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German Pages [338] Year 2017
Christian Johann
Anreiz, Moral, Verdienst Die Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat der USA von Großer Depression bis 1972
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)
Band 226
Vandenhoeck & Ruprecht
Christian Johann
Anreiz, Moral, Verdienst Die Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat der USA von Großer Depression bis 1972
Vandenhoeck & Ruprecht
Für Elisabeth, Jonas und Nora
Umschlagabbildung: Walker Evans: Middle class houses of the town. Birmingham, Alabama (1936). Quelle: Farm Security Administration – Office of War Information Photograph Collection. Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, DC 20540, fsa 8c52172 // hdl.loc.gov/loc.pnp/fsa.8c52172
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-35207-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Helfen und Planen: Washingtons Wohnungspolitik, 1932–1945 . . . . 33 2.1 Alabama und Birmingham vor der Großen Depression . . . . . . 36 2.2 Die Lage der white collar workers: Lorena Hickoks Bericht aus Birmingham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3 Cahaba Village: städtebauliches Provisorium mit Modellcharakter, 1934–1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4 Die Arbeitsgruppe No Man’s Land Housing und die »vergessene Mitte« der Wohnungspolitik, 1944–1945 . . . . . . 57 3. Reformen und Alternativen: Social Security, 1950–1954 . . . . . . . . 67 3.1 Rentenalternative und »falsche Religion«: der Townsendplan . . . 72 3.2 Der Begriff welfare in wohlfahrtsstaatlichen Debatten im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.2.1 Aid to Dependent Children als typisches welfare-Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2.2 Wahrnehmungswandel und Warnungen: welfare nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.3 Konkurrierende Konzepte: Die zwei Renten OAA und OAI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.3 »I have been wronged«: Die parlamentarische Untersuchung des Rentensystems durch das Curtis Committee, 1953 . . . . . . . . 99 3.3.1 Anreiz zum Sparen: Die Analyse des earnings tests durch die SSA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.3.2 Versicherung oder Vertrag? Rentendebatten der frühen fünfziger Jahre am Beispiel der Anhörung von Arthur J. Altmeyer vor dem Curtis Committee . . . . . 114 3.3.3 Das Zwischenfazit des Curtis Comittees . . . . . . . . . . . . 117 4. Kosten und Ideale: Wohnungspolitik in und um Birmingham bis zum Ende der sechziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.1 Bevölkerung und Wohnungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg . 125 4.2 Chestnut Hills: Die Mittelklasse und ihre Vorstellung vom idealen Wohnviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5
4.2.1 Das Idealbild des Wohnviertels in den fünfziger Jahren . . 134 4.2.2 Chestnut Hills zu Beginn der sechziger Jahre . . . . . . . . 142 4.3 Neue Steuern für die Mittelklasse der Suburbs: Die occupational tax von 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.3.1 Die Einführung und Abschaffung einer occupational tax in Birmingham . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.3.2 Ausblick: Birminghams Suburbs nach der gescheiterten occupational tax . . . . . . . . . . . . . . . 163 5. Skepsis und Gegner: Die untere Mittelklasse und neue Formen der Kritik am Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.1 Abgrenzungstendenzen der unteren Mittelklasse entlang wohlfahrtsstaatlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.1.1 Die Middle Americans als wohlfahrtsstaatlich bedingte gesellschaftliche Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.1.2 »The Problem of the Blue-Collar Worker«: Der Rosow Report, 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.1.3 White collar worker und blue collar worker als Teil der Mittelklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5.1.4 Die Abgrenzung der Mittelklasse von den Reichen um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.2 Förderung von Eigenheimerwerb: Home Mortgage Interest Deduction und Section 235, 1967–1973 . . . . . . . . . . . . 186 5.2.1 Absetzbare Hypothekenzinsen als »versteckte« wohlfahrtsstaatliche Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5.2.2 Steuerpolitik als Verbindung von Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.2.3 »We are subsidizing the wrong people in the wrong housing.« Section 235 als umstrittene Subventionierung, 1968–1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.3 Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat: welfare mess und Directors Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.3.1 AFDC und Social Security als wohlfahrtsstaatliche Pole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.3.2 Directors Gesetz als neue Form der Kritik am Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.3.3 Familie und Steuern im Wohlfahrtsstaat der späten sechziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 5.3.4 Die welfare mess als Ausdruck der Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
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6. Alte Lasten und neue Formeln: Die Neustrukturierung des Wohlfahrtsstaats um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6.1 Das System der »Urban Incentive Tax Credits« als Plan zur Rückführung der Mittelklasse in die Stadt . . . . . . . . . . . . 246 6.2 Der FAP als Plan zur wohlfahrtsstaatlichen Vereinheitlichung . . 253 6.2.1 Der Family Assistance Plan: Inhalt und Gesetzgebungsverlauf der Reform . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.2.2 Die gescheiterte Reform: Die Ursachen für den Misserfolg des FAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6.3 Die Rentenreform von 1972: Erhöhung und Automatisierung . . . 284 6.3.1 Die Herauslösung des FAP aus dem Gesetz H. R. 1 und das Scheitern der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.3.2 Die Effekte der Rentenreform von 1972 . . . . . . . . . . . . 291 6.4 Die Folgen der Rentenreform von 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7. Fazit: Die Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat der USA . . . . . . . . . . . 301 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Verwendete Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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1. Einleitung »And what a century it has been. […] Americans produced a great middle class and security in old age.« Bill Clinton, 20. Januar 1997
Zwanzig Sekunden pfiff, knirschte und surrte es. Dann stand die Verbindung. Wer zu den vierzig Millionen Menschen gehörte, die 1997 über einen Internetzugang verfügten, konnte am 20. Januar mehrere Premieren erleben. Nachdem sich das piepsende und knackende Modem erfolgreich eingewählt hatte, musste nur noch die richtige Homepage angesteuert werden, um schließlich der ersten live im Internet übertragenen Vereidigung eines amerikanischen Präsidenten beizuwohnen. Mit William Jefferson Clinton legte der erste demokratische Gewinner zweier Präsidentschaftswahlen seit Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Eid ab. An diesem 20. Januar 1997 verwendete Clinton kurz nach zwölf Uhr mittags als erster Präsident den Begriff middle class in einer Rede zur Amtseinführung: »Americans produced a great middle class and security in old age.«1 Clinton bezeichnete die Mittelklasse in dieser letzten inaugural address des 20. Jahrhunderts als ein prägendes Merkmal der USA. In seiner Rangliste epochaler Errungenschaften tauchte sie als Triumph neben dem Aufstieg zur größten Industrienation sowie den Siegen in zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg auf. Noch vor der Spaltung des Atoms und der Erfindung des Mikrochips, den erkämpften Bürgerrechten für Afroamerikaner und der Ausweitung der Rechte der Frau verwies der 42. Präsident auf die »great middle class«. Für ebenso wichtig befand Clinton die Einführung der Rentenversicherung.2 Zwei Dinge machen Clintons Resümee auf den ersten Blick bemerkenswert. Journalisten und Politiker messen der Mittelklasse heute immense Bedeutung zu.3 Ist es nicht erstaunlich, dass sie vor 1997 in keiner Amtseinführungsrede erwähnt wurde? Die Mittelklasse ist heute als Adressat und Kampfbegriff aus Wahlkämpfen und öffentlichen Debatten nicht fortzudenken. Drückte die Seltenheit ihrer Erwähnung nur ein Unbehagen der Präsidenten aus, den
1 Clinton, Inaugural Address. 2 Hier stimmt Clinton dem Historiker Christoph Conrad zu, der festhielt: »[…] das von Erwerbsarbeit entlastete Alter als erwartbare Lebensphase für die überwiegende Mehrheit […] gilt als Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.« Conrad, S. 417. 3 Das Bemühen der Exekutive war seit 2009 öffentlichkeitswirksam in der Middle Class Task Force unter der Leitung von Vizepräsident Joseph Biden gebündelt.
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marxistisch konnotierten Begriff »Klasse« zu verwenden?4 Oder stand die Mittelklasse erst im Rückblick auf das 20. Jahrhundert, das American Century, als positive Errungenschaft fest? Der zweite bemerkenswerte Aspekt ist die Hervorhebung der staatlichen Altersvorsorge. Sie ist der Mittelklasse in der Ansprache direkt beigestellt.5 Die Nähe der beiden Begriffe in Clintons Ansprache ist ein erstes Indiz für eine selten beschriebene Wechselbeziehung dieser beiden essenziellen gesellschaftlichen Formierungen.6 Die Korrelation zwischen der von Clinton als great geadelten Mittelklasse und dem Wohlfahrtsstaat wird hier analysiert.7 Dabei bezieht sich die Arbeit auf den Wohlfahrtsstaat als ein gesellschaftsstrukturierendes Arrangement,8 das mit besonderer Berücksichtigung der Mittelklasse untersucht wird. Damit soll die kaum zufriedenstellend fassbare Mittelklasse historisch und in Verbindung mit dem Wohlfahrtsstaat definiert werden.9 Eine konzise Definition scheint dennoch für die Mittelklasse ebenso schwer zu bestimmen wie für den Wohlfahrtsstaat.10 Verständlicherweise blickten Historiker, die sich diesem widmeten, zunächst auf Armut und die Armen.11 Statt ihnen, die üblicherweise die »Markierten« im System Wohlfahrtsstaat sind, werden hier mit den Nicht-Armen vielmehr die »Markierer« in den Fokus genommen. »Looking at class as a social and cultural construct as well as a financial or political one«, streicht die Historikerin Marina Moskowitz heraus, »we may begin to capture not only how class is defined but also how it is experienced.«12 Ein Ziel der Arbeiten von Moskowitz liegt in der Entsozioökonomisierung von class.13 Damit soll die Vorstellung von Klasse von öko4 Die Historikerin Martha Derthick betonte, wie insbesondere in wohlfahrtsstaatlichen Zusammenhängen das Thema gemieden wurde, vgl. Derthick, S. 371; die Soziologin Jill Quadagno diskutiert den Zusammenhang von marxistischen Gesellschaftstheorien und dem Wohlfahrtsstaat, vgl. Quadagno, S. 111–118. 5 Interessanterweise ging Clinton als Präsident in die Geschichte ein, dem zugeschrieben wurde, die welfare mess, beseitigt zu haben. Seine Reform, die eines seiner ersten Wahlkampfversprechen – »to end welfare as we know it« – erfüllte, markierte das Ende des jahrzehntelang kritisierten welfare-Programms Aid to Families with Dependent Children (AFDC). Damit schlug er den Bogen zu Präsident Nixon, der 1969 ähnliche Vorschläge gemacht hatte (siehe hierzu auch Kapitel 6 dieser Arbeit). 6 Für Deutschland liegt diese Analyse bereits vor, siehe Hilpert sowie Nolte u. Hilpert. 7 Politikwissenschaftler konstatierten, dass der Mittelklasse seit Beginn der siebziger Jahre immer häufiger das Epitheton »great« vorangestellt wurde, vgl. Skolnick u. Currie, S. 104. 8 Als solches versteht den Wohlfahrtsstaat auch Vogel. 9 Zu diesem Problem aus transnationaler Perspektive siehe López u. Weinstein, Middle Class. 10 Auch die internationale Konferenz »The European Welfare State in a Global Context« am German Historical Institute London im April 2013 fand keine solche Definition. Sonderfälle wurden für Regionen, Jahrzente und Nationen ausgemacht, siehe Huber u. Kramer. 11 Der Workshop »Armut, Sozialpolitik und soziale Ungleichheit seit 1945« im Oktober 2012 in Freiburg folgte der deutlich häufiger anzutreffenden Leitfrage nach Ursachen und Konsequenzen sozialer Ungleichheit, siehe Haßdenteufel. 12 Moskowitz, Aren’t, S. 78. 13 Vgl. dies., Elephant.
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nomischen Faktoren wie Beruf und Einkommen entkoppelt werden. Gelänge es, Klasse unabhängiger von der Einkommenshöhe zu verstehen, könnte ein Beitrag zu einer diskursiven Auseinandersetzung geleistet werden, die in anderen sozialwissenschaftlichen Bereichen bereits länger im Gange ist. Ebenso wenig wie die Biologie heute als einzige Quelle für die Definition von race herangezogen wird, stellt die Physiognomie eines Menschen das einzige Kriterium für sein Geschlecht dar. So könnten nach der Entbiologisierung von race und der Entphysiognomisierung von gender alle drei Bestandteile der Triple-OppressionTheory davon befreit werden, ausschließlich normativ definiert zu werden.14 Die Aggregate Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse standen selten gemeinsam im Fokus von Historikern.15 Eine geschichtswissenschaftliche Analyse muss beiden Themen gerecht werden, ohne eines exklusiv und oder abschließend untersuchen zu können. Der Fokus liegt daher nicht auf einem der beiden, sondern auf gegenseitigen Beeinflussungen.16 Einen ersten Zugang verspricht die Hypothese, dass der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit nicht alle gleich behandelte. Ein als berechtigt empfundener Zugang zu seinen Leistungen schien vielmehr eng mit bestimmten Kriterien verbunden zu sein. Der Wohlfahrtsstaat der USA Der Wohlfahrtsstaat ist Drehscheibe gesellschaftlicher Veränderungen. Er gleicht Ungleichheiten und Benachteiligungen nicht nur aus, sondern kreiert sie auch, sagt der Soziologe Stefan Hradil. Er nennt ihn »Produzent ungleicher Lebensbedingungen«.17 Kombiniert mit der Diagnose von Franz X. Kaufmann zur Legitimität der Ungleichheit in den USA,18 ergibt sich die Frage, ob und wie der Wohlfahrtsstaat hier Teil gesellschaftlicher Hierarchisierung war. Vergleicht man Untersuchungen zu beiden Themenbereichen, sticht heraus, dass die Vereinigten Staaten in der Forschung zum Wohlfahrtsstaat regelmäßig als laggard, also Nachzügler, charakterisiert wurden. Das Gegenteil scheint dagegen für die Mittelklasse der USA zuzutreffen. Sie gilt als leader.19 Ihr Lebensstil erschien als Vorbote für weltweite Entwicklungen. Die damit verbundenen Bilder wurden tausendfach rezipiert. Wer kennt nicht das Arrangement des an der Garage installierten Basketballkorbs in der ruhigen Suburb, in welche der Vater nach der Arbeit zu seiner Familie zurückkehrt? Weit weniger präsent ist das Bild des US-Wohlfahrtsstaats.
14 Vgl. dies., Aren’t, S. 78. 15 Für eher polemische Charakterisierungen und journalistische Fragestellungen siehe Longman, Zepezauer, Ehrenreich. 16 Vgl. López u. Weinstein, Middle Class. 17 Hradil, S. 136. 18 Vgl. Kaufmann. 19 Vgl. die Einleitung in: López u. Weinstein, Middle Class.
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Ein Sozialstaatsprinzip ist in der Verfassung der USA nicht erwähnt.20 Die Diagnose, dass Arme gleichzeitig berechtigt waren, Hilfe zu erhalten, sie durch die Annahme von Hilfe aber auch zum Ziel von Diskriminierung wurden, ist bereits älter.21 Zwei extreme Ansichten können dabei unterschieden werden. Das eine Extrem schreibt Armut individuellem Fehlverhalten zu: Arme gelten hier als faul und unmoralisch. Aus einem solchen Mangel an Kerntugenden einer protestantischen Arbeitsethik kann leicht der Schluss gezogen werden, dass Arme Hilfe eigentlich nicht verdient hatten. Das gegenüberliegende Extrem gibt nicht den Armen die Schuld an ihrer Armut. Hier werden globale Faktoren wie die Wirtschaftslage oder vielfältige Formen von Diskriminierung als Armutsursachen geltend gemacht. Keine dieser Ansichten bestand exklusiv von der anderen. Vielmehr ergänzten sich beide.22 Zwei Kategorien von wohlfahrtsstaatlicher Hilfe sollten daher voneinander unterschieden werden. Eine erste galt als milde Gabe. Sie wurde als dole bezeichnet und später als welfare. Ein übergeordneter Begriff lautete public assistance. In der amerikanischen Version der Elisabethanischen Armengesetze war diese Hilfe nicht unbedingt an vorherige Leistungen, wie Beiträge oder Militärdienst, gebunden. Sie galt nicht zwangsläufig als unverdient. Sie konnte aber, auch Jahrzehnte nach ihrer Einführung, als unverdient neubewertet werden. Eine zweite Kategorie wohlfahrtsstaatlicher Leistungen galt als legitime und verdiente Hilfe. Beschreibungen von Hilfen dieser Kategorie charakterisierten sie nicht als bloße Hilfen. Die Altersrente Social Security etwa war vielmehr umgeben vom Nimbus der gerechten Entschädigung. Ein übergeordneter Begriff hierfür war social insurance. Seit einigen Jahren wird vermutet, dass ein versteckter Wohlfahrtsstaat die wahren Ausmaße amerikanischer Sozialpolitik im 20. Jahrhundert verschleierte.23 So engagierten sich Regierungen und Behörden in den USA in Zeiten des Wohnungsmangels zwar auch direkt in wohnraumschaffenden Projekten.24 Der weit häufiger beschrittene Pfad war jedoch, Familien den Kauf von Einfamilienhäusern zu ermöglichen und sie dazu durch finanzielle Anreize zu ermutigen.25 Wohnten im Jahr 1940 vier von zehn Amerikanern im eigenen Haus, so waren es 1950 schon mehr als fünf. Zur Jahrtausendwende lebten schließlich mehr als zwei Drittel aller amerikanischen Familien in den eigenen vier Wänden.26 Diese Entwicklung wurde durch Steuervergünstigungen erleichtert. Komponenten des Wohlfahrtsstaats, wie diese Vergünstigungen, wurden lange übersehen. Die 20 Präambel und Taxing and Spending Clause erwähnen lediglich das weit interpretierbare »general welfare«. 21 Der Historiker Neil Betten unterschied in einer Übersicht von 1973 zwischen einer feindseligen und einer umweltbedingten Sicht auf Armut in der Nachkriegszeit, siehe Betten, S. 1–5. 22 Vgl. Fackler. 23 Siehe Howard, Nobody; Hacker, Divided. 24 Ein Beispiel waren Wohnungen für Beschäftigte von Munitionsfabriken. 25 Siehe Eggert u. Krieger. 26 Vgl. Martinez, S. 468.
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Addition indirekter Ausgaben zu den Kosten von Sozialpolitik, aber auch der Blick auf gesetzliche Reglementierungen, offenbart, dass der Wohlfahrtsstaat größer und kostspieliger war, als lange angenommen.27 Eine Zusammenzählung direkter und indirekter Hilfen deutet auch darauf hin, dass mehr Menschen vom Wohlfahrtsstaat profitierten als bislang vermutet. Während der Großen Depression errichtete Modellsiedlungen oder auch Stadtentwicklungskonzepte, die möglichst homogene Wohnviertel schaffen sollten, lassen vermuten, dass die Vorstellung von der Mittelklasse eine normgebende Funktion für den Wohlfahrtsstaat hatte. Diente sie Planern und Experten als Ideal? Zu den vielfältigen Konsequenzen der gegenseitigen Beeinflussungen von Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse gehörte auch, dass Armut ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend als Abweichung von einer Norm verstanden wurde, die durch die Mittelklasse gesetzt wurde. Wie Clintons eingangs zitierte Rede zeigt, erschien die Mittelklasse spätestens 1997 als Projektionsort. Sie stand dabei für die Subsumtion bestimmter kultureller Signets. Aller Varianten der amerikanischen Legende des Aufstiegs from rags to riches, vom Tellerwäscher zum Millionär, zum Trotz war die Mittelklasse in der Nachkriegszeit der eigentliche Sehnsuchtsort. Sie war dabei weniger Äquilibrium zwischen zwei sozialen Extremen, sondern metaphorische Rolltreppe, welche die Ebenen Reich und Arm miteinander verband.28 Die Historikerin Barbara Weinstein streicht das Konzept des Verdienstes als eines der leitenden Mittelklasseideale heraus: »[…] the most widely claimed (and acclaimed) middle-class marker is the concept of merit or achieved status – the idea that what sets the middle class apart from the socalled upper and lower orders is that its members have risen in society, rather than inherited a station in life.«29
Doch wer verbarg sich hinter der Bezeichnung Mittelklasse: Waren es die white collar workers, die blue collar workers oder eine Schnittmenge beider Gruppen? Welche Aussagekraft steckte in der Beziehung zum Beruf, welcher sich ja zum Teil in der Kragenfarbe ausdrückte? Trug man den blauen Kragen, war das Arbeitsmilieu die Produktionsstätte. Dort arbeitete man meist manuell, täglich und lange in strikt regulierten Prozessen. Das Arbeitsumfeld konnte laut, dreckig und unbequem sein. Das Ergebnis der Arbeit war leicht quantifizierbar, auch weil der blue collar worker es mit Gegenständen zu tun hat. Trotz weniger hierarchischer Stufen in der beruflichen Laufbahn waren die Aufstiegschancen begrenzt; der Lohn konnte von Woche zu Woche unterschiedlich hoch sein. Der 27 Interessant erscheint dabei auch die These, dass Bürgerrechts- und Frauenbewegung ihrer Klientel auf Kosten weniger gut ausgebildeter weißer Männer Anrechte und Chancen verschaffen konnten, vgl. Posen. 28 Vgl. Gräser, S. 93. 29 Kommentar in: López u. Weinstein, Middle Class, S. 108. Das Statusstreben identifizierten Soziologen auch zeitgenössisch, siehe exemplarisch Packard.
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white collar worker war dagegen in merkantilen, administrativen, arbeitsvorbereitenden, kontrollierenden und koordinierenden Positionen zu finden. Sein geräuscharmer, sauberer und oft bequemer Arbeitsplatz lag abseits von der Produktionsstätte, wo er sich kürzer aufhielt als sein Kollege mit dem blauen Kragen. Sein Arbeitsergebnis war, weil er oft mit Informationen arbeitete, schwerer zu quantifizieren. Er bezog ein gleichbleibend hohes Gehalt. Innerhalb einer ziselierten Hierarchiestruktur hatte er theoretisch reichhaltige Aufstiegschancen.30 Mit zunehmenden Bildungschancen und abnehmendem Analphabetentum schwanden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Unterschiede. Der Aufstieg in die Mittelklasse konnte gar einer »religiösen Konversion« gleichkommen. Der einflussreiche Soziologe Herbert Gans formulierte 1962: »[…] the move into middle-class culture […] is followed by a transformation that bears resemblance to a religious conversion.«31 Inwieweit ermöglichten wohlfahrtsstaatliche Arrangements diese »Bekehrung«? Definierte die Regierung Werte und Standards und schützte so die Mittelklasse vor denen, die außerhalb standen?32 Ermutigte sie Migranten, den Lebensstil der Mittelklasse anzupeilen?33 Der US-Wohlfahrtsstaat wurde seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, parallel zu Wirtschaftskrise und Weltkrieg, entscheidend institutionalisiert und ausgebaut. Er war das Projekt einer breiten politischen Mehrheit. Geprägt von Umwälzungen stand die Ära von Präsident Franklin D. Roosevelt (1933–1945) für Konsolidierung, Ausbau und Neudefinition. Bleibendes Erbe dieser Phase war die Rentenversicherung. In Form des Social Security Act wurden 1935 bundesweite Standards für die Krisenfälle Armut, Alter und Tod gesetzt. Das Gesetz bildete das Fundament für spätere Ergänzungen und Erweiterungen. Immer wieder wirft die Diagnose vom New Deal als Urknall amerikanischer Sozialstaatlichkeit Zweifel, Kritik und neue Fragen auf. Wissenschaftler negieren, dass sich der Wohlfahrtsstaat überhaupt entlang mehrerer Urknalle oder großer Schübe formierte.34 Studien aus den letzten beiden Jahrzehnten verweisen auf Diskriminierungen, die während dieser Formierungsphase in die wohlfahrtsstaatliche Struktur eingeschrieben worden war.35 Mit dem Siegeszug des Wohlfahrtsstaats im 20. Jahrhundert ging ein Boom seiner sozialwissenschaftlichen Analyse einher. Von T. H. Marshall und Brian Abel-Smith über Ralf Dahrendorf und Niklas Luhmann zu Edward Berkowitz und Christopher Howard befassten sich Generationen von Sozialwissenschaft-
30 Vgl. Kocka, S. 35. 31 Gans, S. 256. 32 Vgl. Malamud, Who, S. 2021. Die Metapher des Zielens findet sich auch in Herfried Münklers Schrift zur Mitte, siehe Münkler. 33 In Kanada lehrte die Mittelklasse Immigranten, welche und wie viele tägliche Mahlzeiten ideal seien. Solange sie mit modernen Küchengeräten zubereitet wurden, konnten sie durch Rezepte aus den Ursprungsländern ergänzt werden, vgl. Iacovetta. 34 Siehe Howard, Hidden; ders., Nobody. 35 Vgl. O’Connor, S. 102; Katznelson, Affirmative; ders., Public; ders., Fear.
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lern mit seinen Ausformungen.36 Allein die Zahl der Überblickswerke füllt mittlerweile Regalmeter verschiedener Fachbibliotheken; Einführungswerke und Handbücher unterscheiden Erklärungsschulen zur Genese von Wohlfahrtsstaaten. Der Masse an Literatur muss mittlerweile auf einer abstrahierten Ebene beigekommen werden.37 Dies spiegelt sich auch in immer wieder neuen Ansätzen, die bei der Erforschung des Wohlfahrtsstaats gewählt werden. Sie folgten den jeweiligen turns – wie etwa den Auswirkungen von linguistic und spatial turn in der Geschichtswissenschaft. So kamen immer wieder neue Fragen an den Wohlfahrtsstaat als sozialen Raum und sprachliche Konstruktion auf.38 Für innovative Ansätze in der Erforschung des Wohlfahrtsstaats stehen außerdem Arbeiten, die neue Perspektiven nutzbar machen. Dafür steht etwa der Blick auf technologischen Fortschritt in der Landwirtschaft. Erst als dieser die Abhängigkeit von billigen Arbeitskräften überwand, kam es zu den großen Sozialprogrammen der sechziger Jahre, so Lee J. Alston und Joseph P. Ferrie. Dass die beiden Autoren in der Automatisierung der Landwirtschaft die Quelle für eine neue Qualität wohlfahrtsstaatlicher Programme entdeckten,39 demonstriert die vielfältigen Querverbindungen des Wohlfahrtsstaats zu anderen Bereichen.40 Andere Historiker fahnden mittlerweile in wohlfahrtsstaatlichen Strukturen nach den Ursachen sozialer Ungleichheit und den unterschiedlichen Adaptationen von Staaten an Finanzkrisen.41 Damit folgen sie dem Ruf nach neuen Blickwinkeln,42 die Erklärungsansätze jenseits von Exzeptionalismus-Thesen suchen.43 Auf Christoph Conrads Frage »Was macht eigentlich der
36 Siehe Abel-Smith; Marshall; Dahrendorf, Konflikt; Luhmann. 37 Ein halbes Dutzend verschiedene Erklärungsansätze finden sich in Schmidt; Castles u. a. 38 So diagnostizierten Kudrle und Marmor, die USA seien eher Nachzügler im sprachlichen Bereich des Wohlfahrtsstaats. Der Streit um seine zentralen Begriffe folgte oft erst auf die eigentliche inhaltliche Umsetzung. Als Beispiel dienen den beiden Debatten um die Einführung eines Kindergelds. Sie scheiterte am Unbehagen mit dem Begriff und nicht am Widerstand gegen das Konzept, vgl. Kudrle u. Marmor, S. 99 u. 116. 39 Vgl. Alston u. Ferrie. 40 Drogenpolitik als wohlfahrtsstaatlichen Aspekt untersucht Benoit; weitere Felder sind AntiDiskriminierung, Abtreibungspolitik und Strafvollzug, vgl. Amenta u. a., Social, S. 216. 41 Ein Beispiel sind die laufenden Forschungsprojekte von Sarah Quinn an der University of California, Berkeley und Monica Prasad von der Northwestern University in Chicago; siehe auch Immergluck. 42 Aktuell kristallisiert sich ein Schwerpunkt auf internationale Verflechtungen wohlfahrtsstaatlicher Akteure heraus. Diesen widmen sich Historiker wie Christoph Cornelißen, Johannes Paulmann, Andreas Eckert und Matthieu Leimgruber. Die Konferenz »The European Welfare State in a Global Context. Historical Perspectives since 1945« belegte, dass die historische Wohlfahrtsstaatsforschung mittlerweile Querschnittthema aller Teilbereiche der Geschichtswissenschaften ist. Matthieu Leimgruber etwa untersucht die Beteiligung internationaler Organisationen an wohlfahrtsstaatlichen Diskursen, vgl. Leimgruber, Facing; ders., Bringing. 43 Vgl. Amenta u. a., Social, S. 214.
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Wohlfahrtsstaat?«44 antwortet der Doyen der US-Wohlfahrtsstaatsforschung Edward Berkowitz anwendungsbezogen-lapidar: »In a welfare state, the government supplies a modicum of security to its citizens, rather than forcing them to rely exclusively on what they earn from working or investing or inheriting.«45 Diese Arbeit soll dieser Tradition pragmatischer Definitionen folgen. Das gleiche gilt für die Einbeziehung der Mittelklasse in die Analyse. So aktuell der Abgesang auf die Mittelklasse erscheinen mag; er ist kein neues Phänomen. Die Jeremiade auf Abstieg, Bedrohung und Vernachlässigung der middle class wird schon länger vorgetragen.46 Welche Vorkehrungen wurden in den USA während der Formationsphase des Wohlfahrtsstaats für die Wohlfahrt der Mittelklasse getroffen? Welche Position beanspruchte sie ihrerseits im »Orchester«47 des Wohlfahrtstaates? Beide Fragen stehen für die Auseinandersetzung mit Einflussmöglichkeiten von Regierung und Behörden auf das Leben amerikanischer Familien. Wie weit sollte die Hilfe der Regierung gehen, welche Formen sollten sie annehmen, wer musste dafür aufkommen und wer durfte davon profitieren?48 Half der Wohlfahrtsstaat überhaupt der amerikanischen Mittelklasse? Stand sie nicht außerhalb eines sowieso eher rudimentären Systems? Antworten auf diese Leitfragen kann nur die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat liefern. Sie zeigt, dass Ausweitungen wohlfahrtstaatlicher Leistungen seit den dreißiger Jahren und der steigende Lebensstandard der Mittelklasse nach dem Zweiten Weltkrieg in engem Verhältnis standen. Ein Werbeslogan des Bauunternehmers William J. Levitt, Schöpfer der berühmten Fertighaussiedlungen, lautete: »No man who owns his own house and lot can be a Communist. He has too much to do.«49 Sein Ausspruch, der den positiven Nebeneffekt für die Sache des Westens betonte, bietet ebenso einen Anknüpfungspunkt für den gesamten Untersuchungszeitraum wie die Warnung eines Sozialexperten an konservative Kritiker des Wohlfahrtsstaats im 44 So Conrads Vortragstitel im Colloquium für Zeitgeschichte am Lehrstuhl für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte der Freien Universität Berlin, 1. Juli 2010. 45 Berkowitz, America’s, S. xii-xiii. 46 Viele Beispiele verdeutlichen diese Tendenz, die in den achtziger Jahren einen neuen Schub erfuhr. Dass die Substanz der Mittelklasse durch Fabrikschließungen, den Niedergang der Gewerkschaften, Rezession, egoistische Einstellungen einer prosperierenden Elite, Staatsverschuldung, mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt, ausbleibende Bildungs dividenden, angebotszentrierte Politik der Republikaner, juristische Bevorzugung von Arbeitgebern u. a. erodiert wurde, monierten seitdem etwa Bluestone u. Harrison; Edsall; Charles A. Murray; Harrison u. Bluestone; Benjamin M. Friedman; Newman, Falling; dies., Declining; Ehrenreich; Phillips, Politics; ders., Boiling; Schor; Herrnstein u. Murray; Greenberg; Kreml; Krugman, Conscience, S. 39.: »Now we live in a second Gilded Age, as the middle-class society of the postwar era rapidly vanishes.« 47 Wilensky, S. 107. 48 Treffend beschrieben wurde dieses Spannungsfeld bereits im Titel der umfangreichsten deutschsprachigen Studie zu Sozialstaatsvorstellungen in den USA: Schild. 49 Zit. n. Jackson, Crabgrass, S. 231.
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Sommer 1949. Er warnte: »[…] let us not play Stalin’s game by proclaiming that our government is not interested in the welfare of the common man.«50 Der Kalte Krieg bot Diskursen zu Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat einen Verhandlungsraum. Hier konnte gezeigt werden, welche der beiden großen Befreiungsideologien mehr Lebensqualität bedeutete, Kapitalismus oder Kommunismus. Gleichzeitig standen soziale Vorkehrungen im Gewand des Wohlfahrtsstaats immer wieder unter Verdacht, Einfallstor für sozialistisches Gedankengut zu sein. Öffentlichkeitswirksam wurde die Kochstelle der amerikanischen Durchschnittsfamilie gar zum Ort der Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Blöcken, als sich Richard Nixon und Nikita Chruschtschow 1959 ihre Moskauer Küchendebatte lieferten. Dass die für Atavismen gehaltenen sozialen Probleme wie Armut und Hunger auch nach mehreren Jahrzehnten des Wirtschaftsbooms nicht verschwunden waren, erwies sich zu Beginn der sechziger Jahre als Schwachstelle des Wohlfahrtsstaates und Angriffspunkt für seine Kritiker. Wo Kommentatoren aus dem linken politischen Spektrum seither wehmütig einer goldenen Epoche nachtrauerten,51 propagierten konservative Beobachter mehr Eigenverantwortung.52 Vor den tiefen Verwerfungen und den Toten, die der Kampf um Bürgerrechte und gegen die Segregation mit sich brachte, stellte der War on Poverty unter Präsident Lyndon B. Johnson den Versuch dar, die Grundlagen für eine gerechtere Gesellschaft, eine Great Society, zu legen. Mehrere gesellschaftliche Formationen wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte von der Öffentlichkeit entdeckt. Eine davon war die lower middle class, oder auch Middle Americans.53 Gut bezahlte blue collar workers und weniger gut bezahlte white collar workers wurden hier in öffentlichen Diskursen, abzulesen etwa an politischen Kampagnen, zur Gruppe der Middle Americans zusammengefasst.54 Dass das Time Magazine diese Gruppe 1969 zum Man of the Year 50 Witte, S. 50. 51 Für eine ökonomische Perspektive siehe Krugman, Conscience. Auch die einflussreiche Meinungsmacherin Arianna Huffington blickt nostalgisch zurück, siehe Huffington. 52 Stellvertretend siehe Gilbert u. Gilbert. 53 Wie auch bei der Entdeckung der Armen wenige Jahre zuvor vermuteten die Entdecker, sie seien bereits länger da gewesen, vgl. Murray Friedman, America, S. 15. Die Bezeichnung Unterklasse geht auf den Historiker William Julius Wilson zurück. Der Journalist Ken Auletta präsentierte sie in einer Artikelserie im Magazin The New Yorker einer breiten Öffentlichkeit, aufgearbeitet in Auletta; vgl. auch Dahrendorf, Konflikt, S. 225; Massey u. Denton, S. 6. Die Historikerin Sylvie Murray hat hervorgehoben, dass die Bezeichnung lower middle class, ein Synonym der Middle Americans, ein Begriff der siebziger Jahre sei. Dies heißt nicht, dass er zuvor unbekannt war: vgl. S. Murray. Die Bezeichnung findet sich zudem schon beim Theologen und Politikwissenschaftler Reinhold Niebuhr: vgl. Niebuhr; unter anderen Vorzeichen sinnierte schon 1907 der australische Historiker Joseph Jacobs über den Middle American, welchen er als Quersumme aller Amerikaner definierte. Mit ihm, so Jacobs’ Überzeugung, wäre eine internationale Vergleichbarkeit der jeweiligen Middle Men aller Nationen möglich: vgl. Joseph Jacobs, S. 526. 54 Vgl. insb. S. Murray; Murray Friedman, Overcoming.
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kürte, unterstrich die zeitgenössische Aktualität der Bezeichnung und der dahinterstehenden Debatten. Andere Attribute dieser Gruppe lauteten troubled oder forgotten55. Sie wurde als fast arm und dennoch stolz beschrieben. Die Lehrererin einer Detroiter Schule fasste es 1969 zusammen: »They don’t ask for anything […] They have pride. This is the one thing these people have. They plug along as best they can. They don’t expect help and they don’t get it.«56 Dieser Stolz verbot ihnen vermeintlich, wohlfahrtsstaatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese ging zum Zeitpunkt des Zitats, in ihrer sichtbaren Form direkter Leistungen, an Benachteiligte in den Innenstädten. Die Middle Americans, zu deren Tribunen sich Politiker wie George Wallace, Spiro Agnew und Ronald Reagan aufschwangen, sahen in diesen direkten Leistungen die vergeblichen und kostspieligen Mühen einer entfremdeten Bundesregierung. Parallel zum wachsenden Unmut der »fast Armen« über den Wohlfahrtsstaat entspann sich auch in den besser situierten Vororten eine Debatte um dessen Kosten und Profiteure. Als einer der ersten erkannte dies 1969 der politische Stratege Kevin Phillips: »The great political upheaval of the Nineteen-Sixties is […] a populist revolt of the American masses who have been elevated by prosperity to middle-class status and conservatism. Their revolt is against the caste, policies and taxation of the mandarins of Establishment liberalism.«57
Einer dieser »Mandarine« war der Demokrat Hubert H. Humphrey (1911–1978). Im Vorwort zu einer Studie äußerte er sich 1971 über die untere Mittelklasse wie über eine fremde Spezies: »We need to know their problems and to understand their points of view.«58 Die Middle Americans können damit auch als ein Element der Ausdifferenzierung der Mittelklasse in den sechziger Jahren verstanden werden. Der Begriff middle class schien lediglich als rhetorischer Container Bestand zu haben. Das Selbstverständnis intellektueller Liberaler aus der oberen Mittelklasse bildet in diesem Spektrum das andere Ende. Ein Hochschulpräsident fasste diese Einsicht in der gleichen Studie zusammen: »[…] the college-educated classes have been moving farther and farther away from the middle and lower classes. Their professors teach them to look down on […] all the popular manifestations of everyday culture.«59 55 Das Bild des forgotten man taucht erstmals schon 1918 auf, vgl. Sumner. Der Sozialexperte Daniel P. Moynihan beschrieb die Gruppe um 1970 als weiße, arbeitende untere Mittelklasse, die sich ein Leben in New York City nicht mehr leisten konnte, vgl. Moynihan, S. 104–106. 56 Eleanor R. Coghlan, zit. n. Binzen, S. 115. 57 Phillips, Emerging, S. 470. 58 Vorwort des ehemaligen Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey in: Murray Friedman, Rage, S. 13. 59 Samuel Ichiye Hayakawa, Präsident des San Francisco State College und ein weiterer der erwähnten »Mandarine«: zit. n. ders., America, S. 20.
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Der white backlash, Nixons southern strategy, das »Phänomen« George Wallace, die Wall Street-Demonstration der hard hats: Sie können als Symptome der wechselhaften Beziehungen zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat besser verstanden werden. Am ertragreichsten ist hierfür der Blick in den Süden der USA. Ort der Untersuchung Die größte gusseiserne Statue der Welt zeigt Vulcan, den Gott des Feuers. Er wacht über die Stahlstadt Birmingham. Während einer Aufklärungskampagne des Jahres 1946 strahlte die Fackel, die Vulcan in den Himmel der größten Stadt Alabamas reckte, rot oder grün – abhängig davon, ob an diesem Tag ein Bewohner Birminghams bei einem Verkehrsunfall gestorben war oder nicht. Das makabre Beispiel der Fürsorge für die Bewohner seiner Stadt war eine Aktion des Bürgermeisters W. Cooper Green (1900–1980). Über die berüchtigten Aktionen Greens60 hinaus war die Stadtverwaltung immer wieder involviert, wenn es um das Wohl ihrer Wähler ging. Obwohl diese Arbeit in erster Linie bundesweite Entwicklungen behandelt, geht sie immer wieder auf den Süden, dort speziell auf den Staat Alabama und auf dessen größte Stadt Birmingham, ein. Die international vergleichende Wohl fahrtsstaatforschung ist weit ausdifferenziert und blickt auf eine lange Tradition. Obwohl sie die sozialstaatlichen Entwicklungen verschiedener Nationen thematisierte und Erklärungsmodelle auf Grundlage von Globalisierungseffekten vielversprechende Resultate liefern,61 verspricht der allein auf die USA gerichtete Blick neue Erkenntnisse. Doch was heißt es, den Blick allein auf die USA zu richten? Mit seinen (seit 1959) fünfzig Staaten bleibt das Land ein unübersichtliches Forschungsobjekt. Die Eigenständigkeit der Einzelstaaten wird oft betont und genauso oft verkannt. Obgleich der Bund seit der Großen Depression immer mehr als sorgende und planende Instanz akzeptiert wurde, blieb dem Wohlfahrtsstaat eine intensive einzelstaatliche Prägung erhalten. Jede Untersuchung wohlfahrtsstaatlicher Programme ist besonders geeignet, Intensität und Schübe der Zentralisierung, also der federalization, abzubilden.62 Darüber hinaus bilden die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben und Verantwortlichkeiten die wichtigsten Schnittstellen im Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaat. Wann immer bislang bundesstaatliche Programme exklusiv untersucht wurden, ergaben sich blinde Flecken. Die Beschreibung des US-Wohlfahrtsstaats im Versuchsaufbau internationaler Vergleiche litt unter dieser Herangehensweise. 60 Green beaufsichtigte bspw. Löscharbeiten in der Stadt und trug dabei seinen eigenen Feuerwehrhelm. Von 1940 bis 1953 war er Vorsitzender der City Commission, und damit Bürgermeister, von Birmingham. 61 Siehe Schoppa. 62 In den USA meint federalism das Gegenteil der deutschen Föderalisierung. Es steht für Zentralisierung.
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Oft ermöglichte erst eine starke Vereinfachung die Vergleichbarkeit zu europäischen Wohlfahrtsstaaten, was wesentlich zum Bild des Nachzüglers beitrug.63 Vom Wohlfahrtsstaat der USA zu sprechen, ist bereits die Vereinheitlichung vieler Verschiedenheiten. Um dieser Untersuchung die notwendige Erweiterung und Vertiefung zu ermöglichen, liegt ihr Fokus auf dem Südstaat Alabama. Der Analyse von Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse im Heart of Dixie liegen allgemeine und spezielle Motive zugrunde. Prinzipiell wird so zunächst die Situation in einem Einzelstaat beleuchtet. Für dieses Anliegen eigneten sich die meisten Staaten mit ausreichend großer Bevölkerung, urbanen Zentren und horizontal wie vertikal differenzierter Beschäftigungsstruktur. Obwohl sie schon mehrfach gefordert wurde, bietet die Einzelstaatperspektive einen noch immer vernachlässigten Ansatz. Sie zeigt die Effekte bundesstaatlicher Projekte. Aufgrund der wirklichen und ideellen Autonomien der Einzelstaaten öffnet sie einen oft relativ geschlossenen Aushandlungsraum. Wie die Bewohner eines Staates als Gemeinschaft auf Initiativen aus Washington oder in Konkurrenz zu anderen Staaten reagierten, ist allein aus dem beltway heraus nur eindimensional auszumachen. Für die Analyse eines Einzelstaats spricht auch die Finanzierungsstruktur des Wohlfahrtsstaats. Sie kannte mehrere, parallel bestehende Modelle. Bundesweit einheitliche, durch Washington verwaltete Großprogramme, wie die Rentenversicherung oder die Krankenversicherung für Alte und Arme, bildeten dabei nur einen Teil. Daneben bestanden Programme, die von den Regierungen der Einzelstaaten zwar verwaltet wurden, für die der Bund jedoch in toto oder teilweise aufkam. Zu diesen beiden grundlegenden Schemata gesellte sich eine große Zahl rein einzelstaatlich finanzierter und verwalteter Programme. Hinzu kamen unzählige private Initiativen und Projekte auf Ebene der Kirchengemeinden, Countys und Städte.64 Der Süden war Schauplatz einiger der dynamischsten Veränderungen während der Nachkriegszeit. Schon in den frühen fünfziger Jahren identifizierte der Soziologe und Südstaatenexperte Rupert B. Vance nicht die Industrialisierung, sondern den boomenden Dienstleistungssektor als treibendes Element des Nachkriegssüdens. In den zwei Jahrzehnten nach 1930 war der Prozentsatz der Angestellten im tertiären Sektor von 38 auf 61 Prozent angestiegen. Damit war dieser Anteil quasi ebenso hoch wie im Rest des Landes.65 Der Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor sank in der gleichen Phase von 43 auf 21 Prozent. Der Industriesektor stagnierte mit Werten knapp unter einem Fünftel der Beschäftigten. Staatliche Weichenstellungen und ein verbesserter Bildungsgrad
63 Vgl. das Plädoyer in: Howard, States. 64 Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Autonomie einzelstaatlicher Legislativen dezentral die Höhe der Anteile für die Unterstützung von Armen, die in den Social Security-Mitteln enthalten waren, festzulegen: vgl. Katznelson, Public, S. 168–169. 65 Der Anteil lag national bei 62,7 Prozent. Der Ausgangswert von 1930 belief sich auf 53 Prozent.
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hatten, so Vance, die »forces auxiliary to industry« anwachsen lassen.66 Der Angestelltenanteil wurde als Schlüssel zum Verständnis einer Aufholjagd des Südens interpretiert. Als Variation der Modernisierungstheorie galten diese Angestellten als Kern der Mittelklasse: Sie waren damit auch Bannerträger des Fortschritts. Auch acht Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg wurde der Süden in mehreren Dimensionen als Einheit verstanden. Dies galt auch und speziell für die Organisation der Wohlfahrt seiner Bewohner. So wie die USA als internationaler welfare state laggard67 besprochen werden, erscheint der Süden als nationaler wohlfahrtsstaatlicher Nachzügler. Gegen die Armut seiner Bewohner unternahmen die Behörden des Südens weniger als die im Norden und Osten des Landes. Für die Untersuchung Alabamas im Speziellen spricht gleich ein ganzes Bündel an Hypothesen. Alabama war ein armer Staat. Die Lebensqualität vieler seiner Bewohner stieg erst dank bundesstaatlicher Hilfe. Zugleich übten Alabamas Abgeordnete einen überproportional großen Einfluss auf die legislativen Grundlagen des bundesweiten Wohlfahrtsstaats in der Zeit seines Ausbaus aus. In den vierziger und fünfziger Jahren engagierte sich keine andere Delegation im Kongress so sehr dafür, dass Mittel für Arme eingesetzt wurden. Alabamas Vertreter im Kongress wurden mehrfach zur einflussreichsten und engagiertesten Delegation gewählt.68 Hinter diesem Engagement verbirgt sich jedoch eine der widersprüchlichsten Diagnosen amerikanischer Geschichte. Die Vertreter der demokratischen Partei konstruierten zwar nahezu jeden Aspekt des New Deal mit und waren so für die liberalen Grundlagen der folgenden Jahrzehnte mitverantwortlich. Gleichzeitig widersetzten sie sich lange erfolgreich der Aufweichung des illiberalsten Aspekts amerikanischen Lebens: der Rassentrennung, zu deren Symbol die Figur des Jim Crow geworden war.69 Der Historiker Ira Katznelson zeichnet die überproportional große Einflussmöglichkeit weniger Südstaatendelegierter in dieser Phase nach. Eine mehrheitlich weiße Wählerschaft sorgte in Kombination mit einer faktischen Einparteienherrschaft der Demokraten im Süden und dem Senioritätsprinzip bei der Vergabe der Kongressausschüsse dafür, dass Südstaatenpolitiker Senat und Repräsentantenhaus dominierten und zu Gatekeepern politischer Macht wurden.70 Dass der Ausbau sozialer Leistungen damit größtenteils in den Händen 66 Vance, S. 229–230: Vance’ These lautete, die Intensität von Tertiarisierung und Urbanisierung ließe die Annäherung des Südens an den Rest der Nation erkennen. Er folgte damit der populären Theorie, nach welcher der Grad gesellschaftlichen Fortschritts am Verhältnis von primärem zu tertiärem Sektor abgelesen werden könne. 67 Ein wohlfahrtsstaatlicher Nachzügler-Status wird in drei Dimensionen identifiziert: zeitliche Etablierung, Ausgabenniveau in Relation zum BIP, Struktur, vgl. Obinger. 68 Stellvertretend standen die langjährigen demokratischen Senatoren Lister Hill und John Sparkman für diesen Einsatz. Sparkman war außerdem Vizepräsidentschaftskandidat von Adlai Stevensons bei den Wahlen von 1952, vgl. Rogers, S. 524. 69 Vgl. Katznelson, Fear, S. 23. 70 Vgl. ebd., S. 20–25.
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weniger Südstaatenabgeordneter lag, rief schon bei Zeitgenossen Empörung hervor. Drohte so doch die Gefahr, dass die Segregation auf diesem Wege auf nationaler Ebene festgeschrieben würde. Jeder progressive Eindruck, den Alabamas Senatoren John Sparkman und Lister Hill erweckt hatten, implodierte in den fünfziger Jahren. Alabama wurde nun zum Symbol für den Widerstand gegen Washington. Der Staat wurde Arena des Konflikts um die Bürgerrechte und staatlich geduldeter rassistischer Verbrechen, die sich in das Gedächtnis der Amerikaner und Menschen in aller Welt einbrannten.71 Gouverneur Wallace, der mit Unterbrechungen 16 Jahre in Montgomery regierte, galt seinen Landsleuten und Politologen in aller Welt als Prototyp des rassistischen Populisten.72 Die Mittelklasse und deren Bezugnahme auf den Wohlfahrtsstaat zu analysieren, vertieft bereits erarbeitete Befunde für den Staat Alabama. Der Historiker William Rogers weist in seinem Standardwerk zur Geschichte des Yellowhammer States73 auf die Dreiecksbeziehung von Klasse, Hautfarbe und Wohlfahrtsstaat hin. Er sieht die Hinwendung zu Wallace als Antwort auf allgemeine ökonomische Entwicklungen wie die zunehmende Geldentwertung. Sie drohte, Kaufkraft und Wohlstand auszuhöhlen. Als Alternative zu gemeinsamer gewerkschaftlicher Organisation versuchten weiße Arbeitnehmer, sich so vor afroamerikanischem Wettbewerb zu schützen.74 Ähnliche Effekte schienen mit der Suburbanisierung verbunden, die seit Kriegsende ungebremst voranschritt. Birminghams Suburbs, deren Entwicklung im vierten Kapitel thematisiert wird, dienten einer weißen Mittelklasse als Refugium. Daher muss eine Untersuchung der Intersektionalität der analytischen Kategorien race und class Teil einer sozialhistorischen Untersuchung Alabamas sein.75 Drei große Entwicklungen, die sich besonders in der Metropolregion Birmingham ablesen ließen, verdeutlichen dieses Bild: Weiße Arbeiter wendeten sich, erstens, in dem Moment von ihren afroamerikanischen Gewerkschaftskameraden ab, als ihnen höhere Löhne erlaubten, ein Mittelklasseleben zu führen. Der Wohlstandsarbeiter vergaß seine Solidarität.76 Damit verbunden war, 71 Birminghams Handelskammer bemühte sich, den Ruf der Stadt zu retten, nachdem einer ihrer Vertreter in Japan mit den Bildern der von Hunden attackierten freedom riders konfrontiert worden war, vgl. LaMonte, S. 162–165. 72 Siehe Priester; Herz. 73 Die Goldammer (engl. yellowhammer) ist in Amerika nicht heimisch. Obwohl yellowhammer umgangssprachlich auch für den wiederum häufig anzutreffenden Goldspecht verwendet wird, geht der Beiname Alabamas auf gelbe Applikationen seiner Soldaten aus der Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs zurück. 74 Vgl. Rogers, S. 567. 75 Zur strukturellen Benachteiligung von Afroamerikanern in der Nachkriegszeit siehe einführend Katznelson, Racial; dass in zeitgenössischen Debatten ein Bewusstsein für das Problem der Korrelation von race und class vorherrschte, belegen Äußerungen von Martin Luther King jr. und Robert Kennedy, vgl. Chafe, S. 167; zur Bürgerrechtsbewegung als Zeichen einer aufbrechenden Einteilung der Gesellschaft in ökonomisch definierte Klassen vgl. Wilson, S. 5–7. 76 Zum Begriff des Wohlstandsarbeiters vgl. Goldthorpe.
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zweitens, die Tendenz, dass die New Deal-Koalition, die den Süden zur Hochburg der Demokraten gemacht hatte, zerbrach. Als in den sechziger Jahren liberalism und race relations nicht länger getrennt voneinander verstanden werden konnten, bedeutete dies das Ende dieser dreißigjährigen Übereinkunft.77 Die weiße Mittelklasse wollte in dem Moment von liberalen Idealen nichts mehr wissen, als diese mit der Forderung nach Desegregation verknüpft wurden. Alabamas Entwicklung ist in dieser Hinsicht paradigmatisch. Dieser Bruch schuf die politischen Konstellationen, die es Wallace erlaubten, Bund und Bürgerrechtsbewegung erfolgversprechend zu attackieren. Drittens stand Alabama für die Perspektive des Südens auf den Rest der Republik und für das Bild, das dieser Rest sich vom Süden machte. Andersherum richteten die Bewohner Alabamas ihre Augen nicht nur auf Washington und ihre Nachbarstaaten des Tiefen Südens, sondern auch auf den Rest der Republik. Symptomatisch ist dies abzulesen an der Art, wie Wallace sich des politischen Kraftreservoirs der Middle Americans bediente. Indem er immer wieder auf vermeintlich durch den Wohlfahrtsstaat geschaffene Restriktionen und Ungerechtigkeiten verwies, gewann er eine wütende Mittelklasse als Klientin. Die Empörung über die integrierende Maßnahme des busing, bei der Kinder zu Schulen in anderen Vierteln gefahren wurden, griff weit über die Grenzen Alabamas und des Südens hinaus. Die Erfolge von Wallace schienen politische Strategen zu faszinieren. Sie analysierten, verklärten und kopierten ihn. Vom Rest des Landes dagegen fiel der meist abschätzige und immer seltener bewundernde Blick auf Alabama. Untersuchungszeitraum Die Eingrenzung des Zeitraums ergibt sich aus politischen Zäsuren des Wohlfahrtsstaats. Sie wurden durch die Mittelklasse in großen Teilen initiiert, getragen und kritisiert. In den USA teilten sich Greatest Generation78 und Baby boomer den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit als gemeinsame Lebenserfahrung. Wirtschaftsboom, Kalter Krieg und Great Compression, – also die zeitweilige Angleichung der Einkommen in den USA79 – sind nur drei Schlagworte, die sich hinter dieser Anordnung verbergen. Mehrere Aspekte machen diese Zeit zur optimalen Untersuchungsphase. Sie gilt Autoren von Metaund Mikroanalysen als Phase der Konsolidierung des US-Wohlfahrtsstaats.80 Auch der zeitliche Abstand zu dieser Phase verändert deren Dauer oder Lage anscheinend nicht. Schon Analysten der siebziger Jahre identifizierten den Zeitraum anhand ähnlicher Kriterien wie aktuelle Analysen.81 Der Untersuchungs77 Vgl. Rogers, S. 525. 78 Erstmals zu finden, war der Begriff bei Brokaw. 79 Zum Begriff der Great Compression vgl. Goldin u. Margo. 80 Beispielhaft bezieht auf diese Phase: Berkowitz, Robert Ball. Selbst wenn seine Skepsis an zwei wohlfahrtsstaatlichen Urknallen nachvollziehbar ist: Auch Howard beschreibt diesen Zeitraum als Hochphase wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung, siehe Howard, Nobody. 81 Vgl. den Konspekt in: López u. Weinstein, Introduction.
