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German Pages [208] Year 1987
VÔR
ERNST FEIL
Antithetik neuzeitlicher Vernunft „Autonomie - Heteronomie" und „rational - irrational"
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÜTTINGEN
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 39
CIP-Kurztitelaufiiahme
der Deutschen
Bibliothek
Feil, Ernst: Antithetik neuzeitlicher Vernunft : .Autonomie - Heteronomie" u. „rational - irrational" / Ernst Feil. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1987. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte ; Bd. 39) ISBN 3-525-55146-0 NE: G T
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G W o r t © 1987 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: H u b e r t & Co., Göttingen.
Inhalt Vorwort
7
Einführung
9
I „Autonomie - Heteronomie"
1
25
Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch: „Autonomie " als fundamentaler und universaler Begriff
25
2
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
32
3
„Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
44
3.1
Erste Formulierung der Antithese in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" 3.2 „Autonomie" als politischer Begriff 3.3 „Autonomie" als philosophischer Begriff 3.4 „Autonomie" und das Postulat des Daseins Gottes Exkurs
4 4.1 4.2 4.3
5
Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie" nach Kant Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel Auseinandersetzungen mit Kant: Reinhold - Baader Zusammenfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte 19. Jahrhundert
44 48 51 63 69
73 73 82
im
Zusammenfassung
88
105
Konsequenzen
111
II „rational - irrational"
113
1 2
Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch: Die Antithese „rational - irrational" im polemischen Gebrauch . . .
113
Zur ursprünglichen Bedeutung und Begriffsgeschichte von „ irrational"
118
6
Inhalt
3
Übergänge 1800
zu metaphorischem
Gebrauch
von „irrational"
um
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Friedrich Schlegel Johann Gottlieb Fichte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Unveränderter Gebrauch von „irrational" bis nach 1850: Hegel und Schopenhauer
127 128 131 138 146 150
Zusammenfassung und Ergänzung
155
4
„Irrational" als häufiger und zentraler Terminus nach 1850
157
4.1 4.2
Kuno Fischer Zur weiteren Entwicklung von „irrational" bis nach 1900: Windelband und Rickert
158 164
Zusammenfassung und Weiterführung 5 5.1 5.2
Belangreiche Positionen fur den gegenwärtigen Sprachgebrauch
169 wissenschaftlichen
Max Weber Karl R. Popper
Zusammenfassung 6
Ergebnisse
6.1
Vorschläge für den gegenwärtigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch Kritik des Irrationalismus-Vorwurfs gegen einen theologischen Glauben
6.2
176
Namenregister
176 186 .
192 192 192 197 201
Vorwort Die Untersuchungen der Antithesen „Autonomie - Heteronomie" und „rational - irrational" entstanden im Zusammenhang mit Studien zu neuzeitlichen Konstellationen von „Glaube - Vernunft - Religion". Es bedarf keines Beweises, daß diese Termini fundamentale Bedeutung f ü r das Selbstverständnis der Neuzeit haben. Betrachtet man sie des näheren, stellt sich heraus, daß sie keine Trias, sondern gleichfalls einen Gegensatz bilden, nämlich den von „Vernunft" und „Glaube". Die Religion befindet sich einmal auf Seiten der „Vernunft" (Immanuel Kant), ein andermal auf Seiten oder gar anstelle des „Glaubens" (Rudolf Otto). Nach ersten Arbeiten zu dieser neuzeitlich grundlegenden Antithese „Vernunft - Glaube" unter Einbeziehung von „Religion" schien es sinnvoll, zwei Projekte vorwegzunehmen. Einmal bedurfte die Bearbeitung von „Religion" in der Neuzeit mehr als eine solche von „Glaube" und „Vernunft" einer Klärung der Vorgeschichte dieses Terminus; denn während es zu beiden letzteren Begriffen immerhin gewisse Einblicke gab, waren entsprechende genauere Analysen zum Terminus „religio" zu Beginn der Studien nicht bekannt. Das Ergebnis dieser Arbeiten wird in dem Band „Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation" zugleich mit der hier vorgelegten Arbeit in dieser Reihe erscheinen. Zum anderen erwies es sich als aufschlußreich, zunächst der Frage nachzugehen, warum überhaupt neuzeitlich Antithesen im Kontext der „Vernunft" so fundamental geworden sind, daß der grundlegende Gegensatz „Vernunft - Glaube" durch andere weitergeführt bzw. präzisiert worden ist. Um diese Frage zu beantworten, wurden die beiden Antithesen „Autonomie - Heteronomie" und „rational - irrational", die besonders instruktiv zu sein versprachen, genauer untersucht. Das Ergebnis dieser Nachforschungen wird hiermit vorgelegt. Die Studie „Autonomie - Heteronomie" ist in ihren Kant betreffenden Teilen schon in der Freiburger Zeitschrift f ü r Philosophie und Theologie 1982 erschienen; sie wurde f ü r die jetzige Veröffentlichung durchgesehen und speziell durch die Darlegung des juristischen Sprachgebrauchs sowie .durch die Rezeptionsgeschichte erweitert. Die anschließend erarbeitete Studie „rational - irrational" wird hier erstmalig veröffentlicht. Bei der Erarbeitung dieser Untersuchungen habe ich manche wichtige Hilfe erfahren. Vom Philosophischen Seminar der Universität Bonn erhielt ich die Stellen zu Kant. Am Thesaurus Linguae Graecae der Univer-
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Vorwort
sity of California sowie am Lessico Intellettuale Europaeo in Rom ließ sich bestätigen, daß bislang „Heteronomie" nicht vor Kant und „irrationalis" bis ins 18. Jh. als Terminus technicus nur in mathematischer Bedeutung nachgewiesen werden konnten. Beim Nachweis sowie bei der Uberprüfung der Belege haben mir in besonderem Maße Thomas Luksch, Johann N. Häußler und Gabriele Bauer geholfen. Wichtige Hinweise zur Ästhetik Kants erhielt ich von Dozentin Dr. Renate Homann. Der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort unterstützte auch die Veröffentlichung dieses Bandes durch einen Druckkostenzuschuß. Ihnen sowie meinen früheren und jetzigen Mitarbeitern und allen, die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben, sage ich meinen herzlichen Dank. Gilching, im März 1986
Ernst Feil
Einführung Antithetik als Charakteristikum neuzeitlicher Vernunft Als Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen dienen zwei Annahmen: Einmal stellen die Antithesen „Autonomie - Heteronomie" und „rational - irrational" keineswegs beliebige oder periphere Explikationen des fundamentalen Gegensatzes von „Vernunft" und „Glaube" dar. Zum anderen besitzt letzterer, der sich in den zuvor genannten wie in vielen anderen auslegt, eine so zentrale Bedeutung, daß von einer Antithetik neuzeitlicher Vernunft gesprochen werden kann. Daß dem so ist, soll zunächst kurz erläutert werden, ehe dann die beiden eingangs genannten Antithesen als solche untersucht werden. Als Indiz für die Bedeutung der Antithese „Vernunft - Glaube" für die Neuzeit kann eine Feststellung von Georg Wilhelm Friedrich Hegel dienen. Bereits in einer frühen Schrift aus dem Jahre 1802 hat er vom „alten Gegensatz der Vernunft und des Glaubens" gesprochen 1 . Der Verweis auf dessen Alter bedeutet freilich nicht, diesen Gegensatz schon ein für allemal als identisch anzusehen, und auch nicht, ihn schon für unmittelbar einsichtig und einfachhin selbstverständlich zu halten. Dies geht aus den anschließenden Bemerkungen Hegels hervor, daß der „glorreiche Sieg" über den „Glauben" für die „aufklärende Vernunft" letztlich vergebens war, blieb doch sie selbst mitsamt dem „Glauben" als „Leichnam" auf dem Schlachtfeld, auf dem sie ihren Sieg errungen hat. Es ist überraschend, daß nicht die Frage nach einem genauen Verständnis dieser Antithese, sondern ihre Selbstverständlichkeit bis heute dominant blieb. Dabei hatte sich gerade Hegel darum bemüht, dieses gemeinsame Ende von „Vernunft" und „Glaube" zu vermeiden und d.h. aufzuheben, und zwar durch die Uberwindung der Gegensätzlichkeit beider. Damit hat er immerhin eine dringliche Aufgabe formuliert, wenn auch sein Lösungsvorschlag nicht epochemachend sein konnte. Statt sich jedoch der Intention Hegels anzuschlie1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802/03), Einleitung, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Hermann G l o c k ner, I, Stuttgart 1927, 277. H e g e l führt diesen Gegensatz bis zu den Griechen zurück, vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Einleitung, 2. Abschnitt, in: ebd. X V 3 6 f , 38.
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Einführung
ßen, wird die Antithese bis heute weithin aufrechterhalten, wobei die Überlegenheit, der endgültige Sieg der „Vernunft" und die ihm entsprechende Niederlage des „Glaubens" ebenfalls selbstverständlich scheinen. Festmachen läßt sich diese Dominanz der „Vernunft" an der Metapher vom „Richterstuhl der Vernunft", vor dem sich alles zu verantworten hat. Auch Gegner der Säkularisierungsthese werden nicht bestreiten können, daß in dieser Metapher jene theologische vom „Richterstuhl Gottes" bzw. vom „Richterstuhl Christi", die Paulus im Römerbrief (14, 10) bzw. im zweiten Korintherbrief (5, 10) formuliert hat, säkularisiert und somit ersetzt worden ist. Nicht von ungefähr findet sich die Metapher vom „Richterstuhl" oder vom „Gerichtshof der Vernunft" verschiedentlich bei Immanuel Kant 2 : D o c h stammt sie nicht von ihm. Zuvor hat sie schon Hermann Samuel Reimarus benutzt 3 . Und noch früher formuliert Francis Bacon: „ . . . w i r können uns nicht nach Gesetzen richten lassen, die wir eben selbst vor den Richtstuhl führen wollen" 4 , den selbstverständlich die Vernunft innehat. Wie wenig diese Metapher als selbstverständlich gelten darf, mag ein Hinweis auf Anselm von Canterbury zeigen. Bei ihm findet sich die aus dem gleichen Wortfeld stammende Aussage von der „ratio quae et princeps et iudex debet omnium esse quae sunt in homine" 5 . Denn so neuzeit2 „Richterstuhl der Vernunft" s. bei Immanuel Kant, Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen (1756), in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (später der Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910ff, I 469 (zur Zitationsweise Kants s. u. I 3.1 Anm.2); auf diesen Text verweist Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants, 42, s.u. I 2 Anm.31; vgl. auch die Aussage vom „inneren Richterstuhl", Kritik der praktischen Vernunft (1788), A 271; V 152. „Gerichtshof der reinen Vernunft" vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), BA 93; IV 443; vgl. die Aussage vom „Gerichtshofe der Vernunft" sowie „der menschlichen Vernunft", Uber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (1791), A 104; VIII 255; vgl. auch die vom „Gerichtshof im Inneren des Menschen", Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre (1798) A 101 f; VI 439, wo die Problematik dieser Metapher deutlich wird, kann der Mensch doch nicht einfach selbst zugleich adäquat Angeklagter und Richter sein; im Text spricht Kant von Gott als einem „über alles machthabende(n) moralische(n) Wesen".
Darüber hinaus verwendet Kant bereits sehr früh die Metapher vom „Richterstuhle der Wissenschaften", Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747); 18. D a ß Kant selbstverständlich die ursprüngliche Metapher von Gott als „Richter" kennt, belegt eine Anmerkung in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Β 231 / A 217; VI 154. 3 Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre (1756), reprogr. Neudruck München 1979, 43, freilich auch hier nicht einfach verabsolutiert. 4 Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften (1620), übersetzt und hg. von Anton Theobald Brück (1830), reprogr. Neudruck Darmstadt 1962, 31. (Im Original heißt es „vor dem Richtstuhl".) s Anselm von Canterbury, Epistola de incarnatione verbi 1, zit. bei Klaus Kienzier, Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury, Freiburg 1981, 28.
Einführung
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lieh diese Formulierung gelesen werden kann, Anselm hat sie sicher nicht in diesem Sinne einer Unterordnung oder gar Unterwerfung des „Glaubens" unter die menschliche „Vernunft" verstanden. Solange es auch in der Neuzeit noch Menschen gibt, die, selbst wenn sie dieser nicht als gleichzeitig, sondern als rückständig erscheinen mögen, von einem „Richterstuhl Gottes" ausgehen, existiert faktisch die Antithese zum „Richterstuhl der Vernunft". Diese „Vernunft" hat sich also keineswegs uneingeschränkt als letzte Instanz durchsetzen können, so verbreitet sie auch als solche angesehen werden mag. Es ergibt sich somit der merkwürdige Befund, daß f ü r die Neuzeit, wenn auch nicht mehr seitens führender Wissenschaftstheoretiker, so doch immer noch vielfach bei Autoren, die f ü r sich aufgeklärtes Bewußtsein in Anspruch nehmen, die „Vernunft" allein als Fundament und Orientierung menschlichen Lebens und Zusammenlebens, Handelns und Denkens verläßlich erscheint, nicht aber ein „Glaube". Dieser Verläßlichkeit tut es, wie gesagt wird, keinen Abbruch, daß sich etwa f ü r die Aufklärung des 18.Jh. nicht angeben läßt, worin denn diese „Vernunft" besteht, was merkwürdigerweise als „gar nicht verwunderlich" gilt 6 . Im Gegenteil, unter Berufung auf die neuzeitliche „Vernunft" halten sich bis heute aufschlußreiche Pauschalurteile, etwa, daß „die berühmte tausendjährige Pause in der Geschichte des autonomen Denkens" zu Ende ging, als das Christentum der neuen Physik im 17. Jh. geistig unterlag 7 . Da Denken, das diesen Namen verdient, „autonomes Denken" sein muß, bleibt nur der Schluß, daß es im Jahrtausend des Christentums kein solches Denken gegeben hat, das ernstlich den Anspruch erheben darf, ein vernünftiges zu sein, noch nicht einmal bei jenen Apostaten, die wie Siger von Brabant wegen ihrer Konzeption einer philosophischen Wahrheit kirchlich gemaßregelt wurden. Für solche heute immer noch vertretenen und weithin wirksamen Positionen gilt der „alte Gegensatz der Vernunft und des Glaubens" insofern nicht mehr, als von „Glauben" seriös nicht mehr die Rede sein kann. D a ß dem nicht einfach so ist, muß am Ende dieser Einführung noch einmal aufgenommen werden; hier genügt der Hinweis, daß solche Simplifikationen inzwischen überholt sind. Zuvor aber soll anhand zweier anderer Entgegensetzungen deutlich gemacht werden, wie wenig Selbstverständnis und Selbstverständlichkeit neuzeitlicher Grundannahmen als gesichert gelten dürfen. 6 Jürgen Mittelstraß, N e u z e i t und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, 112 A n m . 7 7 , b e z o g e n auf die hier sog. „zweite Aufklärung"; „nicht verwunderlich" deswegen, weil es um eine „methodische Aufgabe" gehe, dergegenüber die „,inhaltlichen' Bestimmungen" eine „zweitrangige Frage" darstellen ! 7 Paul Lorenzen, Szientismus versus Dialektik, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, hg. von Manfred Riedel, II, Freiburg 1974. N i c h t weniger pauschal formuliert J. Mittelstraß, N e u z e i t , 76, die Kapitelüberschrift: „ D i e christliche Desorientierung der Vernunft".
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Einführung
Fundamentale Beispiele neuzeitlicher Antithetik Als erstes aufschlußreiches Beispiel kann das merkwürdige Verständnis der Neuzeit als „neu", als „Moderne" dienen. Die Bezeichnungen „neu" bzw. „modern" implizieren einen Gegensatz zu „alt". Schon die Selbstbezeichnung „Neuzeit" enthält somit einen Gegensatz. Die Problematik dieser Antithese besteht nicht darin, daß die Bestimmung „neu" jeweils nur transitorisch gebraucht werden kann. Denn auf die Dauer kann keiner Wirklichkeit die Bezeichnung „neu" beigelegt werden, wird doch jedes „Neue" unausweichlich „älter" und schließlich „alt", wobei hier offen bleiben kann, ob es damit schon „veraltet". Entscheidend für unseren Zusammenhang ist vielmehr, daß die Bestimmung „neu" etwas dem „Alten" Überlegenes bezeichnet und nicht einfach eine „Neuerung", die einen Verlust von etwas bewährtem „Alten" besagt; das „Neue" kann auch durch den Rekurs auf „Altes" initiiert werden. Tatsächlich läßt sich eine durchaus ambivalente Bewertungsmöglichkeit belegen. Denn die Antithese ist keineswegs selbst neu, und überdies galt ursprünglich nicht das „Neue", sondern das „Alte" als das Ausgezeichnete. Wie schwer es war, diese Wertung umzuwerten, mag zum einen eine Formulierung zeigen, in der das in unserem Verständnis historisch „Neue" als das geschichtlich gesehen „Alte" ausgezeichnet wurde. Diese Formulierung hat legitimatorische Bedeutung, nachdem in der Antike und weit über sie hinaus eben das „Alte" und näherhin die „Alten" eine Prävalenz vor dem „Neuen" bzw. den „Jungen" hatten. „ D a s g ü n s t i g e V o r u r t h e i l f ü r d i e A l t e n ist a b e r g a n z g r u n d l o s u n d s t e h t f a s t m i t d e m W o r t e s e l b s t in W i d e r s p r u c h . D e n n es g e b ü h r t d e m s p ä t e m A l t e r d e r W e l t , a l s o unsern,
u n d nicht jenen jüngern
Zeiten,
mündigem
worin die sogenannten
A l t e n lebten, d e r N a m e d e s A l t e r t h u m s . J e n e Z e i t ist in R ü c k s i c h t a u f d i e u n s r i g e z w a r älter, a b e r in R ü c k s i c h t d e r W e l t s e l b s t j ü n g e r . " 8
In dieser Aussage von Francis Bacon ist die Bemühung um die Umkehrung der Wertung noch offenkundig. Die hier vorgelegte gegenläufige Bestimmung von „jung" und „alt" macht deutlich, daß von „neu" nicht mehr in einem eschatologisch-chiliastischen Sinn die Rede ist9, der zuvor mit 8 Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, 62. - Die gleiche Argumentation findet sich schon bei Giordano Bruno, La cena de le Ceneri (1584), mitgeteilt bei Tilo Schabert, Gewalt und Humanität. Uber philosophische und politische Manifestationen von M o dernität, München 1978, 46. D a ß diese Umwertung noch einmal früher von Luis Vives (1493-1540) vorbereitet wurde, vgl. bei Elisabeth Gößmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung ( = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes N F 23), München 1974, 136. ' Vgl. die Aussagen zur Erneuerung bei Joachim von Fiore, mitgeteilt bei K o n r a d Burdach, Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation, in: ders., Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, Berlin 1918, 13-96, 50, und bei Cola di Rienzo, ebd. 26 f.
Einführung
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diesem Wort verbunden war. Zugleich aber müssen die „Alten", die bislang immer noch die eigentlichen Autoritäten waren, ihre frühere Bedeutung abgeben. In der Folge ist dann von „Neuzeit" grundsätzlich fast unbestritten positiv die Rede, wenn sich diese Umwertung auch nur sehr langsam und gegen viele Widerstände durchsetzte. Wie mühsam sie vor sich ging, läßt sich sodann an der Charakterisierung der Neuzeit als „Moderne" sehen, wie es inzwischen faktisch synonym mit „Neuzeit" heißen kann. Dieser im 5.Jh. erstmalig nachweisbare Begriff diente besonders zur Kennzeichnung der Gegenwart in Unterscheidung von der Antike, ohne aber ihr gegenüber einen Gegensatz oder eine Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen; bei Cassiodor (ca. 487-583?) werden als „moderni" etwa jene bezeichnet, die das Erbe der römischen Vergangenheit wieder aufleben lassen, so daß „modernus" und „novus" keineswegs identisch sind10. Im Mittelalter findet sich zwischen „modernus" und „antiquus" eine Entgegensetzung, wobei „modernus" als Bezeichnung der Gegenwart eine Unterlegenheit gegenüber den „Alten" bedeuten kann 11 . Offenbleiben kann hier, ob und inwieweit der Terminus „via moderna", der seit der Mitte des 14.Jh. als feste Bezeichnung des Nominalismus diente 12 , zugleich eine Bewertung, spezifisch die der Überlegenheit über die „via antiqua" zum Ausdruck brachte; allseits anerkannt war die „via moderna" ohnehin nicht, selbst wenn sie folgenreiche Auswirkungen weit über die „devotio moderna" hinaus hatte. Tatsächlich bedurfte es einer langen, noch nicht im einzelnen aufgewiesenen Entwicklung, bis die „Moderne" zugleich im Sinne des „Neuen" einen Vorrang über das „Alte" gewinnen konnte; erst gegen Ende des 17. Jh. dürfte durch Bernhard le Bovier Fontenelle (1657-1757) die Bezeichnung „Moderne" eine Ausprägung erhalten haben, die, freilich immer noch nicht unumstritten, eine Überlegenheit für sich in Anspruch nahm 13 . Von der Qualifikation „neu" ist natürlich auch der Terminus „Neuzeit" betroffen, der sich bemerkenswert spät, nämlich erst im 19. Jh. nachweisen
10 Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters ( = Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 4), Köln-Graz 1957, bes. 32, 34, 37 ff; Tilo Schabert, aaO. 42 ff. 11 W.Freund, Modernus, 54ff, auch 75. Vgl. hierzu Antiqui et moderni, hg. von Albert Zimmermann ( = Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin 1974; für den Humanismus vgl. August Buck, Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance ( = Grundlagen der Romanistik 8), Berlin 1976, 228-236: Die „Querelle des Anciens et des Modernes" in der Renaissance (mit weiterer Lit.). Vgl. auch die o. Anm. 8 g. Arbeit von E. Gößmann mit umfangreichen und instruktiven Materialien. 12 W.Freund, Modernus, 113; hierauf macht T.Schabert gar nicht aufmerksam. - Vgl. auch Gerhard Ritter, Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts (1922), reprogr. Neudruck Darmstadt 1963. 13 T. Schabert, Gewalt, 51 ff, 61 ff.
14
Einführung
läßt 14 . Er geht zurück auf die Bezeichnung „nova" bzw. „recens aetas" des Gisbert Voetius (1589-1676) oder „Historia nova", mit der Christoph Cellarius (1638-1707) den dritten Teil seiner Universalgeschichte überschrieb 15 , deren zwei vorausgegangenen Teile „Historia antiqua" und „medii aevi" benannt waren. D a ß sich mit dieser Ende des 17.Jh. erschienenen Darstellung der Geschichte deren Dreiteilung, wenn auch sehr langsam und mühsam, gegenüber einer von den Humanisten verwendeten Vierteilung 16 durchsetzte, hat f ü r unser T h e m a eine wichtige Bedeutung. Ging die Vierteilung auf die vor allem bei Hesiod und Daniel greifbare orientalische Abfolge der vier Weltalter zurück, benutzte die Dreiteilung die schon bei Rupert von Deutz (1075/80-1129/30) zu findende Auffassung von der Weltgeschichte als Entfaltμng der Trinität 1 7 sowie vor allem die Drei-Reiche-Spekulationen Joachims von Fiore (1130-1202). Im Gegensatz zu Joachim, der das Dritte Reich des Heiligen Geistes erst erwartete, erfolgte im 17. Jh. mit der Dreiteilung eine Historisierung dieses Dritten Reiches, das nun als bereits angebrochen angesehen wurde. Die U m f o r m u n g eschatologisch-chiliastischer Erwartungen in Geschichte ließ nun die eschatologische H o f f n u n g auch f ü r diese wirksam werden. Darin scheint der Vorzug der Dreiteilung gegenüber einer Vierteilung der Geschichte zu bestehen, deren mythische Entstehung und Verbindung mit einer deszendenten Geschichtsauffassung eine eher apokalyptisch-pessimistische Färbung bewirkt haben dürfte. Maßgeblich f ü r die „Neuzeit" war jedenfalls ein hoffnungsvoll erwartetes und herbeigesehntes „Neues", das überdies im Grunde mindestens als Idee und Ideal schon Gestalt angenommen hatte. Dieses kündigte sich freilich bereits in mittelalterlichem Denken und H o f f e n an, wie die H o f f n u n g auf eine Wiedergeburt (rinascita), eine renovado und reformatio zeigt, die Renaissance und Reformation bestimmte 18 . Im Optimismus der „Neuzeit" fand sie jedenfalls ihre Fortsetzung. Es kann hier auf sich beruhen bleiben, ob und ggf. in welchem M a ß e die Annahme einer „theoretischen Neugierde", wie H a n s Blumenberg vorschlägt, zu Recht zum Prinzip der Suche nach dem „Neuen" gemacht wor-
14
Reinhart Koselleck, .Neuzeit'. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten ( = Theorie), Frankfurt 1979, 3 0 0 - 3 4 8 , 302, nämlich erst bei Freiligrath 1870. 15 Bernd Moeller, Mittelalter, in: D i e Religion in Geschichte und Gegenwart IV, Tübingen 3 1960, 1024. 16 R. Koselleck, .Neuzeit', 318, mit dem Hinweis, daß die Vierteilung sich noch bis ins 18.Jh. hinein nachweisen läßt. 17 Arno Borst, Religiöse und geistige Bewegungen im Hochmittelalter, in: Propyläen Weltgeschichte, hg. von G o l o M a n n und August Nitschke, V, Berlin 1963, 4 8 9 - 5 6 1 , 532. 18 K. Burdach, Sinn und Ursprung der Woçte Renaissance und Reformation, mit reichen Materialien.
Einführung
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den ist 19 . D a jedoch nach der Erforschung der Erde eine „terra nova", von der schon Dante gesprochen hat 20 , im räumlichen Sinne nicht mehr gefunden werden kann, ist es verständlich, daß sie nun wieder zeitlich gesucht wird, wie die eschatologische Formulierung von der „neuen Erde" besagt. Zum Sachverwalter dieser Kategorie „novum" im zeitlichen, genauer im futurischen Sinne hat sich vor allem Ernst Bloch 21 gemacht, bei dem sich noch ungebrochen jene Faszination des „Neuen" zeigt, die ein Grundzug der „Neuzeit" sein dürfte. Diese Hinweise müssen genügen zu zeigen, daß die Zeit, die wesentlich durch die Annahme eines Gegensatzes von „Vernunft" und „Glaube" bestimmt ist, sich bereits in ihrer Selbstbezeichnung als „Neuzeit" antithetisch gegen das Vergangene als „neu" im positiven Sinne begreift und damit eine keineswegs selbstverständliche Bestimmung vornimmt. Dabei ist von geringer Bedeutung, daß als ihr Gegensatz die Vergangenheit überhaupt gilt und nicht mehr nur eine finstere Zwischenzeit, das „Mittelalter", eine Annahme, die sich bereits bei Petrarca finden läßt 22 . Die Antithetik ist jedenfalls dadurch gewährleistet, daß man sich selbst als in einer „neuen" Zeit lebend begriff 23 . Als zweites, nicht weniger signifikantes Beispiel kann die Charakterisierung der Neuzeit durch die „Selbsterhaltung" 24 oder „Selbstbehauptung", genauer „humane Selbstbehauptung" 25 angesehen werden. Auch diese 19 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, III: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, 201-432. 20 Ebd. 354, merkwürdigerweise wiedergegeben mit „unbekanntes Land". 21 Vgl. vor allem Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1970, am besten vielleicht in einem Selbstzitat, 1623, wo als die drei zentralen Kategorien des dialektischen Prozesses „Front, Novum, Materie" genannt sind, oder ders., Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt 1968, vgl. bes. 290, sowie die abschließenden Ausführungen, 346f, wo nunmehr „Front, Offenheit, Novum, letzte Seinsmaterie, Sein wie Utopie" als Perspektive der Welt genannt sind. 22 Zu Francesco Petrarca (1304-1374) vgl. Theodor E. Mommsen, Der Begriff des „Finsteren Zeitalters" bei Petrarca, in: Zu Begriff und Problem der Renaissance, hg. von August Buck ( = Wege der Forschung 204), Darmstadt 1969, 151-179, 169f, auf den R. Koselleck, .Neuzeit', 306, verwiesen hat. 23 R. Koselleck,,Neuzeit', 318. 24 Vgl. z. B. Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, in: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg. von Hans Ebeling ( = Theorie-Diskussion), Frankfurt 1976, 144-207. 25 Vgl. den Titel des 2.Teils von Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, bzw. ders., Säkularisierung und Selbstbehauptung ( = stw 79), Frankfurt 1974: Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung. - Zur Thematik in historischer Hinsicht vgl. Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck und Wolf Dieter Stempel ( = Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, 29-94, mit der Aussage, daß Selbsterhaltung erst seit Hobbes „ausdrücklich zur fundamentalen Kategorie wird", 39. Zu präzisieren ist, daß dieser Terminus im Lateinischen nicht
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Einführung
Charakterisierung impliziert eine Antithese, nämlich zur Erschaffung und Erhaltung der Welt, wie sie in der jüdisch-christlichen Tradition angenommen wird. Denn „Selbsterhaltung" und „Selbstbehauptung" dürften zwar primär die Erhaltung der Art bzw. des Individuums im Sinne eines Kampfes ums Uberleben meinen 26 und damit eine über Charles Darwin bis auf Aristoteles zurückgehende Konzeption widerspiegeln 27 ; doch erweisen sie sich bei genauerem Zusehen als Gegensätze zur „conservatio" der Schöpfung durch Gott 28 . Sie bedeuten eine Transformation theologischer Aussagen über die Erhaltung der Welt aufgrund der creatio continua, wobei sie unter Berücksichtigung bes. stoischen Gedankenguts eine alternative Konstitution neuzeitlicher Rationalität versuchen 29 . Mit dieser Konzeption sind jedoch die Probleme nicht gelöst, sondern viel eher erneut ausgelöst. Denn selbst wenn „.Selbsterhaltung' nur zum Prinzip eines neuen Denkens werden konnte, nachdem sie mit Struktur und Wirklichkeit von Selbstbewußtsein' zu einem Problemstand geworden war, so ist damit doch noch nicht viel erreicht, die Situation der Moderne zu überschauen und auf den Begriff zu bringen" 30 . Dieter Henrich ist zuzustimmen, wenn er nach einer geschichtlichen Bemerkung mit der Feststellung schließt: „Die Frage nach dem Sinn des Ganzen von Selbsterhaltung und Selbstvertrautheit stellt sich weiterhin." Diese Frage wird durch weitere Überlegungen Henrichs nicht beantwortet. Denn diese enden mit dem Hinweis, daß der Verlegenheit der Philosophie und dem Verblassen der Buchreligionen auch die fernöstlichen Weisheitstraditionen nicht abhelfen können; der Grund der Aporien moderner Philosophie, daß sie zugleich „Theorie der Autonomie und Erkenntnis der Ursprünge autonomen Denkens" sein müssen31, wird von Henrich als Aufgabe jeder Philosophie mit Zukunft angesehen. Man darf bezweifeln, daß sie gelöst werden kann.
möglich ist; einen Beleg zu einem englischen Terminus, der „Selbstbehauptung" wiedergibt, fügt Buck hier nicht bei. 26 Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche2 mit dem Stichwort „Selbsterhaltung" und Die Religion in Geschichte und Gegenwart 3 mit dem Stichwort „Selbstbehauptung". 27 Dieter Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: Subjektivität und Selbsterhaltung, aaO. 97-121, 104. 28 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, I 104, 1 ad 4; 104, 2. 29 Vgl. bes. H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit. Zur Stoa-Rezeption vgl. Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin-New York 1978. 30 D.Henrich, aaO. bes. 108. - Hier auch das folgende Zitat im Text. 31 Ebd. 120; es folgt der - gleichfalls formal bleibende - Hinweis auf das .Sapere aude' und den Versuch, „den Mut der Vernunft zum Konzept der Selbstbehauptung eines begriffenen Lebens zu machen". Die dem Beitrag angefügten Bemerkungen „Uber Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung. Probleme und Nachträge zum Vortag über ,Die Grundstruktur der modernen Philosophie'", ebd. 122-143, gehen nicht fundamental über diesen Text hinaus.
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„Selbsterhaltung" und „Selbstbehauptung" bleiben als Charakterisierungen der Neuzeit unbestimmt, wie Hans Blumenbergs Ausführungen belegen. Ihnen bescheinigt Henrich zu Recht eine erheblich stärkere diagnostische Kraft für die Genese der Moderne als für deren weiteren Verlauf 32 . Denn Blumenberg, der dem Thema „Selbstbehauptung" (bzw. „Selbsterhaltung") die gegenwärtig maßgeblichen Überlegungen gewidmet haben dürfte, vermag kein inhaltlich bestimmtes Verständnis der Neuzeit vorzulegen, das sich von Fehlentwicklungen hinreichend distanzierte. Blumenberg entwickelt vielmehr seinen Entwurf zur Legitimität der Neuzeit im Kontrast zum theologischen Absolutismus. Doch wie in einem totalitären System die Utopie der Freiheit inhaltlich gefüllt erscheint - sie ist nicht nur die Abwesenheit von Zwang, sondern die erhoffte und erstrebte Erfüllung von Humanität in freiem, friedlichem Miteinander, die keine gravierenden Probleme kennt - , so stellt Blumenberg die gegen den theologischen Absolutismus gewandte „Selbstbehauptung" als konkrete und bestimmte vor. Doch ist hier Vorsicht am Platz. Wie sich jüngst zeigte, bedeutet die Uberwindung der Tyrannei eben nicht schon die Verwirklichung der Freiheit, sondern allenfalls den Beginn einer schmerzlichen Auseinandersetzung darüber, worin sie bestehe und wie sie zu verwirklichen sei33. Ebenso wird die neuzeitliche „Selbstbehauptung", sieht man einmal von ihrem Gegner ab, unbestimmt. Diese Aporie wird deutlich, wenn Blumenberg wohl nicht nur Historie referierend, sondern auch und vor allem eine neuzeitliche Errungenschaft diagnostizierend formuliert: „.Selbstbehauptung' meint daher hier nicht die nackte biologische und ökonomische Erhaltung des Lebewesens Mensch mit den seiner Natur verfügbaren Mitteln. Sie meint ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will. Im Verstehen der Welt und den darin implizierten Erwartungen, Einschätzungen und Sinngebungen vollzieht sich eine fundamentale Wandlung, die sich nicht aus Tatsachen der Erfahrung summiert, sondern ein Inbegriff von Präsumptionen ist, die ihrerseits den Horizont möglicher Erfahrungen und ihrer Deutung bestimmen und die Vorgegebenheit dessen enthalten, was es für den Menschen mit der Welt auf sich hat."34
Entsprechend konstatiert Blumenberg, daß das ,Jus primarium das Urrecht auf Selbstbehauptung", der „Inbegriff des neuzeitlichen Selbstverständnisses" 35 , fundamental und prägend für die neuzeitliche Rationalität 32
Ebd. 131. Vgl. den Zerfall der französischen Résistance und die Enttäuschung darüber, wie sie vor allem Jean Paul Sartre nicht zuletzt gegenüber Albert Camus formuliert hat. 34 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, aaO. 159. 35 Ebd. 231. 33
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insgesamt ist 36 . Diese Feststellungen bleiben so abstrakt, daß in concreto jedes Konzept von Selbstverständnis darunter fallen kann, sofern es nur gegen das Christliche ist, das generell als fremdbestimmt und absolutistisch oder totalitär angesehen wird. Allein hierin liegen Pathos und Faszination des Gegensatzes. Wie problematisch Blumenbergs Konzeption bleibt, zeigt eine These über Nietzsche, die schon f ü r diesen unzutreffend sein dürfte. Blumenberg meint, ohne sich zu distanzieren bzw. die Ambivalenz eines ohnehin nur formulierten, aber keineswegs realisierten Status des Menschen zu verdeutlichen, Nietzsche habe auf den sich selbst überantworteten Menschen nicht aus Enttäuschung abgehoben, „sondern um den Triumph des aus der kosmischen Illusion zu sich selbst erwachten Menschen zu feiern und ihn der Mächtigkeit über seine Z u k u n f t zu versichern". Kann tatsächlich noch so unkritisiert gesagt sein, was Blumenberg im folgenden sagt? „Der Mensch, der nicht nur die Natur, sondern sich selbst als verfügbares Faktum begreift, hat in der Selbstbehauptung seiner neuzeitlichen Geschichte nur die Vorstufe seiner Selbststeigerung und Selbstübersteigerung durchlaufen. Die Zerstörung des Weltvertrauens hat ihn erst zum schöpferisch handelnden Wesen gemacht, hat ihn von einer verhängnisvollen Beruhigung seiner Aktivität befreit." 37
Die „Selbststeigerung", weitergeführt als „Selbstübersteigerung", bezahlt mit der „Zerstörung des Weltvertrauens", kann schwerlich mehr als Freisetzung des Schöpferischen im Menschen angesehen werden. Inzwischen läßt sich nämlich weniger die - sich nicht im Historischen erschöpfende - These Blumenbergs „Aus der N o t der Selbstbehauptung ist die Souveränität der Selbstbegründung geworden" 3 8 als vielmehr die Gegenthese vertreten: ,Aus der (erhofften) Souveränität der Selbstbegründung ist die N o t der Selbstbehauptung geworden'. Allenfalls läßt sich - in Erinnerung an Pascal - von einer proportional wachsenden Steigerung der Größe und des Elends des Menschen in der Neuzeit sprechen. D a ß aus der Behauptung bzw. der Illusion einer „Souveränität der Selbstbegründung" eine solche N o t der „Selbstbehauptung" geworden ist, läßt sich beispielsweise an der These Max Horkheimers zeigen, daß die neuzeitliche Vernunft zu ihrer Reduktion auf eine instrumenteile Vern u n f t geführt habe 39 , daß der bürgerliche „Rationalismus" in Skeptizismus umgeschlagen sei40. Wie Horkheimer 1942 sagte, bleibt der Vernunft im gegenwärtigen Verfall nur „das Verharren in der Selbsterhaltung und die 34
Vgl. ebd. 255, vgl. 165. Ebd. 161. 38 Ebd. 216. 39 Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung (1942), in: Subjektivität und Selbsterhaltung, aaO. 4 1 - 7 5 , 44, über die Vernunft in der modernen Kriegsführung. 40 Vgl. ebd. 41. 37
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Fortdauer des Entsetzens, in dem diese sich vollendet"; den Grund hierfür nennt er in der anschließenden Feststellung: „Die uralte bürgerliche Definition der Vernunft durch Selbsterhaltung war schon ihre Beschränkung." 41 Die Bestimmung der Vernunft durch „Selbsterhaltung" bleibt nicht nur ambivalent, sondern führt zwangsläufig in ihre Reduktion. Ein Ausweg läßt sich schwerlich in Horkheimers Schlußwort erkennen, daß „am Ende des Fortschritts der sich selbst aufhebenden Vernunft" nichts mehr übrigbleibt „als der Rückfall in Barbarei oder der Anfang der Geschichte" 42 . Dies ist nicht mehr ein Hoffen gegen alle Hoffnung, sondern letztlich hoffnungslose Verzweiflung. In welchem Maße sich die übriggebliebene instrumentelle Vernunft erübrigt, haben Horkheimer und Theodor W.Adorno hinlänglich deutlich gemacht: „Ist am Ende Selbsterhaltung automatisiert, so wird Vernunft von denen entlassen, die als Lenker der Produktion ihr Erbe antraten und sie nun an den Enterbten fürchten." 43 Hier zeigt sich der Ubergang von Rationalität zur Rationalisierung, die die „Selbsterhaltung" übernimmt, deren Lenker zwangsläufig das Potential der der Rationalisierung Unterworfenen fürchten müssen. Ein Ausweg zeigt sich nicht. Wenn der frühen Neuzeit als höchstes Gut die „Selbsterhaltung" galt, aus der man noch ein System von Tugenden deduzieren zu können meinte und anstrebte 44 , haben sich diese Hoffnungen am Ende zerschlagen. Wie „Selbsterhaltung" gewinnt auch die „Vernunft" nicht an Konturen, da mit ihr keine eindeutigen inhaltlichen Ziele gesetzt erscheinen 45 . Für die Charakterisierung der Neuzeit lassen sich somit allerseits konsensfähige inhaltliche Bestimmungen nicht angeben. Auch und gerade die Charakterisierung durch „Selbstbehauptung" bzw. „Selbsterhaltung" 46 bleibt unbestimmt und ambivalent. Inhaltlich bestimmen läßt sie sich neuzeitlich primär und d.h. vor allem genetisch durch die Entgegensetzung zum christlichen Glauben. Damit aber übernimmt sie ihre Konkretion aus diesem Gegensatz, nicht aber aus 41 Ebd. 72. - Es kann hier unerörtert bleiben, ob diese Definition historisch richtig tatsächlich die bürgerliche gewesen ist. 42 Vgl. die abschließenden Bemerkungen, ebd. 74. 43 Max Horkheimer-Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente ( = Fischer TB 6144), Hamburg 1971, 32. 44 Vgl. Robert Spaemann, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, in: Subjektivität und Selbsterhaltung, aaO. 76-96, 86, mit Hinweis auf Telesio und Campanella. Hier, 80, auch die Erwähnung der Konzeption der „Selbsterhaltung" bei Spinoza, Ethik III, prop.7. 45 M. Horkheimer-Th. W.Adorno, Dialektik der Aufklärung, 81. 46 Vgl. dazu neben den anderen Beiträgen des Sammelbandes „Subjektivität und Selbsterhaltung" auch die Arbeit des Herausgebers Hans Ebeling, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein. Zur Analytik von Freiheit und Tod ( = Symposion 60), Freiburg - München 1979. - In welchem Maß und Sinn „Selbsterhaltung" bzw. ,,-behauptung" tatsächlich Grundbestimmungen der Neuzeit sind, bedürfte noch präziserer Untersuchungen. Vgl. dazu die These von der Begründungsfähigkeit des Bewußtseins der „Selbsterhaltung", ebd. 53.
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sich selbst. Daß die neuzeitliche „Selbsterhaltung" als Umsetzung der Erhaltung der Welt eine Säkularisierung im positiven Sinn darstellt, wird speziell von Blumenberg vertreten. In der Erhaltung der Welt und des Menschen durch Gott wird neuzeitlich zunehmend eine Behinderung oder gar ein Gegensatz zur „Selbsterhaltung" gesehen 47 . Daß dabei der christliche Glaube, auch wenn man es besser wissen müßte, nicht selten verkürzt dargestellt wird 48 , kann hier auf sich beruhen bleiben. Daß freilich „Selbstbehauptung" in diesem neuzeitlichen Verständnis als Ablehnung eines Glaubens an Gott eine tiefe und unüberwindliche Antithese zum christlichen Glauben darstellt, ist offenkundig. Zur Intention der folgenden Untersuchungen Die eben skizzierten Gegensätze, die neuzeitlich charakteristische bzw. konstitutive Bedeutung erlangt haben, stellen eine nachhaltige Stütze für die Annahme dar, daß Antithesen für das Selbstverständnis der Neuzeit überhaupt fundamental geworden sind. Einmal faßt sich die Neuzeit wesentlich als Gegensatz auf, zum anderen wird sie durch Gegensätze bestimmt. Gegenüber der Vergangenheit wie in sich selbst erweisen sich im geistigen Bereich Kritik, im politisch-gesellschaftlichen Bereich Revolu47 Vgl. dazu statt vieler Belege Michail Bakunin, Gott und der Staat ( = Rowohlts Klassiker 240-242), Reinbek 1969, 140: „Es ist klar, daß, solange wir im Himmel einen H e r r n haben, wir auf Erden Sklaven sind. Unsere Vernunft und unser Wille würden gleichfalls vernichtet sein." 48 Vgl. M a n f r e d Sommer, Die Selbsterhaltung der V e r n u n f t ( = problemata 66), Stuttg a r t - B a d Cannstatt 1977, der „Freiheit im Gegenzug gegen die creatio continua, die göttliche conservado, als Prinzip immanenter Erhaltungsleistungen zu verstehen" bestrebt ist, 217 Anm.; mit und ohne Kant d ü r f t e der Autor aufgrund seiner theologischen Kenntnisse die Idee eines allmächtigen Gottes nicht so interpretieren, als ob sie zwangsläufig den Despotismus provoziere und zur Verzweiflung treibe, 230. Zwiespältig bleibt die These von Wilhelm Kamiah, Christentum und Selbstbehauptung. H i storische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustine „Bürgerschaft Gottes", Frankfurt 1940. Einmal wird hier, 416, „Selbstbehauptung" f ü r das Christentum in Anspruch genommen: „ D a ß es im Christentum unausrottbar Selbstbehauptung gegeben hat, daß ohne diese Selbstbehauptung das Christentum sich geschichtlich nicht hätte behaupten können, d a ß es also überhaupt Christentum gibt, als geschichtliche Religion, dieses alles bezeugt mittelbar und doch unüberhörbar das Recht und die Möglichkeit der wahren und natürlichen Selbstbehauptung und Geschichtlichkeit." Andererseits heißt es, ebd. 331: „ N u r in der Hingabe an Gott und an das Vaterland hat die Selbstbehauptung des Einzelnen ihr Recht und ihre Möglichkeit. U n d nur weil das Christentum auch diese wahre Möglichkeit wahrer Selbstbehauptung bestreitet, entsteht überhaupt das Problem dieses Buches." Interessant ist jedenfalls, daß Kamiah die „Selbstbehauptung" schon als Charakteristikum den Christen, und zwar schon des Altertums, zubilligt; freilich bedeutet dies ebenso eine Rückprojektion wie eine Entwertung, weil „Selbstbehauptung" - darwinistisch - allen zukommt.
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tion als keinesfalls periphere Phänomene für sie. Es kann hier auf sich beruhen bleiben, ob und ggf. in welchem Maße der „Protestantismus", der durch die eine rechtzeitige Reform verweigernde katholische Kirche entstand, für diese strukturelle Gegensätzlichkeit von Bedeutung war. Zweifellos muß in der Überwindung der Religionskriege eine wesentliche Wurzel der „Moderne" gesehen werden; um eines Religionsfriedens willen schien ebensowohl eine Lösung des „Glaubens" aus dem Bereich des Öffentlichen und damit grundsätzlich eine Trennung von „Vernunft" und „Glaube" erforderlich wie eine Monopolisierung absoluter Souveränität im gesellschaftlich-politischen Bereich. Der dem Absolutismus zugrundeliegende Monismus bedingte dann auf die Dauer jenen Gegensatz, der sich revolutionär durchsetzte. Die Radikalisierung einer zunächst politisch-gesellschaftlich gemeinten Trennung von „Vernunft" und „Glaube" hat dann jene neuzeitlich zentrale Antithese hervorgebracht, aus der sich die weiteren Gegensätze ableiten lassen. „Antithetik neuzeitlicher Vernunft" meint in diesem Kontext, daß zunächst einmal die „Vernunft" insofern antithetisch genannt werden muß, als sie Widerspruch einlegt und sich damit in Gegensatz stellt. Als Preis hierfür hat sie freilich zu zahlen, daß sie ihrerseits antithetisch, im Widerspruch verbleibt, und zwar nicht nur nach ,außen', sei dieses ein „Glaube", eine Tradition oder irgendeine Autorität, sondern mehr und einschneidender noch in sich selbst: Es bleibt widersprüchlich, was denn nun neuzeitliche „Vernunft" ist. Diese Widersprüchlichkeit hat sich neuerdings auf die Antithese „Vernunft - Glaube" in entscheidender Weise ausgewirkt. Statt sie als selbstverständlich anzusehen und weiterhin vorauszusetzen, muß sie allererst in Frage gestellt werden. Dies läßt sich nicht zuletzt bei Karl Popper zeigen, der als unverdächtiger Zeuge gelten darf, weil er jahrzehntelang einen „kritischen Rationalismus" zu formulieren versucht hat. Gerade bei ihm findet sich als letzte Begründung für seine Position nicht eine rationale Argumentation, sondern eine, wie er selbst sagt, „irrationale" Entscheidung, die auf einem „Glauben an die Vernunft" beruht 49 . Selbst wenn Popper nicht nur einen theologischen, sondern eben auch einen philosophischen „Glauben" ablehnt, sieht er sich gleichwohl veranlaßt, einen, wie man ihn nennen könnte, wissenschaftstheoretischen „Glauben" anzunehmen. Wenn Jürgen Habermas diese letzte Fundierung Poppers verschiedentlich heranzieht, Popper einen fundamentalen „Irrationalismus" seiner Position vorzuwerfen, zugleich aber seine eigene Position damit als die richtige zu erweisen sucht, täuscht er sich und vielleicht andere; denn auch für seine Position kann er schließlich auf nichts anderes rekurrieren als 49 Zu diesen Aussagen Karl Poppers sowie zu der im Anschluß an sie genannten Kritik von Jürgen Habermas vgl. u. „rational - irrational", II 5.2.
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auf eine Option, eine Entscheidung und damit einen „Glauben". Wäre dem nicht so, müßten alle, die Habermas nicht zustimmen, als uneinsichtig oder schlicht als dumm gelten, wären sie doch aus ihrem „Interesse" oder aber aus mangelnder „Vernunft" heraus nicht in der Lage, ihm zu folgen. Poppers Annahme, daß seine wie überhaupt jede Position zur Begründung menschlicher Erkenntnis letztlich von einer Entscheidung abhängt und diese rational nicht zureichend begründet werden kann, sondern von einem „Glauben" an ihre Richtigkeit abhängt, blieb nicht singular. Auch Autoren, die mit Popper in eine heftige Kontroverse gerieten wie T h o m a s S. Kuhn 50 , stimmen in dieser Begründung mit ihm überein. D a ß die Einnahme ihrer Position einzig vernünftig und angemessen sei, nehmen auch alle jene an, die die heute verbreitete Auffassung vertreten, daß auf eine Letztbegründung verzichtet werden muß. Gleichwohl gilt auch f ü r diese Position: Ließe sie sich zureichend mit rationalen Argumenten als die einzig mögliche erweisen, müßte sie die Zustimmung all jener finden, denen man „Vernunft" nicht absprechen mag bzw. kann. Für unseren Zusammenhang ist nicht von Belang, ob sämtliche Positionen explizit zustimmen, letztlich auf solch einer Annahme, einem „Glauben" zu beruhen. Es genügt der Hinweis, daß wissenschaftstheoretisch seriös ein solcher „Glaube" als letzte Instanz angegeben wird. Wenn auch der christliche „Glaube" sich von diesem „Glauben" unterscheidet, so kann er doch unter wissenschaftstheoretischem Aspekt nicht mehr einfach disqualifiziert werden, da ihm der Status eines wissenschaftstheoretischen „Glaubens" nicht grundsätzlich abgesprochen werden kann. Zur Disqualifikation genügt nicht, daß er stets zugegeben hat, ein „Glaube" zu sein, der gleichwohl f ü r die Interpretation der Welt und die Orientierung des Lebens und Handelns in ihr von entscheidendem Belang ist. Im Hinblick auf ihn unterscheidet sich das Verhältnis von „Vernunft" und „Glaube" nicht strukturell von anderen Positionen. Damit erscheint es notwendig, jene eingangs erwähnte Metapher vom „Richterstuhl der Vernunft" so zu modifizieren, daß der kritischen „Vern u n f t " nichts entzogen werden soll und darf - das wäre Fideismus, Dogmatismus, Fundamentalismus - , daß sie aber schwerlich selbst die letzte Orientierung und hinreichende Begründung einer Position sein kann. Allein pragmatisch bleibt in einer pluralistischen Gesellschaft ein Verzicht auf Letztbegründung in dem Sinn unvermeidlich, daß nicht alle überzeugt werden können, diese Letztbegründung zu teilen. D a ß aber jeder theologische „Glaube" letztlich nichts als Aber-„glaube" sein kann, läßt sich seriös nicht mehr vertreten. Wenn immer von einem „Glauben an die Wissen-
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Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ( = stw 25), Frankfurt >1978, 168; vgl. auch 214.
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schaft" gesprochen werden kann 51 , kann die Struktur wechselseitiger Bezogenheit von Erkenntnis und Überzeugung nicht mehr allein dem christlichen „Glauben" vorgehalten werden. Es steht dahin, ob und ggf. in welchem Sinn von einem „tief irrationalen Zug des Wissenschaftsglaubens" die Rede sein kann 52 . Daß jedenfalls ein solcher „Glaube" als letzte Begründung vertreten wird, zeigt nicht zuletzt die immer wieder auftauchende Forderung einer Rückkehr zum Mythos 53 . Doch dürfte dieser Weg trotz der bleibenden Bedeutung Piatons schwerlich gangbar, sicherlich aber nicht allgemein konsensfähig sein. Somit bleibt nichts anderes, als einen „Glauben" im wissenschaftstheoretischen Sinn anzunehmen, daß die eigene Position die richtige sei. Diese Uberzeugung teilen ausnahmslos alle, angefangen von jenen, die diese Annahme ausdrücklich zugeben, über jene hier nicht weiter genannten Autoren, die eine transzendentale Letztbegründung versuchen, bis hin zu jenen, die auf eine solche Letztbegründung ausdrücklich .verzichten54. Auf dem Hintergrund und im Interesse der hiermit umrissenen Fundierungsproblematik wurden die folgenden Untersuchungen durchgeführt. Sie intendieren eine Klärung der Antithese „Vernunft - Glaube" aufgrund der Beobachtung, daß im gegenwärtigen Sprachgebrauch verbreitet ganz selbstverständlich allein die „Vernunft" als „autonom" gilt, während „Glaube" zugleich zwangsläufig „Heteronomie" besagt, sofern er eine dem Menschen überlegene Wirklichkeit anerkennt. Uneingeschränkt gilt darüber hinaus weithin jeder „Glaube", also auch der wissenschaftstheoretische, als „irrational", wie Karl Popper eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Hierdurch ergibt sich die merkwürdige Konstellation, daß sich die Antithese „Vernunft - Glaube" durch die anderen Entgegensetzungen „Autonomie - Heteronomie" und „rational - irrational" explizieren läßt. Wenig erfolgversprechend schien es, gegen diese Explikation gleichsam apologetisch den christlichen Glauben durch den Nachweis seiner „Rationalität" und „Autonomie" zu verteidigen. Solches Bemühen würde sich allenfalls den Ideologievorwurf einhandeln. Ebensowenig konnte es weiterführen, den Vorwurf einfach zurückzugeben und die Verfechter der 51 Reinhard Bendix, Der Glaube an die Wissenschaft ( = Konstanzer Universitätsreden), Konstanz 1972. 52 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, I: Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweier Begriffe, Stuttgart 3 1971, 169. 53 Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg/München 2 1979; vgl. ders., Die Wahrheit des Mythos, München 1985. 54 Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, 2 1983; ders., „Principium diiudicationis" und „Principium executionis": Uber transzendentalpragmatische Begründungssätze für Verhaltensnormen, in: Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, hg. von Gerold Prauss, Frankfurt 1986, 204-218. Vgl. auch: Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, hg. von Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler ( = stw 408), Frankfurt 1982.
