkeln dieser Dreiecke findet sich die Typen, welche die Geistesverfassungen repräsentieren: Priester und Dichter zum Beispiel, Feldherr und Held. Jeder dieser Typen hat dann, im unteren Dreieck, seinen negativen Gegentypus, der Priester den Pfaffen, der Dichter den Literat, der Feldherr den Diktator, der Held den Schwindler. In den Entwürfen hat Schnitzler die Dreiecksflächen noch mit entsprechenden Eigenschaften ausgefüllt, wie Wahrheit versus Lüge, Gerechtigkeit versus Parteilichkeit, Stolz versus Überheblichkeit. Obwohl
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3. Typologie u n d Kontinuität: „Der Geist im Wort" DER GEIST IM W O R T
STAATSMANN
PRIESTER
PHILOSOPH
·
PFAFFE '
POLITIKER
NATURFORSCHER (Heilkiinstler)
HISTORIKER (Kontinualist) (Gcschichtschreibcr)
,· JOURNALIST (Aktualist) (Tagschrcibcr)
BRÜCKENBAUER (Mathematiker) SPEKULANT
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SEEFAHRER • (Entdecker) ABENTEURER