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zeitraum ist lang. Neben 1935 bildete 1972 einen Eckpfeiler der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung der USA. Speziell die Ereignisse der Jahre 1969 bis 1972 eignen sich als zeitliches Ende dieser Untersuchung. Die Kopplung der Rente an den consumer price index und die Entscheidung eines Bundesgerichts über die Legalität des busing fanden parallel statt. Obwohl die Rolle der Frau, der Familie und die Ansprüche an das Arbeitsleben permanenten Aushandlungen unterworfen waren, können die vierziger, fünfziger und sechziger Jahre als Einheit verstanden werden, wenn gleichzeitig der Wirtschaftsboom als vereinendes Merkmal verstanden wird.82 Staatliche Tendenzen wie die Befugnisse des Präsidenten, die von Roosevelt initiiert, von dessen Nachfolgern gelebt und ausgebaut, und schließlich von Nixon und Ford unfreiwillig geschwächt wurden, sind eine weitere wichtige Klammer. Die Pendelbewegung zwischen einzelstaatlicher Zuständigkeit und Zentralisierung lässt sich am Erstarken des politischen Einflusses von starken Gouverneuren, wie Reagan, Carter und Rockefeller, ablesen. Gemessen am Leben ihrer Eltern, spürten die Amerikaner parallel dazu seit dem Ende der sechziger Jahre, dass der Aufstieg in die Mittelklasse und der Verbleib in ihr immer schwieriger wurden. Auch die intensiver werdenden Debatten um die Middle Americans markieren einen Endpunkt der Untersuchung. Sie wurden Symbol der Ausdifferenzierung der Mittelklasse und der zunehmenden Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Als seit der Mitte der Turbulent Sixties erstmals hinterfragt wurde, ob es überhaupt noch eine Mittelklassemehrheit gäbe,83 wurden sie zum Zeichen des Spätherbsts des liberalen Konsenses. Zur Gliederung der Arbeit Drei Felder bieten sich bei einer Analyse der Wechselbeziehungen von Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse besonders an: Armut, Wohnen und Altersversorgung.84 Hier existierten während des gesamten Untersuchungszeitraums staatliche Programme. Außerdem eignen sich diese drei Felder besonders, weil sie Schauplätze teilweise grundlegender, in jedem Fall aber dynamischer Umbrüche und Neustrukturierungen waren. Gut dokumentierte Reformphasen erlauben so die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse. Das zweite Kapitel widmet sich der Wohnungspolitik in den dreißiger Jahren. Die Regierung in Washington stellte sich während der Großen Depression der Aufgabe, Menschen im ganzen Land direkt zu helfen. Sie reagierte auf Not-
82 Dieser Ansatz wird getragen von bisherigen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen getragen, siehe etwa Doering-Manteuffel u. Raphael; Patterson, Grand. 83 Vgl. Andrew Levison, The Working-Class Majority, The New Yorker, 2.9.1974, S. 36–37. 84 Als historischer Untersuchungsgegenstand stand nur die Rentenversicherung früh im Fokus, vgl. Amenta, S. 215; Ashford, S. 351.
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stände, indem sie kurzfristig Behörden wie die Home Owners’ Loan Corporation schuf. Gleichzeitig experimentierte sie. Eine Modellsiedlung in Alabama pries das freistehende Haus in der Suburb als Domizil der Mittelklasse. Daneben lassen interne Dokumente nationaler Wohnungsbehörden darauf schließen, dass mit der unteren Mittelklasse eine Bevölkerungsgruppe besondere Aufmerksamkeit erhalten sollte, die prima facie keiner Hilfe bedurfte. Sie stellte ein »no man’s land«85 der Wohnungsbauförderung dar, für welches spezielle Pläne ersonnen wurden. Das dritte Kapitel untersucht die Wechselverhältnisse zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat im Bereich der Rentenversicherung. Ihre Leistungen wurden während des gesamten Untersuchungszeitraums immer wieder erhöht und für immer neue Berufsgruppen geöffnet. Die Old-Age and Survivors Insurance (OASI)86 basiert auf Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Obwohl schon 1935 verabschiedet, setzte sie sich erst nach einer Reformphase zwischen 1950 und 1954 gegenüber parallel diskutierten Alternativen durch.87 Dabei war den Befürwortern der beitragsfinanzierten und so beschäftigungsbasierten Rente wichtig, dass diese nicht als Wohltätigkeit, sondern als Anrecht verstanden werden sollte. Entsprechend orientierten sich Darstellungen der Rente an den Begrifflichkeiten von privaten Versicherungen, des freien Marktes und den Moralvorstellungen, die der Mittelklasse zugeschrieben wurden. Dazu gehörten Verdienst, Sparsamkeit und Eigenständigkeit. Der Fokus des vierten Kapitels liegt erneut auf der Wohnungspolitik. Die Unterstützung der US-Regierungen beim Eigenheimerwerb muss als wohlfahrtsstaatliches Instrument verstanden werden. Zwei Staatsziele ließen sich damit vereinen: (soziale) Sicherheit und Eigentumsrechte.88 In Birmingham verbanden sich nach Kriegsende wohlfahrtsstaatliche Arrangements, wie etwa Bebauungspläne, mit politischen Agenden. Der Blick in die Stadt erlaubt nachzuzeichnen, wie die Mittelklasse für den Erhalt einer bestimmten Form des Stadtviertels stritt. Ihr Idealbild sollte durch die Regierung der Stadt geschützt werden. Andernfalls drohte die Abwanderung der Besten, nämlich der Mittelklasse, in die Suburbs. Wie Birmingham sich vergeblich bemühte, die Suburbs in das Stadtgebiet einzugemeinden und welche Bilder der Mittelklasse dabei prävalent waren, zeigt der zweite Teil des vierten Kapitels. Das fünfte Kapitel fokussiert auf die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Wohlfahrtsstaat seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Anhand wohnungspolitischer Programme wie der Section 235 des nationalen Housing Act und 85 So die Bezeichnung der Behörde für eine gesellschaftliche Schicht, siehe Kapitel 2. 86 Der Name des Programms änderte sich mehrfach; zwecks Lesbarkeit wird zumeist OASI verwendet. 87 Eine Alternative war der sog. Townsendplan. Zum Vorschlag vgl. Amenta u. a., Hero, S. 317; siehe auch Kapitel 3. 88 Schon kurz nach dem Krieg wurde das eigene Haus zudem Finanzanlage. Daran hat sich bis heute nichts geändert; wenngleich aktuell eher der Wegfall dieser Anlage im Vordergrund steht, vgl. Conley u. Gifford; Eggert u. Krieger.
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anhand einer generellen Skepsis gegenüber einer unübersichtlich erscheinenden behördlichen Struktur des Wohlfahrtsstaats wird gezeigt, wie der Weg für große Reformvorhaben zu Beginn der siebziger Jahre geebnet wurde. Hier findet sich außerdem eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der welfare mess: der zeitgenössischen Schilderung des Wirrwarrs, als das der Wohlfahrtsstaat nun wahrgenommen wurde. Im sechsten Kapitel stehen neue Pläne und Ideen der Vertreter des Wohlfahrtsstaats im Zentrum. Dazu gehörten vor allem die Debatten im Vorfeld der Rentenreform von 1972. Hier wurden nicht nur Erhöhung und Automatisierung der Rente diskutiert. Die Debatten um den Family Assistance Plan (FAP) boten das Setting für die Untersuchung der Präferenzen der Mittelklasse in Bezug auf die Organisation des nationalen Wohlfahrtsstaats. Die Einführung eines garantierten Grundeinkommens, das sich hinter dem FAP verbarg, scheiterte. Wie dies auch mit dessen Unverträglichkeit mit den Ansprüchen der Mittelklasse zusammenhing, wird hier untersucht. In allen Teilen der Arbeit werden steuerliche Aspekte und die Rolle von Experten prominent berücksichtigt. Eine weitere Querschnittskategorie soll die Frage nach dem Aspekt gender sein. Dabei wurde dieser Themenkomplex in der Betrachtung amerikanischer Sozialpolitik lange ausgespart. Vor den achtziger Jahren war die Wohlfahrtsstaatforschung »almost completely gender-blind«, wie es ein Kritiker zusammenfasste.89 Während gender zuvor kaum als ana lytische Kategorie herangezogen wurde, kamen spätere Analysen zu dem Ergebnis, dass der Wohlfahrtsstaat nicht vorrangig zur Durchsetzung patriarchaler Ordnungsmuster institutionalisiert worden sei. Obgleich zum Beispiel die Leistungen aus dem Programm Aid to Families with Dependent Children (AFDC) sehr gering waren, stellte es eine Neuerung dar. Sozialleistungen wurden nun auch an Mütter von Kindern gezahlt, deren Väter abwesend waren. Fortan waren alleinerziehende Mütter zwar abhängig von oft zu geringen staatlichen Leistungen. Sie waren somit aber zumindest theoretisch unabhängiger von männlichen Lebenspartnern: »Dependence on a patriarchal state was less oppressive than dependence on an individual abusive male.«90 Wie auch immer eine solche Argumentation letztlich zu bewerten ist; sie zeigt, dass auch ein so oft durch Wissenschaftler und Journalisten kritisiertes Programm wie AFDC durch Perspektivwechsel eine neue Bewertung erfahren kann.91
89 Finkel, S. 247. 90 Ebd., S. 249. 91 Damit fokussiert das Kapitel auf verdiente und unverdiente Hilfen vor der Auseinandersetzung mit dem negativ konnotierten Begriff welfare, hinter dem sich zumeist AFDC verbarg. Geschlechterstereotype spielten hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie rassistische Vorurteile.
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Quellen Es ist einfach Quellen zur Geschichte des US-Wohlfahrtsstaats zu finden. Beim zweiten Hinsehen liegt die Herausforderung eher darin, sich einen Weg durch die großen Mengen von unveröffentlichten und veröffentlichten Akten, Dokumenten, Memoranden und Berichten zu bahnen. Zuallererst basiert diese Untersuchung auf Dokumenten aus verschiedenen Archiven des Bundes, des Staats Alabama und der Stadt Birmingham. Damit werden also in erster Linie Perspektiven von Behörden und ihren Vertretern untersucht. Die Meinungen der Mittelklasse lassen sich dabei oft nur indirekt aufdecken. Wann immer Individuen sich als Teil der Mittelklasse beschrieben und gegenüber Amtsträgern über ihre Wünsche sprachen, wann immer sie ihrem Ärger freien Lauf ließen, wurde auch deutlich, mit welchen Problemen sich die Mittelklasse an den Wohlfahrtsstaat richtete. Die unveröffentlichten Materialien, die hier als Quellen genutzt werden, stammen aus den Archiven verschiedener Bundesbehörden, des US-Kongresses (National Archives and Records Administration I und II, NARA), dem Stadtarchiv in Birmingham (Birmingham Public Library, BPL), in dem auch Akten der Regierung und Verwaltung von Jefferson County verwahrt sind, dem Staatsarchiv Alabamas in Montgomery (Alabama Department of Archives and History, ADAH) und aus dem Universitätsarchiv der University of Alabama at Birmingham (UAB). Analysiert wurden für diese Arbeit Petitionen, Briefe an und von Behörden und deren Mitarbeiter, interne Memoranden und Analysen, Gesetzesentwürfe, Gesprächsprotokolle, Manuskripte und Statistiken. Die Menge an frei zugänglichen Originaldokumenten allein im Bereich der Altersvorsorge ist gigantisch. Verteilt auf mehr als 5.000 Dokumentenkisten lagern in College Park unter dem Register »Record Group 47« die Archivmaterialien der Social Security Administration (SSA). Als die Unterlagen 1994 eine neue, moderne Heimat in Maryland fanden, wurden sie reorganisiert. Obwohl ein eigener Leitfaden einen ersten Überblick bieten soll,92 sind viele Dokumente heute nicht mehr auffindbar.93 Die Unterlagen der verschiedenen Wohnungsbehörden und beteiligten Ministerien sind nicht weniger umfangreich. Das zentral in Washington gelegene Archiv NARA I, in dem auch Verfassung und Unabhängigkeitserklärung ruhen, beherbergt die Archive des Repräsentantenhauses. Hier finden sich die Eingaben der Amerikaner zu geplanten und verabschiedeten Gesetzen, darunter vor allem die Briefe an das Committee on Ways and Means. Die Recherchen in Alabama erbrachten ähnlich umfangreiche Ergebnisse. Der Nachlass von Gouverneur Wallace in Montgomery ist größtenteils unsortiert und unerschlossen. Dagegen erleichterte die gute Sortierung der Materialien im Stadtarchiv Birminghams die Recherchen dort immens. 92 DeWitt u. Taynor. 93 Ältere Sekundärliteratur bezieht sich oft auf veraltete Standorte der jeweils verwendeten Akten. Querverweisen und Referenzen kann daher nur noch selten gefolgt werden.
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Hier lagern die penibel gepflegten Nachlässe der Bürgermeister der Stadt. Ergänzt wurde die Arbeit im Stadtarchiv durch Besuche des Universitätsarchivs der UAB.94 Die veröffentlichten Materialien umfassen wissenschaftliche Untersuchungen zu den Bereichen Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse aus der Feder von Historikern, Soziologen, Politologen und Wirtschaftswissenschaftlern. Darunter finden sich öffentlich einflussreiche Kritiken wie »The Other America« von Michael Harrington oder Milton Friedmans »Capitalism and Freedom«.95 Dazu kommen publizierte Statistiken. Eine oft als genial bezeichnete Idee der verfassungsgebenden Versammlung der USA von 1787 war die Etablierung der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen. Das Geniale lag nicht bloß darin, dass nun leichter zu ermitteln war wie viel jeder Einzelstaat für den eben gewonnenen Krieg zahlen musste.96 Uns Historikern wurde so auch ein einfach zu bedienendes statistisches Instrument an die Hand gegeben. Darüber hinaus wurden Zeitungsartikel und Beiträge in Magazinen herangezogen. Periodika wie etwa die Zeitschriften Alabama Social Welfare und The Child97 werden als Sprachrohre, Marktplätze und Foren für im Wohlfahrtsstaat Tätige und für Experten befragt. Beide Zeitschriften decken den gesamten Untersuchungszeitraum ab. Sie sind sowohl Stimmungsbarometer als auch Scheinwerfer, die Licht auf akute Probleme warfen und Lösungen vorschlugen. Die älteren, meist soziologischen Veröffentlichungen, die ebenfalls als Quellen herangezogen wurden, stammen überwiegend aus dem Untersuchungszeitraum. Gerade die wissenschaftlichen Analysen und Ausführungen durch prominente Zeitgenossen liefern Erkenntnisse, da diese von den verantwortlichen Politikern und Behördenmitarbeitern rezipiert wurden. Außerdem wurden einige der Autoren selbst in Entscheidungsgremien berufen. Die Figur des Sozialexperten soll, nach vorheriger Definition, daher auch besondere Beachtung erfahren. In der Annäherung an diesen Typus konnte auf die doppelte Grundlage, veröffentlichter und nicht-veröffentlichter, Materialien einiger dieser Experten zurückgegriffen werden. Die Nachlässe von Daniel P. Moynihan und George Wallace sind zwei Beispiele für das breite Spektrum von Dokumenten, die Eingang in die Arbeit gefunden haben.
94 Im Archiv der Hochschule liegen nur zum Teil erschlossene Berichte zur Geschichte der UAB. Besonders hilfreich sind die hier zu findenden Schilderungen zum Bedeutungszuwachs der medizinischen Fakultät seit dem Ende der sechziger Jahre. Sie prägte zunehmend das Bild der Universität und auch der Stadt. Heute genießt das UAB Health System landesweit einen hervorragenden Ruf. 95 Harrington; Milton Friedman. 96 Da die Staaten von sich aus wohl wenig enthusiastisch mitgewirkt hätten, entschied die Versammlung, die Volkszählung zur Grundlage der anteilsmäßigen Vertretung der Staaten im Repräsentantenhaus zu machen. Dies gewährleistete ehrliche Angaben zur Einwohnerzahl. 97 Von 1936 bis 1954 lautete der Titel The Child, danach bis 1971 Children. Die Zeitschrift wurde vom Children’s Bureau der SSA herausgegeben.
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Da der Fokus der Untersuchung auf der staatlich-bürokratischen Facette des Wohlfahrtsstaats liegt, wird das Thema Krankenversicherung vernachlässigt: Es gab keine Behörde, die sie verwaltete. Obwohl jeweils zur Mittelklasse und zum Wohlfahrtsstaat im 20. Jahrhundert viel Forschungsliteratur vorhanden ist, blieb die Kombination der beiden weit weniger gut erforscht. Auch deswegen variiert die Dichte der Quellen und Literatur zwischen den Kapiteln. Die zahlreichen englischen Begriffe werden nur bei der ersten Verwendung übersetzt. Da sich ansonsten Verzerrungen ergeben würden, werden sie im Text meist im englischen Original verwendet. Thesen Die Analyse der amerikanischen Mittelklasse im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts weist Defizite auf. Zwar weisen neuere Studien den Weg in eine Entsozioökonomisierung und somit zu einem Verständnis der Mittelklasse als über ökonomische Kennzahlen hinausgehenden Zuschreibungsraum. Bisherige geschichtswissenschaftliche Arbeiten zur Mittelklasse sind jedoch aufgrund abweichender normativer Definitionen ihres Untersuchungsgegenstands meist nicht miteinander vergleichbar. Da sie zudem oft Abstiegsängste der Mittelklasse in den Mittelpunkt stellten, verhindert dies den Blick auf versteckte Aspekte sozialer Absicherung. Das Wissen um die Mittelklasse kann erheblich erweitert werden, wird der Wohlfahrtsstaat mit in den Blick genommen. Seine Einbeziehung soll belegen, dass vor allem die untere Mittelklasse als vereinende Schicht von gelernten Arbeitern und Angestellten verstanden werden kann, sobald man ihre Beziehung zum Wohlfahrtsstaat untersucht.98 Doch nicht nur zur Mittelklasse können durch die Leitfragen und Ansätze dieser Untersuchung neue Einsichten gewonnen werden. Der US-Wohlfahrtsstaat lässt sich in seiner Korrelation zur Mittelklasse besser analysieren. Die Summe der staatlichen sozialen Vorkehrungen für seine Bürger und die Infrastruktur, die der Wohlfahrtsstaat der Gesellschaft zur Verfügung stellt, basierten in der Nachkriegszeit auf moralischen und ethischen Prämissen, die sich besonders aus dem Wertekanon der Mittelklasse speisten.99 Der Wohlfahrtsstaat war das gemeinsame Projekt eines breiten Spektrums der Gesellschaft. Dies 98 Für diese Gruppe etablierte sich in den sechziger Jahren die Bezeichnung Middle Americans. Auch in Deutschland wurde sie zeitgenössisch wahrgenommen. Der Bielefelder Soziologe Daheim beschrieb 1960, wie Verhaltensweisen und Grundeinstellungen von »oberen Arbeitern« und unterer Mittelschicht einander glichen, vgl. Daheim; sein amerikanischer Kollege Janowitz beschrieb kurz zuvor eine ähnliche Überlappung, vgl. Janowitz; aktueller hat dies wiederum der Bielefelder Historiker Haupt formuliert: vgl. Haupt, S. 138– 142; Jürgen Kocka befand für die erste Hälfte des Jahrhunderts, dass Einkommen von Arbeitern und Angestellten in den USA einander annährten und sich teil überlappten, vgl. Kocka, S. 36. 99 Wobei Debatten um Werte und deren Einhaltung bis heute eine zentrale Figur in den Argumentationen von Gesellschaftskritikern sind. Vgl. hierzu den Untertitel (»Reawakening
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hatte weitreichende Folgen. Als technologische Neuerungen und gesellschaftliche Verwerfungen in den sechziger Jahren gesellschaftliche Gewissheiten in Frage stellten, kam es zu Brüchen zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat. Diese Brüche drückten sich in der Verteidigung des eigenen sozialen Status gegenüber Benachteiligten aus. Direkte staatliche Hilfen wurden ab der Mitte der sechziger Jahre zunehmend als ungerecht attackiert. Die Mittelklasse vergewisserte sich ihres eigenen sozialen Status, indem sie sich von allen abgrenzte, die der Wohlfahrtsstaat unterstützte. Sie nutzte dazu ein von Experten und Populisten kreiertes Bild dieser ärmeren Schicht, das diese aus unterschiedlichen Motiven gezeichnet hatten. Die Abgrenzung von vermeintlichen »Sozialschmarotzern« war nichts Neues. Nun aber trat sie als politische Strategie im ganzen Land deutlich zutage. Diese Zerwürfnisse markieren eine Zäsur für die Einstellung der amerikanischen Gesellschaft, der in auch anderen Feldern abzulesen ist und als Ende des liberalen Konsenses verstanden werden kann. Erst die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse erlaubt, die zentrale Komponente dieser Verwerfungen zu verstehen. Die Mittelklasse war zentral am Ausbau des Wohlfahrtsstaats beteiligt. Dieser war wiederum ein ideelles und reelles Gerüst für die Entwicklung der Mittelklasse. Eine Entwicklung folgte dabei nicht auf die andere. Vielmehr vollzogen sich beide in gegenseitiger Abhängigkeit. Veränderungen in einem der beiden Aggregate riefen immer auch Anpassungen im jeweils anderen hervor. Rentenanpassungen folgten auf demographische Veränderungen. Der wachsenden Zahl der welfare-Empfänger folgte deren breite Diffamierung. Angemessene Unterstützung gerecht zu bemessen und zu implementieren, war vor diesem Hintergrund zu Beginn der siebziger Jahre schwierig, vielleicht unrealisierbar geworden. Das zeigte die komplexe Konstruktion des Family Assistance Plan. Er scheiterte auch wegen seiner Kompliziertheit. In den frühen siebziger Jahren war deutlich, dass auf Arme abzielende Maßnahmen eine Demarkationslinie zwischen jenen zogen, denen geholfen werden sollte und denen, die neue Formen direkter staatlicher Hilfe nicht erhielten. Kurz nachdem Präsident Clinton ein Vierteljahrhundert später sein Wahlkampfversprechen von 1992, »to end welfare as we know it«, einlöste, fand diese Entwicklung in einigen der striktesten Sozialreformen des 20. Jahrhunderts einen Endpunkt. Wenig später waren die Programme, die sich hinter dem Begriff welfare verbargen, schärfer als je zuvor reglementiert.100 Diese Untersuchung wird zeigen, dass sich die Wechselbeziehungen zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat auf drei Ebenen verstehen lassen. Die erste Ebene umfasste dem Wohlfahrtsstaat zu Grunde liegende moralische
American Virtue and Prosperity«) und das erste Unterkapitel (»A Crisis of Values«) einer aktuelle Diagnose des Ökonomen Sachs, der ethische Fragen zentral stellt, Sachs. 100 Zu den zentralen Reformbestandteilen gehörte, dass Empfänger nach spätestens zwei Jahren eine Beschäftigung annehmen mussten und dass pro Person maximal fünf Jahre lang Leistungen gezahlt wurden.
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Aspekte: Der ideale Wohlfahrtsstaat sollte verdienten, also moralisch einwandfreien Bedürftigen helfen. Die zweite Ebene betraf die wesentliche Funktionsweise des Wohlfahrtsstaats des Untersuchungszeitraums: Seine Instrumente sollten verdienten Armen Anreiz liefern, sich eigenständig aus wirtschaftlichen Notlage herauszuarbeiten. Die dritte Ebene beschreibt die grundsätzlichen akzeptablen Formen wohlfahrtsstaatlicher Hilfe. Diese sind hier als Verdienst beschrieben und umfassen alle Formen wohlfahrtsstaatlicher Hilfen, die auf eigenen Beiträgen basierten. Dazu gehörten insbesondere Hilfen, welche taxpayer in Form von Steuervergünstigung entlasteten.101 Der Wohlfahrtsstaat entwickelte sich entlang von Werten der Mittelklasse. Diese drückten sich in Moral und Verdienst aus und belohnten jene, die im Einklang damit zu leben schienen. Wohlfahrtsstaatliche Programme basierten zum großen Teil auf dem systematischen Ansatz, Anreize zu setzen. Kaum zu finden waren egalitäre, alle Menschen versorgende Programme. Der Wohlfahrtsstaat der USA war bei Implementierung und Ausbau seit den dreißiger Jahren ein Projekt einer großen politischen Mehrheit. Kaum drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die so begründete Struktur als gescheitert beschrieben. Insbesondere aus der Perspektive der Mittelklasse war der Wohlfahrtsstaat nun ein kostspieliges Unterfangen, das einer unverdienten gesellschaftlichen Minderheit helfen sollte. In seinem Abschlussbericht schilderte der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses des Senats diese Einsicht 1972: »It is the committee’s conclusion that paying an employable person a benefit based on need, the essence of the welfare approach, has not worked. It has not decreased dependency – it has increased it. It has not encouraged work – it has discouraged it. It has not added to the dignity of the lives of recipients, but it has aroused the indignation of the taxpayers who must pay for it.«102
Die Idee, Hilfe auf der Grundlage von Bedürftigkeit zu leisten, war gescheitert. Sie wurde nun von der Mittelklasse abgelehnt, die als steuerzahlende Mehrheit nicht mehr bereit war, dafür aufzukommen. Als Bill Clinton 1997 zu seiner zweiten Inaugurationsrede ans Mikrofon trat, lobte er die Rentenversicherung als eine der wesentlichen amerikanischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Die Abschaffung eines anderen Elements des Wohlfahrtsstaats, des welfare-Programms AFDC, hatte ihm kurz zuvor seine Wiederwahl ermöglicht. Dass diese beiden wohlfahrtsstaatlichen Bestandteile einander gegenübergestellt werden konnten und wurden, ging 101 Die Figur des taxpayer war ab Mitte der sechziger Jahre Synonym für die Mittelklasse und den einfachen Mann geworden. 102 Russell Long, Social Security Amendments of 1972. Report of the Committee on Finance United States Senate (Senate Report No. 92–1230), Washington, D. C. 1972, S. 411. Der hier zitierte Bericht war nach fast fünf Jahren bundesweiter Debatten zur Reform von Rente und welfare zustande gekommen. Obwohl vom kritischen Finanzausschuss des Senats verfasst, reflektierte er eine Mehrheitsmeinung.
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auf die Haltung der Mittelklasse zu diesen beiden Programmen zurück. Dass die Abschaffung eines wohlfahrtsstaatlichen Programms und das Lob eines anderen politischen Erfolg garantierten, folgte aus den Einstellungen der Mittelklasse zum Wohlfahrtsstaat, die sich zwischen den dreißiger und siebziger Jahren herausgebildet hatten.
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2. Helfen und Planen: Washingtons Wohnungspolitik, 1932–1945
Lorena »Hick« Hickok erkundete im Frühling 1933 im Auftrag der Bundesregierung den Süden der Vereinigten Staaten. Während ihrer zweimonatigen Recherchereise sammelte die ehemalige Journalistin vor Ort Informationen und Eindrücke zu den Auswirkungen der Großen Depression und den Gegenmaßnahmen, welche die Bundesregierung unter dem Etikett New Deal eingeleitet hatte. Gleichzeitig wurde in Washington die Zukunft geplant.1 War die aktuelle Wirtschaftskrise überwunden, sollten neue Institutionen des Bundes die Effekte folgender volkswirtschaftlicher Verwerfungen mildern. Dazu wurde der Wohlfahrtsstaat auch auf Basis der Berichte Hickoks ausgebaut und modelliert. Dieses Kapitel untersucht die Maßnahmen, welche die Bundesregierung als Reaktion auf die Große Depression im Bereich der Wohnungspolitik etablierte. Außerdem analysiert es, wie sich Vertreter der Bundesregierung die Zukunft des Wohnens für die Mittelklasse vorstellten. Eine Modellsiedlung namens Cahaba Village in Alabama war ein Experiment, das nachfolgende Entwicklungen, wie die intensivierte Suburbanisierung der Nachkriegszeit, vorzeichnete. Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung setzten nicht erst als Reaktion auf die Große Depression ein. Besonders in der Wohnungspolitik blickte Washington auf eine lange Tradition zurück. Schon die Westexpansion im 19. Jahrhundert hatte zu einem Teil auf staatlicher Förderung von Landnahme und Siedlungsbau und der Vergabe von Chartern im Westen basiert. Vereinfachte Kreditbestimmungen erleichterten es den Siedlern, ihre Häuser zu bauen.2 Die Bundesregierung schützte zudem verschuldete Amerikaner vor ihren Gläubigern. So verordnete sie 1820 ein Moratorium auf Kreditrückzahlungen. Erste Steuervergünstigungen für Hausbesitzer und Vermieter beschloss der Kongress schon in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Auch wenn Soziologen in Frage stellen, dass diese Maßnahmen unmittelbar den Bau neuer Häuser förderten,3 gewähren sie einen Einblick in die Kontinuitäten von Wohnbauförderungen, die im 20. Jahrhundert aufgegriffen und intensiviert wurden.
1 Zu Begriff und Ausformungen der »Planung im 20. Jahrhundert« siehe den gleichnamigen Band 34 der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 34 von 2008, hier besonders Laak. Einen Blick auf die spezifische Situation der Planer in den USA, nach der Veröffentlichung von Keynes’ The General Theory of Employment 1936, bietet Katznelson, Fear, S. 365–466. 2 Vgl. Bullock, S. 1. 3 Für solch eine, kritische Sicht siehe Welfeld.
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Der Wohnungsbau und der Schutz der Interessen von Hausbesitzern waren somit um 1900 keine neuen Ziele der Bundesregierung in Washington wo der Besitz des eigenen Hauses vom gesamten politischen Spektrum begrüßt wurde. Konservative sahen darin Stärkung und Schutz der sozialen Ordnung und des kapitalistischen Wirtschaftssystems: Arbeitnehmer mit eigenem Haus blieben länger an einem Ort. Progressive Politiker und Sozialreformer lobten das Eigenheim als Basis der Verbesserung von Lebensqualität: Jede Unterstützung seitens der Regierung bedeutete in ihren Augen gleichzeitig eine begrüßenswerte Stärkung des Bandes zwischen Volk und Volksvertretern. Das Eingreifen in den Wohnungsmarkt durch den Bund war kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs weiter erprobt und intensiviert worden. Washington hatte mit Siedlungen für Munitionsarbeiter und deren Familien Präzedenzfälle geschaffen. Die größten dieser Projekte endeten zwar in der Zwischenkriegszeit. Für ihre Verteidiger waren sie dennoch der Beleg, dass nicht-sozialistische Regierungen aktiv Wohnraum schaffen konnten.4 Die Gegner dieses Eingriffs der Exekutive zogen vor Gericht. Doch auch Urteile, welche der Bundesregierung untersagten, sich aktiv im Wohnungsbau einzusetzen, bewirkten keine dauerhafte Abkehr aus diesem Bereich. Die Möglichkeiten der Exekutive wurden jedoch limitiert – etwa durch das Urteil im Fall US v. City of Louisville, in dem der Oberste Gerichtshof 1935 entschied, dass die Bundesregierung kein Land enteignen durfte, um selbst Wohnungen zu errichten.5 Was der Regierung von Franklin D. Roosevelt (1933–1945) erlaubt blieb, waren indirekte Fördermöglichkeiten. Mit zwei bereits von der Vorgängerregierung eingerichteten Behörden, der Federal Housing Administration (FHA) und der Home Owners’ Loan Corporation (HOLC), verfügte sie über Instrumente, die den Bau und Erwerb neuer Häuser indirekt förderten. Das Urteil von 1935 beschleunigte daher Erprobung und Ausbau indirekter Eingriffe in die Wohnungspolitik.6 So wurde die Vergabe von Hypotheken grundlegend reformiert, reguliert, aber auch entscheidend vereinfacht. Diese Vereinfachung erleichterte wiederum den Zugang zum Immobilienmarkt. In dieser Tradition indirekter Hilfe stand auch die Instrumentalisierung von Wohnungspolitik für Ziele angrenzender politischer Felder.7 Während die Wohnungspolitik im 19. Jahrhundert gesundheitspolitische Schwerpunkte
4 Vgl. Jackson, Crabgrass, S. 192. 5 Vgl. Biles, S. 68. 6 Vgl. Fish, Policy, S. 206. 7 Washington interpretierte wohnungspolitische und wohlfahrtsstaatliche Instrumente neu, um etwa die Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen. Von Gegnern einer solchen Ausweitung wurde dies schon 1950 moniert, etwa in einem Rundschreiben von Gessner T. McCorvey, Vorsitzender State Democratic Executive Committee of Alabama, 11.1.1950, Akte: 368.7.1, Green Papers (GRPA), Birmingham Public Library (BPL), Department of Archives and Manuscripts (AM).
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hatte, landeten wohnungspolitische Themen seit dem New Deal verstärkt auf den Agenden von Politikern, die damit die Lebenssituation amerikanischer Familien verbessern wollten. Dieser Wandel wurde auch durch das vorläufige Ende der Massenimmigration begünstigt.8 Die Zahl der Einwanderer war im Jahr 1933 auf unter 25.000 gesunken. Vier Jahre zuvor hatten noch mehr als zehnmal so viele Menschen Aufnahme in den USA gefunden. Da zudem das Festland der USA im Zweiten Weltkrieg nicht erwähnenswert attackiert worden war,9 unterschieden sich die wohnungspolitischen Herausforderungen der vierziger Jahren ganz erheblich von denen der vom Krieg verheerten Nationen jenseits von Atlantik und Pazifik. Während in Europa rasch günstiger Wohnraum geschaffen werden musste, sollte in den USA der Anteil des Wohneigentums einer wachsenden Bevölkerung gesteigert werden.10 Im Folgenden werden die Wechselbeziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der Mittelklasse im Bereich Wohnen von der Zeit des New Deal bis zum Ende der vierziger Jahre untersucht. Der Blick staatlicher Vertreter auf die Mittelklasse und der Blick der Mittelklasse auf den Staat soll im Rahmen konkreter Beispiele rekonstruiert werden. Dabei sollen folgende Fragen im Mittelpunkt stehen. Wie griff der Wohlfahrtsstaat in die unmittelbarste Lebensumgebung, das eigene Haus, amerikanischer Familien ein? Unterteilten Vertreter der Regierung, und damit des Wohlfahrtsstaats, die Gesellschaft in verschiedene gesellschaftliche Klassen mit unterschiedlichen Anrechten auf Unterstützung? Wie differenzierten und charakterisierten Mitarbeiter einer Wohnungsbehörde wie der FHA Familien? Wie reagierten die so Begünstigten? Zwei Initiativen bundesstaatlicher Stellen werden genauer untersucht. Zum einen ist dies die Modellsiedlung Cahaba Village in Alabama. Sie wurde Mitte der dreißiger Jahre eigens für die Mittelklasse geplant, errichtet und betreut. Zum anderen sind dies Überlegungen von Bundesbehörden zum No Man’s Land. Dieses Sinnbild beschrieb Familien, deren Einkommen zu hoch war, um von direkter wohlfahrtsstaatlicher Hilfe zu profitieren und gleichzeitig zu gering, um sich ein eigenes, angemessenes Haus leisten zu können.
8 Dieses vorläufige Ende resultierte vor allem auf der ökonomischen Krise des Ziellands USA und strikten Einreisebeschränkungen, die 1924 durch den National Origins Act besiegelt worden waren. 9 Von einem japanischen U-Boot-Angriff in Oregon und einigen Spionagemissionen des Deutschen Reichs abgesehen, erfolgten die einzigen Attacken auf das Festland der USA durch japanische »fire balloons«. Ihnen fielen insgesamt sechs Menschen zum Opfer. 10 Vgl. Conley u. Gifford, S. 60.
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2.1 Alabama und Birmingham vor der Großen Depression »Worst hit town in the country.«
Alabama
Franklin D. Roosevelt während der Großen Depression über die Stadt Birmingham11
Alabama wurde im Jahr 1819 der 22. Staat der USA. Mit etwas mehr als 135.000 km² nimmt Alabama ein Drittel der Fläche des heutigen Deutschlands ein. Im Norden durch die Appalachen begrenzt, verfügt der waldreiche Staat im Süden über Zugang zum Golf von Mexiko. Seine Nachbarstaaten Tennessee, Mississippi, Florida und Georgia gehören wie Alabama zu den Südstaaten. Unterhalb der Verwaltungsebene des gesamten Staats, dessen Regierung unter Vorsitz des Gouverneurs in der Hauptstadt Montgomery tagt, ist Alabama in 67 Countys gegliedert.12 Die 1901 verabschiedete, ungewöhnlich lange, Verfassung verlieh der Regierung Alabamas bemerkenswert viele Rechte in einem stark zentralisierten politischen Setting. Zwar bestimmten auch hier Countys und Städte über eigene Belange, wie Schulorganisation, Polizei und Müllentsorgung. In kaum einem anderen Staat war der Einfluss der Hauptstadt jedoch vergleichbar stark ausgeprägt. Bereits geringe gesetzliche Änderungen mussten in Montgomery vorgetragen und in komplizierten Verfahren als Verfassungszusätze verabschiedet werden. Selbst einfache Abgabenänderungen in den Countys bedurften der Zustimmung Montgomerys. Alabamas Sozialstruktur war im 19. Jahrhundert geprägt von Pflanzeraristokratie und Sklaven. In mehreren Schüben veränderte sich die gesellschaftliche Topographie noch vor Ausbruch des Bürgerkriegs.13 Öffentliche Schulen, Banken, Bibliotheken und Verwaltungsreformen wurden zu äußeren Zeichen inneren Fortschritts. Die ländlich geprägte Gesellschaft interagierte zunehmend in Wirtschaft, Religion und Kultur mit den wachsenden Städten der Region.14 Mit steigenden Bildungsmöglichkeiten und zunehmender Bedeutung von Handel und Handwerk schuf die unmittelbare Zeit vor dem Bürgerkrieg, die antebellum period, die Lebenswelt für die Mittelklasse des Südens.15 Sie wurde mit Attributen wie fleißig und energetisch als Puffer zwischen den reichen 11 Franklin D. Roosevelt über Birmingham, zit. n. Leighton, S. 239. 12 Mehr als 10.000 dieser Körperschaften zählten die USA um 1900. Im Süden dominierte das County als wichtigste Verwaltungseinheit, während im Nordosten die town bedeutender war, vgl. Katz u. Stern, S. 30. 13 Für eine Übersicht vgl. Lipset; für Besonderheiten der Südstaaten-Mittelklasse in Bezug auf ihre Herkunft siehe Wells. 14 Zu dieser Entwicklung siehe etwa Kimball. 15 Vgl. Wells, S. 8.
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Pflanzern und den armen Massen beschrieben. Sie galt als positives Element der Gesellschaft.16 Erstmals erfuhren die Bewohner Alabamas die Macht der Bundesexekutive während des Bürgerkriegs und der anschließenden Phase der Reconstruction (1863/65–1877).17 Sie hatte für Alabamas Afroamerikaner zum ersten Mal die Chance auf politische Mitbestimmung und eine Linderung ihrer Diskriminierung bedeutet. Alabamas Verfassungsversammlung von 1901 revidierte beides zum Großteil. Sie war wiederum von zwei Interessensgruppen dominiert worden. Neben den planters, Großgrundbesitzern, die meist aus dem Black Belt im Süden stammten, waren dies die sogenannten Big Mules: Repräsentanten der Banken, der Eisenbahngesellschaften und der Großindustrie rund um Birmingham. Gemeinsam blieb dieses Bündnis aus Black Belt und Big Mules während der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts die einflussreichste Interessenskoalition Alabamas.18 Sie kodifizierte mit der Verfassung 1901 ihr Kernanliegen, das Wahlrecht von Afroamerikanern und armen Weißen einzuschränken.19 So wurde eine poll tax eingeführt, die allen Wählern eine jährliche Abgabe auferlegte, die sich bei Nichtzahlung summierte. Das solcherart von vornherein empfindlich beschränkte Wahlrecht konnte zudem schnell entzogen werden, etwa durch die »Vergehen« Homosexualität und Landstreicherei. Daneben wurden von der Verfassung auch soziale Rechte empfindlich eingeschränkt. Die Schulen des Staats wurden segregiert, Ehen von Menschen unterschiedlicher Hautfarben verboten.20 Dies führte, wie auch in anderen Staaten des Südens, zur weitgehenden Rückgängigmachung der demokratischen Mitbestimmung, die ein Resultat des Bürgerkriegs gewesen war. Vor 1901 hatte die Wahlbeteiligung bei achtzig Prozent gelegen; 1940 war nur ein Drittel aller erwachsenen Einwohner Alabamas überhaupt als Wähler registriert.21 Diese Einschränkung politischer Mitgestaltungs möglichkeiten wirkte sich negativ auf die Lebensqualität aus. Alabama landete während des 20. Jahrhunderts kontinuierlich in den hinteren Rängen wirtschaftsbezogener Statistiken und landesweiter Umfragen, welche die Attraktivität der Staaten abfragten. Die Verfassungsgeber von 1901 hatten es den Regierungen der Folgezeit außerdem nahezu unmöglich gemacht, Grundsteuern zu erheben. 1940 kamen mehr als 75 Prozent der Steuereinnahmen des Staates aus Verkaufssteuern oder anderen individuellen Steuern. Der Anteil der Grundsteuer sank hingegen kontinuierlich. Machte sie 1920 noch 63 Prozent der Einnahmen A labamas aus, lag 16 Vgl. ebd., S. 9. 17 Zur Reconstruction siehe Foner; McPherson; Perman. 18 Vgl. Grafton u. Permaloff. 19 Eine sogenannte »Großvaterklausel« erlaubte es weißen Analphabeten von zusätzlich eingeführten literacy tests vor der Wahl befreit zu werden, wenn bereits ihre Großväter zur Wahl zugelassen waren: vgl. Flynt, S. 7–8. 20 Vgl. ebd., S. 12. 21 Vgl. ebd., S. 15.
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ihr Anteil 1978 bei lediglich 3,6 Prozent.22 Kein anderer Staat erhob vergleichbar geringe Grundsteuern. Der nationale Durchschnitt war zu diesem Zeitpunkt viermal so hoch. Dieses System verschob die Steuerlast während des 20. Jahrhunderts immer weiter zulasten unterer Einkommen. Was die Anwerbung von Unternehmen erleichtern sollte,23 verringerte die Ressourcen des Wohlfahrtsstaats enorm.24 Die Regierungsarbeit wurde im Alabama des 20. Jahrhundert zudem dadurch erschwert, dass Steuern zu einem Großteil präzise definierten Zwecken vorbehalten waren. Sie waren earmarked.25 Somit gelangten viele Abgaben nur für festgelegte Zwecke in die Hände der Regierung in Montgomery. Ihr wurde damit zunehmend die Autonomie über ihre finanziellen Mittel genommen. Birmingham Obwohl Alabama, als Heart of Dixie, einer der Kernstaaten des Deep South war, ähnelte Birmingham im 20. Jahrhundert eher Detroit und Pittsburgh als Atlanta, New Orleans und Memphis. Die äußerst seltene räumliche Nähe zu den Grundzutaten der Stahlproduktion (Eisenerz, Kohle, Kalkstein) begünstigte den schnellen Aufstieg Birminghams zum industriellen Zentrum des Südens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Broschüren der Stadtverwaltung bezeichneten das erst nach dem Bürgerkrieg gegründete Birmingham in den fünfziger Jahren anspruchsvoll »Youngest of the World’s Great Cities«.26 Vor der Großen Depression waren waren »business middle-class priorities and business middle-class leadership« als Grundlage der Arbeit der Verwaltung Birminghams vollständig akzeptiert.27 Öffentliche Vertreter beschrieben die Aufgaben, Ziele und Funktionen des Rathauses von Birmingham in Manage-
22 Zu Beginn der neunziger Jahre war sie auf unter zwei Prozent zurückgegangen. 23 Neben der nahezu vollständigen Abwesenheit von Gewerkschaften, beeinflusst auch die geringe Steuerlast bis heute die Entscheidung großer Unternehmen, Alabama als Produktionsstandort zu wählen, positiv. »Mercedes-Benz-Cars« produziert Autos in Tuscaloosa, »ThyssenKrupp« verarbeitete Stahl in Mobile. 24 Für einen Verweis auf diese Zusammenhang vgl. Flynt, S. 19. 25 Steuereinnahmen mit einer solchen Zweckbestimmung landeten nicht im allgemeinen Haushalt, sondern waren konkreten Ausgaben zugeordnet. Kein anderer Staat nutzte diese Vorgehensweise in vergleichbarem Umfang wie Alabama. Zu Ende des 20. Jahrhunderts waren 87 Prozent der Steuereinnahmen derart »markiert«. Den zweiten Platz nahm in dieser Hinsicht, mit 65 Prozent, Nevada ein. Der Bundesschnitt betrug 22 Prozent. 26 Birmingham wurde 1871 gegründet. Zur Nutzung der zit. Bezeichnung vgl. den von der Stadt herausgegebenen Prospekt: Birmingham’s Committee of 100 (Hg.), Birmingham, Alabama, Birmingham, Ala. 1959, Akte: 368.6.16, GRPA, BPL, AM. Andere Namen waren Magic City oder Pittsburgh of the South. 27 LaMonte, S. 69; dieses Urteil bestätigt Wilson, S. 26: »No public figure in the 1928–41 period spoke of government in anything but managerial terms; discussions of purpose and equity were totally absent.«
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mentbegriffen.28 So wurde nicht nur allgemein alles als positiv erachtet, was Unternehmen zufriedenstellte. Auch die Stadtverwaltung sollte an unternehmerischen Aspekten gemessen werden. Ihre Ausmaße und Handlungen sollten möglichst eng beschränkt und gut organisiert werden.29 Ab 1929 wurde diese Gewissheit durch die Konsequenzen der Großen Depression zerrüttet. Das von Präsident Roosevelt initiierte Maßnahmebündel New Deal bedeutete die zweite intensive Phase der Einflussnahme des Bundes in Alabama, nach der Phase von Bürgerkrieg und Reconstruction. Diese hatte das Machtverhältnis zwischen Washington und den Staaten endgültig geklärt. Nun übernahm Washington ab 1933 in Form zahlreicher neuer Projekte und Programme direkte Verantwortung für alle Bürger. Dabei wurde im Rathaus von Birmingham die Einflussnahme bundesstaatlicher Programme nicht den eigenen Fehlern zugeschrieben. Vielmehr rechtfertigte man sich, dass die katastrophalen Folgen der Depression keine Alternative zur Hilfe des Bundes erlaubt hätten.30 Am Hilferuf eines Mitglied des US-Repräsentantenhauses aus Alabama vor dem Relief Committee des Senats in Washington im Jahr 1932 lässt sich dies beispielhaft ablesen: »There is plenty of political unrest in Birmingham. My people are desperate […]. They have almost lost the power of reasoning […] There is immense resentment against anyone in public office […] It is unfair to make a local community like Birmingham, whose industries are largely owned in distant financial centers, try to take care of its own relief problems […].«31
Der Abgeordnete warnte vor Unruhen und beschrieb die Verzweiflung sowie das Gefühl, verraten zu werden. Er machte zugleich klar, dass der Bund als ausgleichende Instanz etwas zum Wohle der Bewohner Birminghams unternehmen musste. Sein Hilferuf blieb in der Hauptstadt nicht ungehört.
2.2 Die Lage der white collar workers: Lorena Hickoks Bericht aus Birmingham Nur kurze Zeit nach dem Appell von Huddleston entschied Harry L. Hopkins (1890–1946), die Situation in Birmingham genauer untersuchen zu lassen.32 Dafür entsandte er Lorena Hickok (1893–1968). Die damals vierzigjährige Jour28 Vgl. LaMonte, S. 76. 29 Dies ähnelte einem weit verbreiteten Ideal von Organisation, siehe hierzu Hartmann, S. 28–43. 30 Vgl. LaMonte, S. 70. 31 Zit. n. Connor. Der zitierte George Huddleston (1869–1960) vertrat den Wahlkreis, in dem auch Birmingham liegt. 32 Hopkins leitete die Federal Emergency Relief Administration (FERA), eine der ersten zentralen wohlfahrtsstaatlichen Behörden. Sie setzte die Arbeit der ERA, die schon unter Präsident Hoover installiert worden war, fort. Ihre Arbeit ging 1935 in der Works Progress Administration (WPA) und der SSA auf.
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nalistin besuchte Alabama während der bis heute tiefsten Wirtschaftskrise der USA. Sie war von Hopkins, einem der wichtigsten Vertrauten Präsident Roosevelts, beauftragt worden, das Leid der Amerikaner im ganzen Land festzuhalten.33 So berichtete Hickok während der Großen Depression aus allen Teilen der USA. Während dieser insgesamt dreijährigen Mission erstellte sie einige der eindrücklichsten Schilderungen der Armut im gesamten Land. Um die Notwendigkeit, aber auch die Wirkung des New Deal zu belegen, sollte sie seine Erfolge dokumentieren. Als sie Alabama erreichte, litt der Staat wie kaum ein zweiter unter der wirtschaftlichen Depression. Nirgends war die Zahl der Beschäftigten vergleichbar stark gesunken. Das Durchschnittseinkommen war zwischen 1929 und 1935 von 311 auf 194 Dollar zurückgegangen. Präsident Roosevelt hatte Birmingham öffentlich als die am schwersten von der Krise betroffene Stadt bezeichnet.34 Der Einschnitt, den der New Deal bedeutete, kann in Ausmaß und Qualität kaum überschätzt werden. Erstmals wurde Washington aktiv, um für Amerikaner aller Schichten zu sorgen. Die Neuheit dieses Schrittes lässt sich an den Handlungen vorheriger Regierungen ablesen. Noch wenige Jahre zuvor hatten die Vorgänger Roosevelts die strikte Meinung vertreten, die Amerikaner müssten für ihre Regierung, nicht die Regierung für die Amerikaner da sein. Nun entstanden in den Appalachen, deren südliche Ausläufer weit in den Norden Alabamas ragten, einige der aufwendigsten Projekte des New Deal wie etwa die Tennessee Valley Authority.35 Als Lorena Hickok an einem Sonntag im April 1934 ihren ersten Bericht aus Birmingham an Hopkins sandte, legte sie ihm nicht nur eine konzise Lage beschreibung vor, sondern auch ihre Pläne für den Aufenthalt im Südstaat. Zu ihren drängendsten Zielen zählte sie, zu untersuchen, »what this white collar business is all about«.36 Gerade diese Gruppe, so meinten Hickok und ihre Kollegen in Washington, sollte ins Zentrum der Frage gestellt werden, wie die aktuelle Krise abgemildert und zukünftige abgewehrt werden konnten. Hickoks Rückschlüsse in Birmingham wirkten sich auf die Arbeit wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen des Bundes aus. Gleichzeitig spiegelte aber bereits die Herange hensweise von Hickok Ängste der Regierung wider, die sie im Zusammenhang mit der Mittelklasse hegte. Sie galt als empfänglich für kommunistische Einflüsse, wenn es nicht gelingen sollte, ihren Lebensstil auf dem Niveau der Vorkrisenzeit zu erhalten. In ihren Schreiben an Washington berichtete Hickok von Interviews, die sie mit Angestellten in Birmingham geführt hatte. Diese, so betonte sie immer wieder, würden sich zwar momentan nicht beschweren. Jedoch 33 Zu Hickoks Berichten, die Reisebeschreibungen, Interviews mit gewöhnlichen Menschen und Unterlagen lokaler Behörden enthielten, siehe Lowitt u. Beasley. 34 Vgl. Flynt, S. 139. 35 Zum New Deal bieten noch immer drei Klassiker den besten Überblick: Badger; Schlesinger, Coming; ders. Politics. 36 Zit. n. Lowitt u. Beasley, S. 203.
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hätten sie mehrmals implizit geäußert, dass sie Probleme mit der Unangemessenheit ihres Lebenswandels hätten. An die »semblance at least of their normal standards of living« geklammert, bemühten sich die Angestellten, ihren Status zu wahren. Mit einer Metapher beschrieb Hickock, wie die Ansprüche der Angestellten angesichts der Realitäten ins Leere liefen: »We can provide overalls, but not tailored suits. We can’t keep those white collars laundered.«37 Die Hilfen des New Deal sicherten 1934 nicht den Status der Angestellten. Den Frauen und Männern um Hopkins war die Lage der white collar worker nicht allein aus Nächstenliebe wichtig. Sie galten als Keimzelle und potentielle Rädelsführer umstürzlerischer Aktivitäten.38 In Birmingham wurde Hickock in dieser Ansicht bestärkt. So meinte sie im Frühling 1934 zu erkennen, dass den Angestellten der nach außen präsentierte Lebensstandard das wichtigste Gut sei. Dieser spiegelte sich, so Hickok weiter, in erster Linie durch das eigene Haus wider. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen, vorzeigbaren Haus und der politischen Einstellung fiel Hickok immer wieder auf. Noch bevor der Fertighausproduzent Levitt Jahrzehnte später behauptete, kein Mann mit eigenen Haus könne Kommunist werden, stellte Hickok fest, dass die Regierung von den white collar workers trotz wirtschaftlicher Krisen nicht verlangen durfte, ihre Bleibe aufzugeben: »[…] if we force them to give that up, we shall, in many instances, either break their morale completely or make Communist leaders out of them.«39 Mit dieser Furcht der Regierungsvertreterin ging der Eindruck einher, der ebenfalls für das Bild der white collar workers typisch war: Sie wurden als besonders duldsam und belastbar beschrieben. Nicht einmal der drohende Hungertod könnte sie dazu bringen, in ein schlechteres Viertel zu ziehen. Dies zeichnete sie im Vergleich zu Familien anderer Schichten aus: »[…] another family – not a white collar family – might have broken down, let themselves be evicted, moved into cheaper quarters. But these people won’t. Apparently they won’t even let themselves be starved to it.«40
Auf die Frage, wie man diesen Familien helfen könne, wusste jedoch auch Hickok, die nun die Situation vor Ort kannte, keine Antwort. Vielmehr bestätigte sie das schon antizipierte Dilemma. Einerseits konnte man Angestellten nicht helfen, ohne die Gewerkschaften, die sich in den Augen der Bundes 37 Lorena Hickok an Hopkins, 2.4.1934, zit. nach ebd., S. 205. 38 Soziologen teilten diese Überzeugung. Zu den ersten, der solche Zusammenhänge beschrieb, zählte Lewis Corey: »That is what brought fascism in Germany. The economic crisis was unsolved; middle class and farmers fought against workers; out of the economic breakdown and disunity came the chance for the Nazis to seize power. While the middle class, by and large, supported Hitler, millions of its members never voted for him. Understanding and unity could have averted the disaster.« Corey, S. 85. Als Interviewpartner standen Hickok in Birmingham Ingenieure, Versicherungsmitarbeiter und ein »lumberman« Rede und Antwort. 39 Hickok an Hopkins, 2.4.1934, zit. nach: Lowitt u. Beasley, S. 206. 40 Ebd.
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regierung exklusiv für Arbeiterinteressen einsetzten, auf die Barrikaden zu bringen. Andererseits weigerten sich die Angestellten, sich überhaupt für Hilfsleistungen zu registrieren.41 Schon bevor der New Deal in die Stadt gekommen war, hatte es in Birmingham ein »Placement Bureau for Professional People« gegeben, dessen Arbeit alle Angestellten einschloss. Noch vor der Ankunft Hickoks war streng darauf geachtet worden, diese Stelle nicht im eigentlichen »relief office« unterzubringen, das die erste Anlaufstelle für Hilfesuchende war. Stattdessen war das Placement Bureau in einem Gebäude einige Straßen davon entfernt errichtet worden.42 Großen Unmut weckte der Umstand, dass zunächst Nachbarn als Referenz angegeben werden mussten, wenn man sich für Hilfen registrierte. Die Nachbarn, vergewisserte Hickok, seien genau diejenigen, vor denen ein solcher Schritt verborgen bleiben sollte. Auch gegenüber den Mitarbeitern wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen gab es starke Vorbehalte. Diese waren so vehement vorgetragen worden, dass Washington mit konkreten Anweisungen an seine Außendienstmitarbeiter reagierte. So sollten keine jungen Frauen zu Hausbesuchen bei Angestellten geschickt werden. Männer mittleren Alters sollten sich, wenn unbedingt nötig, vor Ort ein Bild von der Lage der Antragsteller machen.43 Nur so könnte die Degradierung der Hilfesuchenden vermieden oder zumindest gering gehalten werden. Neben diesen aus ihrer Sicht notwendigen Zugeständnissen an die Hilfsbedürftigen schilderte Hickok, dass im bundesweiten Vergleich gerade die Mittelklasse in Birmingham recht erfolgreich versorgt würde. Ein »council of white collar people on relief« hatte sich schon vor ihrem Eintreffen formiert. Dieser Rat, zu dem auch nicht-bedürftige Angestellte gehörten, behandelte die Betroffenen respektvoll als Gleichgestellte und nicht als »arme Teufel«.44 Hickok wertete diese Selbstbeschreibung als Beleg dafür, dass es einen positiven Effekt auf die Akzeptanz von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen hatte, wenn Menschen von gleichem gesellschaftlichen Rang die Betreuung von Hilfesuchenden organisierten. Lorena Hickok nahm in ihren Reisen und Schilderungen die Rolle einer Sozialexpertin ein. Darüber hinaus, so konstatierte bereits Rechtswissenschaftlerin Deborah Malamud, ließ auch ihr Vorgesetzter Hopkins in Washington persönliche Vorstellungen von der amerikanischen Gesellschaftsstruktur in die Arbeit seiner Behörde einfließen. Indem dieses spezifische Verständnis auf die Aktionen der Behörde transferiert wurde, beeinflussten wenige Experten Formen und Programme des Wohlfahrtsstaats.45 Dies zeigte sich am Beispiel der
41 Hickok beschrieb dies mit »God, how they hate it«, ebd. 42 Vgl. ebd., S. 207. 43 Vgl. ebd. 44 Hickok an Hopkins, 2.4.1934, zit. n. ebd., S. 208. 45 Vgl. hierzu die Beschreibungen von Malamud, Who, S. 2057.