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These von der „Irrationalität" jeden „Glaubens" selbst „irrational" zu nennen, weil sie mit ihrer Behauptung die Möglichkeiten „rationaler" Begründung selbst überschritten. Die heute nicht seltene wechselseitige Beschuldigung der „Irrationalität" blockiert jeden Erkenntnisfortschritt. Sie berücksichtigt nicht, daß es neben einem dezidiert negativen Gebrauch von „irrational" einen offensichtlich konstruktiven gibt, wenn die Entscheidung für eine Position wie die des kritischen Rationalismus selbst durch ihn qualifiziert wird, daß nämlich diese Entscheidung nicht mehr auf einer allein zureichend „rationalen" Begründung beruhen kann, sondern von einer über diese Begründung hinausgehenden Grundüberzeugung getragen ist. Die Untersuchungen dienen dem Ziel, insbesondere die Bestimmung des „Glaubens" als „heteronom" bzw. „irrational" zu überprüfen. Hierfür dürfte eine wissenschaftstheoretische Überlegung wenig geeignet sein, da sie ihrerseits nur thetischen Charakter haben kann. Vielmehr scheint mir die Genese der beiden letzteren Antithesen Aufschluß darüber zu geben, ob und ggf. inwieweit die gängigen Konstellationen angemessen oder gar zwingend sind. Wenn auch darüber gestritten wird, ob begriffsgeschichtliche Untersuchungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch ergiebig sind oder gar maßgeblich sein können 55 , so wird man schwerlich diesen Streit mit einem schlichten Nein beantworten können, wenn man nicht Joachim Ritters Begründung für die Neuauflage des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie" als unzutreffend bewerten will. Statt sich also auf rechtfertigende oder widerlegende Argumentationen einzulassen, daß auch ein „Glaube" keinen Widerspruch zur „Autonomie" darstellen und nicht einfach als „irrational" qualifiziert werden müsse, ging es darum, wichtige Stationen der Begriffsgeschichte zu untersuchen, um von hierher Aufschluß über Bedeutung bzw. Bedeutungen einschließlich möglicher Bedeutungsänderungen zu erhalten. Die Untersuchung beider Antithesen wurde unternommen in der Hoffnung, damit den grundlegenden Gegensatz von „Vernunft - Glaube" ein beträchtliches Stück weit aufzuhellen. Zur Durchführung der Untersuchungen bleibt hier nur zu vermerken, daß sie vom deutschen Sprachgebrauch ausgehen und ihn nur gelegentlich überschreiten. Es besteht freilich einiger Grund zu der Annahme, daß dieser sich in anderen europäischen Sprachen entsprechend verifizieren läßt. 55 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 29 ff, mit der Ablehnung der begriffsgeschichtlichen Arbeit von H.Zabel, Verweltlichung/Säkularisierung, deren Ergebnisse Blumenbergs These zuwiderlaufen.
I „AUTONOMIE -
HETERONOMIE"
1 Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch: „Autonomie" als fundamentaler und universaler Begriff „Autonomie" ist gegenwärtig ein ebenso gängiger wie anscheinend selbstverständlicher Begriff zur Bezeichnung einer fundamentalen und universalen Wirklichkeit; er meint Selbstbestimmung des Menschen, der Gesellschaft oder auch, ohne daß der metaphorische Gebrauch als problematisch erscheint, Selbstbestimmung der Welt schlechthin. Ist die „Autonomie" durch eine Fremdbestimmung behindert oder beseitigt, gilt es, sie wieder herzustellen oder überhaupt erst zu gewinnen. Mündigkeit, Selbstbestimmung erscheint als Qualifikation des Subjekts gegenüber allem, Menschen, Dingen oder im Falle, daß es desgleichen gibt, gegenüber einem Absoluten. Verstärkend kann durchaus von „absoluter Autonomie" die Rede sein. Es ließe sich daher nicht nur die Aussage formulieren, das Thema „Autonomie" sei heute zentraler und dringlicher denn je, sondern auch jene legitimierende, es sei es seit je, wo immer es - zu wirklichem Menschsein unerläßlich - um Aufklärung gegangen sei. Was „Autonomie" ist, wird nahezu ausnahmslos als selbstverständlich vorausgesetzt. Als Beleg für diesen umfassenden und grundsätzlichen Gebrauch von „Autonomie" kann folgender Text dienen: „Es ist eine g r o ß e Entwicklung, die zur A u t o n o m i e der W e l t führt. In der T h e o logie zuerst Herbert v o n Cherbury, der die S u f f i z i e n z der V e r n u n f t für die religiö s e Erkenntnis behauptete. In der Moral: M o n t a i g n e , Bodin, die anstelle der G e bote Lebensregeln aufstellen. In der Politik: Macchiavelli, der die Politik v o n der allgemeinen Moral löst und die Lehre v o n der Staatsraison begründet. Später, inhaltlich sehr v o n ihm verschieden, aber in der R i c h t u n g auf die A u t o n o m i e der menschlichen Gesellschaft d o c h mit ihm k o n f o r m H . Grotius, der sein Naturrecht als Völkerrecht aufstellt, das Gültigkeit hat ,etsi deus n o n daretur', ,auch w e n n es keinen G o t t gäbe'. Schließlich der philosophische Schlußstrich: einerseits der D e i s mus des Descartes: die W e l t ist ein M e c h a n i s m u s , der o h n e Eingreifen G o t t e s v o n selbst abläuft; andrerseits der Pantheismus Spinoza's: G o t t ist die Natur. Kant ist imgrunde Deist, Fichte und H e g e l Pantheisten. Uberall ist die A u t o n o m i e des M e n s c h e n u n d der W e l t Ziel der Gedanken." 1 1 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Neuausgabe München 1970, 392 f (Brief vom 16.7.1944). Hier auch das folgende Zitat im Text.
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„Autonomie - Heteronomie"
Diese Aussage Dietrich Bonhoeffers ist die wohl früheste und umfassendste, keineswegs spezifisch theologische Charakterisierung der Neuzeit, in der ein Theologe die neuzeitliche Entwicklung insgesamt als Bewegung zur „Autonomie" des Menschen und der Welt darstellt und positiv akzeptiert. Dies war zuvor in dieser Eindeutigkeit so kaum der Fall, wie sich etwa an Paul Tillich demonstrieren läßt 2 . Auch heute ist diese Eindeutigkeit keineswegs selbstverständlich 3 . Bonhoeffer ist der Meinung, daß in der Neuzeit Gott „als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese", „ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese" abgeschafft und überwunden ist. Mit dieser Aussage geht Bonhoeffer auch über Friedrich Gogarten hinaus 4 , dessen Charakterisierung der „Säkularisierung als theologisches Problem" die neuzeitliche Entwicklung theologisch ambivalent erscheinen läßt. Verschiedentlich ist die Frage aufgegriffen worden, worauf sich diese Bewertung der Neuzeit stützt. Nach langer Ungewißheit hat sich zeigen lassen, daß Bonhoeffer unmittelbar auf Wilhelm Dilthey zurückgreift. Als Beleg möchte ich eine zentrale Aussage Diltheys zitieren: „Es liegen nach diesem System (sc. des Naturrechts, der natürlichen Moral und der natürlichen Theologie) in der Menschennatur feste Begriffe, gesetzliche Verhältnisse, eine Gleichförmigkeit, welche überall dieselben Grundlinien von wirtschaftlichem Leben, rechtlicher Ordnung, moralischem Gesetz, Schönheitsregeln, Gottesglauben und Gottesverehrung zur Folge haben muß. Diese natürlichen Anlagen, Normen und Begriffe in unserem Denken, Dichten, Glauben und gesellschaftlichen Handeln sind unveränderlich und vom Wechsel der Kulturformen unabhängig. Sie beherrschen alle Völker, sie wirken in allen Gegenden. Die Autonomie des Menschen ist in ihnen gegründet. Sofern die Menschheit dieselben sich zum Bewußtsein bringt und zur Richtschnur ihres Handelns macht, sofern sie allen vorhandenen Glauben und alle bestehenden Institutionen vor das Tribunal des aus ihnen abgeleiteten Systems bringt, tritt sie in das Stadium der Mündigkeit und der Aufklärung. Vor diesem Tribunal haben sich nun alle Institute der Gesellschaft
2 Vgl. dazu den u. I 5 mit Anm. 12 genannten T e x t von Paul Tillich, D i e religiöse Lage der Gegenwart (1926). 3 Georg Picht, D i e Verantwortung des Christen in der wissenschaftlich-technischen Welt, in: Walter Strolz (Hg.), V o m Geist, den wir brauchen, Freiburg 1978, 195-220, 203: „Autonomie heißt souveräne Jurisdiktion. D i e s e Idee der Freiheit und das ihr zugeordnete Verständnis von Wahrheit konstituieren sich durch die Leugnung jeder Instanz, der das Subjekt als solches Verantwortung schuldig wäre. In diesem Sinne ist die Freiheit von Verantwortung das Grundprinzip der Zivilisation, in der wir leben." Für den Hinweis auf diesen T e x t danke ich Walter Kern. 4 Vgl. bes. Friedrich Gogarten, Verhängnis und H o f f n u n g der N e u z e i t (1953). Zur ausdrücklichen Verbindung von A u t o n o m i e g e d a n k e n und Säkularisierung bei Gogarten in Arbeiten von 1933 vgl. die Hinweise bei Ulrich Ruh, Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte ( = Freiburger T h e o l o g i s c h e Studien 119), Freiburg 1980, 192, 296 f.
Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch
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und alle Dogmen der Kirchen zu verantworten. Kein größerer und langwierigerer Prozeß ist jemals geführt worden. Er zieht sich beinahe durch zwei Jahrhunderte."5
Es scheint, daß Dilthey für den universalen Gebrauch von „Autonomie" zur Kennzeichnung der neuzeitlichen Entwicklung des Menschen und der Welt überhaupt von maßgeblicher Bedeutung ist6. „Autonomie" dient ihm als Leit- und Oberbegriff, der ohne Einschränkungen gebraucht wird. Letztlich kennzeichnet er eine höchste Auszeichnung des Subjekts, das als sich selbst bestimmendes niemandem unterworfen ist, frei über sich selbst bestimmen kann, darf und muß. Diese subjektive „Autonomie" erscheint als Sinnspitze von „Autonomie", die durch Kant maßgeblich beeinflußt ist; sie wird jedoch als schon viel früher, nämlich bereits seit Beginn dieser Wortprägung in der Antike, als fundamental angesehen 7 . „Autonomie" erscheint im Gefolge Kants auch bei solchen Autoren noch als ein Begriff, der vom Individuum her konzipiert und auf es hin bezogen ist, denen es aufgrund ihres eigenen Ansatzes gerade nicht um die isolierte Individualität, sondern um den Menschen in seinem konkreten politisch-gesellschaftlichen Bezug geht. Dies läßt sich instruktiv bei Herbert Marcuse zeigen, wenn er feststellt: „Denn daß die freie Autonomie des Menschen oberstes Gesetz ist und bleibt, steht für Kant fest."8 Diese Aussage trifft Marcuse im Rahmen einer Interpretation von Kants Abhandlung „Was ist Aufklärung?". Marcuse vermerkt zustimmend, daß es Kant nicht um die .„innere' Freiheit des Christenmenschen und um die gott-gesetzte Autorität, sondern um die .öffentliche' Freiheit des Bürgers" s Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Gesammelte Schriften II, Stuttgart/Göttingen 10 1977, 91. - Die Aussage stammt aus der Abhandlung „Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert", die wie auch der folgende Beitrag dieses Bandes über „Die Autonomie des D e n k e n s . . . im 17.Jahrhundert" zwischen 1891 und 1893 erschienen ist, vgl. im Vorwort dieses Bandes, ebd. VI. ' Die deutlich später als Dilthey erschienenen Auflagen von Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, vgl. u. Anm. 19, bleiben noch bei einem rein durch Kant bestimmten Gebrauch. Neben Dilthey dürfte f ü r die Verbreitung des Begriffs „Autonomie" von besonderer Bedeutung Ernst Troeltsch sein, vgl. dessen Aufsatz: Autonomie und Rationalismus in der modernen Welt, in: Intern. Wochenschrift f. Wissenschaft, Kunst u. Technik 1 (1907) 198-210. Vgl. dazu Ulrich Ruh, aaO. 158, 169. Vgl. auch Rudolf Otto, Wertgesetz und Autonomie, in: ders., Aufsätze zur Ethik, hg. von Jack Stewart Boozer, München 1981, 107-126. 7 Rosemarie Pohlmann, Autonomie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, I, Darmstadt 1971, 701-719. - Dieser Beitrag ist die bislang umfassendste und kenntnisreichste Erörterung zur Begriffsgeschichte der „Autonomie". Sie verdient als solche anerkannt zu werden, so sehr auch im folgenden grundlegende Fragen an sie zu richten sind. 8 Herbert Marcuse, Studie über Autorität und Familie (1936), in: ders., Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft ( = es 300), Frankfurt 1969, 82 f.
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geht 9 ; auszusetzen hat er lediglich, „daß diese Freiheit nicht zu einer praktisch-gesellschaftlichen Macht wird" 10 . Zu Recht hebt Marcuse hervor, daß bei Kant eine spezifische und für uns vom Wortlaut her zunächst gar nicht erkennbare Bedeutung von „öffentlich" angenommen ist, wenn „öffentlich" den Disput unter den Gelehrten, aber nicht ein Agieren im politisch-gesellschaftlichen Bereich meint11. In unserem Zusammenhang kommt es darauf an, daß nach Marcuse für Kant die „unbedingte Autonomie der vernünftigen Person" synonym mit der „transzendentalen Freiheit des Menschen" ist und daß sie höchstes Prinzip bleibt 12 . „Autonomie" bei Kant ist nach Marcuse, wenn man seine Überlegungen zu resümieren sucht, die „freie Autonomie" des Menschen, die oberstes Gesetz ist, die „unbedingte Autonomie" der vernünftigen Person, ohne daß diese „Autonomie" als eingebunden in einen Gesamtzusammenhang erscheint. Mochte dieses Autonomieverständnis als Kantinterpretation hingehen, da die Kantrezeption generell diese individualistische Konzeption der „Autonomie" für Kant unterstellt hat und Kant für die Autonomiekonzeption von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist, so muß doch überraschen, wie sehr Marcuses eigene Konzeption „Autonomie" als auf das Individuum bezogenen Begriff erscheinen läßt. So wertet Marcuse den Verlust des Gewissens als Zeichen schwindender Autonomie und Einsicht 13 . Das Gewissen darf in besonderer Weise als dem Subjekt zu eigen angesehen werden. Behindert wird die „Autonomie" des Subjekts nach Marcuses Auffassung durch äußere Bedingungen des Lebens in der bestehenden Gesellschaft. „Autonomie" erfordert, die gegenwärtigen Bedingungen durch solche zu ersetzen, „unter denen die unterdrückten Dimensionen der Erfahrung wieder lebendig werden können", wozu „die Unterdrückung der heteronomen (sie!) Bedürfnisse" notwendig ist14.
' Ebd. 83. 10 Ebd. 93, vgl. den Text u. Anm. 12. 11 Ebd. 83. Vgl. dazu H.G.Haasis, Mündigkeit. Aufstieg und Untergang einer bürgerlichen Emanzipationskategorie, (unveröff. Ms.) Tübingen 1969/70. 12 „Die transzendentale Freiheit des Menschen, die unbedingte Autonomie der vernünftigen Person, bleibt in allen Dimensionen der kantischen Philosophie höchstes Prinzip; hier gibt es kein Markten und Rechnen und keinen Kompromiß. Daß diese Freiheit nicht zu einer praktisch-gesellschaftlichen Macht wird, daß die Freiheit zum Denken nicht die .Freiheit zu handeln' einschließt, liegt in eben jener Gesellschaftsordnung begründet, an der Kant seine Philosophie konkretisiert hat." H. Marcuse, aaO. 93; vgl. 55. 13 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1964) ( = Sammlung Luchterhand 4), Neuwied 1970, 95: Der Verlust des Gewissens bewirkt „infolge zufriedenstellender Freiheiten, die eine unfreie Gesellschaft gewährt, ein glückliches Bewußtsein (happy consciousness), was die Hinnahme der Untaten dieser Gesellschaft erleichtert. Er ist ein Zeichen schwindender Autonomie und Einsicht. Sublimierung erfordert ein hohes Maß an Autonomie und Einsicht..." 14 Ebd. 256.
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„Autonomie", ganz selbstverständlich und ohne jede weitere Erläuterung gebraucht, erscheint auch bei Marcuse als völlige Selbstbestimmung des Individuums: „Selbstbestimmung wird in dem Maße real sein, wie die Massen in Individuen aufgelöst worden sind"15! Sie wird ermöglicht durch Überwindung der Strukturen, die sie verhindern. „Autonomie" ist das Ergebnis der Befreiung des Individuums von jeglicher Herrschaft. Weit verbreitet wird die These vertreten, wie sie in einer referierenden Aussage von Walter Schulz erscheint, „daß die Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik ein stetiger Weg zur Autonomie sei", ob man diese Entwicklung nun positiv wie im 19. oder negativ wie im 20. Jahrhundert bewerten mag 16 . Bedeutsam ist, daß die Verwendung von „Autonomie" durch Kant bestimmt erscheint, dessen „Begriff der Autonomie... die idealistische Bewegung in Gang gesetzt hat"17. „Autonomie" gilt als Qualifikation des erwachsenen, zum Gebrauch der Vernunft gelangten Subjekts. Im Zusammenhang einer Kant-Interpretation heißt es bei Theodor W. Adorno: „Aberwitzig jedoch, Babies, deren Vernunft selbst erst sich bildet, jene Autonomie zu attestieren, die an der voll entfalteten Vernunft haftet"18. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der in diesen Aussagen sehr verschiedener Autoren von „Autonomie" die Rede ist, kann die Frage gestellt werden, ob es nicht überhaupt eine überflüssige Mühe war, auf diese Selbstverständlichkeit hinzuweisen. Haben die Belege mehr erbracht als das, was man schon wußte, daß nämlich „Autonomie" ein selbstverständlicher, d. h. aus sich selbst verständlicher fundamentaler Begriff zur Kenn15 Im Anschluß an diese, die subjekt-bezogene Argumentation Marcuses dokumentierende Aussage wird die Selbstbestimmung der Individuen so charakterisiert: Sie sind „befreit von aller Propaganda, Schulung und Manipulation, fähig, die Tatsachen zu kennen und zu begreifen und die Alternativen einzuschätzen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft wäre in dem M a ß e vernünftig und frei, wie sie von einem wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrecht erhalten und reproduziert wird." Ebd. 263. 16 Walter Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 3 1957, 7; d a ß „der autonome Mensch als Ersatz f ü r G o t t . . . nicht absolutes Ziel der Geschichte sein" kann, ebd. 96, ist seit Dilthey allerdings auch festzuhalten. Doch belegt auch diese Verwendung von „autonom" noch einmal dessen generelle Bedeutung. 17 Dieter Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik ( = Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie I), Mainz 1963, 386; vgl. dazu Michael Welker, Der Vorgang Autonomie. Philosophische Beiträge zur Einsicht in theologischer Rezeption und Kritik, Neukirchen-Vluyn 1975, 14. 18 T h e o d o r W . Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt Sonderausgabe 1970, 285. - Vgl. auch ebd. 218: ,Je mehr Freiheit das Subjekt, und die Gemeinschaft der Subjekte, sich zuschreibt, desto größer seine Verantwortung, und vor ihr versagt es in einem bürgerlichen Leben, dessen Praxis nie dem Subjekt die ungeschmälerte Autonomie gewährte, die es ihm theoretisch zuschob." Auch hier zeigt sich wieder deutlich die subjektorientierte Autonomiekonzeption im Anschluß an Kant.
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Zeichnung neuzeitlicher Entwicklung ist, die primär das Individuum betrifft, entsprechend jener Verwendung, die Kant in die Geistesgeschichte eingebracht hat? Dennoch haben die nur scheinbar völlig zufällig ausgewählten Belege, die mühelos um zahllose andere vermehrt werden könnten, die Funktion, als Folie für folgende Feststellungen zu dienen: Einmal zeichnet sich erst auf ihrem Hintergrund die Feststellung in ihrer vollen Tragweite ab, daß keineswegs so selbstverständlich, häufig und zentral von „Autonomie" zur Charakterisierung einer für den Menschen wesentlichen Wirklichkeit die Rede sein muß. Denn die Verwendung von „Autonomie" in dem gegenwärtigen umfassenden Sinn ist relativ neu. Als Indiz dafür darf angesehen werden, daß erst das „Historische Wörterbuch der Philosophie" einen fundierten Artikel über „Autonomie" bringt, während das ihm vorausgegangene „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" nur einen sehr knappen Artikel enthält, der lediglich auf Kant und den Neukantianismus Bezug nimmt 19 . Im „Lexikon f ü r Theologie und Kirche" findet sich neben einem Stichwort „Autonomie" in juristischer Bedeutung lediglich das Stichwort „Autonomismus" in einem geistesgeschichtlich-philosophischen Sinne 20 , worin sich die im katholischen Bereich lange haltende Skepsis gegen die Aufklärung insgesamt zeigt, so daß es als eine überraschende Wende angesehen werden darf, wenn das II. Vatikanische Konzil häufig in einschlägigen Texten einen unbefangenen, aber gegen Mißverständnisse abgeschützten Gebrauch von „Autonomie" macht 21 . Lediglich zeitlich früher vollzieht sich diese Entwicklung im evangelischen Bereich. Denn auch die „Realencyklopädie f ü r protestantische Theologie und Kirche" von 1897 hat noch kein Stichwort „Autonomie" 22 , das f ü r die „Theologische Realenzyklopädie" von 1980 selbstver-
19 Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe I, Berlin 2 1904, 116 f; vermehrt >1910, 141 f; vermehrt 4 1927, 158-160. 20 Albert Hartmann, Autonomie, in: Lexikon für T h e o l o g i e und Kirche I, Freiburg 2 1957, 1131: „Sofern Autonomismus als charakteristischer Ausdruck neuzeitlichen Geistes auftritt, hat er seinen Kern in der Idee der autonomen Vernunft, wirkt sich aus in der autonomen Ethik und allgemein in der A u t o n o m i e (Eigengesetzlichkeit) der Kulturgebiete und ist schließlich eine philosophische Gesamtdeutung von Welt und Mensch aus ihnen selbst o h n e Bezug zur Transzendenz." - Sacramentum Mundi. T h e o l o g i s c h e s Lexikon für die Praxis, hg. von Karl Rahner u.a., I, Freiburg (1967), hat keinen Artikel „Autonomie"; er fehlt auch in: T h e Catholic Encyclopedia, N e w York o.J. II, (1913), und in: Dictionnaire de théologie catholique I, Paris 1903. 21 Vgl. Dekret über das Apostolat der Laien, Nr. 1, 7, 26; Pastoralkonstitution über die Kirche in der modernen Welt, N r . 2 0 , bes. 36, ferner 41, 5 5 f , 75, bes. 76. 22 Realencyklopädie für protestantische T h e o l o g i e und Kirche II, Leipzig M 897. Auch im Handbuch geschichtlicher Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von O t t o Brunner u.a., I, Stuttgart 1972, gibt es kein Stichwort „Autonomie".
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ständlich ist 23 . Nicht weniger bezeichnend ist jedoch, daß das mit dem „Lexikon f ü r Theologie und Kirche" gleichzeitige evangelische Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" nicht einfach das T h e m a „Autonomie", sondern zugleich dessen theologische Einbindung mit dem Stichwort „Autonomie-Theonomie" behandelt; H a n s Blumenberg faßt in diesem Text 2 4 „Autonomie" als „immanente Eigengesetzlichkeit bestimmter Sachbereiche", die theologisch nicht ohne „Theonomie" gesehen werden darf, deren Erfüllung nur ein „autonomer Gehorsam" sein kann. Ausdrücklich hervorgehoben ist der Bezug zu Kant und dessen Gegenüberstellung von „Autonomie" und „Heteronomie". O b der Begriff „Theonomie" gerade von Kant her überhaupt möglich ist oder welcher Art Bestimmung durch Gott f ü r Kant „Heteronomie" ist, wird nicht gefragt. Und damit ist die zweite Feststellung vorbereitet, die durch die zuvor angeführten Belege instruktiv verdeutlicht wird. Merkwürdig problemlos wird seit geraumer Zeit „Autonomie" als selbstverständlich vorausgesetzt: „Autonomie ist f ü r Kant der Obertitel für alle philosophischen Bemühungen ( . . . ) und damit der Vernunftkritik." 2 5 Diese Feststellung in einer sich sicherlich als kritisch verstehenden Enzyklopädie geht über jegliche Differenzierung hinweg, die bei Kant nachzuweisen ist. Andere Artikel bleiben entweder sehr pauschal 26 oder stellen Spekulationen an, die den philosophiegeschichtlichen Hintergrund oder überhaupt den Terminus „Autonomie" als Leitfaden im Grunde außer acht lassen 27 . Um so dringlicher dürfte es sein, nach einer Präzisierung des Verständnisses von „Autonomie" zu fragen. Die häufige und selbstverständlich scheinende Verwendung von „Autonomie" täüscht darüber hinweg, daß dieser Begriff vornehmlich in der Fassung, die Kant ihm gegeben hat, faktisch unbekannt geblieben ist.
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Eberhard Amelung, Autonomie, in: T h e o l o g i s c h e Realenzyklopädie V, Berlin 1980,
4-17. 24 Hans Blumenberg, A u t o n o m i e - T h e o n o m i e , in: D i e Religion in Geschichte und G e g e n wart I, Tübingen M957, 7 8 8 - 7 9 2 . 25 Oskar Schwemmer, Autonomie, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Mannheim 1980, 2 3 2 - 2 3 4 , 233 mit Hinweis auf Immanuel Kant, Opus postumum vgl. u. 3.3 mit A n m . 5 2 , 54, 57. Bei Kant aber ist „Autonomie" durchgängig kein Obertitel. 26
E. Amelung, aaO. Günter Rohrmoser, Autonomie, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. von Hermann Krings u.a., I, München 1973, 153-170. Vgl. auch die u. im Exkurs genannte Arbeit von Michael Welker. 27
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2 Zur ursprünglichen Bedeutung von Autonomie Die Feststellung eines Bedeutungszuwachses, wie er sich in der Aufnahme bzw. der eindringlicheren Behandlung des Stichworts „Autonomie" in Lexika anzeigt, signalisiert eine neue Phase in der Geschichte dieses Wortes. Diese Tatsache läßt nach der Begriffsgeschichte insgesamt fragen. Für sie ergibt sich ein merkwürdiger Tatbestand: Die Begriffsgeschichte von „Autonomie" ist wenigstens in großen Zügen verfolgt worden 1 ; die bisher erreichten Ergebnisse der Begriffsgeschichte finden jedoch selbst in thematischen Abhandlungen durchgängig keine Beachtung 2 . Eine Begriffsgeschichte von „Heteronomie" gibt es nicht, auch ist bislang unbekannt, wie es zu dieser Begriffsbildung gekommen ist. Schon daraus muß gefolgert werden, daß die uns so geläufige und scheinbar selbstverständliche Antithese von „Autonomie" und „Heteronomie" keineswegs seit je - auch sachlich nicht - von Bedeutung gewesen ist. Wir haben es, soweit bis jetzt zu sehen ist, mit einer erstmalig durch Kant bedeutsam gewordenen und möglicherweise überhaupt erst von ihm gebildeten Antithese zu tun, die Kant überdies mindestens zunächst in einem sehr präzisen Zusammenhang verwendet hat, wie im folgenden zu belegen ist. Einfachhin von „Autonomie" oder gar von „absoluter Autonomie" zu sprechen, wird durch die Begriffsgeschichte und den präzisen Zusammenhang bei Kant erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Die Frage lautet, ob und, wenn ja, inwiefern Kants Gebrauch von „Autonomie" und damit zusammenhängend auch von „Heteronomie" (wenn es diesen Begriff überhaupt vor ihm gegeben haben sollte3) von der Begriffsgeschichte bestimmt ist. 1
Hier ist der Hinweis auf das Stichwort „Autonomie" von R. Pohlmann zu wiederholen. Vgl. etwa die im Exkurs genannten Arbeiten. Bezeichnend ist, daß Peter Cornelius Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität. Rousseau in den Spuren von Hobbes? ( = Soziologische Essays), Neuwied 1968, die Bedeutung von Autonomie voraussetzt; es findet sich kein Hinweis darauf, ob der Terminus etwa bei Rousseau überhaupt belegt ist. Sorgfältig formuliert dagegen Klaus Reich, Rousseau und Kant ( = Philosophie und Geschichte 61), Tübingen 1936, 12-19. 3 Nach Auskunft des Thesaurus Linguae Graecae, University of California, kommt bei einer beträchtlichen Anzahl von Autoren bis in die Patristik hinein, die auf meine Anfrage hin geprüft wurden, „heteronomos" nirgends vor. Für die Auskunft danke ich Prof. Dr. Theodore F. Brunner. Bei Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar, München 1974, 104, findet sich die Aussage, daß Kant die Bezeichnung für eine bestimmte, nämlich „heteronome" Art des Handelns aus der Politik entlehnt hat; leider bleibt diese Aussage ohne Beleg, so daß nicht auszumachen ist, ob Beck tatsächlich einen Beleg für „Heteronomie/heteronom" vor Kant vorzulegen hat. - Ungenau ist auch Becks Hinweis darauf, daß vor Kant nur Rousseau die Lehre von der „Autonomie" formuliert hat, mit Hinweis auf Rousseaus „Contrat social" I 8, ebd. 189, wenn bei Rousseau zwar von einem Zusammenhang von Gesetz und Freiheit die Rede ist, der Begriff „Autonomie" jedoch fehlt. 2
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
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Überprüfen wir unseren alltäglichen Sprachgebrauch, läßt sich leicht feststellen, daß „Autonomie" hier nicht primär eine philosophische, sondern eine politische Kategorie ist, die der Bezeichnung einer Unabhängigkeit und Selbständigkeit in einem präzisen Sinn dient: „Autonomie" bedeutet relative Selbständigkeit in einem umfassenden Hoheitsgebiet, die nicht tangiert werden darf, wie sie ihrerseits nicht den ihr gesteckten Rahmen überschreiten darf. „Autonomie" ist vornehmlich ein (quasi) völkerrechtlicher Begriff, da sie vertraglich vereinbart wird, wobei die Vertragspartner nicht gleichrangig sind. Korrekt ist daher z.B. von einem „Autonomie-Statut" für Südtirol die Rede oder nach dem Ersten Weltkrieg von einer „Autonomie" für das Memelgebiet. Daß dieser präzise Sinn von „Autonomie" lange maßgeblich und wohl auch ursprünglich war, zeigt schon ein erster Blick in die Geschichte des Begriffs: Seit dem Mittelalter bedeutet „Autonomie" die Selbstbestimmung des Adels, kirchlicher Gemeinschaften, der Städte oder Universitäten; sie war damit Selbstbestimmung im Rahmen umfassender Gemeinwesen, deren Rechte die „autonom" gegebenen Gesetze nicht aufhoben 4 . „Autonomie" bedeutet somit keineswegs Souveränität 5 . Eben dieser Sprachgebrauch liegt bereits in der Antike vor, nämlich bei Thukydides (ca. 460-ca. 400 v. Chr.), der den Begriff erstmalig häufig und in dieser besonderen Bedeutung verwendet. „Autonomie" bzw. „autonom" und „autonom-sein" bedeutet bei ihm die innere Selbständigkeit einer Stadt unter der Oberherrschaft einer anderen, so daß diese Stadt keine volle Souveränität besitzt; letzteres allein wird als Freiheit bezeichnet, die keinerlei innere und äußere Unterordnung einschließt 6 . Dieser bei den Griechen erst relativ spät gebildete 7 und schwerlich zentrale Begriff 8 bezieht sich also eindeutig auf den politischen Bereich. Dies war auch vor Thukydides schon bei Herodot (ca. 484-nach 430 v. Chr.) der Fall, bei dem sich zweimal das Wort „αυτόνομος" findet 9 . Einiges spricht dafür, 4 Brockhaus Enzyklopädie II, Wiesbaden 1967, 158 f. - Zur Verwendung des Begriffs im Mittelalter s.u. Anm. 13. 5 Diese Differenz scheint in der aktuellen Diskussion über die „Autonomie" der Palästinenser weithin übersehen zu werden, wenn von einem selbständigen Palästinenserstaat die Rede ist. ' Elias J. Bickerman, Autonomia. Sur un passage de Thucydide (I, 144,2), in: Revue internationale des droits de l'antiquité, 3.Ser., Tome 5 (1958) 313-344, bes. 326 f, 339. Diese instruktive Untersuchung ist zum folgenden durchgängig heranzuziehen. - Vgl. bei Thukydides z.B. I, 113,4; II, 16,1; III, 10,6; 11,2; 46,5; V, 18,2; 31,4; 77,5; VI, 77,1; 84,2; VIII, 21. Völlig verfehlt ist die Angabe bei Gerald Dworkin, The Concept of Autonomy, in: Grazer philosophische Studien. Internationale Zeitschrift für analytische Philosophie 12/13 (1981) 201-213, 207: „A city had autonomia when its citizens made their own laws, as opposed to being under control of some conquering power." 7 E. Bickerman, aaO. 339. * Dies gegen R. Pohlmann, aaO. 701. ' Herodot I, 96; VTII, 140.
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daß das Wort hier nicht vom Begriff „Gesetz" (νόμος), sondern von dem auch diesem Begriff zugrundeliegenden „zuteilen" (νέμειν) abgeleitet ist10. Die gleiche Ableitung mag bei Sophokles (497/6-406/5 v. Chr.) vorliegen, wenn er Antigone in der gleichnamigen Tragödie ,,αύτόνομος" in den T o d gehen läßt 11 . Mit dieser Aussage „die innere Haltung der Antigone als Autonomie" gekennzeichnet zu sehen 12 , dürfte eine erst durch und seit Kant mögliche Interpretation sein; denn bei Sophokles kann nicht von einer das Subjekt auszeichnenden Bestimmung, die von einer politisch-gesellschaftlichen als ihr überlegen losgelöst sein sollte, die Rede sein. Antigone weist sich selbst ihren Weg in den Tod, wobei die sich später bei Thukydides findende Präzisierung durchaus schon vorbereitet sein kann; denn Antigone handelt als selbständige im Rahmen eines übergeordneten Gemeinwesens. Daß die innere Haltung nicht Subjektivität im neuzeitlichen Sinne sein kann, bedarf keines weiteren Hinweises. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß an der Bedeutung von „Autonomie" bei Thukydides kein Zweifel sein kann: Sie meint innere Selbständigkeit im Rahmen eines übergeordneten Machtbereichs. Während der Begriff „Autonomie" im Mittelalter bislang nicht nachzuweisen ist13, taucht er zu Beginn der Neuzeit in eben diesem antiken Sinn 10
E.Bickerman, aaO. 341. - Interessant ist, daß H e r o d o t Í, 95, berichtet, wie die Perser von den Assyrern die Führung über Asien übernehmen (ήγεΐσθαι); zuerst fielen die M e d e r ab, und dann alle anderen, so d a ß alle auf dem Festlande autonom geworden waren. Dabei haben aber aufs Ganze gesehen jeweils Assyrer, Meder und Perser die Oberhoheit gehabt, so daß die „Autonomie" an dieser Stelle implizit einen Hinweis darauf geben kann, daß nicht alle, mindestens nicht durchgängig, eine volle Souveränität haben erlangen und behalten können. An der zweiten Stelle H e r o d o t s VIII, 140, wird den Athenern von Xerxes angeboten, „autonom" und „frei" zu sein. An dieser Stelle werden „autonom" und „frei" nebeneinander gestellt, wobei auch hier ein Bezug zum Großkönig der Perser, der stets eine gewisse Hegemonie besaß oder erwarb, vorliegt. So ist nicht ausgeschlossen, daß schon bei H e r o d o t der spätere Sprachgebrauch des Thukydides grundgelegt ist. 11 E.Bickerman, aaO. 343. - Zu pauschal bleibt der Kommentar von I.C.Kamerbeek, T h e Plays of Sophocles, Commentaries III: T h e Antigone, Leiden 1978, 148. Widersprüchlich ist, wenn er f ü r Antigone zugleich Ungehorsam und Unabhängigkeit von anderen Gesetzen gegeben sieht. 12 R. Pohlmann, aaO. 701. 13 R. Pohlmann, aaO. 702. Uberraschend ist, daß anscheinend problemlos H a n s Blumenberg, aaO., auch f ü r das Mittelalter von „Autonomie" spricht, ohne daß ihm das Fehlen dieses Begriffes und die N e u a u f n a h m e zu Beginn der Neuzeit Anlaß zu einer Bemerkung ist. Zu fragen ist, ob und ggf. in welchem Sinne von „Autonomie" vornehmlich bei T h o m a s von Aquin gesprochen werden darf, da Verständnis und Problematik neuzeitlicher Vernunft sich keinesfalls kontinuierlich aus mittelalterlichen Konzepten entwickelt haben. - Alfons Auer, Die Autonomie des Sittlichen nach T h o m a s von Aquin, in: Klaus Demmer und Bruno Schüller (Hg.), Christlich glauben und handeln. Fragen einer fundamentalen Moraltheologie in der Diskussion (Fs. f ü r Josef Fuchs), Düsseldorf 1977, 31-54; Karl-Wilhelm Merks, T h e o l o gische Grundlegung der sittlichen Autonomie. Strukturmomente eines ,autonomen' N o r m b e gründungsverständnisses im lex-Traktat der Summa theologiae des T h o m a s ( = Moraltheologische Studien 5), Düsseldorf 1978; Bénézet Bujo, Moralautonomie und N o r m e n f i n d u n g bei
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
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wieder auf: Nach der Reformation gewinnt „Autonomie" eine nachhaltige Bedeutung zur Charakterisierung einer nicht zuletzt den politischen Bereich betreffenden Freistellung des Glaubens 14 . In dieser Bedeutung bleibt der Terminus weiterhin in Geltung, wie eine anonyme Schrift zum Westfälischen Frieden belegt15. „Autonomie" meint in diesem Verständnis präzise nicht Souveränität bzw. absolute Freiheit, noch weniger Freiheit der Subjektivität, sondern Freizügigkeit einer Gruppe oder auch einzelner im politischen Sinn unter Anerkennung einer Oberhoheit. Diese Bedeutung läßt sich belegen bei Hugo Grotius (1583-1645), bei dem „Autonomie" die Selbständigkeit der jüdischen Gemeinde in der alexandrinischen Diaspora bezeichnet 16 . Daß freilich in dieser frühen Zeit „Autonomie" nur selten vorkommt, läßt sich bei Johannes Althusius (1557-1638) sehen; in seiner nachhaltig wirksamen „Politica" verwendet er zwar den Terminus ,,αύτόνομος" 17 , doch schenkt er ihm keine weitere Aufmerksamkeit; und für „autonomia" ließ sich keine Belegstelle nachweisen. Die zuvor genannten Belege dürfen also nicht den falschen Eindruck erwecken, als hätte man diesem Terminus verbreitet eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet. Exakt die ursprüngliche Bedeutung ist auch bei Heinrich von Cocceji (1644-1719) erhalten geblieben: „Autonomie" kennzeichnet die eigene innere Gesetzgebung eines besiegten Gemeinwesens unbeschadet der Oberhoheit des Siegers; durch diese innere Selbständigkeit bleibt eine solche unterworfene civitas ein Mitglied der siegreichen civitas18. In umfangreicheren Ausführungen entfaltet Cocceji diese Bedeutung im Rückgriff auf antike Texte und vor allem auf Thukydides 19 . Ein eigenes Kapitel widmet er der „Autonomie" der Juden 20 . Cocceji weist also ein höchst präzises Wissen um die spezifische Konzeption von „Autonomie" auf 21 . Thomas von Aquin. Unter Einbeziehung der neutestamentlichen Kommentare ( = Münchener Universitätsschriften NF 29), Paderborn 1979, setzen die Möglichkeit, bei Thomas von „Autonomie" zu sprechen, zu selbstverständlich voraus. 14 R. Pohlmann, aaO. 702, mit Hinweis auf Franciscus Burgcardus, De Autonomia, das ist Freystellung mehrerlay Religion und Glauben, München 1586. 15 Autonomia oder Freystellung der Religion/wie dieselbe von den Hochansehnlichen Kaiserlichen Herren Plenipotentiariis eingewilliget/und zu Oßnabrug den Schwedischen übergeben worden... Im Jahr 1647. 16 Hugo Grotius, De imperio Summarum Potestatum circa Sacra, in: Opera omnia theologica III, Amsterdam 1679, reprogr. Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 221 a 53; vgl. auch 263 a 17. 17 Johannes Althusius, Politica, cap. 9; Herborn 1614, reprogr. Neudruck Aalen 1961, 174. " Henricus de Coccejus, Autonomia Juris Gentium Sive de Discrimine Civitatis Mediatae et Immediatae, Liberae et non-Liberae, Frankfurt 1720, cap.I 18ff; S. 19f. " Ebd. cap.I 14ff; S.224-253; vgl. auch cap.XXII 5, S.415. 20 Ebd. cap.I 17; S.253-260. 21 Es steht dahin, ob sich die kurze Charakterisierung bei R. Pohlmann, aaO. 703, nach der „Autonomie" mit „Freiheit" gleichgesetzt erscheint, aufrecht erhalten werden kann.
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Im gleichen Verständnis, freilich ohne die Einschränkung durch eine Oberhoheit kenntlich zu machen, verwendet Johann Gottlieb Heineccius (1681-1741) „Autonomie"; in den Ausführungen über das persönliche Recht findet sich ein Abschnitt über das Recht der Städte, denen nicht Freiheit und „Autonomie", sondern nur Jurisdiktion zukommt 22 . Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Städte noch nicht einmal das Recht haben, in ihrem Bereich eigene Gesetze zu erlassen. Wie genau Herkunft und Problematik des Terminus „Autonomie" im 18.Jh. bekannt war, mag zusammenfassend der folgende Text verdeutlichen, den Caspar von Real (1682-1752) formuliert hat: „Dieses Wort Autonomie kommt aus dem Griechischen her, und bedeutet eine vollkommene Freyheit und gänzliche Unabhängigkeit; nichtsdestoweniger waren diejenigen Städte, so diesen Titel führten, sämtlich einer anderen Bothmässigkeit unterworfen... Diejenigen Städte, welche bey den Alten den Titel Autonomen führten, hatten nichts weniger als eine gänzliche und uneingeschränkte Freyheit, sondern nur einen ganz geringen Theil davon; und dieser bestund hauptsächlich darinn, daß ihnen vergönnet ward ihre alte Regierungsform beyzubehalten und nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, ohne an die Gesetze derjenigen Macht, unter welcher sie stunden, gebunden zu seyn."23
Richtig an dieser Aussage ist, daß man dem griechischen Wort nicht ansieht, daß „Autonomie" bereits von Anfang an eine erheblich eingeschränkte „Selbstgesetzgebung" gewesen ist, nämlich nur eine innere unter der Oberhoheit einer anderen Macht. Man kann lediglich darüber streiten, ob man diese innere Eigenständigkeit relativ hoch oder niedrig bewertet. Bei von Real ist, wie vor ihm bei Cocceji, letzteres der Fall. Wie selten aber „Autonomie" weiterhin blieb, ergibt sich daraus, daß der Terminus bei einigen Autoren nicht weiter gebräuchlich war. So ergaben ausführliche Recherchen für Christian Wolff (1679-1754) außer dem bislang bekannten Beleg24 keinen weiteren Fund. Die bei ihm mehrfach nachweisbare Unterscheidung einer „potestas summa" von „potestates mino-
22 Johann Gottlieb Heineccius, Elementa juris Germanici tum veteris, tum hodierni, I § 114, Halle 1736, I, 84. - Die Suche nach weiteren Belegen blieb ergebnislos. 23 Caspar von Real, Die Staatskunst. Oder: vollständige und gründliche Anleitung zu Bildung kluger Regenten, geschickter Staatsmänner und rechtschaffener Bürger, I: Allgemeiner Grundriß der Staatslehre, Frankfurt-Leipzig 1762, 283-286, 283. Abschließend zu diesem Text heißt es, daß doch auch die „autonomen" Städte dazu verpflichtet wären, eine gewisse Anzahl von Truppen zu halten und gleich anderen Untertanen Gehorsam zu leisten, 286. Die Identifizierung von v. Real nach: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinen Gelehrten-Lexiko, angefangen von Johann Christoph Adelung und fortgesetzt von Heinrich Wilhelm Rotermund, VI, Bremen 1819, reprogr. Neudruck Hildesheim 1961, 1482. 24 Vgl. R. Pohlmann. aaO. 707 unter Verweis auf Christian Wolff, Philosophia civilis... I (1756) § 485.
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
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res"25 bzw. die Unterscheidung von eingeschränkter und uneingeschränkter Gewalt der Obrigkeit weist zwar den Terminus „Souvraineté" auf 26 , doch blieb die Suche nach „Autonomie" in den ausführlichen Überlegungen zum „Jus Gentium" sowie zum „Jus naturae" ergebnislos 27 . Besonders überraschend erscheint, daß sich bei Johann Jakob Moser (1701-1785) trotz beträchtlicher Bemühungen nicht eine Belegstelle für „Autonomie" finden ließ, was angesichts des außerordentlich umfangreichen Werkes überraschen muß. Dieser in der Folge sehr einflußreiche Jurist hat gerade auch in solchen Zusammenhängen auf den Terminus „Autonomie" verzichtet, an denen er sich ihm nahegelegt hätte. Dies gilt einmal für Religionsfragen und sodann für Fragen der Unterordnung der Landeshoheit unter den Kaiser28; daß Moser diesen Terminus selbstverständlich kennt, zeigt ein Referat einer Quelle, die er benutzt hat 29 . Aus diesem Sachverhalt darf geschlossen werden, daß der Terminus „Autonomie", selbst wenn sich weitere Belege nachweisen ließen, dennoch in Mosers Staatsrecht keine Bedeutung hat. Ob dies daran liegt, daß Moser primär die Oberhoheit im Auge hat und deswegen weniger auf die genuinen Rechte jener Hoheiten einging, die dieser unterstellt waren, kann hier auf sich beruhen bleiben. Besonders aufschlußreich wäre es gewesen, den Befund bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1717-1762) umfangreicher erheben zu können. In seiner „Ethica philosophica" 30 kommt „Autonomie" jedoch nicht vor. Aufschlußreich wäre Baumgarten vor allem deswegen gewesen, weil er in besonderem Maße die Aufmerksamkeit Kants gefunden hat. 25 Christian Wolff, Jus Gentium, Halle 1749, reprogr. Neudruck in: ders., Gesammelte Werke, II 25, Hildesheim 1972, § 368 u. § 772ff, S.296ff u. S.626ff. 26 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen, Franckfurt-Leipzig 4 1736, reprogr. Neudruck in: ebd. I 5, Hildesheim 1975, 541 f über die eingeschränkte Gewalt der Städte über die Souveränität ebd. 464 ff, 473. 27 Christian Wolff, Institutiones Juris naturae et gentium, Halle 1749, reprogr. Neudruck in: ebd. II 26, Hildesheim 1972; ders., Jus naturae, reprogr. Neudruck in: ebd. II 23 f. Vgl. auch ders., Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle 1754, reprogr. Neudruck in: ebd. I 19, Hildesheim 1980. 28 Zu Religionsfragen vgl. Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht (gewöhnlich bezeichnet als: Neues teutsches Staatsrecht), Franckfurt-Leipzig 1766-1782, reprogr. Neudruck Osnabrück 1967, Bd.4,1: Von denen Teutschen Reichs-Tags-Geschäften, etwa 433-447; Bd. 7: Von der Teutschen Religions-Verfassung, etwa 1-96; Bd. 20: Teutsches Auswärtiges Staats-Recht, 119 ff. Zur Frage der Unterordnung unter den Kaiser vgl. ebd. Bd. 14: Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, etwa 248-274; zur Souveränität vgl. hier 17, zu souverän 253, 256f. 29 Ebd. Bd. 7, 37, mit Hinweis auf Carl Friedrich Gerstlacher, Bestätigung der rechtlichen Untersuchung, Carlsruhe 1773: „Autonomie oder Freystellung der Religion". 30 Gottlieb Alexander Baumgarten, Ethica philosophica, Halle 1740, 3 1763, reprogr. Neudruck Hildesheim 1969.
„Autonomie - Heteronomie"
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Dasselbe ist von Gottfried Achenwall (1719-1772) zu sagen. Dessen Naturrecht hat Kant seinen Vorlesungen zeitweilig zugrunde gelegt 31 . Auch bei ihm ließ sich „Autonomie" bislang nicht nachweisen. Dabei berührt er durchaus Themen über die Wissenschaften 32 , die Religion 33 oder die Notwendigkeit, zur Hebung der Bevölkerung eines Landes Fremde hereinzuholen und mit besonderen Vergünstigungen auszustatten 34 , bei denen der Terminus sehr wohl hätte verwandt werden können 35 . Daß der Terminus „Autonomie" gleichwohl zu dieser Zeit gängig war, zeigt sich bei Johann Stephan Pütter (1725-1807). Er nimmt „Autonomie" überraschenderweise gerade dort auf, w o er gegen die These einer Fortsetzung des römischen Reichs durch das deutsche eine lange Selbständigkeit deutschen Rechts bzw. deutscher Verfassung konstatiert. Hier billigt er den Freien eine eigene Verfügung „nach freyester Willkühr" zu und nennt diese „Autonomie", „die allen freyen Personen und Gemeinschaften aufs vollkommenste zukam", die also für Personen besonders des Adels wie auch für Landschaften und Städte galt 36 . „Autonomie" wird also gerade für deutsches Recht reklamiert und nicht als ein Erbe der Antike angesehen. Offensichtlich schätzt Pütter diese „Autonomie" hoch ein: sie ist „die Freyheit seine Geschaffte und Rechtsverhältnisse nach selbsterwehlten Richtschnuren einzurichten" 37 . Pütter bestimmt „Autonomie" von denen her, denen sie zukommt, und zwar als ihre „Freyheit, nach eigenen Gesetzen zu leben, und ihre Handlungen ohne Wissen der Obern nach Willkühr einzurichten" 38 . 31
Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen ( = Juristische Abhandlungen 10), Frankfurt 1971, 34 f. Hier auch der Hinweis auf den Einfluß Baumgartens sowie Wolffs. D a ß ein Einfluß anderer Juristen auf Kant nicht genauer nachgewiesen werden kann, gerade auch solcher nicht, deren Bücher sich in Kants Bibliothek befanden, vgl. ebd. 32. 52 Gottfried Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen, Göttingen 1761, 159 f. » Ebd. 161 ff. 34 Ebd. 184 ff. 35 Auch in den Schriften von Gottfried Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundrisse, I, Göttingen Ί 7 8 1 , sowie ders., Prolegomena juris naturalis, Göttingen 1767, sowie ders., Jus naturae, I, Göttingen 1755, II 1759, findet sich kein Beleg f ü r „Autonomie". Besonders auffällig erscheint dies an der Stelle, wo Achenwall die übliche Umschreibung verwendet: „Utitur iure suo (exercet illud), qui actionem, in quam ipsi ius est, actu agit." Prolegomena, 81. 36 Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, I, Göttingen 1776, reprogr. Neudruck Frankfurt 1965, 4 0 f ; ebd. III, Göttingen 1783, reprogr. N e u d r u c k Frankf u r t 1965, 302, gibt er eigens Literatur zur Autonomie an: Pet. Gallade, diss. II de autonomia privata, Heidelb. 1769, sowie Joh. Christ. Majer von der A u t o n o m i e . . . (s. dazu u. Anm. 39). 37 Das zeigt sich auch in anderem Zusammenhang, vgl. J o h a n n Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte, II, Göttingen 1779, 11 wiederum auf Personen, und ebd. 71 auf Städte, Landschaften oder Geschlechter, ebd. 112 auf den Adel bezogen. 3> Johann Stephan Pütter, Anleitung zum Teutschen Staatsrechte, übers, von Carl Anton
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
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Zeichen der Verbreitung ist sodann, daß Johann Christian Majer (1741-1821) dem Thema „Autonomie" ein eigenes Buch gewidmet hat. Auch bei ihm ist die übliche juristische Konzeption erhalten, wenn als „Autonomie" jene Gesetzgebung bezeichnet wird, die vornehmlich dem Fürsten- und unmittelbaren Adelsstand im römischen deutschen Reich zukommt 39 . Die spezielle Bedeutung von „Autonomie" ist für Majer so selbstverständlich, daß er sie im Text nirgendwo eingehender erläutert. Die Eindeutigkeit geht jedoch aus einer ausführlichen Anmerkung hervor, in der Majer sich auf die griechischen Ursprünge dieses Terminus bezieht und dabei konstatiert, es geschehe oft, „daß im Kriege ein Staat von dem andern überwältiget, und im nachher errichteten Frieden unterwürfig behalten, aber doch dermaßen bey seiner persönlichen Freyheit gelaßen worden, daß ihm erlaubt wurde, gleich einer andern freyen Gemeinheit, ... nach seinen eigenen Gesezen zu leben.. ,"40
Von hierher also ist durchgängig „Autonomie" zu verstehen, wenn sie aus den drei Grundrechten, nämlich der Oberherrschaft, dem Eigentum und der Freiheit resultiert. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung allein würde nämlich nicht eindeutig hervorgehen, daß Oberherrschaft im Zusammenhang mit „Autonomie" stets Oberherrschaft unter der Oberhoheit einer anderen Herrschaft meint 41 . Diese Bedeutung entspricht dem Duktus des ganzen Buches. Sie ist also auch für die Kurzformel anzunehmen: „Freyheit, Herrschaft und Eigenthum sind die Grundrechte der Menschen; die Urquellen der Autonomie; die zwo letzteren begründen eine gesezgebende Gewalt, durch die Erstere wird sie zur Eigenmacht erhoben." 42
Eine besonders aufschlußreiche Aussage findet sich bei Majer im Zusammenhang mit Ausführungen über die gesetzgebende Gewalt: Entsprechend seinen drei Grundrechten nennt er diese Gewalt im Zusammenhang mit der Oberherrschaft „Archinomie", mit dem Eigentum „Despotonomie", während er „Autonomie" speziell „aus der Verbindung der gesezgeblichen Gewalt mit der Freyheit" entspringen läßt 43 . Aufschlußreich Friedrich Graf von Hohenthal, II 1, Bayreuth 1792, 6f, vgl. 16 f; vgl. die später edierte lateinische Originalfassung: Institutiones iuris publici germanici, Göttingen Ί 8 0 2 , 231, in der die in der deutschen Fassung vorhandene Explikation fehlt und „autonomia" entsprechend dem Zusammenhang von der obersten Gewalt her zwar respektiert wird, aber eingeschränkter erscheint; vgl. auch ebd. 233, 238. " Johann Christian Majer, Autonomie vornehmlich des Fürsten- und übrigen unmittelbaren Adelsstandes im R. deutschen Reiche, Tübingen 1782, 3. 40 Ebd. 99, Anm.; in dieser langen Anmerkung weist Majer auf den lexikalischen Befund sowie auf griechische und römische Autoren hin, dabei ausdrücklich auf Cicero, der in der Ep. ad Atticum VI 2 den griechischen Terminus nennt. 41 Ebd. 96. 42 Ebd. 113. 45 Ebd. 97.