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Kommunikation von Hickock und Hopkins. Die vor Ort gewonnenen Informationen wurden von Hickok bereits gedeutet und dann an Hopkins weitergeleitet. Oft sah Hickok Hypothesen bestätigt, die ihre Vorgesetzten ihr mitgegeben hatten. Der Einfluss dieser persönlichen Einsichten, etwa zu Standards der Betreuung von Angestellten, war umso weitreichender, als er parallel zu den Maßnahmen des New Deal erfolgte, die zumeist mehr Experimenten als erprobten Antworten glichen. Hier wurde die Gestalt des amerikanischen Wohlfahrtsstaats entscheidend geprägt. Indem sie Informationssammler wie Hickok entsandten, konnten Behördenleiter in Washington sich ein Bild der Situation vor Ort machen. Dabei prägte vor allem die Fragestellung die Rechercheergebnisse: Formierten sich die Angestellten in revolutionären Gruppen? Wie konnte man dies durch Entgegenkommen verhindern? Im Prozess der Wissensaneignung veränderte sich so auch das Wissen, das Experten wie Harry Hopkins zu vermitteln suchten.46 So zog er aus den Berichten über die Ablehnung der white collar-Familien gegenüber Hilfsmaßnahmen den Schluss, dass intensivere Bemühungen nötig waren, um ihnen zu helfen. Er sah die Regierung als die logische Interessenvertreterin der Angestellten. Obwohl sicher weitere Faktoren diesen Entschluss stärkten, ist nicht entscheidend, was ihn ermöglichte, sondern vielmehr, dass Hopkins eine Wahl hatte. Aus juristischer Perspektive auf die Mittelklasse während des New Deal konzentriert sich Deborah Malamud auf die Arbeitspolitik der Bundesregierung in den frühen dreißiger Jahren. Ihre These lautet, dass Regierungsprogramme, die sich dezidiert auf gesellschaftliche Klassen bezögen, Rückwirkungen auf das Selbstverständnis und letztlich die Selbstbeschreibungen dieser Klassen hätten.47 Demnach beteiligte sich auch die Regierung an den Diskursen um die Gestalt der Mittelklasse. Sie setzte Werte und Lebensstandards fest, ermutigte Migranten, diesen Lebensstil anzustreben und schützte jene in der Mittelklasse vor denen, die außerhalb standen.48 Auch am Beispiel von Hopkins zeigt Malamud, dass dieses Selbstverständnis der Regierung auf drei Prämissen beruhte. Erste Prämisse war, dass die Große Depression eine temporäre Verwerfung war.49 Die an einen besseren Lebensstil gewöhnten Angestellten sollten durch diese Phase möglichst unbeschadet hindurch geleitet werden. Dass sich die Regierung eine solche Führung, die ja mit neuen Eingriffen in das tägliche Leben der Amerikaner verbunden war, zutraute, ist die zweite dieser Prämissen. Dazu gesellte sich als drittes, dass die Bundesregierung empfand, über das Mandat zu verfügen, um weitreichende und strukturelle Neuerungen zu schaffen. Diese soll46 Grundlagen des Wissenstransformationsprozesses gehen aus der Arbeit des Soziologen Nico Stehr hervor. Er analysiert die Weitergabe von Wissen durch Experten in der Politik, siehe vor allem Stehr, Wissenspolitik; ders., Wissen; Stehr. u. Grundmann. 47 Malamud formuliert ihre Definition von Klasse strikt entlang von Berufsgrenzen, vgl. hierzu Malamud, Engineering, S. 2320; dies., Who, S. 2021. 48 Zu diesem Befund vgl. ebd. 49 Dazu, dass etwa Hopkins diese Einsicht teilte, vgl. ebd., S. 2057.
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ten vergleichbare Notlagen planerisch auch in Zukunft verhindern oder zumindest lindern. Mit dem raschen Anstieg des Angestelltenanteils in der Gesellschaft ging keine automatische Selbstverortung dieser Gruppe in eine bestehende gesellschaftliche Klasse einher. Für eine Zuordnung zu den Freien Berufen, also Anwälten, Ärzten, Selbstständigen, fehlte der passende Bildungsabschluss. Von den Industriearbeitern, die in Birmingham meist besser bezahlt wurden, unterschied sie nicht allein die Arbeitsauffassung. Sie fanden sich auf der Suche nach einer eigenen Nische.50 Parallel zu dieser Suche setzte sich die Bundesregierung das Ziel, den white collar workers, den »finest people in America«, zu helfen.51 Dabei waren Angestellte in zahlreichen Regelungen des New Deal unberücksichtigt geblieben. Ein Grund dafür ist in ihrer ungleich schlechteren gewerkschaftlichen Organisation zu vermuten. Es lag aber auch an der Identifikation der Angestellten. Sie orientierten sich eher an den oberen Angestelltenschichten und nicht an gut ausgebildeten Arbeitern. Eine Reduktion der Arbeitszeiten lehnten sie beispielsweise vehement ab. Schließlich wurde diese Krisenmaßnahme in erster Linie bei Arbeitern eingesetzt. Für den Manager galt sie nicht. Indem man die eigene Arbeitszeiteinteilung entlang des Vorbilds höherrangiger Berufe arrangierte, grenzten sich die Angestellten von den Arbeitern ab, die nach Stunden bezahlt wurden. Diese aufwärts gerichtete Identifikation lieferte, gepaart mit dem Wunsch durch Fleiß aufsteigen zu können und der geringeren körperlichen Belastung am Arbeitsplatz, eine Grundlage für auch später weiterbestehende Spannungen zwischen Angestellten und Arbeitern. Doch auch gut ausgebildete Arbeiter verstanden ihre Tätigkeit zur gleichen Zeit als unteilbar. Sie wurden ihrem Selbstverständnis nach nicht allein nach Stunden bezahlt, sondern für eine im Vorfeld erworbene Eignung für den Beruf. Ihre Arbeit galt ihnen als »total, not divisible into fungible hour-long bursts of energy to be channeled into pre-set processes«.52 Das Bild des stets auf die Uhr blickenden, gewöhnlichen Arbeiters, des »clock watchers«, diente beiden Gruppen – Angestellte und qualifizierte Arbeiter – als Gegenbild zur eigenen Arbeitsauffassung. Damit orientierte sich ihr Selbstverständnis eher an der Arbeitsauffassung der professionals. Bei Rechtsanwälten, Ärzten und Ladenbesitzern galt, dass geleistete Arbeit in einem nicht standardisierten Verhältnis zur Zeit steht, die für diese Arbeit aufgewendet wurde. Parallel dazu hatten sich die Arbeitsumstände der beiden Gruppen angenähert, was die Organisation der Arbeitszeit betraf. Bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten Unter50 Auch Malamud beschreibt ihren Drang »[to distinguish] themselves from the usually better-educated and better-paid professional workers and the less well-educated but betterpaid skilled [industrial] workers.« dies., Engineering, S. 2230. 51 Das Zitat zu den »finest people« stammt von Hopkins, zit. nach ebd., S. 2215. Wie Hickok sieht auch Malamud das Motiv der Regierung, für diese Hilfen, in der Angst vor einer Radikalisierung der white collar workers, vgl. ebd., S. 2217–2219. 52 Ebd., S. 2294.
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nehmensberater begonnen, die von Frederick W. Taylor (1856–1915) entwickelten, Methoden der Produktivitätssteigerung auf administrative Bereiche großer Unternehmen zu übertragen.53 Auch die Arbeit von Angestellten wurde dank der Methoden des Scientific Management, oder auch Taylorismus, messbar. Auch ihre Effizienz sollte gesteigert werden. Doch zunehmende Effizienz mehrte die Probleme zunächst, statt sie zu mindern. Am 25. September 1937 schrieb die Tageszeitung The Birmingham News, dass sich die wirtschaftliche Lage von Arbeitnehmern durch die bessere Organisation vieler Betriebe noch verschärft hatte. Für das Arbeitspensum, das zehn Männer 1928 erreicht hatten, wurden 1936 nur noch sechs benötigt. Fabriken konnten es sich erlauben, nur Männer unter vierzig Jahren einzustellen. Dagegen beschäftigte der Bund durch seine Agentur zur Arbeitsbeschaffung, WPA, mehr als 33.000 Menschen in Alabama – davon jeden dritten in Birmingham. Ihr Durchschnittsalter lag bei 49 Jahren. Die Zahl der Familien, welche die bundesstaatliche Hilfszahlung relief bezogen, war mit 80.500 nur unwesentlich kleiner als noch drei Jahre zuvor. Auch wenn der Trend eine Verbesserung zeigte, war die Krise nicht überwunden. Insgesamt, so schätzte das Blatt, hatten sich die Kosten der verschiedenen Projekte der Bundesregierung allein in Alabama bislang auf 8,5 Millionen Dollar summiert.54 Dazu gehörte auch das Experiment Cahaba Village.
2.3 Cahaba Village: städtebauliches Provisorium mit Modellcharakter, 1934–1947 Nicht nur Lorena Hickok interessierte sich für die Situation in Alabama. Im Frühjahr 1940 begrüßte der Staat einen ungewöhnlichen Gast. Der Besucher war Mitarbeiter einer Wohnungsbehörde. Er befand sich, wahrscheinlich zu Fortbildungszwecken, auf der Suche nach einer typisch amerikanischen community. Da es sich bei dem Besucher um einen Außerirdischen vom Planeten Mars handelte, fand sich sogleich ein Regierungsvertreter aus Washington, um dem Weitgereisten eine typische Ansiedlung seiner Landsleute zu präsentieren. Der Trip der beiden führte in den tiefen Süden der USA. Nur wenige Meilen von Birmingham entfernt, präsentierte der stolze Gastgeber dem neugierigen Marsianer die neu errichtete Siedlung mit dem klangvollen Namen Cahaba Village. Mit dieser fiktiven Begegnung der »Dritten Art« zwischen zwei Stadtplanern beginnt ein Artikel der Birmingham News vom 29. März 1940. Das Stilmittel des Journalisten, einen Außerirdischen als Publikum zu erfinden, hatte einen gu-
53 Vgl. Kipping; zur Arbeit eines Effizienz-Experten in der Entwicklung standardisierter Verwaltungsabläufe vgl. Hagedorn, bes. S. 137. 54 Continued Relief Held Necessary, BN, 25.9.1937.
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ten Grund. Zweck und Gestalt dieses Wohnkomplexes bedurften grundlegender Erklärung. Schließlich war Cahaba Village ein Siedlungsprojekt, das von der Bundesregierung eigens für die Mittelklasse gebaut worden war.55 Die Planungen zu Cahaba Village hatten bereits 1936, zwei Jahre nach Hickoks V isite, begonnen. Inmitten der Großen Depression waren hier mit Bundesgeldern idyllische Häuschen mit schmucken Vorgärten erbaut worden. Ein Gemeindezentrum, ein Lebensmittelgeschäft und ein Park komplettierten das Retortenstadtbild. Wie der Eintritt in eine neue Ära, so mutmaßte der Journalist, sei der Besuch in Cahaba Village.56 Als er nach den Bewohnern des Dorfs fragte, antwortete der Gastgeber aus Washington dem Marsianer bereitwillig. Die meisten arbeiteten in Birmingham. Ihr Einkommen läge in einem Bereich, der sie zu einem Teil der Mittelklasse machte. Bevor sie nach Cahaba Village gezogen waren, hatten die meisten von ihnen in Mehrfamilienhäusern in Birmingham gewohnt, wo die Miete fast doppelt so hoch gewesen war. Obwohl sie zuvor passabel von ihrem Einkommen gelebt hatten, wäre ein eigenes Haus innerhalb der Stadt für die meisten unbezahlbar gewesen. Warum hatte sich Washington die Mühe gemacht, gerade dieser Gruppe zu helfen? Auch hierfür gab es eine Erklärung. »My friend«, informierte der Repräsentant der Bundesregierung den verständnislosen Marsmenschen, und damit den irritierten Leser, über ihre Pläne zur keynesianisch inspirierten Wirtschaftsstimulation, »the great need of today is to encourage and show people how to better their lot, to raise their level of living, how to have some money to buy things which will increase the market for products which will result in more people working and consequently create more money to buy things.«
Deswegen habe Washington mehrere Modellsiedlungen in Alabama und anderswo errichtet. Sie sollten nicht nur als Vorbild, sondern auch als Experiment dienen: »If it works, it will encourage men with money to build similar ones. […] The U. S. government wants to be mighty sure that Cahaba Village works.« Als der Besuch vom Roten Planeten nachhakte, wer genau in Cahaba Village wohnte, fand die News auch hierfür eine passende Antwort. Um sich für ein Haus qualifizieren zu können, hätten die Bewerber feste Kriterien erfüllen müssen: »Each family had to have a certain income in order to hold its place in the community […]. WPA doesn’t quite give a man that much salary. A man looking for a job would hardly fit into the picture. The men who fit into the picture are clerks, indus55 George Nagel, Cahaba Village – A Dwelling For Neither The Rich Nor Poor. Model Community Is Designed To Enable The Middle Class To Raise Its Standard Of Living, BN, 23.10.1940; zur Geschichte der Siedlung siehe Wager, S. 225; Massey u. Massey. Zeitgenössische Ausgaben der Zeitungen Hub und Trussville News, die zur Geschichte von Cahaba Village Auskunft geben, liegen in der Trussville Public Library. 56 Vgl. Nagel, Cahaba.
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trial workers, salesmen and others whose income is moderate – the man who is about half way between the ›distressed‹ and the ›well to do.‹ These are the men who live in Cahaba Village.«57
Arbeiter und Angestellte wurden nicht länger entlang der Art ihrer Tätigkeit oder Autorität am Arbeitsplatz unterschieden. Vielmehr wurden sie einer gemeinsamen Gruppe zugerechnet, die sich allein aus der Höhe des Einkommens ergab. Cahaba Village war nicht das einzige wohnraumschaffende Experiment des New Deal. Allein in Alabama gab es mindestens vier weitere Versuche der provisorischen und neuartigen Unterbringung.58 Jedoch geben die Ziele hinter der Errichtung von Cahaba Village einen Einblick in die Ziele der Bundesregierung anhand eines konkreten Projekts. Schließlich hatte Hickok erst wenig früher aus Alabama berichtet. Sie hatte aufgezeigt, welche Maßnahmen von der Mittelklasse wie angenommen wurden und welche wohlfahrtsstaatlichen Schritte Aussicht auf Erfolg hatten. Zwar war der Bau von Cahaba Village auch dem politischen Einfluss von Abgeordneten und Senatoren aus Alabama geschuldet.59 Dennoch zeigte er deutlich den hohen Stellenwert, den die Regierung der Mittelklasse beimaß. Sie bemühte sich, Wege und Methoden zu etablieren, um ihr zu helfen und sich zum Vertreter ihrer Interessen zu machen. Die Regierung verband dabei Ziele des New Deal mit späteren Zielen der Wohnungspolitik wie Eigenheimförderung und Kreditversicherung. Somit stellte das Experiment Cahaba Village auch eine Vorschau auf die spätere Wohnungspolitik des Bundes dar. Dabei war das Dorf eigentlich das Resultat eines Irrtums und mehrerer Zufälle gewesen. Der eigentliche Plan für dieses Projekt hatte ein kleines Dorf mit Subsistenzfarmen vorgesehen. Wie auch Birmingham lag Cahaba Village in Jefferson County, das 1819 gegründet worden war. Benannt nach der Mühle des Müllers Truss war die nahegelegene Kleinstadt Trussville seit 1871 eine Suburb von Birmingham.60 Als Reaktion auf die Große Depression entschied die Bundesregierung im Rahmen des New Deal, den Bau von Subsistenzfarmen in Alabama zu unterstützen. Der einflussreiche Senator John H. Bankhead jr. (1872–1946) hatte im Kongress Finanz57 Ebd. 58 Ganze 93 Tugboat Cabins wurden kurz nach Kriegsende als Behelfswohnungen in einer enizigartigen Modellsiedlung in Auburn aufgebaut. Die Häuser ähnelten gestrandeten Schleppern und waren aus dem Bestand der Navy übernommen worden: Tug Cabins To House 186 Auburn Vets, Birmingham Post-Herald, 17.8.1946. 59 Ein Beispiel hierfür waren die bundesweiten Projekte, die dank des Engagements von Senator John H. Bankhead jr. aufgelegt wurden. Eines davon, die Federal Subsistence Homestead Corp., war 1934 speziell dazu geschaffen worden, Industriestädten zu helfen, die von der Depression besonders betroffen waren. Alabama erhielt hierdurch die ersten Mittel zum Aufbau der vier Subsistenzfarm-Projekte rund um Birmingham, vgl. Homestead Tract Being Rushed By Government, Birmingham Post, 2.1.1934. 60 Vgl. Massey u. Massey, S. 9.
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mittel für diverse Projekte in seinem Heimatstaat akquiriert.61 Insgesamt vier dieser Teilzeitfarmen wurden rund um Birmingham nahe der Orte Gardendale, Greenwood, Palmerdale und Trussville geplant. Deren ursprüngliche Planungen zeigen, wie sehr Cahaba Village später von dieser Idee abweichen sollte. Alle vier Projekte erfuhren von Beginn an breite Aufmerksamkeit in Alabamas Zeitungen. Sie wurden als »vast governmental relief project« wahrgenommen. Pro Tag erreichten den Projektleiter fünfzig Bewerbungen für ein Haus in einer der Siedlungen.62 Zu Palmerdale etwa hieß es, dass »Uncle Sam« damit ein »›here’s how‹ program in the Birmingham district« initiiert habe. Dort waren sechzig Häuser geplant, welche die Regierung für Angestellte vorsah. Die notwendigen Hypotheken sollten einfach zu akquirieren sein: »on terms which will be easier than paying rent«. Das Projekt wurde später als Birmingham Homesteads bekannt. Es war dazu gedacht, »to give a new incentive in life to a certain class of ›white collar‹ men«. Das Projekt beschränkte sich auf den Bau von Subsistenzfarmen. Hühnerställe, Ackerland, eine Kuh und ein paar Hühner wurden den akzepierten Bewerbern gestellt. Diese, so ein begeisterter Journalist, kamen aus Bürogebäuden, Banken, Kaufhäusern, Fabriken und den Redaktionsstuben lokaler Zeitungen.63 Die wenigen negativen Reaktionen auf die Pläne geißelten den staatlichen Eingriff an sich. Die Bundesregierung nehme durch ihre Subventionen kommunistische Handlungsmuster an. Dem entgnete man, Eigenständigkeit fördern zu wollen: »Very little relief money would have been needed […] if every man who had lost his job had had five acres of land with a garden, an orchard, a few pigs, chickens, and plenty of milk and butter.«64 Dies zeigt vor allem, wie leicht Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat umgedeutet werden konnte. Aus einer Bedrohung für die Selbständigkeit durch staatliche Hilfen wurde das Gegenteil: Der Staat unterstützte die Menschen, eigenständig zu werden. Dies sollte durch eine Mischung aus Anreizen und Impulsen geschehen. Während die anderen Projekte tatsächlich als Farmen genutzt wurden, stellte sich das Vorhaben nahe Trussville schnell als Sonderfall heraus. Auf dem von der Regierung gekauften Land standen vor Projektbeginn im Jahr 1934 bereits mehr als fünf Dutzend Häuser. Deren Bewohner wurden zunächst umgesiedelt.65 Möglicherweise hinderte dies die Käufer, einen genaueren Blick 61 Vgl. Russel Kent, Homestead Fund of $750,000 Ready for Birmingham, The Birmingham Age-Herald, 1.12.1934. 62 Homestead Tract Being Rushed By Government, Birmingham Post, 2.1.1934. 63 Vgl. Bob Kincey, Price Gains Will Be Big. Palmer Station Project. BAH, 12.8.1934. Die Zeitung Age-Herald wurde 1927 an Victor H. Hanson, den Herausgeber von der Birmingham News verkauft. Er verlegte daraufhin beide Blätter parallel, den Age-Herald als Morgenausgabe und die Birmingham News am Abend. Sonntags erschien eine gemeinsame Ausgabe unter dem Titel The Birmingham Age-Herald. 64 Homestead Tract Being Rushed By Government, The Birmingham Post, 2.1.1934. 65 Die Fläche betrug 615 Acres, also rund 2,5 Quadratkilometer. Unter den Umgesiedelten waren sowohl Weiße als auch Afroamerikaner.
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auf das Land zu werfen. Denn das nun in Bundesbesitz übergegangene Grundstück musste fast drei Jahre ungenutzt bleiben. Eine landwirtschaftliche Fachkommission hatte unmittelbar nach dem Kauf festgestellt, dass der Boden für Ackerbau ungeeignet war. Während die Projekte an den anderen Standorten wie geplant weitergeführt wurden, lag das Land hier brach. Zwar erreichten die Verantwortlichen Ideen für eine anderweitige Nutzung. Keine davon schien jedoch den hohen Kaufpreis von mehr als 83.000 Dollar zu rechtfertigten, den die Regierung bereits investiert hatte.66 Im Frühjahr 1936 inspizierte schließlich Rexford G. Tugwell (1891–1979) das erworbene aber noch ungenutzte Gelände. Der Agrarökonom und Berater Roosevelts sollte auf Geheiß der Regierung den Erfolg der Subsistenzprojekte bewerten. Tugwell, der seit 1932 einem Expertenrat für Roosevelt, dem sogenannten Brain Trust, angehörte, leitete die Resettlement Administration (RA). Sie war von April 1935 bis Ende 1936 eine Kerninitiative des New Deal. In Trussville angekommen, berichteten ihm seine Mitarbeiter vom Traum des hiesigen Projektleiters und Landschaftsarchitekten W. H. Kestler. Jener hatte bereits erste, rudimentäre Pläne für eine neue Siedlung an dieser Stelle entworfen. Subsistenzwirtschaft war in diesen Plänen nicht vorgesehen. Tugwell zeigte sich beeindruckt und beauftragte Kestler, einen konkreten Vorschlag für eine Modellsiedlung zu entwerfen. Er erweiterte jedoch Kestlers Pläne – nicht um architektonische Komponenten, sondern um die Maßgabe, wer in diesem Dorf leben sollte. Tugwell wollte eine gartenstadtähnliche Suburb errichten lassen, deren Bewohner er sich als eine Gemeinschaft junger Familien mit vergleichbarem sozioökonomischem Hintergrund vorstellte. Diese sollten in erster Linie an den Idealen von Nachbarschaftlichkeit, Gemeinschaft und Lebensqualität interessiert sein.67 Dies verband die Pläne mit denen für Suburb-Projekte Tugwells in Maryland, Cincinnati, Wisconsin, Ohio und New Jersey. Auch wenn das Projekt kleiner und bundesweit weitgehend unbekannt blieb, sollten hier erschwingliche Immobilien in geplanten Siedlungen einer ausgewählten Gruppe von Menschen zugänglich gemacht werden. In Washington dürfte der veränderte Vorschlag gemischte Gefühle hervorgerufen haben. Einerseits bot sich so die Gelegenheit, das bereits investierte Geld doch noch in ein vielversprechendes Projekt münden zu lassen. Andererseits reichte die bis dahin erworbene Fläche für die nun veränderten Pläne nicht aus. Es mussten vielmehr weitere Grundstücke von angrenzenden Farmern hinzugekauft werden. Kestler und sein Stab sendeten eine umfangreiche Begründung für das Projekt und die gestiegenen Kosten an Washington. Darin hieß es, dass das Projekt »greatly needed adequate housing and improved living conditions for families of industrial workers and white collar employees of the Birmingham area« zur Verfügung stellen würde. Die »suburban garden home community of 400 modern homes« wurde facettenreich als modern und attraktiv 66 Vgl. Massey u. Massey, S. 63. 67 Vgl. ebd., S. 66.
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geschildert. Die Annehmlichkeiten reichten von »plumbing for hot and cold water, bathrooms, kitchen sinks and yard hydrants« bis zur Grundausstattung für die beginnende Epoche elektrischer Endgeräte. Schließlich waren die Häuser »wired for electric lights, electric stoves, refrigeration and electric home appliances, and with facilities for adequate heating«.68 Erneut wurden Arbeiter und Angestellte als prospektive Bewohner zusammengefasst. Ihnen sollten moderne Annehmlichkeiten des Wohnens, wie Wasserinstallation, elektrische Öfen und Geräte zur Verfügung stehen.69 In Kestlers Bericht für Washington hieß es weiter, dass die Nachfrage nach Immobilien in und um Trussville bereits sehr groß war. Hier fänden sich eine exzellente Junior High School und gute Verkehrsanbindungen. Mit der geplanten Modellsiedlung vor den Toren von Trussville sollte dieser Trend bestärkt und die Nachfrage bedient werden. Zugleich sollte sie Standards setzen, an denen sich private Anbieter in Zukunft orientieren werden würden. Dies rechtfertigte Kestler zufolge neue, deutlich höhere Gesamtkosten. Mit einer Summe von über 2,5 Millionen Dollar überstiegen die Kosten deutlich die Investitionen in die anderen Bundesprojekte in Alabama. Die Dimensionen und die Annehmlichkeiten der Siedlung, die in den Planungen die vorläufige Bezeichnung Slagheap Village erhalten hatte, waren beachtlich.70 Neben den nun 400 Wohneinheiten kamen ein Swimmingpool, ein Badehaus, ein Theater, ein Treibhaus, ein Brunnen und ein Musikpavillon dazu. Es ist kaum verwunderlich, dass die Siedlung auch als »the government’s country club« bekannt wurde.71 Nach einigen Planänderungen, bei denen die verschiedenen Haustypen noch weiter variiert und durchmischt wurden, entstand eine einzigartige Wohnsiedlung, die schnell als eine der schönsten im Südosten bekannt wurde. Die Lokalpresse berichtete überschwänglich. So hieß es am 22. April 1938: »The South’s greatest experiment to help the ›white collar worker‹ live better at less cost. […] A select group of applicants will move into new model homes […] for a taste of the more ›abundant life‹ that has been the goal of the Roosevelt Administration.«72
Im gleichen Monat war gar die Rede von einem »Mekka für Männer mit begrenzten Mitteln«: »Strange as it may seem, the most desired part of the project is not that located nearest the entrance and hence nearest Trussville and Birmingham. Rather that portion of the project lying on the highest part of the tract and which has natural shade trees is the most sought after and houses in this part are nearly all assigned.«73 68 Zit. n. ebd., S. 69. 69 Dass der Elektrizität und allen damit verbundenen Geräten besonders hoher Stellenwert in den USA der dreißiger Jahre zukam, zeigt eindrücklich: Schivelbusch. 70 Der Begriff slagheap bezeichnet eine Schlacken- oder Abraumhalde; der Name der Siedlung wurde bald geändert. 71 Massey u. Massey, S. 70. 72 Model Homes To Be Ready on May 1, BAH, 22.4.1938. 73 William M. Hinds, Here’s Mecca for Men of Moderate Means, BN, 22.4.1938.
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Dass landschaftliche Schönheit attraktiver als ein kurzer Arbeitsweg war, erschien bemerkenswert. Das Bewerbungsverfahren für die Häuser war mehrstufig. Die künftigen Bewohner wurden auf Basis von »good character, goog credit rating, need and income range« gekürt. Die meisten der Bewerber entstammten der »so-called white collar class.«74 Lange blieben der Andrang der Interessenten und Erfolg des Projekts ungebrochen. Als neuer Aspekt in den Schilderungen tauchte wenig später und dann immer öfter das behütete, fast isolierte Leben der Kinder von Cahaba Village auf. Wer hier groß werde, müsse vor Erreichen der Highschool die Siedlung quasi nicht verlassen. Neben seiner pastoralen Schönheit galt als wichtigstes Argument aber noch immer die Homogenität der Familien: »What makes the community so peaceful and contented […] is the fact that everyone living here makes about the same amount of money. There’s no ›keeping up with the Joneses‹ at Cahaba Homesteads. This fact alone induced many families to move there.«75
Im Mai 1938 zogen die ersten Familien ein. Wie auch dem Marsianer im fiktiven Bericht geschildert, waren sie handverlesen. Vertreter der Bundesregierung kümmerten sich um das Management der Siedlung, die weiterhin in Bundesbesitz blieb und deren Häuser lediglich an ihre Bewohner vermietet wurden. Cahaba Village wurde unmittelbar von der Bundesregierung verwaltet, erst von der FSA und ab Oktober 1942 von der Federal Public Housing Administration. Die Aufgaben vor Ort waren dem Community Manager übertragen. Er traf alle wichtigen Entscheidungen. Um sich für ein Haus in Cahaba Village zu qualifizieren, musste das Jahreseinkommen zwischen 1.500 und 2.300 Dollar liegen. Erfüllten Bewerber diese notwendige Voraussetzung, warteten weitere Prüfungen auf sie, die sich heute jedoch nicht mehr rekonstruieren lassen. Schon im Sommer 1938 kam das erste Baby in Cahaba Village zur Welt. Ein kostenloser Kindergarten erwartete es schon. Kurze Zeit später waren bereits 164 Häuser belegt. Wie eng die Bewohner in Kontakt mit den Verwaltern in Washington standen, zeigen die Auseinandersetzungen um die Höhe der Miete. Sie wurde ab Juni 1939 je nach Haustyp auf 14 bis 23 Dollar festgelegt. Einige Bewohner hatten sich zuvor beschwert, dass sie im Vergleich zu ihren alten Wohnungen in Birmingham zu teuer seien. Dort hatten sie lediglich 10 bis 15 Dollar pro Monat zahlen müssen.76 Alle Einwohner von Cahaba Village arbeiteten in Birmingham, weswegen man hier tagsüber keine Autos sah. Obwohl den Bewohnern elektrische Gerät74 Ebd. 75 Cahaba, Near Trussville, Is Attractive Center, With Pretty Residences, BN, 11.4.1939. 76 Die Angabe zur Miethöhe von Massey und Massey ist ein Widerspruch zum oben angeführten Zeitungsartikel von Nagel von 1940. Dort hatte es geheißen, dass die Miete in Cahaba Village günstiger sei als in Birmingham. Wahrscheinlich diente es dem Argument der Bewohner, ihre alten Mieten geringer darzustellen.
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schaften für ihre Haushalte versprochen worden waren, teilten zunächst alle eine gemeinsame Waschmaschine. Dies deutet bereits auf ein recht enges Gemeinschaftswesen, das auch von den Planern und Verwaltern von Cahaba Village vorgesehen war. Diese waren es auch, welche die Gemeindeversammlung initiierten, die ab 1938 den Zusammenhalt der Bewohner formen und nach außen widerspiegeln sollte. Zwar waren diese Veranstaltungen freiwillig. Es schien jedoch ein gewisses Maß an sozialem Druck bestanden zu haben, sodass jeder, der nicht teilnahm, schnell als Außenseiter galt. Da durch die Zugangskriterien alle Familien ähnlichen Verhältnissen entstammten, war die Einwohnerschaft von vornherein sehr homogen.77 Eine zeitgenössische soziologische Studie untermauerte diesen Eindruck.78 Sie untersuchte die Bevölkerung von Cahaba Village und dem angrenzenden Trussville. Die Bevölkerung der beiden Orte war zu 78 Prozent weiß. Von den insgesamt 85 Analphabeten waren fünfzig Afroamerikaner. Die politische Ausrichtung war hier noch deutlicher als im Rest des Südens gelagert: neun von zehn Bewohnern gaben an, Demokraten zu sein. Zu den häufigsten Vergehen zählten Schwarzbrennerei und Trunkenheit. Durch die Erfahrungen in der Siedlung wuchs die Homogenität der Bewohner scheinbar noch an, obwohl diese so unterschiedliche Berufe wie Stahlarbeiter oder Versicherungskaufmann ausübten. Dafür hatten die Zugangskriterien der Bundesregierung den Grundstein gelegt. Die geteilten Erfahrungen – etwa im Konflikt mit der Bundesregierung um die Höhe der Mieten – ließen die Gruppe dann vor Ort noch enger zusammenwachsen. Reibungen zwischen Bewohnern und Betreibern der Siedlung war von Anfang an vorhanden. So baten die Einwohner von Cahaba Village ihre Vermieter aus Washington schon im Oktober 1938, Bürgersteige zu bauen und, erneut, die Mieten zu senken.79 Widerstand und Unwillen trafen eine weitere Komponente des Plans für Cahaba Village: die Genossenschaft. Sie war ein zentraler Teil der Vision Tugwells gewesen. Er und Kestler hatten 1937 die Etablierung einer Genossenschaft gegenüber Washington explizit gefordert und umfassend begründet. Im Gegensatz zu den anderen subsistence homestead projects, zum Beispiel in Palmerdale und Greenwood, könnte man in Cahaba Village keine landwirtschaftliche Produktion ansiedeln. Da es in den anderen Siedlungen den Bewohnern erlaubt war, sich zu agrarischen Genossenschaften zusammenzuschließen, sollte dies auch hier ermöglicht werden. Doch welche Funktion sollte genossenschaftlich übernommen werden? Kestler und seine Mitarbeiter sahen vor, einen Gemischtwarenladen und eine Tankstelle auf kooperativer Basis zu gründen und landwirtschaftliche Produktion dagegen komplett außen vor zu lassen. Ein Bestandteil der Mittelklasse-Siedlung sollte in den Plänen der wohlfahrtsstaatlichen Planer also die genossenschaftliche Betätigung der Bewohner sein. Die 77 Vgl. Massey u. Massey, S. 84–85. 78 Sie wurde von Studierenden der University of Montevallo durchgeführt und unterschied schon 1938 nicht mehr zwischen Trussville und Cahaba Village. 79 Vgl. Trussville News, Oktober 1938.
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Genossenschaft wurde am 28. Juni 1938 gegründet. Sie hatte das Recht, einen Gemischtwarenladen und eine Tankstelle zu betreiben, Land zu erwerben, mit staatlichen Stellen zu verhandeln und Kredite aufzunehmen. Sie sollte sich allein durch die Mitgliedsbeiträge der Bewohner finanzieren. Jeder volljährige Bewohner hatte das Recht auf eine Mitgliedschaft. Mitglieder zahlten reduzierte Preise in den beiden Geschäften. Zur Aufnahme genügte ein einmaliger Beitrag von 1 Dollar. Schnell erwies sich die Genossenschaft als Fehlschlag. Nur zwei Dutzend Einwohner Cahabas zahlten bis Ende 1939 einen Mitgliedsbeitrag.80 Da sie nie Gewinne verbuchen konnte, war sie nicht in der Lage, Rückzahlungen an die Regierung zu leisten. Schon bald setzte Washington die Betreiber der Genossenschaft unter Druck, die ursprünglichen Kredite zurückzuzahlen.81 Doch erst fünf Jahre später, 1944, konnte der Community Manager die Bewohner davon überzeugen, dass es der Regierung ernst war. Die Bewohner mussten von nun an die Kosten für Inventar und Betriebskosten des Ladens übernehmen, die zuvor allein von der Regierung getragen worden waren. Kurze Zeit später übernahm eine neu gegründete, zweite Genossenschaft die Güter der ursprünglichen. Zu den Ursachen für deren Versagen zählten Beobachter die schlechte Vorbereitung und fehlende Motivation der Bewohner. Außerdem habe sie die geringe Summe, die sie zur Gründung der Genossenschaft entrichtet hatten, lethargisch werden lassen. So sei bei den Mitgliedern der hartnäckige Glaube entstanden, es handelte sich um ein Unternehmen der Regierung und fiele daher nicht in ihre Verantwortung. Es fehlte der Anreiz, sich zu engagieren. Ende der vierziger Jahre wurde auch die zweite Genossenschaft aufgelöst und ihre Gebäude an die Stadt verkauft. Ein Jahr nach dem Startschuss für das Projekt, im Mai 1939, zählte Cahaba 179 Einwohner. Diese konnten auf den, einen Monat später fertiggestellten, Tennisplätzen besprechen, wie Washington wohl dazu zu bewegen wäre, die Mieten weiter zu senken. Denn dieses Anliegen blieb prominent. In diesem Jahr, so vermerkte das örtliche Blatt Hub, war die Geburtenrate in Cahaba wahrscheinlich die höchste in ganz Alabama.82 Weil sich noch immer neue Nachbarn für ein Haus in Cahaba bewarben, wurde ein »Family Selection Committee« ins Leben gerufen um geeignete Familien auszuwählen. Die bereits handverlesenen Bewohner des Dorfes kontrollierten so, wer zu ihnen stoßen durfte. Schon seit 1941 diskutierten die Familien von Cahaba Village, ihr Dorf mit Trussville zusammenzulegen. Es war das erste Mal, dass die noch junge Gemeinde, die noch nicht als eigenständige Stadt gegründet, »incorporated«, war, konkret über eine Zusammenlegung diskutierte. Das Thema sollte lange aktuell bleiben. Nun war es auf der Agenda gelandet, weil ein neues WPA-Projekt dafür sorgte, dass Cahaba Village Ressourcen entzogen wurden. Als Vorteile 80 Vgl. Massey u. Massey, S. 95–97. 81 Vgl. ebd., S. 101. 82 Vgl. Hub, Sep. 1939.
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der Zusammenlegung sahen die Einwohner einen Anstieg der Immobilienwerte, mehr Sicherheit durch verbesserten Polizeischutz, günstigere Versicherungsraten, eine eigene Postfiliale sowie eine eigene Bank und ein Wasserwerk. Darüber hinaus konnten so die insgesamt 650 Dollar an Steuern, die jeden Monat an Jefferson County gezahlt werden mussten, eingespart werden.83 Die Forderungen der Bewohner von Cahaba Village hielten die Bundesregierung zunächst jedoch nicht davon ab, immer wieder Dienstleistungen oder Materialien kostenlos zur Verfügung zu stellen, um den Erfolg ihrer Modellsiedlung sicherzustellen. Überhaupt war die Finanzierung diffizil. Die Besteuerung der Einwohner erwies sich aufgrund gesetzlicher Vorgaben als kompliziert. Wegen einer strikten Trennung der Kompetenzen von Bund und Staat konnten weder Alabama noch Jefferson County bestimmte Steuern in Cahaba Village erheben. Es handelte sich ja um eine Institution des Bundes. Eine Hilfskonstruktion erlaubte jedoch Zahlungen von Bundesgeldern an Jefferson County.84 Alle Erträge aus diesem und vergleichbaren Projekten werden nach Washington gesendet und dort in einem Treuhand-Fonds einbezahlt. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass die Subsistenzprojekte und auch Cahaba Village sich schließlich selbst tragen könnten. Alle Überschüsse sollten dem Finanzministerium zukommen. Mit dem Ende des Finanzjahres 1944 war zwar ein Umsatz von 17.000 Dollar in Cahaba erwirtschaftet worden. Das sei zwar löblich, beschrieb eine zeitgenössische Analyse, stellte aber in keiner Weise eine angemessene Rückzahlung der ursprünglichen Investition dar.85 Zu Ende des Zweiten Weltkriegs lebten in Cahaba Village 1.200 Menschen. Eine typische Familie bestand aus vier Personen.86 Der Zusammenhalt der community group, der ohnehin nie sehr groß gewesen schien, sank augenscheinlich 1945 noch weiter, als die monatlichen auf vierteljährliche Treffen umgestellt wurden. Kurze Zeit später machte das Gerücht vom Verkauf der Häuser durch die Bundesregierung die Runde. Im Juli 1945 dementierte der Community Manager diese Gerüchte noch. Ein Jahr später, am 15. Juli 1946, erreichte die Bewohner jedoch die Nachricht, dass ihre Häuser binnen zehn Monaten verkauft werden sollten. Die aktuellen Mieter genossen ein Vorkaufsrecht und die Preise, versprach das Schreiben, würden dem normalen Marktwert entsprechen. Angst vor inflationär hohen Hauspreisen bräuchte niemand hegen. Zwischen den beiden Nachbarorten Cahaba Village und Trussville bestanden bis zum Ende der Schirmherrschaft Washingtons Spannungen. Diese nahmen 83 Für eine detaillierte Aufzählung vgl. Massey u. Massey, S. 102. 84 Zahlungen wurden und werden in diesen Fällen als »payment in lieu of taxes« bezeichnet. Dies gilt z. B. auch für die Grundsteuern von Hochschulen, die lokalen Verwaltungen wegen der Steuerfreiheit dieser Einrichtungen entgehen. Einzelstaaten oder der Bund zahlen dabei eine Kompensation. 85 Vgl. das Fazit in: Wager. 86 Massey u. Massey, S. 86.
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auch danach nur langsam ab. Der zu vermutende Neid auf die Unterstützung aus der Hauptstadt wurde erst gelindert, als die Bewohner Trussvilles auch Mitglieder der Cahaba Association werden durften und so die hiesigen Annehmlichkeiten, wie etwa den Swimmingpool, nutzen durften. Als schließlich die Trussville Times ins Leben gerufen wurde und Neuigkeiten aus beiden Städten verwob, war die Grundlage für den Zusammenschluss der beiden Orte im Jahr 1947 geschaffen.87 Am 29. Juli 1947 gründete sich Trussville unter Einbezug von Cahaba Village als Stadt. Eine Grundsteuer war dabei nicht eingeplant. Das entsprach dem Muster der Gründungen anderer Suburbs in dieser Zeit und der Tradition des Südens im speziellen. Verkauft werden sollten die Häuser durch die Regierung nicht an eine Immobilienfirma, sondern direkt an die jeweiligen Mieter. Kurz nach dem offiziellen Akt beschwerten sich diese aber über die Schätzung ihrer Häuser. In etlichen Briefen an Washington machten sie ihren Protest deutlich. Die Preise, die von der Regierung ursprünglich vorgeschlagen worden waren, reichten von 4.400 Dollar, für ein einstöckiges Haus, über 7.500 Dollar, für ein zweistöckiges Steinhaus, bis zu 9.000 Dollar, für ein Doppelhaus mit vier Schlafzimmern. Ein typischer Vorwurf angesichts dieser Preise lautete, dass die Regierung damit die Inflation unterstützte.88 Die fortgesetzten Bemühungen, den Preis für die Häuser zu senken, führten schließlich zu dem Teilerfolg, dass im ersten Jahr keine Steuern bezahlt werden mussten. Die Regierung in Washington hatte kein Interesse sich länger für das Projekt zu engagieren. Paul W. Wager, Politologe an der University of Alabama, zeigte sich 1945 angesichts der ursprünglichen Ziele aller Projekte rund um Birmingham enttäuscht. So beschrieb Wager in seiner Untersuchung »One Foot on the Soil. A Study of Subsistence Homesteads«, dass die Bewohner der verschiedenen Subsistenzfarmen kaum Interesse an der Landwirtschaft gezeigt hatten. Stattdessen hätten sie Afroamerikaner für die körperliche Arbeit beschäftigt und sich nicht in Gemeinschaftsprojekten engagiert. Und auch das Scheitern der Genossenschaft galt Wager als Fehlschlag. Andererseits hatte nachbarschaftliches Miteinander, spontane Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung die fehlende organisierte Zusammenarbeit zu einem guten Teil wettgemacht, konstatierte Wager.89 Zukünftige vergleichbare Projekte sollten sich daher trotz aller Fehlschläge am Zufallserfolg Cahaba Village orientieren. Die augenscheinliche Ironie dieses Befunds war Wager bereits 1945 klar: Er sprach sich für staatliche Unterstützung für Menschen aus, die nicht zu den Ärmsten gehörten. Einerseits sollten sich aber solche Investitionen in Zukunft rentieren und andererseits sollten von ihnen Familien profitieren, die wirklich auf Hilfe angewiesen waren: 87 Vgl. ebd., S. 92–93. 88 Dies war zeitgenössisch ein üblicher Vorwurf. Die Furcht mittlerer Einkommensschichten vor der Inflation beschreibt Schoppa. 89 Vgl. Wager, S. 209.
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»Delightful as is the Cahaba community, it quite obviously meets neither test. Many of the families there are enjoying good incomes and yet are they beneficiaries of a generous subsidy. That is, their rents contribute very little toward the amortization of the original cost.«90
Die Episode um die Entstehung von Cahaba Village und dessen Zusammenlegung mit Trussville zeigen, dass die Bundesregierung aktiv nach Wegen suchte, einer mittleren Einkommensgruppe zu helfen. Die Konflikte zwischen den Plänen der Regierungsvertreter und den Wünschen und Ansprüchen der Bewohner von Cahaba Village zeigt, wie weit diese auseinanderlagen. Vertreter des Wohlfahrtsstaats, der im New Deal neue Konturen und Ausmaße erhielt, hofften, zum Beispiel durch Genossenschaften, eine stärkere Gemeinschaft zu formen und die wirtschaftliche Selbständigkeit des Ortes durch einen Anschub zu ermöglichen. Die Einwohner von Cahaba Village wehrten sich gegen bestimmte Konsequenzen ihrer Aufnahme in diese geschlossene Gesellschaft. Sie sahen keinen Mehrwert in der gemeinsamen Bewirtschaftung von Gemischtwarenladen und Tankstelle. Die regelmäßigen Treffen der community group interessierten sie kaum. Vielmehr lag ihr Kernanliegen darin, weiterhin in Birmingham zu arbeiten, ohne dort zu wohnen. Ihre Ansprüche an die Vermieter zeigten sie als selbstbewusste Gruppe, deren Ansprüche den Wünschen Bundesregierung zuwider liefen. Wie das Beispiel der Festlegung des Kaufpreises für ihre Häuser zeigt, genoss der persönliche Gewinn einen deutlich höheren Stellenwert als die Betätigung in der Gemeinschaft. Der Plan der Bundesregierung, mit Cahaba Village ein Muster für spätere Siedlungen zu schaffen, gelang dennoch. Schließlich folgten rund um Birmingham, an anderen Orten in Alabama und überall in den USA Neugründungen vergleichbarer Suburbs. Diese wurden zwar in den allerseltensten Fällen von der Bundesregierung direkt gegründet oder finanziert, boten aber viele der Bedingungen, die sich auch hier fanden. Dazu gehörten für Familien mittleren Einkommens das eigene, freistehende und recht mühelos finanzierbare Haus in einem möglichst homogenen Wohnviertel. Mit dem Auto konnte der Arbeitsplatz in der nahegelegenen Stadt einfach erreicht werden. Bald wuchs der Wunsch nach noch größerer Unabhängigkeit. Eine eigene Bank, eine eigene Verwaltung und eine eigene Feuerwehr waren einige Beispiele für die zusätzlichen Einrichtungen, die geschaffen werden sollten. Dagegen sollten Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat und der Stadt, in der man arbeitete, die sich in Grundsteuern oder Gebühren niederschlugen, minimiert werden. Auch wenn sich ihr Projekt in vielerlei Hinsicht nicht so entwickelte, wie Kestler und Tugwell es geplant hatten, war es zum Vorboten dafür geworden, wie Suburbs in der Folge ihre Interessen verteidigen würden. Niedrige Grundsteuern, keine äußere Einmischung und eine möglichst geringe Abhängigkeit von öffentlichen Dienstleistungen sollten die Suburbs zu immer autonomeren 90 Ebd., S. 218.
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Einheiten machen. Damit war Cahaba Village außergewöhnlich, aber nicht einzigartig. Besonders bemerkenswerte Faktoren waren die finanzielle Unterstützung durch Washington, die Genossenschaftsidee und der Ansatz, nur handverlesenen Familien einer genau definierten Einkommensschicht das Leben hier zu ermöglichen. Was hier konkret durch die Bundesregierung vorgegeben wurde und Teil offener und offizieller Planungen war, vollzog sich zur gleichen Zeit hundertfach in den USA ohne diese Vorgaben. Kurz darauf wandelten sich die Vorzeichen. Waren die neuen Bewohner von Cahaba Village ursprünglich auf Suche nach bezahlbaren Wohnungen aus der Stadt gewichen, würde diese bald beginnen, gegen die Abwanderung der Mittelklasse anzukämpfen. Die Debatten um die Eingemeindung der Suburbs von Birmingham kreisten um die Themen Steuern, Gemeinschaft und Lebensqualität.91
2.4 Die Arbeitsgruppe No Man’s Land Housing und die »vergessene Mitte« der Wohnungspolitik, 1944–1945 In einem 1945 erschienenen Artikel einer politikwissenschaftlichen Fachzeitschrift beschrieb Catherine Bauer (1905–1964) aktuelle Regierungsbemühungen, die der »famous neglected middle income group« helfen sollten.92 Die Soziologin griff damit ein Thema auf, dem sich wohlfahrtsstaatliche Behörden in Washington zunehmend intensiv widmeten. So tagte in der FHA ab April 1945 eine Arbeitsgruppe zum »No Man’s Land Housing«.93 Anders als der Name vermuten ließ, wurde hier nicht die Besiedlung des Death Valley oder anderer unwirtlicher Regionen besprochen. In die Rubrik »No Man’s Land«, also Niemandsland, fiel eine gesellschaftliche Gruppe. Diese hatte laut Analysen der FHA von wohnungspolitischen Hilfen bislang nicht oder nur unzureichend profitieren können. In den Akten finden sich, unter dem Schlagwort »Middle Market«, Materialien zu diesem Thema, die bis ins Jahr 1943 zurückreichen.94 Briefwechsel, Berichte und Memos setzten sich mit den Problemen dieses mittleren Marktes auseinander. Die FHA-Arbeitsgruppe, deren Mitglieder der Behörde angehörten aber aus der genannten Akte nicht namentlich identifizierbar 91 Siehe hierzu Kapitel 4 dieser Arbeit. 92 Bauer, Good, S. 113. Einfluss auf Bauer hatte unter anderem Lewis Mumford. Zum Status der städtebaulichen Beraterin mehrerer US-Präsidenten verhalf ihr ihre vielbeachtete Untersuchung von 1934, dies., Modern. 93 In seinem Schreiben vom April 1945 informierte der Vorsitzende des Gremiums den FHACommissioner zu den Fortschritten, siehe B. C. Bovard, Vorsitzender No Man’s Land Committee an Abner H. Ferguson, 18.4.1945, Akte: Middle Market 1945–1950, Box: Commissioner’s Correspondence, Office of the Administrator, RG 31, NACP. 94 Box: Commissioner’s Correspondence, RG 31, NACP; hier finden sich Dokumente aus der Zeit von April 1945 bis Oktober 1950. Weitere Akten dieser Arbeitsgruppe waren nicht auffindbar.
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sind, hatte den Auftrag Hilfsmöglichkeiten für die Mittelklasse zu erarbeiten. Wer war aus Perspektive der FHA damit konkret gemeint und wie sollte die Hilfe aussehen? Ein zentraler Vorschlag der Behörde sah vor, den Bau von Häusern der Preiskategorie zwischen 2.500 und 4.500 Dollar zu unterstützen. Dies sollte landesweit durch breit gestreute Niederlassungen der FHA, die sogenannten »insuring offices«, gewährleistet werden. Deren Mitarbeiter sollten nach eigenem Ermessen bis zu achtzig Prozent einer Hypothek versichern dürfen.95 Außerdem war in den Planungen für die Nachkriegszeit die Erkenntnis ersichtlich, dass der Wohnungsbau als Schlüsselindustrie auf alle anderen Industrie- und Handelsbereiche ausstrahlen würde.96 Nachdem Baufirmen signalisiert hatten, vermehrt auch Mehrfamilienhäuser errichten zu wollen, sollte sich die FHA bemühen, sie dabei zu unterstützen.97 Die indirekten Adressaten dieses Vorhabens, die Bewohner neuer Häuser, wurden von der Arbeitsgruppe am 18. April 1945 wie folgt beschrieben: »The majority of the families in this market are in the white-collar and labor group. Many of them require a degree of mobility which militates against sound home ownership. Moreover, the impact of fixed debt payments on fluctuating incomes and changing family budget requirements is particularly heavy when there is only a small margin between family income and essential family expenditures.«98
Dies zeigt nicht nur erneut, dass sich Behördenmitarbeiter gezielt den Problemen der Mittelklasse widmeten. Sie verstanden diese »vergessene Mitte« als einen Teil der Mittelklasse, in dem Angestellte und Arbeiter zu finden waren. Menschen aus der »white-collar« und »labor group« fassten sie darin zusammen. Für beide, auch einzeln zu identifizierenden, Gruppen gab es damit eine neue gemeinsame Bezeichnung. Die Behörde sollte Programme entwickeln, die den Besonderheiten dieser Gruppe, wie Mobilität und schwankende Einkommen, angepasst war. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor Ende des Krieges, zog die Arbeitsgruppe einen naheliegenden Schluss: Diese Anforderungen könnten auch durch ein »rental housing program« erfüllt werden. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe waren möglicherweise durch einen vertraulichen Bericht inspiriert worden, der zur gleichen Zeit in der Behörde zirkulierte. Dieser Bericht der National Housing Authority (NHA) befasste sich im Mai 1945 mit den Planungen zu einem Hilfsprogramm für die vergessene Mitte.99 Unter dem Titel »New Homes for the Middle-Market. A Program toward a Solution of the ›No-Man’s Land‹ Problem 95 Die Sicherheit sollte bis zu achtzig Prozent der Hypothek oder 3.600 Dollar betragen, je nachdem welche der beiden Summen niedriger war. 96 Vgl. Fish, Housing, S. 199. 97 Bovard an Ferguson, 18.4.1945. 98 Ebd. 99 Die NHA war Teil der Federal Works Agency, die von 1939 bis 1949 bestand.
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in Housing (Report HF-1)«100 beschrieben die Planer der Wohnungsbehörde das Problem des No Man’s Land zunächst grundlegend. In einem zweiten Teil wurden mehrere Lösungsvorschläge für die Sorgen dieser Gruppe erarbeitet. Die Einschätzungen des Berichts wurden anschließend von Vertretern der FHA-Arbeitsgruppe bewertet. Die Ausarbeitungsphase für den Bericht ist nicht genannt. Sie wird aber kaum länger als ein paar Monate vor Fertigstellung am 4. Mai 1945 zurückgelegen haben. Mehrere Kommentare an den Rändern des Berichts deuten darauf hin. Zum No Man’s Land hieß es: »Ever since the various units of the NHA began to be concerned with post-war housing problems the so-called ›no-man’s land‹ in housing construction has held a prominent place in our considerations.«101
Dieses Niemandsland bot seit Bestehen der NHA einen wichtigen Orientierungspunkt für ihre Planungen. Schon im Herbst 1944 hatte eine ihrer Abteilungen eine vorläufige Untersuchung zu diesem Thema vorgenommen.102 Deren Resultate waren in den Bericht eingeflossen. Die Familien des No Man’s Land stammten demnach aus Einkommensgruppen, die weder von staatlichen noch von privaten Angeboten zur Wohnungsförderung profitieren konnten. Sie verdienten mehr als jene Familien, für die Mietswohnungen mit niedrigen Mieten vorbehalten waren. Und sie verdienten weniger als diejenigen, die sich ein neues Haus kaufen konnten. Damit ähnelte die Beschreibung jener, die für die Bewohner von Cahaba Village genutzt worden war. Obgleich bislang ein staatliches Programm fehlte, das sich dezidiert an diese Gruppe richtete, war die NHA weder die einzige noch die erste Organisation, die sich dieses Problems annahm. Ihre Legitimation zogen die Verfasser des Texts vielmehr daraus, dass das Thema bereits seit einiger Zeit in der Immobilienbranche diskutiert wurde: »The existence of a ›no-man’s land‹ in housing construction has been generally recognized for many years. Builders, realtors, and mortgage lending institutions have considered it an opportunity for tapping a broader market and for expanding their services to the community.«
So hatte sich auch der Senat 1944 in seinen Planungen für die Nachkriegsphase dieser Frage gewidmet.103 Immer wieder wurden in den Akten Familien in 100 New Homes for the Middle-Market. A Program toward a solution of the »No Man’s Land« Problem in Housing, Mai 1945, Vorwort, Akte: Middle Market 1945–1950, Box: Commissioner’s Correspondence, Office of the Administrator, RG 31, NACP. 101 Ebd. 102 Dabei handelte es sich um die Credit and Finance Section der Housing Finance Division, die wiederum zum Stab des Administrators gehörte. Sie widmete sich der »nature of the problem and its approximate magnitude, as wells as a review of various proposals for its solution«, ebd. 103 Im Sonderausschuss Postwar Economic Policy and Planning des Senats tagte dieser Ausschuss unter dem Namen Subcommittee on Housing and Urban Redevelopment, vgl. New Homes for the Middle-Market, Vorwort.
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diesem Einkommensbereich als »middle market« beschrieben. Weil gleichzeitig aber auch regelmäßig von einem »market for moderate income families« gesprochen wurde, schien die wirkliche Zielgruppe nur einen Teil einer größeren Gruppe darzustellen. Diese wurde hier allerdings nicht präziser definiert. Sicher schien nur, dass sie groß war. So hieß es: »No tool has as yet been devised to channelize new standard housing into this group which represents a substantial part of our citizenry.«104 In den Augen der Planer besaß damit jede Familie das Recht auf Wohnungsförderung; auch wenn sich Einschränkungen finden ließen. Nicht jede »family income group« sollte mit einem proportionalen Anteil an »new standard housing« versorgt werden. Vielmehr stellte der aktuelle Bestand an Wohnraum bereits einen ausreichend großen Vorrat dar. Dennoch sei es erstrebenswert, dass alle Einkommensgruppen von einem Programm profitieren könnten, deren erster Profiteur die Mittelklasse war. So habe die Vergangenheit gezeigt, dass Häuser der Mittelklasse in gutem Zustand an ärmere Familien verkauft wurden, wenn die ursprünglichen Bewohner in ein neues, meist größeres, Haus zogen. Dies hieß nichts anderes, als dass Ärmeren indirekt geholfen werden konnte, wenn die Mittelklasse als Katalysator auf dem Immobilienmarkt verstanden wurde. Diesen Effekt galt es zu beschleunigen und effektiver zu machen: Die Mittelklasse sollte schneller attraktive Häuser finden, damit diese in Zukunft eher den Besitzer wechseln konnten. Damit plante die Arbeitsgruppe, den »Aufstieg« in die gebrauchten Häuser der Mittelklasse dadurch zu ermöglichen, dass man dieser zu neueren, besseren Häusern verhalf. Dieser Fahrstuhleffekt hob arme Familien vom Erdgeschoss in die gerade frei gewordene erste Etage. Bleibt man in dieser Metapher, waren die ehemalige Bewohner mit mittleren Einkommen dank versicherter Hypotheken in ein höheres Stockwerk umgezogen. Dieser ganzheitliche Ansatz sagte also, dass nicht länger nur Gutverdiener ein neues oder angemessenes Eigenheim kaufen können sollten, sondern auch Familien mit geringerem Einkommen. Die Frage nach der Definition dieser mittleren Einkommensgruppen wird im Bericht der Arbeitsgruppe in der Sprache einer Behörde beantwortet. Anhand des Familieneinkommens und der aktuellen Miete wurde kalkuliert, dass man sich an Haushalte mit jährlichem Einkommen zwischen 1.000 und 2.000 Dollar richtete. Wohnten sie zur Miete, betrug diese zwanzig bis vierzig Dollar im Monat, also 240 bis 480 Dollar pro Jahr. Da diese Schätzungen auf Daten aus der Vorkriegszeit basierten, seien Veränderungen unvermeidbar, erkannten auch die Verfasser des Berichts an. Hinzu käme, bei positiver wirtschaftlicher Entwicklung, dass Familien dieses Segment nach oben verlassen und neue nachrücken würden. Das enorme Potential der mittleren Einkommensgruppen wurde auf 7,4 Millionen Familien geschätzt, worunter jeder dritte Amerikaner fiel, der nicht auf einer Farm lebte. 104 Ebd., S. 1.
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»The potential demand of families in these income brackets […] is so substantial that any program that translates the potential into effective demand premises to produce a large additional volume of housing construction and employment along with improved housing conditions.«105
Zwar müsse die Regierung, so fährt der Bericht fort, dabei Risiken eingehen. Diese dienten aber nur dem Zweck »to assist private enterprise in reaching the middle market, through the assumption by a Federal insuring agency of some of the risks involved.« Die Anreize für private Anbieter, neue Häuser zu bauen, sollten von einer Bundesbehörde gesetzt werden. Der Schlüssel dazu läge in der »creation of incentives for private home builders to enter into development and construction operations of larger size and more continuity, which would enable builders to accomplish maximum cost reductions from whatever cost level my exist in the post-war period.«106
Das Tagesgeschäft der FHA, die Versicherung von Hypotheken, sollte dem Ziel der ausreichenden Ausstattung der Mittelklasse mit Häusern dienen. Dazu sollten in Zukunft bis zu neunzig Prozent des Immobilienwertes als Hypothek gewährt werden. Durch Laufzeiten von bis zu 25 Jahren und einem maximalen Zinssatz von vier Prozent sollte die Hypotheken-Aufnahme erleichtert werden. Auch wenn der hier vorgestellte Plan nicht den gesamten Markt grundlegend verwandeln würde, sahen seine Verfasser ihn dennoch als geeignet, um eine Bresche in dieses Marktsegment zu schlagen. Diese Bresche wiederum sollte bewirken, dass dank größerer Sicherheiten und gesteigerter Nachfrage und Effizienz mehr erschwinglicher Wohnraum geschaffen wurde. Wichtig sei, dass die neuen Häuser nicht nur mit minimalen Risiken gebaut werden würden. Die Standards der FHA an die Qualität der neuen Gebäude müssten auf diese Art erfüllt werden. Andernfalls kämen Versicherungen nicht in Frage. Die Methode der Versicherung von Hypotheken, die den Bausektor stabilisieren und beleben sollten, diente also auch der Anhebung der Wohnstandards. Der intendierte trickle-down-Effekt trug dazu ebenso bei. Diese Passage der Planungen war zentral. Ein angebotszentrierter Wohlfahrtsstaat sollte hier Einfluss durch Anreize entwickeln. Schnell wurde den Planern klar, dass aufgrund der großen Diversität des Landes lokale und gleichzeitig auch nationale Minima und Maxima eingezogen werden mussten. Eine einheitliche Regelung der Höchstgrenzen von Hypothekenversicherungen hätte zu viele Nachteile. Lokale Maximalgrenzen könnten aus bestehenden Berichten der FHA-Mitarbeiter vor Ort gewonnen werden. Wieder konnte man auf die Datensätze der HOLC zurückgreifen. Wo dies nicht möglich war, sollten solche Erhebungen zu Familieneinkommen und typischen örtlichen Baukosten durch FHA-Mitarbeiter ermittelt werden. Die lokalen Maximalgrenzen könnten so von Zeit zu Zeit angepasst werden. Nationale 105 Ebd., Vorwort. 106 Ebd.
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Maximalgrenzen müssten jedoch ebenfalls eingezogen werden. Nur so könne man den Gegebenheiten in Regionen mit hohen Baukosten gerecht werden. Die internen Befürworter dieser Vorgehensweise lehnten lokale Höchstgrenzen ab. Sie plädierten für lokale Lösungen durch Mitarbeiter vor Ort, ohne jedoch eigene Grenzen einzuziehen.107 Auch wenn der Bericht stellenweise sehr kleinteilige Fragen erörterte, wird deutlich, dass bei den Mitarbeitern der FHA auch ein Bewusstsein für das zukünftige Wachstum ihrer Behörde vorhanden war. Sie planten und organisierten dieses Wachstum und die fortlaufende und anstehende Erhebung und Nutzung von Daten aus dem ganzen Land. Für Schuldner aus den mittleren Einkommensschichten sollten Schutzme chanismen eingezogen werden. Eine »Lapse Payment Provision« sollte es den Bewohnern einer mit einer Hypothek belasteten Immobilie erlauben, Zahlungen aussetzen zu lassen und so auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Allerdings galt dies nur, wenn der Schuldner die letzten beiden Jahre seine Zahlungen geleistet und sich so als zuverlässig erwiesen hatte. Um die Finanzierung eines solchen Programms zu gewährleisten, müsste ein Fond mit Regierungsgeldern installiert werden, der sich aus Prämien der Hypothekennehmer speisen würde.108 In weiteren detaillierten Planungen wurde die Errichtung von Mietshäusern geregelt. Regeln für den Bau, die Investoren und die Rückzahlungsmodalitäten kamen hinzu. Die von der FHA bereitgestellten Hypothekenversicherungen sollten die Kreditaufnahme erleichtern und gebräuchlicher machen. Mehrere Rechenbeispiele präsentierten dies minutiös.109 Die Erfolgsaussichten des Programms schätzten die FHA-Mitarbeiter der Arbeitsgruppe von Beginn an realistisch ein. Einen schnellen Erfolg erwarteten sie nicht. Finanzielle Gewinne würde die Behörde, die letztlich mit einem solchen Programm beauftragt würde, nicht erwirtschaften. Außerdem würde das Programm kaum die Bedürfnisse des »entire middle market« befriedigen. Dennoch sollte der Plan als richtungsweisender Impuls verstanden werden: »[…] the plan must be considered in its continued dynamic implications. As an opening wedge is driven into the capital cost of construction, further cumulative cost reductions can be expected with confidence, to judge by the experience of other industries as well as by the record of prewar FHA operations.«
Regierungsvertreter entwickelten demnach in ihrem Verständnis eine Methode, um zukünftige Entwicklungen maßgebend zu beeinflussen. Ähnlich wie mit Cahaba Village in Alabama kreierte der Wohlfahrtsstaat hier ein Modell. Er zeigte, wie die Interaktionen zwischen Gläubigern und Schuldnern aussehen konnten und führte quasi Best-Practice-Beispiele vor, die er selbst getestet und bewertet hatte. 107 Als Höchstgrenze stand zu diesem Zeitpunkt die Summe von 4.500 Dollar im Raum. 108 Damit ähnelte der Vorschlag dem Finanzierungsmodell, das auch bei Social Security angewendet wurde. 109 Vgl. New Homes for the Middle-Market, S. 15.
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Damit diente das 1945 von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Modell dem Zweck »to channelize direct housing investment into the middle market«. Auch wenn die Planer nicht davon ausgingen, dass alle Investitionen auf dem Immobilienmarkt unter dem vorgeschlagenen »insurance plan« laufen würden, waren sie sicher, ihr Vorschlag würde eine erhebliche Anzahl von Baustarts begünstigen. Eine Versicherung sollte den gesamten Markt beeinflussen, indem sie Vertrauen schuf und so zusätzliche Investitionen erleichterte. Der populäre Begriff der Versicherung nahm parallel zu seiner Verwendung im Bereich Wohnen auch bei der Altersvorsorge eine zentrale Funktion ein. Auch hier wurden bestimmte, positive Konnotationen des Begriffs im Diskurs der Befürworter und Planer des Wohlfahrtsstaats verwendet. Die Verfasser nutzen den Begriff nicht zufällig. Einige Passagen später hieß es in ihrem Dokument: »The nature of the insurance protection remains a subject of further exploration.« Ihnen war es wichtiger, zunächst die Begriffshülle zu etablieren. Diese konnte dann später mit konkreten Anweisungen gefüllt werden. Damit verwarf man auch den zuvor verwendeten Begriff der Garantie zugunsten dessen der Versicherung. Alle zukünftigen begrifflichen Anpassungen der momentanen Regelungen sollten zunächst den Begriff der Hypothekengarantie durch den der Hypothekenversicherung ersetzen: »If modifications were deemed to be necessary to implement the program, consideration should be given to substituting the term ›mortgage guarantee‹ for ›mortgage insurance‹.« Dieser weckte mehr Vertrauen. Doch nicht nur die Mittelklasse sollte profitieren. Insgesamt wurden vier Motive oder Zielgruppen von den Planern der Arbeitsgruppe erwähnt. Auch Unternehmen sowie das grundsätzliche Wohlergehen der Nation sollten profitieren. Denn der Bau neuer Gebäude sollte nicht nur Arbeitsplätze schaffen; er wurde vielmehr auch als ein »gesunder Einfluss« auf die Städte verstanden.110 Zudem wurden neue Investitionsmöglichkeiten geschaffen. Statt in langfristige Regierungsbonds investieren zu müssen, böte der sekundäre Hypothekenmarkt oder der Bau größerer Siedlungsprojekte der Wall Street weit attraktivere Anlagemöglichkeiten, die während des Krieges noch verwehrt waren. Bauunternehmer würden, als vierte Gruppe, von der langfristigen Stabilität, die durch ausgedehnte Hypothekenlaufzeiten zustande kämen, profitieren. Hier ging die Behörde davon aus, dass die Zahl und die Qualität der Arbeitsplätze im Baugewerbe ansteigen würden. Der Trend der Suburbanisierung wurde in den Planungen ebenfalls aufgegriffen. Die Vertreter der Arbeitsgruppe gestanden ein: »[Suburbanization] might tend to accelerate urban decentralization since land in the more central districts would be too expensive for this type of operation.« Da dies jedoch auch ohne staatliches Eingreifen zu erwarten war, sollte die aktive Beteiligung des Wohlfahrtsstaats dafür sorgen, dass diese Entwicklung gleichförmig und kontinuierlich verlaufen könnte. Schließlich seien die Anreize für Bauunternehmen, 110 Ebd., S. 22.
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große statt kleiner Siedlungsprojekte zu errichten, einleuchtend. Die Entstehung von Suburbs würde so gleichförmiger verlaufen. Andere Maßnahmen waren hingegen speziell für die Innenstädte vorgesehen: »Drastic measures of a different type, such as large-scale urban redevelopment, are needed to solve the problems created by the progressive decentralization of cities. From a public-policy point of view, if the choice is between new housing for moderate income families, involving a degree of decentralization, and no such housing the balance is clearly in favor of a positive program.«
Obwohl es also als schwerer erachtet wurde, den Menschen in den Innenstädten zu helfen, sollte dies nicht unversucht bleiben. Dieses Problem behandelte der Bericht 1945 lediglich mit einem Verweis auf ein noch zu entwerfendes »redevelopment program«. Dieses galt hier noch als ein Nebenaspekt. Im besten Falle würde es sich mit der Entfaltung der Programme für die Mittelklasse gleich mit erledigen: »[…] if an urban redevelopment program is put into effect and is effective in reducing land costs in central city districts to level competitive with those on the periphery, it is reasonable to expect that a substantial portion of the rental housing under the program will be built on redeveloped land. In other words, the combination of an urban redevelopment program with the rental housing plan herein proposed would in itself tend to minimize the tendency toward decentralization.«111
Am 19. Juli 1945 sendete Herbert S. Colton, ein Mitarbeiter der Planning Division der FHA, ein internes Memorandum an Commissioner Raymond M. Foley mit dem Titel »Middle Market«.112 Darin schilderte der Stadtplaner aus der Sicht der Arbeitsgruppe, wie gezielte Maßnahmen auf einen »mass market« und am Rande auch auf die Bauherren von Mietshäusern wirken sollten. Damit sollte der Bau von Häusern unterstützt werden, die nicht errichtet werden würden, wenn man sich lediglich auf hergebrachte »financial devices« stützen müsste. Hier wurde bestätigt, dass die zuvor intern zirkulierenden Planspiele zum No Man’s Land in der FHA auf breite Akzeptanz stießen. Die so versicherten neuen Häuser sollten der Mittelklasse so schnell wie möglich zur Verfügung stehen.113 Im Juli 1945 war der Plan der Arbeitsgruppe bereits in einem Dutzend vertraulicher Treffen mit Vertretern von Lebensversicherungen, Sparkassen, Banken, Kreditinstituten, Baufirmen, Gewerkschaften »and general organizations interested in housing« vorgestellt und diskutiert worden. Damit war die Konsultation externer Partner so gut wie abgeschlossen. Nach der Implementierung der neuen Finanzierungsmöglichkeiten, die hinter dem Plan standen, sollte die 111 Ebd., S. 23. 112 Herbert S. Colton, FHA Planning Division, an Commissioner Foley, 19.7.1945, Akte: Middle Market 1945–1950, Box: Commissioner’s Correspondence, Office of the Administrator, RG 31, NACP. 113 Vgl. ebd.
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FHA als Programmverwalterin eingesetzt werden.114 Wenige Wochen vor der Kapitulationsrede des japanischen Kaisers, am 15. August 1945, zirkulierte in der NHA ein Memo, das die offenen Fragen des »Housing Plan for the Middle Market« noch einmal aufgriff. Die Abteilungen und Fachleute, die an der Erarbeitung des Plans mitgewirkt hatten, sollten wegen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen ein weiteres Mal konsultiert werden. Als sich Foley im Oktober 1945 erneut zu den Plänen äußerte, hatte die Realität der Nachkriegszeit den oben diskutierten Plan der FHA-Arbeitsgruppe obsolet werden lassen. Foley erschien der Bau großer Mietshaussiedlungen, der zur Stimulierung des Arbeitsmarktes kurz zuvor als wichtig erachtet worden waren, nun »pretty out-dated«.115 Das Ausbleiben von Inflation und Arbeitslosigkeit lenkte den Blick weg von elementarer Versorgung mit Wohnungen und Experimenten wie Cahaba Village hin zur Wohnqualität einer vergessenen Mitte. Der Begriff des No Man’s Land und die dazugehörigen Planungen können zum Ende des Zweiten Weltkriegs auch als ein Zwischenfazit der New DealWohnungspolitik verstanden werden. Nicht nur die Hilfe in akuten Krisen wie der Großen Depression war aus Sicht von Wohnungsbehörden eine Aufgabe des Wohlfahrtsstaats. Auch die Planung der Zukunft gehörte dazu. FDR und seinen »New Dealern« war es wichtig, dass jeder Amerikaner auch in Zukunft einen Anteil, eine Aktie, der Demokratie halte, um so deren Bestand zu garantieren.116 Diese Aktie sollte in Form des eigenen Hauses manifest werden. Wen bezeichnete nun die »vergessene Mitte«? Auf dem Papier der Wohnungsbehörden umfasste sie um 1945 eine mittlere Einkommensgruppe mit einigen quantitativen und wenigen qualitativen Spezifikationen. Das Jahresverdienst einer Familie im No Man’s Land lag zwischen 2.500 und 4.000 Dollar. Nachdem eine solche Familie aus ihrer Wohnung auszog, versprach die Qualität ihrer ehemaligen Wohnungen noch immer eine Verbesserung für alle, die ärmer waren und nun hier einziehen konnten. Auch wenn diese Parameter unvollständig erscheinen, begleitete die Vorstellung einer vergessenen Mitte zu dieser Zeit die Konzeptionen wohlfahrtsstaatlicher Programme.117 Darauf verweist auch das schwindende Interesse an dem Experiment Cahaba Village. Die 114 Vgl. Unresolved Questions in the Housing Plan for the Middle Market, Office Memorandum NHA, 16.7.1945, Akte: Middle Market 1945–1950, Box: Commissioner’s Correspondence, Office of the Administrator, RG 31, NACP. 115 Foley, Housing Plan for the Middle Market, Oktober 1945, Akte: Middle Market 1945–1950, Box: Commissioner’s Correspondence, Office of the Administrator, RG 31, NACP. 116 Vgl. Tobey u. a., S. 1395. 117 Das Thema blieb auf dem Tapet. John Sparkman, Senator aus Alabama, schrieb im Sommer 1949 einen Leserbrief an die Washington Post. Auch er trug, wie auch in den Jahre zuvor, sein sein Anliegen vor, denjenigen zu helfen, die zu viel für public housing verdienen würden und zu wenig, um sich ein eigenes Haus kaufen zu können: »[…] the income of 40 per cent of American families range between $2000 and $3750 per year. These families are caught in the middle. They cannot afford the privately financed housing which is being built, nor are they eligible for public housing.«, John Sparkman, Cooperative Housing, WaPo, 18.8.1949.
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aktive Förderung einer bestimmten Form der Suburb erschien nun überflüssig. Die hier untersuchten Dokumente der Arbeitsgruppe zum No Man’s Land benennen die zukünftige Ausgestaltung des Hypothekenmarktes als eine Hauptaufgabe der US-Wohnungspolitik. Der Bund gründete keine Suburbs mehr. Er engagierte sich jedoch in der Vereinfachung der Aufnahme von Hypotheken für mittlere Einkommensschichten. Dies war ein wesentliches Kennzeichen der konzeptionellen Ausrichtung des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit.
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3. Reformen und Alternativen: Social Security, 1950–1954
Der 1935 verabschiedete Social Security Act war für den Wohlfahrtsstaat der USA und für dessen Beziehung zur Mittelklasse zentral. Bis zum Ende der sechziger Jahre profilierten sich die USA zum »Rentenspezialisten«. In keinem anderen OECD-Land war der Anteil der Altersvorsorge an den wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben höher.1 Einerseits kann vermutet werden, dass die Moralvorstellungen der Mittelklasse für die Gestaltung und die Reformen des Rentensystems maßgeblich waren. Andererseits lässt sich aus der Literatur zur Rentenversicherung und zum Altern in den Vereinigten Staaten der Schluss ziehen, dass das Rentensystem prinzipielle Fragen der Lebensgestaltung der Mittelklasse beeinflusste. Der Social Security Act war nicht nur die Basis der bald sakrosankt erscheinenden Rentenversicherung. Er initiierte außerdem auch wohlfahrtsstaatliche Hilfen, die nicht an vorherige Beiträge gebunden waren. Für diese etablierte sich in kurzer Zeit der Begriff welfare, welcher bald negativ konnotiert war. Er machte bald das der Rentenversicherung gegenüberliegende Ende des wohlfahrtsstaatlichen Spektrums aus. Dieses Kapitel geht Fragen zur Entstehung beider Phänomene nach. Die Rentenversicherung ist das am gründlichsten erforschte Gebiet des USWohlfahrtsstaats. Waren die sechziger Jahre das Jahrzehnt, in dem die Geschichte der Kindheit besondere Aufmerksamkeit unter Historikern fand,2 so begannen diese mit den siebziger Jahren, sich dem Alter als historisch einzuordnende Größe zu widmen. Damit geriet auch die Altersversorgung in den Blickpunkt.3 Social Security bildete dabei immer den Nukleus. Die Social Security-Nummer ist seit ihrer Einführung die einzige personalisierte Identifikationsmöglichkeit in einem Land ohne Meldepflicht und Personalausweis. Der umgangssprachliche Begriff Social Security bezeichnet dabei lediglich einen Teil des 1935 verabschiedeten Social Security Act.4 Die eigentliche Rentenversicherung, die seitdem mehrfach reformiert wurde, heißt mittlerweile Old Age Survivors, Disability, and Health Insurance Program (OASDHI). Mit jeder zusätzlichen Aufgabe verlängerte sich das Akronym. Im ursprünglichen Gesetz, 1 Andererseits betont der Historiker Wilensky, dass dies die Vernachlässigung sonstiger wohlfahrtsstaatlicher Komponenten belege, vgl. Wilensky, S. 106. 2 Stellvertretend siehe Ariès. 3 Siehe etwa Achenbaum; Graebner; Derthick. 4 Im Folgenden wird mit Social Security jener Teil der wohlfahrtsstaatlichen Altersvorsorge bezeichnet, der sich hinter dem Akronym OASI verbarg.
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das Präsident Franklin D. Roosevelt am 14. September 1935 unterzeichnete, wurde die staatliche Versorgung alter Menschen durch zwei unterschiedliche Gesetzesbestandteile geregelt: durch OAI und OAA. Die Old-Age Insurance (OAI) unterschied sich von der Old-Age Assistance (OAA) in mehreren Punkten. Die OAI basierte auf vorangegangenen Einzahlungen. Die OAA hingegen kam allen zugute, die älter als 65 Jahre alt waren und Bedürftigkeit nachweisen konnten. Die OAI wurde bundesweit einheitlich verwaltet. Die Administration von OAA lag in der Obhut der Einzelstaaten, wo sie ganz verschieden gehandhabt wurde. Dabei dauerte es lange, bis sich die national normierte Versorgung von Menschen, die aus dem Berufsleben ausscheiden, in den USA voll etabliert hatte. Erst in den fünfziger Jahren war ein Großteil der Bevölkerung überhaupt in die nationale Rentenversicherung integriert. Deren Etablierung fand weder im wohlfahrtsstaatlichen Vakuum statt, noch war sie ohne Vorläufer. Die Politologin Theda Skocpol hat gezeigt, dass die Versorgung von Veteranen des Bürgerkriegs von 1861–1865 und von deren Hinterbliebenen schließlich beträchtliche Ausmaße erreichte. Deutlich wird dies an der Zahl der Empfänger von Veteranenrenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den 1910er Jahren bezog ein Drittel aller männlichen Amerikaner über 65 Jahren eine Veteranenrente.5 Dies überstieg die Zahl der wirklichen Kriegsteilnehmer weit.6 Social Security basierte auf dem Sozialversicherungsmodell und unterschied sich so zum Beispiel vom in England wenig später etablierten Beveridge-Modell der Grundsicherung.7 Trotzdem bedeutete es für weite Teile der amerikanischen Gesellschaft erstmals die Aussicht auf einen arbeitsfreien Lebensabend: unabhängig von familiärer Unterstützung und unabhängig von nachzuweisender Bedürftigkeit. Im Vergleich zu den selten kodifizierten, gewohnheitsrechtlichen Elisabethanischen Armengesetzen waren die Neuerungen, die zwischen 1935 und 1954 erlassen wurden, bemerkenswert. Vor 1935 war der Ort, an dem man den Großteil seines Lebens verbracht hatte, das entscheidende Kriterium für die Altersversorgung. Nach Roosevelts Unterschrift unter den Social Security Act zählte in erster Linie das vorherige Beschäftigungsverhältnis.8 War man vor 1935 im Alter auf staatliche Unterstützung angewiesen, bedeutete dies in den meisten Einzelstaaten, sich einem Bedürftigkeitstest unterziehen zu müssen. Wer Unterstützung durch die lokalen Behörden erhalten wollte, musste den sogenannten pauper’s oath, den Armen-Eid, leisten. Eine Folge dieses Eides war der Verlust des Wahlrechts.9 5 Vgl. Conrad, S. 436. 6 Zu Recht beurteilte Skocpol diese Praxis als Teil der Klientelpolitik der Parteien, siehe Skocpol. 7 Vgl. Conrad, S. 425. 8 Diesen basalen Wandel betonen mehrere Autoren, vgl. Berkowitz, America’s, S. 5–6; Gräser, S. 14. 9 Altmeyer zitierte einen Brief des Gouverneurs von New Hampshire an Präsident Roosevelt vom 28.9.1936, Analysis of the Social Security System, 27.11.1953, Hearings, Subcommittee of
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Im Fokus dieses Kapitels liegen die Deutungskämpfe um den Charakter und die Grundlagen der Altersrente. Teil dieser Aushandlungen war dabei auch die Frage nach ihrer gerechten Form. So wurde das Grundprinzip der Versorgung von Berechtigten schon 1939 durch die Hinzunahme der Hinterbliebenen erweitert. Aus der OAI wurde nun dank der »survivor«, also der Hinterbliebenen, OASI.10 Ähnliche Reformen erfolgten zu Beginn der fünfziger Jahre. In den vier Jahren vor 1954 wurde die Rentenversicherung in ihre bis heute bestehende Form gebracht. Die Debatten um diese Form sind deswegen interessant, weil Konkurrenzmodelle auf grundlegend verschiedenen Annahmen von Wohlfahrtsstaatlichkeit basierten. Sollte überhaupt jede Leistung durch eine vorherige Einzahlung legitimiert werden? Alternativen, wie etwa der Townsendplan, bedeuteten eine Herausforderung für die Verfechter des Sozialversicherungsmodells. Die Analyse des Wettstreits der Modelle zeigt, welche Begriffe in der Nachkriegszeit zur Beschreibung des Wohlfahrtsstaats zentral waren. Daran kann auch abgelesen werden, wie die Mittelklasse diesen »aktiv« und »passiv« mitgestaltete. Wenn Amerikaner, die sich als Vertreter der Mittelklasse beschrieben, für oder gegen Bestandteile der Reform Position bezogen, nahmen sie den aktiven Part ein. Indem Experten und Behördenmitarbeiter moralische Werte der Mittelklasse als Ausgangspunkt für ihre Vorschläge wählten, verliehen sie der Mittelklasse passiv Einfluss auf den Wohlfahrtsstaat. Phasen Die bundesweite Rentenversicherung wurde 1935 mit dem Social Security Act eingeführt. Später wurde sie in zahlreichen Reformen verändert. Zusätze zum ursprünglichen Gesetz erweiterten den Kreis der Rentenberechtigten, erhöhten die Rente oder veränderten die Kriterien, nach denen die Rente berechnet wurde. Die Reformen der Jahre 1950 und 1954 stellten grundlegende Veränderungen dar. Entlang der Thesen des Historikers Edward Berkowitz begannen danach die »goldenen Jahre von Social Security«.11 Neben Berkowitz haben auch die Politologin Martha Derthick und der Soziologe Edwin Amenta die Reform von 1950 als Neustart gesehen.12 Gemeinsam mit den Gesetzesänderungen des the Committee on Ways and Means, House of Representatives, S. 934, Box: 2141, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, National Archives Building, Washington, DC (NAB, in der Folge: Anhörung Altmeyer). Der Armeneid lautete: »I do solemnly swear that I have not any property, real or personal, exceeding $20, except such as is by law exempt from being taken on civil process for debt; and that I have no property in any way conveyed or concealed, or in any way disposed of, for my future use or benefit. So help me God.« 10 In der Folge wird »OAI« für die Rentenversicherung vor 1939 und »OASI« für die Zeit danach genutzt. Geht es um Entwicklungen, die über dieses Datum hinausgingen, wird aus Gründen der Lesbarkeit nur OASI verwendet. 11 Berkowitz, Robert Ball, S. 357. 12 Vgl. Derthick, S. 273. Auch Amenta sieht 1950 als Konsolidierung von Social Security und eigentliche Geburtsstunde des Rentensystems, vgl. das Vorwort in Amenta.
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Jahres 1954 kann diese Periode als abschließende Konsolidierung der Rentenversicherung verstanden werden. Das Verständnis der Reform als Phase und weniger als Zeitpunkt muss einer ebenso denkbaren Fokussierung auf ein einzelnes Reformjahr vorgezogen werden. Letzteres würde kaschieren, dass politische Reformen so gut wie nie unmittelbar nach ihrer Verabschiedung in Kraft treten.13 Die Zeit zwischen 1950 und 1954 leitete auch deshalb gleichsam goldene Jahre ein, weil parteiübergreifend und in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Rentensystem in seiner nun gefundenen Form grundlegend akzeptiert wurde. Auf die Verabschiedung im Jahr 1935 folgte ein Prozess der gesellschaftlichen Etablierung der Rente. Dieser kulminierte in den Reformen der frühen fünfziger Jahre. Erst die 1954 verabschiedeten Veränderungen verliehen der Altersrente ihren scheinbar unantastbaren gesellschaftlichen Status. Der prominenteste Politiker, der dies erfuhr und als Exempel für die Unantastbarkeit von Social Security in die Annalen einging, war der Republikaner Barry Goldwater (1909–1998). Er hatte die staatliche Rentenversicherung während des Präsidentschaftswahlkampfs von 1964 öffentlich in Frage gestellt und auch deshalb eine der deutlichsten Niederlagen aller Zeiten erlitten.14 Experten Während der untersuchten Reformperiode in den frühen fünfziger Jahren waren es erneut Experten verschiedener Organisationen, welche Vorschläge einbrachten und verteidigten. Zu ihnen gehörten Vertreter der Social Security Administration (SSA) wie Arthur Altmeyer und Wilbur Cohen aber auch Ausschussvorsitzende wie Carl T. Curtis. Entlang der Definitionen des Historikers Lutz Raphael waren diese als Sozialexperten mit Entwurf, Verwaltung und Gestaltung des Rentensystems beschäftigt. Sie waren Träger eines verwissenschaftlichten und bereichsbezogenen Fachwissens und genossen öffentliche Anerkennung, die nicht allein auf Zertifikaten oder beruflichen Positionen basierte.15 13 Hinzu kommt, dass 1954 einige Konsequenzen der Reform von 1950 korrigiert wurden. Die wichtigste Änderung 1950 war die Einbeziehung der Selbstständigen gewesen. Damit wurde auch der earnings test verändert. Er galt für Selbstständige auf Basis des Jahreseinkommens, während er ansonsten monatlich bemessen wurde. Wer selbstständig und für ein Gehalt arbeitete, konnte sogar in beiden Berufen bis dicht an die Bemessungsgrenze des earnings test verdienen und dennoch die volle Rente erhalten. Ab 1954 wurde der earnings test für alle auf jährlicher Basis berechnet und eine geteilte Abrechnung war nicht mehr möglich, vgl. Victor Christgau, The Retirement Test under Old-Age and Survivors Insurance, S. 5, in: Analysis of the earnings test, 2.9.1959; Akte: 751.01; Box: Old-Age and Survivors Insurance; Records of the Social Security Administration, RG 47, NACP. 14 Vgl. Derthick, S. 187; Robert J. Samuelson, Social Security’s Coming Crisis, WaPo, 1.9.1974; Der Begriff, der bis heute für Themen genutzt wird, welche Politiker nicht »berühren«, ist third rail. Dies bezieht sich auf die stromführende, dritte Schiene im Gleisbett. 15 Vgl. Raphael, S. 231–32.
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Die auffallend autonom agierende Rentenbehörde SSA genoss einen besonderen Status. Nicht nur ihr Standort in Baltimore, also außerhalb des beltway,16 sondern auch die personellen Kontinuitäten unterschieden sie von anderen Bundesbehörden. Innerhalb der SSA bildeten Altmeyer, Cohen und später Robert Ball, die der Behörde teilweise über Jahrzehnte hinweg angehörten, eine Art »Dreifaltigkeit«.17 Sie stellten die wichtigsten Knotenpunkte eines Netzwerks dar, welches sich einflussreich für eine bestimmte Form von Social Security einsetzte.18 Edward Berkowitz, seinerseits Experte für den US-Wohlfahrtsstaat, sieht diese Gruppe gar beseelt von einem »secular faith in the government’s benevolence as a force for social uplift«.19 Alle drei verkörperten das Vertrauen in die Philosophie des New Deal und in dessen Versprechen, dass der Bund durch aktives Eingreifen das Wohl der Bürger mehren konnte. Auch Derthicks umfassende Analyse des policy making für Social Security verdeutlicht die herausragende Bedeutung der Experten der Behörde während der Rentenreformen.20 Die Verantwortlichen in der SSA waren nicht nur die ersten Ansprechpartner der entsprechenden Ausschüsse bei Fragen zu Reformbestandteilen. Sie bewerteten die Rentenversicherung für die Öffentlichkeit und kontrollierten dessen Entwicklung maßgeblich. Der Einfluss der Kongressausschüsse auf die Rentenreformen der Jahre 1950–1954 kann kaum überschätzt werden. Sie hatten in ihren Themenbereichen das Recht darüber zu befinden, ob und wann ein Gesetzesvorschlag überhaupt debattiert wurde. Dabei war zweitrangig, ob eine Mehrheit der jeweiligen Kongresskammer für oder gegen ein Gesetz war. Die Entscheidung lag allein beim jeweiligen Ausschuss. Innerhalb dieser Gremien war die Rolle des Vorsitzenden noch einmal besonders hervorgehoben. Er bestimmte die Tagesordnung, installierte Unterausschüsse und engagierte Mitarbeiter. Er leitete die Plenumsdebatten zu den Gesetzesvorschlägen seines Ausschusses und war Teil des Vermittlungsausschusses der beiden Kammern. Sein Recht, unter den Bedingungen der closed rule21 abstimmen zu lassen, ergänzte und verstärkte diese Machtposition. Stellten die Ausschüsse eine Art Gatekeeper der parlamentarischen Plenumsdebatte dar, so waren ihre Vorsitzenden die zentralen Figuren innerhalb dieser Gremien. Die Macht der Vorsitzenden wurde durch die schwache 16 Als Social Security 1937 anlief, war die Behörde in Baltimore die größte Buchhaltung der Welt, vgl. hierzu ein transkribiertes Radiointerview mit Altmeyer vom 29.4.1938, Anhörung Altmeyer, 27.11.1953, S. 884. 17 Berkowitz, Robert Ball, S. 26. 18 Der Historiker Brownlee hat sie »Social Security crowd« genannt, Brownlee, S. 105. 19 Berkowitz, Robert Ball, S. 26. 20 Vgl. Derthick, S. 376–377. 21 Die open und die closed rule sind die beiden Extreme des kleinteilig ausdifferenzierten Abstimmungsregelwerks. Gelangt ein Gesetzesvorschlag unter der Regelung der open rule aus einem Ausschuss ins Plenum konnten alle Arten der Veränderung an dem Gesetz durch die Abgeordneten vorgeschlagen und abgestimmt werden. Dagegen erlaubte die c losed rule nur die Verabschiedung oder Ablehnung des unabänderbaren Gesetzesvorschlags.
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Disziplin in beiden Parteien noch einmal potenziert. Besonders die Demokraten waren in regionale Faktionen gespalten.22 Das Committee on Ways and Means des Repräsentantenhauses wiederum war einer der einflussreichsten Ausschüsse.23 Er war für alle Fragen der Haushalts- und Finanzgesetzgebung sowie die sozialen Sicherungssysteme zuständig. Alternativvorschläge wurden daher vor allem an diesen Ausschuss gerichtet. Einer davon war der Townsendplan.
3.1 Rentenalternative und »falsche Religion«: der Townsendplan Der Anfang der dreißiger Jahre entwickelte Townsendplan war der populärste und einflussreichste Vorschlag für ein alternatives Rentensystem in den USA im 20. Jahrhundert.24 Benannt nach dem Arzt Francis E. Townsend (1867–1960) sah diese universalistische Rentenvariante vor, jedem Amerikaner ab einem bestimmten Alter eine feste monatliche Rente zu zahlen. Diese sollte binnen eines bestimmten Zeitraums ausgegeben werden. Die Höhe der Rente sollte für alle Empfänger gleich sein und sich aus allgemeinen Steuereinnahmen und nicht aus einer Lohnsteuer finanzieren. Ähnlich wie die Kampagne Share our Wealth des Populisten Huey Long (1893–1935) galten Townsend und seine Bewegung als Außenseiter. Beide wurden in den dreißiger und vierziger Jahren belächelt. Dennoch vereinte der Townsendplan, der besonders im Westen der USA populär war, zeitweise bis zu dreieinhalb Millionen Unterstützer.25 Weder Bürgerrechts- noch Anti-Kriegsbewegung sollten später vergleichbar viele Aktive zählen.26 Trotzdem wurde der Townsendplan nie verwirklicht. Wenn ihm dennoch Erfolg bescheinigt wurde, dann zumeist der, als politisches Druckmittel erfolgreich gewesen zu sein. Ein Zitat Präsident Franklin D. Roosevelts von 1935 gilt als Beleg dafür, dass dieser Druck überhaupt erst zur Verabschiedung des Social Security Act geführt hatte: »The Congress can’t stand the pressure of the Townsend Plan unless we are studying social security, a solid plan which will give some assurance to old people of systematic assistance upon retirement.«27 Doch auch der Beginn von Social Security bedeutete nicht das Ende des Townsendplans. Noch im Sommer 1953 unterzeichneten 156 Abgeordnete 22 Vgl. Alston u. Ferrie, S. 859. 23 Der englische Originalbegriff wird hier beibehalten, da das deutsche System kein Pendant zu diesem Ausschuss kennt und jede wörtliche Übersetzung noch sperriger wäre als das Original. 24 Zum Townsendplan siehe Derthick, S. 153–182; Holtzmann; Amenta; Townsend. 25 Vgl. Derthick, S. 193; Holtzmann. 26 Der Chicagoer Soziologe Edwin Amenta, Verfasser einer aktuellen Studie zum Townsendplan, hat vermutet, dass sozialen Bewegungen erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nennenswerte politische Schlagkraft zugestanden wurde. Das habe nachträglich die Sicht auf die Townsendplan-Bewegung ins Positive gewendet: vgl. Amenta, S. 4–6. 27 Zit. n. Perkins, S. 294.
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des Repräsentantenhauses einen Gesetzesvorschlag, der auf die Implementierung seiner damals aktuellen Version drängte.28 Auch Absender von Briefen an das einflussreiche Curtis Committee, einen Unterausschuss des Committee on Ways and Means, bohrten um 1954 immer wieder nach: »Why not try the Townsend Plan?«29 Die Wandlung der Townsendplan-Bewegung bis in die fünfziger Jahre war bemerkenswert. Aus unrealistischen und unfinanzierbaren Vorschlägen entwickelten Townsend und seine Mitstreiter im Lauf von anderthalb Jahrzehnten ein realistisches Alternativangebot zur damaligen Rentenversicherung. Dies führte auch dazu, dass der Townsendplan nun kaum noch von anderen Alternativvorschlägen zu unterscheiden war. Hier sollen nicht die Details des Townsendplans oder die dahinterstehende Bewegung analysiert werden. Vielmehr steht der Appeal, den dieser als Alternative zur Rentenversicherung ausübte, im Mittelpunkt. Attraktiv war diese Alternative in erster Linie für Menschen, die keine OASI-Rente erhielten. Gleichzeitig war der Townsendplan ein exponiertes Beispiel einer ganzen Reihe von Alternativvorschlägen, die eine einheitliche Rentenhöhe forderten. Diese Alternativen, wie etwa der Vorschlag der nationalen Handelskammer, oder der weit unbekanntere Andersonplan, glichen dem Townsendplan, weil sie eine bundesweit einheitliche und für alle Empfänger gleichhohe Rente vorsahen. Obwohl der Townsendplan populär war, scheiterte er. Innerhalb der Rentenbehörde SSA wurde er als eine grundverschiedene Alternative zur favorisierten OASI gesehen. Die Rentenexperten der SSA sahen ihn als »Inbegriff des Irrtums«, wie Derthick bemerkt hat.30 Eine für alle gleichhohe, nicht auf vorhergehenden Verdiensten basierende, Rente stand den Plänen der Verantwortlichen in Baltimore entgegen. Die Ablehnung des Townsendplans beinhaltete dessen Diffamierung als abwegig und falsch. Durch seine Kontrastierung mit moralischen Werten der Mittelklasse wurden Townsendplan und vergleichbare Vorschläge darüber hinaus als absurd dargestellt. Dass ein Reformvorschlag »townsendähnlich« wäre, wurde fortan mehrfach als negatives Stigma verwendet. Der Townsendplan war damit zur Kontrastfolie für Social Security geworden. Der Townsendplan wurde im Herbst 1933 erstmals von der Öffentlichkeit wahrgenommen. In einem Leserbrief an eine kalifornische Zeitung schilderte Dr. Townsend, wie Altersarmut bekämpft und die aktuelle Wirtschaftskrise überwunden werden konnten. Der Vorschlag war einfach. Jeder Amerikaner über sechzig Jahren sollte monatlich einen Scheck über 150 Dollar erhalten. Neben der Bedingung, diese Rente bis zum Monatsende ausgeben zu müssen, sollte gelten, dass die Empfänger dieser revolving pension nicht mehr arbeiten durf28 Vgl. Thomas L. Stokes, The Activities of Dr. Townsend, The Washington Star, 7.7.1953. 29 Die Anschreiben hierzu finden sich in den Boxen 2096–2137 im Archiv des Repräsentantenhauses, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 30 Derthick, S. 194.
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ten. Finanziert werden sollte der Plan durch eine landesweite Umsatzsteuer.31 Damit war der Plan ein Vorschlag zur Bekämpfung eines gesellschaftlichen Dauerproblems, der Altersarmut, und der damals akuten Wirtschaftskrise zugleich. Townsend war sicher, dass der solcherart befeuerte private Konsum die volkswirtschaftliche Lage dauerhaft verbessern konnte. Abgesehen davon basierte sein Plan auf der rasterhaften Einteilung des Lebenslaufs entlang fester Zeitspannen. Die Lebensarbeitszeit eines Menschen sollte mit zwanzig Jahren beginnen und vierzig Jahre später enden.32 Wer in die dritte Phase, den Ruhestand, eintrat, sollte so seinen Arbeitsplatz freimachen für jene, die sich in der zweiten dieser drei Lebensphasen befanden. In seiner Autobiographie »New Horizons« von 1943 beschrieb Townsend seinen Plan der Öffentlichkeit noch einmal selbst.33 Anders als die parallel diskutierten Vorschläge von Father Charles Coughlin und Huey Long34 sah sein Reformvorschlag keine Schuldigen für die aktuellen Missstände und keine Gegner, die es auszuschalten galt. Zudem trug zu seinem öffentlichen Appeal bei, dass er nie einer »fremden« Ideologie zugerechnet wurde. Wann immer es ihm möglich war, kleidete Townsend seinen Plan in »Sternenbanner und christliches Gewand« und nutzte so die Insignien amerikanischer Zivilreligion.35 Auch wenn Amenta ihm zu diesem Zeitpunkt kaum noch politische Schlagkraft zugesteht,36 blieb der Townsendplan einflussreich und zählte nicht nur mehrere Modifikationen, sondern auch Mitte des Jahres 1953 noch immer bundesweit Anhänger. Briefe, die sich noch immer für seine Verabschiedung einsetzten, argumentierten mit der erhöhten Nachfrage, die der Townsendplan generieren würde und hoben die Klärung der Rentenfrage über die Ebene der Politik: »Can’t you forget politics for once and think of the safety of our country?«37 So überzeugt waren einige der Verfechter, dass sie hohe Wetten 31 Vgl. Amenta, S. 35. Zu den vielen Anpassungen des Plans gehört auch, dass er später nicht mehr auf einer, degressiven, Umsatzsteuer als Finanzierungsgrundlage basieren sollte, sondern auf einer Steuer für Unternehmen. 32 Zur Einteilung des Lebens in diese drei Phasen durch den Townsendplan vgl. ebd., S. 43. 33 Townsend. 34 Huey Long aus Louisiana forderte mit Share Our Wealth, ein garantiertes Mindesteinkommen, in Höhe von 2.000 bis 3.000 Dollar, das durch die Besteuerung von Einkommen über drei Millionen Dollar finanziert werden sollte. Jeder Amerikaner sollte außerdem ein homestead in Höhe von 5.000 Dollar erhalten, um ein Haus, ein Auto und ein Radio kaufen zu können. Long behauptete 1934, es gäbe mehr als 7,5 Millionen Mitglieder in mehr als 27.000 Share Our Wealth Clubs. Upton Sinclair und Father Charles Coughlin standen weiteren Bewegungen vor. Priester Coughlin predigte »social justice« und lehnte, mit seiner Form der sozialkatholischen Theorie, kommunistische und kapitalistische wohlfahrtsstaatliche Ansätze ab, vgl. Schulze, S. 575. 35 Amenta, S. 45. Zur Zivilreligion vgl. den grundlegenden Artikel: Bellah. 36 Siehe die Einleitung in Amenta. 37 Brief von J. B. Adams an Daniel Reed, Vorsitzender Committee on Ways and Means, 26.9.1953, Akte: H. R. 83A-F17.22, Box: 2137, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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auf dessen angezweifelte ökonomische Realisierbarkeit abschlossen. Bei der zwölften nationalen Convention der Townsend Clubs im kalifornischen Long Beach lobte 1953 ein Immobilienmakler und »Townsend veteran« aus Alabama 25.000 Dollar Belohnung für denjenigen Abgeordneten aus, der beweisen konnte, dass der Townsendplan nicht finanzierbar sein würde.38 Für ihn und seine Mitstreiter versprach der Plan die Chance auf ein »honorable retirement«, einen würdevollen Ruhestand.39 Die Townsendites, wie sie sich nannten, waren überzeugt, dass bürokratische Hürden das aktuelle System hemmten, das zudem durch Ausnahmen und Schlupflöcher geprägt war.40 Damit war der Townsendplan Anfang der fünfziger Jahre zu einem politischen Schlagwort geworden. Als Verdichtung und Sammelbegriff für Konkurrenzmodelle zur Sozialversicherung wurde der Begriff quasi zu einer rhetorischen Figur. Als der republikanische Abgeordnete Carl T. Curtis Ende 1953 einen eigenen Reformvorschlag zur Rente präsentierte, wurde dieser als »baby Townsend Plan« kritisiert.41 Curtis hatte vorgeschlagen, OASI und OAA, die beiden Teilprogramme des Social Security Act, die sich mit der Altersversorgung befassten, zusammenzulegen, um so ein einheitliches Programm zu schaffen. Der Plan von Curtis wiederum ähnelte den Empfehlungen der Handelskammer.42 Auch diese waren von Verfassern des ursprünglichen Social Security Act lediglich als eine verkappte Version des Townsendplans diskreditiert worden.43 Neben Beschwerden hatten den Untersuchungsausschuss, der 1953 mit der Analyse des Rentensystems beauftragt worden war, auch Vorschläge erreicht, die denen von Townsend glichen. Dies belegt eine spürbare Bereitschaft der Republikaner, die in den Wahlen von 1952 Mehrheiten in beiden Kongresskammern und das Weiße Haus gewonnen hatten, zur grundlegenden Umformung des Rentensystems. Ein Beispiel hierzu war das Modell, das Crittenden Henry Crawford Anderson vorschlug.44 Der texanische Ölunternehmer hatte 38 Den Zeitungsartikel aus der kalifornischen Sentinel News sendete Martha S. Selkirk am 18.2.1953 an Curtis, Akte: H. R. 83A-F17.22, Box: 2137, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 39 Ethel L. Croper an Curtis, 27.9.1953, Akte: 83 A-F.17–12, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 40 Brief von Jno. C. Cuneo, State Organizer Townsend Plan Ohio, an Reed, 20.10.1953, Akte: 83.A-F17.12, Box: 2094, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 41 Robert C. Albright, Plan Offered to Pension More Aged, WaPo, 30.12.1953. 42 Vgl. James Y. Newton, AFL Head Denounces Curtis Old Age Plan As Moral Dishonesty, The Evening Star, 21.12.1953. 43 Vgl. Only ›Submarginal Living‹ Seen For Vast Segment of U. S. Aged, The Washington Star, 29.12.1953. 44 Der 1878 geborene Anderson hatte bis 1938 für »Sears, Roebuck & Co.« gearbeitet und danach »Anderson Employment Service« gegründet. Von sich selbst behauptete er in seinen Flugschriften: »He is OPPOSED to any ›cradle to the grave‹ social security plan, or health or other crack-pot ideas along that line.« Das Flugblatt warb: »The ›ANDERSON PLAN‹ for the AGED AFTER SIXTY and how to join NATIONAL ›OVER SIXTY CLUB‹ – NO FEES, NO DUES. IT COVERS EVERYONE – IS MORE ECONOMICAL THAN PRESENT PLAN.«
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bereits 1950 seinen Plan in Buchform veröffentlicht, was ihn damals 5.500 Dollar gekostet hatte. Die 204-Seiten starke Untersuchung des »AGED PROBLEM« stellte, so Anderson, die Lösung für die aktuellen Probleme der Alten dar. Schließlich hatten zwölf Jahre der Recherche aus Anderson die am besten informierte Privatperson auf diesem Gebiet gemacht, wie er stolz feststellte.45 Der Plan des Berufenen46 sah eine monatliche Grundrente von sechzig Dollar für alle Menschen über sechzig Jahren vor.47 Auch sein Plan war lediglich eine Variante des universalistischen Grundgedankens von Townsend. Aber auch andere, gewöhnlichere Absender sprachen sich für eine einfachere Rentenstruktur aus. Typischerweise sollten so bürokratischem Wirrwarr und hohen Kosten Einhalt geboten werden, schilderte diese Absenderin aus Oregon am 2. Juni 1953: »Since I am opposed to federal housing, federal aid to welfare, federal this and federal that it would seem to me that it would be much cheaper, more humane, and better business if the government would get out of all these fields which require numerous employees who are working through Socialism to Communism and simply say that any person who is an American citizen, in good standing for the past ten, (twenty or whatever is reasonable number of years) having attained the age of 65 is entitled to $100 (if this is plausible) per month. […] I also realize that I am crippling myself by paying high taxes to a lot of useless, healthy young men and women.«48
Neben diesen, eher als Außenseitervorschlägen zu charakterisierenden Eingaben, die dem Townsendplan oft ähnelten, stellte die Alternative der nationalen Handelskammer eine deutlich breiter diskutierte Variante dar. Die Chamber of Commerce of the United States war die bundesweite Vereinigung der einzelstaatlichen Handelskammern, die ihrerseits Interessenvertreter lokaler Unternehmen waren. Wie sah ihr Plan aus? In einer Resolution von 1953, die 94 Prozent ihrer Mitglieder befürworteten, forderte die Kammer, dass alle Arbeitnehmer sofort in ein neues Rentensystem einbezogen werden sollten. Auf einer ihrer Konferenzen zu diesem Thema wurde der umfangreiche Plan im März 1953, und damit kurz vor Einberufung eines Untersuchungsaus-
in: Anderson Flugblatt, Akte: H. R. 83A-F17.12, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 45 C. H. C Anderson an Curtis, 17.6.1953, Akte: H. R. 83A-F17.12, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 46 »[…] the problems of the aged […] never left my mind, even at bedtime.« C. H. C. Anderson, How and Why the Anderson Plan Originated, 20.1.1950, Akte: H. R. 83A-F17.12, Box 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 47 Anderson an Curtis, 17.6.1953. 48 Absenderin war Maureen Epton aus Portland in Oregon. Das Schreiben war auf dem Briefpapier einer Makler- und Immobilienfirma, Epton Realty & Finance Co., verfasst. Epton an Curtis, 2.6.1953, H. R. 83A-F17.12, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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schusses zum Rentensystem im Repräsentantenhaus, in Chicago diskutiert.49 Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer forderte eine Kompromisslösung zwischen den beiden Extremen, die sie einerseits im Wegfall jeglicher staatlicher Hilfen und andererseits in einer umfassenden Versorgung, wie dem Townsendplan, sahen.50 Die Bundesregierung sollte ihre Verantwortung für die Rente an die Einzelstaaten abgeben. Diese sollte jedoch gezwungen werden, eine regional angepasste »basic layer of protection« einzuführen, die nicht unterschritten werden durfte. Individuell sollte die Rente schließlich so aufgestockt werden, dass sie die finanziellen Anforderungen des »American way of life« auch im Alter erfüllen konnte.51 Die vielen Erwähnungen in Briefen an die Abgeordneten im Repräsentantenhaus zeigen die Bekanntheit des Handelskammer-Plans. In Broschüren und Wurfzetteln war dieser der Öffentlichkeit vorgestellt worden. In einer umfangreichen Veröffentlichung griff die Handelskammer ein Jahr später die als »OASI Mythology« gebrandmarkten Grundlagen der Rentenversicherung noch einmal an.52 Als Kernelement dieser Mythologie wurde die vermeintliche Versicherungslüge der SSA ausgemacht.53 Um im Deutungskampf um das richtige Rentensystem zu bestehen, musste, so ein Redner der Chicagoer Konferenz, die »underlying philosophy« von Social Security widerlegt werden: »To change the underlying structure of social security is no easy task. To undo the work of an effective propaganda machine functioning for more than a decade and a half is no overnight task. This calls for hard work.«54 So sollte eine Aufklärungskampagne die Wahrheit, wie die Handelskammer sie sah, der Mehrheit der Amerikaner näherbringen, um so die Deutungshoheit der New Dealer zu überwinden. Mit dem Vertreter von U. S. Steel aus Pittsburgh stimmte der nächste Redner der Konferenz in diesen Chor ein. Doch auch er gestand dem Staat in der Verantwortung für die Versorgung alter und armer Amerikaner einen Platz zu. Als dritte Stufe der Absicherung, nach Individuum und dem Vertrag zwischen 49 Siehe den Konferenzbericht zu National Social Security Conference. A Sound Approach to Federal Old Age Benefits, Drake Hotel, Chicago. Sponsored by the Chamber of Commerce of the United States, its affiliated State Chambers of Commerce, and the Chicago Association of Commerce and Industry, 27.3.1953, Akte: H. R. 83 A-F17.21, Box: 2136, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB; die Arbeit des Untersuchungsausschusses wird weiter unten diskutiert. 50 Dean H. Mitchell, Conference Keynote, National Social Security Conference, Morning Session, S. 2. 51 Ebd., S. 3. 52 Chamber of Commerce of the United States, Improving Social Security. An Analysis of the Present Federal Security Program for the Aged… and the Proposal of the Chamber of Commerce of the United States, Washington, D. C. 1954, S. 53, Akte: Social Security Revison 1954, Box: 2142, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 53 Die Handelskammer warnte: »The insurance propaganda is highly dangerous.« Chamber of Commerce, Improving, S.56. 54 Mitchell, Conference Keynote, S. 4.