40
.Autonomie - Heteronomie"
sind diese Wortprägungen, weil sie sonst nicht eben gebräuchliche oder vielleicht gar neu gebildete Komposita zu ,,-nomie" darstellen. Diese Wortprägungen sind gerade in unserem Zusammenhang bedeutsam. Wenn also durchgängig in dem Buch Majers nicht ausdrücklich die spezifische Bedeutung von „Autonomie" als untergeordnete gesetzgebende Gewalt kenntlich gemacht ist44, so ist sie doch zweifelsfrei überall angenommen. In den Ausführungen zeigt sich das dort, w o Majer Termini wie „Staaten" und „Fürsten" schwerlich als souveräne Instanzen versteht, sondern als solche, die „von einem anderweitigen größern Staats-Vereine als Bestandtheile anzusehen sind"45. Offenkundig ist diese spezifische Bedeutung sodann im abschließenden Kapitel dieses Buches über die „Privatautonomie" nicht nur der Untertanen 46 , sondern speziell auch jener Staaten, die „einem andern wichtigeren Staate unterwürfig gemacht" sind47. Als Fazit darf daher angesehen werden, daß „Autonomie" ausdrücklich unterschieden wird von Freiheit48 und sich bezieht auf die „Autonomie unserer teutschen Landesherrn über ihre Unterthanen und Lande - im Verhältnisse gegen Kayser und Reich -" 49 . Diese Bedeutung von „Autonomie" wird in zweierlei Hinsicht unterstrichen: Einmal verwendet Majer in seinem weltlichen Staatsrecht diesen Terminus zur Bezeichnung von Rechten reichsunmittelbarer Untertanen, wenn er sagt, deren bürgerliche Privatrechte beruhten „theils von je her auf ihrer eigenen Autonomie, die in ihren einzelnen Familiengesetzen und anderweitigen Verträgen enthalten ist, theils auf Gewohnheiten und Her-
44 Vgl. ebd. 101 f. Vgl. die - freilich nicht erhebliche - „Autonomie" von Eltern über Kinder im außergesellschaftlichen Naturstande, 115f, bzw. die „öffentliche Autonomie" im Zusammenhang mit Ausführungen über einen Staat oder dessen Fürsten, der sich „im natürlichen Freyheitszustande der Völker befindet", 126 f. Hier erscheint Oberherrschaft und „Autonomie" identifiziert, doch wird abschließend auf die Einschränkung hingewiesen, d a ß es sich hier um „Privatsachen" handelt, die nur soweit unterworfen sind, „als es auf den Zweck des öffentlichen Staatsvereins, und die Beförderung der gemeinen äusserlichen Wohlfahrt, einen mittel- oder unmittelbaren Bezug hat", 128; es muß nach den vorausgegangenen Analysen davon ausgegangen werden, daß auch diese „Autonomie" nicht identisch ist mit Souveränität, sondern vielmehr als „Autonomie" einer Oberherrschaft unter einer anderen Oberherrschaft, jedenfalls aber als „Autonomie" im eingeschränkten Sinne zu verstehen ist. Aus dem Eigentum folgt ohnehin keine „Autonomie", vgl. 116 ff bzw. f ü r den M o n a r c h e n 194 ff. 45
Vgl. ebd. 124 f. Ebd. 199-304. 47 Ebd. 231 mit näheren Modifikationen, die hier auf sich beruhen bleiben können; vgl. auch 236. 48 „Autonomie" ist „ein bloß auf eine gesezgebliche Gewalt eingeschränktes Recht, das durch die Verbindung mit der Freyheit nur auf eine gewisse Art modifizirt wird, und nichts weniger, als die Fülle der Freyheit selbst, in sich faßt und ausdrükt", ebd. 234 f; abschließend findet sich gegen Cocceji der Vorwurf, Freiheit und „Autonomie" gleichbedeutend genommen zu haben, den R. Pohlmann ebenfalls auf Cocceji bezieht. 4 ' Ebd. 242. 46
Zur ursprünglichen Bedeutung von „Autonomie"
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kommen" 50 . Zum anderen verwendet Majer „Autonomie" häufiger in seinem geistlichen Staatsrecht zur Bezeichnung der Rechte, die erhalten bleiben beim Wechsel von einer Konfession zur anderen innerhalb des Reichs51. Immer bleibt „Autonomie" bezogen auf Personen oder Gruppen, die sich in übergeordneten Rechtsbereichen befinden. Für Majer ergibt sich also insgesamt, daß er „Autonomie" völlig selbstverständlich im präzisen Sinn der Tradition verwendet, darüber hinaus aber, daß er seltene oder neue Wortprägungen zu „-nomie" braucht, woraus sich eine gewisse Vorliebe für solche Wortbildungen schließen läßt. Demgegenüber ließ sich in sämtlichen Passagen, die für unser Thema zu Rate gezogen wurden, kein einziger Beleg für „Heteronomie" finden. Im 19.Jh. bleibt die bisher akzentuierte Bedeutung von „Autonomie" präzise erhalten. Als Beispiel soll Johann Ludwig Klüber (1762-1837) genannt werden. Bei ihm findet sich „Autonomie" in verschiedenen Zusammenhängen, die jeweils die restriktive Bedeutung sehr deutlich machen, die diesem Terminus eigen ist. So findet sich bei Klüber eine „Autonomie" der Bundesfürsten 52 , eine „Familien-Autonomie" der Standesherren 53 , aber auch eine „Autonomie" von Korporationen und Einzelpersonen 54 . Noch ist nicht deutlich gemacht, daß es sich hier jeweils um eher privatrechtliche Bestimmungen handelt, die „Autonomie" der Bundesfürsten geht auch über diese hinaus, doch scheint sich das Schwergewicht in Richtung auf das Privatrecht zu verschieben. Die grundsätzlich eingeschränkte Bedeutung zeigt sich sodann bei Johann Caspar Bluntschli (1808-1881). Wenn er auch nicht häufig von „Autonomie" spricht, so läßt sich jedoch zweifelsfrei eine genaue Kenntnis dieses Terminus bei ihm nachweisen. Anläßlich der Unterscheidung von Gesetzen im strikten und im analogen Sinn bezeichnet er letztere als solche, die durch „engere und kleinere Gemeinschaften und Organismen innerhalb des States Kraft ihrer Autonomie für ihre besondern Kreise" gegeben werden 55 . Sehr aufschlußreich ist hier eine neuerliche Begrenzung, 50 Johann Christian Majer, Teutsches weltliches Staatsrecht, II, Leipzig 1775, 333, vgl. III, Leipzig 1776, 62 ff. 51 Johann Christian Majer, Teutsches Geistliches Staatsrecht, Lemgo 1773,1 132 ff mit der Uberschrift „Von der Autonomie der weltlichen Stände". Vgl. auch die ausführlichen Darlegungen ebd. II 106-149, wo es „uneingeschränkte Autonomie der Unterthanen" heißt, 137, vgl. 107, bzw. wo eine „ungebundene Autonomie der Unterthanen" formuliert ist, ebd. 140f, vgl. 112. " Johann Ludwig Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt 4 1840, reprogr. Neudruck o.O. 1970, 59. 53 Ebd. 478, vgl. 553. M Ebd. 556. - Derselbe Befund ergibt sich bei Ferdinand Walter, System des gemeinen deutschen Privatrechts, Bonn 1850, 35 f. 55 Johann Caspar Bluntschli, Staatsrecht, I, München 4 1868, 13. Daß „Autonomie" unbedeutend bleibt, zeigt auch das Register, das diesen Terminus nicht enthält.
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„Autonomie - Heteronomie"
daß es sich nämlich nach Bluntschli hinsichtlich der „Autonomie" nur noch um eine Gesetzgebung im analogen, nicht mehr im eigentlichen Sinn handelt. Wie die „Autonomie" des näheren zu bestimmen ist, sagt er sodann in anderem Zusammenhang, wo sie als „Selbstgesetzgebung innerhalb des Gemeindebereiches" charakterisiert wird 56 . Wie selten jedoch der Terminus von ihm verwandt wird, zeigt sich darin, daß er ihn weder in seinen Ausführungen über das Verhältnis des Staates zur Religion 57 noch in denen über die Universität 58 verwendet. Dies muß deswegen verwundern, weil in letzterem Zusammenhang für das Mittelalter gesagt wird, daß damals die „corporative Selbständigkeit... bis zu voller Unabhängigkeit und einer Art von Souveränität gesteigert wurde". Gerade an dieser Stelle hätte jedoch die Verwendung von „Autonomie" nahegelegen. Eigens vermerkt werden soll, daß sich bei Bluntschli besonders an den angegebenen Stellen „Heteronomie" nicht nachweisen ließ, woraus geschlossen werden darf, daß dieser Terminus faktisch auch in dieser Zeit noch nicht im juristischen Bereich gängig geworden ist59. Dieser Sachverhalt läßt sich bis in das 20.Jh. hinein konstatieren. Lexika, die am ehesten ein gängiges und verbreitetes Verständnis repräsentieren, weisen bis in unsere Zeit hinein allenfalls einen Artikel „Autonomie" auf, jedoch keinen zu „Heteronomie" 60 . Letzterer Terminus findet sich auch nicht in den Darlegungen zur „Autonomie". Damit dürfte hinlänglich belegt worden sein, daß die Geschichte dieses Terminus in den letzten zweihundert Jahren hinsichtlich seiner ursprünglichen juristischen Bedeutung keine grundsätzliche Innovation erbracht hat. Vergleicht man nämlich diese letztgenannten Lexikaartikel mit jenem der Encyclopédie des 18.Jh.61, so ergibt sich damals wie heute: „Autonomie" war durchweg in st
Ebd. II, 468. Ebd. 264; auch im folgenden spielt „Autonomie" keine Rolle. 58 Ebd. 368 f. 59 K. Maurer, Autonomie, in: Johann Caspar Bluntschli, Deutsches Staats-Wörterbuch, I, Stuttgart-Leipzig 1857, 605-613. 60 Vgl. Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, hg. von Fritz Stier-Somlo und Alexander Elster, I, Berlin 1926, 500-503; ferner Lexikon des Rechts, hg. von Adolf Reiffscheid, Eberhard Böckel und Frank Benseier, Neuwied 1968, I 41; XI 24. Wenig präzise sind die Ausführungen von Leonidas Pitamic, Bemerkungen zum Begriff „Autonomie", in: Fs. für Adolf J. Merkel, hg. von Max Imboden u.a., München 1970, 301-309. 61 Vgl. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, publié par M.Diderot et M. D'Alembert, I, 1751, reprogr. Neudruck Stuttgart - Bad Cannstatt 1966, 897. Hier ist unter dem Stichwort „autonom" und „Autonomie" zunächst ein Hinweis auf das Privileg der griechischen Städte zu finden, die sich durch eigene Gesetze selbst regieren können, und dann folgt der Hinweis auf eine „anarchische Regierungsform, wo das Volk sich in Kantonen (Cantons) regiert, indem es sich im Krieg Führer gibt und Richter im Frieden, deren Autorität so lange währt, wie es denen gefällt, die sie ihnen übertragen haben." Spezifiziert auf die Selbstbestimmung im Sinne der „Freystellung der Religion, GewissensFreyheit" als Möglichkeit, seine Konfession selbst zu bestimmen, findet sich „Autonomia" in: 57
Z u r ursprünglichen Bedeutung v o n „Autonomie"
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seiner griechischen Herkunft bekannt und blieb im juristischen Bereich grundsätzlich in seiner ursprünglichen Bedeutung gebräuchlich. Als Ergebnis dieser Darlegungen bleibt festzuhalten: Kant muß „Autonomie" als politisch-rechtlichen Begriff aus dem gängigen Sprachgebrauch übernommen haben. Dabei läßt sich ein direkter Einfluß in dem Sinn nicht belegen, daß sich die Quelle dieser Übernahme hätte finden lassen. Denn bei einem besonderen Gewährsmann wie Achenwall ließ sich „Autonomie" eben nicht in jenem „Jus naturae" nachweisen, das Kant in seinen eigenen Vorlesungen über das Naturrecht zugrunde legte. Dasselbe gilt für Christian Wolff oder Alexander Gottlieb Baumgarten. Besonders hervorzuheben bleibt auch, daß sich in nicht einer der untersuchten Quellen der Terminus „Heteronomie" hat belegen lassen. Auch in der geschichtlichen Untersuchung Christian Ritters spielt dieser Terminus keinerlei Rolle 62 . Das ist deswegen von herausragender Bedeutung, weil die Vermutung geäußert wurde, Kant habe auch diesen Terminus übernommen. Die Möglichkeit einer solchen Übernahme kann selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden, doch fehlt für sie bislang jeglicher Beleg. Aus dem juristischen Bereich dürfte eine solche Übernahme auch kaum erfolgt sein, da sich „Heteronomie" als Terminus technicus bis in unsere Zeit dort nicht eingebürgert hat. Aus diesen Darlegungen folgt, daß es im juristischen Bereich bis heute keine genuine Antithese „Autonomie - Heteronomie" gibt, wie es etwa auch keinen Gegenbegriff zu Souveränität gibt, daß vielmehr „Autonomie" für sich allein eine spezifische Bedeutung hat. Anhand der vorausgegangenen Untersuchungen muß davon ausgegangen werden, daß Kant den Terminus „Autonomie" erst nach der Veröffentlichung seiner „Kritik der reinen Vernunft" (1781) in seine Überlegungen zur „Kritik der praktischen Vernunft" einbezogen hat. Durch die genauere Untersuchung des juristischen Sprachgebrauchs legt sich die früher schon einmal geäußerte Frage um so mehr nahe, ob und ggf. in welchem Sinne die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Autonomie" auch bei Kant noch durchscheint, so daß er sich veranlaßt sah, ihn zu übernehmen bzw. neu einzuführen, statt von Souveränität oder von Freiheit zu reden. Denn so sehr „Autonomie" im Zusammenhang von Freiheit zu sehen ist, so sind doch „Freiheit", „freier Wille" und „Autonomie" auch bei Kant nicht einfach identisch. Die Frage ist also, ob, statt wie bisher die Begriffsgeschichte der „Autonomie" von Kant oder, was noch viel problematischer ist, von einem gängigen Kant-Verständnis her zu lesen, nicht vielmehr gerade auch Kant von der Begriffsgeschichte her zu lesen ist. Johann Heinrich Zedier, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, II, Halle-Leipzig 1735, 2272. " Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants, bes. 121 f, 125 f. „Heteronomie" erscheint nur einmal in einer Anmerkung, 125.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
3 „Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant Um eine Antwort auf die eben gestellte Frage zu finden, ist es notwendig, der Bedeutung von „Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant nachzugehen. Hierfür ist zu beachten, in welchen Zusammenhängen diese Begriffe vorkommen, aber auch, in welchen Argumentationen von „Autonomie" und „Heteronomie" nicht die Rede ist, in denen man ihre Verwendung aufgrund eines heute üblichen Sprachgebrauchs erwarten würde. Ein erstes Ergebnis ist bereits in der Feststellung zu sehen, daß beide Begriffe auch in der „Kritik der reinen Vernunft" (1781) noch nicht vorkommen. Daraus wird man nicht schließen können, Kant habe das Wort „Autonomie" nicht gekannt, wohl aber, daß es ihm für seine Darlegungen noch nicht bedeutsam oder hilfreich erschien.
3.1 Erste Formulierung der Antithese in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" Die Antithese von „Autonomie" und „Heteronomie" findet sich zum ersten Mal in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785). Seither steht der Begriff „Autonomie" philosophisch „für die Möglichkeit und Bestimmung des Menschen, sich durch sich selbst in seiner Eigenschaft als Vernunftwesen zu bestimmen" 1 . Die Frage ist, ob diese Kennzeichnung nicht wegen ihrer Allgemeinheit mindestens mißverständlich ist, wenn sie nicht tatsächlich ein Mißverständnis enthält. Denn es ist auffällig, daß der Begriff „Autonomie" bei seiner ersten und fundamentalen Formulierung durch Kant nicht als generelle „Autonomie" des Menschen, sondern als „Autonomie des Willens" gefaßt ist2: „ A u t o n o m i e d e s W i l l e n s ist die B e s c h a f f e n h e i t d e s W i l l e n s , d a d u r c h derselbe i h m selbst ( u n a b h ä n g i g v o n aller B e s c h a f f e n h e i t der G e g e n s t ä n d e d e s W o l l e n s ) ein G e s e t z ist. D a s Princip der A u t o n o m i e ist also: nicht anders z u w ä h l e n als so, d a ß d i e M a x i m e n seiner W a h l in d e m s e l b e n W o l l e n z u g l e i c h als a l l g e m e i n e s G e s e t z
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R. Pohlmann, aaO. 707. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), B A 7 4 f ; IV 433, vgl. BA 85 f; 439. - Hier wie im folgenden wird Kant belegt nach der Erst- (A) und ggf. der Zweitausgabe (B) und zitiert nach: Kant's Gesammelte Schriften, hg. von der KöniglichPreußischen (später der Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910 ff (durch Semikolon von AB abgetrennt, wenn notwendig, durch AA gekennzeichnet; es wird zunächst, soweit erforderlich, die Bandzahl in römischen und dann die Seitenzahl in arabischen Zahlen angegeben). - Für die Mitteilung der Fundstellen danke ich Dr. Gerresheim, Philos. Seminar der Universität Bonn. 1
Erste Formulierung der Antithese
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mit begriffen seien. Daß diese praktische Regel ein Imperativ sei, d.i. der Wille jedes vernünftigen Wesens an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann durch bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist"3.
Schon diese Formulierung läßt auf einen komplexen Tatbestand schließen, in dem allein von „Autonomie" die Rede ist. Das bestätigt der folgende Zusammenhang des eben zitierten Textes, in dem Kant als Prinzip der Sittlichkeit den kategorischen Imperativ benennt, „dieser aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete" 4 . „Autonomie" meint in diesem frühen Text ein Stehen eines vernünftigen Wesens unter dem Gesetz, wobei zugleich dieses Gesetz stets dem Willen eines vernünftigen Wesens entspringen muß und der Wille als allgemein gesetzgebend anzusehen ist5. „Autonomie" schließt den kategorischen Imperativ, die unbedingte Pflicht nicht aus, sondern ist mit ihr kompatibel. Handeln nach der Maxime, „die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen" kann 6 , nach Maximen, „die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können "7, ist nicht nur kein Widerspruch zur „Autonomie", sondern konstitutiv für sie. Kant ist sich durchaus bewußt, daß hiermit ein „Paradoxon" zum Ausdruck gebracht ist, wie er ausdrücklich in diesem Zusammenhang sagt8, und daß die Frage nach denl Zirkel unvermeidbar ist, wenn „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens ...beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe" sind9. Wenn für Kant mit „der Idee der Freiheit... der Begriff der Autonomie unzertrenntlich verbunden" ist, so ist festzuhalten, daß mit diesem Begriff das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit verbunden ist, „welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen" 10 . In Analogie zu allen Erscheinungen, denen das Naturgesetz zugrunde liegt, ist „Autonomie" also an das allgemeine Sittengesetz gebunden, das allen Handlungen vernünftiger Wesen zugrunde liegt, d.h. „Autonomie" ist Selbstbestimmung in Bindung an, noch schärfer formuliert, in Unterwerfung unter das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit. „Autonomie" und „Pflicht", „Autonomie" und „kategorischer Imperativ"
3
Ebd. BA 87; 440. Ebd. 5 Ebd. BA 74; 428 f. 6 Ebd. BA 81; 436 f. 7 Ebd. BA 81 f; 437. 8 Ebd. BA 84 f; 439. 9 Ebd. BA 104 f; 450. Nach Kant ist die Frage nach jenem Paradoxon, wie wir „uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen," ebd. 10 Ebd. BA 109f; 452 f. 4
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
gehören zusammen 11 . Kant geht es in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" nicht um die sittliche Selbstbestimmung des Menschen, sondern um die Idee der Pflicht und der Sittengesetze, deren Verbindlichkeit absolute Notwendigkeit ist12. Entsprechend ist der Wille „nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß" 13 . Auch der korrespondierende Begriff „Heteronomie" wird von Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" nicht absolut, sondern in einem bestimmten Zusammenhang gebraucht: „Heteronomie" ist dann gegeben, wenn der Wille „in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll"14. Entsprechend sind auf diese Weise nur hypothetische Imperative möglich, nicht aber der moralische, der kategorische Imperativ 15 . Etwas wollen sollen um etwas anderen willen, z. B. etwas um der Glückseligkeit willen tun, ist nach Kant in diesem Zusammenhang „Heteronomie". Der Imperativ ist dann nicht mehr unbedingt, sondern bedingt 16 . Denn alle Gesetze, die durch ein Objekt bestimmt sind, geben „Heteronomie", „die nur an Naturgesetzen angetroffen werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann" 17 . Aufgrund einer Abhängigkeit von einer Bedingung gäbe es „kein moralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freiheit" 18 . Bezeichnend ist, daß das von Kant Gemeinte nicht anders als paradox formuliert werden kann: „Gesetz der Freiheit"; die Auflösung dieser Formulierung in die Antithese von Gesetz und Freiheit ist unzulässig. Auch von „Autonomie" kann nach diesen frühen Überlegungen Kants nicht ohne paradoxe Formulierungen die Rede sein. Die Aussagen dieser Texte ergeben, daß von „Autonomie" im engen Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ die Rede ist, dem verpflich11 Ebd. BA 111; 453 f. - H i n z u w e i s e n ist darauf, daß die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" von der Voraussetzung ausgeht, die in ihr nicht überprüft wird, daß synthetische Urteile a priori der reinen praktischen Vernunft möglich sind, vgl. ebd. BA 95 f; 444 f. Im epigonalen Kantverständnis scheinen die hypothetischen Argumentationen absolut g e n o m m e n zu sein. 12 Ebd. ΒΑ VIII; 389. 15 Ebd. BA 71 f; 431. 14 Ebd. BA 88; 441. 15 Zum kategorischen Imperativ vgl. die u. im Exkurs Anm. 1 genannte Arbeit von H.J.Paton. " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B A 9 3 f ; 444. 17 Ebd. BA 120; 458. N a c h dieser Stelle ließe sich das Objekt als äußeres charakterisieren. D a ß es jedoch auch eine Bestimmung über empirische Prinzipien hinaus durch rationale gibt, die gleichwohl „nichts als H e t e r o n o m i e des Willens z u m ersten Grunde der Sittlichkeit aufstellen", sagt Kant ebd. BA 89; 443. Es kann hier unerörtert bleiben, ob Kant anderwärts nicht grundsätzlich „Heteronomie" als durch äußere, empirische Prinzipien gegeben sieht. 18 Ebd. BA 128; 463.
Erste Formulierung der Antithese
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tet zu sein f ü r das Subjekt keine Einschränkung seiner „Autonomie" bedeutet; eine solche Einschränkung, nämlich „Heteronomie", wäre die Bestimmung des Subjekts durch ein Objekt, das statt zu einem allgemeinen, notwendigen lediglich zu einem hypothetischen Imperativ führen kann. Zugleich aber hat es sich gezeigt, daß von „Autonomie" dort die Rede ist, wo es nicht allein um das Individuum geht, sondern um eine Verbindlichkeit f ü r alle. Um diese beiden Aspekte auszudrücken, hat Kant einen Begriff des politischen Bereichs auf das Subjekt übertragen, wobei der spezifische Aspekt der ursprünglichen Wortbedeutung erhalten geblieben ist. Es geht nämlich nicht um die souveräne Selbstbestimmung eines Gemeinwesens bzw. des Subjekts, sondern um die unmittelbare Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz als ein inneres und notwendiges Gesetz, das das eigene T u n so bestimmt, daß es zugleich ein f ü r alle verbindliches Gesetz ist. Durch dieses allein kann Moralität und eben nicht lediglich Legalität der Handlungen bewirkt werden. Damit dürfte die Struktur des Autonomie-Begriffs erhalten geblieben sein, die sich f ü r die klassische Ausprägung des politischen Autonomiebegriffs bei Thukydides ergeben hatte. N u n ist zu überprüfen, ob „Autonomie" auch sonst bei Kant nicht generelle und absolute Selbstbestimmung ist, sondern Unabhängigkeit der (praktischen) Vernunft von Fremdbestimmung im Sinn einer Bestimmung durch Objekte und Bestimmung durch sich selbst als Bestimmung durch das Sittengesetz, das a priori notwendig und allgemein ist. Eine Bestätigung der bisherigen Begriffsbestimmung bei Kant dürfte die Beobachtung ergeben, daß die Termini „Autonomie" und „Heteronomie" im weiteren Werk Kants in signifikanter Häufigkeit und Bedeutung in der „Kritik der praktischen Vernunft" (1788) und der „Metaphysik der Sitten" (1797) sowie in der „Kritik der Urteilskraft" (1790) zu finden sind. Denn diese Schriften dienen gleichfalls der Grundlegung der Ethik und der Ästhetik. Gestützt wird diese Vermutung dadurch, daß von „Autonomie" und „Heteronomie" in den zentralen Reflexionen zum Thema Religion nicht die Rede ist, ob es sich nun um „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) oder um die entsprechenden Abschnitte im „Streit der Fakultäten" (1798) handelt. Wenn sich seit 1785 der Gebrauch dieser Begriffe nachweisen läßt und der Blick in Kants „Opus postumum" die Annahme nahelegen konnte, daß diese Begriffe zunehmend universaler gebraucht werden, so daß ihr Gebrauch sachlich schon in die „Kritik der reinen Vernunft" (1781) zurückverlegt werden darf 19 , so muß dieses Fehlen in Kants Überlegungen zur Religion zu großer Vorsicht mahnen. Hätte sich nicht bei der Differenzierung von statutarischer Religion und reiner Vernunftreligion nahegelegt, von „Heteronomie" und „Autonomie" " R. Pohlmann, aaO. 707.
48
„Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
zu sprechen? Eine Bestätigung der Vermutung kann man schließlich darin sehen, daß das Thema „Autonomie" in Kants Pädagogik (hg. 1803) keine Rolle spielt, obwohl es sich doch auch hier an zentralen Stellen nahezulegen scheint.
3.2 „Autonomie"
als politischer
Begriff
Als Leitmotiv hinter allen Überlegungen, die hier vorgelegt werden, steht die Frage, ob der ursprüngliche Gebrauch von „Autonomie" Grund für Kants Übernahme dieses Begriffs und prägend für seine philosophische Verwendung gewesen ist. Ein wichtiger Beitrag zu einer positiven Antwort ist darin zu sehen, daß Kant den Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung selbst aufgenommen hat. In seinen Überlegungen „Zum ewigen Frieden" (1795) spricht Kant von der „Autonomie" des Staates als der selbständigen Regelung seiner inneren Angelegenheiten: Die Einmischung äußerer Mächte in einen inneren Streit eines Staates würde „Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks... sein und die Autonomie aller Staaten unsicher machen" 1 . Hier meint „Autonomie" Selbstbestimmung in bzw. als Unabhängigkeit von außen. Dieser Aspekt dürfte für die Wortwahl ausschlaggebend gewesen sein, sonst hätte auch von Souveränität die Rede sein können, die zugleich eine innen- wie außenpolitische Selbständigkeit bezeichnet. Freilich wird man diese eher unspezifische Verwendung von „Autonomie" nicht überinterpretieren dürfen; sie allein würde nur die These einer politischen Verwendung des Begriffs „Autonomie" belegen, nicht aber die weitergehende These, daß sich eindeutig auch bei Kant die ursprüngliche politische Bedeutung von „Autonomie" als Selbständigkeit im Rahmen eines übergeordneten Machtbereichs nachweisen läßt. Ebenfalls nur den Aspekt eines Bezuges nach innen läßt die präzisere Verwendung von „Autonomie" in der „Metaphysik der Sitten" erkennen, wenn Kant die drei Gewalten des Staates (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria) als diejenigen bezeichnet, „wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat", und diese darin gegeben sieht, daß der Staat „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält" 2 . Kant führt diese Aussage näher aus, indem er als Heil des Staates, welches für den Staat höchstes Gesetz sein muß, nicht das Wohl oder die Glückseligkeit der Bürger, sondern den 1
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), BA 12; VIII
346. 2 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre, A 1 7 2 f / B 2 0 2 f ; VI 318. Zuvor war von Souveränität die Rede, vgl. A 165/B 195; VI 313.
. A u t o n o m i e " als politischer Begriff
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„Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht". Hier zeigt sich die Kompatibilität von „Autonomie" des Staates mit dem kategorischen Imperativ und zugleich, daß Kant seine Überlegungen zur „Kritik der praktischen Vernunft" auf den Staat bezieht 3 . „Autonomie" ist damit Selbstbestimmung im Rahmen der Bestimmung durch das allgemein verbindliche, notwendige moralische Gesetz. Deswegen vermag Kant das Heil des Staates nicht im Wohl und in der Glückseligkeit der Bürger zu sehen, da jede Objektbestimmtheit eben keine „Autonomie", sondern „Heteronomie" ist. Wenn Kant im Zusammenhang mit der „Autonomie" des Staates fundamentale Aussagen seiner „Kritik der praktischen Vernunft" heranzieht, so ist in der anfänglichen Verwendung von „Autonomie" im ethischen Kontext der Ursprung der Metaphorik von „Autonomie" erhalten geblieben. Deutlich läßt sich bei Kant der Übergang von einer ursprünglichen zu einer metaphorischen Bedeutung politischer Begriffe nachweisen, wenn er in den Vorarbeiten zur „Metaphysik der Sitten" nicht nur den Begriff „Autonomie", sondern auch den der „Autokratie" verwendet, wobei die „Autonomie" geringer anzusetzen ist als die „Autokratie"4. Beide Begriffe sind aber weiterhin in ihrer ursprünglichen politischen Bedeutung verwandt, wenn Kant in Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten" im Zusam' Hierin zeigt sich noch einmal, daß die „Kritik der praktischen V e r n u n f t " nicht individualistisch mißdeutet werden darf. Die metaphorische Verwendung von Begriffen aus dem politischen Bereich, die die Sozialität betreffen, belegt dies einmal mehr. Im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ läßt sich dies zeigen an der Formulierung eines „Reiches der Zwecke": Wenn der kategorische Imperativ so zu handeln befiehlt, daß die Menschheit in der eigenen Person wie in jeder anderen Person Jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel" gebraucht wird, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, B A 6 6 f ; IV 429, und wenn der Zweck ein „Zweck an sich selbst"ist, so weist der Begriff eines vernünftigen Wesens nicht einfach auf den Begriff des Zwecks, sondern auf den „eines Reichs der Zwecke", ebd. BA 74 f; 433. Ein Reich der Zwecke, das in Analogie zum Reich der N a t u r zu sehen ist, ebd. BA 84; 438, hebt auf die Sozialität jeden vernünftigen Wesens, auf die Beziehung dieser Wesen aufeinander ab, ebd. B A 7 5 f ; 433. Hier zeigt sich somit der Zusammenhang zwischen den Maximen, die das Handeln des einzelnen bestimmen, und Gesetzen, die f ü r alle verbindlich sind. „Autonomie" besteht nicht einfach innerlich-subjektiv darin, daß die Maximen des eigenen Handelns zugleich als allgemeine Gesetze cjienen können, sondern darin, daß jedes vernünftige Wesen unter dem Gesetz steht, sich und alle anderen zugleich als „Zweck an sich selbst"zu behandeln, wodurch „eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze" entspringt (ebd). 4 Der T e x t aus diesen Vorarbeiten lautet: „Tugend ist die moralische Stärke (fortitudo moralis) in Befolgung seiner Pflicht. Sie setzt objective Nöthigung durchs Gesetz d.i. Pflicht voraus und ist darin von der Heiligkeit unterschieden. Sie ist aber sich dieser nöthigenden Ursache als in dem Willen des Subjects selber enthalten bewust und einer Autocratie (nicht blos Autonomie) des moralischen Gesetzes gegen alle entgegenstehende Antriebe der Sinnlichkeit (Neigungen)." X X I I I 396. Vgl. die gekürzte A u f n a h m e in: Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 9; VI 283.
50
„Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
menhang mit einer Aussage über Regierung und Republikanismus feststellt: „Die Autonomie des Volks ist keine Autokratie" 5 . Zweifelsfrei liegt hier die originäre Verwendung des Begriffes vor. Daß Kant den Begriff „Autonomie" in seiner politischen Bedeutung im klassischen Sinn verwendet, läßt sich freilich erst durch die völlig eindeutigen Ausführungen im „Streit der Fakultäten" nachweisen. Hier spricht Kant gleich zu Beginn von der „Autonomie" der Universität, „denn über Gelehrte als solche können nur Gelehrte urtheilen" 6 . Präzisiert und eingeschränkt spricht Kant dann nur der unteren Fakultät, der philosophischen, „Autonomie" zu, da ausschließlich ihr eigen ist, allein nach der Vernunft zu urteilen, und eben dies ist „das Vermögen, nach der Autonomie, d.i. frei (Principien des Denkens überhaupt gemäß), zu urtheilen" 7 . Denn die drei übrigen „oberen" Fakultäten, die theologische, juristische und medizinische, unterliegen ebensowohl empirischen Voraussetzungen (der Bibel, dem Landrecht und der Medizinalordnung 8 ) als auch einer Verantwortung gegenüber der Regierung wegen ihrer Einwirkungen auf ein Publikum, auf das bürgerliche Gemeinwesen 9 . Davon ist - als untere - die philosophische Fakultät frei, die allein der Vernunft verpflichtet ist und mit den oberen Fakultäten, die eine andere Art von Publikum haben, zu streiten hat, damit diese nicht den Boden der Vernunft verlassen und gleichsam „Wundermänner" werden, denen der Wille des Volkes entgegenkommt, betrogen zu werden 10 . So sehr die oberen Fakultäten der Sanktion durch die Regierung zu Recht unterworfen sind11, so sehr bedürfen sie der kritischen Infragestellung durch die philosophische Fakultät, die also allein „Autonomie" beanspruchen kann. Diese „Autonomie" besteht in völliger Unabhängigkeit in ihrem eigenen Bereich. Die „Autonomie" der philosophischen Fakultät kann nicht dadurch eingeschränkt werden, daß sie sich in der Auseinandersetzung mit der theologischen Fakultät dieser unterwerfen müßte. Denn es muß der unteren Fakultät erlaubt sein, ihre Bedenken über die oberen Fakultäten dem gelehrten Publikum vorzulegen 12 , unbeschadet der Tatsache, daß es für die oberen „statutarische Vorschriften der Regierung in Ansehung der öffentlich vorzutragenden Lehren" geben müsse, „weil die unbeschränkte Freiheit,
5
Ebd. XXIII 432. Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten (1798), A 3; VII 17. 7 Ebd. A 25; 27. 8 Ebd. A 15; 23. ' Ebd. A 40 f; 34. 10 Ebd. A 3 3 f ; 31. 11 Ebd. A 39; 34. Mehr noch unterliegen dieser Sanktion die an den oberen Fakultäten Ausgebildeten wegen ihrer praktischen Tätigkeit, vgl. ebd. A 6; 18; A 14; 22. 12 Ebd. A 43; 35 f. 6
51
.Autonomie" als politischer Begriff
alle seine Meinungen ins Publicum zu schreien, theils der Regierung, theils aber auch dieserfi Publicum selbst gefährlich werden müßte" 13 . Die Präzisierung und Einschränkung der „Autonomie" auf die philosophische Fakultät ist besonders instruktiv, weil in ihr der eindeutig politische Gebrauch von „Autonomie" im Sinn der Selbständigkeit einer Institution im Rahmen der übergeordneten Rechtsordnung des Staates übertragen wird auf die philosophische Bedeutung von „Autonomie" im Sinn der Unabhängigkeit der Vernunft von jeglicher anderen Einwirkung. Ursprünglicher und metaphorischer Gebrauch von „Autonomie" sind hier miteinander verbunden, wobei Kant auch den metaphorischen zu einem genuinen hat werden lassen. Dadurch ist auch jene Stelle markiert, an der der Ubergang von einem ausschließlich politischen Sinn des Wortes „Autonomie" zu seiner Verwendung im philosophischen Sinne sich vollzogen hat. Daraus wird man schließen dürfen, daß die Struktur dieses Begriffes im philosophischen Kontext erhalten geblieben ist, Kant hätte sonst nicht diesen, sondern einen anderen Begriff wählen müssen, der seinem Anliegen besser, weil eindeutiger Rechnung getragen hätte. Bestätigt wird diese Interpretation durch zwei Beobachtungen: Einmal kommt an den Stellen, wo „Autonomie" im politischen Sinn gebraucht ist, der Begriff „Heteronomie" nicht vor. Dies stimmt damit überein, daß „Autonomie" als politischer Begriff ohne Entgegensetzung gebraucht wird. Zum anderen aber wird „Autonomie" der unteren Fakultät zugeordnet. Sie wird nicht dadurch behindert, daß es obere Fakultäten oder gar den Staat gibt. „Autonomie" dient also auch hier zur Kennzeichnung einer Selbstbestimmung einer nicht-souveränen Institution. Freilich bedeutet auch hier „Autonomie" nicht einfach Beliebigkeit, sondern Bindung an die Gesetze der Vernunft, die nicht durch die Vernunft noch einmal nach ihren Wünschen erlassen werden.
3.3 „Autonomie"
als philosophischer
Begriff
Nach einer ersten Exposition der Bedeutung von „Autonomie" und „Heteronomie" in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und dem Nachweis eines Gebrauchs von „Autonomie" im ursprünglichen politischen Sinn ist nun die Verwendung der Antithese in ihrer philosophischen Bedeutung zu klären. Trifft die verschiedentlich formulierte These zu, müßte „Autonomie" im übertragenen Sinn immer noch die ursprüngliche Bedeutung widerspiegeln und eine Selbständigkeit im Rahmen eines
13
Ebd. A 38; 33.
52
.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
übergeordneten Zusammenhangs bedeuten. „Autonomie" wäre nicht einfach identisch mit Freiheit und Souveränität1. Eine Analyse der einschlägigen Texte ergibt, daß „Autonomie" bei Kant durchgängig in einem sehr komplexen Zusammenhang gebraucht wird. Dies ist für Kants Schriften zur Ethik, für die „Kritik der Urteilskraft" und das „Opus postumum" nachzuweisen. „Autonomie" und „Heteronomie" der praktischen Vernunft „Autonomie" ist in Kants Schriften zur Ethik auch über die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" hinaus ein wichtiger Begriff. Er bedeutet die Annahme eines freien, guten Willens, der nicht von einem Objekt, und sei es die Glückseligkeit oder das höchste Gut, bestimmt ist2. „Autonomie des Willens" schließt die Einwilligung des freien Willens in seine Bestimmung durch das moralische Gesetz, das allein verbindlich, kategorisch zu befehlen vermag, nicht aus. Die Maxime des Handelns besteht „in der subjectiven Autonomie der praktischen Vernunft", nämlich darin, daß das Gesetz „uns zur Triebfeder dienen" müsse3. Und diese Bindung an das allgemeine Gesetz schaltet den freien Willen des Menschen nicht aus, sondern ein 4 . Also „ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei"5. Das moralische Gesetz drückt „nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit"; die „eigene Gesetz-
1 Dies trifft auch für Kant zu, vgl. Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, wo Souveränität die Legislative meint, d.h. als politischer und organisatorischer Begriff gebraucht ist, vgl. aaO. A 211 f f / B 241 ff; VI 340 ff. 2 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1787), A 196 f; V 109 f: „Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens. Da dieses aber blos formal ist (nämlich allein die Form, der Maxime als allgemein gesetzgebend fordert), so abstrahirt es als Bestimmungsgrund von aller Materie, mithin von allem Objecte des Wollens. Mithin mag das höchste Gut immer der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft, d.i. eines reinen Willens, sein, so ist es darum doch nicht für den Bestimmungsgrund desselben zu halten, und das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objecte zu m a c h e n . . . Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut nicht blos Object, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei: weil alsdann in der T h a t das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand nach dem Princip der Autonomie den Willen bestimmt." 3 Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 167 f; VI 480; diese Aussage wird getroffen anläßlich der Zurückweisung des Beispiels anderer Menschen als Maßgabe für moralisches Handeln. 4 Kritik der praktischen Vernunft A 237; V 131 f. 5 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 98; IV 447.
.Autonomie" als philosophischer Begriff gebung positiven
53
a b e r d e r r e i n e n u n d als s o l c h e p r a k t i s c h e n V e r n u n f t ist F r e i h e i t im V e r s t ä n d e " 6 . D i e F r e i h e i t d e s W i l l e n s k a n n n i c h t s a n d e r e s sein
als „ A u t o n o m i e " , n ä m l i c h „die E i g e n s c h a f t d e s W i l l e n s , sich selbst ein G e s e t z z u s e i n " 7 . U n d dieses G e s e t z k a n n d u r c h a u s als ein J o c h , w e n n g l e i c h als ein s a n f t e s , weil v o n d e r V e r n u n f t a u f e r l e g t e s J o c h a n g e s e h e n w e r d e n , d a s d e n M e n s c h e n d e m ü t i g t , weil i h m z u g e h o r c h e n ist 8 . D e r W i l l e eines v e r n ü n f t i g e n W e s e n s ist a l s o z u g l e i c h frei u n d g e b u n d e n , e r ist g e s e t z g e bend9 und dem moralischen Gesetz unterworfen. „ D a ß in der Ordnung der Zwecke der Mensch (mit ihm jedes vernünftige W e sen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals blos als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subject des moralischen Gesetzes, mithin dessen ist, was an sich heilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mit welchem auch überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann. Denn dieses moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines Willens, als eines freien Willens, der nach seinen allgemeinen Gesetzen nothwendig zu demjenigen zugleich muß einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll." 1 0 M ö g l i c h w i r d diese K o n z e p t i o n v o n „ A u t o n o m i e " d e s f r e i e n W i l l e n s in B i n d u n g a n d a s n o t w e n d i g e m o r a l i s c h e G e s e t z bei K a n t d u r c h d e n D u a l i s m u s v o n s i n n l i c h e r u n d ü b e r s i n n l i c h e r N a t u r . J e d e B e s t i m m u n g d u r c h die s i n n l i c h e N a t u r m i t i h r e n e m p i r i s c h b e d i n g t e n G e s e t z e n ist f ü r die V e r nunft „ H e t e r o n o m i e " ; „ A u t o n o m i e " setzt die übersinnliche N a t u r derselb e n W e s e n n a c h G e s e t z e n v o r a u s , die v o n a l l e r e m p i r i s c h e n
Bedingung
u n a b h ä n g i g s i n d 1 1 . D e m n a c h ist d a s m o r a l i s c h e G e s e t z „ d a s G r u n d g e s e t z einer übersinnlichen N a t u r und einer reinen Verstandeswelt"12. W o i m m e r
6 Kritik der praktischen Vernunft, A 59; V 33; daher ist diese Freiheit selbst „die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetz zusammenstimmen können". 7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 98; IV 447. 8 Kritik der praktischen Vernunft, A 151; V 85. Vgl. ebd. A 154; 86: „Pflicht ! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemühte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung...?" Vgl. ebd. A 64; 36: „Gleichwohl gebietet das sittliche Gesetz jedermann, und zwar die pünktlichste, Befolgung. Es muß also zu der Beurtheilung dessen, was nach ihm zu thun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüßte." ' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 111; I V 4 5 3 f . 10 Kritik der praktischen Vernunft, A 237; V 131 f. 11 Ebd. A 74; 43. 12 Ebd.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
ein äußeres Objekt ein praktisches Gesetz bestimmt, liegt Heteronomie vor, nämlich „Abhängigkeit vom Naturgesetze" 13 ; materiale Prinzipien sind zum obersten Sittengesetz untauglich 14 . Das moralische Gesetz ist „gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind", gegeben; seine Realität kann „durch keine Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden" 15 . Der hiermit umrissene Dualismus, die „Scheidung des Empirischen vom Rationalen" 16 veranlaßt Kant nicht nur, „Gegenstände" wie Lust, Glückseligkeit, Vollkommenheit, moralisches Gefühl, sondern auch den geoffenbarten Willen Gottes als oberstes Prinzip der Moral auszuscheiden, da „ihr Grundsatz allemal Heteronomie" ist17. Aufgrund der geschichtlich vermittelten Annahme Gottes die Übertretung des Gesetzes zu vermeiden, würde zwar dazu führen, daß das Gebotene getan wird, aber es bliebe dies äußerlich und eben nicht etwas, das aus Pflicht getan wird aufgrund jenes moralischen Gesetzes, welches, ohne zu verheißen oder zu drohen, „von uns uneigennützige Achtung fordert" 18 . Das christliche Prinzip der Moral, das Kant durchaus anerkennt, ist jedoch „nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst, weil sie die Erkenntniß Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Gelangung zum höchsten Gute unter der Bedingung der Befolgung derselben macht"19.
Nicht die Gebote Gottes dienen als moralisches Gesetz, vielmehr führt das moralische Gesetz „zur Religion, d. i. zur Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanctionen, d. i. willkürliche, fiir sich selbst zufällige Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen"20.
Hier zeigt sich die gleiche Umkehrung, daß nicht etwas aufgrund eines göttlichen Gebotes, das durch die Offenbarung und d. h. in der Geschichte 13
Ebd. A 59; 33. Was unter der Voraussetzung der „Heteronomie" zu tun sei, ist „schwer und erfordert Weltkenntnis", während das, was Pflicht ist, sich von selbst darbietet, ebd. A 64; 36; vgl. auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 120; IV 458 f. 14 Kritik der praktischen Vernunft, A 70; V 41. Vgl. auch die vorangegangene Argumentation. 15 Ebd. A 81 f; 47. Die Konjektur „keine Erfahrung" (statt „Erfahrung", so AA) hat Grillo vorgenommen, vgl. die Ausgabe von Karl Vorländer ( = Phil. Bibl. 38), Hamburg '(Nachdruck) 1963, 56. 16 Ebd. A 291; 163. 17 Ebd. A 112 f; 64. " Vgl. ebd. A 264 ff; 146 ff mit dem Hinweis, daß diese Achtung „Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt"! " Ebd. A 232; 129. 20 Ebd. A 233; 129.
„Autonomie" als philosophischer Begriff
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ergangen und somit äußerlich ist, notwendiges und nur so allgemein verbindliches moralisches Gesetz sein kann, sondern daß vielmehr dieses moralische Gesetz als von jeder äußeren Bestimmung unabhängiges als Gebot des höchsten Wesens anzusehen ist. Dem moralischen Gesetz, welches das höchste Gut zum Gegenstand alles Verhaltens macht, kann nur „durch die Ubereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers" entsprochen werden 21 . Nicht das (äußere) Gebot oder die eigene Glückseligkeit, sondern das moralische Gesetz ist notwendiger Bestimmungsgrund des Willens, das Tun ist auf Pflicht gegründet. Auch hier zeigt sich, warum die Existenz Gottes für Kant ein Postulat der praktischen Vernunft ist: Nicht die Annahme der Existenz Gottes kann Grund aller Verbindlichkeit sein, sondern „das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) ,ist' zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts"11. Kant geht es statt der als ,νοη außen' qualifizierten Bestimmung durch Gott um die der Vernunft innere Bestimmung durch ein notwendiges, von jeder Empirie, jeder Erfahrung freies moralisches Gesetz. Dieses moralische Gesetz ist heilig; der Mensch als vernünftiges Geschöpf und damit als Zweck an sich selbst ist „Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit" 23 . Die Qualifizierung des moralischen Gesetzes als heilig ist für Kant wesentlich. Mit diesen Darlegungen hat sich für die Schriften zur Ethik bestätigt, daß „Autonomie" mit dem (übergeordneten) Sittengesetz zusammen gegeben ist, so daß die Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft durch das Sittengesetz keineswegs aufgehoben wird. Daß dieses morali21
Ebd. " Ebd. A 226; 125. " Ebd. A 155 f; 87. Der Text geht weiter: „Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals blos als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. Diese Bedingung legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt als seiner Geschöpfe bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind." Vgl. zur Charakterisierung des moralischen Gesetzes als heilig, ebd. A 58; 32 f, ferner A 237; 131 f. Wegen der besonderen Problematik soll Kants Charakterisierung des Sittengesetzes als „Faktum der Vernunft" nicht zur Stützung der hier vertretenen Interpretation von „Autonomie" herangezogen werden, obwohl sie sich insofern sehr dazu eignete, als eben das Sittengesetz als „Faktum" keinen Rückschluß auf dessen Konstitution durch die „Autonomie" zuläßt, sondern als vorgegeben erscheint. Vgl. hierzu Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen und Handeln, hg. von Gerold Prauss ( = Neue Wissenschaftliche Bibliothek), Köln 1973, 223-254, ferner die Kritik an dem Terminus bei Gerold Prauß, Kant über Freiheit als Autonomie ( = Philosophische Abhandlungen 51), Frankfurt 1983, passim.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
sehe Gesetz zur Religion führt, d.h. daß dessen Pflichten sich als göttliche Gebote erweisen, beeinträchtigt die „Autonomie" nicht. Uberraschend ist, daß der Gebrauch von „Autonomie" in der „Metaphysik der Sitten" deutlich zurücktritt und von „Heteronomie" hier nicht mehr die Rede ist24. Offenkundige Gründe lassen sich nicht dafür angeben. Nicht beeinträchtigt wird von dieser Feststellung, daß der Terminus „Autonomie" auch in der „Kritik der praktischen Vernunft" wie zuvor in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" bedeutsam ist. „Heautonomie" und „Heteronomie" der Urteilskraft Wichtig für die Uberprüfung der Bedeutung von „Autonomie" und „Heteronomie" ist, daß auch in der „Kritik der Urteilskraft" in bemerkenswerten Zusammenhängen, wenn auch nicht mehr so häufig und so zentral wie in der „Kritik der praktischen Vernunft" von „Autonomie" und - deutlich seltener - von „Heteronomie" die Rede ist. Denn die Urteilskraft steht als Erkenntnisvermögen zwischen Verstand bzw. theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft 25 ; sie ist wie die praktische Vernunft auf die empirische Wirklichkeit ausgerichtet. „Autonomie" ist der „Kritik der Urteilskraft" nicht primär die des Subjekts26, sondern die des Erkenntnisvermögens 27 und speziell der ästhetisch 24
Insgesamt finden sich nur 3 Belege f ü r Autonomie, s.o. A n m . 3 und 3.2 mit A n m . 2 und 4. 25 In unserem Zusammenhang kann nicht näher auf die Urteilskraft eingegangen werden. Sie ist nach Kant als Erkenntnisvermögen zwischen Verstand und V e r n u n f t zugleich deren Verbindungsmittel, entsprechend der Aufteilung der Seelenvermögen in Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen und G e f ü h l der Lust und Unlust (Erste, von Kant nicht publizierte Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft) (verfaßt etwa 1789/90), X X 207. Kants Bemühen ist, nach dem Nachweis, daß der Verstand f ü r das Erkenntnisvermögen (Kritik der reinen Vernunft) und die V e r n u n f t f ü r das Begehrungsvermögen (Kritik der praktischen Vernunft) a priori gesetzgebend sind, nun die Frage zu klären, ob die Urteilskraft als drittes oberes, a priori gesetzgebendes Erkenntnisvermögen anzunehmen ist. Es geht um die Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Urteile, die nicht nur als Geschmacksurteile auf das Schöne, sondern als aus einem Geistesgefühl entsprungene auf das Erhabene bezogen sind, vgl. X X 202: „Wenn nun aber der Verstand a priori Gesetze der Natur, dagegen V e r n u n f t Gesetze der Freyheit an die H a n d giebt, so ist doch nach der Analogie zu erwarten: daß die Urtheilskraft, welche beider Vermögen ihren Zusammenhang vermittelt, auch ebensowohl wie jene ihre eigenthümliche Principien a priori dazu hergeben und vielleicht zu einem besonderen Theile der Philosophie den Grund legen werde". Vgl. dazu vor allem Renate H o m a n n , Erhabenes und Satirisches. Z u r Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller ( = Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 43), München 1977; unberücksichtigt bleibt unsere Fragestellung bei Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen O r t von Kants Kritik der Urteilskraft ( = Philosophische Abhandlungen 43), F r a n k f u r t 1972. Für Hinweise und Präzisierungen zum Folgenden danke ich R. H o m a n n . 26
Dies könnte man Kritik der Urtheilskraft, Β 135/A 133; V 281, gegeben sehen, wo aber genauerhin von „einer Autonomie des über das Gefühl der Lust ( . . . ) urtheilenden Subjects" die Rede ist.
„Autonomie" als philosophischer Begriff
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reflektierenden Urteilskraft 28 bzw. des Geschmacks 29 , nicht aber der Einbildungskraft allein30. Sie besteht darin, daß das Subjekt es nicht nötig hat, „durch Erfahrung unter den Urtheilen anderer herumzutappen und sich von ihrem Wohlgefallen oder Mißfallen an demselben Gegenstande vorher zu belehren" und aufgrund dieser Erfahrung zu urteilen, sondern in der Lage ist, sein Urteil a priori zu fällen 31 . „Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urtheile sich zum Bestimmungsgrunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie." 32 Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile, die Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" zu begründen sucht, kann also gleichermaßen nicht ,νοη außen', nicht auf Erfahrung, sondern nur auf einer „Autonomie" des urteilenden Subjekts im Sinn der Unabhängigkeit von jeglicher Empirie beruhen 33 . Die besondere Schwierigkeit ist, daß das ästhetische Urteil „Allgemeingültigkeit a priori" und „Nothwendigkeit (die jederzeit auf Gründen a priori beruhen muß)" hat, sich jedoch von anderen Erkenntnisurteilen dadurch unterscheidet, daß es keine logische Allgemeinheit nach Begriffen hat und nicht auf Beweisgründen beruht, wohl aber auf Gründen a priori 34 . Es geht also in der Urteilskraft um die Frage, wie ästhetische Urteile a priori möglich sind. Denn nur diese, nicht aber Urteile a posteriori können allgemeine und notwendige Urteile sein. Und in diesem Sinne a priori zu urteilen, meint „Autonomie". Konstitutiv hierfür ist, frei zu urteilen, wobei aber Freiheit wiederum nicht einfach Beliebigkeit, sondern Unabhängigkeit von Erfahrung meint 35 . Der im Zusammenhang mit der „Autonomie" des Geschmacks eines urteilenden Subjekts erfolgende Hinweis auf Mathematik und Religion zeigt, daß diese Unabhängigkeit nicht frei im Sinne von beliebig und willkürlich meinen kann. So werden in der Religion Vorschriften für das Verhalten nicht durch Beispiel und d.h. nicht 27
Ebd. Β LVI/A LIV; 196. " Ebd. B 3 1 1 / A 3 0 7 ; 383; bes. B 3 1 8 f / A 3 1 4 f ; 389; diese in einer Erörterung über eine Antinomie der Urteilskraft erfolgenden Aussagen billigen nicht der bestimmenden, sondern nur der reflektierenden Urteilskraft „Autonomie" zu. " Vgl. ebd. Β 137/A 136; 282. 30 Ebd. B 6 9 / A 6 8 ; 241. 51 Ebd. Β 136 f / A 135; 282. 32 Ebd. Β 137/A 136; 282. 33 Ebd. Β 135/A 133; 281. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd. Β 253/A 249f; 350: „Die Eigenschaft der Natur/daß sie für uns Gelegenheit enthält, die innere Zweckmäßigkeit in dem Verhältnisse unserer Gemüthskräfte in Beurtheilung gewisser Producte derselben wahrzunehmen, und zwar als eine solche, die aus einem übersinnlichen Grunde für nothwendig und allgemeingültig erklärt werden soll, kann nicht Naturzweck sein, oder vielmehr von uns als ein solcher beurtheilt werden: weil sonst das Urtheil, das dadurch bestimmt würde, Heteronomie, aber nicht, wie es einem Geschmacksurtheile geziemt, frei sein und Autonomie zum Grunde haben würde."
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. A u t o n o m i e " u n d „ H e t e r o n o m i e " bei K a n t
durch Nachahmung konstituiert; vielmehr erfolgt die Möglichkeit der Verantwortung aus der „Autonomie der Tugend, aus der eigenen und ursprunglichen Idee der Sittlichkeit (a priori)"36. Wenn ästhetische Urteile Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit haben, können sie nicht ein sinnliches Gefühl der Lust und Unlust zum Grunde haben, sondern müssen vielmehr durch eine Regel der oberen Erkenntnisvermögen, nämlich a priori konstituiert sein; und die hierin liegende „Autonomie" als die eines oberen gesetzgebenden Erkenntnisvermögens muß auf Prinzipien a priori gegründet sein, aufgrund derer dieses Erkenntnisvermögen „a priori gesetzgebend ist und Autonomie beweiset"37. Im Unterschied zur „Autonomie" des Verstandes oder der Vernunft ist die „Autonomie" der Urteilskraft „bloß subjectiv, für das Urtheil aus Gefühl gültig", wobei das Urteil nur dann Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, wenn es auf Prinzipien a priori und eben nicht auf Erfahrung gegründet ist; wegen dieser Subjekt-Bezogenheit müßte nach Kant diese Gesetzgebung eigentlich „Heautonomie" genannt werden 38 . 56
Ebd. Β 138 f / A 136 ff; 283. So in der ersten Fassung der Einleitung X X 225; vgl. den Text in der folgenden Anm. 38 Ebd.: Das ästhetische Urteil erhebt darauf Anspruch, „daß sein Bestimmungsgrund nicht blos im Gefühle der Lust und Unlust f ü r sich allein, sondern zugleich in einer Regel der oberen Erkenntnißvermögen, und namentlich hier in der der Urtheilskraft, liegen müsse, die also in Ansehung der Bedingungen der Reflexion a priori gesetzgebend ist und Autonomie beweiset; diese Autonomie aber ist nicht (so wie die des Verstandes, in Ansehung der theoretischen Gesetze der Natur, oder der Vernunft, in practischen Gesetzen der Freiheit) objektiv, d. i. durch Begriffe von Dingen oder möglichen Handlungen, sondern bloß subjectiv, f ü r das Urtheil aus G e f ü h l gültig, welches, wenn es auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen kann, seinen auf Principien a priori gegründeten Ursprung beweiset. Diese Gesetzgebung müßte man eigentlich Heautonomie nennen, da die Urtheilskraft nicht der Natur, noch der Freyheit, sondern lediglich ihr selbst das Gesetz giebt und kein Vermögen ist, Begriffe von Objecten hervorzubringen, sondern nur mit denen, die ihr anderweitig gegeben sind, vorkommende Fälle zu vergleichen und die subjective Bedingung der Möglichkeit dieser Verbindung a priori anzugeben." 37
In der zweiten Fassung der Einleitung faßt Kant diesen Gedanken dann dahingehend zusammen, daß die Urteilskraft ein Prinzip a priori f ü r die Möglichkeit der N a t u r nur in subjektiver Rücksicht hat, „wodurch sie, nicht der N a t u r (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) f ü r die Reflexion über jene, ein Gesetz vorschreibt", Β X X X V I I / A X X X V ; V 185 f. Soweit ich sehen kann, ist in der hier zitierten Stelle der ersten Fassung der Einleitung, X X 225, sowie am Schluß der Einleitung der Kritik der Urtheilskraft, Β LVI/A LIV; 196, in einer sonst nicht belegten Weise von einer „Autonomie" des Verstandes neben der der V e r n u n f t und der Urteilskraft die Rede, ohne daß damit die Struktur des Begriffs „Autonomie" aufgegeben wäre; „Autonomie" des Verstandes ist gleichfalls nicht eine absolute und universale, denn selbst wenn der Verstand auf die N a t u r gerichtet ist, ist darin zugleich eine „Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben" gegeben, ebd. Überdies wird von einer „Autonomie" des Verstandes nur wie im Opus postumum zusammen mit der Autonomie der V e r n u n f t gesprochen, d. h. von der „Autonomie" der oberen Erkenntnisvermögen insgesamt. Dem widerspricht nicht die Aussage im „Streit der Facultäten", derzufolge die V e r n u n f t das Vermögen genannt wird, nach der „Autonomie", nämlich Prinzipien des Denkens gemäß zu urteilen, A 25; 27; vgl. dazu o. 3.2 mit Anm. 7. Genauer zu prüfen wäre die Frage der Rela-
„Autonomie" als philosophischer Begriff
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Wenn das Erkenntnisvermögen nach Kant eine „Autonomie" enthält 39 , so enthält die Urteilskraft eine auf sich selbst bezogene „Autonomie". Doch ist diese nicht als subjektivistische anzusehen, vielmehr bemüht sich Kant aufzuzeigen, daß auch Geschmacksurteile bezüglich des Schönen als subjektive dennoch allgemein sind, da sie auf einer für jeden notwendigen Idee beruhen 40 . Nachdrücklich hat Kant an den gemeinen Menschenverstand, die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, den sensus communis als Grund dafür verwiesen, daß ästhetische Urteile a priori und nicht aus „subjectiven Privatbedingungen" a posteriori erfolgen 41 . Wenn Allgemeinheit und Notwendigkeit auch für ästhetische Urteile unabdingbar sind, kann die „Autonomie" der Urteilskraft nur in einer Selbstgesetzgebung derart bestehen, daß in dieser allen gemeinsame Prinzipien a priori zum Tragen kommen. „Autonomie" der Urteilskraft bedeutet, daß ästhetische Urteile Urteile a priori und als auf das Subjekt bezogene dennoch nicht bloß subjektiv sind42. Durch diese Konstitution in Prinzipien a priori wird gleichwohl die Freiheit der ästhetischen Reflexion nicht aufgehoben, was durch jegliche Abhängigkeit von Erfahrung der Fall wäre 43 . Man könnte nun fragen, ob nicht in der Kritik der Urteilskraft sich die Autonomie-Thematik insofern verändert hat, als von „Autonomie" nicht mehr in so unmittelbarem Zusammenhang mit einem allgemeinen Gesetz die Rede ist, wie es in den Schriften zur Ethik mit der Bindung an das allgemeine Sittengesetz der Fall war. Doch bleibt die Struktur von „Autonomie" auch hinsichtlich der Urteilskraft erhalten. Wie nämlich Autonomie in der methaphorischen Verwendung im ethischen Kontext bei Kant Selbstgesetzgebung im Rahmen des Sittengesetzes bedeutet, so steht die „Heautonomie" der Urteilskraft unter dem „übersinnlichen Substrat", wie Kant im Zusammenhang mit der Lösung der Antinomien des Geschmacks feststellt 44 . Es gibt also auch für tion von Verstand und Vernunft, wenn Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft davon spricht, daß nur im Praktischen die Vernunft gesetzgebend sein kann, vgl. B X V I I f / A XVII f; 174. 39 Ebd. Β LVI/A LIV; 196. 40 Ebd. B 6 8 f / A 6 7 f ; 239 f. 41 Ebd. bes. Β 156ff/A 154 ff; 293 ff. Vgl. R.Homann, aaO. bes. 23 f. 42 Vgl. Kritik der Urtheilskraft, Β 148f/A 146f; 288f mit der Aussage, daß die Urteilskraft sich selbst „Gegenstand sowohl als Gesetz ist", und dies nicht nur subjektiv, sondern so, daß eine „Beistimmung von jedermann" gefordert ist. 43 Ebd. Β 258/A 255; 353, mit dem Hinweis, daß die Urteilskraft im Hinblick auf das Intelligible nicht „einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen" ist. Vgl. auch ebd. Β 63/A 62; 237. 44 Ebd. Β 241/A 238; 343, vgl. Β 258 f / A 255; 353, wozu die durchgängigen Bezugnahmen auf das Übersinnliche in der „Kritik der Urtheilskraft" heranzuziehen sind. Nach Kant haben wir „im Ubersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen", ebd. Β 239/A 236; 341. Vgl. dazu R.Homann, aaO. 23 mit Anm.25.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
die Urteilskraft eine Rückbindung an das Übersinnliche, aufgrund deren ihre Urteile notwendig und allgemein sind; ohne diese Rückbindung an das übersinnliche Substrat sind ästhetische Urteile a priori nicht möglich. Greifbarer als diese wieder nur paradox formulierbare „Autonomie" der praktischen Vernunft und der Urteilskraft ist die für beide erforderliche Unabhängigkeit von Erfahrung, sollen ihre Urteile Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit machen können. Daß in diesem Sinne von „Autonomie" auch bezüglich der Urteilskraft die Rede sein muß, läßt sich durch folgende Beobachtung verdeutlichen: Von „Autonomie" ist vornehmlich im ersten Teil der „Kritik der Urteilskraft", nämlich in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", die Rede, während im zweiten Teil, der „Kritik der teleologischen Urteilskraft", nur noch in dem Abschnitt der Begriff „Autonomie" verwandt wird, der dem Bemühen um die Auflösung einer Antinomie der Urteilskraft gewidmet ist; für diese Auflösung wird auf die Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft zurückgegriffen, von denen erstere keine „Autonomie" hat 45 . Diese Beobachtung stützt die Annahme, daß von „Autonomie" speziell im Zusammenhang der Wahrnehmung, der Empirie die Rede ist, der gegenüber die Urteilskraft insofern ebenso wie die praktische Vernunft mit „Autonomie" ausgestattet ist, als die Erfahrung nicht Bedingung der Möglichkeit ihrer Urteile ist. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft geht es gegenüber der Kritik der ästhetischen Urteilskraft um die ohnehin nicht aus der Erfahrung ableitbare Frage der Zwecke bzw. eines letzten Zwecks. In dieser Erörterung ist die Feststellung einer „Autonomie" offenbar nicht von Bedeutung. Diese Feststellung ergibt eine weitere Bestätigung dafür, daß von „Autonomie" im Zusammenhang mit der empirischen Wirklichkeit die Rede ist; denn die Überlegungen in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" über den letzten Zweck sind eben damit Überlegungen zum Thema „Religion". Daß in ihnen von „Autonomie" nicht die Rede ist, wird im folgenden noch genauer dargestellt. Erst wenn dieser Aspekt der „Kritik der Urteilskraft" berücksichtigt ist, wird die Bedeutung von „Autonomie" in ihr für unseren Zusammenhang abschließend geklärt sein. Aufgrund der eben vorgelegten Hinweise läßt sich jedoch schon soviel sagen, daß sich auch in der „Kritik der Urteilskraft" ein spezifischer Gebrauch von „Autonomie" bestätigt hat: „Autonomie" meint wie schon in den ethischen Schriften Unabhängigkeit von Empirie und Erfahrung; durch diese Unabhängigkeit der (ästhetischen) Urteilskraft vermögen ästhetische Urteile Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zu erlangen, selbst wenn sie subjektbezogen sind. Um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, wäre es nach Kant besser, statt von „Autonomie" bezüglich der Ur45
Kritik der U r t e i l s k r a f t , Β 3 1 8 f / A 3 1 4 f ; 389 und Β 3 1 1 / A 307; 385.
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teilskraft von „Heautonomie" zu sprechen. Jedenfalls ist Vorsicht geboten, uneingeschränkt die Formulierung „Autonomie der Urteilskraft" zu verwenden. „Autonomie" der theoretisch-spekulativen und moralisch-praktischen Vernunft im „Opus postumum" Gegen die zuvor analysierte Konzeption von „Autonomie" kann der Einwand erhoben werden, daß sich wenigstens im „Opus postumum" die Formulierung einer „Autonomie" nicht mehr nur der praktischen, sondern auch der theoretischen Vernunft nachweisen lasse. Daß ein solcher Einwand gegen die ausdrückliche Intention Kants auf einer Uberordnung der theoretischen über die praktische Vernunft basiert, bleibt unberücksichtigt. Anders könnte es nicht als Auszeichnung angesehen werden, daß bei Kant - endlich - im „Opus postumum" von der „Autonomie der theoretischen Vernunft" gesprochen sei und sie als „Obertitel für alle philosophischen Bemühungen" 46 angesehen werden könne und daß er die bereits „in der ,Kritik der reinen Vernunft' behandelte Lehre von der Selbstgesetzgebung der theoretischen Vernunft... erst nachträglich... mit dem Begriff der Autonomie gekennzeichnet" habe 47 . Diese Aussage wäre also mit dem Hinweis auf die Überordnung der praktischen über die theoretische Vernunft noch nicht entkräftet. Denn immerhin findet sich tatsächlich im „Opus postumum" der Begriff „Autonomie" im Zusammenhang mit der theoretischen Vernunft. Um diesen Tatbestand zu entkräften, kann auch das Argument nicht ins Feld geführt werden, es handle sich um Fragmente. Dies ist zwar richtig, was sich darin zeigt, daß manche Aussagen kaum hinlänglich interpretierbar sind. Aber das gilt nicht für alle Fragmente. So fragt sich, ob der Begriff „Autonomie" aufgrund der Aussagen in diesen nachgelassenen fragmentarischen Texten universal und absolut gebraucht werden darf. Eindeutig ist diese Frage auch nach dem Befund des „Opus postumum" zu verneinen. Denn durchgängig ist in diesen Fragmenten von „Autonomie" die Rede im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit von der Erfahrung bzw. der Wahrnehmung, durch die sich nur ein „Aggregat der Wahrnehmungen", nicht aber ein „System" erreichen ließe48. Gegenüber einer 46 So R. Pohlmann, aaO. 707, und O. Schwemmer, aaO. vgl. o. 1 mit Anm.25, mit Berufung auf das Opus postumum, A A X X I 106. 47 R. Pohlmann, aaO. - Die hier, 707 Anm.4-6, zu Kants Opus postumum angeführten Belege sind unrichtig. Anm.5f bezieht sich auf A A X X I (statt XXII). Anm.4 ist offensichtlich nicht XXII 445, sondern 455 zu lesen. Das im Text zu dieser Anm. angeführte Zitat gibt übrigens nicht den Originaltext, sondern lediglich das Stichwort im Index von Gerhard Lehmann, ebd. 643, wieder. - Für die Verifizierung dieser Stelle danke ich A. Mues. 48 Immanuel Kant, Opus postumum, XXII 447; vgl. 455. - Vgl. auch die im Zusammenhang mit der Unterscheidung einer Physik als Gedankensystem und als Theorie stehende
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
solchen Abhängigkeit von Erfahrung spricht Kant von Transzendentalphilosophie als „Selbstgeschöpf (autonomie) der theoretisch//speculativen und moralisch//practischen Vernunft": „Sie ist das Princip der synthetischen Erkentnis a priori aus Begriffen überhaupt in einem System der Ideen sich selbst vor aller Warnehmung zum Gegenstande der reinen Anschauung zu constituiren. Die Autonomie der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt als absoluter Einheit"49.
Ob Kant von einer „autonomia rationis purae" 50 oder der „Autonomie der Freyheit" 51 spricht, es geht ihm um die Möglichkeit eines Ganzen möglicher Erfahrung; wobei eine Abhängigkeit von Erfahrung lediglich eine „Encyklopädie" bzw. „ein impirisches Aggregat" ergäbe: „Tr. Ph. (sc. Transcendentalphilosophie) ist die sich selbst zu einem absoluten Ganzen von Ideen constituirende Vernunft (Autonomie) welche a priori vor aller Erfahrung vorhergeht aber auch die Möglichkeit derselben begründet"52.
Dies meint die Aussage: Transzendentalphilosophie „ist die Autonomie des Systems der Ideen sich selbst a priori in der durchgängigen Bestimmung, nicht empirisch nicht als Aggregat eines Mannigfaltigen in der Erscheinung sondern als absolute Einheit des Ganzen zu einem Object zu constituiren"53.
„Autonomie" ist Voraussetzung möglicher Erfahrung 54 . Daher darf man nicht ohne diesen Kontext Kant zitieren, möglicherweise mit einer verkürzten Aussage wie dieser, daß Transzendentalphilosophie „das Selbstgeschöpf (autonomie) der theoretisch//speculativen und moralisch //practischen Vernunft" ist55 oder, wie eine andere Aussage des Nachlasses lautet, daß der positive Begriff von Freiheit „autonomie durch Vernunft"
Aussage, daß Gegenstände „allein in der Erfahrung und durch dieselbe können gegeben werden heteronomisch oder autonomisch", vgl. 466. 45 Ebd. X X I 100, vgl. 109; die Aussage ebd. 101: „Die Autonomie des Systems der Ideen sein eigenes Daseyn nach Principien a priori zu begründen Religion ist die Verehrung eines Wesens vor welchem jedes Andere seine Knie beugt und dessen Würde jedes andere Wesen sich als einziges unterworfen fühlt" ist in sich schwerlich entschlüsselbar; der Zusammenhang mit der Möglichkeit der Erfahrung wird durch den Kontext angezeigt. 50 Ebd. 82. 51 Ebd. 103. " Ebd. 106. " Ebd. 108; vgl. dazu ebd. die δ-Stelle: „Tr. Ph. ist das Princip der Bestimmung seiner selbst (der Avtonomie) unbestimmt das absolute Ganze der synthetischen Autonomie in der durchgangigen Bestimmung seiner selbst welche auch über die Principien der Möglichkeit der Erfahrung hinaus geht denn sie befaßt auch die von Gott obzwar nur problematisch", vgl. auch ebd. 59, 81, 106 und 107. 54 Ebd. 106, vgl. 102, 103, 109. 55 Ebd. 100, vgl. 109.
„Autonomie" und das Postulat des Daseins Gottes
63
ist56. Denn auch die Aussage „Alle Philosophie ist...Autonomie" 5 7 steht in dem zuvor erläuterten Zusammenhang, der nicht übersehen werden darf. Daß „Autonomie" auch im „Opus postumum" in einem spezifischen Zusammenhang steht und infolgedessen nicht einfachhin absolut gebraucht werden darf, kann also nicht bezweifelt werden; sie meint die Unabhängigkeit von Erfahrung. Damit kann aufgrund von Aussagen aus dem „Opus postumum" kein Argument gegen die bisherigen Ergebnisse formuliert werden.
3.4 „Autonomie"
und das Postulat
des Daseins
Gottes
Wenn für das gegenwärtig gängige Verständnis „Autonomie" unvereinbar mit Gehorsam gegenüber Gott und „Unterwerfung" unter seinen Willen erscheint, ist der Befund bei Kant von besonderem Interesse. Es fragt sich, ob und ggf. in welchem Sinne er „Autonomie" des Willens, der Urteilskraft und der theoretisch-spekulativen in Verbindung mit der moralisch-praktischen Vernunft einerseits und die Annahme Gottes als Welturheber, Gesetzgeber und Endzweck andererseits in Relation zueinander setzt. Ausgeführt wurde bereits, daß in der „Kritik der praktischen Vernunft" sowohl eine „Autonomie der reinen praktischen Vernunft" formuliert als auch das Dasein Gottes postuliert worden ist. Durch letzteres Postulat kann die „Autonomie" nach Kant nicht aufgehoben werden. Denn daß der Mensch „Zweck an sich selbst" ist, daß er vermöge seiner „Autonomie" „das Subject des moralischen Gesetzes" ist und infolgedessen nie nur als Mittel gebraucht werden darf, ist eine Bedingung, die wir „mit Recht sogar dem göttlichen Willen in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt als seiner Geschöpfe" beilegen1. Daß auch Gott den Menschen nicht lediglich als Mittel gebrauchen darf, stellt Kant in Ubereinstimmung mit grundlegenden Aussagen christlichen Glaubens zu Recht fest. Er stimmt auch mit diesen überein, wenn er bei der Formulierung der „Autonomie der praktischen Vernunft" betont, daß der Wille des Menschen als freier Wille „demjenigen zugleich muß einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll"2. Kants besonderes Anliegen ist herauszustellen, daß nicht die (von außen vermittelte) Annahme des Daseins Gottes 3 und nicht die Glückseligkeit Grund bzw. Prinzip der Moral und ihrer Verbindlichkeit sind - dies wäre „Heteronomie" -, sondern die „Autonomie der reinen 56 >7 1 2
Reflexionen zur Metaphysik, Phase ψ, in: XVIII 443. Vgl. auch ebd. 41'9. Opus postumum, XXI 106. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 156; V 87. 3 Ebd. A 237; 132. Ebd. A 226; 125.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
praktischen Vernunft". Diese freilich steht nicht im Widerspruch, sie führt vielmehr zur Annahme des Daseins Gottes. Denn die praktische Vernunft führt zu der Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nämlich „als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst"4. Wenn das moralische Gesetz gebietet, „das höchste göttliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstand allen Verhaltens zu machen", so ist dies nur möglich „durch die Ubereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers". Schon von hierher ist deutlich, daß der Terminus „Autonomie" nicht Gott gegenüber verwendet ist; die „Autonomie" des Menschen wird durch Gott nicht beeinträchtigt oder gar aufgehoben. Eine Verabsolutierung von „Autonomie" unter Berufung auf Kant verbietet sich also. Auffällig ist nun, daß Kant in Ausführungen über „Autonomie" auf das Postulat des Daseins Gottes übergehen kann, daß er aber in grundlegenden Überlegungen zur Religion nicht von „Autonomie" spricht, und dies in Zusammenhängen, in denen ein verallgemeinerter Gebrauch von „Autonomie" bzw. „Heteronomie" deren Verwendung angebracht erscheinen ließe. Diese Aussage ist zunächst für die „Kritik der Urteilskraft" zu verifizieren, in deren abschließenden Passagen bei der Frage nach einem moralischen Beweis für das Dasein Gottes vom moralischen Gesetz die Rede ist, unter dem der Mensch steht. Man darf ausschließen, daß Kant hier seine früheren Aussagen auch in der „Kritik der Urteilskraft" außer acht gelassen oder gar korrigiert hat, die von der Gesetzgebung des Verstandes5 bzw. der (reinen praktischen) Vernunft 6 sprechen. Auch bedarf es keines Nachweises der Intention Kants, für die Urteilskraft zu erweisen, daß sie sich selbst „Gegenstand sowohl als Gesetz" ist7. Von Gott in der „Kritik der Urteilskraft" zu sprechen, ist im Zusammenhang mit der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" unabdingbar. Denn in ihr geht es um die Erörterung des Endzwecks; als Endzweck der Natur bzw. der Schöpfung, wie Kant eigens sagt, erweist sich der Mensch: „ W e n n n u n D i n g e der W e l t , als ihrer E x i s t e n z n a c h a b h ä n g i g e W e s e n , einer n a c h Z w e c k e n h a n d e l n d e n o b e r s t e n U r s a c h e b e d ü r f e n , s o ist der M e n s c h der 4
Ebd. A 233; 129; hier auch die folgenden Belege im Text. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, Β 69/A 68; V 240f. Zurückgewiesen wird eine „Autonomie" der Einbildungskraft, da es ein Widerspruch ist, „daß die Einbildungskraft frei und doch von selbst gesetzmäßig sei, d. i. daß sie eine Autonomie bei sich führe". - Zur Freiheit der Einbildungskraft vgl. ebd. Β 146/A 144; 287. - Zur Paradoxie dieser Feststellung s. o. 3.3 mit Anm.30; zur „Autonomie" des Verstandes s.o. 3.3. Anm.38. 6 Ebd. Β 417/A 412; 446; vgl. ebd. B X V I I / A X V I I ; 174: „Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft, und ist bloß praktisch." 7 Ebd. Β 148/A 146; 288; vgl. die Exposition in der Einleitung ebd. Β XXVI f f / A X X I V f f ; 179 ff; Β LUI f f / A LI ff 195 ff; in der ersten Fassung der Einleitung, X X 225. 5
.Autonomie" und das Postulat des Daseins Gottes
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Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet; und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjecte der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist."8 Damit ist die Frage nach dem Endzweck des Menschen jedoch noch nicht beantwortet. Während Kant die Physikotheologie ablehnt, da aus der Teleologie der N a t u r nicht die Existenz Gottes erwiesen werden kann 9 , f ü h r t die moralische Teleologie zur Theologie 1 0 : Es ist möglich und in der moralischen Denkungsart grundgelegt, „ein moralisch-gesetzgebendes Wesen außer der W e l t . . . anzunehmen, auf bloße Anpreisung einer f ü r sich allein gesetzgebenden reinen praktischen Vernunft" 1 1 . Auch unter Anerkennung einer Selbstgesetzgebung der Vernunft formuliert Kant die grundsätzliche These, daß als Endzweck nur „der Mensch... unter moralischen Gesetzen "12 in Frage kommt und dieses moralische Gesetz als oberstes Gesetz den Schluß auf eine „moralische Weltursache (einen Welturheber)" und d. h. auf Gott 1 3 nach sich zieht, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist 14 . Ist aus der moralischen Teleologie die Annahme Gottes zu schließen, so auch ein Glaube als „moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was f ü r das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist" 15 . Nicht, als ob Moralität an einem solchen Glauben hinge; denn diese besteht in der Erfüllung der Pflicht 16 . Doch ist ein solcher Glaube, von Kant „Vernunftglaube" genannt, folgerichtig, wie die „Kritik der teleologischen Urteilskraft" zeigen soll, da die Moral eine Beziehung auf Gott als Gesetzgeber impliziert. Diese Annahme einer Gesetzgebung hebt also die Annahme einer Selbstgesetzgebung des Erkenntnisvermögens f ü r Kant nicht auf. Sie ist vielmehr - paradox formuliert - die Bedingung ihrer Möglichkeit. Warum Kant in all diesen Überlegungen nicht mehr von „Autonomie" und „Heteronomie" spricht, läßt nur die eine Antwort zu, daß diese Begriffe unter dieser Rücksicht nicht in Betracht kommen. „Autonomie"
» Ebd. Β 398 f / A 394; V 435 f. ' Ebd. Β 406 f/A 40 l f ; 440; dementsprechend kann aus der von der Natur geforderten Annahme einer außerhalb ihrer selbst liegenden letzten Ursache für sie nicht die Annahme Gottes gefolgert werden; weder archäologisch noch teleologisch gibt es nach Kant aufgrund der Natur einen Weg zur Theologie. 10 Ebd. Β 414/A 409 f; 444. " Ebd. Β 417/A 412; 446. 12 Ebd. Β 421/A 416 mit Anm.; 448; vgl. B 4 2 5 / A 4 2 0 f ; 451; Β 428/A 423; 452f. 13 Ebd. Β 424/A 420; 450; Β 429/A 423; 453; Β 433/A 428; 455. 14 Ebd. Β 4 3 3 f / A 428 f; 455, Β 441/A 436; 460; Β 447 f / A 442 f; 463. 15 Ebd. Β 462 f/A 456 f; 471 f. " Ebd. Β 426/A 421; 451.
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
ist kein Terminus zur Bezeichnung einer Relation des Endzwecks der Schöpfung zum Welturheber. Sie wird aber durch diese auch nicht aufgehoben. Wesentlich ist, daß es sich hier um die Annahme Gottes nicht über eine Vermittlung durch die Natur und nicht um die Erkenntnis seiner Gesetze bzw. Gebote von außen, etwa durch eine Offenbarung handelt, sondern um ein Ergebnis der Kritik der praktischen Vernunft sowie der teleologischen Urteilskraft, die als Verbindung zwischen Verstand und Vernunft die für die reine Vernunft nicht mögliche Erkenntnis Gottes ergänzt. Erhärtet wird dieser Befund durch Kants Überlegungen zur „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". In ihnen ist zentral, daß es zum reinen Religionsglauben als einem bloßen Vernunftglauben gehört, „ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher" anzunehmen 17 und „Gott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber" anzusehen 18 ; dessen Gesetzgebung ist der Mensch unterworfen 19 , ohne daß der Glaube an einen göttlichen Gesetzgeber deswegen kein „freier Glaube" mehr wäre 20 . Unfrei ist allein ein Kirchenglaube mit seinen statutarischen Gesetzen 21 , legt doch allein er dem Menschen ein Joch auf 22 . Nicht Religion führt zur Moral, sondern Moral „führt u n u m g ä n g l i c h z u r R e l i g i o n , w o d u r c h sie sich zur I d e e eines m a c h t h a b e n d e n m o r a l i s c h e n G e s e t z g e b e r s außer d e m M e n s c h e n erweitert, in d e s s e n W i l l e n dasjenige E n d z w e c k (der W e l t s c h ö p f u n g ) ist, w a s z u g l e i c h der E n d z w e c k des M e n s c h e n sein k a n n ujid soll" 2 3 .
Nur so allein kann Moralität und Vernunftglaube, anders aber, nämlich durch die vorausgehende Annahme Gottes als Gesetzgeber in der Geschichte durch eine Offenbarung, kann lediglich Legalität und Offenbarungsglaube erreicht werden 24 . Die reine moralisch-gesetzgebende Ver17
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), BA XIII Anm.; VI 8 Anm., vgl. ebd. Β 139/A 131; 99. 18 Ebd. Β 147/A 139; 103. " Vgl. bes. ebd. Β 215 f/A 203 f; 142 f. 20 „Der christliche Glaube als gelehrter Glaube stützt sich auf Geschichte und ist, so fern als ihm Gelehrsamkeit (objectiv) zum Grunde liegt, nicht ein an sich freier und von Einsicht hinlänglicher theoretischer Beweisgründe abgeleiteter Glaube (fides elicita). Wäre er ein reiner Vernunftglaube, so würde er, obwohl die moralischen Gesetze, worauf er als Glaube an einen göttlichen Gesetzgeber gegründet ist, unbedingt gebieten, doch als freier Glaube betrachtet werden müssen". Ebd. Β 249/A 235; 164. 21 Ebd. Β 150/A 142; 105. 22 Ebd. Β 276/A 260 mit Anm.; 179; B 2 8 4 / A 2 6 8 ; 183. 23 Ebd. ΒΑ IX f; 6, mit einer Anmerkung, daß der Satz über das Dasein Gottes bzw. eines höchsten Gutes in der Welt ein synthetischer Satz a priori ist. 24 Vgl. ebd. Β 137 f / A 129 f; 98 f, mit der Feststellung, daß Moralität etwas Innerliches ist und nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann.
.Autonomie" und das Postulat des Daseins Gottes
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nunft 25 kann gerade nicht von einer „statutarischen, uns nur durch Offenbarung kund werdenden Gesetzgebung" 26 abhängen. Der allgemeine wahre Religionsglaube ist der Glaube an Gott als Schöpfer und damit als Gesetzgeber, als Erhalter und damit als Regierer sowie als Verwalter seiner Gesetze und damit als Richter 27 . Die reine Vernunftreligion besagt, daß jeder einzelne „unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber seine Befehle" empfängt 28 . Nicht gegen göttliche Gesetze, sondern gegen geschichtliche, unter Berufung auf eine Offenbarung vorgelegte, kirchliche Gesetze wendet sich Kant. Um diese differenzierte Einstellung zu begründen, muß Kant entsprechend der Trennung von Sinnlichem und Ubersinnlichem nun zwischen jeglichem Äußeren, Geschichtlichen, und dem „Innerlichen" bzw. „Innern" 29 trennen. Konsequent läßt die reine Vernunftreligion nur die „bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren)" zu 30 . Dieser durchgängige Dualismus ist für Kants Konzeption von Moralität und Religion fundamental. Auffallend ist, daß auch in all diesen Darlegungen von „Autonomie" und „Heteronomie" nicht die Rede ist, auch in solchem Zusammenhang nicht, in dem sich diese Begriffe bei Kant nahegelegt hätten, nämlich weder überall dort, wo von statutarischen Gesetzen 31 bzw. von Geschichtsund Offenbarungsglauben die Rede ist, dessen Gesetze eben nicht allgemeine und allgemein verbindliche sein können, noch auch dort, wo von der „moralisch-gesetzgebenden Vernunft" die Rede ist32, die die Gesetzgebung Gottes nicht nur nicht aus-, sondern einschließt. Dieses göttliche, ins Herz geschriebene Gesetz hat allein „unbedingte Verbindlichkeit" 33 . Eine letzte Bestätigung der bisherigen Ergebnisse ist im „Streit der Fakultäten" gegeben: Zum Streit zwischen philosophischer und theologischer Fakultät gehört vor allem die Auseinandersetzung um Religion und Glaube. Während die theologische Fakultät einen Kirchenglauben bzw. Geschichtsglauben und die in ihnen enthaltenen Offenbarungslehren und Gebote reflektiert, die bloß statutarisch sein können, geht es der Philosophie um den reinen Religionsglauben, „der auf innern Gesetzen beruht", der also unabhängig ist von Geschichte 34 , Offenbarung 35 und Kirche 36 und » Ebd. Β 140/A 132; 100. 26 Ebd. Β 149/A 141; 105; vgl. auch die folgenden Ausführungen Kants. 17 28 Ebd. B211/A 199; 139. Ebd. B 228/A214; 152. " Ebd. Β 137/A 129; 98; vgl. Β 209/A 197; 138. 30 Ebd. Β 227/A 213; 152. 31 Ebd. Β 228/A 214; 153; vgl. Β 140/A 132; 99. 32 Ebd. Β 140/A 132; 100. 33 Ebd. Β 280/A 264; 181. 34 Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten, A 44 ff; VII 36 f. 35 Ebd. A 46 f; 37. 36 Ebd. A 79f; 52 f, mit einem Hinweis auf die „unsichtbare Kirche".
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.Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant
infolgedessen streng zu unterscheiden ist vom Kirchenglauben 37 bzw. vom Geschichtsglauben, die Allgemeinheit und Notwendigkeit nicht beanspruchen können und lediglich darin von Bedeutung sind, den reinen Vernunftglauben zu fördern 38 . Der reine Religionsglaube ist also „ohne Statuten auf bloßer Vernunft gegründet" 39 und hat allein „rechtmäßigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit" 40 . Es geht in der unteren Fakultät um Religion als Moral und damit um die göttlichen Gebote 41 . Diese göttlichen Gebote beeinträchtigen offensichtlich keineswegs die „Autonomie" der Philosophie. „Autonomie" muß folglich eine andere Zielrichtung haben, wenn sie der Annahme Gottes nicht widerstreitet, „der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht"42. Resümierend mag folgender Text aus den Vorarbeiten zur „Tugendlehre" der „Metaphysik der Sitten" die These belegen, daß „Autonomie" für Kant durch das Postulat des Daseins Gottes nicht beeinträchtigt wird. Er belegt zugleich, wie sehr die „Gesetzgebung" des Menschen eingebunden ist in eine über ihn hinausgehende „Gesetzgebung", wie sehr damit der Begriff „Autonomie" eingebunden ist in einen umfassenden Zusammenhang. „Die Idee der Gesetzgebung ist nämlich entweder immanent oder transscendent. Die erste ist die von Menschen die andere die nur von einem moralischen Urheber der Menschen (und der N a t u r überhaupt) dessen Wille f ü r uns schlechthin Gesetz ist herrühren kann. Da wir nun von einem Urheber als einem moralischen Wesen uns nur dadurch einen Begrif machen können, daß wir uns seinen Willen als mit den Gesetzen der Moralität die der Mensch sich selber vorschreibt also nur so fern als die Gesetzgebung immanent ist einen Begrif machen können so ist die Idee einer moralischen Gesetzgebung die doch nicht als Autonomie der menschlichen Vernunft gedacht werden soll transscendent d.i. sie übersteigt alle unsere Begriffe und unser theoretisch Erkentnis derselben ist nichts. — Weil aber ein practisches Bedürfnis der Vernunft in uns ist dennoch eine solche Gesetzgebung zu denken weil ohne sie die moralische Gesetze der Vernunft autonom nicht den vollständigen ihnen angemessenen Effekt haben würden (so viel wir einsehen) so muß man sich eine Gesetzgebung denken, deren Idee analogisch mit der menschlichen immer noch ein in praktischer Rücksicht f ü r uns gültiges Erkentnis ist: mithin alle unsere Pflichten zugleich als Göttliche Gebothe deren Inbegrif Religion heißt" 43 . 57
Ebd. A 44; 36. Ebd. A 46 f; 37; A 107; 65. 39 Ebd. A 45; 37; daß der Staat ein Interesse an Religion hat, um nützliche Bürger und brave Soldaten zu haben, wie lange vorher Machiavelli hervorgehoben hat, merkt Kant kritisch an, vgl. A 96; 60. 40 41 Ebd. A 74; 4 9 f . Ebd. A 45 f; 36 f. 42 Ebd. A 111; 67. 43 Vorarbeiten zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, X X I I I 395. 38
Exkurs
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In der Aussage von einer „Idee der moralischen Gesetzgebung die doch nicht als Autonomie der menschlichen Vernunft gedacht werden soll" und die infolgedessen „transscendent" ist, darf der Schlüssel zum Verständnis von „Autonomie" bei Kant gesehen werden.
Exkurs Erst auf dem Hintergrund dieses Befundes, daß Kant von „Autonomie" stets in einem bestimmten Kontext spricht, der zu ihrem Verständnis unerläßlich ist, wird deutlich, wie problematisch die allgemeine Selbstverständlichkeit ist, mit der gegenwärtig von „Autonomie" die Rede ist. Diese Selbstverständlichkeit findet sich, wie eingangs gezeigt wurde, nicht nur in der Philosophie allgemein, sondern gerade auch in Kant-Interpretationen1. Nicht selten erscheint die Rede von „Autonomie" daher völlig unpräzise, synonym mit Freiheit und im Grunde identisch mit totaler Selbstbestimmung, politisch gesprochen mit Souveränität im neuzeitlichen Sinne, sofern man sich überhaupt der politisch-juridischen Metaphorik 1 Herbert James Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants M o ralphilosophie, Berlin 1962, 218-224: Die Formel der Autonomie; vgl. ferner 306ff; Gerhard Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (1931), Tübingen 2 1967, bes. 98 ff; Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar, München 1974. Vgl. auch Arbeiten wie die von H a n s Willi Zwingelberg, Kants Ethik und das Problem der Einheit von Freiheit und Gesetz ( = Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 61), Bonn 1969, bes. 144 ff; Heinz-Jürgen Hess, Die obersten Grundsätze Kantischer Ethik und ihre Konkretisierbarkeit ( = Kant-Studien, Ergänzungshefte 102), Bonn 1971, vgl. 53; Paul Schmidt-Sauerhöfer, Wahrhaftigkeit und Handeln aus Freiheit. Zum Theorie-Praxis-Problem der Ethik Immanuel Kants ( = Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 134), Bonn 1978, bes. 106ff, 180 f. - Erich Kleppel, Autonomie und Anerkennung. Eine Untersuchung des Verhältnisses der Grundlagen der Südwestdeutschen Kantschule zum Sittlichkeitsbegriffe Kants, Frankfurt 1978, geht einer spezifischen T h e m a tik-nach. - Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants ( = Monographien zur philosophischen Forschung 23), Meisenheim 1961, verfolgt vornehmlich die Entstehung der Ethik Kants und nimmt auf unsere Fragestellung keinen Bezug.
Zu vergleichen sind ferner: Johannes Schwartländer, Sittliche Autonomie als Idee der endlichen Freiheit. Bemerkungen zum Prinzip der Autonomie im kritischen Idealismus Kants, in: Theologische Quartalschrift (Tübingen) 161 (1981) 20-33; sowie die übrigen Beiträge dieses Heftes; bes. Walter Kern - Christian Link, Autonomie und Geschöpflichkeit, in: Franz Böckle u.a., Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 18, Freiburg 1982, 101-148, bes. 113 ff; Dieter Witschen, Kant und die Idee einer christlichen Ethik. Ein Beitrag zur Diskussion über das Proprium einer christlichen Moral ( = Moraltheologische Studien 13), Düsseldorf 1984, bes. 277-292: Kants autonome Moral und eine christliche Ethik. Diese Arbeiten verbleiben völlig im bisherigen Interpretationsrahmen, wie er vor allem von R . P o h l m a n n abgesteckt worden ist (die von W . K e r n und Chr.Link so sehr, daß sie 114 mit Anm.8 die falschen Angaben von R. Pohlmann übernimmt, s. dazu o. 3.3 Anm.47, wobei das vermeintliche Kantzitat verändert ist).
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„ A u t o n o m i e " u n d „ H e t e r o n o m i e " bei K a n t
von „Autonomie" bewußt ist. Es finden sich lange Ausführungen über das Thema „Autonomie", ohne daß dieser Begriff in ihnen von Belang ist. Am meisten wundert jedoch die unscharfe und generelle Verwendung von „Autonomie" in Arbeiten, die gerade ihr im Werke Kants nachgehen wollen. Denn von Kant her könnte niemals von einer „Autonomie der Natur", die überdies noch die „Theonomie des Ganzen" verbürgen soll, die Rede sein2. Völlig ausgeschlossen ist es jedoch zu sagen, daß für Kant wie für die gesamte mittelalterliche Tradition die göttliche Vernunft „wahrhaft autonom die Welt schaut und im Schauen erschafft"3. Diese Universalisierung und Verabsolutierung der „Autonomie" im Sinne einer Identifizierung mit der schöpferischen Allmacht Gottes läßt jede Spezifikation außer acht. Ebenso falsch ist es, die Gottesidee bei Kant als Grund für ein „Ideal einer völlig (sie!) autonomen Vernunft des Menschen" anzunehmen 4 . So kann das Dilemma Kants bezüglich des Vernunftbegriffs nicht darin bestehen, daß dieser Begriff zugleich „absolute Autonomie" und eine „Wirklichkeit neben bzw. außer sich" beinhalten soll5, da der Begriff „absolute Autonomie" ein Widerspruch in sich ist. Problematisch erscheint auch die Aussage von einer „Koinzidenz von Autonomie und Theonomie auf der Grundlage der Autonomie" 6 ; schwer2 Maximilian Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant ( = Epimeleia 24), München 1974, 43: „Die Autonomie der Natur verbürgt die Theonomie des Ganzen.. .Zwar mündet so die Autonomie der N a t u r in eine T h e o n o m i e des Ganzen der Schöpfung, aber f ü r die exakte Erkenntnis des Geschaffenen und seiner immanenten Relationen war die D i f f e r e n z und die Beziehung von Gott und Welt nunmehr von sekundärem Belang". Ebd. 35 heißt es: „Die N a t u r gewinnt f ü r die Forschung den Charakter der Autonomie ( = Eigengesetzlichkeit), die methodisch-verfahrende Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeit verzichtet auf theologische Hypothesen zur Erklärung .sinnvoller' Phänomene im sonstigen Gewühl mundaner Zufälligkeit und ungeistiger Materialität; f ü r die noch im Christentum beheimatete Weltsicht erhält sie allerdings den vorzüglichen Charakter einer explicatio dei ( C u s a n u s ) . - . D i e Autonomie der Natur, d.h. die Selbständigkeit und immanente Entwicklungsmöglichkeit der Materie in ihrer mathematischen Struktur bedeutet bei diesen Autoren der Renaissance (bis herauf zu Galilei, Descartes und Newton) keine T r e n n u n g vom göttlichen Schöpfer..., sondern die Ablösung des dualistisch gefaßten Naturbegriffs zugunsten eines in sich selbst geschlossenen, selbstgenügsamen und sich selbst bestimmenden Seins der Schöpfungswelt, dessen sichtbare O r d n u n g das Werk, ja der anschaubare Ausdruck des unsichtbaren Gottes ist." Unreflektiert - und unbegründbar - bleibt, wie sich von Kant her ein solcher Autonomiebegriff formulieren läßt. 3
Ebd. 149. Ebd. 219, vgl. 220: „Absolutes Sein in sich und aus sich, schlechthiniges Sein-durch-Anderes, autonome Spontaneität und radikale Rezeptivität stellen die beiden Ideen dar, in denen endliche V e r n u n f t sich an ihre Grenzen t r e i b t . . . Zeigt sich das Sittengesetz im Menschen präsent, ist er auch frei und im absoluten Sinn autonom". 5 Ebd. 213. - Gegenüber den sehr häufigen Universalisierungen fallen einschränkende Aussagen Forschners nicht ins Gewicht, vgl. z.B. 195, 185, da sie nicht marginal, sondern dominant sein müßten. Dies ist aber durchgängig nicht der Fall, vgl. 142, 153, 205, 248 u.ö. ' Frieder Lötzsch, Vernunft und Religion im Denken Kants. Lutherisches Erbe bei Immanuel Kant ( = Böhlau Philosophica 2), Köln 1976, 156. 4
Exkurs
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lieh läßt sich von Kant her „die Vermittlung der Autonomie des Menschen mit der Theonomie Gottes zur systematischen Kardinalfrage" erheben 7 . Die Annahme einer gleichfalls radikal verstandenen „kopernikanischen Wende" bei Kant8 für den Ubergang von „theonomen Denkvoraussetzungen" zu „solchen von autonomer Qualität"9 belegt noch einmal, wie generalisierend hier verfahren wird: Mit welchem Recht kann bei Kant von einer kopernikanischen Wende überhaupt gesprochen werden? „Inzwischen ist von so vielen .kopernikanischen Wenden' geredet worden, daß die Spezifität der Metapher doch der Freilegung bedarf", stellt Hans Blumenberg zu Recht fest 10 ; überzeugend widerlegt er sodann die Aussage einer viel gelesenen Philosophiegeschichte: „Kant verglich sein Werk gern mit dem des Kopernikus" (Kuno Fischer). Sofern in neueren Darlegungen überhaupt die ursprüngliche Bedeutung von „Autonomie" zur Kenntnis genommen wird11, folgen daraus keine Konsequenzen. Entweder findet sich das gängige pauschale Verständnis dieses Terminus oder aber eine solche Distanzierung von Kants Insistieren auf einer Unterwerfung unter das Sittengesetz, daß man nicht sieht, warum Kant noch als Ausgangspunkt gewählt wird, es sei denn, um sich von ihm abzusetzen 12 . Wie weit letztere Position sich von Kant entfernt, zeigt sich darin, daß für sie „Heteronomie" nichts als eine Täuschung bedeutet 13 . So sucht man vergeblich jede Frage, warum denn Kant „Autono7 So die These ebd. 126; ebd. 127 die Formulierung von der christlichen Rechtfertigungslehre „als Versuch einer Theorie der Vermittlung von Autonomie und Theonomie", vgl. 155: „Sofern ich diese Revolution aus der Autonomie meiner praktischen V e r n u n f t auf dem Standpunkt Christi als der Personifizierung des eigenen Sittengesetzes vollziehe, erhalte ich zugleich durch die Theonomie des göttlichen Richters meine Erlösung; d . h . im Sittengesetz auf dem Standpunkt Christi werden Autonomie des Menschen und T h e o n o m i e Gottes zur Vermittlung (Koinzidenz) gebracht und damit das Problem gelöst, wie ich in der Religion als gebotnormiertes Wesen auch die H o f f n u n g teilen kann, meine persönlichste Verpflichtung zur U m k e h r meines Fehlverhaltens im Leben und Wirken zu realisieren."
» Vgl. ebd. 119, 152, 180, 187, 202 u . ö . 9 Ebd. 152. Vgl. auch Konrad Hilpert, Ethik und Rationalität. Untersuchungen zum Autonomieproblem und zu seiner Bedeutung f ü r die Ethik ( = Moraltheologische Studien, Syst. Abt. 6), Düsseldorf 1980, 151. 10 Vgl. dazu die instruktiven Überlegungen von H a n s Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt 1975, 691-713: Was ist an Kants W e n d u n g das Kopernikanische? Die beiden Zitate finden sich ebd. 702f und 709. 11 Vgl. dazu Konrad Hilpert, Die theologische Ethik und der Autonomie-Anspruch, in: Münchener Theologische Zeitschrift 28 (1977) 329-366. In der eben zitierten Arbeit von K. Hilpert, Ethik und Rationalität, spielt diese H e r k u n f t keine Rolle. - Zu dieser Arbeit vgl. die Rezension des Vf. in: Freiburger Zeitschrift f ü r Philosophie und Theologie 29 (1982) 330-334. Ausdrücklich notiert die H e r k u n f t von „Autonomie" Rüdiger Bittner, Moralisches Gebot oder Autonomie ( = Praktische Philosophie 18), Freiburg 1983, 120f. 12 So R. Bittner, bes. 132 ff. 13 Ebd. 162 f. - Vgl. zu Bittner die kurze Rezension des Vf. in: Evangelische Kommentare (im Druck).
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. A u t o n o m i e " u n d „ H e t e r o n o m i e " bei K a n t
mie" aufgenommen hat, oder aber, warum Darlegungen zu Kant eben diesen Terminus im Titel 14 oder im Untertitel 15 führen. Es ist unzutreffend, als Prinzip der Kantschen Ethik die „Autonomie" anzusehen 16 . Als unangemessen muß auch der Versuch gewertet werden, Kants Konzeption von „Autonomie" so weiterzuführen, daß bei ihm von einer „Se/fcibestimmung zur Fremdbestimmung" 17 oder von einer „Hetero autonomie" statt einer "//eautonomie" gesprochen werden kann18. So verdienstlich der Versuch zu gelten hat, die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft nachzuweisen, unter dem Thema „Autonomie" läßt sich dieses Bemühen nicht verhandeln 19 . Es bleibt also dabei, daß nicht so sehr bei Kant20, sondern vielmehr in den Darlegungen gerade auch zur „Autonomie" bei Kant dunkel bleibt, was denn dieser Terminus bedeutet: Weder in früherer21 noch in heutiger Literatur22 erscheint als fraglich und d. h. einer Frage wert, ob es etwas auf sich hat, daß Kant „Autonomie" im philosophischen Sinn verwendet.
14 Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie ( = Philosophische Abhandlungen 51), Frankfurt 1983. 15 K. Hilpert, Ethik und Rationalität. 16 R. Bittner, aaO. 16. 17 G. Prauss, aaO. 94. 18 Ebd. 292. " Vgl. dazu die Hinweise in der in Anm. 13 genannten Rezension. 20 Dies nimmt Michael Welker, Der Vorgang Autonomie, 7, an. - Die Darlegungen Welkers lassen selbst Begriffsgeschichte und präzise Fassung von „Autonomie" bei Kant außer acht und bleiben viel zu abstrakt; damit nivellieren sie die Kant durchaus bewußte Problematik. Zwar weist Welker auf Kants Aussagen über den Zirkel bzw. die Paradoxie (46, vgl. 27) hin und stellt fest, daß die Autonomie darin besteht, „daß der Wille seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen ist". Doch scheint diese Paradoxie verschoben auf „den Konflikt zwischen vernunftbestimmtem und sinnlichbestimmtem H a n d e l n " (48) bei Kant und überdies die Paradoxie als etwas aufzulösendes angesehen zu sein. Welkers Reflexionen über Kant enden - f ü r ihn konsequent - mit der Feststellung eines aporetischen statt eines paradoxen Befundes bei Kant. Welker nimmt die zwangsläufig knappen Ausführungen von Pohlmann, die sich auf reicheres Material bei Kant stützen, als er selpst verwendet, nicht auf. Kann nach Kant tatsächlich behauptet werden: „Der verheißungsvollen Entschlüsselung der Aufgabe und Leistungskraft des autonomen Willens folgt die Aufforderung, sich aller Gedanken an ihn gerade zu entschlagen" (50)? 21 Vgl. Kurt Bache, Kants Prinzip der Autonomie im Verhältnis zur Idee des Reiches der Zwecke ( = Kantstudien, Erg.heft 12), Berlin 1909. 22 Friedrich Kambartel, Autonomie, mit Kant betrachtet, in: Perspektiven der Philosophie 4 (1978) 119-133.
Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
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4 Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie" nach Kant Daß „Autonomie" und entsprechend auch „Heteronomie" seit Kant gängig waren, erscheint selbstverständlich 1 . Ließe sich diese Annahme bestätigen, d. h. würden die Termini nach Kant kontinuierlich, sei es zustimmend oder kritisch gebraucht, so ließe sich daraus noch nicht schließen, daß sie eine genuine und zentrale Bedeutung erreicht hätten. Es ergäbe sich nämlich die weitere Frage, ob sich spätere Autoren über eine Kantrezeption oder -kritik hinaus die Antithese für ihre eigene Position zunutze gemacht hätten. Wäre dies geschehen, bliebe zu fragen, welche Bedeutung die Termini nunmehr hätten. Um eine Antwort auf diese Fragen geben zu können, wurden umfangreichere Nachforschungen angestellt. Deren Ergebnisse sollen im folgenden vorgelegt werden. Sie vermögen zwar keine erschöpfende Begriffsgeschichte zu dokumentieren, doch dürften sie die wesentlichen Aspekte einer bislang noch unbekannt gebliebenen Rezeptionsgeschichte wiedergeben.