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Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sollte der Staat eine Grundsicherung für das Alter anbieten: »Public responsibility for individual security must be confined and limited to providing no more than a ›floor of protection‹ if the fundamental elements of a free society of free men is worth retaining. These are not platitudes. These are principles deduced from the vast experimental stations that so many foreign countries have provided for us in our own times.«55
Alle anderen Vorschläge würden dagegen nur dazu beitragen, individuelle Freiheiten zu zerstören. Dabei distanzierte sich auch die Chamber of Commerce, in ihrer Ausarbeitung eines verbesserten Rentensystems, explizit vom Townsendplan. Sein universalistischer Ansatz überprüfe die Bedürftigkeit der Rentner nicht regelmäßig und entspränge einer Philosophie, die eine »mixture of the feeling that many aged are doubtless needy, that by and large they may be considered as veterans of a lifetime of work« wären.56 Die unterschiedlich hohen OASI-Renten würden demgegenüber wenigstens als Anreiz zur Arbeit dienen. Schließlich resultierte eine höhere Rente aus einem entsprechenden Einkommen.57 Besonders warf die Handelskammer vorhergehenden Rentenreformen vor, es versäumt zu haben, eine engere Kopplung der Rente an das Einkommen einer Person geschaffen zu haben. Denn nur dadurch konnte der erreichte Lebensstandard reflektiert und »ambition and effort« belohnen werden.58 Die Belohnung von Eigeninitiative forderten auch die Reforminitiativen großer Lobbygruppen. Zu den einflussreichsten dieser Vereinigungen, die Anfang der fünfziger Jahre die Rentenreform beeinflussen wollten, zählte die American Medical Association (AMA). Der Ärzteverband nutzte den Townsendplan als Antithese, mit der er wohlfahrtsstaatliche Leistungen generell in Frage stellte. Im Jahr 1953 kritisierte die AMA die Pläne zur Erweiterung der OASI mit dem Schlagwort »Townsendism«. Aktuelle Pläne, die vorsahen, die Rente zu erhöhen und den Kreis der Berechtigten zu erweitern, wurden seitens der AMA als Versuch interpretiert, einen »Welfare State« zu etablieren. In diesem Zusammenhang und von Seiten der AMA verwendet, war dies klar als Drohszenario zu verstehen.59 Ein Sonderartikel des AMA-Journals von 1953 ging 55 Henry D. Allen, The Proper Federal Function in Security for the Aged, National Social Security Conference, Afternoon Session, S. 4; selbst Unternehmensvertreter, die ansonsten den Weg der Eigenverantwortung und der staatlichen Zurückhaltung priesen, standen dem Staat eine Rolle als letzte Instanz der Existenzsicherung zu. Dies stärkt die Thesen des Ökonomen Sachs, siehe v. a. Sachs. 56 Chamber of Commerce, Improving, S.59. 57 Vgl. ebd., S. 60–61. 58 Ebd., S. 60. 59 Siehe o.A., Editorial. Big Pensions and Government, S. 959.; viele Briefe von Kleinunternehmern wiesen die gleiche Einstellung auf, beispielhaft etwa O. B. Chenoweth, Transo Envelope Company, an Curtis, 10.10.1953, Akte: 83A-F17.12, Box: 2094, Committee on Ways and
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auf die OASI und den Townsendplan ein.60 Die Autoren beschrieben beide als ideologische und quasi-philosophische Ideenwerke.61 Erneut sprächen außerdem nicht nur ökomische Aspekte gegen Townsends Ideen. Diese waren obendrein, so der Vorwurf, mittlerweile in die Pläne der Reformer in SSA und Kongress eingegangen: »Most evident […] is the moral side of this issue; the aged, disabled, and widowed would all be living on the income of others. […] Obviously, contemporary Townsendism, by that name, is not the answer. We laugh at it as others laughed at Townsend and his followers less than 20 years ago.«62
Durch die aktuellen Gesetzesvorlagen drohte aber der Townsendplan in neuem Gewand verwirklicht zu werden. »Gratuity is a harsh word for the old; so is Townsendism for the young.«63 Immer wieder hob der Artikel auf moralische Aspekte der Altersversorgung ab. Ein kaum verhüllter Sozialismus drohte aus Sicht der Mediziner, den Individualismus und damit ein zentrales Merkmal der Amerikaner zu gefährden, wenn die Rente weiter erhöht und ihr Bezug vereinfacht werden sollte. Während durch eine gleichhohe Rente für alle die Fleißigen bestraft würden, könnten sich die Faulen zurücklehnen. Daneben sah die AMA Pläne zur Anhebung und Standardisierung der Renten als Einfallstor für »socialized medicine«,64 welches während der gesamten Nachkriegszeit und bis heute Schlagwort der Ärztevereinigung zur Markierung »falscher« Ideen bleiben sollte. So war der Begriff Townsend zum Synonym und zur Markierung für ein gegensätzliches Konzept wohlfahrtsstaatlicher Strukturen geworden. Dass der Ruf nach einer flat pension, einer einheitlichen Rente, wie dem Townsendplan, Anfang der fünfziger Jahre unerhört blieb, lag auch an der weiter bestehenden OAA. Diese hätte genau wie die OASI durch eine Reform ersetzt werden müssen. Die Kosten einer solchen Rentenform hätten in dieser Phase die der bestehenden Form der Altersvorsorge deutlich überschritten. Schließlich waren zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als zehn Millionen Amerikaner älter als 65.65
Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. Der Angriff der AMA spiegelte ihr Ressentiment gegen die Einbeziehung von Ärzten in das OASI-System und den generellen Widerstand gegen die zunehmende Aktivität der Regierung in Versorgungsfragen der Bevölkerung. Für die Vereinigung der Ärzte exemplifizierte dies »big government« und den Weg zum »socialistic welfare state«. 60 Blasingame u. Dickinson, S. 921–924. 61 Das zeigt auch Suffix »-ism«, das im Englischen meist philosophische Konzepte oder Religionen markiert. 62 Blasingame u. Dickinson, S. 921. 63 Ebd., S. 922. 64 Ebd., S. 923. 65 Vgl. Derthick, S. 222.
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3.2 Der Begriff welfare in wohlfahrtsstaatlichen Debatten im 20. Jahrhundert Was bedeutete der Begriff welfare? Der Sozialhistoriker Michael B. Katz hat welfare als so alt wie die amerikanischen Kolonien und so amerikanisch wie Thanksgiving bezeichnet.66 Trotzdem war die Wahrnehmung des Begriffs wäh rend des 20. Jahrhunderts bemerkenswerten Wandlungen unterworfen. Mit ihm wurden zunächst generell staatliche Programme für Arme umschrieben.67 Auch wenn welfare im Gesetzestext des Social Security Act keine Erwähnung fand, diente es nach dessen Verabschiedung immer öfter als Synonym für Aid to Dependent Children (ADC, später AFDC). In den sechziger Jahren waren beide Begriffe quasi kongruent.68 Wer nun von welfare sprach, sprach von ADC. Die öffentliche Aufmerksamkeit für den Begriff wuchs nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere galt das Image von welfare als Bedrohung für alle die fürchteten, einmal auf dessen Bezug angewiesen zu sein, denn wer welfare bezog, war als Paria gezeichnet. Er nahm eine Leistung in Anspruch, für die man nichts geleistet hatte und die zunehmend als Codewort für die finanzielle Bürde von Steuerzahlern verhandelt wurde. Beide Tendenzen intensivierten sich in Folge der gesetzlichen Etablierung von ADC. Der Widerstand gegen eine steigende Steuerlast wurde zu einem bestimmenden Aspekt in Debatten um den Wohlfahrtsstaat. Diese fanden auch in der gesellschaftlichen Mitte statt: bei jenen, die sich als Teil der Mittelklasse verstanden. Aus der Perspektive der Bezieher mittlerer Einkommen lösten die mit welfare assoziierten Szenarien wie Abhängigkeit und Fremdbestimmung zunehmend Angst vor dem Absturz aus.69 Die Sozialhilfe wurde weniger als Abfederung wirtschaftlicher Härten als vielmehr als Sackgasse in die Armut wahrgenommen. Als wichtige Bezugsgröße in der Deutung des Wohlfahrtsstaats nimmt welfare daher eine wichtige Position in dieser Untersuchung ein. Zunächst ist die wohlfahrtsstaatliche Leistung welfare von der akademischen Vokabel des Welfare State abzugrenzen. Letztere wird international für das verwendet, was im Deutschen Sozialstaat heißt. In der Verfassung der USA findet sich der Begriff welfare im achten Absatz des ersten Artikels. Der Kongress habe mit seiner Budgethoheit vor allem die Aufgabe, »[to] provide for the common defense and general welfare of the United States.« Einige Generationen später tauchte welfare im Kontext der child welfare als Element eines werdenden Wohlfahrtsstaats auf. Die Fürsorge für verwaiste, bedürftige Kinder wurde um 1900 als welfare bezeichnet; im Jahr 1909 wurde die erste Konferenz zum Thema child welfare im Weißen Haus abgehalten. In den 1920er Jahren kennzeichnete ein 66 Katz, Price, S. 10. 67 Vgl. E. Marshall, S. 16. 68 Vgl. Katz, Price, S. 1–4. 69 Zum Begriff der »Angst vor dem Absturz« siehe Ehrenreich.
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progressiver Unterton den Begriff der welfare work. Seine Verteidiger bemühten sich, Fortschritt, Wissenschaft und Effizienz miteinander zu verknüpfen.70 Ein Effekt der zunehmenden progressiven Einstellung in den USA war wiederum das Erstarken der Idee der corporate welfare. Unternehmen sorgten für ihre Mitarbeiter. So versuchten sie, ihre Arbeitnehmer durch Leistungen im Krankheitsfall, Betriebsrenten und andere Vorteile zu mehr Produktivität anzuspornen. Gleichzeitig galten zufriedene Arbeiter Gewerkschaften gegenüber als weniger aufgeschlossen. Parallel dazu kam in den 1920er Jahren die Bezeichnung der public assistance als übergeordnete Kategorie für welfare auf, gleichwohl sie auch als Synonym für welfare genutzt wurde. Mit dem Label der public assistance versehene Leistungen wurden meist lokal verwaltet und finanziert. Infolge der Vereinheitlichungstendenzen des nationalen Wohlfahrtsstaats, vorangetrieben durch die Maßnahmen des New Deal, wandelte sich dann der Begriff während der dreißiger Jahre. Welfare wurde nun meist mit einem der Zusätze social oder public verwendet. Es stand für ein breiter werdendes Portfolio an Projekten und Programmen, die in der Rhetorik von Politikern wie Präsident Roosevelt wirtschaftliche und soziale Sicherheit versprachen.71 Zudem wurde welfare nun erstmals mit konkreten Bundesprogrammen verbunden und synonym für diese genutzt. Wie auch im zweiten Kapitel erwähnt, bevorzugten Experten wie Harry Hopkins spezielle Formen der Hilfe für white collar workers. Für diese setzte sich der Terminus work relief durch. Diese Präferenz hing mit Hopkins’ Ansinnen zusammen, Angestellte nicht zu demütigen. Sie sollten vor der Entwürdigung durch eine Form der Hilfe, die als Almosen empfunden werden konnte, bewahrt werden. Ältere Formen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sahen zumeist vor, dass Hilfsbedürftige jede angebotene Tätigkeit annehmen und detailliert ihre Vermögenswerte offenlegen mussten. Work relief hingegen war neu.72 Angestellte sollten Tätigkeiten ausüben dürfen, die ihrer Ausbildung und damit ihrem gesellschaftlichen Status entsprachen. Eine Sonderform der Hilfe für sie bedeutete schon prima facie eine Unterteilung der Leistungsempfänger in verschieden Gruppen. Ein Blick auf die daraufhin folgenden Leistungen für bedürftige, alleinstehende Mütter während des 20. Jahrhundert soll zunächst deren volkswirtschaftliche Dimensionen verdeutlichen: Vor 1935 zahlten die Staaten, bundesstaatlich unreguliert, alleinerziehenden Müttern sogenannte mother’s pensions. Noch während der Großen Depression machten die Ausgaben der Einzelstaaten hierfür 0,04 Prozent des nationalen Bruttosozialprodukts aus. Wobei nur circa die Hälfte der Staaten mother’s pensions zahlte. Diese erreichten 1931 ungefähr 70 Vgl. Katz, Price, S. 3. 71 Das Gremium, das mit der Ausarbeitung des späteren Social Security Act beauftragt war, hieß Committee on Economic Security. 72 Es unterschied sich insbesondere von den beiden vorherrschenden Formen der Hilfsleistungen, outdoor und indoor relief, vgl. Malamud, Who, S. 2029.
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sechs Prozent aller alleinerziehenden Frauen.73 Es fügte sich in die, wenn auch lose, Programmatik des New Deal, dass mit staatlicher Hilfe für alleinerziehende Frauen die Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze gemildert werden sollte. Männer sollten nicht auch noch mit ehelosen Müttern um Jobs konkurrieren müssen.74 Diese und andere Überlegungen mündeten 1935 in die Verabschiedung des Programms ADC. 3.2.1 Aid to Dependent Children als typisches welfare-Programm Staatliche Unterstützung für Familien begann in den USA mit der Hilfe für Mütter. Die Politologin Theda Skocpol hat in ihrem Standardwerk »Protecting Soldiers and Mothers« die Ursprünge des amerikanischen Wohlfahrtsstaats in den Hilfen für Soldaten und Mütter nach dem Bürgerkrieg gesehen.75 In den moralisch begründeten Hilfeleistungen für Veteranen und Witwen finden sich die Wurzeln wohlfahrtsstaatlicher Leistungen des 20. Jahrhunderts. Die erste »White House Conference on the Care of Dependent Children« im Jahr 1909 wirkte wie ein Katalysator, der das Thema auf der Ebene des Bundes nochmals bestärkte. Sie griff als erste von insgesamt sieben solcher, durch den jeweiligen Präsidenten ausgerichteten, Veranstaltungen zwischen 1909 und 1971 die drängendsten Fragen zur Kindererziehung und zum wirtschaftlichen Wohlergehen von Kindern auf. Seit dem Jahr 1911 erließ eine Mehrheit der Staaten mother’s aid-Gesetze. Sie wurden nach 1935 am Social Security Act ausgerichtet und finanziell umfangreicher ausgestattet.76 Das Gesetz, das sich mit der erstmaligen Etablierung einer bundesweiten Rente primär an alte Menschen richtete, wurde auch als Hilfe für Kinder verstanden. Ein Senatsbericht befand 1935: »All parts of the Social Security Act are in a very real sense measures for the security of children.«77 Neben der indirekten Hilfe durch eine allgemeine Absicherung von Familien, sollte ein neues wohlfahrtsstaatliches Programm das Wohlergehen von Kindern fördern: Aid to Dependent Children (ADC). Dabei erhielten alleinerziehende Mütter monatlich finanzielle Unterstützung. Anhand des Bildes der hilfsbedürftigen Mutter lässt sich für den Untersuchungszeitraum auch der wohlfahrtsstaatliche Diskurs um das Verständnis von gender rekonstruieren. Aus der Perspektive der Armutsforschung befand die Historikerin Alice O’Connor, der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit schlösse alleinerziehende, nicht-verwitwete Frauen strukturell aus der Arbeits73 Vgl. Cauthen u. Amenta, S. 428. 74 Die regionale Ausweitung ließ die Kosten der, nun unter ADC, zusammengefassten Leistungen für alleinerziehende Mütter bis 1950 gesamtwirtschaftlich auf 0,19 Prozent steigen, ebd., S. 434. 75 Siehe Skocpol. 76 Vgl. Hoey, Social, S. 5. 77 Zit. nach o.A., A Better Start in Life, S. 58.
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welt aus. Als ab Mitte der sechziger Jahre der Anteil berufstätiger Frauen wuchs, maßen Ökonomen diesem Wandel gravierendere Folgen bei als der Erfindung der Atombombe.78 Welche Motive lagen der Hilfe für alleinerziehende Mütter zugrunde, die sich am deutlichsten im Programm ADC manifestierten? Die Fachzeitschrift The Child, die sich an Sozialarbeiter richtete und gleichzeitig deren Sprachorgan war, nannte 1936 drei Gründe dafür, weshalb es die aktuell dringlichste Aufgabe der Bundesregierung sei, Kinder in ihrem eigenen Zuhause aufwachsen zu lassen.79 Zunächst sei es das Beste für das Kind: Ein »normal home life is his surest guaranty of happiness and sound development«. Außerdem sei dies auch das Beste für die Mutter: »because it gives a definite measure of security«. Neben diesem Gefühl der Sicherheit wurde Müttern damit auch zugestanden, dass sie so das Gefühl erhielten, einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten: »The mother can feel that in doing a good job with her children she is making a genuine contribution to society.« Dies leitete bereits über zum dritten Grund, der für ADC spräche: »[…] for good citizenship, maintaining the child in his own home is the most effective means of fulfilling our obligation.«80 Die Konstellation von Mutter und Kind im eigenen Haushalt wurde als optimal erachtet. Die Hilfen, die Mütter als ADC-Schecks erreichten, wurden durch federal grants-in-aid finanziert. Diese Methode hatte sich zuvor bei der Finanzierung von Highways, bei der Waldbrandbekämpfung und in der Hochschulfinanzierung bewährt. Sie wurde mit ADC ab 1935 erstmals im Wohlfahrtsstaat angewandt. Dabei ko-finanzierte der Bund Programme, zu denen die Einzelstaaten einen Anteil beisteuern mussten. Wollten Einzelstaaten Bundesmittel in Anspruch nehmen, mussten sie nicht nur Mittel in einer bestimmten Höhe selbst aufbringen. Zur Rechtfertigung der Kosten wurde schon 1936 in Aussicht gestellt, dass das Resultat der ADC auch wirtschaftlich kein Verlust sein würde. Schließlich würden Kinder, welche die Hilfe erhielten, zu »stable, tax-paying citizens« heranwachsen.81 Die Bundesregierung beteiligte sich erstmals direkt an den Kosten wohlfahrtsstaatlicher Leistungen der Einzelstaaten. Sie trug zunächst ein Drittel und ab 1939 schließlich die Hälfte der Kosten für ADC in 78 Vgl. Berkowitz, America’s. 79 Vgl. Hoey, Social, S. 5. 80 Ebd. 81 Ders., Aid, S. 87. Im gleichen Artikel spricht Hoey von »chiselers«, also Betrügern. Ihre Zahl sei jedoch weit geringer, als weitläufig angenommen. Sie plädierte außerdem dafür, die Namen von welfare-Empfängern nicht zu veröffentlichen. Wie hoch waren die Ausgaben für bedürftige, alleinstehende Mütter? Vor der Verabschiedung von ADC zahlten die meisten Staaten alleinerziehenden Müttern sogenannte Mütterrenten. Noch während der Großen Depression machten die Ausgaben der damals noch 48 Einzelstaaten für die sogenannte mother’s pensions im Vergleich mit dem nationalen Bruttosozialprodukts 0,04 Prozent aus. Zwei Jahrzehnte später, 1950, waren diese Ausgaben auf 0,19 Prozent gestiegen. 1990 hatte sich dieser Anteil auf 0,38 Prozent verdoppelt. Das Programm war nun unter dem Akronym AFDC (Aid for Families with Dependent Children) bekannt. Vgl. Cauthen u. Amenta, S. 427. 1996 wurde aus AFDC TANF.
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allen Staaten, die sich entschlossen, das Programm einzuführen.82 Dieses Finanzierungsschema, durch das sich die Einzelstaaten »freiwillig« mit dem Einfluss des Bundes abfanden, versprach eine dauerhafte Etablierung von ADC und bedeutete eine bemerkenswerte Ausweitung von Bundeskompetenzen in der durch einzelstaatliche Machtbefugnisse geprägten Nation. Die Tradition der einzelstaatlichen Verantwortung für die Fürsorge für alleinerziehende Mütter war an der Etablierung von ADC gut ablesbar. Das Programm wurde, wie auch die OAA, als Maßnahme mit gemeinsamer Verantwortung von Bund und Einzelstaaten mit dem Social Security Act von 1935 etabliert. Der Zusammenarbeit in diesen beiden Programmen waren vergleichbare Ansätze und direkte Vorläufer in den Einzelstaaten, wie die mothers’ pensions oder lokale Hilfszahlungen für arme Alte, vorausgegangen. Anders war dies bei gänzlich neu zu schaffenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm Work Progress Administration (WPA) und die Rentenversicherung OAI waren ohne einzelstaatliche Vorläufer oder Modelle. Sie wurden von Beginn an auf Bundesebene verwaltet und bundesweit einheitlich finanziert. Eine selbstbewusstere und aktivere Bundesregierung hatte mit dem New Deal den Schluss gezogen, wohlfahrtsstaatliche Institutionen ohne regionale Andockmöglichkeiten seien einfacher auf Bundesebene zu etablieren.83 Das Bild der wohlfahrtsstaatlichen Bundesbehörden von einer »normalen« Familie bestand nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Vater, Mutter und mehreren Kindern. Um den kommenden Census vorzubereiten, versendete das Bureau of the Census, das dem Department of Commerce untergeordnet war, Ende 1948 Probeformulare an ausgewählte Haushalte.84 Die mehrseitigen Formblätter begannen mit Fragen zu den Haushaltsmitgliedern. Eine schematische Abbildung in der linken oberen Ecke des Formulars zeigte dabei das Piktogramm einer vierköpfigen Familie mit Vater und Mutter. Zwischen ihnen hielten sie einen Sohn und eine kleinere Tochter an der Hand. Dazu fand sich die Aufforderung, die im Haushalt lebenden Personen aufzulisten. Folgende Reihenfolge sollte einbehalten werden: »The head (usually the chief bread winner)«, dann »Wife of the head« und schließlich »Unmarried sons and daughters […]«.85 Damit war die Erwartung der Behörde deutlich. An zweiter Stelle wurde nicht nach einer oder einem »spouse«, also dem geschlechtsneutralen Gegenpart zum »chief bread winner« gefragt, sondern nach dessen Ehefrau. Die Publikationen der Volkszähler beinhalteten stets auch eine Definition der verwendeten Begriffe. Der Begriff »Head of family«, der eine zentrale Kategorie der Zensus darstellte, war hierin definiert: »In each household one person is designated as the 82 1990 hatte sich dieser Anteil auf 0,38 Prozent verdoppelt. Das Programm war nun unter dem Akronym AFDC (Aid for Families with Dependent Children) bekannt, ebd. 83 Vgl. ebd., S. 434–435. 84 J. C. Capt, Bureau of the Census, an ausgewählte Haushalte, 18.10.1948, Akte: General Correspondence, Box: 21, Division of Research and Statistics, RG 47, NACP. 85 Household Form, Schedule A, 18.10.1948, Akte: General Correspondence, Box 21, Division of Research and Statistics, RG 47, NACP.
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›head‹, that is, the person regarded as the head by the members of the house hold.« Jede Familie verfügte über einen »Haushaltsvorstand«, deren absolute Zahl demnach immer gleich der Zahl der Haushalte in den USA war: »The head of the family is usually a married man and the chief breadwinner; however, in some cases the head is a parent of the chief earner or is the only adult member of the family. A male head is classified as »married, wife present« if his wife is enumerated as a member of the same household; such a family is referred to as a »normal« family. A woman is not classified as a head if her husband is living in the household.86
Eine Frau konnte nicht Haushaltsvorstand sein, wenn sie mit ihrem Ehemann in einem Haushalt lebte. Eine »normale« Familie war damit aus staatlicher Perspektive beschrieben.87 Damit richtete sich ADC an Familien, die nicht als »normal« galten. Ein Bericht für die Midcentury White House Conference on Children and Youth betonte 1950, dass nichts den Charakter eines Kindes derart beeinflusste wie die ökonomische Lage seiner Familie. Gleichzeitig legten die Debatten und Beiträge der Konferenz einen Fokus auf die vermeintlichen kulturellen Unterschiede zwischen der Mittelklasse und den Armen: »It is the cultural differences that are associated with extremely low incomes and the reaction of the middle-class part of the community to them that especially handicap the ›lower-lower‹ class in personality development.« In einem Syllabus der Konferenz hieß es weiter: »In school and in the community children and youth of the ›lower-lower‹ class are usually discriminated against by agemates and teachers and are made to feel that they do not belong.« Auf diese Weise diskriminiert, liefen Kinder und Jugendliche Gefahr, sich einer Gang, »that defy middle-class values«, anzuschließen.88 Die Teilnehmer der Konferenz im Weißen Haus vertraten die Ansicht, dass gesellschaftlicher Rang und kulturelle Prägung einander beeinflussten. Doch obwohl ADC als welfare galt, wurden auch andere wohlfahrtsstaatliche Leistungen als welfare bezeichnet. Es beschrieb, als Kategorie, wohlfahrtsstaatliche Programme, die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wurden.89 Der Social Security Act hatte vorher bestehende Hilfsprogramme in den beiden Formaten ADC und OAA zusammengefasst. Diese wurden durch die Einzelstaaten administriert, jedoch teilweise durch den Bund finanziert. Dieser Schritt verfestigte die öffentliche Vorstellung von welfare, weil es auch anhand seiner Finanzierung erkannt werden konnte. 86 Department of Commerce, Bureau of the Census, Definitions of Terms and Explanations, 20.12.1946, Akte: General Correspondence, Box: 21, Division of Research and Statistics, RG 47, NACP. 87 Berkowitz sieht die »Normalfamilie« schon in der Formulierung des Social Security Acts definiert. Hier ist vom verstorbenen Arbeiter die Rede, dessen Witwe Hilfe benötigt: vgl. Berkowitz, America’s, S. 94. 88 O. A., The Making of a Healthy Personality, S. 94. 89 Dazu gehörten später auch etwa food stamps und Medicaid. Diese beiden, in den sechziger Jahren etablierten, Leistungen werden hier nur am Rande erwähnt.
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3.2.2 Wahrnehmungswandel und Warnungen: welfare nach 1945 Die Bezeichnung welfare war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst positiv belegt.90 Dies ließ sich besonders gut an Ratschlägen zur Verwendung des Begriffs in politischen Debatten ablesen. Gegner von Präsident Harry Truman, der 1945 auf Roosevelt gefolgt war, wurden im Vorfeld der Wahlen von 1948 davor gewarnt, den Begriff welfare negativ konnotiert zu verwenden. Diese rhetorische Klinge sei stumpf: »Fighting an election by opposing welfare is on a par with taunting an opponent for having been born in a log cabin.«91 Binnen zehn Jahren nach diesem bildlichen Ratschlag und der einzigen gewonnen Präsidentschaftswahl Trumans hatte der Begriff eine Wandlung durchlaufen. Er war nun nicht mehr unangreifbar. Schon vor Ende der Amtszeit von Truman im Jahr 1953 schmiedeten konservative Kritiker wohlfahrtsstaatlicher Arrangements neue Argumente. Verstärkt wurden Vorkehrungen des Wohlfahrtsstaats als paternalistische Elemente eines servile state ausgemacht, auf den in Kommentaren seit den späten vierziger Jahren immer wieder Bezug genommen wurde.92 Hatte Truman sich noch gegenüber einer schmalen und diffamierenden Definition des Begriffs welfare state versperrt, waren zum Ende seiner Präsidentschaft die Elemente eines negativen Verständnisses von welfare versammelt. Welfare bezeichnete nun immer öfter Programme für die undeserving poor. Damit wuchs einerseits die öffentliche Aufmerksamkeit für ADC. Anders als bei der OASI, über welche zudem immer weniger berichtet wurde, wurde ADC zunehmend argwöhnisch betrachtet. Andererseits wurde auch der größere Rahmen, eines vorsorgenden und fürsorgenden welfare state, nun skeptischer besprochen. Im Juni 1953 befürworteten sechs von zehn Befragten einer Gallup-Meinungsumfrage, die Namen von welfare-Empfängern generell zu veröffentlichen. Der Demoskop George Gallup bemerkte dazu in der Washington Post: »The threat of publicity, in the minds of many persons questioned, would reduce welfare rolls by ridding the list of chiselers.«93 Die vermuteten chiselers, also »Schlitzohren« (eine Benennung, die in Verbindung mit welfare noch lange prominent bleiben würde), sollten bloßgestellt werden. Dazu wurde auch in Kauf genommen, dass die Namen verdienter Empfänger öffentlich gemacht werden sollten. Im Vergleich zum behutsamen Vorgehen während der Großen Depression, als white collar workers 90 Vgl. Katz, Price, S. 4. 91 So ein politischer Berater eines Gegners von Truman, zit. n. ebd. Das Bild des, in einer Holzhütte aufgewachsenen, frontier-Mannes war bei Präsidentschaftswahlen förderlich; es spielte auf die Herkunft von sieben, angeblich in Holzhütten geborenen, Präsidenten an: Andrew Jackson, Zachary Taylor, Millard Fillmore, James Buchanan, Abraham Lincoln, Ulysses S. Grant, and James Abram Garfield, siehe hierzu Pessen. 92 Der Begriff geht zurück auf den Titel eines 1912 erschienenen Werks: Belloc; Friedrich von Hayek griff den Begriff 1944 in seiner Mahnung »The Road to Serfdom« auf und machte ihn populär: von Hayek. 93 Gallup, Gallup Poll, WaPo, 15.6.1953.
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möglichst nicht als Nutznießer staatlicher Hilfen erkennbar gemacht werden sollten, war dies eine bemerkenswerte, wenn auch nicht verwirklichte, Bürde für die Empfänger des Jahres 1953. Nur ein Viertel der Befragten sprach sich gegen eine solche öffentliche Zurschaustellung aus. Der Begriff welfare wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch deshalb mit zunehmender Skepsis betrachtet, da nun in Debatten und Reden die begriffliche und systemische Nähe zwischen welfare state und Sozialismus hergestellt wurde. So wurde der Begriff welfare eine Orientierungsmarke in der Arena ideologischer Auseinandersetzungen des Kalten Krieges.94 Der Ökonom Edwin Witte (1887–1960) sprach am 25. Juli 1949 in einer Rede im Rathaus von Los Angeles über das »Schreckgespenst« des Wohlfahrtsstaats.95 An seinen Warnungen lässt sich eine zunehmend negative Lesart des Begriffs skizzieren. Witte war Teil des Gremiums, welches den Social Security Act entworfen hatte. Immer häufiger würden in seinen Augen neue und bestehende Vorkehrungen für das Wohl der Amerikaner als schädlich und schändlich dargestellt. Der Streit um den welfare state war in vollem Gange: »[…] most of those who talk so much about the welfare state in such alarming terms are using this term as a propaganda slogan to oppose pending legislative measures. In doing so they display shocking lack of knowledge of our American Constitution and of our history and traditions.«96
Witte plädierte für einen Mittelweg in der Etablierung neuer und der Bewertung bestehender wohlfahrtsstaatlicher Programme. Indem er rechte und linke Positionen benannte, offenbarte er die Gegenpole der öffentlichen Debatte um den Wohlfahrtsstaat. Die Verfassung, lobte Witte, stellte aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit und Offenheit das ideale Instrument für einen Wohlfahrtsstaat amerikanischer Färbung dar. Wittes Gegner waren Kritiker wie Miles L. Colean, Berater von Präsident Eisenhower, die eine Einschränkung des wohlfahrtsstaatlichen Engagements forderten. Immer öfter wurde in den Kritiken nun der Begriff welfare state negativ verwendet. Diese negative Konnotation erklärte Witte im Zusammenhang internationaler Entwicklungen. Die scheinbare Nähe zum Sozialismus trug in seinen Augen dazu bei, dass der Begriff der Rhetorik des Kalten Krieges zum Opfer zu fallen drohte.97 Denn auch totalitäre Regime nutzten die Vokabel des Wohlfahrtsstaats zur Beschreibung ihrer Systeme. Auch deswegen geriet der Begriff in den USA zunehmend in Misskredit. Witte prognostizierte, dass künftigen Programmen dadurch die Legitimität abgesprochen werden 94 Vgl. Katz, Price, S. 5. 95 Witte. 96 Ebd., S. 39 97 Seine vormals positive und umfassende Bedeutung ging u. a. deswegen verloren, attestiert Katz, Price, S. 5. Marginalisiert wurde der Begriff außerdem durch die Tendenz, dass Unternehmen ihre Programme für ihre Mitarbeiter nach Ende des Zweiten Weltkriegs von welfare in employee benefits umtauften, vgl. ebd., S. 7.
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konnte. Im Umkehrschluss half die innenpolitische Kritik am Begriff welfare sozialistischen und kommunistischen Staaten. Letztere konnten sich dadurch als die einzigen gerieren, die mittels wohlfahrtsstaatlicher Vorkehrungen ihren Bürgern halfen. Der Wohlfahrtsstaat dürfe als Begriff nicht verloren werden, mahnte Witte.98 Konservativen amerikanischen Agitatoren warf er vor, unter dem sprachlichen Primat des Kalten Krieges in eine Zwickmühle gelockt zu werden: »[…] let us not play Stalin’s game by proclaiming that our government is not interested in the welfare of the common man.«99 Künftig drohte welfare zu einem verdächtigen Begriff zu werden: »[…] propagandists would make ›welfare‹ a suspect word and talk as if a government which seeks to promote or protect the welfare of its citizens were un-American.«100 Der Kampf der Systeme schien zu verbieten, dass sich beide Seiten identischer Begriffe bedienten. In seiner Rede versuchte Witte seine Lesart wohlfahrtsstaatlicher Vorkehrungen zu bewahren. In seiner Ableitung spezifisch amerikanischer Formen von Wohlfahrtsstaatlichkeit schritt er die Heiligtümer der nationalen Geschichte ab: Verfassung, Kongress, Staatsmänner. Der Auftrag, welfare zu sichern, fände sich sehr wohl in der Verfassung. Im achten Absatz des ersten Artikels hieß es schließlich, der Kongress sei beauftragt »to lay and collect taxes […] for the general welfare of the United States«. Auch Präsidenten und Staatsmänner wie Abraham Lincoln, Alexander Hamilton, Henry Clay und Daniel Webster stünden mit ihren Taten und Einsichten für eine amerikanische Form des Wohlfahrtsstaats. Sie alle hatten staatliche Eingriffe gewählt, verteidigt und damit Weitsicht bewiesen. Indem er diese Tradition auch auf staatliche Industriehilfen wie für die Eisenbahn, die Luftfahrt und den Automobilverkehr ausweitete, schuf Witte tatsächlich nicht nur ein breites Spektrum dessen, was als wohlfahrtsstaatliche Hilfe verstanden werden konnte; er argumentierte auch spezifisch amerikanisch. Schließlich wurde wirtschaftlicher Aufschwung als das probateste Mittel für ein sicheres Auskommen aller verstanden.101 Aber auch Arbeitslosen und Armen hatte Washington seit Staatsgründung Augenmerk geschenkt. Witte sah so etwa die Sorge für Arme und Bedürftige durch den Kongress bereits 1798 initiiert. In jenem Jahr gründete dieser ein Krankenhaus für mittellose Seemänner. Der Social Security Act von 1935 stand wiederum in der Tradition des Homestead Act von Präsident Abraham Lincoln (1809–1865). Das durch dieses Gesetz kostenlos zur Besiedlung freigegebene Land diente nicht nur als Chance auf ein besseres Leben im Westen. Es war auch Altersvorsorge der Siedler.102 98 Witte, S. 40. Die Furcht vor dem Verlust, dem loss, war eine ebenfalls aktuelle rhetorische Figur. Kurz zuvor hatten die USA China vorgeblich an den Kommunismus »verloren«. 99 Ebd., S. 50. 100 Ebd., S. 41. 101 Später wurde die Sentenz »A rising tide lifts all the boats« unter anderem prominent von Präsident Kennedy für die Idee verwendet, dass allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung allen zugutekäme. Der Spruch stammte allerdings nicht von Kennedy, sondern war schon älter, offenbarte sein Redenschreiber, vgl. Sorensen, S. 227. 102 Vgl. Witte, S. 42.
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Bemerkenswert in Wittes Ansprache 1949 war der Rekurs auf Abraham Lincoln im Speziellen und die republikanische Partei im Allgemeinen. Der Demokrat Witte zeigte damit, dass die von den Republikanern für sich in Anspruch genommene Zuschauerrolle bei der Etablierung staatlicher Eingriffe in das alltägliche Leben der Amerikaner so nicht stimmte: Der Wohlfahrtsstaat war ein Projekt beider Parteien gewesen. Besonders an den Initiativen der Truman-Regierung hatten die Republikaner eine neue Form der Kritik geübt, die insbesondere auf den Wohlfahrtsstat abzielte. Sie gaben sich nun als Skeptiker gegenüber staatlichen Eingriffen. Der welfare state galt ihnen nun als Keimzelle sozialistischer Entwicklungen.103 Die Kritik der Republikaner war auch laut geworden, weil die Inflation der späten vierziger Jahre die Auszahlungen der OAI gemindert hatte. Die OAA waren dagegen durch die Einzelstaaten schneller angepasst worden. Dies schuf Unmut bei den Empfängern der OAI. Ihnen war eine gegenteilige Entwicklung versprochen worden. OAI sollte wichtiger, OAA unbedeutender werden. Witte forderte Geduld. Die Zweifel am welfare state würden nun auch geschürt, weil die Beiträge für die Sozialversicherung OAI stiegen. Als Verteidiger dieses Systems stellte Witte die rhetorische Frage, wie Alternativen aussehen könnten: »A civilized society cannot do what Hitler did, condemn the dependent aged to the gas chambers.«104 Es blieben, abseits der unmenschlichen Methoden der Nazis, in Wittes Augen nur drei Alternativen. Man könnte, führte er an, erstens eine universelle Rente, wie den Townsendplan, einführen. Die zweite Variante wäre eine Form staatlicher Unterstützung, die sich allein an der Bedürftigkeit der Hilfesuchenden orientierte. Die dritte Form der Vorsorge konnte nur eine Sozialversicherung sein. In dieser zahlten Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ein gemeinsames System ein, um so die Rente zu finanzieren. Während die zweite und dritte Variante bereits Realität geworden waren, sei die erste noch nirgendswo installiert worden, mit Ausnahme von Hilfen für Veteranen.105 Zukünftig, so Rentenexperte Witte weiter, musste die OAA aufgrund ihrer immensen Kosten auslaufen. Zwar vermuteten viele seiner Landsleute, diese Variante wäre günstiger als OAI. Bei genauerer Betrachtung erkenne jedoch auch der Laie, dass dies nicht stimmte. Die Kosten waren hier, selbst bei der bescheidenen Auszahlung von fünfzig Dollar pro Monat, dreimal so hoch wie für die OAI.106 Bei Programmen, welche wie die OAA nicht durch Einkommensbeiträge finanziert wurden, fluktuierten die Auszahlungen und damit die Kosten. Bei einer Sozialversicherung hingegen war dem ein Riegel vorgeschoben: Hier verstünde jeder, dass höhere Auszahlungen an höhere Beiträge gekoppelt waren. Forderungen nach Rentenerhöhungen waren demnach seltener. Zahlungen aus allgemeinen Steuereinnahmen verführten jedoch zum Ruf nach großzügigeren Leistungen. Deshalb forderte Witte Konservative 103 Vgl. ebd., S. 44. 104 Ebd., S. 45. 105 Vgl. ebd., S. 48. 106 Ebd.
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dazu auf, einzugestehen, dass gerade die OAI ein Beitrag zu einer freien Marktwirtschaft sei. Hier würde nur das Nötigste abgesichert, während weitergehende Versorgungen individuell getragen werden mussten. 3.2.3 Konkurrierende Konzepte: Die zwei Renten OAA und OAI In den USA konkurrierten seit 1935 zwei unterschiedliche Rentensysteme miteinander. Dies war kein Zufall. Die Rivalität zweier unterschiedlicher Systeme der Altersversorgung war im Social Security Act von 1935 angelegt. Der erste Teil des Gesetzes, Title I, regelte die Old-Age Assistance (OAA). Sie wurde unabhängig von vorhergehenden Beiträgen ausgezahlt. Ihre Höhe unterschied sich von Staat zu Staat. Wer einen OAA-Rentenscheck erhalten wollte, musste seine Bedürftigkeit nachweisen und ein bestimmtes Alter überschritten haben. Die OAA war als schnelle Reaktion auf die wirtschaftliche Not alter Menschen implementiert worden. Ihre Auszahlung begann dementsprechend unverzüglich nach Verabschiedung des Gesetzes während der Großen Depression. Sie ähnelte damit der Gründung der HOLC, die verschuldeten Hausbesitzern ad hoc half.107 In den Einzelstaaten bestanden im Falle der OAA teil grundverschiedene Auslegungen bei der Feststellung von Bedürftigkeit. Eine ausführliche Analyse des Programms ergab 1953, dass eigentlich notwendige Kürzungen der OAA in Staaten wie Louisiana und Oklahoma aufgrund öffentlichen Drucks kaum angewendet wurden. Im Juni 1953 betrug der bundesweite Schnitt der OAA 49,48 Dollar. Das Maximum wurde mit 78 Dollar in Colorado, das Minimum mit 27,50 Dollar in Alabama ausgezahlt. Bemerkenswert war dabei, dass die Höhe der OAA nicht unmittelbar von der Wirtschaftskraft des jeweiligen Staats abhing. Ein Beispiel hierfür war Louisiana. Obwohl der Staat arm war, landete er im oberen Drittel, was die Höhe der hier ausgezahlten OAA betraf. Dies war möglich, weil die Einwohner Louisianas einer zweiprozentigen Extrasteuer zugestimmt hatten. Gegenbeispiele zu dieser Großzügigkeit waren Virginia und Maryland, wo die OAA-Renten viel geringer waren.108 Anders als die OAA wurde in Title II des Social Security Act zunächst nur für Beschäftigte in den Bereichen Industrie und Handel eine Rentenversicherung eingeführt. Sie wurde Old-Age Insurance genannt und erhielt später den umgangssprachlichen Namen Social Security.109 Die Zahlung der OAI 107 Siehe auch Kapitel 2 dieser Arbeit. 108 Das Anrecht auf den Bezug von OAA wurde ebenfalls von Staat zu Staat unterschiedlich ausgelegt In New Jersey etwa war dieses entitlement nicht kodifiziert, vgl. Bericht des Untersuchungsausschusses zu Social Security, Curtis an Reed, 22.12.1953, Akte: 033.2, Box: 100, Office of the Commissioner, RG 47, NACP. 109 Hobby, die als Ministerin das HEW leitete, sagte am 1. April 1954 vor dem Ways and Means-Ausschuss: »›Social Security‹ has become one of the everyday phrases in the American language. Most people mean by ›social security‹ the Federal system which the Congress
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war national geregelt und folgte dem Bismarckschen Sozialversicherungsprinzip.110 Renten basierten auf vorhergehenden Einzahlungen. In späteren Schritten wurden immer neue Berufsgruppen berücksichtigt. Die Ausklammerung der Hausangestellten und Farmarbeiter bei der Einführung ließ Vorwürfe laut werden, dass so insbesondere Afroamerikaner ausgeschlossen wurden. Diesem Vorwurf entgegneten die verantwortlichen Stellen, dass die Nichtberücksichtigung auf der Unregelmäßigkeit der Verdienste in diesen beiden Sektoren beruhte. Zudem würden Löhne in Landwirtschaft und für Hausangestellte teils in Naturalien bezahlt, was für die Berechnung einer lohnsteuerartigen Abgabe nicht herangezogen werden konnte. Die Experten des Gremiums, das den Gesetzesentwurf maßgeblich verantwortete, unter ihnen Edwin Witte und Harry Hopkins,111 hatten vor allem Industriearbeiter im Blick, die weniger als 3.000 Dollar im Jahr verdienten. Diese waren meist langfristig bei den gleichen Arbeitgebern beschäftigt, was die Basis einer bürokratisch präzise nachvollziehbaren Beschäftigungshistorie war. So blieben jene, die wenig verdienten und nicht in administrativ geordneten Organisationen arbeiteten, zunächst von dieser Rentenform unberücksichtigt. Krisenhorizont der OAI war weniger die aktuelle, als vielmehr kommende Krisen. Damit glich dieses Vorgehen dem, welches Washington auch im Fall der FHA verfolgt hatte. Auch hier richtete sich der Blick nach vorne. Als der Social Security Act im Parlament debattiert wurde, schenkten die Abgeordneten dem ersten Abschnitt, den sie als welfare-Teil ausgemacht hatten, weit größere Aufmerksamkeit. Kurz blieben die Debatten um Title II und um die sozialversicherungsbasierte Rente. Die Einbeziehung immer neuer Berufsgruppen ermöglichte dem System, das in Title II verabschiedet und 1939 in OASI umbenannt wurde, immer neue Beitragszahler hinzuzugewinnen. Gleichzeitig bedeutete die Erschließung neuer Gruppen von Einzahlenden zunächst nicht, dass viele aktuelle Rentner hinzukamen. Damit konnte der Social Security Trust Fund, der ebenfalls 1939 eingerichtet wurde, lange Zeit anwachsen.112 Die horizontale Erweiterung der Rentenberechtigten half, finanzielle Engpässe lange zu umgehen. Anwendbar war diese Methode, solange noch ganze Berufsgruppen unberücksichtigt geblieben has named ›old-age and survivors insurance‹.«: Statement Oveta Culp Hobby, 1.4.1954, Akte: Social Security, Speech Material 1954, Box: 2142, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 110 Der Herkunft waren sich Sozialexperten in den USA bewusst. Einer von ihnen fasste die Herkunft während eines Symposiums zusammen: »It was, after all, O.v.B [Otto von Bismarck] who first introduced social insurance, and not D.Ll.G [David Lloyd George] or FDR [Franklin D. Roosevelt].«, Musgrave, S. 28. 111 Im Kern des Committee on Economic Security stand die Executive Group. Ihr gehörten die Vorsitzende Frances Perkens, Edwin Witte, Henry Morgenthau Jr., Homer Cummings, Henry Wallace und Harry Hopkins an. 112 Der Trust Fund wurde mit Section 201 der Zusätze zum Social Security Act von 1939 gegründet. Ein Aufsichtsrat, Board of Trustees, wachte über die Einnahmen und Ausgaben. Überschüsse wurden in Bundesanleihen angelegt.
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waren. Dank der schrittweisen Erweiterung der Bezugsberechtigten wurde die Zahl derer, die sich positiv zu einer Aufnahme äußerten, stetig größer. Als das Meinungsforschungsinstitut Gallup im Januar 1948 wissen wollte, ob Farmarbeiter in das OASI-System aufgenommen werden sollten, sprachen sich fast sechzig Prozent der Befragten dafür aus. Jeder vierte war dagegen. Diese Zahlen waren quasi identisch zu den Resultaten für die weiteren Abfragen des gleichen Tages. Ob Regierungsangestellte, Freiberufler oder Selbständige: Sie alle sollten und wollten in ungefähr gleichem Maße einbezogen werden.113 Sobald eine Mehrheit der Berufe aufgenommen war, wurde es von den bislang Außenstehenden als gerecht empfunden, selbst auch integriert zu werden. Damit mehrten sich die Rufe nach einer erweiternden Rentenreform. So schrieben Tausende von Zahnärzten in den Jahren 1953 und 1954 an ihre Abgeordneten, um darauf zu drängen, ebenfalls in das System aufgenommen zu werden.114 Obwohl die Verantwortlichen der SSA die beiden Bestandteile des Social Security Act ganz unterschiedlich bewerteten: Große Teile der Öffentlichkeit standen dem Unterschied zwischen OAA und OAI indifferent gegenüber. Als in einer soziologischen Studie die öffentliche Meinung gegenüber der Rente, ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einführung, untersucht wurde, bemerkte der Autor lakonisch, dass wohl für immer unklar bleiben würde, »whether during the Depression the public understood or endorsed the principle of social insurance.«115 Dass auch zwei Jahrzehnte nach Etablierung einer Altersrente selbst Teilnehmer öffentlicher Podiumsdiskussionen den Unterschied zwischen OASI und OAA nicht zu kennen schienen, beklagte auch eine Beobachterin aus New York. Sie habe im Juni 1953 bei eben einer solchen Debatte immer nur den Begriff »Old Age Pensions« gehört. Ein Unterschied zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Systemen sei nicht gemacht worden. Auch deswegen sprach sie von einem chaotischen Zustand.116 Aus Missouri hatte der Stadtangestellte C. F. Tanner kurz zuvor seinem Abgeordneten geschrieben: »I and many others have been paying old age pension premiums on our salaries each week since the beginning of the act in 1937.«117 Damit nutzte er Begriffe aus dem Versicherungswesen wie premium, um seine Rentenbeiträge zu beschreiben. Auch er nannte die Rente eine »old age pension« und nicht etwa OASI. Ob die Altersrente überhaupt als Versicherung bezeichnet werden konnte, so wie Tanner aus Missouri es tat, wurde zu Beginn der fünfziger Jahre unter Ren-
113 Gallup, S. 783. 114 »It seems unfair to exclude us from these benefits which include so many others.«, C. Walter Cooper an Reed, 7.5.1954, Box: 2097, Committee on Ways and Means 83rd Congress, RG 233, NAB. 115 Schiltz, S. 29. 116 Anne McHoney aus Mt. Vernon, N. Y. an Harold O. Ostertag, 24.6.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 117 C. F. Tanner aus Missouri an William Cole, 23.4.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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tenexperten debattiert, als es um den Charakter von OASI als verdiente Entlohnung ging. Etliche konservative Kritiker sprachen dem Programm ab, eine Versicherung zu sein. Wie gebräuchlich der Versicherungsbegriff und die dahinter stehenden Vorstellungen zu Beginn der fünfziger Jahre waren, zeigte ein Beitrag in der Zeitschrift The Child aus dem Jahr 1950: »Insurance under Social Security is much the same as all ›retirement insurance.‹ It is insurance purchased by the payment of premiums over a period of time.«118 Innerhalb der SSA war der Unterschied zwischen den beiden Gesetzesteilen des Social Security Acts nicht nur bekannt. Auch die Behörde in Baltimore bewertete beide Teile verschieden. Der sozialversicherungsbasierten Rente OASI wurde hier klar der Vorrang vor der public assistance-Variante eingeräumt.119 Schon 1947 verdeutlichte der spätere Leiter der SSA, Robert Ball (1914–2008), diese Position: »Public assistance is winning acceptance as a legal right and moral right, but it is not and cannot be thought of an earned right. The basis for eligibility, the fundamental characteristic of the program, is not work or the payment of money contributions derived from work but is the negative fact of being without enough to live on.«120
Die ethisch basierten Vorstellungen Balls flossen in die Bewertung der Rentenversicherung mit ein. Als einer der zentralen Experten zu diesem Thema äußerte Ball hier auch die Abneigung gegen die OAA. Die grundlegenden Unterschiede zwischen der Sozialversicherung OASI und dem welfare-Programm OAA sah er in der Würde der Rentner. Sie sei nur in einem der beiden Programme gewahrt wurde. Die vertragliche Verpflichtung im Kern von OASI wäre modern. Das System der »public assistance« stamme hingegen aus einer vormodernen Zeit von »Unterdrückung und Bestrafung«. »From the standpoint of freedom, democratic values, and economic incentives«, so Ball weiter, »social insurance is greatly to be preferred whenever there is a choice.«121 Dieses Urteil begleitete die OAA seit ihrer Einführung. Obwohl auch andere Bedenken zu dieser Ablehnung beitrugen,122 hegten Mitarbeiter der Rentenbehörde bereits seit Ende der dreißiger Jahre Vorurteile gegenüber der OAA. Sie galt hier als die paternalistische und damit den Totalitarismus begünstigende Variante der Altersversorgung.123
118 Riches, S. 122. 119 Zur Konkurrenz der beiden Modelle, vgl. Berkowitz, America’s, S. 47. 120 Zit. n. ders. Robert Ball, S. 57–58. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Ball als Fachmann für den Finanzausschuss des Senats in einem beratschlagenden Unterausschuss zur geplanten Rentenreform. 121 Zit. nach ebd., S. 58. 122 So befürchtete die SSA, dass Erhöhungen der OAA in den Einzelstaaten Teil eines spoil systems für treue Wähler missbraucht werden könnten, während das bundeshoheitliche OASI dagegen immuner wäre. 123 Aus ähnlichen Motiven hielt auch der Finanzausschuss des Senats OAA für einen falschen Weg, vgl. Social Security Act Amendments of 1950, Senate Report No. 1669, Calen-
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Die Rentenreform von 1950 kehrte die Verhältnisse in den Empfängerzahlen von OAA und OASI erstmals um.124 Zuvor waren die Auszahlungen der OAA um bis zu siebzig Prozent höher als für die OASI gewesen. Den 2,8 Millionen OAA-Empfängern standen zu diesem Zeitpunkt 2,1 Millionen Amerikaner gegenüber, die eine OASI-Rente bezogen.125 Binnen einen halben Jahres wurde jedoch OASI das dominierende Programm und im Februar 1951 bezog nun eine Mehrheit der Rentner OASI. Zwar erhielten auch mehr als 15 Jahre nach ihrer Einführung nur vierzig Prozent der Amerikaner über 65 Jahre OASI.126 Dass ihre Zahl jedoch nach der Erweiterung der Bezugsgruppen von 1950 höher war als die der OAA-Empfänger, war eines ihrer wichtigsten Resultate. Damit wiederum hatte die SSA eines ihrer Ziele erreicht. Die Konkurrenz der beiden Rentenarten, die als grundlegend verschieden galten, schien zugunsten der OASI entschieden.127 Die bis dahin höhere Zahl der OAA-Empfänger war zuvor stets auch als Gefahr für die favorisierte Rentenart interpretiert worden. Als Vertreter der Einzelstaaten trugen nun auch die Senatoren dazu bei, die OAA schrittweise durch das vom Bund allein finanzierte OASI zu ersetzen. Die Ausgaben für die OASI verdoppelten sich von 1950 auf 1951 von 727 Millionen auf fast 1,5 Milliarden Dollar, während die OAA-Kosten um zehn Millionen Dollar sanken. Die grundlegende legislative Bedeutung der Reform zeigte sich in der Folge. Für die insgesamt sieben Rentenreformen zwischen 1952 und 1971, die meist auf Änderungen in den Berechnungsgrundlagen basierten, bildeten die Gesetzesänderungen von 1950 den Bezugspunkt.128 Selbstverantwortung und Sparsamkeit tauchen in Selbstbeschreibungen von white collar workers als Kernattribute auf. In Verbindung damit stellte auch die Art der Finanzierung der Rente ein wichtiges Kriterium für ihre Akzeptanz dar. Die frühen fünfziger Jahre bildeten auch deshalb eine Wegscheide in der Nachkriegsgeschichte von Social Security, weil das sogenannte Murray Amendment wieder gestrichen wurde. Dieses hatte vorgesehen, auch allgemeine Steuereinnahmen als dritte Finanzierungsquelle, neben den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zu erschließen.129 Damit war die stets debattierte Finanzierungsfrage vorläufig entschieden.130 Obwohl mehrere Beratergremien und das Social Security Board (SSB, ein Vorläufergremium der SSA) empfohlen hatten, allgemeine Steuermittel langfristig als Finanzierungsquelle einzubauen, be-
der No. 1680, 81st Congress, 2nd Session, Akte: H. R. 83 A-F17.21, Box: 2136, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 124 Zum Wechsel in diesem Verhältnis vgl. Berkowitz, America’s, S. 56. 125 Derthick, S. 273. 126 Curtis an Reed, 23.12.1953, Akte: 033.2, Box: 100, Commissioner’s Correspondence, 1936–1969, RG 47, NACP. 127 Zur zusammenfassenden Schilderung dieser Ziele siehe Berkowitz, America’s, S. 64. 128 Vgl. Derthick, S. 274. 129 Vgl. ebd., S. 244. 130 Vgl. Myers, S. 102.