4.1 Nachwirkungen
Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
Begonnen werden soll mit Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der sich zunächst so sehr zu Kant hingezogen fühlte, daß er 1791 nach Königsberg ging. Seine dort entstandene, anonym erschienene Schrift über die „Kritik aller Offenbarung" wurde solange als Schrift Kants angesehen, bis die Autorschaft Fichtes publik geworden war, ein Zeichen für seine große Nähe zu Kant. Bereits in der frühen Rezension zum „Aenesidemus" nimmt Fichte den Terminus „Autonomie" auf: Anläßlich einer Aussage über die Ableitung des Notwendigen fragt er nach dem letzten Grund dieser Ableitung, ob er in uns liege, „wo wir bis zur absoluten Autonomie gekommen sind" 2 . 1 Vgl. R. Pohlmann, Autonomie 709 ff. mit Hinweis auf verschiedene Autoren wie K.H. Heydenreich, E.Reinhold, aber auch J.G.Hamann und G.W.F.Hegel sowie ausführlicherer Berücksichtigung von Fichte, Schelling und Schiller; als Gegner der Konzeption Kants werden genannt F.H.Jacobi, F.Schlegel sowie ausführlicher C.L.Reinhold und F.von Baader. Auf diese Autoren folgen unmittelbar Vertreter des Neukantianismus, so W. Wundt und W. Windelband. Die zwischen diesen und den zuvor genannten Autoren bestehende Lücke bleibt unbeachtet. 1 Johann Gottlieb Fichte, Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Fichte geht es in diesem Zusammenhang um die Grundlegung der Erkenntnis, nicht um Erörterungen über das Praktische, wie er sie wenig später dargelegt hat3. Überdies spricht er von „absoluter Autonomie", womit diese in neuer Weise qualifiziert wird. Interessant ist nun, daß in den Konzepten zu dieser Rezension sich die adjektivische Präzisierung der „Autonomie" nicht findet, wohl aber der genuine Ort in der praktischen Philosophie Kants zum Ausdruck gebracht wird4. Selbst wenn man diese Differenz zwischen Konzept und endgültiger Fassung nicht überbewerten darf, bleibt es doch aufschlußreich, daß Fichte in letzterer keine Assoziationen mehr zur ursprünglichen Bedeutung der „Autonomie" als „Selbstgesetzgebung" im Kontext praktischer Philosophie zum Ausdruck bringt. Etwa gleichzeitig mit dieser Rezension hat Fichte umfangreiche, unpubliziert gebliebene Überlegungen zur Elementarphilosophie und zur praktischen Philosophie notiert5. Hier wird nur in der theoretischen Philosophie der Terminus „Autonomie" aufgenommen. Fichte spricht von einer „Avtonomie der Spontaneität", einer „Selbstgesezlichkeit" 6 ; diese wird auf das reine Denken bezogen 7 . Dann aber fügt Fichte überraschend hinzu, daß es sich um „Gesezmäßigkeit nicht Selbstgesezmäßigkeit Nomie nicht Avtonomie" handelt. Selbst wenn anderwärts verschiedentlich noch „Autonomie" verwandt wird8, wenn überdies „absolute Avtonomie" als „etwas absolut = gesezgebendes" vorkommt 9 , liegt hier eine Weiterführung von der „Autonomie" zur „Nomie" vor. Skepticismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik (1794), in: Johann Gottlieb FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob, I 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 55; der Text fährt fort: „Soll absolute Autonomie begründet werden?" Vgl. die nochmalige Aufnahme ebd. 57. 5 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift f ü r seine Zuhörer (1794/95), in: ebd. 385-451. 4 In den Entwürfen zur Rezension des Aenesidemus in: ebd. II 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 295, heißt es in näherer Anlehnung an Kant im Zusammenhang mit dessen ethischen Reflexionen: „Wenn nemlich das Ich vors erste, insofern es vorstellendes Wesen ist, sich selbst ein Gesetz giebt, (das der unbedingten Nothwendigkeit), so hat es Autonomie; und diese Autonomie in Beziehung auf das bloße Ich, wie es durch intellectuelle Anschauung gesetzt wird, und von allem vorstellbaren abstrahirt ist reine S e l b s t b e s t i m m u n g . . Z u v o r hatte es „autonomes Wesen" geheißen. Von „absolut" ist nur in der Formulierung „absolutes Gesetz der absoluten Selbstbestimmung" die Rede. In der Reinschrift erst hat Fichte dieses Adjektiv zu „Autonomie" gesetzt. 5 Johann Gottlieb Fichte, Eigene Meditationen über Elementar-Philosophie, in: ebd. II 3, 21-177, und ders., Practische Philosophie, in: ebd. 181-266. Beide Texte gehören sachlich zusammen, wie aus dem editorischen Vorwort hervorgeht, vgl. ebd. 5. ' Ebd. 153, vgl. auch 152: „die Spontaneität bestimmt sich selbst, giebt ihr selbst ein Gesetz hier des denkens Avtonomie." Daß von ihr über die theoretische hinaus auch die praktische Vernunft betroffen ist, hebt Fichte im unmittelbaren Anschluß an dieses Zitat hervor. 7 Ebd. 153: „denn Avtonomie paßt nur auf das reine Denken, auf bloße Spontaneität, die durch keine Empfindung eingeschränkt ist". » Ebd. 165, 166, 168. ' Ebd. 174, vgl. 175.
Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
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Über diese Verwendung in der theoretischen Philosophie hinaus läßt sich „Autonomie" in anderen Überlegungen zur praktischen Philosophie nachweisen. Nicht von ungefähr findet sich der Terminus dort, wo Fichte über den Zusammenhang von Freiheit und Gesetzen reflektiert. Es erscheint ihm selbstverständlich, daß Freiheit nicht ohne Gesetze sich vollziehen kann, und zwar ebensowenig, wie es eine Freiheit des Denkens ohne logische Gesetze gibt. In diesem Zusammenhang formuliert er bezüglich der Selbstbestimmung, daß sie treffend „Autonomie, Selbstgesetzgebung" genannt wurde 10 . In dieser Formulierung wird deutlich, daß Fichte diesen Terminus übernommen hat, wobei er offen läßt, ob er über Kant hinaus noch andere Autoren meint. Beachtung verdient, daß er an dieser Stelle die „Autonomie" in dreifacher Rücksicht differenziert: Zunächst hebt er hervor, daß das Gesetz dem Ich nur dadurch zum Gesetz wird, daß es „mit Freiheit sich ihm unterwirft"; das Ich als „freie Intelligenz" sieht das Gesetz und macht es sich zu eigen, ohne daß dadurch seine Freiheit aufgehoben würde; so ist moralische Existenz „ununterbrochen Gesetzgebung des vernünftigen Wesens an sich selbst". Zum zweiten weist Fichte auf die „absolute Selbständigkeit" hin, derzufolge das Ich durch nichts außer ihm bestimmt werden darf; denn dieses wäre „Heteronomie". Und drittens entsteht die notwendige Unterwerfung unter ein Gesetz nur durch „absolut freie Reflexion des Ich auf sich selbst in seinem wahren Wesen, d. h. in seiner Selbständigkeit" 11 . Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß Fichte den Terminus Kants in diesen frühen Schriften mehrfach ausdrücklich aufgenommen hat. Er bestimmt ihn als „Autonomie und absolute Selbständigkeit des Gedankens" 12 . Es findet sich auch, freilich selten, die ausdrückliche Antithese „Autonomie - Heteronomie" 13 , während meist nur von „Autonomie" und fast singulär allein von „Heteronomie" die Rede ist14. Dieser Befund darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Termini sich später bei Fichte verlieren; sie ließen sich trotz umfangreicher Nachforschungen vor allem in verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre nicht nachweisen. Auch eine spätere Vorlesung über die Sittenlehre bringt sie nicht mehr 15 . 10
Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, IV, Berlin 1845, reprogr. Neudruck Berlin 1971, 56 f. 11 Vgl. dazu ebd. 74. 12 Ebd. 268. 13 Vgl. neben den eben genannten Belegen noch J. G. Fichte, Eigene Meditationen über Elementar-Philosophie, Akademieausgabe II 3, 166. 14 Vgl. als ältesten Beleg Johann Gottlieb Fichte, Zur Critik aller Offenbarung, Akademieausgabe II 2, 33 bzw. 60. 15 Johann Gottlieb Fichte, System der Sittenlehre (1812), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, XI 1-118.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Somit erscheint der Schluß berechtigt: Fichte nimmt zwar die ihm von Kant her selbstverständlich geläufigen Termini auf, er spricht, wenn auch nur selten, ausdrücklich von „absoluter Autonomie", während er das Adjektiv „absolut" sonst eher der „Selbständigkeit" und anderen synonym gebrauchten Begriffen vorbehält. In seine eigene Philosophie hat er die Antithese jedoch nicht übernommen. Statt um „Autonomie" und d.h. „Selbstgesetzgebung" geht es Fichte darum, die Tathandlung zu klären, daß das Ich „ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn" setzt 16 , woraus sich natürlich eine „Wissenschaft des Praktischen" ergibt, in deren Rahmen sehr wohl von „Autonomie" und „Heteronomie" hätte die Rede sein können 17 . So dominiert denn bei Fichte eindeutig der Terminus „Selbstbestimmung", und dies gerade in seinem System der Sittenlehre 18 . Selbst wenn sich noch weitere Belege zu „Autonomie" und „Heteronomie" bei Fichte finden ließen, darf angesichts der Tatsache, daß doch auch die zuvor vorgelegten Stellen eher peripher bleiben, für Fichte insgesamt gesagt werden, daß von einer philosophischen Rezeption der Antithese bei ihm nicht gesprochen werden sollte. Fichte hat die Termini Kants nicht zu seinen eigenen gemacht. Nach diesem Befund interessiert um so mehr, was sich aus den Schriften Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775-1854) ergibt. Daß auch er über eine genuine Kenntnis Kants verfügte, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden 19 . Es kann daher nicht überraschen, daß Schelling den Terminus „Autonomie" in seinen frühen Schriften aufgenommen hat. Bereits in seinen „Philosophischen Briefen" formuliert er: „ I n d e m ich m i c h selbst d u r c h A u t o n o m i e b e s t i m m e , b e s t i m m e ich d i e O b j e k t e durch H e t e r o n o m i e . " 2 0
Hier bezeichnet Schelling nicht mehr die Bestimmung des Willens durch ein Objekt als „Heteronomie", vielmehr korrespondiert der durch „Autonomie" erfolgten Selbstbestimmung die Bestimmung der Objekte durch „Heteronomie".
16 17 18
Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1802), in: ebd. I 98. Vgl. ebd. 246-328.
Vgl. J.G.Fichte, Das System der Sittenlehre, aaO. XI 1-118, passim. " Vgl. dazu u. Anm.22. 20 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Critizismus (1795), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart-Augsburg 1856 ff, I 335, sowie in: Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, München 1927, I 259. - Im folgenden werden die Verweisstellen bei Schelling zunächst nach der 1. Gesamtausgabe angegeben, wie sie in der späteren Ausgabe von Schröter zu finden sind; nach einem Semikolon werden sodann die Verweise auf diese Ausgabe von Schröter genannt, aus der auch die Texte zitiert sind.
Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
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Bald darauf wird „Autonomie" ausdrücklich bezogen auf ein absolut freies Wesen 21 , d.h. auf Gott, geht es doch im Zusammenhang um die „Idee eines objektiven Gottes". Damit wird „Autonomie" nicht mehr ausschließlich auf den Menschen und bes. seinen Willen bezogen. Eine selbständige Verwendung findet sich auch in der wenig späteren „Neuen Deduktion des Naturrechts" 22 . Hier fordert Schelling den Menschen auf: „Sey!" und spezifiziert diesen Imperativ: „Strebe daher, um ein Wesen an sich zu werden, absolut-frei zu seyn, strebe, jede heteronome Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe, durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu erweitern."23
Diese Forderung Schellings klingt nach unbedingter, absoluter „Autonomie". Tatsächlich findet sich auch die Formulierung „unbeschränkte Autonomie", doch wird sie dadurch sofort wieder eingeschränkt, daß diese nur dort stattfindet, „wo bloße Natur ist"24. Mit dieser Aussage bringt Schelling ein eigenes Verständnis von „Autonomie" zur Sprache. Der spezifische Sprachgebrauch Schellings läßt sich auch in Aussagen bestätigen, daß etwa zwischen „Autonomie" und „Heteronomie" keine Kollision stattfinden kann 25 , daß „Autonomie" durch „entgegengesetzte Autonomie" nicht mehr bestimmbar ist26 oder aber „Autonomie" sich im Widerstreit gegen „Autonomie" entweder aufhebt oder beschränkt 27 . Gerade diese Aussage steht im Zusammenhang mit dem Thema „Freiheit". Diese aber kann sich nur durch „ursprüngliche Autonomie" ankündigen; 21
Ebd. I 340; ebd. I 264. K.F.A.Schelling weist ausdrücklich auf den Zusammenhang der eben genannten „Philosophischen Briefe" und dieser Schrift über die „Neue Deduktion des Naturrechts" mit Kant und besonders dessen „Kritik der praktischen V e r n u n f t " hin und f ü g t hinzu, d a ß Schelling diese weitergeführt habe; dabei hebt K.F.A.Schelling hervor: „Nur dem unveränderlichen Selbst k ö m m t Autonomie zu, alles, was nicht dieses Selbst ist - alles, was Objekt werden kann, ist heteronomisch, ist Erscheinung f ü r mich", zit. nach: F.W.J.Schelling, Werke, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von H a n s Michael Baumgartner u. a., I 3, hg. von H a r t m u t Buchner, Wilhelm G. Jacobs und Annemarie Pieper, Stuttgart 1982, 128. 22
23 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts (1976), in: Schellings Werke, aaO. I 248; I 172. » Ebd. I 274; I 198. 25 Ebd. 26 Ebd. I 273; ebd. I 197: „Soll jedes Objekt gegen Autonomie überhaupt schlechthin passiv sich verhalten, so muß das Objekt, insofern es bestimmt ist durch Autonomie, schlechterdings nicht mehr bestimmbar seyn durch entgegengesetzte Autonomie." 27 Ebd. I 274; I 198 „ N u r weil der freie Wille die Objekte schlechthin bestimmt, steht der Autonomie, insofern sie sich auf ein selbstthätigbestimmtes Objekt bezieht, nicht mehr die Heteronomie des Objekts, sondern die Autonomie des bestimmenden Subjekts entgegen. Autonomie aber im Widerstreit gegen Autonomie hebt sich entweder schlechthin auf, oder beschränkt sich wechselseitig auf die Bedingungen, unter denen die Freiheit aller moralischen Wesen bestehen kann."
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Schelling fügt hinzu, daß „physische Causalität" zwar „dem Objekt nach heteronomisch, d. h. nur durch Naturgesetz bestimmbar ist", er konstatiert aber auch, daß sie „ihrem Prinzip nach autonomisch, d. h. durch kein N a turgesetz erreichbar seyn muß", und er schließt mit der Feststellung, daß die „physische Causalität" zugleich „Autonomie und Heteronomie in sich vereinigen" muß 2 8 . Es gibt also im Hinblick auf die physische Kausalität ein Zusammenfallen von „Autonomie" und „Heteronomie", je nach dem Gesichtspunkt, unter dem man sie betrachtet. Es bedarf keiner weiteren Analyse zu zeigen, daß hier eine eigenwillige Verwendung beider Termini vorliegt, derzufolge eine „ursprüngliche Autonomie" angenommen wird, die zugleich „Autonomie und Heteronomie" in sich vereinigen muß. Damit ist die Antithetik beider Termini auf einer grundlegenderen, ursprünglicheren Ebene eliminiert. „Autonomie" bleibt bei Schelling eine Bestimmung der „Individualität", sie kann nur dem Menschen als „lebendiges Wesen" 2 9 bzw. als „moralisches Individuum" 30 eigen sein, das in Freiheit zugleich nach „Unbedingtheit" strebt und doch sich „im Gegensatz gegen alle übrigen Individuen" sieht 31 . Schelling sucht die Lösung dieses Konflikts in seiner Konzeption durch eine Umformulierung des kategorischen Imperativs Kants: „handle so, daß dein Wille absoluter Wille sey" 32 . Wie die Freiheit des Menschen bzw. sein Wille absolut sein soll, so entsprechend auch seine „Autonomie", die überdies durch „Heteronomie" nicht mehr bedroht erscheint. . Die wohl wichtigste Aussage zur „Autonomie" findet sich bei Schelling in seinem wiederum frühen „System des transzendentalen Idealismus": „Es ist die Autonomie, welche insgemein nur an die Spitze der praktischen Philosophie gestellt wird, und welche, zum Princip der ganzen Philosophie erweitert, in ihrer Ausführung transcendentaler Idealismus ist. Der Unterschied zwischen der ursprünglichen Autonomie und derjenigen, von welcher in der praktischen Philosophie die Rede ist, ist nur folgender: vermöge jener ist das Ich absolut sich selbst bestimmend, aber ohne es für sich selbst zu seyn, das Ich gibt sich zugleich das Gesetz, und realisirt es in einer und derselben Handlung, weßhalb es auch nicht sich selbst als gesetzgebendes unterscheidet, sondern die Gesetze nur in seinen Produkten, wie in einem Spiegel, erblickt; dagegen ist das Ich in der praktischen Philosophie als ideell entgegengesetzt nicht dem reellen, sondern dem zugleich ideellen und reellen, eben deßwegen aber nicht mehr ideell, sondern idealisirend. Aber aus demselben Grunde, weil dem zugleich ideellen und reellen, d.h. producirenden Ich ein idealisirendes entgegengesetzt ist, ist das erstere in der praktischen Philosophie nicht mehr anschauend, d.h. bewußtlos, sondern mit Bewußtseyn producirend, d.h. realisirend."33 28
Ebd. I 2 4 9 f ; I 172 f. " Ebd. I 249; I 173. 31 Ebd. I 253; I 175. Ebd. I 253; I 177. 32 Ebd. I 255; I 179. 33 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transcendentalen Idealismus (1800), in: ebd. III 535; II, M ü n c h e n 1927, 535. 30
Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
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An dieser Stelle, an der „Autonomie" als zentral angesehen werden darf, unterliegt sie gleichwohl dem immer wieder beobachteten Widerspruch, besser, der Paradoxie von Vorgegebenheit und Selbstgebung des Gesetzes, durch das das Ich ebenso bestimmt wird wie sich selbst bestimmt. Angesichts dieser zentralen Verwendung von „Autonomie" ist es jedoch überraschend, daß im folgenden dann nicht dieser Terminus als Leitbegriff auftritt, sondern Freiheit. Sie partizipiert wiederum an jener Problematik, daß menschliche Freiheit wie menschliche Intelligenz sich nicht als absolut erfahren, sondern daß es vielmehr einer „Intelligenz außer ihr" bedarf 3 4 . Schelling nimmt in dieser Version wiederum Kant auf mit der Forderung, nämlich dem kategorischen Imperativ oder Sittengesetz, „welches Kant so ausdrückt: du sollst nur wollen, was alle Intelligenzen wollen können" 35 .
Gerade in der Erörterung der „Freiheit des Willens" kann Schelling nicht umhin, die Formulierung eines „absoluten Willens" zu verwenden und von ihm zu sagen, „weder daß er frei, noch daß er nicht frei sey, denn das Absolute kann nicht als handelnd nach einem Gesetze gedacht werden, das ihm nicht durch die innere Nothwendigkeit seiner Natur schon vorgeschrieben wäre"36.
Dieser Problematik kann und braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden. Sie mußte aber genannt werden, um zu zeigen, daß Schelling in diesem Zusammenhang von Freiheit und Selbständigkeit des Menschen und konsequent dazu auch von der „Autonomie" des Menschen spricht und dabei eben jenes Absolute nennt, demgegenüber sich der Mensch vorfindet und das dessen „Freiheit" und „Autonomie" dennoch nicht aufhebt. Umfangreiche Nachforschungen in Schellings Schriften zur Philosophie der Freiheit, zur geschichtlichen Philosophie sowie in den Vorlesungen über die Naturphilosophie förderten keine weiteren Belege zutage. Insbesondere ergab die Durchsicht der umfangreichen Vorlesungen über die „Philosophie der Mythologie" und die „Philosophie der Offenbarung" einen aufschlußreichen Befund: nur in ersterer ließ sich „Autonomie" belegen, und zwar abgesehen von nebensächlicher Erwähnung nur einmal in inhaltlich aufschlußreicher Weise 37 . Schelling nimmt hier Kant auf mit der Annahme eines von uns selbst unterschiedenen Wesens, nämlich „der mo» Ebd. III 540; II 540. " Ebd. III 574; II 574. M Ebd. III 576; II 576. 37 Die unwichtige Stelle findet sich bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung in die Philosophie der M y t h o l o g i e oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, 2. Buch, X I 267; V 4 4 9 . Ebenso nebensächlich bleibt die Aussage eines „Fremdartigen ( H e t e r o n o m i schen)", X I 320; V 502. D i e hier ausführlicher vorzustellende Stelle findet sich ebd. X I 532; V 714.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
raiischen gesetzgebenden Vernunft" und eben nicht Gottes; er hebt ausdrücklich Kants Verdienst hervor, die „Unabhängigkeit des moralischen Gesetzes von Gott" behauptet zu haben, und d. h. die „Autonomie der Vernunft", und erläutert in einer Anmerkung, es sei wichtig, „daß Kant die Moral ,secularisiert' hat". Der springende Punkt aber ist, daß dieses Wesen nach Schelling nicht die menschliche Vernunft ist, „wie der unglücklich gewählte Ausdruck .Autonomie' zu sagen scheint", sondern „die in dem Seyenden selbst wohnende Vernunft, die (allerdings als autonomische, d.h. die ihr Gesetz nicht von Gott erhält)". Nicht die menschliche Vernunft, aber auch nicht Gott, sondern diese Vernunft im Seyenden charakterisiert Schelling so, daß sie „sich den Willen unterthan macht". „Autonomie" erhält in dieser Aussage eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen Gott und Mensch. Immerhin nimmt Schelling hier den Terminus noch einmal auf, freilich in einem Referat Kants. Berücksichtigt man, daß solche Belege von „Autonomie" in den sehr umfangreichen Vorlesungen sozusagen verschwinden, läßt sich die These vertreten, daß sich dieser Terminus im späteren Schrifttum Schellings faktisch verloren hat. Auch bei ihm muß von einer frühen, sich an Kant anlehnenden Rezeption ausgegangen werden, die aber für seine eigene genuine Philosophie völlig peripher blieb. Insofern hat Schelling zur eigentlichen Geschichte dieses Begriffs keinen Beitrag geleistet. Das bisherige Ergebnis soll anhand der Aussagen von Friedrich Schlegel (1772-1829) überprüft werden. Während sich Fichte intensiv mit Kant beschäftigt und Schelling seinerseits sich nachhaltig nicht zuletzt mit Fichte auseinandergesetzt hat, ist Schlegel andere Wege gegangen, insofern er sich mehr der Sprache statt der Philosophie zugewandt hat. Da Schlegel von 1796 an für einige Zeit in Jena war, wo Fichte 1794-1799 und Schelling seit 1798 lehrte, wäre es wichtig zu wissen, ob und ggf. in welchem Maße sie generell und möglicherweise auch hinsichtlich unseres Themas im Austausch miteinander gestanden haben. Tatsächlich läßt sich nur ein Jahr nach den ersten Belegen bei Schelling „Autonomie" auch bei Schlegel nachweisen. In seiner Schrift über den Republikanismus 38 spricht er von der „Autonomie jedes einzelnen Staats" und der „Isonomie aller". Auffällig ist, daß er hier den nicht eben verbreiteten Begriff „Isonomie" 39 mit „Autonomie" parallelisiert. Letztere erläu38 Friedrich Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden (1796), in: ders., Studien zur Geschichte und Politik, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe VII, München 1966, 22. 39 Bei Johann Heinrich Zedier, Großes vollständiges Universal-Lexicon, XIV 1, Leipzig 1735, reprogr. Neudruck Graz 1961, fehlt dieses Stichwort. Enthalten ist es dagegen bei J. S. Ersch und J. G. Gruber, Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, II 25, Leipzig 1846, 80, wo gesagt ist, daß dieser Terminus aus der komparativen Jurisprudenz stammt; infolgedessen dürfte er nicht von Schlegel formuliert worden sein.
Nachwirkungen Kants: Fichte - Schelling - Schlegel
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tert Schlegel an diesen Stellen nicht. Eine Übernahme dieses Terminus von Kant legt sich zweifellos nahe, weil Schlegel selbstverständlich gleichfalls dessen Schriften zur Kenntnis genommen hat; die hier zur Diskussion stehende Schrift Schlegels bezieht sich ja ausdrücklich auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden". Offenkundig verwendet Schlegel „Autonomie" als politischen Begriff. Auch in seiner praktischen Philosophie gebraucht Schlegel „Autonomie". Rückblickend auf seine Ausführungen konstatiert er, daß die Kategorien „Autonomie, bonomie und Harmonie "4° die Verbindung der einzelnen Teile dieser praktischen Philosophie sind. Im Kontext dieser Aussage spezifiziert Schlegel „Autonomie" insofern, als er die „Willkühr" im Sinne eines absoluten Entschlusses mit der absoluten Freiheit in Zusammenhang bringt 41 . Demgegenüber bezeichnet er „Autonomie" als „eine relative Freyheit", sie ist „das Fundament, der erste Grad der Annäherung an die absolute Freyheit"; anschließend spricht er noch einmal von „Isonomie". Auch hier erscheint also „Autonomie" wieder neben einem juristischen Begriff. Beide werden aber dann durch den dritten Terminus „Harmonie" miteinander verbunden. Dieser ist ein „Mittelbegriff", „nur zu konstruiren durch Autonomie und Isonomie" 42 . Während in diesen Aussagen jeweils nur „Autonomie" genannt wird, spricht Schlegel in seinen Fragmenten nicht nur von ihr, sondern auch von „Heteronomie", merkwürdigerweise aber nicht von beiden in einer unmittelbaren Antithese. Schlegel übernimmt in diesen seinen Fragmenten „Autonomie" in Aussagen zur Poetik 43 , er spricht in diesem Zusammenhang sogar von „absoluter Autonomie" 44 . Es wird jedoch nicht näher erläutert, warum und in welchem spezifischen Sinn dieser Terminus hier verwandt wird. Er versteht sich offensichtlich für Schlegel von selbst. Sinnvoll scheint er verwandt zu sein, wenn Schlegel von einer Leichtigkeit der Erscheinung innerer und äußerer Freiheit spricht und diese Freiheit als „absolute Autonomie" oder wenig später die selbständige Schönheit als „Maximum der Autonomie" bezeichnet 45 . Wie diese letztere Charakterisierung der Schönheit näherhin zu verstehen ist, wird wiederum nicht gesagt. 40 Friedrich Schlegel, Transcendentalphilosophie (1800-1801), in: ders., Philosophische Vorlesungen, I, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe XII, München 1964, 85. 41 Ebd. 86. 42 Ebd. 43 Friedrich Schlegel, Fragmente zur Litteratur und Poesie (V 1052), in: ders., Fragmente zur Poesie und Literatur, I, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe XVI, München 1981,172. In den folgenden Anmerkungen wird zunächst in Klammern die Bezifferung der Fragmente innerhalb der Bände jeweils nach deren römischer und arabischer Ziffer und dann jeweils Band und Seiten dieser Ausgabe zitiert. 44 Friedrich Schlegel, Von der Schönheit in der Dichtkunst (1796), (I 20) XVI 28, vgl. auch 31. 45 Ebd.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Insgesamt bietet jedoch die Verwendung von „Heteronomie" beträchtlichere Schwierigkeiten. Wohl kann man noch der Aussage einen Sinn abgewinnen, daß, wenn das „Reizende, das Mittel des Schönen, Zweck der Vernunft wird", „Heteronomie" entsteht, nämlich als Bestimmung von außen, die über die Selbstbestimmung dominiert 46 . Auch ergibt es einen gewissen Sinn, die historische Methode in der Philologie als „heteronomisch" zu bezeichnen47. Doch lassen sich andere Aussagen nicht mehr interpretieren48. Resümiert man die bislang nachzuweisende Verwendung der Termini „Autonomie" und „Heteronomie" bei Schlegel, so ergibt sich, daß „Autonomie" zunächst als politischer Begriff verwandt, dann aber in Überlegungen zur Kunst einbezogen wird, wobei hier der Ursprung nicht sichtbar bleibt. Demgegenüber wird „Heteronomie" nur im Zusammenhang von Reflexionen über die Kunst in einer zum Teil nicht mehr verständlichen Weise gebraucht. Da sich jedoch in den Indizes der zahlreichen bislang erschienenen Bände beide Termini des weiteren nicht mehr nachweisen lassen, ist der Schluß erlaubt, daß sie sich später verlieren und insgesamt für Schlegel nur für eine kurze Zeit und hier auch nur eine recht periphere Bedeutung haben. Insbesondere Kants Überlegungen in der „Kritik der Urteilskraft", in denen ja von „Autonomie" und „Heautonomie" die Rede ist, haben sich, soweit bisher nachweisbar, auf Schlegels Sprachgebrauch nicht ausgewirkt.
4.2 Auseinandersetzungen
mit Kant:
Reinhold
-
Baader
Für unser Thema verdient Karl Leonhard Reinhold (1758-1823) besondere Aufmerksamkeit. Denn er hat sich nicht nur mit der Autonomiekonzeption Kants auseinandergesetzt, den er doch ursprünglich propagiert hatte, sondern auch mit der Weiterführung Fichtes und Schellings. Zunächst verweist Reinhold auf die Meinung der „Kantischen Schule", daß Kant als „eigentlichen Sinn und Grund des moralischen Gesetzes die Autonomie des Willens" entdeckt hat. Über diese Entdeckung gehen Fichte und Schelling hinaus: Wie Schelling an Fichte hervorhebt, stellt dieser die „Autonomie" nicht mehr nur an die Spitze der praktischen Philosophie, sondern erweitert sie zum „Princip der gesammten Philosophie" 1 . 46
Ebd. (9), 7. Friedrich Schlegel, Zur Philologie II, (IV 61) X V I 66. 48 Vgl. Friedrich Schlegel, Zur Poesie II (1802), (XII 109) X V I 428: „ Wasser in der Plastik schon Heteronomie." Vgl. ders., Zur Poesie (1803), ( X I V 167) X V I 517. 1 Carl Leonhard Reinhold, U e b e r Autonomie als Princip der praktischen Philosophie der Kantischen - und der gesammten Philosophie der Fichtisch-schellingschen Schule, in: Bey47
Auseinandersetzungen mit Kant: Reinhold - Baader
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Hierin folgte ihm Schelling, wie Reinhold meint. Die ihm vorliegende Konzeption charakterisiert Reinhold folgendermaßen: „Sowohl in der praktischen Philosophie des Criticismus, als auch in der gestimmten gereinigten, oder höheren Transcendentalphilosophie, ist die Autonomie das durch sich selbst Begründende und Begründete, und keiner weitern Begründung Fähige und Bedürftige, - das Schlechthin-ursprüngliche, durch sich selbst Wahre und Gewisse, das Urwahre - das Prius κατ' ε ξ ο χ ή ν - das absolute Princip."2.
Gegen diese Bestimmung richtet Reinhold eine außerordentlich scharfe Kritik. Ihm erscheint „Autonomie" als „Grundirrthum", er betont, „daß sie . . . an sich seiher nicht weniger unverständlich als unbegreiflich, und überhaupt auf keine andere Weise denkbar sey, als der viereckige Cirkel denkbar ist"3.
In seine Kritik bezieht Reinhold grundlegende Annahmen der Transzendentalphilosophie insgesamt ein, etwa die über Freiheit4, moralisches Gesetz 5 und praktische Vernunft 6 . Gegen die Deduktion der „Autonomie" formuliert Reinhold als seinen eigenen Ansatz: „Es versteht sich von selbst, daß die folgende Deduktion der Autonomie transcendental, sondern nur psychologisch seyn könne, und müsse."7
nicht
Doch entwickelt er in seiner folgenden Abhandlung keineswegs eine solche psychologische Konzeption von „Autonomie", er bleibt vielmehr bei der Polemik gegen die Transzendentalphilosophie vor allem Kants und wendet sich besonders gegen die „religiösen Kantianer". Diesen wirft er vor, Kants Transzendentalphilosophie verkannt zu haben, und zwar in der Hinsicht, daß durch Kants „als ob" eben nur verschleiert wird, „daß kein Gott ist"8. Nach Reinhold stellt die absolute Notwendigkeit der Freiheit, die nach Kant „Autonomie", „praktische Vernunft", „kategorischer Imperativ", „Sittengesetz" u. a. m. genannt wird, in Wahrheit nichts anderes dar als „der der Selbstliebe unergründliche Abgrund der Selbstliebe", nichts als „herrschsüchtige und geldgierige Willkühr" die „Millionen Menschen geschlachtet, zu Krüppeln und Bettlern gemacht hat" 9 . Als Alternative empfiehlt Reinhold ein religiöses Handeln, das Selbstverleugnung betrage zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange 19.Jahrhunderts, hg. von C. L. Reinhold, 2. Heft, Hamburg 1801, 104-140, 104f. 2 Ebd. 108. J Ebd. 109. 4 Ebd. llOf, 115. s Ebd. 120 f. ' Ebd. 131. 7 Ebd. 113. 8 Vgl. hierzu ebd. 132 f. ' Ebd. 130f, vgl. 138.
des
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
deutet, und ein Denken, „welches im menschlichen Bewußtseyn vom wahren Absoluten ausgeht, nur auf dasselbe zurückgeht", das „Gott vor Augen hat"10. Diese letzten Aussagen gegen Ende seiner Darlegungen zeigen, daß Reinhold jegliche Konzeption von „Autonomie" kritisch beurteilt. Kants Überlegungen zur »Autonomie" haben damit bereits in der ersten Generation einer möglichen Rezeption eine ebenso dezidierte wie pauschale Kritik erfahren. Mit „Autonomie" und „Heteronomie" hat sich auch Benedikt Franz Xaver von Baader ( 1 7 6 5 - 1 8 4 1 ) verschiedentlich auseinandergesetzt. Freilich geht er nicht ex professo und auch nicht eben häufig auf diese Termini ein. Jedoch lassen sich hinlänglich klare Konturen seiner Einschätzung des Begriffspaares erkennen. Interessant ist, daß sich frühe Belege in Baaders naturphilosophischen Schriften finden. Baader verwendet die Antithese zur Charakterisierung verschiedener Art der Bewegung von Körpern, je nachdem, ob sie passiv in Bewegung gesetzt werden oder aktiv sich selbst bewegen, d. h. ob es sich um eine „passive, heteronome" oder „active, autonome" handelt 11 . Letztere wird auch als „freie" Bewegung bezeichnet 12 . Als Beispiel für erstere spricht Baader von „Schub, Zug, mitgetheiltem Druck", für letztere von „Wurf, Schwung, Fall". Deren Aktivität wird hier nicht ausdrücklich auf eine (personale) Ursache zurückgeführt, vielmehr kann eine „heteronome" Bewegung in eine „autonome" übergehen 13 . Aufschlußreich ist, daß Baader die Antithese auch auf verschiedene Arten der Bewegung anwenden kann, so, wenn er „die gerade Richtung die Autonomie, die nichtgerade Heteronomie der Energie" nennt 14 . Selbstverständlich kann· in diesen naturphilosophischen Texten die Antithese auch über die nichtgeistige Wirklichkeit hinaus auf die Wirklichkeit des Menschen, auf sein Ich bezogen sein15. In diesem Zusammenhang stellt Baader fest, daß der Satz des Grundes und der Ursache und „folglich auch Autonomie und Heteronomie" oft verwechselt werden 16 . 10
Ebd. 140. Franz von Baader, Beiträge zur Elementar-Physiologie (1897), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Franz Hoffmann, I-VII, Leipzig 1851 f, III 207 f. - Im folgenden werden die Bände dieser Ausgabe mit römischer und die Seitenzahlen mit arabischer Ziffer angegeben. 12 Ebd. 208. 13 Ebd., vgl. auch die Ausführungen 224 ff. 14 Ebd. 218 Anm. - Die Anmerkungen, die nicht vom Herausgeber gekennzeichnet sind, dürften von Baader selbst stammen; im folgenden werden nur solche Anmerkungen Baaders genannt, die nicht durch ein H. gekennzeichnet sind. 15 Ebd. 211 Anm. 16 Ebd. 211 im Text; daß auch für den Grund (und nicht nur für die Ursache) von „Heteronomie" die Rede sein kann, wird ebd. 218 gesagt und in einer Anm. näher erläutert. 11
Auseinandersetzungen mit Kant: Reinhold - Baader
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In diesen Ausführungen verwendet Baader das Begriffspaar grundsätzlich ohne negative Qualifikation; er bezieht es primär auf Naturgegebenheiten, ohne darauf hinzuweisen, daß von „Autonomie" in diesem Zusammenhang nicht in ursprünglicher Verwendung gesprochen werden kann. Er verweist denn auch nicht auf einen Zusammenhang mit der Terminologie Kants, obgleich dieser der Urheber der Verwendung sein dürfte und obgleich er Baader selbstverständlich bekannt und in diesem Text auch erwähnt ist17. Jedenfalls erscheint hier eine recht eigenwillige und bislang so unbekannte Verwendung der Antithese 18 . Daß die Verwendung der Termini in naturphilosophischen Aussagen nicht auf diesen Text beschränkt bleibt, zeigen spätere Überlegungen Baaders, in denen zwei verschiedene Weisen des Lebens als Verbindung beider benannt werden, nämlich ein „autonomes" und ein „heteronomes Leben" 19 . Auch in diesem Zusammenhang erscheinen die Termini selbstverständlich gebraucht, da Baader sie hier wie auch zuvor problemlos verwendet, ohne sie des Näheren zu erläutern. Im wesentlichen spricht Baader jedoch von „Autonomie" im ethischen Kontext. Für diese ethische Verwendung, die einer späteren Zeit angehört, bezieht sich Baader ausdrücklich auf Kant. Dessen Moral charakterisiert Baader als „von Religion und Physik, von Gott und Natur" losgesagt; ihr Begriff der „Autonomie" bekennt sich „nur zu einem ethischen Republicanismus", und zwar in dem Sinne, daß Kants Moral „keines ethischen Oberhauptes als allein und absolut autonomen Gesetzgebers bedarf" 20 . Gegen die „Autonomie" der Moral Kants setzt Baader hier also einen „absolut autonomen Gesetzgeber", wenn auch nur im Modus der Negation, daß Kants Moral eines solchen Gesetzgebers eben nicht bedarf. Damit sind die beiden Ebenen angegeben, auf denen Baader „Autonomie" im ethischen Sinn verwendet: Einmal kritisiert er die „Autonomie" im Gefolge Kants als Selbstgesetzgebung des Menschen. Er versteht dabei diese „Autonomie" als „absolute Autonomie"; die auf dieser gebauten Moraldoktrinen sind „in ihrem Prinzip... revolutionistisch, und eben so antimoralisch als antireligiös" 21 . Der Mensch erscheint selbst als Quelle und Urheber des Gesetzes und also als „autonom", so daß er „als Gesetzgeber Gott selber sei"22.
17
Vgl. ζ. B. ebd. 226 Anm. und 227. " Auf diese Verwendung k o m m t R. Pohlmann, Autonomie aaO. 711, nicht zu sprechen. " Franz von Baader, Ueber Starres und Fließendes (1808), III 273. 20 Franz von Baader, Ueber die Begründung der Ethik durch die Physik (1813), V 3 ; im folgenden, 17, 19, bezieht sich Baader ausdrücklich wiederum auf Kants Antithese. 21 Franz von Baader, Fermenta cognitionis (1822-1825), H e f t 6, II 414. 22 Franz von Baader, Bemerkungen über einige antireligiösen Philosopheme unserer Zeit (1824), II 445.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Baader setzt „Autonomie" mit „absoluter Souveränität" gleich und führt diese im moralischen Kontext formulierte Souveränität auf die politische zurück, deren Kopie die moralische sei23. Diese „absolute Autonomie (Selbstgesetzgebung)" als „absolute Souveränität des Menschen" versteht Baader, historisch völlig richtig, als ursprünglich politischen Begriff, nämlich als „Reflex der frühren (englischen und französischen) absoluten Volkssouverainität" 24 . Aufgrund seiner Konzeption sieht Baader diese „Autonomie" bzw. „Souveränität" als „Anomie" an25. Diese Position bezeichnet Baader ausdrücklich als „Irrlehre der absoluten Autonomie oder Selbstgesetzgebung des Menschen", die „den Gesetzgeber (in der Sprache der Schrift: den Vater) als ein über dem Menschen seiendes.. .Wesen leugnet" 26 . Zweifellos gilt diese Verurteilung Kant, der hier ausdrücklich genannt wird; Baader lehnt eine solche Moral von „Autonomisten" als „im Princip heilandlos und heillos" ab. Zum anderen hat Baader - und zwar in noch einmal späteren Texten die im zuerst genannten ethischen Zusammenhang verwandte Negation eines „allein und absolut autonomen Gesetzgebers" weitergeführt. Auch in dieser Zeit hält er seine Ablehnung einer „absoluten Autonomie" und „Anomie" aufrecht 27 , er verwahrt sich nachhaltig gegen die „Irrlehre der Autonomie des Menschen und seiner absoluten Sichselbstbegründung" 28 , er hält Kants Begriff „eines sich selbst gegebenen oder selbst gemachten Gesetzes" für „absurd" und fordert statt dessen, „meine Autonomie" gegen diesen meinem Willen überlegenen Willen offen zu machen 29 ; denn die „Autonomisten oder Selbstgesetzgebungslehrer" legen dem Menschen „keine geringere Freiheit, als die absolute Gottes selber" zu, sie machen 23 Ebd. 455: „Eigentlich ist die Lehre von der Autonomie oder der absoluten Souveränität des Menschen nur eine Copie der Lehre von der Volkssouveränität und der Mensch ist nach jener wie jeder einzelne Bürger nach dieser frei, weil er Niemand über sich hat, und jedem Andern gleich, weil jeder einen gleichen Antheil an dieser Souveränität hat." 24 Franz von Baader, Ueber das durch unsere Zeit herbeigeführte Bedürfniss einer innigeren Vereinigung der Wissenschaft und der Religion (1824), I 84, vgl. auch 85. 25 Franz von Baader, Fermenta cognitionis, Heft 1, II 176. 26 Franz von Baader, Vorlesungen über religiöse Philosophie im Gegensatze der irreligiösen älterer und neuerer Zeit (1826/1827), I 308 f. - Zur Polemik gegen die „absolute Autonomie" vgl. ferner: Bemerkungen über einige antireligiöse Philosopheme unserer Zeit (1824), II 475, sowie: Ueber den Begriff der Zeit und die vermittelnde Function der Form und des Maasses (1833), II 524. 27 Franz von Baader, Ueber den Zwiespalt des religiösen Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der religiösen und politischen Societät in unserer wie in jeder Zeit (1833), I 371 Anm. - Hier werden übrigens die politischen Doktrinen als Folgerungen der abstrakten philosophischen Gegensatzlehre der Liberalen interpretiert. 28 Franz von Baader, Ueber Religions- und religiöse Philosophie im Gegensatze sowohl der Religionsunphilosophie als der irreligiösen Philosophie (1831), I 326. 29 Franz von Baader, Zusatz von 1830 zu: Ueber Kant's Deduction der praktischen Vernunft und die absolute Blindheit der letzteren (1796/1809), I 9.
Auseinandersetzungen mit Kant: Reinhold - Baader
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den Menschen „als autonom zu Gott selber"30. Im Blick auf Gott nun und dessen Notwendigkeit, seine Geschöpfe zu lieben, konstatiert Baader einen Unterschied zwischen dieser Notwendigkeit und dem Schicksal, dem Philosophen und Dichter den Schöpfer unterwerfen wollten; diesen wirft Baader vor, sie hätten den Begriff der „absoluten Autonomie" nicht erfaßt 31 . In einer ausführlichen Anmerkung zu dieser Passage, die er im Text seiner Vorlesungen wiederholt, sagt Baader in sonst nicht zu findender Deutlichkeit, daß die deutsche Philosophie zwar „häufig vom Absoluten und von der Autonomie spricht", jedoch nicht gesehen hat, „daß der Begriff der absoluten Autonomie nur in Gott selber fällt, als in den absolut Seienden und Daseienden" 32 . Nur hier kann nach Baader von einem „Selbstgesetz" gesprochen werden, das weder als Gesetz der Freiheit noch der Natur verstanden werden darf, sondern als Notwendigkeit. Expliziert hat Baader diese Aussage, daß der Begriff der „Autonomie" als absolute lediglich für Gott zutrifft, mit der Begründung: „Denn wäre Gott nur seiend oder an sich und nicht auch zugleich für sich daseiend..., so wäre er nicht" 33 . Die einzig angemessene Ebene, auf der also allein von „absoluter Autonomie" gesprochen werden darf, ist die Ebene Gottes, nicht die des Geschöpfes. Die Untersuchung Baaders ergibt einen sehr weit gestreuten Gebrauch der Termini Kants, findet sich doch die Antithese bei ihm gerade auch in naturphilosophischen Schriften, ein Gebrauch, der bei Kant unvorstellbar wäre. In diesem Kontext nimmt Baader die Termini völlig neutral auf, um Naturerscheinungen zu charakterisieren. Er unterscheidet sie dabei nicht grundsätzlich, wenn eine „heteronome Bewegung" ohne weiteres Zutun in eine „autonome" übergehen kann. Im ethischen Kontext ist dagegen vorwiegend von „Autonomie" allein gesprochen, ohne daß „Heteronomie" jeweils entsprechend aufgenommen wäre. Überdies beachtet Baader Kants Verwendung nur sehr ungenau, insofern er nämlich „Autonomie" faktisch und nicht selten auch ausdrücklich als „absolute Autonomie" versteht und mit „Souveränität" gleichsetzt. Der politischen Herkunft und ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ist sich Baader durchaus bewußt, obwohl er sie anfänglich naturphilosophisch verwendet.
30 Franz von Baader, Ueber Religions- und religiöse Philosophie, I 328. - Gegen die „Autonomisten" vgl. auch die Rezension zu M. de la Mennais, Essai sur l'Indifférence en matière de Religion (1826), V 194, 228. 31 Franz von Baader, Sendschreiben an einen Freund über die Französische Revolution (1832), VI 307. 32 Ebd. 324 sowie Franz von Baader, Vorlesungen über speculative Dogmatik, Heft 2 (1830), 16. Vorlesung, VII 273. 33 Ebd.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Positiv aufgenommen wird „Autonomie", und zwar auch als „absolute Autonomie" dort, wo Baader diesen Terminus auf Gott bezieht, der als der einzige Gesetzgeber erscheint, durch den freilich die Freiheit des Menschen nicht aufgehoben wird. Für den Menschen hat Baader jedenfalls jegliche Autonomie zurückgewiesen. Wie abwertend er diesen Terminus sieht, wird nicht zuletzt durch den schon bei ihm zu findenden Terminus „Autonomismus" 34 unterstrichen. Zeichen der Negativität ist auch, daß „Autonomie" faktisch identisch ist mit „Anomie". „Autonomie" für den Menschen abzulehnen, sah sich Baader veranlaßt, weil er ein genuines Verständnis Kants nicht aufbringen konnte, weil er vor allem dessen Konzeption des Sittengesetzes nicht gesehen hat, dessen Notwendigkeit und Allgemeinheit für Kant fundamental gewesen ist. Kants Interesse war ja nicht, den Menschen als souverän in jeder Hinsicht zu charakterisieren, sondern aufgrund der Kritik der reinen Vernunft auch Ethik als notwendige und allgemeine zu begründen, da nur diese uneingeschränkt verbindlich sein konnte, ohne die Freiheit des Menschen zu eliminieren. Diese Differenzierung vermochte Baader nicht zu sehen. Entsprechend hat er auch Kants Aussagen über die „Autonomie des Willens" mißverstanden. Für Baaders eigene Konzeption spielt die Verwendung von bzw. die Auseinandersetzung mit der Konzeption von „Autonomie" keine besondere oder gar zentrale Rolle; er hat diesen Terminus keineswegs für sein eigenes Philosophieren rezipiert. Noch viel weniger ist von „Heteronomie" die Rede, ein Zeichen dafür, daß Kant mit dieser Antithese auch bei Baader kaum wirksam geworden ist.
4.3 Zusammenfassende
Darstellung im 19.
der
Rezeptionsgeschichte
Jahrhundert
Die zuvor dargelegten Nachwirkungen und Auseinandersetzungen, die Kants Antithese „Autonomie - Heteronomie" bewirkt hat, lassen sich so zusammenfassen, daß überraschenderweise niemand sich die Mühe gemacht hat, präzise auf den Sprachgebrauch Kants einzugehen. Sonst könnte nicht so rasch und selbstverständlich von verschiedenen Seiten eine „absolute Autonomie" angenommen worden sein. Ebensowenig hätte eine „Autonomie" von Gott ausgesagt werden können, wie dies bei Franz von Baader geschieht. Sodann aber läßt sich über eine solch wenig präzise Aufnahme Kants hinaus feststellen, daß sich kein Autor die Antithese Kants in dem Sinn zu eigen gemacht hat, daß sie für die eigene Philoso34
F. von Baader, Ueber Religions- und religiöse Philosophie, I 327.
Zusammenfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte
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phie eine genuine Bedeutung erlangt hat. Dieses Ergebnis soll nun durch die Skizzierung der Rezeptionsgeschichte nachgeprüft bzw. ergänzt werden. Eine frühe und erstaunlich genaue Formulierung findet sich bei Johann Georg Hamann (1730-1788). Sie bringt zum Ausdruck, daß der Mei>sch „Kraft der Autonomie reiner Vernunft, oder ihres guten Willens vielmehr" „sein nächster Gesetzgeber und natürlicher Richter" sei1. Die Genauigkeit Hamanns kommt darin zum Ausdruck, daß er gleichsam eine Selbstkorrektur vornimmt, indem er die „Autonomie" präzisierend weniger der reinen Vernunft als vielmehr ihrem guten Willen zuspricht 2 . Diese Verwendung von „Autonomie" bleibt freilich für Hamann selbst peripher; trotz umfangreicher Nachforschungen ließ sich dieser Terminus sonst ebensowenig finden wie „Heteronomie". Die Suche nach „Autonomie" oder der ausgeführten Antithese blieb erfolglos bei Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) 3 , Johann Gottfried Herder (1744-1803) 4 und Wilhelm von Humboldt (1767-1835) 5 . Nur beiläufige Belege fanden sich bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1832) 6 . Lediglich Friedrich von Schiller (1759-1805) hat in seinen Kallias-Briefen eine nachhaltige Rezeption der Antithese vorgenommen, um mit ihr die innere Bestimmung durch die Form von jeder äußeren Bestimmung zu unterscheiden 7 . Ausführlicher fällt der Befund aus bei Wilhelm Traugott Krug (1770-1842). Dies kann deswegen nicht verwundern, weil Krug sich als 1 Johann Georg Hamann, Fliegender Brief an Niemand den Kundbaren (1786), in: Hamann's Schriften, hg. von Friedrich Roth, VII, Leipzig 1825, 85, ebenso in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Josef Nadler, III, Wien 1951, 360 f. 2 Ob der Genitiv „ihres guten Willens" zu „Autonomie" oder „reiner Vernunft" gehört, läßt sich nicht sicher entscheiden. Nicht nur wegen der Abhängigkeit von Kant dürfte letzteres der Fall sein, so daß Hamann präzise statt von „Autonomie reiner Vernunft" von „Autonomie ihres guten Willens" spricht. 5 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Leipzig 1 8 1 2 f r e p r o g r . Neudruck Darmstadt 1968; neben einer Durchsicht der Bände wurde speziell untersucht 3, 1-57. 4 Johann Gottfried Herder, Werke in zwei Bänden, München 1955,1, 733-830, II passim; außerdem erfolgte eine Durchsicht der gesammelten Werke, hj». von Bernhard Suphan, Berlin 1877 ff; die Suche nach „Autonomie" blieb ergebnislos. s Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1960-1981. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Logik für die Mittelklasse, § 1 (1810/11), in: ders., Werke in zwanzig Bänden ( = Theorie-Ausgabe), IV, Frankfurt 1970, 162; ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 123 (1821), in: ebd. VII, 231; ders., System der Philosophie, III. Die Philosophie des Geistes (1830), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Hermann Glockner, X, Stuttgart 1958, 425. 7 Friedrich von Schiller, Kallias oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner (1793), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und G. Göpfert, V, München 7 1984, 394-433; vgl. auch einen sporadischen Beleg: ders., Vom Erhabenen, in: ders., Werke, hg. von Benno von Wiese, XX, Weimar 1963, 171 ff.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Nachfolger Kants (seit 1801) nachhaltig auf dessen Philosophie gestützt und sie weiterzuführen gesucht hat. Zwar erhält der Terminus „Autonomie" für ihn selbst kein solches Gewicht, daß er ihn in sein philosophisches Handwörterbuch aufgenommen hätte 8 . Doch in seiner eingehenden Anknüpfung an die kritische Philosophie Kants spricht er von „Autonomie", und zwar bei der Frage, ob nach den Grundsätzen kritischer Philosophie der Mensch „ein guter Bürger, und ein guter Christ seyn könne" 9 . Hinsichtlich ersterer Frage geht es Krug um die „Autonomie" des Bürgers im Staat, in dem er weder sich die Gesetze gibt noch richterliche Funktion ausübt. Nach der kritischen Philosophie jedoch heißt „Autonomie" für Krug „Gesetzgebung der Vernunft, wieferne sie bloß die Form des Wollens betrifft", „Heteronomie" dagegen, „wieferne die Gesetzgebung der Vernunft von den Objekten des Wollens abhängig ist"10. Infolgedessen nennt Krug die ,formale Sittenlehre eine autonomische, die materiale aber eine heteronomische". Daß „Autonomie" dem Bürger eigen bleibt, formuliert Krug mit dem Imperativ: „Sey ein gehorsamer Unterthan" 11 .
Solange die Gesetze des Staates aus Achtung vor dem Vernunftgesetz, nicht aber aus Angst vor Strafe anerkannt und befolgt werden, liegt keine Heteronomie vor 12 . Diese Aussage dürfte jedoch einen Widerspruch ergeben zu der vorausgegangenen von „formaler" und „materialer" Sittenlehre. Aufschlußreich bleibt jedoch, wie unbefangen hier „Autonomie" und „Heteronomie" aufgenommen werden. Mit seinen Formulierungen sucht Krug offensichtlich Kant und zugleich den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht zu werden. Daß er gleichwohl an Kant vorbeiargumentiert, dürften diese Überlegungen hinlänglich zeigen. Im weiteren hat Krug „Autonomie" in seiner „Fundamentalphilosophie" 13 und in seiner „Practischen Philosophie" 14 verwandt. In ersterer führt er die Antithese weiter zu jener neuen Entgegensetzung „Autotelie 8 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der Philosophischen Wissenschaft nebst ihrer Literatur und Geschichte, Leipzig 2 1832-1838, reprogr. Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1969. ' Wilhelm Traugott Krug, Über das Verhältnis der kritischen Philosophie zur moralischen, politischen und religiösen Kultur der Menschen; zur Beantwortung der Frage: Ob man nach den Grundsätzen jener Philosophie ein guter Mensch, ein guter Bürger, und ein guter Christ seyn könne? Jena 1798, 98-103. 10 Ebd. 99. 11 Ebd. 102; der Regent soll sich entsprechend das Gesetz geben: „Sey ein gerechter Re-
. «
gent. 12
Ebd. 103. - Zur Möglichkeit, ein guter Christ zu sein, vgl. 225 f; sie begründet Krug mit einem langen Zitat aus Kants „Kritik der praktischen Vernunft", 229-232. 13 Wilhelm Traugott Krug, Fundamentalphilosophie, Wien 1818, 200 f. 14 Wilhelm Traugott Krug, System der practischen Philosophie, Wien 1818, I, 11-14, II 16.
Zusammenfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte
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Heterotelie", und dies im Zusammenhang mit Überlegungen zum Thema „Freiheit". Auf letzterer beruht die Würde des Menschen. Zu vermerken bleibt, daß Krug durchweg von einer „Autonomie der Vernunft" spricht 15 . Aufgenommen hat das Thema „Autonomie des Willens" Jakob Friedrich Fries (1773-1843) 16 . Er will Kant weiterführen, nivelliert aber dessen Differenzierung der „Autonomie", wenn er eine dreifache unterscheidet, nämlich die „Autonomie des Antriebes und Autonomie der Wahl" und schließlich die „wahre Autonomie der Willkühr oder des verständigen Entschlusses im Gegensatz zu einem nur sinnlichen Entschluß". Indem Fries sinnliche Gegebenheiten als Antrieb zuläßt und diese „Autonomie" zugleich mit der der Wahl und des Willens „alle drey nothwendige Eigenschaften der handelnden Vernunft" sein läßt, verkehrt er Kants Intention. Diese richtete sich nämlich darauf, in der „Autonomie" gerade sinnliche Antriebe auszuschließen, führten diese doch zwangsläufig zur „Heterono*
«
mie . Anläßlich einer Überlegung zur Freiheit als einer inneren setzt sich Johann Friedrich Herbart (1776-1841) von Kants Verständnis der „Autonomie" ab. Denn er kann sich nicht mit dessen Bestimmung dieses Begriffs als „freyen Willen ohne Bestimmungsgründe durch irgendwelche Objecte" einverstanden erklären 17 . Er schließt vielmehr die Frage an, ob „die kantischen Worte Autonomie und Heteronomie" hier helfen. Für Herbart stellt es ein Zeichen einer Geisteszerrüttung dar, wenn „der Mensch in seinen Handlungen und Urtheilen nicht also determiniert wird, wie der Mensch bey gesundem Verstände". Nach Herbart fällt also gerade derjenige, dessen Handlungen frei sind, „der kantischen Heteronomie anheim", weil er „in den Objecten die Bestimmungsgründe seines Thuns" findet. Weder Kants Konzeption der „Autonomie" als „allgemeine Gesetzlichkeit", die „durch ihre bloße Form den Willen bestimmt", noch Piatons δικαιοσύνη, d. h. aber, die „Kenntnis aller praktischen Ideen" stellt Herbart in Frage. Überblickt man die Konzeption Herbarts der „moralischen innern Freyheit", so zeigt sich, daß sie einen grundlegenden Gegensatz zu derjenigen Kants darstellt. 1S Die Suche in Wilhelm Traugott Krug, Der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in der Versöhnungslehre. Mit einer Beylage enthaltend einen Entwurf zu einer philosophischen Theorie des Glaubens, Züllichau und Freistadt 1802; ders., Briefe über den neuesten Schulismus, Leipzig 1801; ders., Entwurf eines neuen Organons der Philosophie, Meissen und Lübben, 1801, blieb erfolglos. " Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft (kaum veränderte Fassung des Textes von 1807), Heidelberg 1831, reprogr. Neudruck Aalen 1967,58-60. 17 Johann Friedrich Herbart, Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. Briefe an Herrn Professor Griepenkerl (Göttingen 1836), in: ders., Sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge, hg. von Karl Kehrbach, X 245. - Die Position Herbarts ist insofern bemerkenswert, als er nach Krug den Lehrstuhl Kants in Königsberg übernahm (1809).
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In seiner „Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fundaments" wendet sich Arthur Schopenhauer (1788-1860) auch der „Autonomie des Willens" zu 18 und kritisiert, daß es Kant um ein „Wollen ohne Motiv, also eine Wirkung ohne Ursache" geht. Nach Meinung Schopenhauers feiert Kant „den Triumph seiner Autonomie des Willens, in der Aufstellung eines moralischen Utopiens, unter dem Namen eines Reiches der Zwecke, welches bevölkert ist von lauter vernünftigen Wesen in abstracto, die sammt und sonders beständig wollen, ohne irgend etwas zu wollen (d.i. ohne Interesse): nur dieses Eine wollen sie: daß Alle stets nach einer Maxime wollen (d.i. Autonomie)". Wie sehr Schopenhauer Kants Konzeption nicht nur ablehnt, sondern abschätzig behandelt, zeigt die nachfolgende Kommentierung: „Difficile est, satiram non scribere." Kantreferat bzw. - Reminiszenz bleibt die Verwendung von „Autonomie" auch bei Heinrich Friedrich Wilhelm Hinrichs (1794-1861). Korrekt heißt es bei ihm meist „Autonomie des Willens" 19 , ungenauer und deutlich seltener „Autonomie der Freiheit" 20 und in den letzten Vorlesungen „Autonomie des Geistes" 21 . Als Korrektur und Weiterführung Kants erscheint nach Hinrichs „Autonomie" bei Fichte 22 . Bei diesem hält Hinrichs sie für besonders wichtig, weil die „philosophische Autonomie der Freiheit... von Fichte zur allgemeinen Volksempfindung, im Befreiungskriege zur allgemeinen Volkserhebung und dann zur allgemeinen Bildung der Zeit wurde" 23 . Insbesondere ist diese „Autonomie des Geistes" wirksam geworden in jenen freien Gruppierungen, die nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon entstanden sind und Freiheit von kirchlicher Bindung erstrebten 24 . Besonders aufschlußreich ist an dieser Verwendung von Hinrichs, daß „Autonomie" als ein philosophischer Begriff gewertet wird, der durch den praktischen Bezug der Philosophie Fichtes zu einem politischen Begriff geworden ist. Damit kehrt er, ohne daß seine Geschichte noch bekannt wäre, in seinen ursprünglichen Bereich zurück, nun aber nicht mehr in ei-
18 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, nicht gekrönt von der königlich-dänischen Societät der Wissenschaften (1840), in: Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstätt, IV, Leipzig 2 1888, 165. 19 In: Hinrichs' Politische Vorlesungen. Unser Zeitalter, und wie es geworden, nach seinen politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Zuständen, mit besonderem Bezüge auf Deutschland und namentlich Preußen, Halle 1843, I 217, 219, 222, 231, 237, 259. 20 Ebd. 212, 222, II 16, 289, 320. 21 Ebd. 290 ff, 316, 320. 22 Ebd. 1219, 231, bes. 237. 25 Ebd. II 16. 24 Ebd. 289 ff.
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nem präzisen Sinne, wie er sich gleichzeitig im rechtlichen Bereich gehalten hat. Aufschlußreich ist darüber hinaus, daß Hinrichs die „Autonomie des Geistes", die auch religiös verstanden werden kann, als das „Princip der Neuzeit" 25 bezeichnet. Wenn sich dieser Terminus auch faktisch noch nicht in diesem Verständnis durchgesetzt hat - dafür ist seine Verwendung viel zu selten - , so findet sich doch bereits hier eine solche universale und zugleich fundamentale Charakterisierung, die später dann tatsächlich gängig geworden ist. Ergänzende Nachforschungen zu den soeben vorgestellten Autoren haben ergeben, daß sich auch bei anderen während der ersten Hälfte des 19.Jh. nirgends ein verbreiteterer Gebrauch von „Autonomie" und „Heteronomie" hat nachweisen lassen, sofern sie überhaupt zu finden waren. Dies kann eher verwundern bei Autoren, die ursprünglich von Kant ausgingen, wie dies für Karl Friedrich Stäudlin (1761-1826) zutrifft 26 . Verständlicher erscheint der Befund dagegen schon bei Karl Friedrich Adolf Trendelenburg (1802-1872) 27 . Kaum noch überraschen kann daher, daß die Antithese bei jenen Philosophen belanglos bleibt oder gar nicht nachweisbar ist, die am meisten von Hegel beeinflußt sind. Beispielhaft für sie kann die ausführliche Philosophiegeschichte von Carl Ludwig Michelet (1801-1893) stehen. In ihr finden sich die Termini durchweg in ausdrücklicher Nennung Kants 28 : Nicht nachweisbar waren sie in den eingesehenen Texten von Karl Friedrich Göschel (1781-1861) 29 , Friedrich Wilhelm Carové (1789-1852) 30 oder Christian Hermann Weiße (1801-1866); bei letzterem, der sich später Kant zugewandt und eine programmatische Rede über ihn gehalten hat, hätte sie 25 Ebd. 291. - Die weitere Arbeit von Hinrichs, Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft, Heidelberg 1822, ergab keinen Befund. 26 Karl Friedrich Stäudlin, Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre überhaupt, und der verschiedenen Glaubenslehren und Kirchen insbesondere, Lübeck 1797; ders., Grundriß der Tugend- und Religionslehre, Göttingen 1798. 27 Karl Friedrich Adolf Trendelenburg, Uber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme (1847), neu hg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1949; ders., Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860. 28 Karl Ludwig Michelet, Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland, I, Berlin 1837, reprogr. Neudruck Hildesheim 1967, 134-136; vgl. ders., Naturrecht oder Rechtsphilosophie als die praktische Philosophie enthaltende Rechts- Sitten- und Gesellschaftslehre, I, Berlin 1866, 92, vgl. 134. " Carl Friedrich Göschel, Der Monismus des Gedankens, Naumburg 1852; ders., Beiträge zur spekulativen Philosophie von Gott und den Menschen und von dem Gott-Menschen. Mit Rücksicht auf D.F.Strauss Christologie, Berlin 1838; ders., Über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Berlin 1835. 30 Friedrich Wilhelm Carové, Über das Recht, die Weise und die wichtigsten Gegenstände der öffentlichen Beurtheilung, mit später Beziehung auf die neueste Zeit, Trier 1825; ders., Der Saint-Simonismus und die neuere französische Philosophie, Leipzig 1831.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
in diesem Kontext aufgenommen sein können 31 . Immerhin spricht Soren Kierkegaard (1813-1855) gelegentlich von „Autonomie" 32 . Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob nicht im Linkshegelianismus eine Wurzel für eine konstruktive Aufnahme von „Autonomie" liegt. Nachforschungen bei Arnold Ruge (1802-1880) 33 , Ludwig Feuerbach (1804-1872) 34 , Max Stirner (1806-1856) 35 , Bruno Bauer 36 (1809-1882) und schließlich bei Karl Marx (18 1 8-18 8 3)37 lassen diese 31 Christian Hermann Weiße, In welchem Sinn die deutsche Philosophie jetzt wieder an Kant sich zu orientieren hat, Leipzig 1847; vgl. auch ders., Das philosophische Problem der Gegenwart. Sein Schreiben an J. H . Fichte, Leipzig 1842. Auch eine Durchsicht von Georg Andreas Gabler, Die Hegel'sche Philosophie. Beiträge zu ihrer richtigen Beurteilung und Würdigung, Berlin 1843, brachte kein Ergebnis. 32 Seren Kierkegaard, Papirer, X (1849-1853), Kopenhagen 1926, 218; XIII (1831-1838/39), Gyldendal 1970, 91 f. 33 Arnold Ruge, Die Demokratie, Leipzig 1850; ders., Die Religion unserer Zeit, in: Die Akademie. Philosophisches Taschenbuch, hg. von A. Ruge, Leipzig 1848; hier findet sich, 80, folgender Beleg: „Der autonome Prozeß, in dem das allgemeine Weltwesen (Natur und Mensch) sich selbst hervorbringt, ist nur die unbewußte, nicht die selbstbewußte Selbstproduktion." 34 In den zentralen Schriften Feuerbachs hat sich kein Beleg nachweisen lassen, vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Werner Schuffenhauer, V, Berlin 1973; ders., Vorlesungen über das Wesen der Religion (1851), in: ebd. VI; ders., Théogonie (1857), in: ebd. VII. „Autonomie der Vernunft" bzw. „Autonomie und Autarkie des Staates" läßt sich dagegen nachweisen, vgl. ders., Geschichte der neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza (1833), in: ebd. II, 19 bzw. 27. Überdies läßt sich die Terminologie nachweisen in ethischen Schriften, vgl. ders., Ueber Spiritualismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit (1863-1866), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, X, 91 ff., 113 mit Verweis auf Kant und 288 unabhängig von Kant. 35 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften, hg. von Hans G. Helms, München 3 1970: Die Freien, 24, 26, 28; in der grundlegenden Schrift von Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, war dagegen kein Beleg nachweisbar. „Autonomie des Geistes", wie es bei ihm ständig heißt, ließ sich dagegen nachweisen in: Max Stirner's kleinere Schriften und seine Entgegnungen auf die Kritik seines Werkes „Der Einzige und sein Eigentum" aus den Jahren 1842-1848, hg. von John Henry Mackay, Berlin 2 1914: Zeitungskorrespondenzen 1842, in diesem Bande 130, 132 ff. Weitere Belege ergaben sich hier nicht. Vgl. schließlich Max Stirner, Geschichte der Reaction, Berlin 1852, reprogr. Neudruck Aalen 1967, 133. 36 Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, hg. von Hans-Martin Saß ( = Theorie 1), Frankfurt 1968; ders., Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen, Leipzig 1841, reprogr. Neudruck Aalen 1969; ders., Hegels Lehre von der Religion und Kunst von dem Standpunkt des Glaubens aus beurteilt, Leipzig 1842, reprogr. Neudruck Aalen 1967; ders., Christus und die Caesaren. Der Ursprung des Christenthums aus dem römischen Griechenthum, Berlin 1877, reprogr. Neudruck Hildesheim 1968. 37 Im Register bzw. in den Fremdwörtererklärungen der Ausgabe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, fand sich ein Hinweis nur für die Bände I, III, XVIII, Berlin 1969 ff. Als Beleg sei hier notiert Karl Marx, Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion (1842), in: ebd. I, 13, mit einem Hinweis darauf, daß die Moral auf der „Autonomie", die Religion auf der „Heteronomie des menschlichen Geistes" beruht, und dies im Zusammenhang
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Frage mit einem grundsätzlichen Nein beantworten. Die seltenen Belege, die sich bei diesen Autoren nachweisen ließen, können diese Antwort nicht einschränken. Somit bleibt als Ergebnis: Nur unter unmittelbarem Einfluß Kants findet sich „Autonomie" und, deutlich weniger, auch „Heteronomie". Bei wachsendem Abstand von Kant sind beide Termini eher noch seltener geworden, so daß keine Rede davon sein kann, daß über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus „Autonomie" bereits als „Princip der Neuzeit" auch tatsächlich angesehen worden ist. Bestätigen läßt sich dieses Ergebnis durch Untersuchungen zu evangelischen Ethiken. Johann Heinrich Tieftrunk (1759-1837), der sich intensiv an Kant anschloß, kennt zwar den Terminus „Autonomie" 38 , doch gewinnt er bei ihm keine Bedeutung 39 . Dasselbe bestätigt die Ethikvorlesung von Carl Daub (1765-1836), einem anfänglichen Kantianer. Er bezieht sich zwar immer wieder auf Kant gerade anläßlich seiner Erörterungen über die formellen Prinzipien der Moral, doch sucht man bei ihm lange, ehe man auf die Antithese stößt 40 . Mit Kant verbunden bleibt die Antithese in der Ethik von Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1776-1837) 41 . Bei Philipp Conrad Marheineke (1780-1846) erscheint „Autonomie" dagegen nicht unmittelbar in Auseinandersetzungen mit Kant42. In eigenen Darlegungen wählt Marheineke eher den Terminus „Selbstbestimmung"43. Nur nebenbei findet sich eine Aussage über „das Autonomische" im Zusammenhang mit dem göttlichen Gesetz und Willen, die ebenso vom Vater wie mit Ausführungen über Kant und Fichte. Vgl. auch Karl Marx, Deutsche Ideologie, in: ebd. 9 f. 237. 38 Johann Heinrich Tieftrunk, Philosophische Untersuchungen über das Privat und öffentliche Recht zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von Herrn Prof. Imm.Kant, I, Halle 1797, reprogr. Neudruck Brüssel 1969, 67. 39 So fehlt der Terminus im Register, vgl. ebd. II, Halle 1798. Auch in den Unterscheidungen zur Einführung, I 33-48, spielt er keine Rolle; vgl. jedoch II 226, wo freilich ausdrücklich „Autonomie" und die Annahme Gottes miteinander nicht widerstreiten, vgl. 230. Vgl. ferner ders., Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre von Herrn Prof. Imm. Kant, Halle 1798, reprogr. Neudruck Brüssel 1970, 19, 45. 40 Carl Daub, Vorlesungen über die Prolegomena zur theologischen Moral und über die Principien der Ethik, hg. von Marheineke und Dittenberger, Berlin 1839, vgl. bes. den Abschnitt über die formellen Prinzipien, 456-496; zu den gesuchten Termini vgl. etwa 490. 41 Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Evangelisch-christliche Ethik. Handbuch für Theologen und andere gebildete Christen, I: Die Sittenlehre des evangelischen Christenthums als Wissenschaft, Heidelberg M830, 128 u. bes. 186. 42 Philipp Marheineke's theologische Vorlesungen, hg. von Stephan Matthies und Wilhelm Vatke, I, Berlin 1847, 71, 87f, 118, 214ff, 281 f u.ö. Nicht belegen ließ sich der Terminus dagegen bei Philipp Marheineke, Einleitung in die öffentliche Vorlesung über die Bedeutung der Hegeischen Philosophie in der christlichen Theologie. Nebst einem Seperatvotum über B. Bauers Kritik der evangelischen Geschichte, Berlin 1842. 43 Ebd. 65 u. bes. 113.
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vom Sohn ausgesagt werden 4 4 , wobei der Sinn dieser Formulierung nicht näher expliziert wird. Im Zusammenhang mit der Pflicht des Menschen erscheint dagegen „Autonomie" als Selbstverpflichtung in Freiheit 45 und damit in einem an Kant angelehnten Sinn. In der ausführlichen Grundlegung über Gesetz und Freiheit bleibt „Autonomie" dagegen ausgespart 4 6 . Richard Rothe (1799-1867) läßt den Terminus „Autonomie" außer acht: Obwohl er ihn sicher aufgrund der f ü r jeden Ethiker und Moraltheologen obligaten Kantlektüre gekannt hat 47 , nimmt er ihn in den grundlegenden Überlegungen über Pflicht und Sittengesetz bzw. christliches Sittengesetz nicht auf 4 8 , und zwar auch dort nicht, wo er von „Selbstbestimmung" und in einem Zitat von Nitzsch von „Selbstgesetzgebung" spricht 49 . D a ß Johann T o b i a s Beck (1804-1878) „Autonomie" nicht zu einem zentralen Begriff wählen würde, erscheint von seinem Ansatz her zwingend. Denn er hat mit besonderem Nachdruck eine Ethik entwickelt, die heute als Glaubensethik bzw. teleologische Glaubensethik bezeichnet würde. Entsprechend setzt er sich von Kant ab. In eigenen Darlegungen über die Freiheit beginnt er bei der „Autonomie der Vernunft", doch führt er diese „Autonomie" zur „ T h e o n o m i e " weiter: Zwar hat f ü r ihn „Autonomie" als das den Heiden ins Gesetz geschriebene Gesetz nach R o m 2,14 „biblische Berechtigung" 5 0 , der Mensch ist „mit Bewußtsein sich selbst Gesetz"; jedoch gibt er sich ebensowenig wie die logischen Gesetze die ethischen selbst 5 1 . Vielmehr hat der Mensch das Sittengesetz im Gewissen „durch schöpferische Macht". Diesen Sachverhalt unterstreicht Beck: „Die Autonomie weist so g e r a d e auf eine s c h ö p f e r i s c h b i n d e n d e G e s e t z e s m a c h t , d. h. auf eine Theonomie. I n d e m der M e n s c h mit Selbstbewußtsein sich selbst G e s e t z ist, ist er in seinem Selbstbewußtsein z u n ä c h s t an ein übermenschliches Gesetz gebunden und demselben verantwortlich. ""
Für unseren Zusammenhang braucht nicht die weitere Argumentation verfolgt zu werden, daß nach Beck eine solche „ T h e o n o m i e " die Freiheit des Menschen nicht aufhebt. Aufmerksamkeit verdient vielmehr der Sachverhalt, daß „Theonomie", ein im übrigen auch bei Beck nicht zentraler, Ebd. 90. Ebd. 291 im Anschluß an einen Hinweis auf das den Heiden ins Herz geschriebene Gesetz (Rom 2,14 f). Vgl. 125 die Formulierung „das Autonomische der Freiheit". 46 Vgl. ebd. 63-126, ferner 182-231. 47 Richard Rothe, Theologische Ethik, III 1, Wittenberg 1848, mit Hinweis auf Kant, 32 f, 87 f u.ö., kritisch bes. 95 f. 48 Vgl. den Abschnitt „Der Begriff der Pflicht", ebd. 3-110. 49 Ebd. 4, 89 bzw. 25 Anm. 50 Johannes Tobias Beck, Vorlesungen über Christliche Ethik, hg. von Julius Lindenmeyer, I: Die genetische Anlage des christlichen Lebens, Gütersloh 1882, 208. 51 Ebd. 209. 52 Ebd. 210. 44 45
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wohl aber mehrfach gebrauchter Terminus 53 , die „Autonomie" des Menschen gegenüber Kant eindeutig einschränkt. Letztere wird in Anspruch genommen mit Berufung auf den Römerbrief des Paulus, aber gerade nicht als genuine Auszeichnung des Menschen im Sinn seiner Selbstbestimmung und, was hierüber noch hinausgeht, seiner Selbstgesetzgebung, sondern als Verweis auf die Gesetzgebung Gottes interpretiert. Damit wird eine theologische Rezeption von „Autonomie" noch unwahrscheinlicher, als dies zuvor bereits der Fall war. Die Ethik von Hans Lassen Norbert Martensen (1808-1884) dokumentiert den gleichen Sachverhalt: Auch für sie ist nicht „Autonomie", sondern die „Auctorität" Gottes das Thema 54 . Selbstverständlich wird Kant genannt und kritisiert: „ D i e M a c h t , w e l c h e die m e n s c h l i c h e Freiheit mit u n b e d i n g t e r Auctorität verpflichtet, k a n n selbst nicht i r g e n d w i e b e d i n g t u n d b e g r e n z t sein; sie k a n n k e i n e andere sein, als die E i n e u n b e d i n g t e M a c h t , das ist G o t t . D i e u n b e d i n g t e F o r d e r u n g k a n n ihren U r s p r u n g nur n e h m e n aus d e m u n b e d i n g t Seienden; u n d d i e m e n s c h l i c h e Freiheit ist d a h e r nicht, w i e K a n t meint, a u t o n o m i s c h , s o n d e r n unter G o t t e s Gesetz." 5 5
Martensen unterscheidet daher eine „bloß weltliche oder autonomische Sittlichkeit (morale indépendante)" und „eine religiöse oder theonomische Sittlichkeit, in welcher der Mensch sich in Wahrheit als Gottes Geschöpf erkennt"; so erscheint „das Gesetz seines eigenen Wesens vor allem als Gottes Gesetz" 56 . Von daher kann die Präzisierung nicht mehr überraschen, daß ein n freies Abhängigkeitsverhältnis des Menschen" und d.h. die „Theonomie" eine „ relative Autonomie, eine mitgetheilte Selbständigkeit" nach sich zieht 57 . Hiermit werden die Termini genauer als zuvor geklärt: „Autonomie" kann für den Menschen nur eine „relative" sein, als welche sie die „Theonomie" nicht beeinträchtigt. Nimmt man die Formulierung Ludwig Feuerbachs hinzu, der in einem nachgelassenen Aphorismus von „Theonomie" spricht58, so ergibt sich " Vgl. etwa ebd. 224, 263. 54 Hans Lassen Martensen, Die Christliche Ethik (dänisch 1871-1878, deutsch 1878), Berlin 5 1887, z.B. 456. " Ebd. 447. 56 Ebd. 11. 57 Ebd. 22. se Ludwig Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, X, Stuttgart 1911, 332 f, zit. bei Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, 109: „Wie die Astronomie die subjektive, erscheinende Welt von der objektiven, der wirklichen unterscheidet, so hat Atheistik' in Wahrheit die Theonomie, die sich ebenso von der Theologie unterscheidet, wie die Astronomie von der Astrologie, die Aufgabe, die von der Theologie für ein objektives Wesen gehaltene Gottheit und das subjektive Wesen zu unterscheiden. Die Theonomie ist psychologische Astronomie". Weitere Belege insbesondere zum Terminus „Theonomie" konnten bei Feuerbach bislang nicht gefunden werden.
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zwar keine Klarheit darüber, wann dieser Terminus zuerst gebraucht worden ist. Denn Beck las über die Ethik von 1842 bis zu seinem Tode 187859. Publiziert wurden diese Vorlesungen 1882. Martensens Ethik erschien erstmalig 1878 in deutscher Sprache. Feuerbachs Aphorismus dürfte diesen beiden Autoren unbekannt geblieben sein. Andererseits läßt sich eine Abhängigkeit Feuerbachs von Theologen hinsichtlich des Terminus „Theonomie" kaum annehmen. Treffen diese Annahmen zu, wurde der Terminus „Theonomie" zu einem schwerlich genauer datierbaren Zeitpunkt wohl mehrfach unabhängig voneinander geprägt, und zwar vornehmlich im theologischen Kontext, übergeordnet über die „Autonomie". Publiziert trat er dann um 1880 häufiger in Erscheinung. Zuvor war er freilich auch in der katholischen Tradition schon formuliert worden. Bei Ferdinand Probst (1816-1899) heißt es: „ D a s S i t t e n g e s e t z i s t . . . T h e o n o m i e im G e g e n s a t z v o n A u t o n o m i e . - A u t o n o m i e , in d e m Sinn, d e r M e n s c h sei sich selbst G e s e t z g e b e r u n d sein E i g e n w i l l e die h ö c h ste u n d e i n z i g e N o r m seiner T ä t i g k e i t , ist darum das Princip der g o t t l o s e n Sittlichkeit." 6 0
Freilich bleibt festzuhalten: „Theonomie" hat ebensowenig wie „Autonomie" in dieser frühen Zeit eine grundlegende Bedeutung und größere Verbreitung erlangt, beide Termini blieben beschränkt auf gelegentlichen Gebrauch. Dieses Ergebnis wird durch Alexander von Oettingen (1827-1906) bestätigt. Bei ihm findet sich gleichfalls eine Distanzierung von einer „Autonomie" bzw. einer „absoluten Autonomie" des Menschen sowie von jeglicher „Heteronomie" 61 . Die Antithese wird - ohne Bezug auf Kant - präzisiert als der „rein supranaturale Standpunkt der Heteronomie" und der „ rationalistische Standpunkt der Autonomie", so daß der „heteronome Supranaturalismus" und der „autonome Rationalismus" sich gegenüberste-
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Vgl. das Vorwort von Julius Lindenmeyer der o. zit. Ausgabe von J.T.Beck, aaO. VI. Ferdinand Probst, Katholische Moraltheologie, I , Tübingen 1848, 23 f, zit. nach Konrad Hilpert, Die theologische Ethik und der Autonomie-Anspruch, in: Münchener Theologische Zeitschrift 28 (1977) 329-366, 334. Bei Abschluß des Manuskripts habe ich den Hinweis erhalten, daß Dr. Friedrich W. Graf, Ev.-theologische Fakultät der Universität München, in seiner Habilitationsschrift als frühesten Beleg für „Theonomie" eine Stelle bei Wilhelm Traugott Krug nachgewiesen hat. Damit tritt der Terminus bereits in der ersten Hälfte des 19.Jh. mehrfach auf. Doch läßt er sich häufiger erst nach 1870 in Publikationen nachweisen. Überdies ist wenig wahrscheinlich, daß alle späteren Autoren den Terminus bei Krug gefunden haben. Es läßt sich nicht ausschließen, daß er gleichzeitig von mehreren gebildet worden ist. 61 Alexander von Oettingen, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, II: Die christliche Sittenlehre. Deductive Entwicklung der Gesetze christlichen Heilslebens im Organismus der Menschheit, Erlangen 1873, 420 bzw. 439, 438. 60
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hen 62 . Den Ausweg bietet die „Theonomie", die das Gewissen in einer „kategorischen, unbedingten Form" bindet 63 . Weil sie aber das Gewissen des Menschen, genauer, des natürlichen Menschen bestimmt, ist sie keine (supranaturalistische) „Heteronomie", sondern das göttliche, dem natürlichen Menschen ins Herz geschriebene Gesetz, so daß „in der natürlichen Sittengesetzgebung der göttliche oder theonotnische Hintergrund anerkannt" werden muß 64 . In einer präzisierenden Formulierung charakterisiert von Oettingen die „Theonomie" als „unverwischbare (positive) Kundgebung göttlicher Heiligkeit gegenüber dem natürlichen Menschen" 65 . Weiterführend spricht von Oettingen dann hinsichtlich des neuen Gebotes gegenüber „knechtischer Hyponomie" und „unkindlicher Autonomie" von der christlichen Idee „der kindlich-freien Ennomie", eben jenes ins Herz geschriebenen Gesetzes 66 . Von seiten der Theologie bleibt somit die Feststellung, daß die „Theonomie" rezipiert wurde, bevor sich „Autonomie" in einem positiven Verständnis durchsetzen konnte. Besonders instruktiv hierfür sind Darlegungen von Ludwig Lemme (1847-1927). Für ihn „erweist sich die Autonomie des sittlichen Bewußtseins näher als Theonomie", „die Autonomie schließt also die Theonomie nicht aus, fordert sie vielmehr zu ihrer notwendigen und unerläßlichen Ergänzung" 67 . Die „autonome Moral (morale indépendante)" erscheint ihm keinesfalls im Theismus und nicht einmal im Pantheismus, sondern nur im Atheismus oder, wenn auch nur sehr eingeschränkt, im Deismus möglich 68 . Er kann in historischer Perspektive von der „religionslosen oder autonomen Moral" sprechen 69 . Kritisch stellt Lemme fest: „Immerhin übt das S c h l a g w o r t der a u t o n o m e n M o r a l n o c h die b e r a u s c h e n d e W i r k u n g d e s .Modernen'" 7 0 .
62
Ebd. 476 f. vgl. 479, w o von Oettingen einen „heteronomen Rigorismus" und einen „autonomen Liberalismus" gegenüberstellt. " Ebd. 440, zur „Theonomie" bes. noch 477, vgl. 481. M Ebd. 443. 65 Ebd. 473, vgl. 481 den Hinweis auf die „specifische Differenz zwischen dem auf Theonomie ruhenden und dem autonom sich gestaltenden Sittengesetz". " Ebd. 562 f. 67 Ludwig Lemme, Christliche Ethik, Lichterfelde-Berlin 1905, I, 159; in einer anschließenden Klammer nennt Lemme die Autoren Daub, Eschenmayer, Trendelenburg, Schliephake, Ahrens, Lamers, die seine Argumentation stützen. " Ebd. 160 mit nachfolgendem historischen Exkurs, in dem Lemme Kant grundsätzlich dem Deismus zurechnet, verbunden mit der Feststellung, daß dieser die „Theonomie" als „Heteronomie" verwirft! Daß Kant ersteren Terminus nicht gebraucht, vermerkt Lemme nicht. " Ebd. 162. 70 Ebd. 163.
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Im Rückblick läßt sich somit bestätigen: „Autonomie" erscheint lange für eine theologische Ethik nicht rezipierbar. Statt dessen wurde zwischen 1870 und 1880, wie die bisherigen Befunde besagen, der Terminus „Theonomie" an verschiedenen Stellen fast gleichzeitig gewählt, um jenes Anliegen zu formulieren, das eine theologische Ethik gegen die Philosophie bzw. gegen den Atheismus verteidigt, ohne deswegen dem Menschen seine Freiheit absprechen zu wollen 71 . Es trifft nicht zu, daß Otto Pfleiderer (1839-1908) den Terminus „Theonomie" geprägt hat 72 , sondern lediglich, daß eben auch er diesen Terminus aufgenommen hat; aufschlußreich bleibt, daß er einen Ausgleich zwischen Autonomie und Theonomie versucht hat: „Theonomie ohne Autonomie wird zu einem die freie Persönlichkeit vernichtenden theokratischen Absolutismus" 73 .
Diese kurzen Hinweise zur Rezeption der Antithese in der evangelischen Ethik ergeben, daß überwiegend gegenüber „Autonomie" und „Heteronomie" zu einer „Theonomie" Zuflucht gesucht wird. Vor allem bei von Oettingen läßt sich dieser Sprachgebrauch nachweisen; er hat in verschiedenen auch adjektivischen Präzisierungen die antithetischen Termini zurückgewiesen zugunsten der „Theonomie", die als göttlich und dennoch dem Menschen natürlich qualifiziert wird. Nur zögernd wird der Versuch unternommen, „Autonomie" als konstitutiv für die „Theonomie" miteinzubeziehen. Dieser entfaltete Sprachgebrauch ist des längeren nicht Allgemeingut geworden: Dies kann nicht überraschen bei dem seinerzeitigen Führer der
71 In der Folge verbreitete sich der Terminus „Theonomie" rasch, vgl. z.B. Christoph Ernst Luthardt (1823-1902), Kompendium der theologischen Ethik, Leipzig 18%, 9, vgl. sachlich 71; Hermann Cohen (1842-1918), System der Philosophie, I: Ethik des reinen Willens (1904), Berlin 2 1907, 334; Paul Natorp (1854-1924), Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, Tübingen 2 1908; Ludwig Ihmels (1858-1933), Theonomie und Autonomie im Licht der christlichen Ethik (1902), Leipzig 1903; Christoph Schrempf (1860-1944), Die christliche Weltanschauung und Kants sittlicher Glaube, in: ders., Gesammelte Werke V, Stuttgart 1931, 41 ff; Rudolf Otto (1869-1937), Autonomie der Werte und Theonomie (1940), in: ders., Aufsätze zur Ethik, hg. von Jack Stewart Boozer, München 1981, 215-226. Schon diese Autoren zeigen, daß sich „Theonomie" ebenso im Neukantianismus wie darüber hinaus als Terminus findet. Als späte Thematisierung vgl. Heinrich Barth (1890-1965), Autonomie, Theonomie und Existenz, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 2 (1958) 321-334. 72 Emil Walter Mayer, Ethik. Christliche Sittenlehre ( = Sammlung Töpelmann 1, 4), Gießen 1922, 189 mit Verweis auf Otto Pfleiderer, Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, 1888, 232. 73 Otto Pfleiderer, Grundriss der christlichen Sittenlehre als Compendium für Studirende und als Leitfaden für den Unterricht an höheren Schulen, Berlin Ί 8 9 8 , 243, zu „Autonomie" und „Heteronomie" 231.
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Erlanger Schule, Franz Hermann Reinhold Frank (1827-1894) 74 , vielleicht aber doch bei den viel späteren Ethikern Theodor Haering (1848-1928) 75 oder Adolf Schlatter (1852-1938) 76 . Denn inzwischen hatten „Autonomie" und, wenn auch längst nicht im gleichen Maße, „Heteronomie" eine über den bisherigen Rahmen weit hinausgehende Rezeption erfahren. Diese Aufnahme erfolgte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts allerdings zögernd. Instruktiv läßt sich dieser Sachverhalt an Kuno Fischer (1824-1907) demonstrieren. Er hat zweifellos für die Aufnahme der Antithese eine nicht geringe Bedeutung erlangt wegen seiner generellen Förderung der Philosophie Kants. In seinen Darlegungen über dessen Moralphilosophie formuliert Fischer einen Abschnitt über das Sittengesetz und interpretiert dieses als „Autonomie des Willens"; hier wird die Antithese insgesamt rezipiert; „Heteronomie" wird herausgestellt „als Standpunkt der dogmatischen Sittenlehre"77. Fischer referiert auch den Gebrauch von „Autonomie" in Kants Aussagen über den Staat78 sowie über die philosophische Fakultät79, der ja „Autonomie" zukommt, obwohl sie keine der oberen Fakultäten ist. Auffällig ist jedoch, daß Fischer in den anderen Bänden seiner Philosophiegeschichte die Antithese nur äußerst selten verwendet 80 . „Autonomie" bzw. „autonom" wird zwar häufiger gebraucht81, aber auffällig ist doch, daß auch dieser Terminus vornehmlich auf die Autoren zurückgeht, denen Fischer sich zuwendet. So läßt sich dieser Terminus verschiedentlich in 74 Vgl. dazu die periphere Bemerkung bei Franz Hermann Reinhold Frank, System der christlichen Sittlichkeit, Erlangen 1884, 1 134: „die schlechte Autonomie schlägt überall um in Heteronomie, und Beides miteinander konstituirt überhaupt die Sünde." " Theodor Häring, Das christliche Leben. Ethik, Calw 3 1914, wo im Register unter „Autonomie" auf „Freiheit" verwiesen wird. " Adolf Schlatter, Die Christliche Ethik, Calw 1914, vgl. etwa 23, 26. 77 Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, IV: Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie, II: Das Lehrgebäude der kritischen Philosophie. Das System der reinen Vernunft, Mannheim 1860, 116-124, vgl. 125, 154. 78 Ebd. 210. 79 Ebd. 518. 80 Vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, I: Das classische Zeitalter der dogmatischen Philosophie, Mannheim 1854, 43, 45. 81 Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, II: Das Zeitalter der deutschen Aufklärung: Uebergang der dogmatischen zur kritischen Philosophie. G.W.Leibnitz und seine Schule, Mannheim 1855, 469, hier in der deutschen Ubersetzung eines Zitats von Leibniz; Fischer bringt als wörtliches Zitat von Leibniz, „daß die kritischen Köpfe nicht begreifen können wie die Seele, wenn sie eine erschaffene Substanz ist, noch eine autonome, innere Kraft der Selbstthätigkeit haben kann"; im französischen Original ist freilich lediglich von „l'ame est une substance créée, elle puisse avoir une véritable force propre et intérieure d'agir" die Rede, vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Opera philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia, ed. Johann Eduard Erdmann, 1840, reprogr. Neudruck Aalen 1959, 191: 58. Lettre à Mr. Bayle (1702). Aufschlußreich für den Gebrauch von „autonom" ist, daß Fischer den Terminus hier in der Übersetzung frei eingefügt hat.
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seinem Band über Fichte nachweisen 82 ; er steht hier vornehmlich in speziellen Ausführungen über das Sittengesetz 83 . Im Band über Schelling hebt Fischer Fichtes besonderes Verdienst hervor, die „Autonomie des Willens" als „Princip nicht bloß der praktischen, sondern der gesammten Philosophie" charakterisiert zu haben 84 . Im Hinblick auf Schelling verwendet Fischer verschiedentlich „Autonomie", und zwar speziell im Bericht über dessen „neue Deduction des Naturrechts"85, einmal direkt in einem Schellingzitat 86 . Bei Fischer ergibt sich somit zwar eine Verwendung der Antithese oder aber allein des Terminus „Autonomie", faktisch bleibt sie rückgebunden an den Gebrauch in der jeweiligen Vorlage. Aufgrund der weiten Wirksamkeit hat somit Fischer die uns interessierende Terminologie gefördert, er hat sie aber sozusagen nicht für seine eigene philosophische Reflexion übernommen. Der Uberblick über die Entwicklung im 19. Jahrhundert wendet sich somit Wilhelm Dilthey (1833-1911) zu, der zu Beginn dieser Untersuchung bereits genannt worden war als ein Vertreter jener Philosophen, für die „Autonomie" zu einem Leitbegriff geworden war. Die Verwendung geht dabei über eine einfache Kantrezeption grundlegend hinaus. In Diltheys frühen Schriften treten freilich „Autonomie" und „Heteronomie" nicht hervor87. Nur gelegentlich ist etwa von „heteronome(r) Moral" die Rede 88 . Die Termini fehlen vor allem dort, wo Dilthey zu ethischen Problemen im *2 K u n o Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, V 1 : Fichte und seine Vorgänger, Heidelberg 1869, 10. 83 Ebd. 388 f; Fischer referiert hier Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, I (1793), in: Fichte's Werke, hg. von Immanuel H e r r m a n n Fichte, VI, reprogr. Neudruck Berlin 1971, 80-105; in dem gesamten Abschnitt verwendet Fichte freilich noch nicht „Autonomie", so daß auch an dieser Stelle Fischer den Terminus von sich aus eingeführt hat. Ebd. 696 f, 717 verwendet Fischer „Autonomie" bzw. auch „absolute Autonomie" im Referat von Fichtes „System der Sittenlehre", ohne daß er hier ein wörtliches Zitat brächte. 84 K u n o Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, VI: Friedrich Wilhelm Josef Schelling, II: Schellings Lehre, Heidelberg 1877, 428; Fischer referiert hier Schellings Aussage über Fichte, dieser habe die „Autonomie des Willens" zum „Princip nicht bloß der praktischen, sondern der gesammten Philosophie" gemacht. Vgl. Schellings „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre". 85 Ebd. 406, 409. " Ebd. 411. " Wilhelm Dilthey, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch von Jacob Burckhardt (1862), in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen, Gesammelte Schriften XI, Leipzig 1936, 70-76; ders., Uber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), in: ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens I, Gesammelte Schriften V, Leipzig 1924, 31-73; ders., Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung f ü r das Studium der Gesellschaft und der Geschichte I (1883), Gesammelte Schriften I, Leipzig 1922, 3-120. 88 W.Dilthey, Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, 35.
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Anschluß an Kant Stellung nimmt 89 . Es dürfte mehr als ein Zufall sein, daß Dilthey in seiner Baseler Antrittsvorlesung von 1867 nicht von „Autonomie" gesprochen hat; denn in ihr gab er einen Uberblick über sein Thema, die geistesgeschichtliche Entwicklung der Neuzeit; er vermeidet diesen Terminus, obwohl er vorschlägt, über Hegel, Schelling und Fichte direkt auf Kant zurückzugreifen 90 , und obwohl er vom „mündigen vollendeten Menschen" spricht, den Lessing analysiert hat 91 . „Autonomie" fehlt sodann in der abschließenden Formulierung seines Zieles, „die Gesetze, welche die gesellschaftlichen, intellektuellen, moralischen Erscheinungen beherrschen, zu erkennen" 92 . Eine Bestätigung des Eindrucks darf man darin sehen, daß Dilthey auch in seiner Ethikvorlesung nicht von „Autonomie" gesprochen hat 93 . Und wenn in den umfangreichen Darlegungen über Schleiermacher dieser Terminus gelegentlich vorkommt 94 , bleibt unklar, ob es sich um frühe Belege handelt; denn der einzige Text, der in der Ausgabe datiert ist, stammt nicht aus der frühen Zeit95. Für unsere Zwecke bedarf es keiner minutiösen Uberprüfung dieses Eindrucks, daß „Autonomie" und „Heteronomie" anfänglich bei Dilthey praktisch bedeutungslos geblieben sind. Es scheint die Annahme berechtigt, daß er um 1890 speziell den Terminus „Autonomie" für seine eigenen philosophischen Überlegungen übernommen hat, um mit ihm die schon im Mittelalter und erst recht im Humanismus beginnende Entwicklung zur Selbständigkeit des Menschen während der Neuzeit zum Ausdruck zu bringen. Der Terminus „Heteronomie" wird in diesem Zusammenhang nicht benötigt. „Autonomie" und - offensichtlich synonym verwandt „Mündigkeit" 96 bezeichnen nun den Sachverhalt, daß der Mensch mit seiner (natürlichen) Vernunft die Wirklichkeit der Welt und insbesondere ihre Gesetze erkennt, daß natürliche Theologie und Naturrecht Gestalt angenommen haben, denen zufolge der Mensch die Gesetzlichkeit seiner Wirklichkeit durchschaut und von ihr her selbständig sein Leben gestaltet. " Wilhelm Dilthey, Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins (1864), in: ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens II, Gesammelte Schriften VI, Leipzig 1938, 1-55, bes. 5f, 12-17. ,0 Wilhelm Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770-1800, Gesammelte Schriften V, 13. " Ebd. 18. n Ebd. 27. " Wilhelm Dilthey, System der Ethik (1890), Gesammelte Schriften X, Stuttgart-Göttingen 1958. ,4 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, II: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, Gesammelte Schriften XIV, Göttingen 1966, 233, 529. ,s Ebd. 12 mit der Datierung des Herausgebers auf Juni 1897. " Wilhelm Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17.Jahrhundert (1892/93), in: ders., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Gesammelte Schriften II, Stuttgart-Göttingen 10 1977, 90.
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Zur Rezeptionsgeschichte von „Autonomie" und „Heteronomie"
Präzisierend spricht Dilthey von „religiös-sittlicher Autonomie der Person" 97 und der „Autonomie der sittlichen und wissenschaftlichen Vernunft" 98 sowie emphatisch von der „Vernunft in ihrer autonomen Herrlichkeit"99. Die anhand der „Autonomie" entwickelte Interpretation des Menschen und seiner Welt konzentriert sich für Dilthey in der „Durchführung eines autonomen rationalen Systems: der Konstruktion des Universums durch die Vernunft" 100 . Die Bedeutung des Terminus „Autonomie" geht auch daraus hervor, daß Dilthey ihn im Titel einer der einschlägigen Arbeiten nennt 101 . Ein Überblick über diese geschichtlichen Hinweise hat die Eingangsthese nachhaltig unterstrichen, daß Dilthey für den Gebrauch von „Autonomie" im generellen Sinn von besonderer Bedeutung gewesen ist. Noch entschiedener läßt sich die These vertreten, daß ein von Kant und dem ethischen Kontext abgelöster Gebrauch von „Autonomie" zur Charakterisierung des Menschen und seiner Stellung in der Welt, die in einem langwierigen neuzeitlichen Prozeß erreicht worden ist, erst später, nämlich um 1890 entstanden ist. Seither erscheint auch die Antithese „Autonomie Heteronomie" faktisch aufgelöst. Denn nach diesem Konzept einer umfassenden „Autonomie" und „Mündigkeit" des Menschen läßt sich von begründeter „Heteronomie" nicht mehr sprechen: Wo immer letztere - noch - vorhanden sein mag oder aber durchgesetzt werden soll, kann sie nur als illegitim qualifiziert werden. Doch ist diese verbreitete recht pauschale Konzeption einer generellen Selbstbestimmung des Menschen mit Vorsicht zu betrachten. Denn bei Dilthey handelt es sich noch nicht einmal um die Konstatierung einer „Selbstgesetzgebung" des Menschen, sondern genauer um die Erkenntnis all jener natürlichen Gesetze, nach denen sich das Leben des Menschen vollzieht. Die weitere Entwicklung läßt sich in folgenden vier Aspekten zusammenfassen: Zunächst bleibt die juristische Verwendung in Geltung; als Beispiel eines von hierher bestimmten Gebrauchs läßt sich Max Weber (1864-1920) mit seinen rechtssoziologischen Überlegungen anführen 102 .
" Ebd. 228; vgl. Wilhelm Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16.Jahrhundert (1891/92), in: ebd. 22, 30, 42. '« Ebd. 16. " Wilhelm Dilthey, Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17.Jahrhundert (1893), in: ebd. 248. 100 Ebd. 283, vgl. auch Wilhelm Dilthey, Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1900), in: ebd. 348. 101 W. Dilthey, Die Autonomie des Denkens, in: ebd. 246. 102 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 5 1980, bes. 417 f.
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Sodann wird der ethische Sprachgebrauch fortgesetzt, wie vielleicht besonders gut an Max Scheler (1874-1928) zu zeigen ist103. Darüber hinaus expandiert ein über den ethischen hinausgehender genereller Gebrauch von „Autonomie", wofür Hans Driesch (1867-1941) genannt werden kann 104 . Schließlich findet sich weiterhin eine negative Einschätzung von „Autonomie", die bemerkenswerterweise Friedrich Nietzsche (1844-1900) vertritt 105 . Die ins uferlose gehende Konjunktur des Terminus „Autonomie" forderte freilich ihren Preis: Statt einer „Autonomie", die wirklich diesen Namen verdiente, diagnostizierte bereits Max Weber eine „amorphe Autono-
5 Zusammenfassung Anlaß, dem Thema „Autonomie" nachzugehen, war die Frage: Ist die Bedeutung von „Autonomie" und „Heteronomie" so selbstverständlich und eindeutig, wie es den Anschein hat? Denn allgemein wird als bekannt vorausgesetzt: „Autonomie" bedeute eine von jeglicher Bestimmung und Bindung losgelöste Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung des Menschen oder der Gesellschaft und Eigengesetzlichkeit der Welt. Diese Bedeutung wird auf Kant zurückgeführt. Die Bewegung zur „Autonomie" erscheint als Intention der Aufklärung insgesamt. Konsequent zu diesem Verständnis wird weithin eine Entgegensetzung von „Autonomie" und „Glaube" angenommen; danach kann ein „Glaube" kaum mehr vor dem „Gerichtshof der Vernunft" bestehen, geschweige denn der „Vernunft" vor- oder gar übergeordnet sein; eben dies wäre für die Vernunft „Heteronomie". 103 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1913/1916), in: ders., Gesammelte Werke II, Bern M966, 372f, 486-492. 104 Hans Driesch, Philosophien des Organischen. Gifford-Vorlesungen (1907/8), I—II, Leipzig 1909, vgl. über verschiedentliche Nennungen hinaus bes. das einschlägige Kapitel II 67 ff: Autonomie des Lebens. Die Verwendung dieses Terminus geschieht bei Driesch im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Vitalismus. - Driesch eignet sich deswegen besonders als Beispiel, weil er von außerhalb her, nämlich von der Biologie her zur Philosophie gekommen ist und es deswegen auffälliger als in einer philosophischen Tradition ist, daß er den Terminus „Autonomie" in solch grundsätzlicher und keineswegs mehr an Kant gebundenen Weise aufnimmt. 105 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886) 203, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, II, München o.J., 660; ders., Zur Genealogie der Moral (1887) II 2, in: ebd. 801; vgl. auch ders., Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ebd. III 669. Als gegenwärtiges Beispiel negativer Einschätzung der „Autonomie" vgl. Rudolf zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung ( = es 749), Frankfurt 1975. "» M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 419.