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schloss der Kongress, dass die Rente nicht durch die Einkommensteuer teilfinanziert werden sollte.131 In ihrem Standardwerk »Policymaking for Social Security« hat Martha Derthick in den auf diese Weise konsolidierten Finanzierungsgrundlagen von Social Security gleich zwei Lektionen erkannt, die Exekutive und Legislative einander erteilten. Einerseits bewahrheitete sich die Prophezeiung Roosevelts, dass »kein verdammter Politiker« Social Security je kassieren könnte, solange es auf Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern basieren würde.132 Die Lektion, die Derthick in der Streichung des Murray Amendments erkannte, wurde hingegen der Exekutive durch die Legislative, also den Kongress, erteilt. Der Verzicht auf eine Bezuschussung der Rente durch allgemeine Steuereinnahmen machte die Rente erst wirklich unangreifbar.133 Folgt man Derthicks Darstellung, war die Finanzierungsart ein Grundstein für die politische Unantastbarkeit von Social Security. Sie begünstigte bei ihren Empfängern ein moralisches Überlegenheitsgefühl. Dass die Rente allein auf den Einzahlungen ihrer späteren Empfänger basierte und fremde Hilfe nicht in Anspruch genommen werden musste, wurde als Autonomie wahrgenommenen. Der Kreis der Einbezogenen argumentierte in Rentenfragen mit Verweis auf diese vermeintliche Autonomie von einer als moralisch höher wahrgenommenen Position. Als Advokaten dieser Idee sahen sich die Experten der SSA. Ein Zuschuss aus allgemeinen Steuereinnahmen, also auch von Personen außerhalb des OASI-Systems, hätte diese moralische Überlegenheit ins Wanken gebracht. Gestärkt wurde das Gefühl der finanziellen Autonomie, das sich in vielen Schilderungen von Betroffenen finden lässt, durch das öffentliche Bild des Social Security Trust Fund. In der allgemeinen Auffassung wurden die Rentenbeiträge in diesen Treuhandfonds eingezahlt, der später zur Quelle für die eigene Rente wurde. Der Wert des Fonds war bis zum Jahr 1953 auf knapp 18 Milliarden Dollar angewachsen. Auch diese Summe war öffentlich bekannt.134 Selbstverantwortung und Sparsamkeit waren damit nicht nur Merkmale der white collar workers. Sie ließen sich auch auf die Beschreibung der Rente anwenden. Das Rentensystem entlang dieser Parameter auszurichten, und sei es nur rheto131 Beide Kongressausschüsse, die sich mit Social Security befassten (Committee on Ways and Means im Repräsentantenhaus und Committee on Finance im Senat) waren gleichzeitig für den allgemeinen Haushalt zuständig. 132 Der Ausspruch fiel im Sommer 1941, als ein Berater Roosevelt empfahl, die Rente langfristig durch eine Umsatzsteuer zu finanzieren. So entstünde gleichzeitig ein Instrument, um einer Inflation vorzubeugen. Die vollständige Antwort von Roosevelt lautete: »I guess you’re right on the economics. They are politics all the way through. We put those pay roll contributions there so as to give the contributors a legal, moral, and political right to collect their pensions and their unemployment benefits. With those taxes in there, no damn politician can ever scrap my social security program. Those taxes aren’t a matter of economics, they’re straight politics.«, zit. n. DeWitt. 133 Vgl. Derthick, S. 244. 134 Bekannt war aber auch, dass der Fonds aus Regierungsbonds bestand.
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risch, machte es politisch so erfolgreich. Alternativen zu dieser Form von Social Security mussten sich insbesondere an diesem Finanzierungssystemen messen. Damit verschmolzen moralische Merkmale mit finanzieller Gestalt und Gestaltung des Wohlfahrtsstaats. Erst mit der Reform des Jahres 1954 wurde deutlich, dass nun Grundlagen von Social Security gefunden worden waren, die parteiübergreifend für die kommenden Jahrzehnte Konsens bleiben würden. Während der Vorbereitungszeit für die Reformen des Jahres 1954 hatten die gesetzlichen Änderungen des Jahres 1950 großen Einfluss auf Debatten in der Öffentlichkeit, in Ausschüssen und Behörden. Viele folgten dem Aufruf des neu gewählten Präsidenten Eisenhower, ihre Meinung zur Rente einzusenden. Sie bezogen sich auf die Reform von 1950, die noch unter einem mehrheitlich demokratischen Kongress verabschiedet worden war. In einem Flugblatt von 1953 hieß es: »These [1950] amendments were supposed to rectify all the inequalities of the original Social Security law, but the effect upon the present generation of old folks has been unsatisfactory; falling far short of providing even a meager existence.«135
Damit erhärtete sich auch eine weithin wahrgenommene Zweiteilung des Wohlfahrtsstaats. Historiker wiesen in anderen Zusammenhängen bereits darauf hin: »The American public welfare state had split linguistically along two of the tracks that divided it administratively: public assistance and social security.«136 Im Zusammenhang mit dieser Zweiteilung wuchs die Ablehung gegenüber dem Begriff welfare. Um 1950 häuften sich Zeitungsberichte über Betrugsfälle, die zu weit rezipierten Skandalen wuchsen. Sie provozierten die öffentliche Wut auf die Bezieher von welfare. Als »hässlichstes Wort« der englischen und jeder anderen Sprache deklarierte 1953 ein anonymer Texaner gegenüber seinem Abgeordneten in Washington »charity«. Wie auch jede andere Form von »welfare« demütigte sie jeden, der über Stolz und Charakter verfüge. Obendrein zerstörte es Eigeninitiative und Ambition. Stellvertretend für viele Kritiker der Reformen der frühen fünfziger Jahre, wandte sich der Absender gegen die Pläne, die mehr Sicherheit für die Amerikaner versprachen. Er betonte, dass weder Verfassung noch Bibel Sicherheit versprächen. Lediglich zum Stimmenfang unter »Faulen und Ignoranten« eigneten sich die Sicherheitsversprechen der Bürokraten, so der Erboste.137 Wie etliche andere beschrieb der Brief aus Texas da135 George. H. Pauley, Masten Club Pension Crusaders, Social Security – What Is Wrong With It?, Buffalo, N. Y. 1953, Akte: HR 83A-F17.12, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 136 Katz, Price, S. 4. 137 »Charity is the ugliest word in the English – or any other language. It is humiliating to people with any pride or character, and it destroys initiative and ambition. Who has security? Nobody is guaranteed it in our Constitution, nor through our economic system – not even by Holy Writ. But the lure of ›security‹ is a wonderful come-on for votes among the lazy and ignorant; and best of all (for the Bureauocrats [sic]) it is a prime source of illicit revenue to be immediately spent by an extravagant government instead of being i mpounded
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mit die grundlegenden Vorbehalte Konservativer gegenüber staatlichen Hilfen in den fünfziger Jahren. Wenn die Konzepte wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung nun durch Konservative immer häufiger mit sozialistischen Ideen in Verbindung gebracht wurden, traf diese Skepsis nicht die Bezieher von OASI; sie galt nicht als welfare. Nach den Rentenreformen der frühen fünfziger Jahre empfingen erstmals mehr Menschen OASI und ADC als OAA. Letzteres verlor damit an Angriffsfläche. Die Empfängerinnen von ADC blieben nach 1955 die größte Gruppe, die welfare bezog. Dies lag weniger am Anwachsen der Empfängerzahl von ADC, sondern am Rückgang der Anzahl versendeter OAA-Schecks. Hier hatte die Reform zugunsten der OASI gewirkt. Für Historiker Michael B. Katz hatte die Assoziation von welfare mit ADC und nicht mit Social Security in erster Linie rassistische Ursachen.138 Wo Katz jedoch sehr stark auf die rassistischen Untertöne der Gesetze und öffentlichen Berichterstattung in dreißiger und vierziger Jahren abhebt, sind die sozialen Polarisierungstendenzen der beginnenden fünfziger Jahre ein ebenso wesentlicher Faktor. Als ein Beleg für diese Tendenzen kann der sich wandelnde Berufsstand der Sozialarbeiter herangezogen werden. Sie professionalisierten sich zunehmend. Sozialarbeiter nahmen nun auch psychotherapeutische Aufgaben wahr, während die Angestellten der Ämter, die für ADC zuständig waren, vergleichsweise schlechter ausgebildet waren. So wurde ADC nach den Rentenreformen der fünfziger Jahre in Zeitungsberichten und soziologischen Darstellungen zunehmend mit der Hautfarbe ihrer immer öfter afroamerikanischen Empfängerinnen verbunden. Wer überproportional oft uneheliche Kinder zur Welt brachte und so moralischen Ansprüchen nicht genügte, bezog ADC. In den zwei Jahrezehnten nach 1950 wuchs die Zahl der ADC-Empfängerinnen um mehr als 330 Prozent. Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen wie der Rückgang der Eheschließungen und die wachsende Zahl von Alleinerziehenden, besonders in der black community, waren zentrale Gründe. Ein entscheidender Faktor für die wachsende Wut auf ADC, der sich an deren Empfängerinnen entlud, war der schnelle Anstieg der Empfängerzahlen. Als die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung die Anrechte afroamerikanischer Frauen stärkten und es ihnen leichter machten, Hilfe zu beantragen, führte dies nicht dazu, dass sie zum Kreis gesellschaftlich akzeptierter Empfängerinnen hinzugerechnet wurden. Bis 1961 stieg der Anteil afroamerikanischer Frauen unter den Empfängerinnen von ADC auf mehr als vierzig Prozent.139 as a reserve against future needs, as provided in the law!« John J. Trotter aus Kerrville, Texas, an Reed, 15.6.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 138 Katz’ Werk »The Undeserving Poor« von 1990 wurde 2013 in einer komplett überarbeiteten Fassung neu aufgelegt. 139 Katz, Price, S. 6–8.
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Die Reduktion der Empfänger von OAA durch den Transfer in die OASI katalysierte eine semantische Wandlung des Begriffs welfare in den fünfziger Jahren. Als die Gruppe der Personen in der social insurance größer und heterogener wurde, wurde die Gruppe derer homogener, die Leistungen erhielten, die nicht auf vorherigen Einzahlungen beruhten. Dadurch wurde der amerikanische Wohlfahrtsstaat zunächst semantisch neu konfiguriert. Diese Neukonfiguration lag in einer Schärfung des Unterschieds zwischen zwei Konzepten der wohlfahrtsstaatlichen Hilfe. Die Zweiteilung in Programme, die den Ideen der Versicherung folgten und allen übrigen, begünstigte eine weitere Abwertung der letzteren. Das Unbehagen, das mittlerweile entstandene System sozialer Fürsorge deutlicher als solches zu benennen, hing auch damit zusammen, dass nun die sozialistischen Systeme jenseits des Eisernen Vorhangs stärker mit den entsprechenden Vokabeln bedacht wurden. Vertreter aller Landesteile in Kongress und Medien sahen die USA auch deswegen nicht als welfare state, weil der Gegner mit den zentralen Begriffen, die einen Wohlfahrtsstaat ausmachten, gekennzeichnet wurde. Die Konnotation mit vermeintlich sozialistischen Begriffen erschwerte eine integrierende oder zumindest neutrale sprachliche Grundlage; auch wenn es später beispielsweise um Forderungen der Bürgerrechtsbewegung ging.140 Vielmehr ließ sich ein Trend beobachten, Leistungen, die als Teil von social insurance gelten, außerhalb der Sphäre des Wohlfahrtsstaats anzusiedeln. In einer geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift zog der ehemalige Leiter der SSA, Arthur Altmeyer, 1958 eine Bilanz, die diesen Trend verdeutlichte. In einer Antwort auf Befürchtungen, die USA könnten wegen hoher Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat finanziell und moralisch leiden, führt Altmeyer vor, welche Komponenten sprachlich mit dem Begriff welfare verwandt waren. Zunächst stellte er die Dimensionen wohlfahrtsstaatlicher Kosten dar: »To those who may fear that the welfare state has already engulfed us, it may be some comfort to know that this represents less than 5 per cent of our gross national product, and is a smaller percentage than before World War II.« Weil darüber hinaus die anteiligen Kosten für welfare stark gesunken und zur gleichen Zeit sozialversicherungsbasierte Auszahlungen angestiegen sein, lautete Altmeyers Fazit, dass »necessary government intervention in the daily lives of citizens has steadily lessened«.141 Damit leistete auch Altmeyer einen Beitrag zur Definition zweier wohlfahrtsstaatlicher Sphären. Eine dieser Sphären war die der social insurance, die hier nicht einmal mehr als Eingriff in das tägliche Leben dargestellt wurde, während die andere Sphäre, welfare, rückläufig sei.
140 Ein verbreiteter Vorwurf gegen Martin Luther King jr. lautet noch heute, er sei Kommunist gewesen. 141 Altmeyer, S. 24.
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3.3 »I have been wronged«: Die parlamentarische Untersuchung des Rentensystems durch das Curtis Committee, 1953 »I am so glad you are interested in Social Security Benefits as I feel I have been wronged«: Mit diesen Worten leitete die Witwe Lynch aus Tacoma im Staate Washington Anfang des Jahres 1953 ihr Schreiben an das Curtis Committee ein.142 Wie Tausende ihrer Landsleute schilderte sie, welche Merkmale des Rentensystems sie als ungerecht empfand. Empfänger dieser Schreiben war der 47-jährige Carl T. Curtis. Der Republikaner war Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses des Committee on Ways and Means im Repräsentantenhaus.143 Aus den Reihen der Republikaner war seit der Verabschiedung des Social Security Act zum Teil fundamentale Kritik daran geübt worden. Nun stellten sie ab 1953 erstmals seit der Verabschiedung des Rentengesetzes im Jahr 1935 den Präsidenten. Schon seit dem Wahlkampf von 1952 erinnerten die Demokraten die Wähler an diese Kritik, indem sie öffentlich die Furcht schürten, Social Security könnte durch eine republikanische Regierung abgeschafft werden. Aber auch nach dem Amtsantritt von Dwight Eisenhower wurde die Kritik weitergeführt. So zirkulierte im April 1953 ein fact sheet der demokratischen Partei, in dem die Versäumnisse und Attacken von Republikanern aus den vorangegangenen Jahren aufgelistet wurden. Ein Vorwurf lautete, dass die Republikaner planten, notwendige Rentenreformen absichtlich zu verzögern. So sollte ein reformbedürftiges Social Security in Misskredit gebracht werden. Die Verzögerung sollte erwirkt werden, so der Vorwurf, durch die Arbeit des zwei Monate zuvor einberufenen Curtis Committee. Hier sollte das Gesetz »zu Tode analysiert werden«.144 Der Namensgeber dieses Untersuchungsausschusses, Carl T. Curtis, Abgeordneter aus Nebraska, hatte bei vorhergehenden Rentenreformen gegen die Vorschläge zur Erweiterung gestimmt und sich 1948 vehement für die sogenannte Gearhart Resolution, eine restriktive Auslegung der Beitrittsmöglichkeiten zum OASI-System,145 ausgesprochen. Auch der wichtigste Mitarbeiter 142 Mrs. Lynch an Curtis, 10.1.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 143 Zur Geschichte des Committee on Ways and Means in der Nachkriegszeit siehe insbesondere Julian Zelizers wegweisende Biographie zu Wilbur Mills: Zelizer. 144 Democratic National Committee, Danger Signals in Social Security, Fact Sheet, 15.4.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 145 Die Gearhart Resolution war im Juni 1948 die Antwort des Kongresses auf eine Gesetzesänderung, die Truman-freundlichen Abgeordneten initiiert worden war. Letztere beabsichtigte, das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern für Steuerfragen einem sogenannten »economic reality test« zu unterziehen. Die Gearhart Resolution verhinderte dies. Es blieb bei den sogenannten »usual common law rules«, die jedoch »realitätsnah« angewendet werden sollten. Die Verteidiger der Gearhart Resolution stellten in den Vordergrund, dass eine Veränderung dieser Regelungen zu viele Personen in die OASI integriert hätte, deren »activities were largely or wholly free from direction as to how, and in frequent cases, as to when or whether they persued them«. Die Gearhart Resolution be-
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von Curtis, Karl T. Schlotterbeck, galt als leidenschaftlicher Gegner des bestehenden Rentensystems.146 Die Gefahr, die Social Security aus Sicht der Demokraten drohte, wurde durch populäre Vorschläge zu einem alternativen Rentensystem noch vergrößert. So erlangte der Reformvorschlag der nationalen Chamber of Commerce,147 der de facto eine Rentenkürzung bedeutet hätte, große Aufmerksamkeit. Zehntausende Briefe und Telegramme erreichten Curtis und seine Mitarbeiter, die sich offiziell seit April 1953 mit der Untersuchung und Darstellung des gegenwärtigen Zustands des Rentensystems befassten. Der Vorsitzende des Committee on Ways and Means, der Republikaner Daniel Reed (1875–1959),148 war mit der Aufgabe betraut worden, dieses System zu beschreiben und zu bewerten. Von den Erkenntnissen des Curtis Committee, welches schnell bundesweite Bekanntheit erlangte, wurde erwartet, dass sie zur Grundlage einer kommenden Rentenreform würden. Mit ihrem konkreten Anliegen, einer Absenkung des Renteneintrittsalters für hinterbliebende Ehefrauen, war die Witwe Lynch aus dem Nordosten der USA nicht allein. Das Renteneintrittsalter war einer der häufigsten Kritikpunkte der Schreiben, in denen sich Bürger und Institutionen aus allen Landesteilen zur Altersvorsorge äußerten. Nicht nur Curtis hatte um Feedback gebeten. Die Zahl der Zuschriften erhöhte sich auch dank des Appells von Opposition, Gewerkschaften und Einzelstaaten. Die Schilderungen und Forderungen der Absender benennen die Bestandteile des Rentensystems, die als ungerecht empfunden wurden. In kaum einer Eingabe fehlt der Verweis auf moralische Normen, die eingehalten werden sollten. Die Verbesserungsvorschläge lieferten Einblick in den Alltag der Rentner. Darüber hinaus boten sie auch ein differenziertes Bild davon, wie Personen, die sich als Teil der Mittelklasse beschrieben, Social Security, das zentrale Element des US-Wohlfahrtsstaates, entlang moralischer und ideologischer Kriterien mitgestalteten.149 Während des anschließenden Gesetzgebungsprozesses beriefen sich die Beteiligten immer wieder auf eben jene Briefe, die so zu einer der wichtigen Legitimationsquelle der Rentenreform des Jahres 1954 wurden. grenzte die Möglichkeiten, Teil der OASI werden zu können, vgl. William H. Weissman, Section 530: Its History and Application in the Light of the Federal Definition of the Employer-Employee Relationship for Federal Tax Purposes, hrsg. v. National Association of Tax Reporting and Professional Management, Walnut Creek 2009, S. 3–4. 146 Anhörung Altmeyer, 27.11.1953, S. 892. 147 Angekündigt wurde der Plan von Wirtschaftsprofessor E. J. Eberling, Discrimination in Coverage, National Social Security Conference; zu finden ist er im Archiv des Repräsentantenhauses, Chamber of Commerce of the United States, Improving Social Security. An Analysis of the Present Federal Security Program for the Aged… and the Proposal of the Chamber of Commerce of the United States, Washington, D. C. 1954, Akte: Social Security Revison 1954, Box: 2142, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 148 Zur Biographie des ehemaligen Footballtrainers siehe Bulkley. 149 Sie zeigen den Einfluss von Artikeln, Radiobeiträgen und Gewerkschaftspublikationen, wenn sich die Verfasser der Briefe explizit auf diese beriefen. Mitglied in diesem Untersuchungsausschuss war Wilbur Mills, der spätere Vorsitzende des Committee on Ways and
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Im Februar 1953 war das Curtis Committee, nach eigenem Verständnis, mit dem ehrgeizigen Ziel zusammengetreten, die Forderung des neuen Präsidenten Dwight D. Eisenhowers nach umfassender Analyse und nachfolgender Reform des Rentensystems zu erfüllen. Eine erste Aufgabe lag in der Identifikation von Ungerechtigkeiten, Fehlern und Versäumnissen des aktuellen Systems. Im Anschluss daran sollten Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Die Debatten und Analysen, die der Untersuchungsausschuss initiierte, behandelten weit mehr als den relativ simplen Vorgang der monatlichen Rentenscheckzustellung. So verwiesen die vor den Ausschuss geladenen Experten und die Absender der vielen Eingaben immer auch darauf, was die Rente über die reine Auszahlung von Geld hinaus bedeutete. Neben der Kritik an quantitativen Kriterien, wie der Höhe des erlaubten Zuverdienstes eines Rentners, ging es so stets auch um qualitative Aspekte. Zu letzteren gehörte zum Beispiel die Empörung darüber, dass alte Menschen gezwungen wurden, ihre Erwerbstätigkeit einzustellen, da sonst ihre verdiente Rente gekürzt werde. Die eingangs zitierte Witwe Lynch (»I have been wronged«) kritisierte das Renteneintrittsalter von Ehefrauen. Schied ein Mann aus dem Arbeitsleben aus, erhielt seine Frau keine Rente, wenn sie nicht ebenfalls mindestens 65 Jahre alt war. Diese Regelung, so wurde bemängelt, berücksichtigte nicht, dass Ehefrauen oft jünger waren als ihre Männer. Wo zuvor das Einkommen des Mannes beide ernährt habe, reiche nun die Rente nicht – dies sollte korrigiert werden. Ein ebenso großer Teil der Absender forderte die Abschaffung des sogenannten earnings test. Diese Vorschrift regelte, dass Rentner nur die volle Rente erhielten, wenn sie keine sonstigen Einkünfte hatten. Bezog ein Rentner jedoch ein weiteres Einkommen, konnte seine Rente – abhängig von der Einkommensart – bis zur kompletten Summe gekürzt werden. Diese Regelungen wurden als ungerecht empfunden. Sie waren Anlass für viele Einlassungen, in denen sich Menschen über einen Mangel an Fairness, Gerechtigkeit und gesunden Menschenverstand beschwerten. Der earnings test wurde darüber hinaus geradezu als Strafe empfunden. Diese traf demnach gerade die Fleißigen, weil die fortgesetzte Ausübung einer Beschäftigung zur Kürzung der Rente führte, während Rentner, die nicht mehr arbeiten gingen, die volle Rente erhielten. Beide Regelungen konnten nur deswegen als ungerecht empfunden werden, weil sie gegen Vorstellungen von einem gerechten Normalzustand verstießen. Dieser lässt sich aus den Begründungen der Beschwerden, die in den meisten Schreiben auftauchen, rekonstruieren. Im Mai 1953 umriss Curtis in der New York Times Aufbau und Ziele seines Untersuchungsausschusses. Den aktuellen Zustand von Social Security beschrieb er abwertend als »tangle of legalistic snarls and contradictions«.150 Da Means. Er befragte z. B. Robert Ball im Sommer 1953, Akte: Analysis of the Social Security System, Box: 2141, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 150 Curtis am 31.5.1953, zit. n. Social Security Inquiry Planned by Congressman, The New York Times (NYT), 1.6.1953.
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von 13 Millionen Amerikanern über 65 Jahren noch immer acht Millionen »out in the cold«, also ohne OASI-Rente waren, läge die Hauptaufgabe seines Ausschusses darin, das System auf eine ökonomisch solide Basis zu stellen. So sollte alten Menschen das Gefühl genommen werden, sie seien nutzlos.151 Zu den Aufgaben des Curtis Committee gehörte auch eine Analyse der beiden Programme ADC und OAA. Verantwortlich für diesen Teilbereich war Karl T. Schlotterbeck. In einem internen Schreiben bestätigte er Curtis die beiden Hauptziele seiner Arbeitsgruppe: »first, the question of standards and their implementation and second, the reasons why some States fail to do more for needy individuals.«152 Eines seiner Teilziele bestand in der Ursachenforschung zu den geringen Leistungen im ländlichen Süden. Resultierten sie aus nicht zu ändernden Umständen, aus »lack of capacity«, wie die Verantwortlichen dort behaupteten? Oder wollten die betreffenden Staaten einfach nicht mehr für Bedürftige ausgeben?153 Um dies zu klären, befragte Schlotterbeck zum Beispiel »interested citizens’ groups« und Vereinigungen von Steuerzahlern: »In those areas where aggressive and competent taxpayers’ or citizens’ groups exist, it would be possible to use these in supplying us with information«. Zu den Informanten gehörten darüber hinaus »welfare organizations« der Countys sowie Journalisten, die »sympathetic to this objective inquiry« wären.154 Der Aspekt der Fairness in den Eingaben an das Curtis Committee Fairness gehörte zu den wichtigsten Begriffen der Reformperiode von 1950/54. Gerade um den Unterschied zwischen OASI und OAA deutlich zu machen, musste sich die Höhe der Rente an den Einzahlungen orientieren. Innerhalb der SSA galt das Wort Robert M. Balls, einem der wichtigsten Gestalter der Behörde: »A contributory wage-related system can endure only if the contributors get treated fairly in relation to their contributions. The continual pushing up of the minimum and the first step in the formula is to transform the nature of the system and to try and make it do the work of public assistance.«155
Aus Balls Worten ging hervor, weshalb jede Erweiterung des Empfängerkreises der OASI als unfair empfunden wurde: Rentner, die vergleichsweise wenig eingezahlt hatten, konnten Bezüge erhalten, die ebenso hoch waren wie die von
151 Vgl. ebd. 152 Memorandum Schlotterbeck an Curtis, 28.4.1953, Akte: Social Security, Public Assistance, Tax Foundation, Box: 2136, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 153 Vgl. ebd. 154 Ebd.; ein beispielhafter Bericht für die Beteiligung von Behörden und Interessengruppen, wie Schlotterbeck sie hier entworfen hatte, war der Yates Report: A Survey of the Administration of Public Welfare in Yates County, New York 1953, Akte: Public Assistance, Box: 2136, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 155 So Robert Ball im November 1954: zit. nach Berkowitz, Robert Ball, S. 95.
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Rentnern, die deutlich länger Beiträge geleistet hatten. Ein typischer Kommentar dieser Situation erreichte das Curtis Committee im Frühling 1954: »This is manifestedly unfair, in that I & millions like me have contributed to this insurance project since its inception.«156 Als Roosevelt am 14. August 1935 den Social Security Act unterzeichnet hatte, waren Farmarbeiter und Hausangestellte, Selbständige, Bundesangestellte, Freiberufler und andere, wie zum Beispiel Kirchenmitarbeiter zunächst zunächst nicht in die OASI aufgenommen worden. Um die nachträgliche Integration von Berufsgruppen zu ermöglichen, mussten mehrfach Sonderregelungen verabschiedet werden. Schließlich bedeutete die Einbeziehung ganzer Berufsgruppen auch, dass ältere Menschen kurz vor Rentenbeginn ein Anrecht auf eine OASI-Rente erlangen konnten. Für einen Rentenanspruch mussten mindestens sechs Quartale lang Beiträge gezahlt worden sein. Die Höhe der Rente wurde in diesem Fall nicht auf Grundlage der Dauer, sondern durch die Höhe der Beitragszahlungen errechnet. Am Beispiel dieser sechs Quartale, die es bedurfte, um eine Rente zu erhalten, wurden wiederholt Fälle geschildert, in denen eine Person seit Implementierung der OASI-Rente Beiträge gezahlt hatte, während eine andere Person nach lediglich anderthalb Jahren bereits die höchstmögliche Rente erhielt. Als Ungerechtigkeit wurde dies gerade dann wahrgenommen, wenn in diesem Fall die Rente desjenigen, der nur sechs Quartale eingezahlt hatte, höher war als die eines Rentners, der länger eingezahlt hatte. Diesen Fall schilderte der Rentner Charles W. Riddleberger aus New York City im Mai 1954.157 Seine Argumente gleichen denen in vielen parallelen Einsendungen. Schon die Einleitung des Briefs von Riddleberger war typisch für die Eingaben an das Curtis Committee. Der 72-jährige Ehemann beschrieb sich selbst zunächst als einen unter vielen. Er ordnete sich so einer gesellschaftlichen Mehrheit zu. Anschließend bekannte er sich zu den beiden Tugenden »Arbeit und Sparsamkeit«, die er als Signien der Mittelklasse bezeichnete. Wie viele seiner Landsleute auch, hätte er stets gearbeitet und zugleich etwas für den Lebensabend beiseitegelegt. Zu diesen Ersparnissen rechnete Riddleberger auch seine OASI-Beiträge. In einem ausführlichen Vergleich zwischen seiner Situation und der eines imaginären anderen Rentners zählt Riddleberger die Ungerechtigkeiten auf, die das System seiner Beobachtung nach in sich trug. Während er und seine Frau von Beginn an Teil des Social Security-Systems gewesen wären und Beiträge geleistet hätten, stünde einem neu Aufgenommenen nun theoretisch die Chance offen, sich binnen 18 Monaten eine höhere Rente zu verdienen. Zudem hatte Riddleberger dadurch, dass er noch immer als Selbständiger arbeitete, eine Rentenkürzung hinnehmen müssen. Sein Jahresverdienst 156 Fred Lobley an Reed, 15.5.1954, Box: 2097, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 157 Charles Riddleberger aus Long Island City, N. Y. an Reed, 5.5.1954, Box: 2097, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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überstieg die im earnings test festgelegte Obergrenze. In einem Vergleich, in dem er von seinem Schicksal in der dritten Person berichtet, stellt Riddleberger diese Ungerechtigkeit mit einer Beschreibung eines verdienten Anrechts dar: »With such a deal in mind, can any one wonder why [he] feels that he has been gypped? Didn’t he and his wife lose the first award […] because no advice was given that he would lose these awards by earning more than $50 per month, at that time. That is his lot by trying to be self-supported and paying more taxes to his Government.«158
Die Argumentationsstruktur des Riddleberger-Schreibens findet sich in vielen Briefen. Dass Riddleberger sich neben der kürzeren Einzahldauer eines fiktiven anderen Rentners über die Kürzungen seiner Rente wegen der fortgesetzten Tätigkeit als Selbständiger beschwert, drückt seine Unzufriedenheit mit dem earnings test aus. Diese Regelung zu einer Obergrenze des erlaubten Zuverdiensts wurde in zahllosen Anschreiben meist nur in einem Satz verdammt. Teilweise wurde die Kritik jedoch auch in längere Beschreibungen gekleidet. Earnings test und Argumentationsmuster in den Schreiben an das Curtis Committee Der earnings test159 regelte als ein Bestandteil des Social Security Act, wie viel Einkommen Rentner beziehen durften, ohne ihre Rentenansprüche teilweise oder ganz zu verlieren.160 Kein anderer Aspekt des OASI wurde in den ersten zwanzig Jahren häufiger bemängelt.161 Das große öffentliche Interesse am earnings test betraf das Schicksal von ungefähr zwei Millionen Rentenberechtigten während der fünfziger Jahre. Von diesen verdienten jedoch durchschnittlich 300.000 Menschen weniger als die Summe, die eine Kürzung der Rente bedeutet hätte. Weitere 200.000 befanden sich mit ihrem Jahresverdienst in einem Bereich, in dem ein Teil der Rente gestrichen wurde.162 Die restlichen anderthalb Millionen theoretisch Berechtigten arbeiteten in Vollzeit und verdienten zu viel, um ihre OASI-Rente ausgezahlt zu bekommen. Das Resultat des earnings test war von verschiedenen Variablen abhängig. Neben der Höhe des Einkommens nach Renteneintritt waren dessen Art und die Branche, in der es erzielt wurde, entscheidend. Außerdem wurde der ear158 Ebd. 159 Der earnings test wurde auch unter den Begriffen work clause oder retirement test besprochen, vgl. Derthick, S. 226; während die heute gebräuchliche Bezeichnung earnings test lautet, findet sich in den Eingaben und Beschreibungen der fünfziger Jahre am häufigsten work clause. Ein Beispiel für eine Besprechung der Probleme des aktuellen earnings tests liefert der neokonservative Thinktank American Enterprise Institute, siehe Biggs, S. 1–4. 160 Vor der Rentenreform des Jahres 1954 waren dies 75 Dollar. 161 Vgl. hierzu die interne Analyse durch die SSA, Analysis of the earnings test, 2.9.1959, Akte: 751.01, Box: Old-Age and Survivors Insurance, RG 47, NACP. 162 Diese Gruppe, so mutmaßte der SSA-Commissioner Christgau, ärgerte sich am meisten über den earnings test, ebd. S. 6.
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nings test abhängig vom Alter des Rentners, der weiterhin ein Einkommen bezog, berechnet. Die eingesendeten Meinungen zum earnings test zeigen, dass eine Mehrheit die Rente als einen Vertrag zwischen ihnen und der Regierung verstand. Die meisten Amerikaner schienen damit das Bild übernommen zu haben, als welches die SSA das Verhältnis zwischen Rentner und Regierung beschrieben hatte. Renten wurden als die Erfüllung eines Vertrags verstanden. Dieser war durch regelmäßige Einzahlungen der Rentenbeiträge in den Social Security-Treuhandfonds in Kraft getreten. Auf der anderen Seite bemühten sich Carl T. Curtis und andere konservative Vertreter seines Unterausschusses, diese Vertragsanalogie zu widerlegen. Die Frage nach dem Wesen von Social Security – vertragliches Anrecht oder widerrufbare staatliche Leistung – war eine der wichtigen Debatten bei den Anhörungen des Curtis Committee. Dass sich die Vorstellung von der Rente als Anrecht schließlich bei einer Mehrheit der Bevölkerung durchsetzte, trug zu ihrer politischen Unantastbarkeit bei. Die Briefe an das Curtis Committee belegen, dass die Mittelklasse den earnings test als Verstoß gegen die vermeintlichen Versprechen des Social Security Act sah. Jegliche Rentenkürzung aufgrund von weiterlaufenden Einkünften wurde als Beschränkung vertraglicher Anrechte verstanden. Darüber hinaus empfanden viele diese Regelung als Limitierung ihrer Freiheit und als unfaire Reglementierung, die aufgehoben oder geändert werden musste. So veranschaulichte der New Yorker Eric Tarnley: »Every person who has ever spoken to me about the Social Security Law, and every discussion I ever heard; it was always universally agreed that the one feature of the existing law that is most against the traditions of America, and is unworkable, is the $ 75 a month limit of outside income allowed for persons eligible to receive benefits.«163
Zu den zahlreichen Sonderregelungen und Ausnahmen, die den Empfang der Rente verkomplizierten, gehörten auch die Unterschiede, die zwischen den möglichen Einkommensquellen gemacht wurden. Um überhaupt als Berechnungsgrundlage für den earnings test einbezogen zu werden, musste das Einkommen in einem Beruf erzielt werden, der bereits in das OASI-System integriert worden war. Einkommen in Tätigkeiten und Berufen, die außerhalb des OASI-Systems lagen, wurde nicht angerechnet. Ab dem 75. Geburtstag fand der earnings test dann gar keine Anwendung mehr und die OASI-Rente wurde unabhängig von Einkommenshöhe und Beruf des Empfängers gezahlt. Während Vorschläge zu alternativen Rentensystemen wie dem Townsendplan gleich hohe Renten für alle versprachen, sollte Social Security widerspiegeln, was eine Person im Laufe ihres Arbeitslebens eingezahlt hatte. Arbeit sollte belohnt werden. Die 163 Eric Tarnley an Reed, 19.4.1954, Box: 2097, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. Tarnley, ein Kleinunternehmer aus New York schilderte seinen Fall – sein Sohn war schwer krank – noch einmal detailliert in einer beigefügten Kopie eines Briefs an Präsident Eisenhower.
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Rente war in diesem Modell ein Verdienst für vorher Geleistetes. Jedoch konnte dank des earnings test die Rente, also dieses Verdienst, gekürzt werden, wenn die Empfänger arbeiteten. Einer Mehrheit der Rentner mutete dies paradox an: Arbeit schien bestraft zu werden. Deshalb waren die Aushandlungen über den sogenannten earnings test so zentral für die moralischen Aspekte, die in den Wohlfahrtsstaat einflossen. Dass das Rentensystem nicht mit dem Verständnis von Fairness und Verdienst vieler Rentner übereinstimmte, lasen Curtis und seine Mitarbeiter in vielen Briefen. Beschwerden bezogen sich immer wieder auf »inequities«, die der Rente innewohnen würden, wenn sie den earnings test in den Mittelpunkt der Kritik stellten. Neben anderen Anomalien bei der Berechnung der Rente, die allerdings nur Experten beunruhigten,164 war der earnings test das Ziel breiter öffentlicher Kritik. Ein besonderes Problem war hierbei, dass er sowohl von Befürwortern des aktuellen Rentensystems als auch von dessen Gegnern angriffen wurde. Die Beschwerden lassen Rückschlüsse auf die Kategorien zu, in denen die Rente bewertet wurde. O. B. Chenoweth aus West Virginia, der der Idee einer Sozialversicherung kritisch gegenüberstand, stellte OASI auch deshalb auf eine Stufe mit welfare, weil Menschen zwischen 65 und 75 Jahren durch den earnings test diskriminiert würden.165 An den Reaktionen auf die Einkommensrestriktionen für Rentner lässt sich ablesen, dass die Öffentlichkeit OASI mittlerweile als eine Mischung aus Kapitalanlage und Versicherung wahrnahm. Dies beinhaltete die Vorstellung von der grundlegenden Gerechtigkeit eines Modells, bei dem die Rente auf der Höhe zuvor eingezahlten Beiträge beruhte. Anhand des earnings tests wurde deutlich, dass die SSA in den Jahren zuvor erfolgreich OASI als eine Versicherung beschrieben hatte. Die Behörde hatte sich seit 1937 durch die Verwendung von Vokabeln und Bildern des Versicherungswesens darum bemüht.166 Bevor der Oberste Gerichtshof 1937 befunden hatte, dass der Social Security Act von 1935 verfassungskonform war, hatte die SSA es vermieden, die Rente mit den Begriffen aus dem Versicherungswesen zu beschreiben. Auch im eigentlichen Gesetz von 1935 tauchte der Begriff Versicherung nicht auf.167 Die Schöpfer des Social Security Act hatten befürchtet, dass eine solche Darstellung zur Ableh164 Vgl. Derthick, S. 226. 165 O. B. Chenoweth an Curtis, 10.10.1953, Akte: 83A-F17.12, Box: 2094, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 166 1937 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Verfassungskonformität des Social Security Act. Damit war, wie Altmeyer beschreibt, auch die Wisconsin Idea bestätigt worden. Diese bestand aus der Einsicht, dass die Regierung für das Wohlergehen der Bürger Verantwortung trage. Sie kann als Abkehr von einer reinen laissez-faire-Politik gelesen werden, vgl. Altmeyer, S. 19. 167 Vgl. den langen Titel des Social Security Acts von 1935: »An act to provide for the general welfare by establishing a system of Federal old-age benefits, and by enabling the several States to make more adequate provision for aged persons, blind persons, dependent and crippled children, maternal and child welfare, public health, and the administration of
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nung durch den Obersten Gerichtshof führen würde. Der Gesetzestext sah deshalb, getrennt voneinander, eine neue Steuer, tax, und eine neue Leistung, benefit, vor. Beide sollten durch die Bundesregierung erhoben und gewährt werden. Erst nach der gerichtlichen Entscheidung von 1937 begann die Rentenbehörde von der Rente als einer Versicherung zu sprechen und die Begriffe des kommerziellen Versicherungswesens auf die OASI anzuwenden.168 Hinter das Versprechen, dass die Rente eine Versicherung und auch verdientes Anrecht war, kamen die neuen Verantwortlichen nun nicht mehr zurück. Die Argumentationslinien in den Briefen an Curtis ähnelten einander. In den meisten Fällen wurde detailliert auf die Lebenssituation der Nachbarn der Absender eingegangen. Oft wurde vom eigenen Schicksal in der dritten Person berichtet und häufig tauchten imaginäre Dritte auf. Die erfundenen Personen waren meist in der Lage, durch wenig Aufwand hohe Renten zu erhalten. Ungerechtigkeiten sollten so zugespitzt dargestellt werden. Dass der earnings test als ungerecht wahrgenommen wurde, weil er nicht für alle Einkommensarten galt, wurde auf diese Weise zum Beispiel von John Outland beschrieben. Der 71-Jährige schilderte seine Situation am 25. April 1954: »My neighbor retired a few years ago and receives Social Security payments but he could afford not to because he inherited a four family house and gets rental money amounting to $240.00 a month and this is not considered as wages earned. I have always worked faithfully and steadily but have never had avry [sic] large pay. Am not lazy and want to keep on working as long as I can but it is’nt [sic] easy any more and I know my working days are limited.«169
Als ungerecht wahrgenommen wurde der earnings test also auch, weil er nicht für alle Arten von Einkünften galt. Da er in besonderem Maße auch noch jene zu verschonen schien, die auf die Rente gar nicht angewiesen waren – wie etwa den Mietshaushausbesitzer –, vergrößerte den Unmut. Dieser Beschreibung des eigenen Schicksals glichen viele der Eingaben, in denen auch das Beispiel der Nachbarn als Bezugspunkt gewählt wurde. Wie auch bei Outland waren die Benachteiligten in ihren Beschreibungen Menschen, die stets fleißig gearbeitet hatten. Der ebenso charakteristische Brief von Lawrence E. Mathews an das Committee on Ways and Means beschrieb am 2. Januar 1953, wie dessen kinderlose Nachbarn, das verrentete Ehepaar Mitchell, einen Vorteil genossen, weil ihre Tätigkeit nicht unter die Bestimmungen des earnings test fiel. Deutlich wird dieser Vorteil im Vergleich mit den Andersons, die gegenüber von Mathews wohntheir unemployment compensation laws; to establish a Social Security Board; to raise revenue; and for other purposes«, 14.8.1935, Enrolled Acts and Resolutions of Congress, 1789–; General Records of the United States Government, RG 11, NAB. 168 Zum Jahr 1937 als Wegscheide in der Beschreibung der OASI-Rente vgl. Cates, S. 33; Zollars u. Skocpol, S. 392; 169 John Outland an Reed, 25.4.1954, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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ten. Die Familie Anderson sei stets fleißig gewesen, habe Kinder großgezogen und würde nun für ihren Fleiß bestraft. Die dichtbeschriebenen Seiten des Briefs schildern die beiden Familien Mitchell und Anderson aus der Perspektive von Mathews, der einen genaueren Blick in deren Leben geworfen hatte. Seine Erzählung leitet Mathews etwas manieriert mit »Let’s read a page or two of the Anderson’s Saga« ein.170 Die Andersons hätten die kostenintensive Erziehung zweier Söhne und einer Tochter auf sich genommen. Zum Sparen blieb ihnen am Ende des Monats nichts. Als Erzähler beschreibt Mathews: »We find that the Andersons utilized their life; their entire earnings in a HOME and CHILDREN […] Thank God their finances went into children, especially BOYS .« Die Söhne der Andersons verteidigten nun in Uniform die Gesellschaft. Den ungerechten Lohn für diese Lebensleistung der Andersons schilderte Mathews an zentraler Stelle seines Schreibens: »Today, it is the bread-winners of these Anderson families, struggling desperately to keep HIS and MOTHER ANDERSONS head above water, that suffers the loss of his Social Security check. Why? Because, in his struggle to secure bare necessities he chanced to earn 50 cents over the munificient [sic] $75 allowed. Mind you, this check denied him calls for moneys religiously deducted over the years from his every paycheck. The Army claiming his boy who quite possibly was helping financially. Social Security his chance for a measure of well earned relief – before the final Curtain.«171
Da er gegen die Vorgaben des earnings test verstoßen hatte, waren Mr. Anderson aufgrund der hier lächerlich gering erscheinenden Summe von fünfzig Cent die Rentenbezüge gestrichen worden. Sein Fleiß war bestraft worden. Nachdem er das Schicksal der Andersons beschrieben hat, sah Mathews sich »verpflichtet«, seinen Blick in das Leben der Nachbarsfamilie zu werfen, deren Haus neben seinem stand: »Mr. and Mrs. Mitchell we find have never enjoyed – intentional or otherwise – the pleasure, expense and responsibility of raising a family.« Ohne Kosten tragen zu müssen, die denen der Andersons gleichkämen, konnten die Mitchells mehrere Wohnungen kaufen, die sie nun wiederum vermieteten. Weil das Einkommen aus Vermietung und Instandhaltung von Wohnungen als Einkommen aus selbständiger Arbeit definiert wurde, war es für den earnings test nicht relevant. Die Mitchells bezogen eine ungekürzte Rente. Daher schloss Mathews mit dem Appell: »Should Congress review this unfair legislation? We sincerely hope they will pause and give a thought as to which of my neighbors is more deserving; has done the most for America – and just why – while both work – one should be penalized for working.«172
170 Laurance E. Mathews an Ostertag, 2.1.1953. Box: 2091, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 171 Ebd. 172 Ebd.
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Die verdienstvolle Familie Anderson, Mathews nutzt den Schlüsselbegriff »deserving«, wurde durch den »unfairen« earnings test benachteiligt. Dessen Regelungen widersprachen den Moralvorstellungen von Mr. Mathews. Zwar war in beiden Fällen das Gesetz korrekt angewendet worden. Mathews Beschreibungen jedoch zeigen, dass es gegen das Gerechtigkeitsgefühl und die Wertvorstellungen der Mittelklasse verstieß. Denn dass sich Mathews der Mittelklasse zurechnete, ging aus seinen Schilderungen ebenfalls hervor: Er bediente sich bildungssprachlicher Elemente, verwies auf seinen Lebensstil mit zweistöckigem Haus und adressierte seinen Abgeordneten in einem längeren Brief. Auch wenn der Begriff Mittelklasse nicht explizit fiel, hätte Mathews nicht geleugnet sich dieser zugehörig zu fühlen. Der demokratische Abgeordnete und spätere Gouverneur von Mississippi John Bell Williams (1918–1983) zählte im März 1954 für die Leser des Coronet Magazine die Ungerechtigkeiten der aktuellen Social Security-Bestimmungen in seinem Beitrag »Are You Cheated by Social Security?« auf.173 Der earnings test traf demnach besonders jene, die auf ihre Rente angewiesen waren und unter den Preissteigerungen der vergangenen Jahre besonders litten. Wohlhabende hingegen mussten keine Einbußen hinnehmen.174 Daher sollte alten Menschen durch eine von Restriktionen freie und höhere Rente geholfen werden. Nur so könnten sie »self-supporting and self-respecting« leben.175 Den finanziellen Aspekten der Rente stellte Williams das Gefühl des Selbstrespekts bei. Sein Artikel zeigte, dass Amerikaner mit Renteneintritt von ihrem Anrecht auf eine ausreichende Rente überzeugt waren. Wenn nun durch die Bestimmungen des earnings test dieses Anrecht beschnitten wurde, widerspreche diese Regelung den Werten der Mittelklasse. Dies zeigte Williams am Beispiel eines Mannes, der eine Anstellung angeboten bekam. Mit dieser wäre sein Einkommen um 16,50 Dollar höher als die Rente, die ihm zustünde. Der Schluss des Mannes konnte laut Williams somit nur lauten: »I would be working a full month for $16.50.«176 Die Logik, die diesem Argument zugrunde lag, war leicht nachzuvollziehen. Warfen die Rentenberechtigten einen Blick auf ihr monatliches Einkommen, mussten sie abwägen, welche Entscheidung ein höheres Einkommen bedeutete. Dabei wurden Arbeit und Nicht-Arbeit im Falle derer, die vom earnings test betroffen waren, gegeneinander abgewogen. Lautete das Ergebnis, wie in dem hier geschilderten Fall, dass die Arbeit ökonomisch kaum einen Unterschied machte, sprachen sich die Betroffenen für eine Abschaffung des earnings test aus. 173 John B. Williams, »Are You Cheated by Social Security?«, in: Coronet Magazine, März 1954, S. 24–27, Akte: HR 83A – F17.12, Box: 2091, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 174 Es wird nur implizit auf Wohlhabende eingegangen. Williams zählt auf welche Einkünfte nicht unter den earnings test fielen: »dividends from stocks«, »income from an annuity«, vgl. ebd. S. 25. 175 Ebd. 176 Ebd.
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Neben den beiden Kritikpunkten des earnings test und des Renteneintrittsalters für Frauen gab auch die Rentenhöhe Anlass zur Klage in vielen der Briefe. Mrs. Pusey aus Kalifornien schildert ihre Not am 3. Juni 1953. Sie und ihr Mann seien zwar genügsam und nach zahlreichen leichten Schlaganfällen froh, überhaupt noch am Leben zu sein. Die geringe Rente sei dennoch unfair. Das letzte Mal hätte Pusey vor dem Zweiten Weltkrieg Butter gegessen. Aus ihren Schilderungen ging hervor, dass sie sowohl Geld der OASI als auch der OAA erhielt. Die Aufstockung durch die OAA, welches Pusey »old age money« nennt, behagte ihr nicht. Obgleich sie dankbar für das Geld war, hätte sie eine Erhöhung der OASI-Rente bevorzugt: »I have written several letters asking to have the S. S. [Social Security, d. Vf.] raised to a decent living pension, I do not like to take the old age money as it seems too much like charity + I feel the S. S. I have worked + earned most of it anyway, don’t get me wrong I am very thankful for the $2240 now but would so much rather have it added to my S. S. check. Did you read that Ford is giving a pension of 13700 per month?«177
Stellvertretend zeigte das Schreiben von Pusey, wie den Empfängern staatlicher Hilfe dessen Quelle durchaus wichtig war, sobald sie den Unterschied zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Programmen kannten. Neben der Beschwerde über die prinzipiell zu niedrige Rente bat sie darum, dass doch besser die Sozialversicherungsrente OASI erhöht werde, statt sie durch OAA aufzustocken. Obwohl sie also auf die OAA angewiesen war, und ihre Bedürftigkeit somit hatte nachweisen müssen, bezöge sie stattdessen lieber eine höhere OASI-Rente. Dabei orientierte sie ihre Ansprüche nicht allein an staatlichen Unterstützungsformen, sondern auch an Unternehmenspensionen wie hier der Firma Ford. Wie stark sich der Wert von welfare, zu dem OAA nun synonym verwendet wurde, von dem einer OASI-Rente in den Augen der Betroffenen unterschied, zeigte auch ein Schreiben der Lehrer an den öffentlichen Schulen von Portland in Oregon: »Our pensions, as of now, will be little more than that of public welfare and I’m sure you realize that such an injustice should not exist.« Mit diesem Argument bestärkte eine Vertreterin der Lehrerschaft deren allgemeinen Wunsch, Teil der OASI zu werden.178 Denn so hätten die Lehrer die Chance auf eine höhere Altersente und Aufnahme in ein gerechteres System. Konservative Kritik an der Sozialversicherung wandte sich vor, während und nach der Untersuchung des Curtis Committee in erster Linie gegen die »complete socialization«.179 Als Vorbote dieser Vergemeinschaftung, die als Vorstufe 177 Anne McHoney aus Mt. Vernon, NY an Curtis, 1.6.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 178 M. C. Crout, Lehrkraft aus Portland, Ore. an Curtis, 3.6.1953, Box: 2093, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 179 Paul L. Poirot, Social Security (Pamphlet der »Foundation for Economic Education«), S. 20, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. Poirot blieb in Fragen der Rente lange Zeit aktiv, siehe Poirot, S. 11–12.
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zum Kommunismus galt, sahen zahlreiche Beschwerdebriefe Social Security. Immer wieder kamen die Gegner jeglicher wohlfahrtsstaatlicher Versorgung, wie der hier zitierte Paul L. Poirot,180 darauf zurück, dass die OASI keineswegs eine Versicherung war, wie der Name suggerierte, sondern de jure eine Form der Besteuerung. So sollte das Rentensystem entlarvt und bekämpft werden. Trotz ihres humanitären Appeals würde Social Security letzten Endes dazu führen, dass die Armen im Kampf um »öffentliche Tröge« im Nachteil wären, wenn sie mit den Jungen und Starken konkurrieren müssten.181 Dagegen geböte ein überlieferter »code of ethics« jedem Amerikaner, selbst für seinen Ruhestand vorzusorgen. Weitere Bestandteile jenes Kodexes waren die Heiligkeit des Individuums und das Recht auf Leben und Eigentum. Stellte man einen dieser Aspekte in Frage, seien alle gefährdet. Niemand durfte, laut Poirot, gezwungen werden, andere Menschen zu lieben. Genau dies läge jedem Versuch, eine für alle verpflichtende Sozialversicherung einzuführen, zugrunde. Obwohl Poirots Text zunächst ökonomische und versicherungstechnische Argumente anführt, liegt der Schwerpunkt letzten Endes auf dem moralischen Argument: »Since a weak person cannot force a strong person to help him, it would seem wise to put the appeal on some basis other than coercion. This means retrieving the responsibility for old-age security from the hands of government, which depends exclusively upon the power of coercion.«182
Ähnlich wie Poirot kritisierten auch Vertreter von Versicherungen und privaten Unternehmen die Rente. Sie warnten Curtis, dass diese »initiative, thrift and a purpose in the life of people« zerstören würde.183 Explizit wurde von ihnen immer wieder die »philosophy«, die sich etwa hinter höheren Renten verbergen würde, kritisiert.184 Sparsamkeit und Selbstverleugnung (»thrift and selfdenial«) stellten für einen Anwalt die Kernelemente eines Mittelklasselebens (»core elements of a middle class life«) dar, in welchem »security is desirable but liberty is essential«.185 Damit überschnitten sich Begriffsdebatten mit den Bereichen der Ethik und der Moral. Eine Erhöhung der Rente wurde in den Briefen, die sich kritisch dazu äußern, als Gefahr für die »individual incentive« gesehen, 180 Poirot war 30 Jahre lang Herausgeber des konservativen Journals »The Freeman«, einer Veröffentlichung der Foundation for Economic Education. Eine Festschrift für den 2006 verstorbenen Poirot erschien 2012: Ideas on Liberty. Essays in Honor of Paul L. Poirot, Auburn (Al.) 2012. 181 Vgl. Poirot, S. 26. 182 Ebd., S. 29. 183 R. O. Ahlenius an Reed, 7.4.1954, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 184 Vgl. etwa Lowell D. Snorf jr., Rechtsanwalt aus Chicago, an Reed, 8.4.1954 und C. S. Malme aus Rock Island, Ill. an Reed, 7.4.1954, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 185 William E. Russel an Reed, 6.5.1954, Box 2097, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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die letztlich zu einem »socialistic welfare state« führen würde.186 Dagegen galten konservativen Kritikern alle Versuche wünschenswert, die Anreize zu individuellem Streben setzten. Dieses wurde neben der Eigenschaft der Sparsamkeit als ein zentrales Merkmal der Mittelklasse verstanden. 3.3.1 Anreiz zum Sparen: Die Analyse des earnings tests durch die SSA Welchem Zweck diente der earnings test? Obwohl er augenscheinlich gegen die prinzipiellen Ansichten eines Großteils der Rentner und Kommentatoren in Aspekten des Verdiensts und der Moral verstieß, hielt die Rentenbehörde SSA auch nach 1954 am earnings test fest. Eine interne Analyse durch die SSA ging zusammenfassend auf die Fragen nach den Motiven und Zielen für die Einführung des earnings test ein. Im Herbst 1959 ließ der Director des Bureau of Old Age and Survivors Insurance der SSA, Victor Christgau (1894–1991), ein Memorandum erstellen, in welchem der earnings test erstmals umfassend analysiert werden sollte.187 Trotz der sechs Jahre, die mittlerweile nach Abschluss der Anhörungen durch Curtis vergangen waren, lassen sich die Ziele der SSA, welche sie mit dem earnings test verband, hierin festmachen. Das umfangreiche Dokument geht so unter anderem auf das historisch gewachsene Verständnis von Verdienst und Moral ein und erklärt, weshalb die Verdienstgrenze ein zentraler Aspekt der Rente bleiben musste. Der earnings test war damit nicht etwa, wie die Höhe der Rente oder die Anzahl der erforderlichen Quartale, ein einfach zu verändernder oder lediglich einer ästhetischen Logik geschuldeter Gesichtspunkt der Rente. Für die Gestalter und Verwalter des Programms symbolisierte er eine zentrale Facette des Rentensystems. Die Verfasser der Analyse gingen darauf ein, weshalb Erträge aus Investitionen, wie Aktien, Mieteinnahmen oder Bonds, nicht angerechnet wurden. Da solcherlei Einkommen im Alter nicht automatisch ausbleiben würde, müsste es in der Rentenberechnung nicht berücksichtigt werden: »If benefits were withheld from people who have income from investments and other forms of savings, there would be a tendency for the program to discourage personal savings.«188 Es sollte ein Anreiz bestehen bleiben, sich etwas für das Alter zurückzulegen. Der Einbezug von Kapitalerträgen in den earnings test hätte in den Augen der SSA dazu geführt, dass die Amerikaner weniger Wert darauf gelegt hätten. Sparsamkeit und ertragreiche Investitionen sollten nicht gehemmt wer186 Casanave Young an Reed, 16.4.1954, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 187 Analysis of the earnings test, 2.9.1959, S. 3; angefordert worden, war die Analyse durch einen Unterausschuss von Robert McNamara. Die Analyse schildert die Sicht der Behörde und zeichnet die Entwicklung des earnings test nach. Damit gibt es grundlegende Motive des earnings test wieder. 188 Ebd.