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.Autonomie - Heteronomie"
Zur Überprüfung dieses selbstverständlichen Gebrauchs von „Autonomie" und „Heteronomie" in einer feststehenden Antithese schien der Rückgriff auf die Begriffsgeschichte angebracht. Diese ergab einmal, daß es den Begriff „Autonomie" bereits in der Antike gegeben hat. Er wurde primär als politischer Begriff gebraucht und bedeutete die innere Selbständigkeit eines Gemeinwesens im Rahmen eines übergeordneten Machtbereichs. Später ging dieser Begriff verloren. Er tauchte in der prägnanten antiken Bedeutung wieder auf zur Zeit der Reformation und hat sich unverändert bis in unsere Gegenwart hinein erhalten: „Autonomie" für Südtirol, aber auch „Autonomie" der Universität oder der Tarifpartner können als Beispiel dienen. Die Rückfrage an die Begriffsgeschichte ergab zum anderen die überraschende Feststellung, daß es eine Begriffsgeschichte von „Heteronomie" bisher nicht gibt: „Heteronomie" ist in der Antike nicht belegt und bislang vor Kant noch nicht nachgewiesen. Lexika, so auch das „Historische Wörterbuch der Philosophie" führen sie nicht als Stichwort. Diese Lücke ist m.W. noch nirgends notiert worden. Dieser Befund machte die Frage um so dringlicher: In welchem Sinne hat Kant den politischen Begriff „Autonomie" zumal im philosophischen Bereich verwendet? Genauer gefragt: Hat Kant dessen Struktur als innere Selbständigkeit und Selbstbestimmung im Rahmen eines übergeordneten Bereichs auch in der metaphorischen Verwendung beibehalten? Die Untersuchungen haben ergeben, daß diese Frage nachdrücklich mit Ja zu beantworten ist. Ein erstes Indiz für diese positive Antwort ist darin zu sehen, daß Kant den Begriff „Autonomie" im politischen Sinn verwendet hat, und zwar zur Bezeichnung einer inneren Selbständigkeit des Staates, der Professoren und besonders der philosophischen Fakultät, ohne daß diese eine absolute Selbständigkeit wäre. Der entscheidende Beweis ist jedoch darin zu sehen, daß Kant, soweit bis jetzt bekannt ist, als erster den ihm bekannten, zu seiner Zeit gängigen Begriff von „Autonomie" in einem spezifischen Sinne philosophisch verwandt hat: „Autonomie" wird primär in Reflexionen Kants zur Ethik gebraucht und bedeutet hier die Selbstbestimmung bzw. Selbstgesetzgebung des Willens im Sinne einer Unabhängigkeit von jeder Bestimmung durch ein Objekt und d.h. vor allem von jeder äußeren Bestimmung. Allein durch diese „Autonomie" als Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von solcher Bestimmung kann Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Urteile der praktischen Vernunft erreicht werden. Urteile, die durch äußere, sinnliche, geschichtliche Erfahrung bestimmt sind, sind a posteriori und daher nicht notwendig und allgemeingültig. Doch ist damit nur der eine Aspekt von „Autonomie des Willens" zum Ausdruck gebracht. Der andere Aspekt zeigt sich darin, daß die „Autono-
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mie des Willens" - und dies ist von besonderer Bedeutung - nicht eingeschränkt wird durch das der praktischen Vernunft vorgegebene Sittengesetz, das sich ihr als heiliges und göttliches erweist. Sich diesem Sittengesetz als einem „Joch" zu unterwerfen, bedeutet gerade nicht, daß der Wille ihm nicht mehr frei zustimmen könne. Damit ist „Autonomie" auch im philosophischen Sinne Selbstbestimmung im Rahmen einer freilich nicht von außen kommenden Bestimmung durch das Sittengesetz. Die „Autonomie des Willens" widerstreitet überdies nicht der Annahme Gottes als Weltschöpfer und Gesetzgeber, ist doch die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft, die für Kant „autonom" ist. Von „Autonomie" in diesem Sinne, nämlich als Selbstbestimmung, die durch die Annahme Gottes nicht aufgehoben wird, ist bis zum „Opus postumum" die Rede, wenn Kant hier unmittelbar nach der Formulierung einer „autonomia rationis purae" davon spricht, daß „jedes Denkende einen Gott hat" 1 . Gleichermaßen bedeutet „Autonomie" der Urteilskraft sowie die der theoretischen Vernunft in Verbindung mit der praktischen Vernunft Selbstbestimmung im Sinne jeder Unabhängigkeit von Objektbestimmtheit, ohne daß davon die Bindung an das Ubersinnliche tangiert würde. Das Fazit lautet: Weder vor noch bei Kant, weder im politischen noch im philosophischen Sinn ist „Autonomie" ein weitverbreiteter und zentraler Begriff 2 ; „Autonomie" bedeutet keine universale und absolute Selbstbestimmung, sondern Selbstbestimmung im Rahmen einer übergeordneten, inneren Bestimmung. Sie ist daher von Souveränität 3 und Autokratie zu unterscheiden, die über „Autonomie" hinausgehen. Es läßt sich fragen, warum Kant den politischen Begriff „Autonomie" in die praktische Philosophie übernommen hat. Der Grund dürfte in der Aufgabe gelegen haben, bei der Suche nach der Möglichkeit notwendiger und allgemeingültiger Urteile der praktischen Vernunft und der Urteilskraft deren Unabhängigkeit von Objekten ebenso zum Ausdruck zu bringen wie ihre innere Bindung an das Sittengesetz bzw. das übersinnliche Substrat. Um diese spezielle Selbstgesetzgebung auszusagen, gab es in der 1
Immanuel Kant, Opus postumum, XXI 82 f. Die Indizes der gängigen (Gesamt)Ausgaben von Montaigne, Hobbes, Locke oder Voltaire haben kein Stichwort „Autonomie"; es fehlt auch in Pierre Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch, übersetzt von J. Chr. Gottsched (1741). 3 Vgl. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I: Die Grundlagen, Frankfurt 1970, bes. 249-255, vgl. auch 41 f; unzutreffend ist daher die Aussage von Robert Spaemann, Autonomie, Mündigkeit, Emanzipation. Zur Ideologisierung von Rechtsbegriffen, in: Kontexte, hg. von Hans-Jürgen Schultz, VII, Stuttgart-Berlin 1971, 94-102, 95: „.Autonomie' meinte ursprünglich den eindeutigen Tatbestand der Unabhängigkeit eines Gemeinwesens und seiner Gesetzgebung von fremder Oberherrschaft, also ungefähr das, was der neuzeitliche Begriff der Souveränität besagt." Autonomie meint eben dies nicht. 2
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.Autonomie - Heteronomie"
Tat keinen geeigneteren Ausdruck als „Autonomie"; auch der Begriff „Freiheit" war dazu nicht geeignet. Mit diesem Ergebnis ist die gängige Kantrezeption und -interpretation von „Autonomie" grundlegend zu korrigieren: Sie übersah die differenzierte Struktur von „Autonomie" bei Kant, die er auch im philosophischen Gebrauch beibehalten hat. Aus diesem Befund ergibt sich: Die Behauptung Herbert Marcuses, daß für Kant „die freie Autonomie des Menschen oberstes Gesetz ist und bleibt", ist falsch. Oberstes Gesetz ist und bleibt für Kant das Sittengesetz. Es verbietet sich also jede Berufung auf Kant für eine Generalisierung und Verabsolutierung von „Autonomie", selbst wenn sich bereits bei Hegel die Kant referierende Aussage von einer „absoluten...Autonomie" findet 4 . Auch verbietet sich die Gleichsetzung von „absoluter Autonomie" und „absoluter Souveränität", die schon Franz von Baader in einer auf Kant bezogenen Ablehnung beider vorgenommen hat 5 . Im Blick auf Kant kann der Begriff „wahrhaft autonom" erst recht nicht auf Gottes Schöpfungshandeln angewandt werden. Entsprechend kann „Heteronomie" nicht jede nur denkbare Bestimmung genannt werden, sondern nur die Bestimmung durch ein Objekt. Übrigens wird „Heteronomie" von Kant sparsam gebraucht; es dient zur Kontrastierung von „Autonomie", bleibt aber faktisch abstrakt. In konkreten Zusammenhängen, so besonders bei der (von Kant als zulässig angesehenen) Bestimmung der oberen Fakultäten von außen, durch den Staat, fehlt der Terminus „Heteronomie". Ob Kant diesen negativen Begriff doch nicht expressis verbis auf die Fakultäten anwenden wollte? Dunkel ist noch die Entstehung des Wortes „Heteronomie". Daß Kant eine gewisse Vorliebe für Worte vom Stamm ,,-nomos", hatte, zeigen Begriffe wie „Eleutheronomie" 6 oder „Anthroponomie" 7 , deren Ursprung gleichfalls nicht bekannt ist. Nicht auszuschließen ist, daß es sich bei ihnen um Prägungen Kants handelt. Aus diesen Feststellungen über „Autonomie" und „Heteronomie" ergibt sich, daß die uns so geläufige Antithese „Autonomie - Heteronomie" nicht in dem Maße festgefügt ist, wie es den Anschein hat; sehr häufig ist nur von „Autonomie" die Rede, für die politischen Aussagen zieht Kant „Heteronomie" gar nicht heran. Überdies findet sich auch eine andere Entgegensetzung, nämlich „heteronomisch" und „homonomisch" 8 . Für die 4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen s.o. 4.3 mit Anm.6. Franz von Baader, s.o. 4.2 mit Anm. 11-34. 6 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A IX; VI 378. 7 Ebd. A 47; 406. * Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik, Phase σ, Nr. 4762, in: AA XVII 719. 5
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Kantrezeption wie -interpretation muß also die Vorstellung einer durchgängigen und absolut gebrauchten Antithese „Autonomie - Heteronomie" aufgegeben werden. Von ausschlaggebender Bedeutung ist, daß von „Autonomie" des Willens, der Urteilskraft und des Verstandes nie Gott gegenüber die Rede ist und daß die Bestimmung durch das Sittengesetz, das sich als göttliches erweist, nie „Heteronomie" genannt wird. Es gibt also für Kant keine „Autonomie" in dem Sinn, daß sie durch den Glauben an Gott beeinträchtigt würde, so sehr dieser Glaube ein reiner Vernunft- bzw. Religionsglaube (und kein Geschichts- bzw. Kirchenglaube) ist. Von daher können sich Vertreter eines fundamentalen Gegensatzes von „Autonomie" und „Glaube" nicht auf Kant berufen. Ebenso kann Kants Konzeption von „Autonomie" nicht als Beitrag zur Lösung des neuzeitlichen Theodizeeproblems angesehen werden. Kant hat keine „Philosophie der Autonomie" 9 entwickelt; so trifft mindestens für ihn nicht zu, daß die „idealistische Autonomiethese Theodizeesinn hat" in der Bedeutung: „Nicht Gott ist schuld, denn nicht Gott macht und lenkt die Welt, sondern der Mensch." 10 Eher ließe sich ein Zusammenhang herstellen zwischen „Heteronomie" und Theodizee, indem die praktische Vernunft, wenn sie nicht „autonom" handelt, in Gefahr ist, dem allgemeinen Sittengesetz entgegen zu handeln. Eine nicht minder bedeutsame Folgerung der vorgelegten Überlegungen ist darin zu sehen, daß der Begriff „Theonomie" mindestens dann aufzugeben ist, wenn man von „Autonomie" im Gefolge Kants spricht. Bei Kant läßt sich der Terminus „Theonomie" nicht belegen, er wäre in seinem Konzept von „Autonomie" auch sinnlos. Infolgedessen kann er weder als Entgegensetzung zur „Autonomie" im Sinne Kants fungieren noch mit ihr - zumal in der widersprüchlichen Formulierung einer „theonomen Autonomie" 11 - harmonisiert werden. In der gegenwärtigen Verwendung von ' Odo Marquard, Idealismus und Theodizee, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie ( = Theorie), Frankfurt 1973, 52-65, 54, mit Hinweis auf die theologische Kritik der Autonomie. 10 Ebd. 59. - Hier wird nur behauptet, daß die Aussagen über Autonomie bei Kant nicht im Zusammenhang mit der Theodizeeproblematik stehen, jedoch nicht, daß Kant sich mit dem Theodizeeproblem nicht beschäftigt hat. " Vgl. Franz Böckle, Theonome Autonomie. Zur Aufgabenstellung einer fundamentalen Moraltheologie, in: Johannes Gründel, Fritz Rauh u. Volker Eid, Humanum. Moraltheologie im Dienst des Menschen ( = Fs. f. Richard Egenter), Düsseldorf 1972, 11-46; ders., Theonomie und Autonomie der Vernunft, in: Willi Oelmüller (Hg.), Fortschritt wohin? Zum Problem der Normfindung in der pluralen Gesellschaft, Düsseldorf 1972, 63-86; ders., Moraltheologie und philosophische Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 84 (1977) 257-276. Vgl. dazu auch die für die gegenwärtige theologische Diskussion grundlegende Studie von Alfons Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf 1971, M984, bes. das Nachwort der 2. Aufl. 205-239 (Lit.). Vgl. ferner das Themenheft „Ethik vor dem Anspruch
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.Autonomie - Heteronomie"
„Theonomie" fällt auf, daß auch hier eine Selbstverständlichkeit unterstellt wird, die nicht gegeben ist, wenn auf die analoge Verwendung von „Gesetzgebung" im theologischen Sinn und die Differenzierung zur Antithese „Autonomie - Heteronomie" nicht eingegangen wird. Interessant ist, daß der Begriff „Theonomie" nicht erst in neuerer Zeit zur Problemlösung des Dilemmas von Autonomie und Glaube geprägt worden ist - man könnte hier vor allem an Paul Tillich denken 12 . Vielmehr läßt er sich schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts in einer gegen Kant gerichteten Polemik nachweisen, derzufolge das Sittengesetz „Theonomie" und die „Autonomie" im Sinne der höchsten Selbstgesetzgebung des Menschen „Princip der gottlosen Sittlichkeit" ist13. Die atheistische Version dieser dann freilich auf den Menschen bezogenen „Theonomie" läßt sich nahezu gleichzeitig bei Ludwig Feuerbach nachweisen 14 . Wenn Kant nicht als Kronzeuge dafür dienen kann, „Autonomie" als generelle und absolute Selbstgesetzgebung zu verstehen, so fragt sich, wie die mißverstandene Berufung auf Kant zustande kommen und so lange unangefochten bleiben konnte. Der Grund dafür dürfte sein, daß schon der politische Begriff „Autonomie" prädestiniert ist für Universalisierungs- und Radikalisierungsbestrebungen, die überdies leicht - bewußt oder unbewußt - verschleiert bleiben. Schon als innere Selbstbestimmung muß sie meist mühsam und schrittweise erstrebt oder gar bitter erkämpft und, ist sie erreicht, nicht selten verteidigt werden. Sie ist also kein ein für allemal gesicherter Besitz. Auch ist nicht von vornherein auszumachen, wie weit die Autonomiebestrebungen gehen können. Schließlich möchte, wer „Autonomie" erstrebt, im Grunde nicht selten „Souveränität". Um „Autonomie" zu ringen, kann somit eine erste Etappe auf dem Weg zur „Souveränität" sein. Deutlich kommt diese Spannung in einem Lexikonartikel aus der Zeit Kants zum Ausdruck, in dem es unter dem Stichwort „Avtonomie" heißt:
auf Befreiung", Concilium 20 (1984) 87-176, hier bes. Alberto Bondolfi, „Autonomie" und „autonome Moral". Untersuchungen zu einem Schlüsselbegriff, 167-173 (Lit.). 12 Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: ders., Gesammelte Werke X, Stuttgart 1968, 91: „Die religiösen Begriffe und Lebensformen sind weder in liberaler Weise in das System der endlichen Formen aufzulösen, noch sind sie in orthodoxer Weise als Zerstörung dieses Systems aufzufassen. Sie sind Begriffe des Durchbruchs durch die Form, aber nicht Begriffe des Zerbrechens der Form. Nicht bürgerliche Autonomie, aber auch nicht kirchliche Heteronomie - beides gehört zusammen - , sondern Theonomie, freie Hinwendung der zeitlichen Formen zum Ewigen ist das Ziel." - Vgl. Guido Vergauwen, Autonomie et théonomie chez Paul Tillich, in: Carlos Josaphat Pinto de Olivieira u.a., Autonomie. Dimensions éthiques de la liberté ( = Etudes d'Éthique chrétienne 4), Fribourg - Paris o.J. (ca. 1978), 200-212. 13 F.Probst, Katholische Moraltheologie I, s.o. 4.3 mit Anm.60. 14 Ludwig Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, s.o. 4.3 mit Anm.58.
Konsequenzen
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„ E s bedeutet das W o r t eine v o l l k o m m e n e Freyheit und U n a b h ä n g i g k e i t . D e m o h n g e a c h t e t waren die Städte, welche solchen Titel (sc. A v t o n o m e n ) führten, einer anderen B o t m ä ß i g k e i t u n t e r w o r f e n . " 1 5
Hier zeigt sich die Diskrepanz von Idealvorstellung und Realität. Für Kant war die Realisierung der „Autonomie" des Willens, der Urteilskraft und der theoretischen Vernunft in Verbindung mit der praktischen Vernunft ein Ideal. Von Kant leitet sich denn auch das Streben nach „Autonomie" als „Mündigkeit" des Menschen her. Wenn über den juristischen Bereich hinaus auch anderwärts „Autonomie" verwandt und etwa eine „litteraturae autonomia" gefordert wurde 16 , so hat doch Kant Schule gemacht. Ohne ihn wäre die Verwendung von „Autonomie" vielleicht speziell geblieben. Sein Sprachgebrauch war freilich auch im metaphorischen Sinn präzise.
Konsequenzen Das Thema „Autonomie" ist bei aller Aktualität doch zugleich so sehr mit der neuzeitlichen Geschichte verbunden, daß vorstehende Überlegungen nicht als Begriffsgeschichte in dem Sinn aufgefaßt und abgetan werden können, sie seien lediglich Vorgeschichte, ohne für die Gegenwart von unmittelbarer Bedeutung zu sein. Vielmehr ist die Begriffsgeschichte von „Autonomie", wie nicht zuletzt die häufige Berufung auf Kant belegt, lebendig genug, so daß man sich für eine heutige Verwendung nicht mit der These von einem Bedeutungswandel salvieren kann. Freilich ist nicht zu verkennen, daß gegenwärtig der bislang gültige genuine Gebrauch von „Autonomie" als politische innere Selbständigkeit im Rahmen eines übergeordneten Staatswesens durch eine wesentliche Begriffserweiterung, die auf eine Begriffsveränderung hinausläuft, außer Kraft zu geraten droht oder außer Kraft gesetzt werden soll, wenn die Forderung nach „Autonomie" für die Palästinenser die Errichtung eines eigenen PalästinenserStaates bedeuten soll. Denn dieser dürfte von Seiten der Palästinenser als souveräner Staat intendiert sein. Gerade in diesem Kontext wäre es sinnvoll, weil klärend, wie bisher „Autonomie" von „Souveränität" zu unterscheiden. Wer weiterhin von „Autonomie" in den verschiedenen Bereichen spricht, in denen metaphorisch von ihr die Rede ist, wird angeben müssen, ob er der Sache nach von „absoluter Autonomie" spricht, d. h. ob er „Autonomie" mindestens als „Autarkie", wenn nicht als „Souveränität" ver15 Johann Georg Walchs philosophisches Lexikon..., vermehrt... von Justus Christian Hennings, 'Leipzig 1775, reprogr. Nachdruck Hildesheim 1968, I 271. 16 Karl Gottfried Schreiter, De litteraturae autonomia, Leipzig 1784. - Für die Vermittlung dieses Textes danke ich Karl-Heinz Fallbacher M.A., Stuttgart.
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.Autonomie - Heteronomie"
steht. Niemand kann gehindert werden, diesen Sprachgebrauch zu wählen. Nur muß man wissen, daß man sich für ihn nicht nur nicht auf Kant berufen kann, sondern den Sprachgebrauch seiner Kritiker oder gar Gegner übernimmt, die als erste Kant unterstellt haben, er vertrete eben diese „absolute Autonomie". Es ist schon interessant, daß diese Unterstellung der Gegenseite später von denen, die sich auf Kant beriefen, als genuines Verständnis angesehen werden konnte. Vorstehende Überlegungen intendieren als Konsequenz, einen speziellen, eindeutig definierten, d.h. abgegrenzten Sprachgebrauch von „Autonomie" anzunehmen. Von dieser präzisen Fassung von „Autonomie" ist, wenn man die Antithese aufrecht erhalten will, was nicht zwingend ist, die Bedeutung von „Heteronomie" abhängig. „Autonomie" im metaphorischen Sinn sollte demnach als innere - was nicht heißt, auf die Innerlichkeit reduzierte - Selbstbestimmung im Rahmen eines übergeordneten (Sitten-)Gesetzes bzw. etwas ihm Entsprechenden aufgefaßt werden, dem der Mensch frei muß zustimmen können und zustimmen muß. Offen bleibt hier, ob dieses „Sittengesetz" als letztlich von Gott gegebenes oder ipso facto mit der Schöpfung gegebenes Grundlage menschlichen Lebens und Zusammenlebens ist oder ob man dieses naturrechtlich oder - als Weiterführung des Naturrechts - von den Menschenrechten her zu konzipieren sucht. Ferner kann nicht erörtert werden, ob und in welchem Sinn von diesen Letztbegründungen her das gängige Konzept von Freiheit neu formuliert werden muß. Hier ging es um die Frage, was sinnvollerweise gerade auch gegenwärtig als „Autonomie" bezeichnet werden sollte. Keine Bedenken dürften sich erheben, über die „Autonomie des Willens" bzw. „der Vernunft" hinaus auch von der „Autonomie des Menschen" zu sprechen. Diese sollte aber nicht insgeheim als „Souveränität" des Menschen verstanden werden. So sehr es in den Menschenrechten um den Menschen geht: der Mensch ist nicht souverän, die Menschenrechte so oder auch anders - etwa rassistisch - zu bestimmen, ohne daß diese .Einschränkung' schon .Unfreiheit' sein könnte. Äußerst sensibel indiziert der Terminus „Autonomie" diesen Tatbestand der Selbstbestimmung in einem Rahmen, der anzuerkennen ist, ohne die Freiheit des Menschen aufzuheben.
II
„RATIONAL -
IRRATIONAL"
1 Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch: Die Antithese „rational - irrational" im polemischen Gebrauch D a ß die Begriffe „rational" und „irrational" gegenwärtig weit verbreitet sind, bedarf keines weiteren Nachweises. Sie finden sich über eine im engeren Sinne wissenschaftliche Verwendung hinaus in intellektuell geführten Auseinandersetzungen. Erwecken sie hier den Anschein eines sachlichen Arguments, so dienen sie faktisch als W a f f e im Streit um grundlegende Positionen gerade auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Nach dem Plädoyer f ü r die Vernunft, wie es seit der Aufklärung immer schärfer formuliert worden ist, wird „rational" allgemein zur Charakterisierung der eigenen Intention und als Indiz ihrer Seriosität in Anspruch genommen; entsprechend hat sich eine spezifische Verwendung von „irrational" herausgebildet, die der Abwertung der gegnerischen Position dient. Der emotional-polemische Unterton von „irrational" ist nicht zu verbergen. Beispielhaft f ü r diesen Sachverhalt läßt sich eine Aussage Karl Poppers nennen; in ihr wird vom Standpunkt des kritischen Rationalismus aus immerhin Hegel des „Irrationalismus" beschuldigt: „Seit Rousseau hat die romantische Schule eingesehen, daß der Mensch nicht nur und nicht hauptsächlich rational ist. Während aber die Vertreter humanitärer Lehren an der Rationalität als Ziel festhalten, beutet der Aufstand gegen die Vernunft diese psychologische Einsicht in die Irrationalität des Menschen für seine politischen Ziele aus. Der faschistische Appell an die .menschliche Natur' ergeht an unsere Leidenschaften, an unsere kollektivistischen mystischen Bedürfnisse, an ,den Menschen, das unbekannte Wesen'. Die eben zitierten Worte Hegels (sc. über die List der Vernunft, die Leidenschaft für sich wirken zu lassen) verwendend, können wir diesen Appell die List des Aufstands gegen die Vernunft nennen. Den Höhepunkt dieser List erreicht aber Hegel in dem folgenden dialektischen Dreh, der wohl als sein kühnster gelten kann. Während er dem Rationalismus Scheindienste erweist, während er lauter als irgend ein Mensch vor oder nach ihm von der .Vernunft' spricht, endet er im Irrationalismus; in einer Apotheose nicht nur der Leidenschaft, sondern der brutalen Gewalt ... 1
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen ( = UTB 473), München M975, 94 f.
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„rational - irrational"
Diese Aussage ist im Zusammenhang mit Hegels Konzept des Staates formuliert. Popper kennzeichnet Hegel als Gegner der eigenen Position. Während er f ü r sich beansprucht, es mit der aufklärerisch-humanitären Tradition zu halten, f ü r die die Rationalität ein Ziel sei, lehnt er die gegnerische Position und damit Hegel als ihren Exponenten ab; denn diese läuft - so die These - unter dem Anschein der Rationalität auf einen Irrationalismus hinaus. Gegen die übliche Auffassung, die Hegel, wenn schon eines -ismus, des Panlogismus beschuldigt 2 , muß Popper f ü r seine Argumentation das Eintreten Hegels f ü r die Vernunft als Schein entlarven. N u r so kann er behaupten, daß Hegel tatsächlich im Irrationalismus endet. Wenn „Irrationalismus" also auch bei Popper als Vorwurf gegenüber Gegnern erscheint, kann es nicht wundern, daß polemischere Autoren höchst unterschiedlicher Lager gegen ihre jeweiligen Gegner den Irrationalismus-Vorwurf erheben. Belegen läßt sich dieser Vorwurf etwa bei Georg Lukács, der ihn an die gesamte als „bürgerlich" apostrophierte philosophische Tradition richtet, dergegenüber allein der Marxismus-Leninismus rational ist 3 . Ebenso findet er sich bei Hans Albert, der den Existentialismus oder die Theologie zumal in ihrer hermeneutischen Version als „irrational" qualifiziert 4 . Von dieser Verwendung her ist es nur konsequent, daß sich die einander heftig befehdenden Positionen eines kritischen Rationalismus und eines wie immer gearteten Marxismus gegenseitig der Irrationalität bezichtigen. So setzt sich Hans Albert in Verteidigung des kritischen Rationalismus gegen den Irrationalismus-Vorwurf zur Wehr, wie ihn Jürgen Habermas formuliert hat. Für Habermas ist der erfahrungswissenschaftlich orientierte Positivismus „irrational" und Poppers Versuch mißlungen, „den wissenschaftslogischen Rationalismus vor den irrationalistischen Folgen seiner notgedrungen dezisionistischen Begründung zu bewahren" 5 . Indem Albert sich mit dem Stichwort vom „Mythos
2 Der Ausdruck „Panlogismus" findet sich noch ohne eindeutig abwertenden Charakter schon bei Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, II (1880) Leipzig Ί 9 1 9 , 340, 355. 3 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (1954), in: ders., Werke 9, Neuwied o.J. Zur - außerordentlich pauschalen - Konzeption von „irrational" und Irrationalismus, vgl. bes. 93, 111. Durch diese Pauschalität vermag Lukács keinen klärenden Beitrag zum allgemein angenommenen Phänomen eines „Irrationalismus" im 20.Jhdt. zu leisten. ' Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft ( = Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 9), Tübingen 1968, 58 f, 116 u.ö. 5 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse ( = Theorie), Frankfurt 1969, 90: „Die positivistische Einstellung verdeckt die Problematik der Weltkonstitution. Der Sinn von Erkenntnis selber wird irrational - im Namen strikter Erkenntnis. Dadurch gelangt aber nur die naive Vorstellung zur Herrschaft, daß Erkenntnis die Realität beschreibe." Vgl. ebd. 93 u.ö. Ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwi-
Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch
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der totalen Vernunft" verteidigt, gibt er den Irrationalismus-Vorwurf zurück, da der Mythos dem Logos entgegengesetzt ist, den Albert für sich beansprucht 6 . Diese Kontroverse zwischen Albert und Habermas ist ein instruktiver Beleg für die wechselseitige Abwertung der gegnerischen Position als „irrational" von der eigenen - als „rational" eingeschätzten - Position aus. Daß die Antithese „rational-irrational" und die Klassifikation der gegnerischen Position als „irrational" so eindeutig und problemlos nicht ist, wie sie sich auf den ersten Blick gibt, läßt sich unschwer zeigen 7 . Ein erstes Indiz hierfür besteht darin, daß die Antithese gar nicht selbstverständlich ist, sondern erst gebildet wird und an Bedeutung gewinnt, nachdem schon längst von „rational" und „Rationalismus" die Rede war. Zunächst ging es um die Vernunft, die Rationalität, um die „Durchführung eines autonomen rationalen Systems: der Konstruktion des Universums durch die Vernunft" 8 . Begründet sah man diese Bemühung durch Descartes, dann aber vor allem durch Kant. Dessen Bemühungen zur Kritik der Vernunft bedeuten aber nicht zwangsläufig, daß es zuvor einfachhin unvernünftig zuging, sondern eher, daß zu unkritisch auf Vernunft gesetzt wurde. Denn es kann ja vorkritisch-vernünftig zugegangen sein. Dem Versuch, Vernunft kritisch zu begründen und den Bereich des Rationalen möglichst zu erweitern, korrespondierte also keine Zurückdrängung eines Irrationalen. „Irrational" und „Irrationalismus" fehlten seinerzeit als antithetische Termini zu „rational" und „Rationalismus". Sodann ist im gegenwärtigen Gebrauch faktisch nirgends präzisiert, was „irrational" meint, wenn im polemischen Gebrauch jeweils die gegnerische Position, aber nicht mehr eine Sache von allen gemeinsam mit diesem Wort bezeichnet wird. Ist denn schon dann eine Position „irrational", wenn sie offen zugibt, daß sie letztlich nur mit einem Glauben eingenom-
schen Popper und Adorno, in: Theodor W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie ( = Soziologische Texte 58), Neuwied 2 1970, 155-191, 175. Zur Verteidigung gegen den Irrationalismus-Vorwurf vgl. Hans Albert, Der Mythos der totalen Vernunft. Dialektische Ansprüche im Lichte undialektischer Kritik, in: ebd. 193-234, 221; dazu vgl. wiederum Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: ebd. 235-266, 236. ' Ausdrücklich gegen die Frankfurter Schule gerichtet bei Hans Albert, Kleines verwundertes Nachwort zu einer großen Einleitung, in: ebd. 335-339, 339. 7 Vgl. die sehr pauschale Bezeichnung „Irrationalismus" bei Jürgen Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, 106 ff, wo aus dem Zusammenhang gar nicht mehr erkennbar ist, welche spezifische Idee oder Strömung nun als solche bezeichnet wird. * Wilhelm Dilthey, Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17.Jahrhundert (1893), in: ders., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Gesammelte Schriften II, Stuttgart - Göttingen 10 1977, 283.
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.rational -
irrational"
men werden kann, wie dies Karl Popper für sich getan hat? Und kann ihn vornehmlich wegen dieser Aussage Habermas des Irrationalismus bezichtigen 9 ? Wenn ein Moment des Glaubens für die Erkenntnis konstitutiv ist, wäre es „rational", dies zu akzeptieren, wobei hier offengelassen werden kann, ob Popper diesen Glauben schon einen „irrationalen Glauben" hätte nennen sollen. Die Problemlosigkeit des Gebrauchs von „rational" und „irrational" verdeckt also gerade dessen Problematik. Mit welchem Recht darf „Unvernunft" und „Irrationales" parallelisiert werden, ohne daß darüber reflektiert wird 10 ? Ein vernünftiger Mensch, der unvernünftig handelt, braucht deswegen noch nicht „irrational" zu handeln. „Irrational" bedeutet normalerweise nicht Unvernunft oder gar „ohne Vernunft" im Sinne von „ohne ratio", wie es im Lateinischen möglich ist zur Bezeichnung von Tieren, entsprechend der Unterscheidung von animal und animal rationale 11 . Nicht reflektiert wird schließlich auch, daß „irrational" nicht die einzige Entgegensetzung zu „rational" ist. Neben ihr gibt es das Gegensatzpaar „rational-emotional", ohne daß „emotional" in jedem Falle identisch ist mit „irrational". Als letztes Indiz für die problematische Bedeutung der beiden Begriffe soll ihre paradoxe Verwendung genannt werden, wie sie sich in dem Begriff einer „irrationalen Rationalität" findet, der sich bei Theodor W. Adorno nachweisen läßt 12 . Überdies müßte φ ε Paradoxic bei Adorno eher „rationale Irrationalität" heißen, meint sie doch ein höchst rationales Vorgehen im Rahmen einer nicht mehr zu überbietenden „Irrationalität", wie sie in totalitären Regimen grassiert. Daß die Bedeutung von „irrational" im gegenwärtigen Gebrauch auch vor dem Abgleiten in Polemik radikalisiert und universalisiert worden ist, zeigt sich darin, daß nicht nur ein Dezisionismus, sondern im Grunde transzendenzbezogener Glaube oder Religion als „irrational" bezeichnet werden. Demgegenüber legte doch Kant Wert darauf, von einem „reinen Vernunftglauben" zu sprechen, als dessen Gegensatz nicht ein „irrationa-
9 Jürgen H a b e r m a s , Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, a a O . 174; ders., E r kenntnis und Interesse, a a O . 2 2 ; ders., Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung - Zu T h e o r i e und Praxis in der verwissenschaftlichten Zivilisation, in: ders., T h e o r i e und Praxis ( = st 9), Frankfurt 4 1 9 7 1 , 3 0 7 - 3 3 5 , 329, jedes Mal mit Verweis auf Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II, Bern 1958, 304, vgl. dazu u. 5 . 2 bes. mit A n m . 2 2 . 10 Vgl. Willy Hellpach, Schöpferische Unvernunft? Rolle und G r e n z e des Irrationalen in der Wissenschaft ( = Wissenschaft und Zeitgeist 7), Leipzig 1 9 3 7 . 1 1 Dieser Sprachgebrauch, präzisiert zur Bezeichnung eines Tieres als „animal irrationale", findet sich auch im Mittelalter durchgängig, so d a ß auf Belege verzichtet werden kann. E r findet sich auch in der Neuzeit, vgl. dazu u. 2 mit A n m . 2 0 f . 12
T h e o d o r W . A d o r n o , Negative Dialektik, F r a n k f u r t 1970, 302.
Zum gegenwärtigen Sprachgebrauch
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1er" Glaube, s o n d e r n ein „statutarischer" Geschichtsglaube fungierte. Wissenschaftlich gilt d a h e r gegenwärtig jede Position, die auf einem G l a u b e n beruht, des D o g m a t i s m u s u n d Fideismus verdächtig u n d infolgedessen als indiskutabel, da sie d e r V e r n u n f t allenfalls innerhalb der G r e n z e n eines Glaubens R e c h n u n g trage. Rationalität aber verlangt f ü r gegenwärtig verbreitetes Verständnis u n e i n g e s c h r ä n k t e G e l t u n g der V e r n u n f t , wobei es als selbstverständlich gilt, d a ß ein G l a u b e sie „begrenze". Zeichen f ü r die Radikalisierung u n d Universalisierung des Begriffs „irrational" ist auch seine V e r w e n d u n g im Z u s a m m e n h a n g mit d e r Frage nach den W e r t e n u n d damit nach d e r E t h i k ü b e r h a u p t . D a m i t m a g z u s a m m e n h ä n g e n , d a ß nach einer A n n a h m e Ludwig Wittgensteins ü b e r W e r t e wissenschaftlich - nicht gesprochen w e r d e n kann 1 3 . D a s Ethische ist nach Wittgensteins Aussage nämlich „persönlich" 1 4 . Freilich vermeidet W i t t g e n stein eine Klassifikation der W e r t e bzw. d e r Ethik als „irrational". Ausdrücklich f i n d e t sie sich allerdings bei M a x W e b e r hinsichtlich des w e r t r a tionalen H a n d e l n s . In Relation z u m zweckrationalen H a n d e l n ist das wertrationale „irrational": „ V o m Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an d e m das H a n d e l n orientiert wird, z u m absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um s o w e n i g e r auf die F o l g e n des H a n d e l n s reflektiert, je unbedingter allein dessen ¿s/gewwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt." 1 5
D a s wertrationale H a n d e l n ist ein H a n d e l n „durch b e w u ß t e n G l a u b e n (sie!) an den - ethischen, ästhetischen, religiösen o d e r wie immer sonst z u d e u t e n d e n - u n b e d i n g t e n Eigen-wert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen u n d u n a b h ä n g i g v o m Erfolg" 1 6 . Selbst w e n n Vorsicht g e b o t e n ist, bei M a x W e b e r eine pauschale C h a r a k t e r i s i e r u n g des Wertrationalismus als „irrational" a n z u n e h m e n , so ist er j e d o c h in Relation z u m Z w e c k rationalismus „irrational". Die F o r m u l i e r u n g e n sind eindringlich genug, 13 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus ( = es 12), Frankfurt 1969, 6.41 und 6.42, mit den immer wieder zitierten Aussagen, daß es keine Sätze der Ethik geben könne, die Ethik sich nicht aussprechen lasse und transzendental sei. 14 Ludwig Wittgenstein, A Lecture on Ethics, in: Philosophical Review 74 (1965) 3-12, ferner die Hinweise in: ders., Schriften 3, Frankfurt 1967, 93, bes. 117: „Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem anderen erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische gar keinen Wert. Ich habe in meinem Vortrag über Ethik zum Schluß in der ersten Person gesprochen: Ich glaube, daß das etwas ganz Wesentliches ist. Hier läßt sich nichts mehr konstatieren; ich kann nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen." - Vgl. dazu: Kurt Studhalter, Ethik, Religion und Lebensform bei Ludwig Wittgenstein ( = Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 82), Innsbruck 1973, 15-24. ls Max Weber, Soziologische Grundbegriffe (1921), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, 567. " Ebd. 565.
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„rational - irrational"
daß unter Berufung auf Weber weithin eine Irrationalität der Werte überhaupt angenommen werden konnte. Als Entsprechung hierzu kann die verbreitete Einschätzung des sog. Nonkognitivismus angesehen werden, wie ihn vor allem Alfred Jules Ayer vertreten hat; nach ihm bringen ethische Urteile Emotionen zum Ausdruck. Gegnern gilt diese Position, die ethische Urteile einer „rationalen" Rechtfertigung nicht für bedürftig - und für fähig - hält, als „irrational" 17 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der gegenwärtig verbreitete Gebrauch der Antithese „rational - irrational" durchweg wertend gebraucht wird, wobei „irrational" konsequent abwertend und meist polemisch gemeint ist. Damit dürfte ein Endstadium erreicht sein, insofern sich selbst als „rational" verstehende Positionen - besonders instruktiv bei dem sich selbst so bezeichnenden „kritischen Rationalismus" - von ihren jeweiligen Gegnern als „irrational" bezeichnet werden. Daraus darf geschlossen werden, daß die konkurrierenden Konzeptionen, die im Laufe der Neuzeit ein „rationales System" zu entwerfen versuchten, inzwischen soweit divergieren, daß sie sich gegenseitig eben diese Rationalität absprechen, um die es ihnen geht, nachdem es offenkundig geworden war, daß im Namen der Rationalität eine einhellige Konzeption nicht gefunden werden konnte. Dieser Befund sowie die unpräzise Verwendung zumal des Begriffs „irrational" geben dazu Anlaß, der Bedeutung der Antithese „rational - irrational" im folgenden genauer nachzugehen.
2 Zur ursprünglichen Bedeutung und Begriffsgeschichte von „irrational" Die bisherigen Hinweise haben einen undeutlichen Befund ergeben hinsichtlich der Frage, ob „irrational" generell negativ gebraucht wird. Anlaß zu dieser Frage gibt Karl Popper mit seinen zuvor genannten Aussagen, in denen er sowohl die Entscheidung für seine eigene Position als „irrational" bezeichnet als auch Hegel des „Irrationalismus" beschuldigt. Es hat den Anschein, als ob hier jeweils nicht die gleiche Wertung vorliegt. Die Frage nach der Bedeutung von „irrational" ist deswegen zu stellen, weil dieses Wort früher offensichtlich auch eine eindeutig positive Bedeutung haben konnte. Es konnte nämlich zur Bezeichnung eines Tatbestandes dienen, daß wesentliche Erkenntnisse der Wissenschaften nicht selten auf schöpferische Einfälle zurückgehen und somit nicht Ergebnis, sondern 17 William K. Frankena, Analytische Ethik. Eine Einführung ( = d t v / W R 4129), M ü n c h e n 1972, 128.
Z u r u r s p r ü n g l i c h e n B e d e u t u n g und B e g r i f f s g e s c h i c h t e
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Anlaß ihrer „rationalen" Begründung sind. In diesem Sinne war „irrational" synonym mit „schöpferischer Unvernunft" 1 . Überraschender noch ist, daß „irrational" statt „Unvernünftigkeit" vielmehr „Übervernünftigkeit" bedeuten kann. Diese beiden Bezeichnungen finden sich anläßlich der Erörterung jener Bemühungen, die in Ablösung „rationalistischer Systeme" vor allem Kants und Hegels ein „irrationales Wissen" vertreten, dessen Gegenstand den Charakter der „Übervernünftigkeit" oder der „Unvernünftigkeit" tragen könne 2 . Eindeutig im Sinne des „Übervernünftigen" dürfte „irrational" gebraucht sein in dem Versuch, dem „Irrationalen" in der Idee des Göttlichen nachzugehen 3 . Gegenüber diesem Bedeutungsspielraum dürfte „irrational" gegenwärtig meist erheblich enger gebraucht werden. Denn schon, wer sich kritisch gegen einen „Rationalismus", und sei es der „kritische", wendet, setzt sich dem Verdacht des Irrationalismus aus 4 . Um den heute verbreiteten Gebrauch von „irrational" und der angenommenen Klarheit und Eindeutigkeit der Antithese „rational - irrational" zu überprüfen, erscheint ein Rückgriff auf die Begriffs- und Problemgeschichte angebracht. Diese liegt noch weitgehend im Dunkeln 5 . Schon ein erster Blick in die Geschichte zeigt, daß „irrational" im philosophischen Bereich erst sehr spät größere Verbreitung erlangt. Mit zunehmendem Gebrauch verliert „irrational" dann seine spezifische Bedeutung. Erst nach einer Verallgemeinerung der Bedeutung und einer damit einhergehenden Unschärfe dringt das Wort in die gehobene Alltagssprache ein, in der es, faktisch eine Dublette zum deutschen Ausdruck „unvernünftig", einen diesem gegenüber verschärften Klang hat. Im wissenschaftlichen Sinn wurde die Antithese „rational - irrational" in der griechischen Mathematik geprägt 6 . Anlaß für ihre Bildung war die 1 Vgl. dazu den problemlos vorgenommenen Wechsel beider Adjektive bei Willy Hellpach, a a O . 2 Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, II, 358, s.u. 4.2 mit Anm. 1 ff. 3 Rudolf Otto, D a s Heilige. Uber das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 1979. 4 Vgl. ζ. B. H a n s Albert, Traktat über kritische Vernunft, 181 f. 5 Vgl. Sylvia Rücker, Irrational, das Irrationale, Irrationalismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, IV, Basel 1976, 584-588. Dieser Artikel gibt keinen Aufschluß über frühe Verwendungen, über Lücken einer Verwendung - von Kant ist nicht die Rede, der doch auch unter den Prämissen von Rücker hätte genannt werden können oder müssen -, über den Übergang zu einer metaphorischen Verwendung im philosophischen Bereich und schließlich über den Verlust der ursprünglichen Bedeutung, der dann zu einem auch von Rücker notierten Verfall der Terminologie in reine Polemik führte. Überdies meint „irrational" eben nicht einfach „einen der menschlichen Vernunft bzw. dem menschlichen Verstand nicht zugänglichen Bereich der Erkenntnis", wie schon aus einigen auch bei Rücker genannten Texten ersichtlich ist.
' Vgl. dazu bes. Kurt von Fritz, Die Entdeckung der Inkommensurabilität durch Hippasos von Metapont (1945), in: Zur Geschichte der griechischen Mathematik, hg. von O s k a r
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.rational - irrational"
Erkenntnis, daß die Quadratwurzel aus zwei, drei, fünf etc. sowie - dem zugrundeliegend - das Verhältnis von Strecken wie jenes von Seite und Diagonale im Quadrat sich weder durch ganze Zahlen noch durch Brüche von ganzen Zahlen ausdrücken ließ. Diese Entdeckung führte über die bereits bekannten geraden und ungeraden Zahlen hinaus zur Annahme einer neuen Klasse von Zahlen. Erstere wurden als „aussagbar" („ρητός") und letztere als „unaussagbar" im Sinne von „kein Verhältnis habend" („άλογος") bezeichnet. In einer folgenden Ubergangszeit wurde „unaussagbar" statt mit „άλογος" mit „άρρητος" wiedergegeben, doch wurde nach Uberwindung der aufgetretenen Schwierigkeiten wieder die ursprüngliche Antithese ,,φητός" und „άλογος" aufgenommen, wohl weil letztere Bezeichnung dem aufgetretenen Sachverhalt besser entsprach. Mit dieser Bezeichnung „άλογος" wurde ein umgangssprachlicher Ausdruck übernommen, der sich, wenn auch nicht eben häufig, auch weiterhin im allgemeinen Sprachgebrauch nachweisen läßt7. Als spezielle Antithese findet sich im mathematischen Bereich also ursprünglich und schließlich die von „aussagbar" („ρητός") und „unaussagbar" („άλογος"), d.h. „kein Verhältnis habend", aber auch „keine Struktur erkennen lassend" 8 . In diesem Sinne ist die Antithese vermutlich schon vor 450 v. Chr. in der Mathematik der Pythagoreer geprägt worden. Seither konnte von „λόγοι άλογοι", d. h. von Streckenverhältnissen, deren Verhältnis nicht letztlich angebbar ist, die Rede sein. Damit sind jedoch die „λόγοι άλογοι" keine „unvernünftigen" Verhältnisse. Wohl aber verlangten sie von den Griechen eine grundlegende Korrektur ihrer voraufgegangenen Annahme und Erwartung, alle Dinge, speziell die Verhältnisse in Geometrie, Astronomie oder Musik, in ganzen Zahlen zum Ausdruck bringen zu können. Die Entdeckung des „Alogischen" führte zu einer Grenze, zu einem Unendlichen („άπειρον") 9 . Wie groß die Betroffenheit durch die Entdeckung des „Alogischen" für die Griechen gewesen ist, ist am besten aus der Legende ersichtlich, daß der Entdecker als Strafe der Götter für seine Entdeckung einem Seesturm zum Opfer gefallen sei10. Becker ( = Wege der Forschung 33), Darmstadt 1965, 271-307; Filippo Franciosi, L'irrationalità nella matematica greca arcaica, Roma 1977 (Lit.). 7 „"Αλογος" konnte umgangssprachlich ζ. Β. „wortlos" oder „unvernünftig" heißen, letzteres bezogen etwa auf Freude oder auch auf Tiere, die keine V e r n u n f t haben. 8 In diesem Sinn bezieht sich „άλογος" auf asymmetrische bzw. (als dessen lateinische Übersetzung) inkommensurable Verhältnisse (Verhältnis konnte im Griechischen am besten mit „λόγος" wiedergegeben werden). Ein solches inkommensurables Verhältnis ist das von Diagonale zur Seite im Quadrat, weil es sich eben nicht in ganzen Zahlen ausdrücken läßt. 9 Piaton, Philebos 24a-25b. 10 Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen I ( = stw 218), Frankfurt 1978, 119; Kurt von Fritz, aaO. 301.
Zur ursprünglichen Bedeutung und Begriffsgeschichte
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Festzuhalten ist: Das umgangssprachliche, nicht sehr häufig gebrauchte Adjektiv „άλογος", welches „vernunftlos, unvernünftig" bedeutet und genuin von den Tieren ausgesagt wird, die keine Vernunft haben, verwandten die Griechen in einem mathematischen Sinne zur Bezeichnung einer neu entdeckten Klasse von Zahlen, die von den bisher bekannten ganzen Zahlen bzw. Brüchen ganzer Zahlen fundamental unterschieden war. Uber diese Antithesen „ρητός - άλογος" im mathematischen Sinn hinaus findet sich bei den Griechen keine generalisierte philosophische Verwendung 11 . Freilich darf nicht übersehen werden, daß für die Philosophie die Mathematik von wesentlicher Bedeutung war. Die Antithese ,,ρητός-αλογος" blieb bis weit in die hellenistische Zeit erhalten, da mathematische Schriften auch bei den Römern lange meist griechisch abgefaßt waren 12 .. Durch die Ubersetzung der Mathematik ins Lateinische wurde aus „άλογος" „irrationalis", so daß seither die Antithese „rationalis-irrationalis" üblich wurde 13 . „Irrationalis" findet sich, wenn auch gleichfalls nicht häufig, wie das griechische „άλογος" weiterhin auch in einem umgangssprachlichen Sinne14. Uberraschend ist nun, wie lange sich diese ursprüngliche und präzise Bedeutung von „irrational" im philosophischen Bereich erhalten hat. In einer Abhandlung über Salomon Maimón (1753-1800) hebt Friedrich Kuntze hervor, daß der Begriff „irrational" in der Philosophie vermutlich erstmalig durch Leibniz verwandt worden ist und daß er sich in Abhängigkeit von ihm auch bei Maimón findet; bei beiden sei aber ausdrücklich auf die metaphorische Verwendung im philosophischen Kontext hingewiesen, insofern die ursprüngliche mathematische Bedeutung eigens hervorgehoben werde 15 . Zugleich - und dies ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung - kritisiert Kuntze nachdrücklich, daß bei Autoren seiner Zeit die mathematische bzw. metaphorische Verwendung von „irrational" in der 11 Oberflächlich ist es daher, wenn Erec Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale (1951), Darmstadt 1970, durchgängig von „irrational" anläßlich sehr verschiedener Phänomene wie einer angenommenen Einwirkung durch die Götter bei Homer, der Ekstase, der Prophetie oder gotterfüllter Manie u. a. m. spricht, die bei den Griechen niemals als „irrational" bezeichnet werden. Die spezifische Verwendung läßt Dodds dagegen völlig außer acht. Hier ist ein pauschales Verständnis der letzten Jahrzehnte unkritisch auf die Griechen reprojiziert. 12 So die Schriften des Diophantos von Alexandrien (um 215 n.Chr.) und des Pappos von Alexandrien (um 300 n.Chr.). 13 Daß etwa die Schriften Euklids ins Lateinische übersetzt wurden, zog sich bis zu Boethius hin. 14 Vgl. dazu die gängigen Lexika. - Bei den Römern war demnach erstmalig eine solche Antithese von „rational-irrational" möglich, wohingegen das Griechische „ρητός" und „άλογος" einander gegenüberstellen mußte, da „λόγος" nur substantivisch gebraucht werden konnte. 15 Friedrich Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons, Heidelberg 1912, 345, 513.
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,rational - irrational"
Philosophie außer acht gelassen worden ist, so daß der philosophische Gebrauch nun synonym wird mit dem umgangssprachlichen Ausdruck „unvernünftig". Kuntze hebt hervor, daß mathematische Aussagen auch metaphorisch nur mit größter Vorsicht gebraucht werden dürfen, da zu ihrer Verwendung die entsprechende Sachkenntnis unerläßlich ist wegen der Präzision der ursprünglichen Bedeutung 16 . Wesentlich ist in unserem Zusammenhang, daß noch bei Kuntze „irrational" im mathematischen Sinn ausdrücklich von einem alltäglichen Wortsinn „unvernünftig" bzw. „keinem Gesetz Untertan" unterschieden wird. Kuntze lehnt - völlig zu Recht - die Ausweitung, Verallgemeinerung und Verflachung einer zunächst eher beiläufig verwandten mathematischen Metapher bei Leibniz und Maimón zu einer „irrationalen Erkenntnis" ab17. Berücksichtigt man die ursprüngliche mathematische Bedeutung von „irrational" und die zunächst präzise metaphorische Verwendung im philosophischen Bereich, so kann „irrational" nicht einfach „unvernünftig", „sinnlos" heißen; es kann vielmehr nur zur Bezeichnung des Sachverhalts dienen, daß eine Wirklichkeit „nicht mit endlicher Genauigkeit angebbar" ist oder „in einem nicht mit endlicher Genauigkeit angebbaren Verhältnis" zu einer anderen Wirklichkeit steht. Die mathematische Bedeutung dürfte " E b d . 513. W e g e n der b e s o n d e r e n Bedeutung soll dieser T e x t ausführlich wiedergegeben werden: „Ich schicke eine B e m e r k u n g grundsätzlicher N a t u r voraus: W e n n technische Ausdrücke wie ,rational' und .irrational' in d e r Philosophie a u f g e n o m m e n werden, d a n n k a n n das n u r u n t e r d e r V o r a u s s e t z u n g geschehen, d a ß sie verwendet w e r d e n z u r Bezeichnung eines Verhältnisses, das analoge begriffliche S t r u k t u r h a t wie dasjenige Verhältnis, das diese A u s d r ü c k e ursprünglich in der jeweiligen Spezialwissenschaft bezeichneten. Keinesfalls aber darf je nach B e d ü r f n i s der terminologisch festgelegte technische Sinn mit d e m einfachen U b e r s e t z u n g s s i n n abwechseln. N u n wohl: In d e r Arithmetik entstehen rationale Zahlen d u r c h eine k o m m e n s u r a b l e („angemessene"), irrationale d u r c h eine i n k o m m e n s u r a b l e Z a h lenbeziehung. F a ß t m a n die Aufstellung einer Z a h l e n b e z i e h u n g als Stellung einer Aufgabe, so erscheint im Fall einer k o m m e n s u r a b l e n Beziehung ein endlicher kontinuierlicher Bruch, d e r auf einen einfachen Bruch z u r ü c k g e f ü h r t werden kann, d a h i n g e g e n im Fall der i n k o m m e n s u rablen Beziehung ein unendlicher mit w a c h s e n d e r Stellenzahl sich einem bestimmten W e r t e m e h r und m e h r a n n ä h e r n d e r Bruch auftritt. So hatte Leibniz sich rechtmäßig des Bildes d e r Irrationalität f ü r philosophische Zwecke (vermutlich als erster) bedient, um die beliebige V e r m e h r b a r k e i t d e r Prädikate, die den ,vérités de fait' z u k o m m e n k ö n n e n , durch die Endlosigkeit der Z i f f e r n r e i h e zu veranschaulichen, die einen irrationalen A u s d r u c k mit g r ö ß e r e r o d e r geringerer G e n a u i g k e i t je nach d e r Stellenzahl wiedergibt. In diesem Sinne g e b r a u c h t auch M a i m ó n dieses Leibnizsche Bild." Es folgt unmittelbar anschließend eine Kritik an Wilhelm W i n d e l b a n d u n d Emil Lask, die sich ihrerseits auf die M a i m o n - I n t e r p r e t a t i o n von K u n o Fischer stützen: „Bei den letztgenannten beiden A u t o r e n aber vermengt sich d e r ursprüngliche W o r t s i n n von irrational als .unvernünftig', ,keinem Gesetze Untertan' mit der mathematischen B e d e u t u n g . U n d da steckt d e r Fehler. Die irrationale Zahl ist d o c h nicht im mindesten eine gesetzlose Zahl, denn wir k ö n n e n unendliche Reihen summieren, u n d das auf G r u n d dessen, d a ß sie ein Gesetz haben, nach d e m sie fortschreiten." 17 Ebd. 510 gegen K u n o Fischers Darstellung der Philosophie M a i m o n s in dessen Abh a n d l u n g : Fichtes Leben, W e r k e und Lehre, H e i d e l b e r g 3 1900, 7 1 - 8 4 .
Zur ursprünglichen Bedeutung und Begriffsgeschichte
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- nicht zuletzt wegen der bis heute geltenden Bedeutung der Mathematik zur Erfassung der Wirklichkeit - als Maßstab anzusehen sein, der auch heute für eine über die Mathematik hinausgehende Verwendung nicht ohne weiteres außer acht gelassen werden sollte. Insofern kann die ursprüngliche Bildung der Antithese „rational - irrational" einen wesentlichen Hinweis für die Möglichkeit ihrer Verwendung geben. Die Anfänge eines philosophischen Gebrauchs von „irrational" können hier nicht endgültig aufgedeckt werden. Hinter die bislang als erste genannte Verwendung durch Salomon Maimón von 179018 läßt sich der Begriff „irrational" fast 150 Jahre über Gottfried Wilhelm Leibniz 19 bis auf Edward Lord Herbert von Cherbury (1581-1648) zurückverfolgen. In dessen „De Veritate" von 1645 wird dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, aufgrund des instinctus naturalis „irrationaliter", nämlich ohne „Diskurs" zur Wahrheit zu kommen 20 . Der Terminus „irrational" dürfte hier kaum aus dem Bereich der Mathematik stammen, obwohl sich auch bei Herbert von Cherbury nachdrückliche Aussagen über deren Bedeutung als paradigmatische Wissenschaft finden. Belegbar ist bei ihm nämlich die umgangssprachliche Verwendung von „irrational" als „ohne ratio"; der Mensch ist einerseits „rational", insofern er Geist, Liebe und Freiheit mit Gott teilt, zum anderen aber teilt er die Geistlosigkeit („alogian" bzw. „irrationem"), Konkupiszenz und Zwang mit den Tieren 21 . Darüber hinaus aber bezeichnet Herbert von Cherbury als „irrational" den Tatbestand, daß der Mensch, der von Natur Verstand sowie Religion hat, dennoch Atheist sein kann, so daß jene Menschen höchst „irrational" sind, die das Wahre vom Wahrscheinlichen, Möglichen und Falschen nicht unterscheiden können 22 . Gegenüber dieser unterhalb der Schwelle der ra-
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Sylvia Rücker, aaO. 583. " Friedrich Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons, 345 Anm. 1, 511 Anm. 1, jeweils mit Hinweis auf: Die philosophischen Schriften von G.W.Leibniz, hg. von J.Gerhardt, Berlin 1880, IV 394, wo jedoch nicht von „irrationalis", sondern von „arrhetos" die Rede ist. 20 Edward Lord Herbert von Cherbury, De Veritate, London 1645, reprogr. Neudruck, hg. von Günter Gawlick, Stuttgart - Bad Cannstatt 1966, 2f: „Quod igitur in omnium est ore, tanquam verum accipimus, neque enim sine Providentia illa Universali momenta actionum disponente fieri potest quod ubique fit; denique si quicquam intra nos Instinctus Naturalis potest, hoc potest certe; qui cum in Elementis, plantis, irrationaliter, hoc est sine discursu operetur; cur non in nobis idem praestiterit, praesertim in iis quae ad nostram spectant cons e r v a t i o n e m . . V g l . ebd. 42. 21 Ebd. 174 f: „Quemadmodum enim intellectum, amorem, libertatem cum Deo; ita άλογίαν sive irrationem, concupiscentiam, necessitatem cum brutis et communem obtinemus.. 22 Ebd. 214: „Si tamen irreligiosos quosdam prorsus, immo et Atheos inveniri posse contendas, (quod tamen non credimus) cogita et insanos et irrationales non paucos deprehendi posse inter illos, qui rationale tanquam ultimam Hominis differentiam tuentur. Neque enim aliter inter tot miras circa Religionem contradictiones, tot dari potuisse Martyria, nulla fere ut μυθώδης Ecclesia suis non glorietur Agonistis, qui non solum (ejus caussa) austerissimum
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.rational - irrational"
tio des Menschen bleibenden Bedeutung von „irrational" besagt jedoch der Zugang zur Erkenntnis durch den instinctus naturalis ohne ratio eine Auszeichnung, insofern der Mensch tiefer, als es ein Diskurs ermöglicht, auf die Erkenntnis der Wahrheit hin angelegt ist. Hier erscheint die umgangssprachliche Metaphorik nicht beibehalten. Eine Anknüpfung an eine umgangssprachliche Verwendung dürfte auch die Aussage von John Toland (1670-1722) enthalten, wenn er gegen die „irrationale Hypothese" von der neutestamentlichen Sprache als gehobener Sprache die These vertritt, daß das Evangelium gerade umgangssprachlich formuliert worden ist23. Hier dürfte „irrational" einfach gleichbedeutend sein mit „unvernünftig". Eine solche umgangssprachliche Bedeutung von „irrational" im Sinne von „ohne ratio", wie dies für die Tiere zutrifft, läßt sich von früh an bei Thomas Hobbes (1588-1679) 24 über John Locke (1632-1704) 25 bis hin zu Christian Wolff (1679-1754) 26 nachweisen. Bei ihnen werden entweder die Tiere oder wie bei Locke die Menschen im Gegensatz zu den Tieren, die auch „vernünftige Lebewesen" sein können, als „unvernünftig" bezeichnet. Sowohl ein solcher umgangssprachlicher wie auch der mathematische Sprachgebrauch lassen sich bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) nachweisen. Wenn Leibniz sagt, daß die „irrationalia" nicht wahrhaft geliebt werden (können), so deswegen, weil für ihn ein Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Vernünftigen besteht und alles, was geliebt wird, sowohl schön als auch vernünftig ist27. Daß hier der umgangssprachliche Gebrauch vorliegt, wird aus dem Folgenden klar, wo Leibniz davon spricht, daß den Tieren nur aufgrund eines populären Irrtums so etwas wie ein Verstand zugebilligt werden kann. Ein Zusammenhang mit einer
aliquod vitae genus professi sunt, sed ultroneam etiam subiere mortem, nisi quod hominum pertinacissimi et summe irrationales, verum a verisimili, a possibili, et a falso distinguere nequiere, statuendum est." 23 John Toland, Christianity not mysterious (1696), reprogr. Neudruck, hg. von Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 50 f. 24 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Part II, 17, in: ders., The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, ed. by Sir William Molesworth, III, 1839, reprogr. Neudruck Aalen 1962, 157. 25 John Locke, An Essay concerning human Understanding, IV 18, ed. by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, 696. 26 Christian Wolff, Psychologia rationalis (1740), in: ders., Werke II, 6, reprogr. Neudruck Hildesheim 1972, 677. 27 Gottfried Wilhelm Leibniz, Elementa juris naturalis (1670/71?), in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe VI: Philosophische Schriften I, Darmstadt 1930, 464 f: „Amamus enim eum, cui bene esse delectatio nostra est. Qua constat... omne quod amatur esse pulchrum, id est delectabile sentienti, non tarnen omne pulchrum amari, ñeque irrationalia vere amantur, quia nec quaeritur ut eis bene sit, nisi ab iis, qui sibi in brutis quoque nescio quid rationis quod ipsi sensum vocant, populari errore fingunt."
Zur ursprünglichen Bedeutung und Begriffsgeschichte
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mathematischen Bedeutung liegt jedenfalls fern. Das Gleiche dürfte zutreffen, wenn Leibniz von einer „sors ... irrationalis" spricht 28 . Wiederholt hat Leibniz sodann von „irrational" im mathematischen Sinn, nämlich im Zusammenhang mit irrationalen Wurzeln gesprochen 2 9 . Bis jetzt ist aber keine Aussage bekannt, in der er den mathematischen Ausdruck metaphorisch im philosophischen Bereich verwandt hat 30 . Nach allem, was die bisherigen Untersuchungen ergeben haben, ist daher erst recht ein unmetaphorischer philosophischer Gebrauch von „irrational" bei Leibniz mit Sicherheit auszuschließen. Die zuvor genannten Belege des 17. und 18.Jahrhunderts berechtigen dazu, den Begriff „irrational" während dieser Zeit f ü r den philosophischen Bereich als bedeutungslos anzusehen. „Irrational" läßt sich zwar in seiner umgangssprachlichen wie in seiner mathematischen Bedeutung nachweisen, der Terminus findet sich sehr selten auch in einem philosophischen bzw. theologischen Zusammenhang, hier jedoch am ehesten in Entlehnung aus der Umgangssprache, die als romanische entweder dem Lateinischen sehr nahe stand oder wie das Englische sehr viel leichter Fremdworte aufzunehmen in der Lage war. Ein Beleg f ü r das ins Deutsche übernommene Lehnwort „irrational" zur Kennzeichnung von Tieren oder von Menschen, die in Analogie zu den Tieren Aspekte reiner Animalität in sich haben, oder eine von dieser Bedeutung abgeleitete philosophische Verwendung war für diese frühe Zeit bislang nicht zu finden. Erst recht fand sich kein Beleg f ü r einen philosophischen Gebrauch, der von der mathematischen Bedeutung abgeleitet war. Gerade bei Autoren, die die Bedeutung der Mathematik f ü r die Begründung wahrer Erkenntnis neuzeitlich grundgelegt haben wie Descartes, ließ sich eine mathematische 31 , aber keine von hier stammende philosophische Verwendung nachweisen. Als Bestätigung dafür, daß „irrational" wissenschaftlich in dieser frühen Zeit allein im mathematischen Sinne üblich war, können Lexika dienen. Sie bringen entweder gar kein Stichwort „irrational" 32 oder aber nur ein Stichwort zur mathematischen Bedeutung 33 . Eine aus der Mathematik als Wis28 Ders., Commentatiuncula de judice controversiarum (1669-71?), ebd. 555. Vgl. ders., Elementa juris civilis (1670-1672?), in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe VI: Philosophische Schriften II, Berlin 1966, 65. " Ders., N o u v e a u x essais sur l'entendement humain ( 1 7 0 3 - 1 7 0 5 ) , in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, VI 6, Berlin 1962, 488; vgl. ferner Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel I ( 1 6 7 2 - 1 6 7 6 ) , in: aaO. III 1, Berlin 1976 (s. Reg.). 30 Zu verweisen ist hier auf das Register in: ebd. VT 3, Berlin 1980. - Für die Mitteilung hierüber danke ich Dr. Heinrich Schepers. 31 René Descartes, Correspondance, in: ders., Oeuvres, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, I, Paris 1974, 222. 32 Vgl. z . B . Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon (1775), reprogr. N e u d r u c k Hildesheim 1968. 33 Vgl. Johann Heinrich Zedier, Großes vollständiges Universal-Lexicon..., XLVII, Halle-Leipzig 1746, 793 f; Encyclopédie o u Dictionnaire raisonné des Sciences des Arts et
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.rational - irrational"
senschaftssprache übernommene metaphorische Verwendung von „irrational" im philosophischen Bereich ist nicht nachweisbar. Dieser Befund läßt sich instruktiv bei Immanuel Kant bestätigen. Soweit bekannt ist, kommt Kant in seinen edierten Schriften nur einmal auf „Rational· oder Irrationalzahlen" zu sprechen, ein Beleg dafür, was auch ohne diesen Beleg sicher hätte angenommen werden müssen, daß Kant die Unterscheidung rationaler und irrationaler Zahlen gekannt hat 34 . Kant verwendet diese Aussage in dem zitierten Text aber nicht f ü r die andere Vernunftwissenschaft, die es über die Transzendentalphilosophie hinaus neben der Mathematik noch gibt, nämlich f ü r die reine Moral. N u r f ü r die Mathematik weist er darauf hin, daß trotz der Unwissenheit der Bedingungen doch das Verhältnis des Durchmessers zum Kreis nicht als ungewiß ausgegeben werden kann. Diese Feststellung trifft Kant anläßlich seiner Überlegungen zu den Antinomien der reinen Vernunft. Lediglich eine Ausnahme war bislang bei Kant zu finden. In einer vermutlich späten Notiz bestimmt er „Begriffe irrationaler Verhaltnisse" als solche, „die durch keine Annäherung erschöpft werden können" 3 5 und nimmt damit die mathematische Bedeutung auf. In der zuvor publizierten Notiz nennt Kant „irrationale Begriffe", nämlich „Verstandesbegriffe, denen man doch alles entzieht, was zum Beyspiel und Anwendung in concreto erforderlich ist, die also keine Bedeutung haben können, ob sie zwar ohne wiederspruch sind" 36 . Eben diese Art von Begriffen erläutert Kant an Gott, der ewig, aber nicht in der Zeit, der gegenwärtig, aber nicht im Raum, der Ursache, aber nicht nach Art uns bekannter Ursachen ist. Damit wird „irrational" metaphorisch im philosophisch-theologischen Kontext verwandt, wobei die mathematische H e r k u n f t nicht genannt, aber naheliegend ist. Als „irrational" werden in dieser Notiz Begriffe bestimmt, die jeder Konkretion entbehren. Ein Hinweis auf eine nicht endlich und damit nicht endgültig erreichbare Annäherung findet sich jedoch in der zuerst zitierten Notiz. Wenn Kant in dieser Aussage „irrationale Begriffe" von „Ideen" unterscheidet, so mag diese Unterscheidung wie die gesamte Aussage durch einen Text von Salomon Maimón eine Aufhellung erfahren. Maimón hat die „irrationalen Wurzeln" zur Verdeutlichung philosophischer Sachverhalte herangezogen. D a ß Kant sich in dem zuletzt genannten Text von Maimón abdes Métiers, publié par M.Diderot et M.D'Alembert V i l i (1765), reprogr. Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 907. 34 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft A 480/B 508 (1781/87), AA III 332. Vgl. auch ders., Reflexionen zur Metaphysik, Phase σ (vor 1776/77), A A X V I I 718; ferner ders., Reflexionen zur Mathematik (1790), AA XIV, 57 f. - Kant wird hier nach der o. Einführung Anm.2 genannten Akademie-Ausgabe zitiert. 35 Ders., Reflexionen zur Metaphysik, Phase ω (wohl nach 1800), AA XVIII 716. 3t Ebd. 715.
Übergänge zu metaphorischem Gebrauch von „irrational"
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setzt, mag darin seine Bestätigung finden, daß Maimón sich in dem hier zu nennenden Text seinerseits von Kant distanziert, indem er nämlich gegenüber Kant Ideen weiter faßt und zu ihrer Erläuterung auf den progressus in infinitum in der Mathematik hinweist; dabei verweist er auf Ideen, „die, obschon sie sich bestimmten Objekten immer nähern, doch ihrer N a t u r nach dieselbe niemals erreichen . . . Von dieser Art sind die irrationalen Wurzeln" 3 7 . Diese Aussage bezieht ausdrücklich einen mathematischen Sachverhalt auf die Erläuterung eines philosophischen, nämlich der Ideen im Verständnis Maimons. In einer voraufgegangenen Aussage hatte Maimón bereits eine metaphorische Verwendung vorgenommen, wenn er das Ich als Idee und zugleich als Objekt bezeichnet, wobei letztere Bezeichnung nur aufgrund von Modifikationen anzunehmen ist, die in unendlicher Annäherung nach Art irrationaler Wurzeln sich ihm als Objekt annähern, ohne es jemals vollständig zu erreichen; erreichen läßt es sich ebensowenig, wie eine irrationale Zahl rational werden kann 38 . Findet sich also bei Maimón eine explizite metaphorische Verwendung der mathematischen Bezeichnung „irrational" im Bereich der Philosophie, so kann doch nicht davon die Rede sein, daß „irrational" bei ihm schon ein auch nur einigermaßen zentraler philosophischer Begriff sei 39 .
3 Übergänge zu metaphorischem Gebrauch von „irrational" um 1800 Bis zum Ende des 18.Jahrhunderts war im deutschsprachigen Bereich von „irrational" nur sehr eingeschränkt und marginal die Rede. Inzwischen lassen sich Ubergänge zu einem verbreiteteren Gebrauch in einem metaphorischen Sinne nennen, d. h. zu einer Verwendung, die noch die ursprüngliche mathematische Bedeutung kennt und f ü r die Verwendung im philosophischen Bereich maßgeblich sein läßt. Bislang galt als eines der ersten Dokumente eines philosophischen Gebrauchs die zunächst nicht publizierte Vorlesung zur Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes von 17
Salomon Maimón, Versuch über die Transcendentalphilosophie mit einem Anhang über die symbolische Erkenntnis, Berlin 1790, reprogr. Neudruck, hg. von Valerio Verra, II, Hildesheim 1965, 228 f. 38 Ebd. 164 f. - Zu M a i m ó n vgl. Friedrich Kuntze, D i e Philosophie Salomon Maimons, bes. 125, 345. 39 N a c h Kuntze dürfte M a i m ó n hinsichtlich seiner Einschätzung der Mathematik vor allem von Lazarus ben David abhängig sein, besonders von dessen „Versuch einer logischen Auseinandersetzung des mathematischen Unendlichen" (1789), vgl. Friedrich Kuntze, aaO. 335.
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Übergänge zu metaphorischem Gebrauch von „irrational"
18041; freilich wurde nicht danach gefragt, ob bei Fichte hier „irrational" noch in seiner metaphorischen oder in unserer heutigen verallgemeinerten Bedeutung gebraucht ist. Durch neuerliche Publikationen der zahllosen Fragmente von Friedrich Schlegel läßt sich eine diesem Text vorausliegende Verwendung nachweisen, die gerade durch die Verwendung in persönlichen Notizen einen Widerschein damaliger Gebrauchsmöglichkeiten gibt. Da diese Fragmente früher als Fichtes Wissenschaftslehre geschrieben wurden, findet zunächst die Verwendung bei Schlegel Berücksichtigung. Nach Schlegel und Fichte wird dann Friedrich Wilhelm Joseph Schelling behandelt, weil seine Aussagen zeitlich über deren Beiträge zu unserem Thema hinausreichen. Noch einmal weiter reichen die Aussagen Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, die deswegen auf jene Schellings folgen. Abschließend wird nach dem Verständnis von „irrational" bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Arthur Schopenhauer gefragt, um ein Resümee über den Befund in der 1. Hälfte des 19.Jahrhunderts vorzubereiten. 3.1 Friedrich
Schlegel
Ein überraschender und bislang nicht gewürdigter Befund ergibt sich bei Friedrich Schlegel (1772-1829). Während Stichproben in seinen Vorlesungen keinen Beleg für die Verwendung von „irrational" ergeben haben, finden sich zahlreiche Stellen in seinen Fragmenten zur Philologie 1 wie zur Poesie und Literatur 2 . Da diese erst neuerdings ediert worden sind, hat Schlegel nicht auf schriftlichem Weg zur weiteren Verwendung von „irrational" beigetragen. Die Fragmente geben aber einen instruktiven Einblick in den mündlichen Gebrauch, wie er schwerlich auf Schlegel allein beschränkt gewesen sein kann. Es darf angenommen werden, daß die vielfältige Verwendung bei Schlegel eine Entsprechung in den intensiven Gesprächen gehabt hat, in denen die Autoren seinerzeit standen. Allerdings läßt sich ein Zusammenhang mit anderen Gesprächspartnern, sowohl was einen Einfluß von ihnen auf Schlegel als auch was eine Einwirkung auf sie durch Schlegel angeht, bislang nicht zeigen. Interessant wäre immerhin zu wissen, ob während der gemeinsamen Zeit Schlegels mit 1 1
Vgl. S. Rücker, Irrational, 583.
Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1 7 9 6 - 1 8 0 6 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796-1828, hg. von Ernst Behler, I, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe XVIII, M ü n c h e n 1963. 2 Friedrich Schlegel, Fragmente zur Poesie und Literatur, hg. von Hans Eichner, I, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe X V I , München 1981. In den f o l g e n d e n Anmerkungen wird zunächst in Klammern die Bezifferung der Fragmente innerhalb der Bände und dann mit einer römischen Ziffer die Bandzahl und mit arabischen Ziffern die Seitenzahl angegeben.
Friedrich Schlegel
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Fichte in Jena von 1796-1799 mathematische Reminiszenzen in die allgemeine Diskussion aufgenommen worden sind, worunter „irrational" dann gewesen sein dürfte. Ob in dieser Terminologie eine Abhängigkeit Fichtes von Schlegel besteht, ist noch weniger nachweisbar. Zu warnen ist infolgedessen vor vorschnellen Klassifizierungen, etwa derjenigen, daß der allgemeine Gebrauch von „irrational" bei Schlegel auf den Beginn der Zuwendung zur „Romantik" schließen lasse. Die Fragmente aus den Jahren 1795/96 bis 1806 weisen nur für die Jahre 1798-1802, in denen Schlegel vornehmlich in Jena gewesen ist, einen ins Gewicht fallenden Gebrauch des Terminus „irrational" auf. Die Interpretation der Fragmente insgesamt wie auch der Bedeutung von „irrational" stößt auf beträchtliche Schwierigkeiten, da es sich um kurz skizzierte Gedankensplitter handelt, die eine systematische Rekonstruktion sehr schwierig oder gar unmöglich machen. Schlegel hat sie so, wie sie ihm einfielen, notiert, ohne an eine Publikation gedacht zu haben. Auf die Gesamtzahl der Fragmente bezogen, ist von „irrational" nicht eben häufig die Rede. Relativ oft sind mathematische Aussagen zu finden, die in den verschiedensten Bereichen verwandt werden. Unter ihnen ist dann auch der Terminus „irrational", dessen ursprüngliche mathematische Bedeutung bei Schlegel offenkundig ist. Das „Irrationale" bestimmt Schlegel als das nach allen Richtungen ins Unendliche „Irrationale" 3 . Besonders charakterisiert wird es dadurch, daß es wie die Mathematik überhaupt einen Bezug zum Chaos hat 4 : Das „Irrationale" ist das mathematische Chaos 5 . Nicht, daß das „Irrationale", sondern daß die Mathematik als „Princ(ip) d(es) Chaotischen" bezeichnet wird, scheint einem heutigen Sprachgebrauch schwerlich annehmbar. Wie andere mathematische Termini 6 bezieht Schlegel auch „irrational" auf die verschiedensten Bereiche, so gelegentlich auf die Theologie, wenn er Gott als Chaos und Ideal des „absolut Irrationalen" bezeichnet 7 . Häufig ist dagegen der Bezug zur Philosophie: Schlegel kann von „irrationale(n) Facta" 8 , „zufällige(r) Irrationalität in d(er) Vernunft" 9 , „irrationale(n) Be3
(III 399) XVIII 156: „Was d(er) Punkt für die Geometr(ie) ist χ für Algebra. Näml(ich)
das primitive schlechthin unauflösliche χ =
J . Das Irrationale was nach allen Richtun-
gen ins ¿ (Unendliche) fort irrat.(ional) ist. 4 (IX 973) X V I 336 f. Zur genaueren Datierung der Fragmente vgl. die Einleitung dieses Bandes, X X I I I ff. 5 (IV 1143) XVIII 291, in der Schreibweise Schlegels: „Das Irrationale ist das (mathematische) (Chaos). - Modalität ist nur ein Medium der Qualität und Quantität. - " - Die Ergänzungen in Klammern stammen vom Herausgeber der zit. Ausgabe. 6 (V 969) XVIII 401: „Algebra Symb(ol) der (praktischen Philosophie) - Empfindung ist d(as) Irration.(ale) Trieb Progreß(ion) - Gefühl Proport(ion) - Willkühr Combinat(ion)." 7 (IV 661) XVIII 248. β (IV 975) XVIII 276. ' (IV 1341) XVIII 306.
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Übergänge zu metaphorischem Gebrauch von „irrational"
griffen" 1 0 und „irrationale(n) Stellen" im Wissen 11 sprechen. Wie f u n d a mental von „irrational" die Rede ist, wird daraus ersichtlich, daß die Idee einer Wissenschaft, die die Prinzipien aller Wissenschaften enthalten soll, „irrational" genannt wird 12 . Über diese genannten Bereiche hinaus ist bei Schlegel sowohl im politischen 13 wie vor allem im literarischen Kontext von „irrational" die Rede. In letzterem Zusammenhang findet sich wiederum ein Bezug zum Chaos 14 . „Irrational" findet sich im Zusammenhang mit der Liebe 15 , zur eventuellen Kennzeichnung des Prinzips des Naiven 16 , im Zusammenhang mit Roman 1 7 , Drama 1 8 und Märchen 1 9 . Vor welche Schwierigkeiten die Interpretation dieser Aussagen gestellt ist, will man ihren genaueren Sinn ermitteln, soll folgendes Fragment zeigen: „7 = irration(ales). - Form d(es) Auges d(er) Zeugung pp-/" 2 0 . Nirgends werden die Termini und infolgedessen auch „irrational" näher erläutert. N u r aus einer Stelle ist die präzise mathematische Bedeutung ersichtlich, wenn Schlegel die Möglichkeit unendlich vieler Dramen als „Aproximationen einer unendl.(ichen) Aufgabe" ansieht 21 . Eben diese unendliche Annäherung lag ja in der ursprünglichen Konzeption irrationaler Zahlen. In unserem Zusammenhang braucht eine weitergehende Interpretation dieser Aussagen nicht vorgenommen zu werden; es kann hier genügen, anhand der genannten Belege den Umfang einer Verwendung von „irrational" zu demonstrieren, wie er in spontanen Notizen Schlegels möglich gewesen ist. O b es nur eine Folge dieser spontanen Niederschriften oder aber auch sachlich bedingt ist, daß verschiedentlich kaum präzise erfaßbar von „irrational" die Rede ist, muß dahingestellt bleiben. Schlegel ist, soweit bis jetzt zu sehen ist, der erste, bei dem sich eine recht weitgehende und allgemeine Verwendung von „irrational" finden läßt. Man darf davon 10
(V 500) X V I I I 363. ( V 7 2 7 ) X V I I I 381, auch hier in Zusammenhang mit dem Chaos. 12 (IV 975) X V I I I 276. Vgl. dazu, daß ein Wissen, das unendlich ist, nur „irrational" anfangen kann, (V 1068) XVIII 409. 13 (IV 704) X V I I I 252: „Eine polit.(ische) Constitution ist etwas durchaus irrationales. Es giebt nur eine Republik, die aller Menschen." 14 (XII 199), X V I 439; (VIII 169) X V I 245. 15 (VIII 54) X V I 235. 16 (VIII 148) X V I 244; hier wie auch anderwärts dürfte der Herausgeber „Irration" bei Schlegel fälschlich mit „Irrationalismus" entschlüsseln. Dieses Abstraktum ist aber sonst nicht belegt, vgl. ebd. (IX 132) X V I 265. 17 Ebd. und (IX 88) X V I 261. 18 (IX 127) X V I 264. " (IX 877) X V I 327. 20 (1X 8 8 5) X V I 328, vgl. ( 1 X 6 6 8 ) X V I 309, ferner ( V 3 1 1 ) XVIII 347; ( V 4 1 3 ) XVIII 355. 21 (IX 127) X V I 264. 11
Johann Gottlieb Fichte
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ausgehen, daß diese in den Gesprächen der Kreise, denen Schlegel angehörte, gängig war. Damit legt sich für unsere Fragestellung nahe, daß „irrational" nicht aufgrund einer bewußten Reflexion, sondern durch die Konversation damaliger Gebildeter in den allgemeinen Sprachgebrauch kam. Sicher ist „irrational" bei Schlegel nicht negativ gemeint, als Kontrast zum Rationalen, erst recht nicht dem der eigenen Position. „Irrational" ist durchaus noch als mathematischer Terminus bekannt, er wird aber bei Schlegel in Zusammenhängen verwendet, die eine Metaphorik nicht mehr erkennen lassen. Infolgedessen darf man schließen, daß ein in diesem Sinne schwer faßbarer Gebrauch zu späteren Verallgemeinerungen Anlaß gegeben hat.
3.2. Johann Gottlieb Fichte Nicht einfacher ist der Befund bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Er verwendet „irrational" im philosophischen Sinn, ohne den mathematischen Hintergrund wirklich präsent zu machen. Das Zurücktreten der Kennzeichnung einer metaphorischen Verwendung von „irrational" erschwert die Möglichkeit einer Interpretation. Es läßt sich nicht rekonstruieren, wodurch Fichte zum Gebrauch des Terminus „irrational" veranlaßt worden ist. Auch bleibt der Gebrauch sehr beschränkt. Da sich der Terminus nur in Texten belegen läßt, die erst postum publiziert worden sind, hat Fichte mindestens zunächst nicht auf schriftlichem Wege die Verwendung von „irrational" beeinflußt. Daher kann von Fichte an dieser Stelle nur in der Hinsicht die Rede sein, daß er den Sprachgebrauch seiner Zeit wiedergibt. In den wissenschaftlichen Werken Fichtes findet sich der Begriff „irrational" bislang nur in zwei Fassungen der Wissenschaftslehre von 18041. Dabei ergeben sich auch für diese Verwendung beträchtliche terminologische Unterschiede, wie sie für die verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre Fichtes bekannt und typisch sind. In der ersten Vorlesung zur Wissenschaftslehre vom Januar bis März 18042 spricht Fichte an verschiedenen Stellen von einem „hiatus" bzw. von einem „Sprung" („Springsprung") 3 . Mit diesen Termini bezeichnet Fichte das für die Wissenschaftslehre zentrale Problem eines Auseinanderfallens, einer Disjunktion von Sein und Widerschein dieses Seins im Bewußtsein. Ziel der Wissenschaftslehre ist es, diese Disjunktion in einer Konjunktion 1 Die Suche nach weiteren Belegen in beträchtlichen Teilen der Werke Fichtes blieb bislang ergebnislos. 2 Johann Gottlieb Fichte, Erste Wissenschaftslehre von 1804, aus dem Nachlaß hg. von Hans Gliwitzky, Stuttgart 1969. 3 Hiatus findet sich ebd. 29, 34, 70, 193.
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Übergänge zu metaphorischem Gebrauch von „irrational"
zu überwinden, die Synthese von Sein und Widerschein zu erreichen. Der Widerschein des Seins als Nicht-Ursein ist nur möglich, wenn das Ur-Sein mit hinzugedacht wird, da der Widerschein nur als Akzidens möglich ist. Dieses Wissen des Widerscheins des Urseins, in dem dieses nicht mit eingesehen, sondern vorausgesetzt wird, bezeichnet Fichte als „Springpunkt". Wenn es auch mit dem Wissen recht bestellt ist, so nicht mit dem Bewußtsein; von diesem sagt Fichte: „ M i t ihrem W i s s e n w a r es d a h e r ganz recht bestellt, nur nicht mit ihrem
Be-
wußtseyn. Beides ging nicht d u r c h e i n a n d e r auf rational, sondern es blieb Ihnen irrational. Sie hätten d a h e r die Aufgabe, als eine A u f g a b e an ihr freies u. nur insofern einer A u f g a b e fähiges Bewußtseyn gerichtet, nicht vollzogen; u. es ist d r u m kein W u n d e r , sondern es m u ß schlechthin also seyn, d a ß eine durch die A u f g a b e bedingte Evidenz o h n e die Vollziehung der A u f g a b e nicht eintreten k a n n . " 4
Die Antithese „rational - irrational", die hier wohl erstmalig im philosophischen Kontext und Sinn belegbar ist, läßt keine präzise Bedeutung von „irrational" erkennen, es ist nicht klar, ob die ursprüngliche mathematische Bedeutung noch Geltung hat und somit hier von einer unendlich fortschreitenden Aufgabe die Rede sein soll, die freilich nie endgültig gelöst werden kann, oder ob „irrational" den Sinn von „der ratio unzugänglich" und daher „unvernünftig" haben soll. Letzteres ist wegen der anschließend zu nennenden Stelle eher unwahrscheinlich, sowenig daraus schon geschlossen werden kann, daß eine präzise metaphorische Verwendung des mathematischen Begriffs vorliegt. Die einzige für eine Interpretation ergiebige Aussage dieser Vorlesung findet sich im weiteren Verlauf. Auch hier geht es wie schon an der eben genannten Stelle um das zentrale Thema aller Entwürfe zur Wissenschaftslehre, nämlich um das Sein, das Absolute, das absolute Licht, das sich darstellt und damit über seine Immanenz einen emanenten Effekt hat, aufgrund dessen in der Erkenntnis Einsicht, Intuition in das Absolute möglich ist. Von dieser Einsicht sagt Fichte: „ . . . die Einsicht stellt sich dar, als absolute bildend das absolute; u. dieses letztere, als sich aus sich von sich, selber bildend·. E b e n auf diese reine Sich-selbst Bildung des absoluten, die für die I m ( m ) a n e n z des sich bildens e m a n e n t ist, bezogen, ist das Wissen Intuition. - O d e r kürzer ausgedrückt·, die Einsicht stellt sich d a r mit einem zu bildenden, u. im Bilden rein aufgehenden ( c o m m e n s u r a b l e n ; u. r a t i o n a len ideal zu nennenden und einem durchaus in ihm nicht zu bildenden unmittelbar irrationalen, u. i n c o m m e n s u r a b l e n ) drum real zu nennenden E f f e k t e . " 5
Diese Stelle ist insofern aufschlußreich, als Fichte hier „rational" mit „commensurabel" sowie „irrational" mit „incommensurabel" parallelisiert. 4 5
Ebd. 27. Ebd. 148, vgl. den ganzen Zusammenhang 146ff.
Johann Gottlieb Fichte
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Dadurch wird der mathematische Ursprung ersichtlich. Durch die Erweiterung der Antithese mit der Hinzufügung von „ideal" und „real" wird deutlich, daß „irrational" bzw. „incommensurabel" auf diejenige Realität bezogen ist, die nicht das absolute Sein und somit ein Widerspruch zu ihm und zugleich mit ihm in eine Synthese zu bringen ist. „Irrational" ist demnach nicht die Inkommensurabilität des Absoluten auf das Nicht-Absolute, sondern die Inkommensurabilität jenes Effekts der Einsicht, der nicht in sich selbst bleibt, d. h. „irrational" ist die Relation der Einsicht in das Nicht-Absolute, in unserer Terminologie die Einsicht in unsere äußerlichreale Wirklichkeit. Die Inkommensurabilität jedenfalls verweist auf eine Relation, wenn auch die ursprüngliche mathematische Inkommensurabilität die Beziehung zweier Strecken zueinander war und somit auf einer Ebene lag. Doch ohne diese Relation, die nicht endlich und damit endgültig genau angegeben werden kann, ergibt diese Aussage Fichtes keinen Sinn. Häufiger ist von „irrational" in der unmittelbar anschließenden zweiten Fassung der Wissenschaftslehre von 1804 die Rede, die Fichte in den M o naten April bis Juni vorgetragen hat 6 . In diesen greift er wiederholt den in den verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre verwandten Terminus „hiatus" wieder auf 7 , aber nur in dieser zweiten Fassung von 1804 präzisiert er ihn verschiedentlich als „hiatus irrationalis" 8 , den er an einigen Stellen ausdrücklich von einem „hiatus absolutus" absetzt 9 . Fichte erläutert aber nirgends den genaueren Sinn dieses „irrational" genannten „hiatus . Wenn von „hiatus" immer wieder im Zusammenhang einer „proiectio" 10 die Rede ist, so kann nur hieraus ein Interpretationshinweis erfolgen. Projektion ist hier nicht im Sinne Feuerbachs oder Freuds zu verstehen; vielmehr bedeutet Projektion bei Fichte ein Hervorbringen, ursprünglicher und genauer ein Sichhervorbringen, ein „Sichprojiciren" 11 ; die „Sichprojektion" ist dasselbe wie „eine Sichgenesis des Wissens" 12 : Innerliches Wesen der Projektion ist „lebendiges Principiiren" 13 .
6 Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Jahre 1804, in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, X: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie II, Berlin 1845/46, reprogr. Neudruck Berlin 1971. Zur Uberprüfung des Textes wurde herangezogen: Gereinigte Fassung, hg. von Reinhard Lauth und Joachim Widmann ( = PhB 284), Hamburg 1975. - Im folgenden zitiert als WL2 nach: Fichtes Werke X. 7 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794), in: Fichtes Werke, I 144, 152, 167 f, 170; Darstellung der Wissenschaftslehre a.d.J. 1801, in: ebd. II 40, 53, 121, 123; ferner: Die Thatsachen des Bewußtseins (1813), in: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie, ebd. IX 480. 9 9 WL2 203, 210-217, 242, vgl. 260. Ebd. 200, 276f, vgl. 225. 10 11 Ebd. 210, 260 u.ö. Ebd. 275ff. 12 15 Ebd. 260. Ebd. 282.
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Dieses „Sichprojiciren" bleibt aber nicht rein immanent 14 , vielmehr objektiviert es sich. Daher ergibt sich gegenüber der immanenten Projektion, die ohne „hiatus" bleibt15, eine Projektion „per hiatum" 16 . Zwischen Bewußtsein und Denken besteht nach Fichte eben dieser „hiatus" 17 . Diesen „hiatus" zwischen Objekt und Subjekt überwindet, „vernichtet" die über alle objektivierende Intuition erhabene Vernunft 18 . Wenn Fichte diesen Hiatus in der zweiten Fassung der Wissenschaftslehre von 1804 verschiedentlich präzisiert, so ist er sich doch nicht immer in dieser Präzisierung ganz sicher19. Was überhaupt „irrationalis" meint, kann nur versuchsweise aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Fichte expliziert weder sein Verständnis von „irrational" noch läßt er Zusammenhänge mit anderweitigem Gebrauch erkennen, aus dem sich ein Interpretationshinweis ergäbe. Die verschiedenen Zusammenhänge lassen darauf schließen, daß „hiatus irrationalis" zunächst die „Unbegreiflichkeit, und Unerklärlichkeit" der Bestimmheit der Einheit von Ansich und Nichtansich bedeutet 20 . Es besteht also eine Relation, und zwar eine bestimmte Relation, nämlich eine „Einheit", ohne daß das Einheitsstiftende dieser Relation angegeben werden kann; Fichtes „Realismus" ist nach seiner Aussage „nur in seiner Wurzel verborgen gebliebener Idealismus" 21 . Doch die Mitte zwischen Projektion und Projektum ist „finster und leer"22. Grund dafür ist, daß das Projizieren vorläufig als ohne Grund oder Prinzip geschehen erscheint 23 . Fichte kann daher die absolute Prinziplosigkeit mit dem „hiatus irrationalis" gleichsetzen, so daß es Aufgabe der Wissenschaftslehre ist, diesem grund- bzw. prinziplosen Projizieren sein Prinzip nachzuweisen 24 . Der Hiatus ist der „Sprung", der zunächst zwischen Bewußtsein und Wissen bzw. Wesen besteht. „Irrational" kann daher nur die anfängliche Dunkelheit, Unerklärlichkeit, Unbegreiflichkeit
14 Ebd. 275 f; dies ist dementsprechend kein „hiatus", sondern „per transsubstantiationem". 15 Vgl. ebd. 282, ferner 276: „nicht per hiatum und objective"; vgl. auch ebd. 215: „schlechthin ohne allen realen Hiatus im Wesen". 16 Ebd. 294, vgl. 276. 17 Ebd. 200, m.a.W.: Zwischen Anschauung und ursprünglich bestehendem Wissen, 277. 18 Vgl. ebd. 309, ferner 200. " Ebd. 260. 20 Ebd. 203 f. 21 Ebd. 22 Ebd. 210: „die absolute Projektion eines Objektes, über dessen Entstehen keine Rechenschaft abgelegt werden kann, wo es demnach in der Mitte zwischen Projektion und Projektum finster und leer ist, wie ich es ein wenig scholastisch, aber, denk' ich, sehr bezeichnend ausdrückte, die proiectio per hiatum irrationalem." Vgl. auch ebd. 212; ebd. 242 spricht Fichte vom „hiatus" als von „dem bekannten Tode der Vernunft". 23 Ebd. 216. 24 Ebd. 217.
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meinen, die f ü r die Angabe der Beziehung zwischen beiden besteht. Es ist also keine bleibende, prinzipielle Dunkelheit. Aufgelöst wird sie durch Aufdeckung der Genese des Zusammenhangs. Es läßt sich nirgends erkennen, daß Fichte die in der ersten Fassung der Wissenschaftslehre von 1804 genannte Vorstellung der Inkommensurabilität auch in der zweiten Fassung von 1804 noch aufrecht erhält 25 und daß diese auf eine präzise mathematische Bedeutung schließen läßt. O f f e n k u n dig verwendet Fichte den Terminus „irrational" zur Bezeichnung einer Beziehung. Darin kommt die ursprüngliche mathematische Bedeutung zum Vorschein, die von der Inkommensurabilität von Strecken ausging. Doch ist diese Bedeutung bei ihm bereits sehr verblaßt. „Irrational" ist aber keinesfalls die Sichkonstruktion des Seins26, das Absolute 27 , das Wissen in seinem Wesen. D a ß dieses bei aller Disjunktion mit dem Bewußtsein eins bleibt, stellt Fichte nachdrücklich fest 28 . So reduziert sich der Hiatus auf einen Hiatus „nur in Rücksicht des Wie" des Zusammenhangs 2 9 . N u r deswegen ist es überhaupt möglich, genetisch die Einheit aufzudecken und den Hiatus zu überwinden. Auch darin bestätigt sich, daß „irrational" nicht zur Bezeichnung des Seins bzw. des Absoluten dient, sondern ausschließlich zur Bezeichnung einer im Projizieren nach außen begründeten Relation. Freilich verwendet Fichte diesen Terminus im philosophischen Kontext, ohne deutlich oder gar durchgängig eine metaphorische Verwendung kenntlich zu machen. In diesem und nur in diesem Sinn kann bei Fichte ein erster Anfang eines unmetaphorischen philosophischen Gebrauchs von „irrational" gesehen werden. Fichte hat jedoch die ursprüngliche Bedeutung von „irrational" gekannt. Wenn sie in Brieftexten genannt wird, darf man darin vielleicht ein Zeichen d a f ü r sehen, daß „irrational" zunächst in direktem Austausch gebraucht werden konnte, wie er im mündlichen Gespräch oder in persönlichen Briefen erfolgt; die Verwendung in wissenschaftlichen Texten scheint demgegenüber ein neuer Schritt, bei dem die Direktheit verloren geht, aus der sich nicht selten wichtige Hinweise f ü r das Verständnis des Gemeinten ergeben. In seiner Auseinandersetzung mit Schelling geht es Fichte darum, diesem seine Wissenschaftslehre hinsichtlich des Verhältnisses von Bewußtsein des Individuums und der Geisterwelt deutlich zu machen. Die Wissenschaftslehre sieht Fichte als das „universelle Bewußtsein der gesummten Geisterwelt als solches" an, das Individuum als eine „besondere Ansicht"
" Vgl. dazu den im folgenden zitierten Brieftext Fichtes. 26 WL 2 218, 260 u.ö. 27 Ebd. 240. 28 Vgl. bes. ebd. 258. 29 Ebd. 216.
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dieses universalen Bewußtseins aus einem eigenen Standpunkt, der für das universale Bewußtsein undurchdringlich ist. Nicht der Wissenschaftslehre, sondern nur dem Leben ist dieser (Stand)Punkt durchdringlich. Diesen Sachverhalt exemplifiziert Fichte wie folgt: „Jedes Individuum ist ein rationales Quadrat einer irrationalen Wurzel, die in der gesammten Geisterwelt liegt, und die gesammte Geisterwelt ist wiederum rationales Quadrat der - fiir s i e und ihr universelles Bewußtsein, welches jeder hat und haben kann - irrationalen Wurzel = dem immanenten Lichte oder Gott." 3 0
Fichte führt die Metaphorik nicht näher aus, inwiefern das Individuum ein rationales Q u a d r a t (das gar nicht „irrational" sein kann) ist und inwiefern es rationales Q u a d r a t einer irrationalen Wurzel ist (während es doch auch rationale Quadratwurzeln gibt), inwiefern die Geisterwelt ihrerseits rationales Q u a d r a t der irrationalen Wurzel, nämlich des immanenten Lichts bzw. Gottes ist. Deutlich ist aber, daß Fichte durch die Verwendung dieser mathematischen Begriffe eine Relation zum Ausdruck bringen will, nicht aber die Unerkennbarkeit des Individuums, der Geisterwelt oder des absoluten Lichts in sich. Letzteres ist deswegen nicht „irrational", weil es „reine Durchsichtigkeit" ist, „Licht, nicht das Licht zurückwerfender Körper" 3 1 . Auch soll die Angabe der Relation keine Größenordnung enthalten, als ob das Individuum im Vergleich zur Geisterwelt als deren Q u a d r a t angesehen werden könnte. Zur metaphorischen Verwendung gehört also nicht mehr die Relation von Wurzel und Q u a d r a t . Abheben will Fichte vielmehr darauf, daß im Vergleich zum Individuum die Geisterwelt und im Vergleich zur Geisterwelt Gott nicht in einem endlichen Begriff adäquat zum Ausdruck gebracht werden kann. Nicht mehr metaphorisch bezeichnet Fichte die Unerkennbarkeit des Individuums von der Geisterwelt her, von der er im gleichen Zusammenhang spricht. „Irrational" ist also streng als Ausdruck eines Bezugs gebraucht. Gegenüber dieser Stelle ist jene andere aus einem Brief an Jacobi weniger aufschlußreich. Fichte spricht hier über Aussagen von Friedrich K o p pen, dessen Weisheit darauf hinauszulaufen scheine, „daß dem Wissen immer etwas vom Begriffe durchaus nicht zu Durchdringendes, ihm Incommensurables und Irrationales übrig bleibe" 3 2 . Auch hier ist nicht das Wissen in sich als „irrational" bezeichnet; vielmehr ist „irrational", daß das Wissen nicht definitiv vom Begriff erfaßt und wiedergegeben werden 30 Johann Gottlieb Fichte, Brief an Schelling, 31.5., 7.8.1801, zit. nach: Johann Gottlieb Fichte's Leben und literarischer Briefwechsel, hg. von Immanuel Hermann Fichte, II, Leipzig 2 1862, 345. 51 Ebd. " Johann Gottlieb Fichte, Brief an Jacobi, 31.3.1804, zit. ebd. 176; diese Stelle erscheint bei S. Rücker, aaO. 583, als zentrale Aussage Fichtes über seine eigene Position, während er doch hier Koppen referiert!
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kann. Somit ist auch nicht das „Unbegreifliche" das „Irrationale", wenn Fichte wenig später in diesem Brief Jacobi die Frage stellt, ob nicht Philosophie das „Begreifen des Unbegreiflichen" sei33. Sind in der Wissenschaftslehre Fichtes die Aussagen über „irrational" zu knapp, um die Frage zu entscheiden, ob der mathematische Hintergrund noch wirksam ist, so lassen die Brieftexte diese Frage mit Ja beantworten. Somit kann von einem unmetaphorischen Gebrauch von „irrational", der die ursprüngliche mathematische Bedeutung nicht mehr kennt, bei Fichte schwerlich gesprochen werden. Der Begriff „irrational" bleibt hier also eingeschränkt und wird ausdrücklich nicht auf etwas bezogen, was im späteren Sprachgebrauch als „irrational" bezeichnet wird. So wird das „Unnennbare" oder etwas, das Fichte betonend „undenkbar und unbegreiflich" nennt, nicht als „irrational" bezeichnet 34 . Erst recht gilt dies für die freilich frühe Aussage über das „Ding an sich", von dem es bei Fichte ausdrücklich heißt, „dass es die völligste Verdrehung der Vernunft, dass es ein rein unvernünftiger Begriff ist"35. Von „irrational" ist bei Fichte schließlich an zahlreichen Stellen nicht die Rede, wo er sich ausdrücklich auf die Mathematik bezieht 36 . Aus all dem darf der Schluß gezogen werden, daß sich bei Fichte nur ein präziser Gebrauch von „irrational" mit einer bestimmten, eingeschränkten Bedeutung annehmen läßt. „Irrational" ist bei ihm ein Relationsbegriff zur Bezeichnung einer Inkommensurabilität der beiden Glieder, die miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn sich bei Fichte „irrational" bereits in philosophischen Texten findet, so kann man gleichwohl nicht eigentlich schon bei ihm vom Beginn einer philosophischen Verwendung von „irrational" sprechen.
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Diese Frage bringt S. Rücker, ebd., im unmittelbaren Anschluß an die zuvor von ihr zitierte Aussage über das Irrationale, ohne daß die Frage Fichtes noch deutlich gemacht wird und ohne daß Rücker selbst fragt, ob diese Aussage in einer einlinigen Weiterführung zur vorherigen gesehen werden darf. - Daß Rücker nicht gesehen hat, was „irrational" bei Fichte bedeutet, wird auch darin deutlich, daß sie aus der „proiectio per hiatum irrationalem" eine „irrationale Leerstelle" gemacht hat. 14 Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1800), in: Fichtes Werk II 281 bzw. 316; vgl., daß im Zusammenhang mit dem Willen, „wie er im geheimen Dunkel meines Gemüths vor allen sterblichen Augen verschlossen liegt", ebensowenig von „irrational" die Rede ist wie wenig später, wo Fichte von einer „unsichtbaren und schlechthin unbegreiflichen" Welt spricht, „in der der Wille entscheidet", 282. 35 Vgl. die Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1897), in: Fichtes Werke 1 472, vgl. 481, 486, 500 u.ö. 36 Vgl. z.B. Fichtes Werke I 383, 439, 447; II 323, 326ff, 370ff, 403; IX 28f, 40; X 112, 430.
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3.3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Eine besondere Bedeutung hat in unserem Zusammenhang Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854). Wenn in der Philosophiegeschichte Positionen unter dem Stichwort „Irrationalismus" abgehandelt werden, erfährt Schelling eine besondere Würdigung, erscheint er doch als der eigentliche Begründer eines solchen „Irrationalismus"1. Während Jacobi noch eher als ein Antirationalist angesehen wird, gilt Schelling als derjenige, der „im Absoluten selbst die Unvernünftigkeit entdecken wollte" 2 . Damit wird die These formuliert, daß Schelling nicht mehr nur gegen den vorausgegangenen Rationalismus vor allem Kants protestiert hat, sondern daß er die der menschlichen Vernunft nicht zugängliche Wirklichkeit als unvernünftig bezeichnet habe. Entsprechend kann seine Spätphilosophie als „Metaphysik des Irrationalen" bezeichnet werden 3 . Schellings Philosophie in dieser Weise unter den Oberbegriff „Irrationalismus" zu subsumieren, gilt nicht einmal als nachträgliche Einordnung, man glaubt vielmehr, sich hierfür auf Schelling selbst berufen zu können. Als Beleg sei ein philosophisches Wörterbuch angeführt; dessen Aussage ist deswegen besonders gravierend, weil sich in Wörterbüchern generell geteilte Meinungen am direktesten widerspiegeln: „Schelling nennt das I(rrational).e ,an den D i n g e n die unbegreifliche Basis der Realität, das, w a s sich mit der größten A n s t r e n g u n g nicht in Verstand a u f l ö s e n läßt, sondern e w i g im G r u n d e bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentl. Sinne der Verstand geboren'." 4
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Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, II, 355-394, behandelt unter diesem Stichwort Jacobi, Schelling speziell hinsichtlich seines Spätwerks, Schopenhauer und Feuerbach. - Die Philosophiegeschichte von Windelband wird hier deswegen besonders berücksichtigt, weil Windelband selbst für unseren Zusammenhang eine beträchtliche Bedeutung hat, wie noch zu zeigen sein wird. 2 Ebd. 364 f. - Daß die Klassifizierung „irrational" für die Philosophie Schellings verbreitet ist, läßt sich auch in anderen Philosophiegeschichten belegen, vgl. Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Freiburg 4 1960, II 358; bes. instruktiv ist: Hermann Glockner, Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1958, hier 833 ff. 3 Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg. von Heinz Heimsoeth, Tübingen ls 1957, 488, bes. 530 ff. 4 Philosophisches Wörterbuch, begründet von Heinrich Schmidt, neu bearbeitet von Georgi Schischkoff, Stuttgart 21 1978, 324. Das Schellingzitat ist ohne Stellenangabe und nicht korrekt wiedergegeben; im Original lautet es: „an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich...". Das Zitat findet sich in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart - Augsburg 1856ff, l.Abt., VII 359f; Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, München 1927, l.Abt. IV 251 f. - Im folgenden werden die Verweisstellen zunächst nach der
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Dieser Text ist ein Paradebeispiel für unbemerkte Eintragung eigener Vorstellungen und Annahmen. Denn an dieser verkürzt zitierten Stelle Schellings fällt das Wort „irrational" nicht. Schelling nennt also den zitierten Sachverhalt nicht selbst „irrational". Die eigene Vorstellung von dem, was das „Irrationale" sei, führt zu der im Zitat des Wörterbuchs noch kenntlichen, dem Autor aber nicht mehr bewußten Aussage; korrekt ist der Begriff „das Irrationale" vor das eigentliche Zitat gestellt. Im folgenden wird zu zeigen sein, daß das Zitat des Wörterbuchs an Schellings Konzeption vorbeigeht. Richtig ist, daß Schelling sehr wohl eine Vorstellung von dem hat, was „irrational" genannt werden kann, findet sich doch dieser Begriff in verschiedenen Zusammenhängen, wenn auch eher selten und nicht in den zentralen Zusammenhängen, derentwegen er später als Vertreter des „Irrationalismus" gilt. Wenn Schelling also als solcher bezeichnet und behandelt wird, muß er entweder einer Selbsttäuschung unterlegen sein, nämlich nicht gemerkt haben, daß er tatsächlich einen „Irrationalismus" vertritt, oder aber die Autoren, die Schelling diesem zurechnen, haben nicht gemerkt, daß sie inzwischen eine Vorstellung von „irrational" haben, die sich nicht mit Schellings Auffassung deckt. Schelling würde beide Male gegen sein Selbstverständnis als Vertreter des „Irrationalismus" bezeichnet worden sein. Jedenfalls läge dann, auch wenn dies nicht bemerkt und reflektiert worden ist, eine Bedeutungsänderung vor. Sucht man die Bedeutung von „irrational" bei Schelling zu klären, so empfiehlt es sich, mit einer Aussage zu beginnen, die jenen Schlegels und Fichtes noch vorausliegt, mit denen Schelling in Jena 1798-1803 zusammen war. Aus dieser ergibt sich zunächst, daß Schelling die ursprüngliche mathematische Verwendung von „irrational" als Metapher eines philosophischen Sachverhalts durchaus kennt. Wie jede Irrationalzahl in der Mathematik eigentlich nichts bedeutet „als die Aufgabe, sich dieser Zahl ins Unendliche fort anzunähern", so „sind in der Philosophie Gott und Unsterblichkeit unendliche Aufgaben" 5 . Gleichwohl kann Gott und Unsterblichkeit nicht deswegen, weil sie unendliche Aufgaben sind, alle Realität abgesprochen werden; dies zu tun, wäre nach Schelling widersinnig. Die Bezeichnungen „rational" und „irrational" sind darauf bezogen, daß unendliche Aufgaben der Philosophie wie Gott und Unsterblichkeit in der Zeit in Angriff genommen werden können und müssen, d. h. in der Gegenwart, aber in keiner Gegenwart erschöpft werden können und insofern für 1. Gesamtausgabe angegeben, wie sie in der späteren Ausgabe von Schröter zu finden sind; nach einem Semikolon werden sodann die Verweise auf diese Ausgabe von Schröter genannt, aus der auch die Texte zitiert sind. - Für die Verifizierung dieses Zitats danke ich Ernst Müller. 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/97), I 451 f; I 375 f.
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eine unendliche Zeit Aufgaben sind. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen jeder Gegenwart und dieser unendlichen Zeit. Es gibt Aufgaben, deren Lösung es sich in unendlicher Zeit immer mehr zu nähern gilt. Das tertium comparationis der Verwendung von „rational" und „irrational" ist die Aufgabe einer unendlichen Annäherung. „Was an jenen unendlichen G r ö ß e n rational ist, d . h . w a s wir davon verstehen (ermessen) k ö n n e n , liegt in jeder Gegenwart, was daran irrational ist allein (was nicht z u m g e g e n w ä r t i g e n praktischen Vernunftgebrauch gehört), liegt in der U n endlichkeit." 6
Nicht also die „unendlichen Größen" als solche sind „irrational", vielmehr ist ihr Bezogensein auf die Zeit ihrer Lösung „rational" bzw. „irrational", womit ein Verhältnis angegeben ist zwischen Aufgabe und Zeit der Lösung; dabei meint „irrational" die im Endlichen nicht mögliche Lösung von Aufgaben bezüglich unendlicher Größen. „Irrational" bedeutet hier also weder unvernünftig noch übervernünftig. Daß „irrational" der Bezeichnung eines Verhältnisses (wie in der Mathematik) dient, läßt sich auch anderwärts bei Schelling eindeutig belegen. Die Nichtabsolutheit eines Besonderen, d. h. eines Endlichen, wird nicht durch das Allgemeine eingesehen, sondern durch etwas außer dem Besonderen Liegendes, durch das es bestimmt ist und zu dem das Besondere „ein irrationales Verhältniß" hat 7 . Hier wird nicht das Absolute als das das Nichtabsolute Bestimmende „irrational" genannt, sondern die Relation, die vom Nichtabsoluten zum außer ihm Liegenden besteht, durch die es bestimmt ist8. Im Zusammenhang mit Überlegungen über die Seele, die ihren Abfall vom Absoluten erkennt und zugleich ein Absolutes zu sein strebt 9 , spricht Schelling von der Erkenntnis der Seele durch ein Mittelwesen und stellt dazu fest, daß alles endliche Erkennen „nothwendig ein irrationales" ist, „das zu den Gegenständen an sich nur noch ein indirektes, durch keine Gleichung aufzulösendes Verhältniß hat" 10 . „Irrational" sind also nicht die „Gegenstände an sich" oder das Absolute, sondern das nicht definitiv angebbare Verhältnis des Erkennens zu dessen Gegenständen an sich. Aus dem Kontext ist zu entnehmen, daß es in diesem Zusammenhang um das Erkennen des Absoluten geht. Entsprechend wird umgekehrt auch die Relation des Absoluten zum Endlichen, genauer zur endlichen Seele als indiVernunft