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den. Der Implementierung des earnings test lag demnach auch die Absicht zugrunde, Anreize zum Sparen während des Berufslebens zu fördern oder zumindest zu schützen. Außerdem wurde auch hier seitens der SSA die Versicherungslogik auf die OASI angewandt. Eine Rente, so die Analyse, könne nur dann gezahlt werden, wenn der Versicherungsfall auch wirklich eintrete. Dieser trete mit dem Verdienstausfall aufgrund von Alter, Arbeitsunfähigkeit oder dem Tod des breadwinner ein. Die Öffentlichkeit machte sich jedoch ein falsches Bild: »Instead of looking at the test as a device that restricts payment of benefits to people who have suffered earnings losses on account of retirement, many people have come to look on it as a device that restricts the earnings of people over 65.«189
Zwar konnten die Analysten der Behörde die Vorstellungen der Menschen nachvollziehen: »[…] people think of the benefits as ›lost‹ when their earnings are above the levels set in the test.« Gleichzeitig waren sie aber davon überzeugt, dass diese Vorstellungen falsch waren: »There is little purpose to be served in paying benefits to a full-time worker just because he has reached age 65.«190 Allein das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze sollte demnach auch weiterhin niemanden für den Bezug der OASI-Rente qualifizieren. Damit stand ihr Konzept auch jeder sogenannten flat pension entgegen, also Rentenformen, bei denen Bezüge unabhängig von vorhergehenden Einzahlungen in gleicher Höhe für alle gezahlt wurden. Die SSA wiederum nutzte eben jene gleichmachenden Rentenmodelle, um OASI als Versicherung darzustellen. In der gleichen Untersuchung wurden jedoch auch wieder Ausnahmen geltend gemacht, die auf die Vorstellungen von Verdienst und Anrecht zurückgingen und den zuvor festgelegten Regeln einer Versicherung widersprachen. Dass der earnings test nur bis zu einem Alter von 75 Jahren Anwendung fand, wurde damit begründet, dass insbesondere Selbständige bis ins hohe Alter arbeiten würden und daher möglicherweise »never receive any return on their contributions, even though they had paid contributions longer than most beneficiaries«.191 Hier wird die Widersprüchlichkeit der Argumentation wohl deutlich. Das System sollte einer Versicherung gleichen. Gleichzeitig gebot die Fairness, dass jeder, der einen Beitrag geleistet hatte, auch etwas zurückerhielt. Den earnings test ab einem gewissen Alter auszusetzen, weil es unfair gegenüber den betroffenen Beitragszahlern sei, widersprach dem Argument, OASI sei eine Versicherung, die nur ausgezahlt werden musste, wenn der Versicherungsfall in Form des Verdienstausfalls eintrat. Diese Unklarheit, die anscheinend auch innerhalb der Behörde und nicht nur in den Köpfen der Betroffenen herrschte, begünstigte Kritik an der OASI und die Entwicklung der diversen Alternativvorschläge. 189 Ebd., S. 1. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 6.
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3.3.2 Versicherung oder Vertrag? Rentendebatten der frühen fünfziger Jahre am Beispiel der Anhörung von Arthur J. Altmeyer vor dem Curtis Committee Die zeitgenössischen Debatten um den Charakter der OASI-Rente finden sich verdichtet in der Anhörung von Arthur J. Altmeyer (1891–1972) durch das Curtis Committee. Altmeyer war der wichtigste Zeuge, der vor den Ausschuss geladen wurde. Als Commissioner hatte er von 1935 bis 1953 die Rentenbehörde geleitet. Er galt als Schlüsselfigur und einer der wichtigsten Rentenexperten der Bundesregierung. Als Mitarbeiter von Edwin Witte war er in den dreißiger Jahren von Franklin D. Roosevelt und Harry Hopkins damit beauftragt worden, am Entwurf eines Rentensystems mitzuwirken. Erst mit dem Amtsantritt Dwight D. Eisenhowers hatte Altmeyer seinen Posten als Leiter jener Behörde räumen müssen, deren Hauptsitz in Baltimore heute seinen Namen trägt. Nach 15 Dienstjahren in verschiedenen Behörden und Ämtern im Staat Wisconsin war Altmeyer 1933 nach Washington gekommen. Als Absolvent und Dozent der University of Wisconsin hatte er die Ideen und Konzepte der Wisconsin School in die Regierungen Roosevelts und Trumans getragen. In der Hauptstadt angekommen, arbeitete er zunächst für die National Recovery Administration (NRA), bevor er technischer Leiter des Ausschusses für Economic Security wurde. Mit der Verabschiedung des Social Security Act wurde Altmeyer Mitglied des Social Security Boards (SSB), das 1946 durch die SSA abgelöst wurde.192 Am 10. April 1953, wenige Wochen nachdem Eisenhower ins Weiße Haus eingezogen war, wurde die SSA neu organisiert. Altmeyer, der als Commissioner for Social Security die Behörde geleitet hatte, musste seinen Posten räumen. Als besonders demütigend empfanden er und Beobachter seine Demission nur wenige Wochen bevor er sich für die Pension eines Bundesangestellten qualifiziert hätte.193 Der Arbeit des Curtis Committee stand Altmeyer skeptisch gegenüber. Er hatte Curtis schon vor dessen Einberufung vorgeworfen, sich gegen die grundlegenden Prinzipien von Social Security zu stellen. Das schwierige Verhältnis wurde dann in der Anhörung deutlich, zu welcher Altmeyer erst Ende November 1953 erschien und zu welcher er durch das Rechtsmittel der subpoena quasi vorgeladen worden war.194 Mehrere Zeitungen hatten berichtet, Altmeyer habe einen freiwilligen Auftritt abgelehnt.195 Er selbst und Curtis bestritten diese
192 Das Gremium vereinte Vertreter beider Parteien: Winant (R), Altmeyer (D), Vincent Miles (D). 193 Anhörung Altmeyer, S. 925; Berkowitz und Quaid sehen die Demission Altmeyers als Versuch der Republikaner, sich von einem Symbol des New Deal zu distanzieren, vgl. Berkowitz u. McQuaid, S. 183. 194 Die subpoena beschreibt weniger eine Vorladung als vielmehr eine »Auskunftsanordnung«. Der Begriff stammt aus dem angelsächsischen Common Law, vgl. Rex Chaney, Prober Called Foe of Social Security, in: Birmingham Post-Herald, 28.11.1953. 195 Vgl. etwa Ousted Social Security Official Is Summoned, Birmingham Post-Herald, 26.11.1953.
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Vorwürfe aber noch während der Anhörung.196 Immer wieder protestierte Altmeyer jedoch gegen die Prozedur der Anhörung, in der er eigene Reden und Veröffentlichungen komplett oder in Auszügen vorlesen musste. Unterstützung während der Anhörung erhielt Altmeyer lediglich durch die zwei demokratischen Ausschussmitglieder Herman Eberhardter und John Dingell. Altmeyer wurde zunächst eingehend befragt, ob die OASI eine Versicherung sei und somit den Namensbestandteil Insurance zu Recht trage.197 Die prekäre Atmosphäre zwischen Ausschuss und Altmeyer wird auch in den Anhörungsprotokollen deutlich. Immer wieder versuchten die Fragensteller deutlich zu machen, dass Social Security nie Bestandteile enthalten habe, welche die Bezeichnung einer Versicherung gerechtfertigt hätten. Erst nach der Gerichtsentscheidung des Jahres 1937, in welcher die Verfassungsmäßigkeit des Social Security Act bestätigt worden war, begann die SSA, von OAI als einer Versicherung zu sprechen. Curtis wollte dieser Bezeichnung die Legitimation entziehen. Er bemühte sich, Altmeyer in Widersprüche zu verstricken.198 Das Hauptziel von Curtis und seinem Mitarbeiter Schlotterbeck war es, Altmeyer zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass dessen Behörde Social Security vorsätzlich falsch als Vertrag zwischen Bürgern und Regierung beschrieben hatte.199 Curtis vertrat die Ansicht, dass es sich bei der Rente zwar um statutory rights, also gesetzliche Rechte, aber nicht um einen Vertrag oder gar vested rights handelte. Aus seiner Sicht resultierte daraus, dass das Rentensystem durch neue Gesetze auch elementar verändert werden konnte. Anders als etwa bei einer Versicherungspolice würde die Regierung denen, die in die OASI eingezahlt hatten, in diesem Falle nichts schulden. Dies hätte theoretisch auch eine Aussetzung der Rente juristisch legitimiert. Niemand durfte auf einer Auszahlung beharren. Explizit warf der Republikaner Curtis Altmeyer und der SSA vor, den Kongress in die Irre geführt zu haben.200 Im Verlauf der Anhörung gestand Altmeyer zwar ein, dass kein geschriebener Vertrag bestünde. Jedoch wäre die Regierung mit jedem einzelnen Beitragszahler dennoch in eine vertragliche Beziehung getreten. Diese, so Altmeyer, rührte aus einer »moral obligation, which […] is stronger than any written contract between individuals, a moral obligation on the part of the Government of the United States.«201 Hinter der juristischen Dialektik der Argumente ging es damit um die elementaren Merkmale des Rentensystems und darum, ob die Regierung ein falsches Bild davon gezeichnet hatte. Dass jedoch selbst Juristen, die sich für die Beibehaltung und Liberalisierung von Social Security aussprachen, das Rentensystem mit Begriffen wie »contract« bezeichneten, zeigt, wie selbst 196 Vgl. Anhörung Altmeyer, S. 895. 197 Vgl. ebd., S. 881. 198 Vgl. ebd., S. 884. 199 Vgl. ebd., S. 918. 200 Vgl. ebd., S. 992–993. 201 Vgl. ebd., S. 1012.
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Sachkundige keinen Unterschied zu einer Versicherung machten. Im Brief eines Anwalts an Curtis hieß es wenig später: »Frankly I believe and assert that the original Social Security Act made a contract with me and for my benefits and that no subsequent legislation can be passed by Congress which would in any manner impair or abrogate such contract obligation of the United States Government.«202
Der Abgeordnete aus Pennsylvania, Herman Eberharter, verteidigte Altmeyer. Er war davon überzeugt, dass der nun republikanisch kontrollierte Kongress die Versprechen des zuvor mehrheitlich demokratischen einhalten würde. Er warnte vor Versuchen der Chamber of Commerce, Angst in der Öffentlichkeit zu schüren. Ihre Vertreter hätten, so Eberharter, die Nutzung des Begriffs insurance als irreführend, als »fake«, beschrieben. So wollten sie für ihren eigenen Rentenplan werben.203 Als außerdem der Abgeordnete John Dingell zur Anhörung hinzustieß, die mittlerweile zwei Wochen andauerte, fand Altmeyer in ihm einen engagierten Verteidiger.204 Curtis wurde von Dingell scharf dafür zurechtgewiesen, Altmeyer überhaupt vor den Ausschuss zitiert zu haben: »Mr. Chairman, you ought to be ashamed of yourself. […] He has done more for the social security […] than you ever imagined is possible and for the people of the United States. […] He is the biggest asset social security ever had, the man who graphically outlined it, the man who helped build and protect it, liberalize it, expand it, and provide measure for its permanency, its solvency […].«205
Scheinbar unbeeindruckt fuhr Curtis fort. Er insistierte, dass die Vertragsanalogie vorsätzlich kreiert worden war, um den Kongress und die Amerikaner in die Irre zu führen. Als Beleg hierfür diente ihm unter anderem ein Radiointerview. Altmeyer wurde gebeten, die Transkription dieses Interviews, das 15 Jahre zuvor mit ihm geführt worden war, vorzulesen. Der Versicherungsaspekt wurde in diesem landesweit gesendeten Beitrag von Altmeyer zur Beschreibung von OAI genutzt. Er wurde gefragt, welche Ansprüche Menschen hätten, die bereits vor dem Jahr 1937 65 Jahre alt geworden seien. In seiner Antwort verglich Altmeyer diese Situation mit der eines Mannes, der versuchte, sein Haus zu versichern, nachdem es bereits abgebrannt war.206 Im weiteren Verlauf der Anhörung blieb Altmeyer bei dieser Ansicht und betonte, dass er Social Security seit dessen Einführung als Versicherung verstanden hatte: 202 Rechtsanwalt Thomas F. Frawley an Reed, 7.4.1954, Akte: HR 83A-F17.12, Box: 2096, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 203 Vgl. Anhörung Altmeyer, S. 924. 204 Die Karriere Dingells und seines Sohnes, John Jr., ist bemerkenswert. Der Sohn folgte dem 1955 verstorbenen Vater nach und ist damit der am längsten im Repräsentantenhaus agierende Abgeordnete aller Zeiten. Zusammen vertreten die Dingells seit 78 Jahren ihren Wahlkreis in Michigan. 205 Anhörung Altmeyer, S. 891–892. 206 Radiointerview Altmeyer, zit. in Anhörung Altmeyer, S. 886.
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»[…] I consider that titles II and VIII together constitute an insurance program. If you want to establish that I have taken that position consistently since 1935, I admit it and I am proud of it, and I insist it is the correct position in keeping with the legislation which I was charged with administering […].«207
Der Experte Altmeyer gab dem Druck des Ausschussvorsitzenden zwar nach, beharrte aber darauf, das Richtige getan zu haben. Die Anhörung Altmeyers belegte die zentrale Debatte um die Frage, ob es sich bei Social Security um einen Vertrag handelte. Altmeyer und seine demokratischen Mitstreiter sahen in der Rentenversicherung eine moralische Verpflichtung der Regierung gegenüber den Amerikanern, die sich die Rente verdient hatten. 3.3.3 Das Zwischenfazit des Curtis Comittees Als Curtis Ende des Jahres 1953 dem Ausschussvorsitzenden des Committee on Ways and Means, Daniel Reed, in einem Zwischenfazit seinen Bericht übermittelte, präsentierte er gleichzeitig der Presse seine Ergebnisse und Empfehlungen.208 Curtis störte sich darin nicht nur an den, seiner Meinung nach, irreführenden Vokabeln aus dem Versicherungswesen, sondern auch an der Vielzahl unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Programme, die mittlerweile für »worthy people« bestanden: »Must there be so many programs to deal with two social problems? Must young widows with dependent children and the aged of our country receive such a wide variety of treatment? Cannot minor adjustments be made so that social security may serve all these worthy people in a like manner?«209
Curtis hob lediglich auf junge verwitwete Mütter und Alte an, wenn er von »worthy people« sprach. Nach monatelanger Analyse, der Lektüre tausender Briefe und der Befragung von Experten berichtete er seinem Vorsitzenden Reed von den Ansichten der Amerikaner und fasste diese für ihn zusammen. Besonders störte sich Curtis am Verständnis, das die Mehrheit vom OASI-Treuhandfonds hatte: »There is wide-spread misconception with respect to the OASI Trust Fund.« Viele Einsendungen zeugten vom Glauben der Amerikaner, es handle sich beim dabei um einen Fonds vergleichbar mit einem »actuarially-sound private insurance company reserve fund«. Verwundert hielt Curtis außerdem fest, dass Viele glaubten, ihre Beiträge glichen einer Kapitalanlage. Das Umlagesystem der Rente war anscheinend nicht verstanden worden.
207 Anhörung Altmeyer, S. 899. 208 Siehe die zahlreichen Presse-Clippings zu Kommentaren von Reed, die von der SSA gesammelt wurden, Akte: 033.2, Box: 100, Office of the Commissioner, RG 47, NACP. 209 Curtis, zit. nach Robert K. Walsh, False Beliefs on Social Security Cited in Arguments for Change, The Washington Star, 27.12.1953.
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Ebenso ärgerte sich Curtis über die fälschlich als Versicherung bezeichnete OASI-Rente: »We also found another misconception as to what Title II truly is. Many people have written in during the past several months complaining about one aspect or another. It is abundantly clear that many of these complaints rest upon the belief that Title II is insurance. Hence, these persons believe they have rights to Title II benefits identical in character with the contractual ones existing in private insurance arrangements.«210
Die Programme des Social Security Act offenbarten nicht nur Probleme, den »worthy people«, wie alleinerziehenden Müttern und Alten, zu helfen. Es waren besonders die vielen voneinander abweichenden »assistance programs«, die die Antragsteller demütigen würden. Indem sie ihre Vergangenheit aufdecken und beispielsweise erklären mussten, warum ihre Kinder nicht bereit waren, sie zu unterstützen, führte man sie vor. Dies sei »not conducive to normal family life«.211 Die Störungen des normalen Familienlebens rührten in den Augen von Curtis von der Ambivalenz und Unübersichtlichkeit der verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Programme und deren vielen Sonderregelungen. Carl T. Curtis und sein Ausschuss waren zu drei Ergebnissen gekommen. Social Security bestünde, erstens, aus zu vielen kleinteiligen Programmen. Diese waren der Ansicht von Curtis zufolge, zweitens, nicht länger geeignet, Unterschiede zwischen »worthy« und »unworthy« Empfängern ihrer Leistungen abzubilden. Dadurch wurde, drittens, individuelle Initiative gelähmt. Zusätzlich zu seinem Anschreiben übersandte Curtis Reed einen Bericht, der die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses detailliert zusammenfasste. Im Jahr 1953 lebten 13,3 Millionen Menschen über 65 Jahre in den USA. Von diesen bezogen 3,8 Millionen eine Rente der OASI. Mehr als zwei Drittel der über 65-Jährigen, 9,5 Millionen Personen, nahmen sie wiederum nicht in Anspruch. Von ihnen hatten 1,4 Millionen einen Anspruch auf eine OASI-Rente, von dem sie keinen Gebrauch machten. Acht Millionen hatten keinen Anspruch. Obwohl das Programm 16 Jahre zuvor eingeführt worden war, um alten Menschen zu helfen, war es bemerkenswert, dass noch so viele von ihnen ohne Rentenanspruch waren. Bemerkenswert war auch, dass nur jene sich qualifizierten, die 1937 noch nicht über 65 waren. Der Abschlussbericht warf die Frage auf, welche der beiden Gruppen unfair behandelt wurde: Jene, die Teil des Programms waren oder jene, die außerhalb stünden.212 Neben den schon diskutierten Ungerechtigkeiten ging der Curtis-Bericht auf Teilaspekte der Rente ein, die mittlerweile kaum noch nachvollziehbar waren. Ob eine Schiffsbesatzung ein Anrecht auf die OASI hatte, konnte so von der 210 Curtis an Reed, 23.12.1953, Akte: 033.2, Box: 100, Office of the Commissioner, RG 47, NACP. 211 Ebd. 212 Siehe Abschlussbericht Curtis Committee, Akte: 033.2, Box: 100, Office of the Commissioner, RG 47, NACP.
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Fischart abhängen, die sie in ihren Netzen fand.213 Zu diesen, gegen den gesunden Menschenverstand sprechenden, Aspekten der Rentenversicherung gehörte laut Curtis auch, dass aktuelle Rentner mehr als das Fünfzigfache dessen erhalten konnten, was sie einbezahlt hatten. Der Curtis-Bericht konzentrierte sich an vielen Stellen zudem auf die Ungerechtigkeiten, die es in einer kommerziellen Versicherung nicht geben würde. Für Curtis bildete diese vermeintliche Irreführung durch die SSA den Schlussstein seiner Argumentation für eine umfassende Rentenreform. Nachdem der Oberste Gerichtshof am 24. Mai 1937 befunden hatte, dass Title II mit der Verfassung in Einklang stünde, hätte die SSA dies genutzt, um die Rente fälschlich als Versicherung anzupreisen. Dabei hatten Regierungsvertreter noch während des juristischen Verfahrens betont, das Gesetz »cannot be said to constitute a plan for compulsory insurance within the accepted meaning of the term ›insurance‹.«214 Schon einen Tag später verwies jedoch ein Vertreter des SSB bei einer Pressekonferenz auf den Versicherungscharakter von Social Security: »The decisions handed down yesterday by the United States Supreme Court completely validate the unemployment compensation and the Federal Old-age insurance provisions of the Social Security Act.« Schon anderthalb Jahre danach tauchte auf der Rückseite der Social Security-Karten das Wort »insurance« auf. In der Folge wurden dann immer mehr Begriffe aus dem Versicherungswesen übernommen. Das führt Curtis zu dem Fazit: »Many of the letters received from throughout the country indicate clearly that their complaints arise from their belief that the program under Title II of the Social Security Act is insurance.«215 Die Beschwerden der Amerikaner ruhten in Curtis’ Augen auf einer falschen Wahrnehmung des Wohlfahrtsstaats. Die Rentenreformen der fünfziger Jahre können anhand der Arbeit und des Berichts des Curtis Committee aus verschiedenen Perspektiven analysiert werden. Curtis und seine Mitarbeiter nutzten ihre herausgehobene öffentliche Position im Jahr 1953, um nicht nur die technischen Details von Social Security zu analysieren, sondern vielmehr, um ein Meinungsbild der Amerikaner zu ihrem Rentensystem zu zeichnen. Damit kann das Curtis Committee als Kristallisationspunkt dieser Debatten dienen, der den Blick auf ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses beeinflussten nicht nur die Debatten im Committee on Ways and Means. Sie halfen auch, die öffentliche Meinung zu Social Security wahrzunehmen. Der Abschlussbericht des Curtis Committee wiederum diente als Grundlage für den Bericht, den der Vorsitzende des Committee on Ways and Means, Daniel Reed, am 28. Mai 1954 dem Repräsentantenhaus vorlegte.216 Dieser wurde die Grundlage 213 Ebd., S. 10. 214 Zit. n. ebd., S. 16. 215 Ebd., S. 18. 216 Report Social Security Amendments of 1954, Report No. 1698, Report of the Committee on Ways and Means, 83rd Congress 2nd Session, 28.5.1954, Akte: HR 83A-F17.2, Box: 2142, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB.
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der R entenreform von 1954. In Reeds Bericht hieß es, dass die OASI in Zukunft einen »floor of protection against dependency« für Rentner, deren Angehörige und Hinterbliebene bieten sollte. Die OAA hingegen sollte als »secondary line of defense« erhalten bleiben. Die martialische Sprache verwies auf zwei Sphären des Wohlfahrtsstaates, von denen das welfare-Programm OAA in die zweite gehörte. Es sollte nur in größter Not beansprucht werden.217 Auch der Topos des »absterbenden«218 OAA erhielt neue Nahrung. Diesen beschwor die Rentenbehörde SSA seit den dreißiger Jahren immer wieder. Dank der Meldung, dass seit 1953 erstmals mehr Menschen OASI als OAA bezogen, schien sich die Prophezeiung zu erfüllen. Die aus den Reformen des Jahres 1950 resultierende Erhöhung der Zahl der OASI-Empfänger barg in den Augen der SSA den Vorteil, dass nun Witwen und Waisen Anspruch auf wohlfahrtsstaatliche Unterstützung hätten, ohne sich dem degradierenden Bedürftigkeitsnachweis, dem means test, stellen zu müssen: »[…] these old-age and survivors insurance beneficiaries are able to maintain a sense of their own continued independence and of their dignity and worth as individuals, even though their support from earnings has been cut off by the retirement or death of the insured worker.«219
Das Wissen der Betroffenen um eine in diesem Fall vorbehaltlose Unterstützung führte demnach zu mehr Sparsamkeit und Eigeninitiative: »since he can add his personal savings (including home ownership and insurance) as well as pensions he may receive as a result of his work, to the basic old-age and survivors insurance benefits«.220 Eine Rentenerhöhung sollte 1954 zudem dazu beitragen, dass die Renten nun realistischer »the individual’s actual earnings on which he customarily depends for his support« widerspiegelten.221 Der Vorschlag des Commmittee on Ways and Means beinhaltete außerdem den Wunsch, die Rentenhöhe an das durchschnittliche Einkommen zu koppeln. Dabei sollte die höchstmögliche Rente entsprechend höher als die Mindestrente sein. Schließlich lasse sich von der Einkommenshöhe eines Menschen auf dessen Produktivität schließen, was wiederum die Unterschiede des »indivual standard of living« – auch im Alter – rechtfertigen würde.222 Die Rentenreformen von 1950 und 1954 waren für den Wohlfahrtsstaat der USA wegweisend. Mit ihnen trat ein universellerer Ansatz an die Stelle des bis dahin eher funktionalistischen Versorgungsgedankens, dessen Wurzeln in die progressive era reichten. Fortan wurden wohlfahrtsstaatliche Programme nicht 217 Vgl. ebd., S. 1. 218 Die Pläne sahen OAA als Übergangslösung vor, solange nicht alle Arbeitnehmer Teil der Sozialversicherung waren. Zum Ende dieser Übergangsphase sollte OAA in der Sprache der SSA »absterben« oder auch »dahinwelken« (»wither away«). 219 Report Social Security Amendments of 1954, S. 2. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 3.
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länger allein als Abfederung von negativen Effekten der Industrialisierung verstanden.223 Damit verschob sich auch der Inhalt der Reformdebatten. Sie waren nun immer häufiger von der Forderung nach Angemessenheit wohlfahrtsstaatlicher Leistungen geprägt. Daneben wurde vermehrt die Vokabel Fairness in Argumenten verwendet, die moralische Anrechte in der Altersversorgung geltend machten. Damit gingen die Reformen über technische und legislative Veränderungen hinaus. Sie markierten vielmehr den Grundstein für die langfristige Konsolidierung der OASI, die in der Folge breite öffentliche und parteiübergreifende Unterstützung erhielt. In den Debatten dieser Reformperiode kristallisierte sich zunächst einmal die generelle Akzeptanz der Mittelklasse für die wohlfahrtsstaatliche Versorgung alter Menschen heraus. Insbesondere zeigte sich, welche Justierungen vorgenommen werden sollten, um das Rentensystem in Einklang mit ihren Moralvorstellungen zu bringen. Hierzu gehörte etwa, dass bestehende Regelungen teils als »unfair« empfunden wurden und einer »American philosophy of life« widersprächen. Anhand der Argumente für und wider Einzelaspekte, wie den earnings test oder das Renteneintrittsalter von Ehefrauen kann nachgezeichnet werden, wie der Wohlfahrtsstaat in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre unter dem maßgeblichen Einfluss der Mittelklasse verändert wurde. Rückschlüsse auf Gerechtigkeitsvorstellungen lassen sich dabei aus den Schilderungen von Ungerechtigkeiten ziehen. Die als ungerecht empfundenen Zustände wurden immer wieder beispielhaft in Selbstbeschreibungen geschildert. Dabei wurde die eigene Situation als die eines Benachteiligten dargelegt, während eine imaginäre Person als Beispiel für einen unfairen Vorteil verwendet wurde. Verbesserungsvorschläge bezogen die eigenen Erfahrungen der Absender der Briefe an Behörden und Parlament mit ein. Keine zwanzig Jahre später, nach dem Amtsantritt Richard Nixons als Präsident, entspann sich eine vergleichbare Debatte. Auch sie kreiste um die Begriffe Gerechtigkeit, Fleiß, Fairness, Sparsamkeit und Verdienst. Bevor es soweit war, hatten jedoch die Reformen fünfziger Jahre gezeigt, dass wohlfahrtsstaatliche Hilfe in bestimmter, jeweils einheitlicher Form erfolgen sollte. Diese Auffassung wurde von einer Mehrheit geteilt. Einige dieser Unterstützungsformen beruhten auf Vorleistungen und waren dazu geeignet den gesellschaftlichen Status einer Person zu reflektieren, wenn sie etwa unabhängig von der wirklichen Bedürftigkeit waren. Der Bezug einer Rente, die unabhängig von Bedürftigkeitsnachweisen war, galt daher nur für jene als legitim, die sich während ihres Berufslebens durch Einzahlungen dafür qualifiziert hatten. Überdies zeigten Ziele, Appeal und vor allem Scheitern der Vorschläge zu alternativen Rentensystemen, dass Social Security eng mit moralischen Werten verknüpft war. Obwohl die Alternativen auch auf moralischen Werten basierten, wichen sie e ntweder von dem ab, was die SSA propagierte oder sie wurden in die ausbaufähigen Strukturen der OASI integriert. 223 Vgl. Berkowitz u. McQuaid, S. 178. Zur systematischen Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Ansätze siehe Schmidt.
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4. Kosten und Ideale: Wohnungspolitik in und um Birmingham bis zum Ende der sechziger Jahre
Für die Beziehungen zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat war die Frage der Finanzierung direkter und indirekter staatlicher Leistungen zentral. Wer sollte in welchem Maße für wohlfahrtsstaatliche Ausgaben aufkommen? Welche Erwartungen stellte die Mittelklasse an den Wohlfahrtsstaat? Bereits während der Großen Depression hatte sich die Regierung damit befasst, wie Behörden die Mittelklasse behandeln sollten.1 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rückten nun auch immer mehr die Wünsche der Mittelklasse ins Zentrum, wenn es darum ging, wie wohlfahrtsstaatliche Arrangements gestaltet werden sollten. Deutlich zeigte sich dies in der Gestaltung des eigenen Wohnviertels, der neighborhood. Washington hatte vor und während der Großen Depression wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen geschaffen, um das Antlitz der Städte zu beeinflussen.2 Auch nach Ende der Wirtschaftskrise hielt die Bundesregierung an den Instrumenten der neuen Behörden und Ministerien fest. Die Gemeinden der Staaten des Südens waren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts paternalistisch geprägt. Weiße Eliten kontrollierten Afroamerikaner und arme Weiße, indem sie ihnen Bürgerrechte vorenthielt. Die Ausgaben für Bildung und Altersabsicherung waren gering, die Toleranz für Gewalt hoch. Dieser Paternalismus war dabei nicht einfach eine Fortschreibung der gesellschaftlichen Organisation aus den Zeiten vor dem Bürgerkrieg. Der Rassismus, der nach der Phase der Reconstruction im Süden anzutreffen war, gab den Pflanzer-Eliten die Chance, sich als Beschützer ihrer schwarzen Erntehelfer zu gerieren. Wo sie im 19. Jahrhundert für die Gesundheit ihrer Arbeiter einstanden, bemühten sie sich nun, ihnen in Rechtsfragen beizustehen. Jede Einmischung aus Washington schadete diesem Arrangement.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich jedoch, dass die wohlfahrtsstaatlichen Instrumente des New Deal teils mit neuen, qualitativen Zielen ausgestattet wurden. Die Wohnungspolitik des Bundes sollte nicht mehr allein dazu beitragen, Wohnraum zu schaffen, sondern auch die Qualität von Wohnvierteln steigern und die fortbestehende Segregation überwinden. Das Anliegen, die 1 Siehe hierzu das zweite Kapitel dieser Arbeit und die Anweisungen, dass Hausbesuche nur von männlichen Mitarbeitern mittleren Alters durchgeführt werden sollten. 2 Beispiele sind das Handbuch der FHA oder die Bewertungstechniken der HOLC, siehe zweites Kapitel. 3 Zu den paternalistischen Strukturen der Südstaatengesellschaft nach der Reconstruction vgl. Alston u. Ferrie, S. 853.
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Trennung von Menschen verschiedener Hautfarben in öffentlichen Einrichtungen zu beenden, erlebte 1954 in einem Richterspruch zum Schulbesuch in Topeka, Kansas den bis dahin größten Sieg im 20. Jahrhundert. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Brown v. Board of Education of Topeka war jedoch nur ein Kulminationspunkt. Bereits zuvor hatten Gerichte die Rassentrennung erschwert und eingeschränkt. Dabei spielten auch Behörden wie die Federal Housing Administration (FHA) eine wichtige Rolle. Nachdem sie während der Großen Depression und dem Krieg eine zentrale Rolle beim Neubau von Häusern gespielt hatte, sollte sie nun zur Trägerin integrativer Ziele werden. Zwei Briefe an das Rathaus in Birmingham aus den Jahren 1949 und 1960 eignen sich, die drei grundlegenden Problemfelder dieses Kapitels aufzuzeigen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Abwanderung der Mittelklasse die Steuereinnahmen Birminghams sinken ließ, riet der Bürgermeisters von Richmond in Virginia, W. Stirling King, in einem Brief von 1949 der Stadt, eine spezielle Lohnsteuer einzuführen: »I would like to see the cities come to the payroll tax as a means of income so we could receive some financial compensation from these people who live in the county and make their living in the city […].«4 Diese Sondersteuer sollte allen Personen auferlegt werden, die innerhalb der Stadtgrenzen arbeiteten und außerhalb wohnten, um den Wegfall von Steuereinnahmen zu kompensieren.5 Der zweite Brief, der diesem Kapitel einen Rahmen geben soll, stammte von den Besitzern eines Mietshauses in Birminghams Innenstadt. Sie schrieben 1960 an ihren Bürgermeister: »Close to downtown Birmingham, the type of tenants we could get would be transient, only occupying the houses until they could do better, or we would have to do worse, rent to negroes.«6 Damit sprachen sie sich gegen eine Änderung des Bebauungsplans von Birmingham aus, die erwirkt hätte, dass ihr Mietshaus fortan an ein Gewerbegebiet grenzen sollte. Die beiden fürchteten, ihr Block würde so erheblich an Attraktivität einbüßen, weshalb sie ihre Wohnungen fortan an schlechter gestellte Menschen vermieten zu müssen. Damit wird ein drittes Problemfeld dieses Kapitels angerissen: die rassistische Komponente der Suburbanisationsgeschichte Birminghams. Sie begleitete die Abwanderung von Teilen der Mittelklasse, die deswegen auch »white flight« genannt wurde.7 Nachdem zunächst in einem ersten Unterkapitel die großen Linien der Bevölkerungsentwicklung und der Wohnungspolitik der USA mit den zentralen Fragen zu Suburbanisierung und Wohnqualität kurz dargestellt werden, folgt in zwei weiteren Unterkapiteln die Untersuchung der Implikationen für Birmingham und seine Suburbs. Das zweite Unterkapitel stellt das Wohnviertel Chest4 W. Stirling King, Bürgermeister von Richmond, Va., an Bürgermeister W. Cooper Green, 6.2.1949, Akte: 368.3.20, GRPA, BPL, AM. 5 Diese spezielle Form der Lohnsteuer wurde in Birmingham später unter der Bezeichnung occupational tax eingeführt. Siehe unten. 6 Ehepaar M. D. Williams an Bürgermeister Morgan, 12.11.1960, Akte: 266.33.18, Morgan Papers (MOPA), BPL, AM. 7 Zu Genese und Symptomen dieser »white flight«, siehe v. a. Kruse.
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nut Hills, das vornehmlich von der Mittelklasse bewohnt wurde, in den Jahren zwischen 1950 und 1966 in den Mittelpunkt. Erneut sind Eingaben an staatliche Stellen dabei die wichtigsten Quellen. In den Briefen an das Rathaus von Birmingham beschrieben sich die Bewohner als Teil der Mittelklasse. Sie waren Lehrer, Angestellte, Versicherungsvertreter, Künstler und Ladenbesitzer. Ihren Status bezogen sie aus der Höhe ihres Einkommens und aus der Lage ihres Hauses. Gleichzeitig formulierten sie auf Basis dieses Status’ Ansprüche und Anrechte auf eine bestimmte Form des Wohnviertels. Hierzu konnte und sollte das Rathaus wiederum einen Beitrag leisten: etwa durch die Berücksichtigung der Interessen der Bewohner eines Wohnviertels im Bebauungsplan der Stadt. Das dritte Unterkapitel wirft einen genaueren Blick auf die »Wohnviertel« außerhalb der Stadt: die Suburbs. Die Bewohner der Suburbs von Birmingham führten einen jahrzehntelangen Abwehrkampf gegen ihre Eingemeindung in die Stadt. Die finanzielle Notlage zwang Birmingham zugleich immer wieder zur Suche nach Einnahmequellen in den umliegenden Suburbs. Die Verwerfungen zwischen den Bewohnern Birminghams und der Vororte gipfelte schließlich in der Einführung einer Sondersteuer für Pendler und ihrer kläglichen Rücknahme.
4.1 Bevölkerung und Wohnungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg Die von Ökonomen prognostizierte und allgemein befürchtete Depression blieb in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Stattdessen sorgten wirtschaftlicher Aufschwung und steigende Geburtenraten für andere Probleme: Es fehlten Wohnungen. Im Jahr 1947 wurden fast vier Millionen Kinder geboren und damit gut fünfzig Prozent mehr als noch 1940.8 Zwischen 1940 und 1947 zog ein Fünftel aller Familien in ein anderes County oder einen anderen Staat um. Nahezu fünf Millionen der mittlerweile 144 Millionen Amerikaner waren dabei vom Land in die Stadt gezogen. Die Zahl der Arbeitslosen war während der Kriegsjahre von acht auf zwei Millionen gesunken. In allen Städten wuchs damit schon während des Kriegs der Bedarf an Wohnraum. Gut 1,2 Millionen Familien teilten sich Wohnungen.9 Mehr als 500.000 Familien wohnten in temporären Behausungen wie Wohnwagen und behelfsmäßigen Unterkünften.10 Obwohl die meisten Familien klein waren, hatte gut die Hälfte aller Kinder zwei Geschwister. Ein Drittel aller amerikanischen Kinder wuchs mit drei oder mehr
8 Auch die Müttersterblichkeit fiel zwischen 1940 und 1948 um fast drei Viertel, vgl. o.A., 1/3 of the Nation is Young, S. 84. 9 Diese Praxis wurde »double up« bezeichnet. 10 Lenroot, S. 196.
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Geschwistern auf.11 Allen beengten Wohnverhältnissen zum Trotz sank die Scheidungsquote.12 Um einer durchschnittlichen Familie ein bescheidenes Leben in der Stadt zu ermöglichen, benötigte eine Familie 1948 im bundesweiten Schnitt zwischen 3.000 und 3.500 Dollar.13 Seit dem Jahr 1944 hatte das Gesetz zur Wiedereingliederung der Kriegsheimkehrer, der Servicemen’s Readjustment Act, Veteranen den Bau eines eigenen Hauses erleichtert. Die erste Version dieses Gesetzes, allgemein bekannt als G. I. Bill, gab jedem heimkehrenden Soldaten die Möglichkeit, sich eine Hypothek im Wert von 2.000 Dollar mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren durch die Veterans Administration (VA) garantieren zu lassen. Legte er die entsprechende Bescheinigung einem Kreditinstitut vor, vereinfachte sich die Aufnahme einer Hypothek erheblich. Schon 1945 konnten Veteranen sich so Hypotheken im Wert von 4.000 Dollar und 1950 schließlich im Wert von 7.500 Dollar, bei 25 und dann 30 Jahren Laufzeit, garantieren lassen.14 Dennoch war der Bau privater Wohnhäuser zunächst erschwert. Experten wie der Housing Expediter15 Wilson W. Wyatt (1905–1996) hatten bereits zu Ende des Zweiten Weltkriegs vor einer Wohnungsnot gewarnt und staatliche Hilfe gefordert. Entgegen dieser Warnungen hatte Washington noch kurz nach dem Sieg über Japan im September 1945 strenge Auflagen im Bausektor erlassen. Der Neubau von Wohnungen sollte – trotz G.I Bill – zunächst limitiert werden. Die Erfahrungen aus der Großen Depression hatten gezeigt, dass der Bau von Großprojekten wie Brücken, Dämmen und Fabriken das beste Mittel gegen Wirtschaftskrisen war. Doch als sich die Wirtschaftslage schneller als erwartet erholte, waren der Präsident und sein Kabinett bereit, den Forderungen nach mehr Wohnungen zu begegnen. Als zugleich die zivilwirtschaftliche Produktion anstieg und auch die Einkommen nicht sanken, wurde deutlich, dass ein Großteil der amerikanischen Familien neue Häuser nicht nur benötigte, sondern auch bezahlen konnte.16 Dies sollte nun auch von staatlicher Seite unterstützt werden. Die landesweiten Preiskontrollen für Baumaterialien wurden daher bereits 1946 wieder aufgehoben. Der 11 Familien mit vier oder mehr Kindern machten sieben Prozent aus, vgl. 1/3 of the Nation is Young, S. 82. 12 Sie sank zwischen 1946 und 1948 von 4,3 auf 2,8 Scheidungen pro Jahr und 1.000 Einwohner. Im Jahr 2011 lag die Scheidungsrate in den USA bei 3,6. 13 1/3 of the Nation is Young, S. 82. 14 Jackson, Crabgrass, S. 233. 15 Die unabhängige Behörde des Housing Expediter wurde durch den Veterans’ Emergency Housing Act von 1946 geschaffen. Bevor das Amt 1951 wieder abgeschafft wurde, plante, koordinierte und förderte er Bemühungen im Bausektor, die den Veteranen zugutekommen sollten, vgl. Nenno, S. 255. Housing Expediter Wyatt wandte sich im Frühling 1946 an das Rathaus von Birmingham. 16 Vgl. zu einer zeitgenössischen Einschätzung dieser Entwicklung Colean, Impact, S. 106.; in seinem Standardwerk zur Suburbanisierung untersucht Kenneth Jackson, ob und wie der Bund beeinflusste, wie und wo die Amerikaner lebten; siehe hierzu d. Kapitel »Federal Subsidy and the Suburban Dream: How Washington Changed the American Housing Market«, Jackson, Crabgrass, S. 190–218.
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Kauf solcher Materialien wurde nun sogar, etwa durch Regelungen im Veterans’ Emergency Housing Program, subventioniert.17 Nachdem im vorletzten Kriegsjahr, 1944, 114.000 Einfamilienhäuser gebaut worden waren, waren es sechs Jahre später, auch dank G. I. Bill, 1.692.000 die binnen eines einzigen Jahres errichtet wurden.18 Einen Höhepunkt erlebte die wohnungspolitische Unterstützung der Veteranen 1955: Fast 400.000 Häuser, und damit ein Viertel aller in diesem Jahr neu errichteten Eigenheime, wurden durch die VA garantiert.19 Damit war die Arbeitsteilung für die Folgezeit festgelegt. Wie auch die FHA half die VA immer mehr Familien, sich dank indirekter Hilfen ein eigenes Haus leisten zu können. Kategorisiert man die amerikanische Gesellschaft zur Mitte des Jahrhunderts entlang des Kriteriums Wohneigentum, sind die Ergebnisse entlang der Merkmale Alter und Geschlecht besonders auffällig. Die Volkszählung des Jahres 1950 zeigte, dass 72,9 Prozent der alleinstehenden Frauen unter 45 Jahren in Mietwohnungen lebten, während 73,3 Prozent der Haushalte mit einem Mann über 65 Jahren ein Haus besaßen. Insgesamt verteilten sich die fast 41 Millionen Haushalte der USA wie folgt: 22,7 Millionen (55,8 %) lebten in Wohneigentum und 18 Millionen (44,2 %) zur Miete. 54,2 Prozent der Menschen, die jünger als 45 Jahre alt waren, lebten zur Miete, was bei nur 32 Prozent der Menschen über 45 der Fall war. Die Wahrscheinlichkeit, als alleinstehende Frau unter 45 Jahren in einer Mietwohnung zu wohnen, war also genauso groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar, in dem der Mann älter als 65 Jahre alt war, Wohneigentum besaß. Wenn man das eigene Haus als Vorsorge für das Alter versteht, war allein in dieser Hinsicht das Armutsrisiko für alleinstehende Frauen bedeutend größer als das für Männer und Ehepaare.20 Gleichzeitig bedeutete das eigene Haus eine symbolische Grundlage für das Selbstverständnis der Mittelklasse.21 Die historische Analyse dieses Selbstverständnisses der Mittelklasse, wie sie im Folgenden vorgenommen werden soll, kann von den Vorarbeiten anderer Disziplinen profitieren. Dazu gehört die sogenannte Kultur-Geographie.22 Vertreter des Spatial Turn beschrieben das eigene Haus und seinen Standort als mehr als ein bloßes Dach über dem Kopf und eine Postadresse. Vielmehr war beides eng mit sozialen Prozessen von Wahrnehmung, Nutzung und 17 Vgl. Nenno, S. 255. 18 Jackson, Crabgrass, S. 233. 19 Nenno, S. 253. 20 54 Prozent aller alleinstehenden Männer und 57,5 Prozent aller Ehepaare besaßen Wohneigentum, für die Daten stammen aus dem Census von 1950, U. S. Department of Commerce, Bureau of the Census, 1950 Census of Housing, Bde. I u. II. 21 Der Historiker Jeffrey M. Hornstein hat gezeigt, dass sich Ende der vierziger Jahre ein Großteil der Amerikaner als Teil der Mittelklasse verstand. Zu den Begriffen, die mit »Mittelklasse« assoziiert wurden, gehörte vor allem »homeowner«: »[H]omeowner,‹ became a virtual metonym for ›middle class.‹«, Hornstein, S. 202. 22 Vgl. Bachmann-Medick, S. 285.
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Aneignung verbunden.23 In den Worten der Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick: »Raum meint soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten.«24
In Kombination mit der Diagnose des Historikers Thomas J. Sugrue, der in seiner Studie »The Origins of the Urban Crisis«, den Besitz eines eigenen Hauses als zentrales Versprechen des New Deal bezeichnete,25 ergab sich der hohe Stellenwert, der dem eigenen Haus beigemessen wurde. Damit ging auch das Vertrauen vieler Hausbesitzer einher, dass der Wert ihrer Immobilien gleich bleiben oder ansteigen würde.26 In Sugrues Analysen finden sich Indizien dafür, dass Industriearbeiter Einstellungen annehmen konnten, die als charakteristisch für die Mittelklasse galten, sobald sie in ihr eigenes Haus zogen. Sugrue zitiert einen Gewerkschafter: »[…] we are dealing with people who have a middle class mentality. Even in our own UAW, the member is either buying a home, owns a home, or is going to buy one.«27 Der gemeinsame Wunsch von Arbeitern und Angestellten sich ein Haus kaufen zu können, ließ sie beide nach einem Symbol streben, das in den Jahren zuvor ein Marker der Mittelklasse gewesen war. Als sozialen und symbolischen Raum beschrieb der Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) den Wohnort, der als gesellschaftliches Strukturmerkmal den Lebensstil eines Individuums charakterisiert. Auch wenn Bourdieus Formulierungen hier nur als Stichwort dienen, ist ihr Wert für die Untersuchung der Wechselbeziehung von Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat erkennbar. Die eigene Wohnung ist ein geeigneter Untersuchungsgegenstand, wenn es darum geht, die auch auf sozialem Status basierenden, Funktionen des Wohlfahrtsstaats für die Mittelklasse zu ergründen. Ein Objekt wie das Einfamilienhaus konnte dank geteilter Geschichten und Beschreibungen von den Familien der Mittelklasse mit gemeinsamen Deutungen belegt werden.28 Besonders die USA waren vom Rückgriff auf solche Strategien, die Bourdieu 1989 symbolische Strategien nannte, geprägt:
23 Das Geflecht dieser Prozesse zu analysieren, war eine der Triebfedern des Spatial Turn, vgl. ebd., S. 292. 24 Ebd., S. 289. 25 Sugrue; aber schon seit 1776 ging die Bedeutung eigenen Wohnbesitzes über den Aspekt der Wohnstätte hinaus. Nur weiße Männer (sofern nicht katholisch, quäkerisch oder jüdisch) mit Besitz genossen das Wahlrecht. Diese Regel wurde erst zwischen 1792 und 1856 schrittweise abgeschafft, vgl. Bratt, S. 132. 26 Mit diesem Argument erklärt Sugrue z. B. die erbitterten Beschwerden von Hauseigentümern über öffentlichen Wohnungsbau im Detroit der Nachkriegszeit, siehe Sugrue. 27 Gewerkschafter der United Automobile Workers, zit. n. ebd., S. 83–84. 28 Vgl. Bourdieu, Symbolic, S. 20.
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»It is in the intermediate positions of social space, especially in the United States, that the indeterminacy and objective uncertainty of relations between practices and positions is at a maximum, and also, consequently, the intensity of symbolic strategies.«29
Damit ließe sich nicht nur anhand von Größe und Ausstattung, sondern auch der Adresse ein Rückschluss auf die gesellschaftliche Position ziehen. Eine solche hierarchische Unterteilung von Städten in Gebiete für bestimmte gesellschaftliche Lagen findet sich auch in den Charakterisierungen des Anthropologen William Lloyd Warner (1898–1970). Warner wandte die Methoden der Ethnologie, die in den USA unter der Bezeichnung cultural anthropology gelehrt wird, nicht nur bei fremden Völkern an, sondern auch bei seinen amerikanischen Landsleuten. Er erklärte 1949 in seinem Handbuch zum »Measurement of Social Status«, wie die Lage des eigenen Hauses auf den eigenen sozialen Status verwies. So wurden jene Familien Side Streeter genannt, deren vergleichsweise kleinen Häuser in Seitenstraßen standen und abseits der »Hill Street, where the upper classes and some of the upper-middle« lagen. Diese Seitenstraßenbewohner lebten außerdem auch in einiger Distanz von den »better suburbs where the upper-middle concentrate«.30 Vergleichbare Konzepte der Hierarchisierung des Raums hat Andrew Hurley in diesem Zusammenhang ebenfalls gewinnbringend angewandt. Der Konsumhistoriker nutzt sie in einer 1995 erschienen Studie zur Stadt Gary im Bundesstaat Indiana, um seinerseits zu verdeutlichen, wie der Ort zwischen weißen Arbeitern, der weißen Mittelklasse und Afroamerikaner räumlich aufgeteilt worden war.31 Dabei setzt Hurley Umweltschäden in Bezug zu Konflikten zwischen Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen und verschiedener Hautfarben. Er zeigt, dass der Wegzug in die Außenbezirke und Suburbs auch die Flucht vor Umweltbelastungen und Luftverschmutzung war.32 Darüber hinaus lässt sich diese Hierarchisierung des urbanen Raums auch an Begriffen wie inner city und urban space ablesen. Beide wurden zu rassistisch konnotierten Schlagwörtern, die synonym zu Wohnvierteln mit afroamerikanischer Mehrheit verwendet wurden.33 Die Suburbs hingegen wurden in der Wahrnehmung mehr und mehr zur Heimat der Mittelklasse. Doch auch die Entwicklung der Suburbs wurde in den fünfziger Jahren differenziert bewertet. Scharfe Kritik am Leben dort übte etwa Lewis Mumford (1895–1990). In »The City in History« kritisierte Mumford 1961 Uniformität und Isolation, die das Leben in den Suburbs einerseits kennzeichnen und ande-
29 Ebd. 30 Warner u. a., S. 13. 31 Vgl. Hurley, Environmental, S. 5. Ein Spitzname der Stadt Gary lautete The Magic City of Steel. Birmingham, das mit einer ähnlichen Vergangenheit vor vergleichbaren Herausforderungen stand, nannte sich ebenfalls Magic City. 32 Vgl. ebd., S. 8. 33 Vgl. Sugrue, S. 229.
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rerseits begünstigen würde.34 Der drohende Untergang der Stadt und die Frage, wie und ob sie zu retten sei, wurden zu zentralen Herausforderung der späten fünfziger Jahre. Neben Mumford, dem wohl einflussreichsten Kritiker der Megalopolen, prophezeiten zahlreiche Autoren der Großstadt das Ende.35 Dabei wurde nicht der Rückgang der Einwohnerzahlen in den Innenstädten als Gefahr wahrgenommen. Schließlich sank der Anteil der Amerikaner, die in Innenstädten wohnten, zwischen 1950 und 1970 relativ linear von 59 auf 45 Prozent. Als viel bedrohlicher wurde die sich drastischer verändernde Zusammensetzung der Stadtbevölkerung aufgenommen. Familien mit mittleren und hohen Einkommen verließen die Städte, was sich leicht an den Einkommensunterschieden zwischen Stadt- und Suburb-Bewohnern ablesen lässt. So gab es zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch keinen Unterschied zwischen den Medianeinkommen dieser beiden Gruppen. Ende der fünfziger Jahre war der bundesweite Unterschied zugunsten der Suburbs auf zehn, 1969 sogar auf zwanzig Prozent angestiegen.36 Als Überraschung erwies sich, dass diese Lücke, anders als vermutet, nicht durch wirtschaftliche Erträge und Arbeitsplätze im tertiären Sektor ausge glichen wurde. Der steuerliche Ertrag aus dem Dienstleistungssektor war von Stadtverwaltungen zu Beginn der fünfziger Jahre als Kompensation für sinkende Steuereinnahmen durch die Konkurrenz der Suburbs gesehen worden. Jedoch schrumpfte auch dieser Wirtschaftssektor in den Städten, während er in den Suburbs an Bedeutung und Ausmaß gewann.37 Das Gefälle zugunsten der Suburbs wuchs damit auch in den Bereichen Beschäftigung und Löhne nach 1950 an.38 Es spiegelte sich nicht nur in Einkommensunterschieden, sondern auch in Arbeitslosenzahlen und im Berufsstatus. So arbeitete in den Suburbs von Detroit 1950 jeder dritte Berufstätige in einem white collar-Beruf. In Detroit selbst war es jeder zweite. 1965 hatte sich das Verhältnis umgekehrt.39 Außerdem waren die Bewohner der Suburbs Ende der fünfziger Jahre im Schnitt besser ausgebildet und lebten sicherer, sie waren seltener auf ADC angewiesen; ihr Eigentum gewann stetig an Wert, während die Eigentumswerte der Innenstadtbewohner stagnierten oder zurückgingen, sofern sie überhaupt welches besaßen. Andererseits mussten in den Innenstädten, gemessen am Medianeinkommen, siebzig Prozent mehr lokale Steuern bezahlt werden als in den Suburbs.40 34 Siehe Mumford, Stadt. 35 Siehe exemplarisch Greer; Boulding. 36 Am Beispiel von Detroit bedeutete dies 1969: 9.157 Dollar in der Stadt und 11.003 Dollar in den Suburbs. Dies benennt eine, durch die Stadt in Auftrag gegebene Studie, Meyers u. Musial, S. 1. 37 Belegt wieder am Beispiel von Detroit, wo der Tertiäre Sektor in der Stadt um sechs Prozent zurückging statt zuzunehmen. In den Suburbs wuchs er dagegen um 124 Prozent, vgl. ebd., S. 2. 38 Auch wenn Margaret Marsh den Unterschied in einem Beitrag von 1990 stark relativiert und ihn eher den Historikern zuschreibt, die sich in den zwei Dekaden davor mit der Suburbanisierung auseinander gesetzt hatten, vgl. Marsh. 39 Vgl. Meyers u. Musial, S. 29. 40 Vgl. ebd., S. 2.
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4.2 Chestnut Hills: Die Mittelklasse und ihre Vorstellung vom idealen Wohnviertel Dieses Unterkapitel untersucht die Frage, wie sich Birminghams Mittelklasse der Nachkriegszeit ihr ideales Stadtviertel vorstellte und welche Hilfe sie aus dem Rathaus erwartete, um diese Vorstellung zu verwirklichen. Zählte Birmingham zu Beginn des Jahrhunderts lediglich 40.000 Einwohner, so waren es 1940 bereits deutlich mehr als eine Viertelmillion. Zur Mitte des Jahrhunderts lebten hier 326.037, 1960 dann 370.000 Menschen.41 Neben dem großen Anteil an Industriearbeitsplätzen – die größten Arbeitgeber waren U. S. Steel, Hayes Aircraft und U. S. Pipe and Foundry42 – wuchs auch in Birmingham der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor nach dem Zweiten Weltkrieg.43 Zwischen 1940 und 1958 stieg das Haushaltseinkommen mit 218 Prozent hier überdurchschnittlich stark im Vergleich zu anderen Metropolen im Süden und im Rest der USA.44 Die wachsende und selbstbewusste Mittelklasse Birminghams war stolz auf ihren Zoo, ihre städtische Bibliothek und ihren Botanischen Garten. Vor allem galt dieser Stolz aber dem eigenen Viertel, das sich oft auf einige Straßenzüge und ein paar Dutzend Familien beschränkte. Im Dezember des Jahres 1952 öffnete Bürgermeister Green den Brief des Arztes J. F. McDowell, der im Süden Birminghams wohnte. McDowell sprach sich namens seiner Nachbarn, die ihn gebeten hatten dieses Schreiben zu verfassen, gegen die Errichtung einer neuen Ansiedlung am Hange des nahegelegenen Vulcan Parks aus. Andernfalls drohte das Viertel, erheblich an Schönheit einzubüßen. Das Gebiet sollte daher in das Parksystem der Stadt integriert und so vor Bebauung geschützt werden. Alles andere erschien McDowell und seinen Nachbarn verwerflich: »It appears to me to be almost sacrilegious to allow this area not to become part of the City Park System.«45 Ein halbes Jahr später koppelte ein anderer Absender aus der Mittelklasse, der Bankangestellte Hugh F. Hazen, den eigenen Status an seinen Appell, sein Viertel im Bebauungsplan nicht umzuwidmen: »I hereby petition you, as a tax payer and home owner […] to retain the present zoning […] in our neighborhood. I am a veteran of World War II and have my entire life savings invested in this piece of property. In all fairness to me and to protect the beauty of our community […] I appreciate your usual prompt attention to this request.«46
41 Die Einwohnerzahl Alabamas stieg im gleichen Zeitraum von 1,8 auf 3,3 Millionen, ein Zuwachs von gut achtzig Prozent: Birmingham’s Committee of 100. 42 Im Jahr 1958, vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Ebd. 45 J. F. McDowell an Green, 17.12.1952, Akte: 266.33.8, MOPA, BPL, AM. 46 Hugh F. Hazen jr. an Morgan, 3.8.1953, Akte: 266.33.9, MOPA, BPL, AM.
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Beide Absender traten für die Beibehaltung bestimmter Zonen des Bebauungsplans von Birmingham ein. Dabei ist besonders interessant, mit welchen Argumenten sie ihre Forderungen untermauerten. Immer wieder bezogen sie sich auf den eigenen Status, der in den Quellen meist als taxpayer erscheint. Diese Selbstbeschreibung als Steuerzahler beinhaltete jedoch nicht nur das Verständnis, Anrechte durch den eigenen Beitrag zu verdienen. Immer wieder erschien auch eine moralische Komponente in den Forderungen und Bitten der Briefschreiber. Ihr Interesse an einer angenehmen Wohnsituation, so appellierten sie, sei wichtiger als die ökonomischen Anliegen der Stadt.47 Die Grundlage dieses Bebauungsplans, die zoning ordinance, kannte 18 verschiedene Zonen. Der Plan sollte so unter anderem für Licht und Luft in Wohngebieten sorgen, für Gesundheit und allgemeines Wohlergehen Sorge tragen, »conserving the value of building and encouraging the most appropriate use of land throughout the city«.48 Die verschiedenen Zonen, oder Distrikte, des Bebauungsplans reichten vom Estate District, der für große Anwesen vorbehalten sein sollte, über mehrere Formen der Ein- und Mehrfamilienhaus-Distrikte hin zu verschiedenen Klassen von Gewerbe- und Industriegebieten. Der Bebauungsplan der Stadt, und somit die Erlaubnis für die Nutzung der jeweiligen Zonen, wurde regelmäßig angepasst. Das Beispiel Birmingham zeigt, mit welchen Argumenten die Bewohner der Veränderung des Bebauungsplans ihrer Straßenzüge und der angrenzenden Gebiete widersprachen. Dabei arbeiteten in einigen Vierteln, wie beispielsweise Chestnut Hills, nahezu alle Bewohner als Angestellte oder in freien Berufen. Die Debatten um Änderungsanträge zum hiesigen Bebauungsplan flammten während der fünfziger bis weit in die sechziger Jahre immer wieder auf. Während Stadtregierungen wechselten, blieben die Absender der Eingaben an das Rathaus in mehreren Fällen identisch.49 Zu ihnen gehörte die Lehrerin Frances Callen aus dem Viertel Chestnut Hills, die über Jahre immer wieder für sich und ihre Nachbarn eintrat. In zehn Jahren der Korrespondenz, die sich in den Nachlässen der verschiedenen Bürgermeister Birminghams finden lassen, war es Callens Anliegen, die Schönheit und damit den Status ihrer Wohngegend zu bewahren. Ihr sechs Straßenzüge umfassender Stadtteil im Südosten von Birmingham grenzte an die exklusive Suburb Mountain Brook und den Country Club of Birmingham. Die Straßen waren nicht nach dem Quadratrastertyp der Innenstadt angelegt, sondern schmiegten sich an die Hügel in diesem Teil der Stadt. In den gut einhundert Häusern dieses Quartiers lebten um 1960 Lehrer, Angestellte, Anwälte und Ärzte. Afroamerikanische Familien besaßen hier keine Häuser.
47 Auch Kruse erwähnt eine vergleichbare Einstellung in Atlanta. Weiße Bewohner schilderten sich auch hier, im Gegensatz zu den afroamerikanischen, als Steuerzahler, vgl. Kruse, S. 125–130. 48 Zoning Ordinance: Article 1 – Purpose, 1962, Akte: 264.41.19 BOPA, BPL, AM. 49 Akte: 266.33.11, MOPA, BPL, AM.
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Frances Callens erster größerer Protest richtete sich 1954 gegen einen kurz zuvor gestellten Änderungsantrag zum Bebauungsplan. Dieser sah vor, den Status eines an Chestnut Hills angrenzenden Gebiets zu verändern. Anstelle von Einfamilienhäusern sollte nun auch der Bau von Mehrfamilienhäusern und die Ansiedlung von Gewerbe gestattet werden.50 In einem langen Brief vom 10. Januar 1954 führte Callen aus, weshalb der Einfamilienhaus-Distrikt, der an Chestnut Hills grenzte, seinen Status aus ihrer Sicht beibehalten musste.51 Dass die Forderung der Bewohner Gehör finden sollte, ging schon allein aus ihrem Status als Steuerzahler und alteingessessenen Bewohnern hervor: »Practically all of us on the hill have owned our homes for twenty to thirty years, paying our taxes regularly instead of moving out over the mountain.« Sie unterschied die Bewohner von Chestnut Hills von denen, die ihr Heil bereits in der Flucht über den Berg in die Suburbs südlich der Stadt gesucht hatten. Eine Statusveränderung des angrenzenden Distrikts bedrohte die Lebensqualität der Familien in Chestnut Hills, so Callen. Nicht wenige ihrer Nachbarn planten, in einem solchen Fall in eine der Suburbs zu ziehen, wo noch Wert auf Ungestörtheit gelegt werden würde. Allein weil Callen, wegen ihres Berufs als Lehrerin, das Wohl ihrer Schüler am Herzen läge, wollte sie bleiben. Für ihre Nachbarn, denen das »encroachment« von Supermärkten jedoch zu viel werde, wollte sie dies nicht garantieren. Dabei sollten doch genau solche Bürger, die Steuern zahlten und wählen gingen, der Stadt erhalten bleiben. Nun müsse alles dafür getan werden, so Callen abschließend, das Leben in der Stadt so lebenswert wie das in den Suburbs zu gestalten. Callens Appell in einem zweiten Brief zu diesem Thema an Bürgermeister Albert Boutwell (1904–1967)52 schloss erneut Selbstbeschreibungen von ihr und ihren Nachbarn ein: »We are a quiet neighborhood of professional and business people and of course regard ourselves as good citizens and voters.« Wie auch ihre Nachbarn argumentierte sie mit der Treue der Bewohner des Viertels zur Stadt.53 Selbst steigende Steuern hätten keinen Protest aus Chestnut Hills provoziert. Sollte sich Birmingham nun weigern, den Menschen hier zu helfen, drohte die Stadt zu einer »city of transients and apartment dwellings« zu werden. Sie besäßen als Hauseigentümer ein Recht darauf, vor der Entwertung ihres Eigentums geschützt zu werden.54 Die Familien der »lawyers, doctors, teachers, engineers, religious workers and even business men who have regarded Chestnut Hills as ideal location for their permanent homes« müssten unter den 50 Sie hatte sich in den drei Jahren zuvor mehrmals, mit kleineren Beschwerden, ans Rathaus gerichtet. 51 Frances Callen an Morgan, 10.1.1954, Akte: 266.33.11, MOPA, BPL, AM. 52 Albert B. Boutwell praktizierte seit 1928 als Anwalt in Birmingham und war in mehreren Funktionen auf Staatsebene tätig. 1963 besiegte er Eugene »Bull« Connor bei der Wahl zum Kopf der neuen Stadtverwaltung. 53 Weitere Briefe sind gesammelt in Akte: 266.33.11, MOPA, BPL, AM. 54 »[…] home owners must be protected against the depreciation of our properties s uitable for homes […].«
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Schutz der Stadt gestellt und vor unvorteilhaften Veränderungen bewahrt werden. Schließlich hatten sie ihre langfristigen Darlehn in der Annahme aufgenommen, dass das Viertel und die angrenzenden Gebiete im Bebauungsplan nicht neu deklariert würden. Nun sei es an der Regierung der Stadt, ihre Versprechen gegenüber den steuerzahlenden und verlässlichen Familien von Chestnut Hills einzuhalten.55 Frances Callen berief sich 1954 auf eine geteilte Idealvorstellung einer guten Wohngegend, die sie und Menschen mit vergleichbarem Status verdient hätten. 4.2.1 Das Idealbild des Wohnviertels in den fünfziger Jahren Wie sah eine ideale neighborhood aus Sicht der Mittelklasse aus? Welchen Beitrag konnte der Wohlfahrtsstaat zu einem solchen Ideal leisten? Das Bild des wünschenswerten Viertels bestand in den fünfziger Jahren zunehmend aus Elementen, die vor allem mit der Suburb verbunden wurde. Die Stadt, besonders die Innenstadt, galt als Gegenbild. Zehn Jahre bevor Frances Callen 1954 das erste Mal für den Schutz der Schönheit ihres Viertels eintrat, schilderte Nathan Straus Jr. (1881–1961), als ehemaliger Leiter der United States Housing Authority, die Mythen, welche ideale Wohngegenden umgaben. Als Verfechter des Baus von Mehrfamilienhaussiedlungen bemühte sich Straus, das Faible seiner Landsleute für alleinstehende Häuser aufzuzeigen, zuzuspitzen und so zu unterminieren.56 Der Begriff des Mythos, den Straus hierbei nutzte, tauchte vielfach in zeitgenössischen Beschreibungen idealer Wohnquartiere der vierziger und fünfziger Jahre auf. In der Definition eines zeitgenössischen Wörterbuchs war ein Mythos »a usually traditional story of ostensibly historical events that serves to unfold part of the world view of a people or explain a practice, belief, or natural phenomenon«. Ein populärer Glaube oder eine Tradition, die um einen allgemeinen oder speziellen Gegenstand gewachsen waren und welche die Ideale einer Gesellschaft, oder eines ihrer Teile, verkörperten, ergänzt diese Definition. Dabei war die Nutzung des Begriffs »Mythos« für Phänomene im Bereich Wohnen langlebig. Noch vierzig Jahre nach Straus widmeten sich die Sozialwissenschaftler Judith I. De Neufville und Stephen E. Barton 1987 den »Mythen« der Suburb. In ihrer Untersuchung der populären Bilder von Wohnvierteln bemühen sie sich um eine Erklärung dieser Mythen: »These myths, which may or may not be true in factual sense, are important to the definition of problems because they link public issues to widely accepted ways of understanding the world and to shared moral evaluations of conditions, events, and possible solutions to problems.«57 55 Callen an Morgan, 10.1.1954, Akte: 266.33.11, MOPA, BPL, AM. 56 Er stellte dabei die schematischen Siedlungsprojekte in den Mittelpunkt, nach denen die Suburbs geplant wurden, vgl. Straus. 57 De Neufville u. Barton, S. 181.
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In Anknüpfung an die Erzählung des amerikanischen Idealbildes des yeoman farmer, das unter anderem von Thomas Jefferson (1743–1826) geprägt worden war, galt der Besitz des eigenen Hauses als Eckpfeiler einer amerikanischen Identität. Der Besitz des eigenen Hauses ist nicht das einzige Element im politischen Diskurs der USA, das mit dem Begriff Mythos beschrieben wurde. Es ist jedoch eines, das nachweislich und häufig auftrat. Anders als die Begriffe »Modell« oder »Erzählung« beschreibt »Mythos« weniger, wie etwas auszusehen habe oder ob etwas richtig oder falsch sei. Als einfacher verständliche Version dieser beiden Typen kann ein Mythos sowohl richtig als auch vage sein. Er erlaubte, neue Situationen als Wiederholung bereits bekannter Lagen erscheinen zu lassen. Dies traf etwa zu, wenn die ideale Wohngegend oder eine erstrebenswerte Wohnsituation, in der Vorstellung der Amerikaner, auf dem Land, in der Stadt und schließlich in der Suburb verortet wurde. Neben folkloristischen Erzählungen, wie der Boston Tea Party oder Rosie the Riveter nahmen Mythen wie zum Beispiel jener der frontier, eine integrierende und sinnstiftende Funktion für die amerikanische Gesellschaft ein. Dazu gehörte auch der Mythos um das eigene Haus als Orientierungspunkt und Statussymbol. Dank seines eher diffusen Charakters konnte dieser Mythos je nach Perspektive variieren. So konnte Frances Callen aus Chestnut Hills das ideale Wohnviertel innerhalb der Stadt erkennen, während ihre fortgezogenen Nachbarn dieses in der Suburb zu finden glaubten. Dies führte nicht selten zu Zweideutigkeiten und so zu der Chance, Bestandteile des Mythos umzudeuten oder offenzulassen, wodurch Mitstreiter leichter vereint werden konnten.58 Dazu trug auch bei, dass Mythen sich nur langsam wandelten. So könne in den Augen der schon erwähnten Sozialwissenschaftler De Neufville und Barton eine Geschichte, die einmal ein »productive way to make sense of events, one which applies relevant contemporary values and reflects the best accepted theories at its inception« länger bestehen, als die Probleme, die sie ursprünglich erklären sollte. Genauso wie ein solcher Mythos genutzt werden konnte, um Muster und Verbindungen offenzulegen oder zu definieren, verdeckte er auch Spannungen und Ungerechtigkeiten.59 Damit war er geeignet, eine vereinende Funktion für eine so heterogene Gesellschaft wie die amerikanische einzunehmen. Das tugendhafte Farmleben, dessen Strahlkraft noch im 20. Jahrhundert weithin wahrgenommen und durch Gewalt und Armut in den Innenstädten wohl noch bestärkt wurde, diente als Untermalung des Mythos vom idealen Leben in der Suburb. In den dreißiger Jahren war aus dem yeoman farmer der Bewohner eines eigenen Hauses in der Stadt und kurz darauf in der Suburb geworden. Sein Haus war von Rasen und Büschen umgeben und von denen der Nachbarn abgesetzt. Der Anblick erinnerte an eine Farm. Der ehemalige Präsident Hoover lobte 1952 diesen Zustand als »physical expression
58 Vgl. ebd., S. 183. 59 Vgl. ebd., S. 185.
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of individualism, of enterprise, of independence, and of freedom of spirit.«60 Im gleichen Jahr pries auch die National Association of Real Estate Brokers (NAREB), eine Vereinigung afroamerikanischer Immobilienmakler, das freistehende Haus als »basic way of maintaining a free, stable, and democratic society«.61 Das Ideal der aus alleinstehenden Häusern bestehenden Wohngegend wurde Ende der vierziger Jahren um die Facette der Hygiene bereichert. Ein Beispiel hierfür ist die dreibändige Studie der American Public Health Association (APHA) von 1947: Hierin wurde nicht nur konstatiert, dass noch immer 18 Millionen Wohnungen in den USA über kein Badezimmer verfügten;62 die Public Health-Vertreter betonten besonders, dass Bewohner eine ansteigende Qualität ihres Viertels als zunehmend wichtig wahrnahmen. Dem »declining physical status of communities« begegneten die Meisten hingegen mit zunehmender Furcht. In einem späteren Bericht stellt die APHA 1948 vor, wie Wohnviertel geplant werden konnten, um dieser Angst entgegenzuwirken.63 Auch Miles Colean, städtebaulicher Berater Eisenhowers, sah den primären Wert bei der Beseitigung von Slums nicht in den verbesserten Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen. Der eigentliche Mehrwert, so Colean, lag darin, attraktive Städte für alle Bewohner zu planen. Diese sollten so zu »efficient centers of business and culture and healthful, convenient, and attractive places in which to live« werden.64 Welcher Zusammenhang bestand zwischen dem Zustand einzelner Häuser und dem ganzer Wohnviertel? Weshalb wurde auf beides so großer Wert gelegt? In den Unterlagen der HOLC und der FHA finden sich zahlreiche Verweise auf natürliche und naturgegebene Ursachen als Grundlagen guter Wohngegenden. Diese basierten auf der Vorstellung einer bestehenden und als natürlich empfundenen Ordnung. So hieß es in einer zeitgenössischen FHA-Publikation, dass ein Haus nicht isoliert betrachtet werden könne, sondern als Zelle in einem organischen Ganzen zu verstehen sei. Die HOLC war spätestens Ende der vierziger Jahre zu der Einsicht gelangt, dass »the urban home is not an isolated thing in itself; it is a cell in an organic whole. Physically, a single dwelling is as dependent upon its neighborhood as is a single coral on the entire reef.«65 Die Begutachtung einer Wohngegend wurde seitens der Behörde damit ebenso ernst ge-
60 Zit. n. ebd., S. 188. 61 Zit. n. ebd., S. 186. 62 Die APHA schaltete sich seit 1872 immer wieder in Debatten um Hygienemaßstäbe im öffentlichen Raum ein. Eine deutsche Übersetzung von Public Health lautet Gesundheitswissenschaften. Das Feld umfasst in angelsächsischer Tradition Medizin, Sozialwissenschaften und Stadtplanung. 63 Als Problem wurden von der APHA in erster Linie die Lebensumstände in den Slums der Städte beschrieben. 64 Colean, National, S. 274. 65 Zit. n. Woods, S. 6.
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nommen wie die der eigentlichen Immobilie. Zu einer negativen Bewertung eines Viertels konnte es beispielsweise auch kommen, wenn Konkurrenz in der Nähe vorhanden war. In diesem Fall drohte die Abwanderung der Mittelklasse, wie der Historiker Louis Woods in seiner Untersuchung rassistischer Vergabepraktiken von Hypotheken gezeigt hat.66 Jedoch befanden bereits zeitgenössische Kritiker Bebauungspläne, die auf vermeintlicher Homogenität und Natürlichkeit basierten, für gefährlich. Ihre Anwendung drohte, ethnische, religiöse oder wirtschaftliche Segregation zu begünstigen. Publikationen dieser Zeit sahen damit umgekehrt Homogenitätsbestrebungen als Gefahr für »physical, economic, and social health of the nation«.67 Zu diesen Kritikern gehörte Catherine Bauer. Wohnviertel, neighborhoods, so die einflussreiche Soziologin 1945, waren eine »elemental unit in human environment«.68 In ihrem Beitrag zur Frage, wie die Wohnviertel der Zukunft aussehen sollten, warnte Bauer jedoch allgemein davor, das Feld Planern und Experten zu überlassen. Diese wollten, so ihr Vorwurf, allein am Reißbrett möglichst homogene Viertel schaffen: »The technicians are ready, indeed impatient, to fill out almost any order we choose to give them; but the major decisions cannot be made by the experts.«69 Als negative Beispiele für diese Entwicklungen nannte sie bereits explizit die Hinweise und Vorgaben der FHA und der American Society of Civil Engineers für städtische Bebauungspläne.70 Gegenläufig zu den Homogenitätsbestrebungen dieser beiden Organisationen sollte vielmehr ein Mix der sozioökonomischen Schichten erhalten bleiben. Privilegierte, so Bauer weiter, dürften sich nicht abschotten.71 Doch auch die Soziologin verwehrte sich nicht gegenüber dem Prädikat »natürlich«. Bauer sah die natürliche Mischung als heterogen und nicht darin, dass ein Wohnviertel möglichst nur einer gesellschaftlichen Schicht ein Zuhause bieten sollte. Wie auch ihr Mentor Lewis Mumford forderte Bauer, dass Mix und Proportionen der Gesellschaft sich möglichst in jedem Wohnquartier wiederfinden sollten.72 Die ideale neighborhood war bei Bauer durchmischt von Familien unterschiedlicher Einkommen, Berufe und Herkunftsländer. Wie auch für den deutschen Fall, diagnostiziert von Lutz Raphael, hielten auch in den USA »Begriffe der Humanwissenschaften« Einzug in den Sprachgebrauch und die Denkmuster von Sozialexperten.73 Gesellschaftliche Probleme wurden mit Krankheitssymptomen oder Naturphänomenen verglichen; ihre Überwindung wurde gleichgesetzt mit Genesung und einem gleichsam natürlichen Zustand. 66 Vgl. ebd., S. 7. 67 Vgl. Nenno, S. 257. 68 Bauer, Good, S. 104. 69 Ebd. 70 Vgl. ebd., S. 105. 71 Vgl. ebd., S. 108. 72 Vgl. ebd., S. 111. 73 Vgl. Raphael, S. 231.
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Ein 1954 erschienener Artikel von Mumford untersuchte unter dem Titel »The Neighborhoods and the Neighborhood Unit« das städtebauliche Konzept besagter »Neighborhood Unit«. Als Referenzpunkte nutzte er dabei kontinentaleuropäische Städte, wie Paris, Rom und Venedig, deren Viertel er mit englischen und amerikanischen verglich.74 Zu den zahlreichen planerischen Konzepten, die erstmals in Vorstädten verwirklicht wurden, gehörte auch die »Neighborhood Unit«.75 Mumford betonte dazu, dass Wohnviertel vor allem architektonisch kohärent sein sollten: »From the suburb, as well as from historic quarters of the city, came the notion that the neighborhood should have a certain coherence of architectural expression, both through the general plan and through the individual design of buildings.«76
Als Problem der beginnenden fünfziger Jahre warf auch Mumford die Frage auf, inwiefern die Konzentration von »status and class« wünschenswert war und ob diese Tendenz überhaupt noch aufgehalten werden konnte: »The […] problem is how far the tendency toward status and class affiliation should be permitted – abetted as they have been in recent years in the United States by z oning ordinance and deed restrictions – and how far should the neighborhood, as well as the city, be planned as a mixed community with housing for both upper and lower income groups?«77
Auch Mumford favorisierte die sozioökomische Durchmischung von Wohngegenden, deren Zusammensetzung die der Gesellschaft widerspiegeln sollte. Inwieweit eine solche Durchmischung neuer und bestehender Viertel überhaupt planbar oder gar erfolgreich umsetzbar war, blieb weiter offen. Die Architekturkritikerin und Stadtplanerin Jane Jacobs (1916–2006) gelangte zu vergleichbaren Schlüssen wie Mumford. Ihre Rede von 1956 an der Harvard University bot bereits einen Aufriss zu ihren späteren Erklärungen zur Entwicklung der Innenstädte Amerikas. Sie mündete schließlich in das 1961 erschienene »The Death and Life of American Cities«, welches die Debatten um Zustand und Zukunft der Städte nachhaltig beeinflusste.78 Anders als etwa der Architekt Le Corbusier (1887–1965) verstand Jacobs Städte als Organismen mit eigener Logik und großem Bedarf an Durchmischung von Nutzungsaspekten. Sie lehnte am Reißbrett entworfene Generalpläne zum Umbau bestehender Quartiere nach den Idealen von Wirtschaftlichkeit und 74 Siehe Mumford, Neighborhoods. 75 Andere waren »the open plan, the superblock, the differentiation of pedestrian and wheeled traffic, the parkway, the shopping center«, ebd., S. 260. 76 Ebd., S. 261. 77 Ebd., S. 267. 78 Die Rede von 1956 war Grundstein für den daraufhin 1958 erschienenen Artikel »Downtown Is for People« in der Zeitschrift Fortune. Zur Wirkungsgeschichte ihres Werks siehe das Vorwort zu Jacobs.
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Rationalität ab, da sie der natürlichen Konstitution von Städten widersprächen. Stattdessen favorisierte auch sie natürliche Entwicklungen. Die Homogenisierung ganzer Viertel lehnte sie vor allem mit dem Verweis auf »aestethic difficulties« ab.79 Ästhetische Aspekte bewegten auch den Künstler Jay Jacobs, der im August 1956 in seinem dicht und geschickt formulierten Schreiben an die Stadtoberen Birminghams zusammenfasste, weshalb sich sein Viertel gegen eine Änderung des Bebauungsplans wehrte. Jacobs’ Forderungen basierten auf dem Selbstverständnis, Teil der Mittelklasse zu sein. Dies machte sich nicht nur an seiner schriftlichen Ausdrucksweise und der Artikulation seiner Interessen, sondern auch an seiner selbstbewussten Einleitung fest: So stellte er sich in seinem Brief mit dem nonchalanten Verweis auf seine Nennung im »Who is Who« vor.80 Mit Jacobs legte ein Mitglied der Mittelklasse Einspruch ein. Zunächst wehrte er sich gegen die Herabstufung seines Wohngebiets. Besonders störte ihn, dass der Antrag zur Änderung des Status seines Viertels offenbar eingereicht wurde, um den Bau eines Apartmenthauses zu ermöglichen: »Rezoning of this area […] will deflate property values. That is self evident.« Dem ersten Mehrfamilienhaus, so Jacobs, würden wohl bald weitere folgen. Die Folgen lägen auf der Hand: »[…] it would be the beginning of the end of this part of town, drive people out of this area to [the suburb] Mountain Brook, mean lost revenue for the city, change the political picture. […] I should know quite a lot about beauty. I say that a large apartment in this area of private homes would be very ugly.«81
Damit speisten sich Jacobs’ Argumente zur Beibehaltung der besten Stufe seines Viertels im Bebauungsplan aus zwei Quellen. Zum einen sollte der Wegzug von Einwohnern einer noch immer erstklassigen Gegend in die Suburb Mountain Brook verhindert werden. Andererseits sollte die Schönheit des Viertels bewahrt werden. Um die Schönheit ihres Quartiers, und ihre Ersparnisse, ging es auch der Familie Brown. Sie und der Garden Club der Stadt wandten sich Anfang 1959 an die verantwortliche Stelle für den Bebauungsplan von Birmingham, das planning board: »We wish to join our voices with those of the many civic minded individuals and civic organizations, who are protesting to a mining operation within our city, that will mar its beauty.« Diese Schönheit, stellte einen »treasure to conserve« dar. Als »sacred trust«, musste die Schönheit der Wohnviertel, wie auch die naturbelassenen Wälder des Staates geschützt und an die
79 Siehe ebd., S. 290–312. 80 Jay Jacobs war der Maler des offiziellen Portraits von Präsident Truman, wofür er 3.000 Dollar erhalten hatte. Es hängt heute im Senat, vgl. R. Smith u. B. Gill, Comment, in: The New Yorker, 16.2.1946, S. 23. 81 Jay Jacobs an Morgan, 23.8.1956, Akte: 266.33.13, MOPA, BPL, AM.
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zukünftigen Generationen weitergegeben werden.82 Nicht nur der Garden Club, dem sich eine gewissermaßen natürliche Nähe zu pastoralen Pathosformeln unterstellen ließ, bezog sich auf die gefährdete Schönheit.83 Eine ebenso typische Schilderung war die des Ehepaars Wells, das im Namen seiner Nachbarn an den Stadtrat appellierte. Es hob den Militärdienst der Männer, den Bau ihrer Häuser, die Pflege ihrer Gärten, die Unterstützung von Schulen, Kirchen und wohltätigen Zwecken sowie die gezahlten Steuern hervor. Es lohnt sich, hier einen langen Auszug des Briefes wiederzugeben. Der Aufbau war typisch, die Argumentation glich jener, die in Briefen zur Rentenreform wenig früher an das Curtis Committee84 gerichtet worden war: »For five long years we lived under orders of one of the Armed Services. We lived how and where we could, our families often separated and so it was natural when we were finally free to make homes we chose a new and quiet neighborhood. We built or bought homes, began the rearing of our families, planted lawns, shrubs and trees but we also did other worthwhile things for we supported churches and schools, worked on and contributed to many charities, paid taxes, voted for officials of whom we could be justly proud and many of our men worked with the Reserve Units of our Armed Forces, scarifying their leisure in order to help insure the good and peaceful living which all good citizens desire. […] In addition to the physical damage to all structures in the area we want to call attention to the fact that the operation will result in the release of large amounts of dust into the atmosphere which consistutes [sic] contamination of the air.«85
Nachdem die Stadt bereits gegen die Verschmutzung durch Rauch vorgegangen sei, sollte sie nun nicht der Verschmutzung durch Staub Vorschub leisten. Der Aspekt der verdienten Hilfe, die man von den Vertretern der Stadt erhalten soll, wenn man zur Mittelklasse gehörte, ließ auch die Interessen der Stadt hinter den eigenen zurücktreten. Die geplante Mine hätte der Stadt zwar Steuer einnahmen und Arbeitsplätze gesichert. Die drohende Verschmutzung wurde dafür nicht akzeptiert. In den Worten von Familie Leech vom März 1959: »We protest with all the others to the depreciation of our home and ruination of peace, quiet, cleanliness and beauty of our neighborhood. We built our home during the year 1929 and have protected and upheld our community. […] We are retired and want to live peacefully.«86 82 »[…] must be preserved like our forests, to be passed on to future generations.« Garden Club an Planing Board, 19.1.1959, Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM. Das Schreiben war Teil einer breiten Bewegung gegen die Umwidmung eines Stücks Land, in dem die Firma Republican Steel eine Mine bauen wollte. Zahlreiche weitere Schreiben finden sich in der Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM. 83 Andere richten ihren »vigorous protest« gegen die irreparable Zerstörung der »scenic beauty«, vgl. Mr. u. Mrs. William F. Brown an Morgan, 10.2.1959, Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM. 84 Siehe Kapitel 3. 85 Mr. u. Mrs. Jefferson L. Wells an Morgan, 10.2.1959, Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM. 86 Mr. u. Mrs. R. D. Leech an Morgan, 2.3.1959, Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM.
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Statt der Mine oder anderer diskutierter industrieller Tätigkeiten sollten eher neue Stadtviertel geplant werden, befand James Ricks in der gleichen Welle von Protestschreiben: »We would have the paradox of beautiful Birmingham spread in the valley before us and the dust and noise and gaping holes of a strip pit at our back doors. We have many wonderful neighbors and would welcome more. Most of this property is suited for home sites. Why not develop it for this purpose?«87
Wie auch bei der Beseitigung der Slums stellten beim Schutz von Wohngegenden mit Einfamilienhäusern die Wünsche der Mittelklasse eine Triebfeder dar. Sie engagierte sich für die Qualität ihres Viertels nach ihren Vorstellungen. Zwar übten auch andere gesellschaftliche Schichten Einfluss auf die Stadtplanung und das Miteinander in der Stadt aus. Die Mittelklasse verfügte aber über eigene Wege politischer Kommunikation. Dies sicherte ihr einen größeren Erfolg im Austausch mit wohlfahrtsstaatlichen Behörden. Diese Sicht vertrat auch der 1927 in Köln geborene und später vor den Nazis in die USA geflohene Soziologe Herbert J. Gans.88 Er erforschte zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Leben amerikanischer Arbeiter italienischer Abstammung. In seinem Standardwerk »The Urban Villagers« hat Gans 1962 die gesellschaftliche Lage dieser Gruppe mit den Lebensbedingungen in ihren Vierteln in Beziehung gesetzt. Gans war einer der schärfsten Kritiker von Stadtplanungen, die auf szientifischen Standards basierten. Er wies in mehreren Feldstudien nach, dass die als nicht funktionsfähig wahrgenommenen Slums durchaus intakte Strukturen aufwiesen. Diese wichen jedoch von den Idealen derer ab, welche die Planer präferierten oder wurden schlicht nicht wahrgenommen. Sie schienen somit lediglich aus der Perspektive von Behörden und der Mitteklasse nicht zu funktionieren: »[…] neighborhoods come to be described as slums if they are inhabited by residents who, for a variety of reasons, indulge in overt and visible behavior considered undesirable by the majority of the community. […] Consequently, the planning reports that are written to justify renewal dwell as much on social as on physical criteria, and are filled with data intended to show the prevalence of antisocial or pathological behavior in the area. The implication is that the area itself causes such behavior, and should therefore be redeveloped.«89
Der Raum selbst wurde zum Problem erklärt. Daher sollte auch der Raum selbst verändert werden. 1962, im gleichen Jahr, in dem Gans’ Thesen veröf87 James W. Ricks an Morgan, 2.3.1959, Akte: 266.33.16, MOPA, BPL, AM. 88 Von 1950 bis 1953 war er selbst als Planer in verschiedenen Firmen tätig. Außerdem arbeitete er, vor seiner akademischen Karriere am Massachusetts Institute of Technology und an der Columbia University, für die HHFA. 89 Gans, S. 308.
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fentlicht wurden, erreichte Bürgermeister Arthur J. »Art« Hanes (1916–1997)90 in Birmingham ein Brief, in dem sich ein Ehepaar gegen die Umwidmung eines Gebiets wandte, welches an ihr Viertel grenzte. »This is to protest against rezoning […] to R-5 Multiple Dwelling District. […] We in this section desire this location, because most homes are home-owned. We like it because it is an older settlement. We try to keep our property ›up‹. We are trying so hard to keep an outsider from depreciating our property. It has been stated that there are apts [sic] in near by [sic] area. This is only more the reason we would like to keep our homes in a home-own section. […] I feel like the City of Birmingham needs to keep its residences desirable for home-owners, and not encourage people to move out of city limits. There are sections where apartments are nice. I haven’t anything against apts. or its tenants. But I think they should be build in a section where people are (in most cases) dwelling temporary. There has been a number of improvements in this area, including a brick-residence being built, now, across street from this section. […] This is to say I am very concerned.«91
Die Befürchtung, dass das Viertel nicht mehr »up« gehalten werden konnte und Qualität einbüßen würde, gründete in der fast schon als Drohung verstandenen Ankündigung in der Nähe »apts«, also Apartments, zuzulassen. Erneut wurde die Nähe zu Mehrfamilienhäusern als Bedrohung der Qualität und des Wertes des eigenen Viertels, des eigenen Raums, verstanden. 4.2.2 Chestnut Hills zu Beginn der sechziger Jahre Wie schon am Beispiel der Pläne der FHA zum No Man’s Land gezeigt, wuchs in den Behörden Washingtons der Wunsch, mehr Menschen als bislang zu helfen. Für die Mittelklasse bedeutete dies, dass sie auch nach Ende der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs auf Unterstützung durch den Bund zählen konnte. Nun rückte auch das Wesen von Stadtvierteln in den Blickpunkt, wenn es um die Gestaltung von Hilfe ging. Anspruch trat an die Seite von Bedürfnis. Zu den Eigenschaften einer idealen Wohngegend zählten nach dem Zweiten Weltkrieg eine homogene Einwohnerschaft, Schönheit und die Abwesenheit von Mehrfamilienhäusern. Dies galt besonders in Chestnut Hills, von wo aus sich Frances Callen sieben Jahre nach ihrem ersten Schreiben 1961 erneut per Brief im Rathaus meldete. Diesmal sendete sie Bürgermeister Boutwell eine Sammlung eigens zusammengestellter Zeitungsausschnitte. Die aus ihrer Sicht tragischen Ergebnisse des Vordringens von Geschäftsinteressen in Wohngebiete 90 Hanes war von 1961 bis 1963 Bürgermeister. Als ein Referendum im Mai 1963 die Regierungsform der dreiköpfigen City Comission beendete, verlor Hanes den Posten. 1968 vertrat er für eine kurze Zeit James Earl Ray, den Mörder von Martin Luther King jr. als Anwalt. Zur spektakulären Verfolgung Rays siehe Sides. 91 Mr. u. Mrs. C. Jonn an Bürgermeister Hanes, 20.7.1962, Akte: 269.7.2, HAPA, BPL, AM.
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schildert sie mithilfe des intensiv markierten und kommentierten Artikels »The Ugly America« aus dem Horizon Magazin vom Mai 1961.92 Darin wurde unter anderem das Ende der Schönheit des Landes prophezeit, sollte der Expansion rein geschäftlicher Interessen nicht Einhalt geboten werden. Immer wieder stand damit auch der Schutz von Schönheit und Idylle im Zentrum, wenn Callen die Unterstützung der Stadtverwaltung einforderte. Allein war sie damit nicht. In der Zeitschrift hieß es: »Regarding the question of whether or not beauty can be legislated, the Supreme Court has made its position clear: ›The concept of the public welfare is broad and inclusive,‹ it stated in a decision not long ago. ›The values [public welfare] represents are spiritual as well as physical, aesthetic as well as monetary.‹«93
Daher sollte auch unbedingt die Schönheit von Wohngegenden mit Mittelklassefamilien erhalten bleiben. Schließlich, so kommentierte Callen, investierte Washington auf der ganzen Welt große Summen in »freedom, health, and safety of the average citizen«.94 Verbunden mit den Argumenten des beigelegten Artikels sollte auch der Schutz der Schönheit von Wohngegenden unter diese Ziele fallen. Callens Brief zeigte auch, wie die Mittelklasse in der Einforderung von Unterstützung ärmere und reichere Gruppen anbrachte. Nicht selten wurden extreme Beispiele für eine Benachteiligung der Mitte angeführt. So auch bei Callen, die hervorhob, dass es im texanischen Houston, einer der größten Städte des Landes, bis dato keinen Bebauungsplan geben würde. Dies sei durch eine Gruppe reicher Texaner wegen geschäftlicher Interessen verhindert worden. Bezeichnenderweise und zum großen Unmut von Callen lebte diese Gruppe vermögender Geschäftsleute in einer »delightful suburban enclave called River Oaks, which is just about the most rigidly controlled and most rigidly zoned community anywhere in the United States.« Daher sei es nun an der Zeit wütend zu werden auf die »vulgarians who are befouling our land to make a fast buck faster. The time is long overdue for Americans to become outraged at the things that are being done to our cities and countrysides in the name of our ›way of life.‹«95
Im Jahr 1961 war Frances Callen wütend auf reiche Mitbürger, die von staatlichen Regulierungen ausgenommen schienen. Dass diese es zudem verständen, Regeln und Vorschriften zu ihrem Nutzen einzusetzen, verstärkte ihren Zorn. Die Lehrerin Callen wehrte sich damit gegen zwei Aspekte, die sie in ihrem 92 Das Original entstammt dem Horizon Magazin, Mai 1961, S. 4–19. Der einflussreiche Roman »The Ugly American« von Eugene Burdick und William Lederer, auf den der Titel Bezug nahm, erschien 1958. Die Verfilmung mit Marlon Brando folgte 1963. 93 The Ugly America, Horizon Magazin, Mai 1961, S. 4–19, S. 7. 94 Callen an Boutwell, 15.6.1961, Akte: 264.26.6, BOPA, BPL, AM. 95 The Ugly America, S. 15.
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Brief als »unfair« und nicht nachvollziehbar charakterisierte. Einerseits half die Regierung Armen und verwendete dabei Steuergelder. Andererseits schützte die Regierung zur gleichen Zeit die geschäftlichen Interessen weniger reicher Amerikaner. Dass die Sphäre zwischen diesen beiden von staatlicher Hilfe, beziehungsweise mit wohlwollender Vernachlässigung, bedachten Gruppen, vergessen werde, zeige sich an der Gleichgültigkeit des Rathauses gegenüber der bedrohten Schönheit von Chestnut Hills. Armen und Reichen würde geholfen und Menschen wie ihr nicht. Die Wut der Bewohner von Chestnut Hills traf jedoch nicht nur Geschäfte und andere gewerbliche Nachbarn. Auch Mehrfamilienhäuser sollten nicht in Sichtweite errichtet werden.96 Murray Alley, ein Nachbar von Callen, schrieb im Oktober 1963, dass die Vorzüge eines geplanten Neubaus lediglich den Vermieter profitieren ließen, während alle anderen – »my neighbors, myself« – wie auch die gesamte Stadt, darunter leiden müssten. Schließlich sei die Region schon immer von Einfamilienhäusern geprägt. Sobald die geplante Mehrfamilienhaussiedlung mit ihren 120 Wohnungen errichtet sei, würden die Immobilienpreise der ganzen Region fallen und diese »less desirable« werden. Im Gegensatz zu den bestehenden Plänen sollte man stattdessen eine weitere Einfamilienhaus-Siedlung erwägen: »This property is ideally suited for single-family residential development and would make a beautiful subdivision.«97 Gegen die Umwidmung eines angrenzenden Grundstücks sprach sich auch Florence Kennedy am 4. Februar 1963 aus. Die in der Nähe geplante Tankstelle wäre ein Menetekel für das Areal, in dem nur »stable citizens« wohnen würden. Ihr Quartier sei »now one of the few areas in the city of Birmingham which attracts residents who are stable citizens of moderate income.« Die Tankstelle würde jede Harmonie und Ruhe hier zerstören.98 Als drei Jahre später, 1966, erneut der Versuch gestartet wurde, eine Tankstelle in Chestnut Hills zu errichten, rief dies noch einmal die mittlerweile pensionierte Lehrerin Frances Callen auf den Plan. Bürgermeister und Stadtrat sollten den Bau aus mehreren Gründen verhindern. Schließlich hatte man Mühen, Zeit und Geld investiert, um die Gegend zu einer respektablen Wohngegend zu machen. Noch immer appellierte Callen mit dem Ansehen und der Attraktivität ihres Viertels. Selbst die Birmingham News kommentierte den aktuellen Fall der geplanten Tankstelle in der unmittelbaren Nähe des Hauses von Frances Callen, der sich nun mit Unterbrechungen bereits über zwei Jahre hinzog.99 Das betreffende Grundstück war im Jahr zuvor bereits der Umwidmung im Bebauungsplan entgangen. Doch nun sollte es als Gewerbegebiet deklariert werden. Zur Begründung hatte das Rathaus angegeben, dass es sich bei besagtem Grundstück um »an eyesore« handelte, das zudem lange ungenutzt brach lag. Die Stadt hätte außerdem, so einer 96 L. Murray Alley an Boutwell, 15.10.1963, Akte: 264.26.4, BOPA, BPL, AM. 97 Ebd. 98 Florence Kennedy an Hanes, 4.2.1963, Akte: 269.7.2, HAPA, BPL, AM. 99 Vgl. »Chestnut Hill«, BN, 19.8.1966.
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ihrer Vertreter, großes Interesse daran, durch die Umwidmung Steuereinnahmen zu generieren. Auch der Herausgeber der Birmingham News meldete sich zur geplanten Tankstelle zu Wort. Er gestand der Stadtverwaltung in einem Editorial wohl zu, dass der »course of needed progress involving changing economic and sociological patterns of a community may well dictate transition of declining residential areas to more logical uses«. Gerade in Chestnut Hills sei dies jedoch nicht angebracht. Schließlich bestünde dieses Viertel aus »106 property owners who reside with their families in a well-kept neighborhood combining both mellowing and relatively new homes«. Die Bewohner verfügten damit über die stärkeren Argumente. Außerdem warnte die News vor einer Kettenreaktion, sobald das erste Grundstück im Viertel gewerblich genutzt würde.100 Die Schönheit von Chestnut Hills bestätigte wenig später James Jacobsen, ein Leser besagten Editorials in der Birmingham News, der stolz festhielt »that ›Money‹ can’t buy our paper«. Er sei selbst in Chestnut Hills aufgewachsen. Zum Einstieg widmete Jacobsen die komplette erste Seite seines Schreibens seinen Erinnerungen an das Elternhaus und die vielen Renovierungen und Instandhaltungen, die stets mit viel Liebe vorgenommen worden waren: »My family is not the only one in Chestnut Hills that take pride in their homes. Just take the time to drive up Lakeview Crescent and look at it’s [sic] tree lined streets and yards. The neighbors are still in the best you’ll find anywhere. They go to each other in need, and welcome newcomers with open arms and friendship. […] What about our families that have their money tied up in their homes – Don’t They Count?«101
Die rhetorische Frage Jacobsens, ob die verlässlichen Nachbarn aus Chestnut Hills nicht zählten, verweist einerseits auf eine Kontinuität zu wohnungspolitischen Überlegungen des Bundes wie etwa jene der FHA zum No Man’s Land von 1944/45. Andererseits ließ sie bereits erahnen, dass sich eine vermeintlich vernachlässigte Mehrheit politisch mobilisieren lassen würde, wenn ihre Interessen nur wahrgenommen würden. Eine Woche zuvor hatte sich Bethel Webb Withson mit ähnlichen Ansichten an den Bürgermeister gewandt. Als Einwohnerin von Chestnut Hills und Steuerzahlerin in Birmingham hätte sie jedes Recht, sich zu beschweren. Anders als die reichen Unternehmer, die es nicht mehr in der Stadt gehalten hatte, verdienten die Bewohner von Chestnut Hills, dass man ihre Wünsche respektierte: »We do not want to be forced to go out into the suburbs to join the myriad of ungrateful children who greedily drain our Mother City each day and at night take home their gains to spent elsewhere but return each morning to fill their sacks again.«
Weiter beschwerte sich Withson, dass keiner derer, die nun gewerbliche Interessen in Chestnut Hills verfolgten, während der vergangenen zwölf Jahre
100 Vgl. ebd. 101 Leserbrief James E. Jacobson, BN, 26.8.1966.
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Steuern hier gezahlt hatte.102 Das Recht der Steuerzahler von Chestnut Hills überwöge demnach das Interesse der Tankstellenbetreiber. In seinem Brief vom 19. August 1966 lobte ein Nachbar von Callen das Viertel ausdrücklich. Für ihn war dessen Schönheit erst vor kurzem Anlass gewesen, hier ein eigenes Haus zu bauen. Als Angestellter beim hiesigen Universitätskrankenhaus war er seinen Nachbarn dankbar, dass sie die Gegend in der Vergangenheit vor den unheilvollen Konsequenzen einer Neubewertung als Gewerbegebiet bewahrt hatten: »[…] they also assured the continuance of the good reputation and property value by their efforts in keeping the area in a particular zoning category. […] We are all for progress. Rezoning, on the other hand, can potentially do much damage to one of the finely established areas of Birmingham and nullify years of effort on the part of many people.«103
In der gleichen Woche meldete sich auch wieder Frances Callen im Rathaus. Obwohl sie in den zwölf Jahren zuvor immer wieder die Interessen von Chestnut Hills gegenüber dem Rathaus vertreten hatte, leitete sie ihr Anliegen recht bescheiden ein: »I have appealed to you many times before in behalf of the welfare of this city, its schools, its teachers. Never did I believe I would have to write to elected officials to save the homes of the people who put them in office.«104
In diesem letzten Brief, der sich von ihr in Birminghams Stadtarchiv finden lässt, beanstandete Callen, dass es nun erlaubt sei, in Chestnut Hills Häuser aller Preiskategorien zu errichten. Sie selbst hatte damals noch einen bestimmten Wert einhalten müssen. Doch nun drohte die Attraktivität von Chestnut Hills vollends verloren zu gehen. Da es in der Stadt nur noch wenige ehrbare und schöne Viertel wie ihres gäbe, wäre es verwerflich, wenn hier nun preiswerte Häuser errichtet werden dürften oder das Gebiet in ein gewerbliches umgewandelt werden dürfte: »This is the opposite of progress to drive good citizens, the backbone of Birmingham, to the suburbs to bring up their children. To whom shall we be able to look for leadership and support? Having driven the good people out, how shall we ever win them back? […] We oldsters bought in the 20’s […] with the restriction that all homes had to be of a certain value. We paid premium prices for these lots zoned res. districts. […] Yours ›truly‹, Frances Callen.«105
Die Argumentation von Callen war kein Einzelfall. Familien aus der Mittelklasse appellierten in meist gleichen Bahnen, wenn es ihnen darum ging, Unterstützung zu erhalten. Zunächst wurde betont, nicht auf Hilfe angewiesen zu 102 Bethel Webb Withson an Boutwell, 4.8.1966, Akte: 264.25.42, BOPA, BPL, AM. 103 A. Harry Germagian an Boutwell, 18.8.1966, Akte: 264.25.42, BOPA, BPL, AM. 104 Callen an Boutwell, 16.8.1966, Akte: 264.25.42, BOPA, BPL, AM. 105 Ebd.
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sein. Dann folgten Verweise auf den eigenen Militärdienst und den Status als Steuerzahler. Die Petitionen, die sich gegen die Umwidmung von Chestnut Hills im Bebauungsplan wehrten, zeigen, wie die Mittelklasse für ihre Interessen gegenüber der Stadtverwaltung eintrat und was sie schützen wollten. Sie sahen sich als Steuerzahler und verwiesen auf die Vorteile, die Menschen hatten, die ärmer aber auch reicher waren. Die große zeitliche Spanne von Callens Briefen zeigt auch Entwicklungen in der Wahrnehmung der Mittelklasse von städtischer Wohnungspolitik und damit dem Wohlfahrtsstaat. Ihre Appelle und die ihrer Nachbarn waren kein Einzelphänomen. Zur gleichen Zeit gewann im ganzen Land auch die Umweltbewegung an Moment. Mehr Freizeit, mehr Wohlstand aber auch das Bedürfnis, in der Natur Sport zu treiben, stärkten das Interesse an einer unbelasteten Umwelt.106 Der Historiker Andrew Hurley hat mit seiner Untersuchung von Environmental Inequalities ein Schlaglicht auf die Vorstellungen einer weißen Mittelklasse und ihrem Ideal ihrer unmittelbaren Umwelt geworfen. Sie sehnte sich nach den Merkmalen des Vororts: frische Luft, rolling hills, und offene Räume.107 Frances Callen und ihre Nachbarn setzten Birminghams Rathaus aus der Stadt heraus unter Druck, wenn sie etwa die Ansiedlung von Gewerbe oder Mehrfamilienhäusern erschwerten. Dabei verwiesen sie immer wieder darauf, dass viele die Stadt bereits verlassen hatten, um in die Suburbs zu ziehen. Birminghams Bürgermeister konnten mit dieser Drohung unter Druck gesetzt werden.
4.3 Neue Steuern für die Mittelklasse der Suburbs: Die occupational tax von 1964 Steuergesetzgebung und Wohnungspolitik berührten sich in den USA auf nationaler und lokaler Ebene.108 Besonders im Verhältnis der Mittelklasse zum Wohlfahrtsstaat lassen sich Steuern als eine Querschnittkategorie lesen. Dabei können zwei Arten des Zusammenspiels unterschieden werden. Zum einen bargen steuerliche Vorteile seit Einführung der bundesweiten Einkommensteuer 106 Vgl. Hurley, Environmental, S. 8. 107 Vgl. ebd., S. 46–47. 108 Als 1943 der Einzug von Einkommensteuern effizienter gestaltet werden sollte, schlug das Finanzministerium vor, die Steuern direkt an der Quelle und quartalsweise einzuziehen. Dies war bereits während des Bürgerkriegs sowie zwischen 1913 und 1915 getestet worden. Schon 1911 hatte Wisconsin ein System entwickelt, um Informationen zum Einkommen bei den Arbeitgebern zu erheben. Um dieses System zu testen, begannen die Steuerbeamten 1943, die Daten direkt bei den Unternehmen zu erheben. Als Vorbild dienten dabei die Social Security-Beiträge. Edwin E. Witte hatte als Leiter der Kongressbibliothek in Wisconsin Erfahrungen mit diesem System gesammelt. Er war später Teil des Gremiums, das Roosevelt 1935 beim Entwurf des Social Security Acts zuarbeitete, vgl. Brownlee, S. 94–95.
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im Jahr 1913 Anreize zum Bau eines Hauses.109 Zum einen konnten Zinsen, die neben der Tilgung einer Hypothek gezahlt wurden, von der Einkommensteuer abgesetzt werden. Zum anderen hingen die Höhe und Art der Besteuerung vom Wohnort ab. Dazu gehörte, dass einige Bundesstaaten eher auf die Erhebung von Grundsteuern (sog. ad valorem taxes) bauten und andere Einkommens- oder Verbrauchssteuern mehr Gewicht einräumten. Auch weil Alabama nach Mississippi, Arkansas und South Carolina die niedrigsten Einkommensteuern erhob, war man zu einem Großteil auf die Einnahmen aus der Grundsteuer angewiesen. Deren Anstieg beklagte wiederum das landesweit erscheinende Real Estate Tax Bulletin vom 15. Dezember 1966. Die Grundsteuer betrug in den USA durchschnittlich 356 Dollar pro Jahr und Familie; in Birmingham lag sie mit 140 Dollar dagegen gerade einmal bei vierzig Prozent davon.110 Die Sicherung eines ausreichend hohen Budgets wurde in Alabama allgemein weiter durch die Praxis des earmarking erschwert. Die Erträge neuer Steuern wurden konkret festgelegten Verwendungszwecken zugeordnet und flossen nicht in den allgemeinen Haushalt.111 Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die einzelnen Staaten und die lokalen Verwaltungen hatten das Recht, Steuern zu erheben. Dies führte bei genauerer Betrachtung dazu, dass mitunter Einkommensteuern an verschiedene administrative Ebenen gezahlt werden mussten. Das half Birmingham jedoch zunächst wenig. Die Stadtverantwortlichen sahen sich mit dem Rücken zur Wand. 4.3.1 Die Einführung und Abschaffung einer occupational tax in Birmingham Als Birminghams vergleichsweise geringe Steuereinnahmen durch die Abwanderung von Familien mit mittleren Einkommen während der fünfziger Jahre weiter zurückgingen, erhob das Rathaus ab 1964 eine neue Steuer. Die sogenannte occupational tax wurde allein Pendlern auferlegt. Ihre Einführung wurde nach langen Debatten am 21. Januar 1964 beschlossen. Bereits einen Monat später wurde die occupational tax jedoch zugunsten einer städtischen Umsatzsteuer zurückgenommen. Die Verabschiedung der occupational tax in Birmingham war ein Kulminationspunkt zweier Entwicklungen. Einerseits war sie ein Zeichen der Verschränkung der städtischen Finanz- und Wohnungs politik. Andererseits war ihre Einführung ein Versuch, die aus der Perspektive 109 Zum Beispiel der Home Mortgage Interest Deduction siehe Kapitel 5 dieser Arbeit. 110 Den ersten Rang belegte Boston (685 Dollar), Birmingham lag auf Rang 89, nur gefolgt von Miami (117 Dollar), Winstead, Director of Finance, an Bürgermeister Boutwell, 21.12.1966, Akte: 264.22.22, BPL, AM. 111 Kein anderer Staat nutzte diese Vorgehensweise in vergleichbarem Umfang wie Alabama. Zu Ende des 20. Jahrhunderts waren 87 Prozent der Steuereinnahmen derartig »markiert«. Den zweiten Platz nahm in dieser Statistik Nevada ein (65 Prozent). Der bundesweite Durchschnitt betrug 22 Prozent.
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Birminghams geflohenen Steuerzahler aus der Mittelklasse zu bestrafen und zur Rückkehr in das Steuersystem der Stadt zu zwingen.112 Wenn um 1960 die Abwanderung der Mittelklasse besprochen wurde, bestand die größte Furcht der Stadtoberen in sinkenden Einnahmen. Das traf besonders Birmingham, wo kein Ausgleich durch andere Einnahmen erkennbar war. Der Anteil an den Einkünften durch die ad valorem tax kompensierte nicht, was durch den Wegzug weiter Teile mittlerer Einkommensschichten verloren ging. Diese Steuer wurde durch das County erhoben und anteilig an die Gemeinden verteilt. Der Anteil der Steuereinnahmen, der aus der Besteuerung von Grund und Boden resultierte, lag in Jefferson County in den Jahren von 1938 bis 1958 nie unter 64 Prozent. Parallel stiegen zwar die Einnahmen aus Einkommensteuern. Sie stellten dennoch im gleichen Zeitraum nie mehr als ein Fünftel der Einkünfte dar.113 Gleichzeitig machte die Verfassung Alabamas die Erhebung bestimmter Abgaben durch die Städte nahezu unmöglich. Die Episode um die Einführung der occupational tax steht damit beispielhaft für die Versuche Birminghams, neue Einnahmen zu generieren aber auch für die Streitigkeiten zwischen der Stadt und den umliegenden Gemeinden. Letztere waren bewohnt von Familien, in denen meist der Vater mit dem Auto zur Arbeit in die Stadt und abends wieder nach Hause fuhr. Damit erfüllten diese Familien in diesem Aspekt ziemlich genau die Vorstellungen, welche die Planer von Cahaba Village während der Großen Depression entworfen hatten.114 Die neuartige occupational tax belegte durch ihre Kreativität die Not der Stadtverantwortlichen Birminghams. Schon im Frühling des Jahres 1959 empfahl ein befreundeter Rechtsanwalt des Bürgermeisters James W. »Jimmy« Morgan (1891–1971), eine »occupation tax« einzuführen. So sollten nicht nur die Kassen der Stadt gefüllt, sondern auch Druck auf die Suburbs ausgeübt werden, sich der Stadt anzuschließen. Denn die Steuer sollte nur Menschen auferlegt werden, die in der Stadt arbeiteten, hier aber nicht wohnten.115 Doch nicht nur Vertraute des Bürgermeisters drängten ihn, sich für eine solche Steuer stark zu machen. Zahlreiche anonyme Briefe zum gleichen Thema erreichten das Rathaus. Ein Absender, der mit »A Birmingham Taxpayer« unterzeichnete, gab Morgan klar zu verstehen, was er von den gescheiterten Annexionsversuchen der Vergangenheit hielt:
112 Die Abgabe, die allen Beschäftigten auferlegt werden sollte, die nicht innerhalb Birminghams wohnten, und daher ihre Steuern nicht an die Stadt entrichteten, wurde unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt. Hier soll aus Gründen der Einheitlichkeit »occupational tax« verwendet werden. Dieser Begriff findet sich am häufigsten in den Nachlässen der Bürgermeister und in Zeitungsartikeln zu diesem Thema. 113 Dafür stieg jedoch zum Beispiel der Anteil der Kfz-Steuer zwischen 1938 und 1958 um fast 900 Prozent. 1958 betrug ihr Anteil an den Einnahmen 8,2 Prozent, vgl. Birmingham’s Committee of 100. 114 Siehe Kapitel 2. 115 John Ike Griffith, Rechtsanwalt, an Morgan, 14.5.1959, Akte: 266.3.9, MOPA, BPL, AM.
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»Anyone more than a dozen years old has lived through enough of these spells of ›Aw don’t you want to come in with us‹ invitations from Birmingham to Homewood, Fairfield, etc. And, needless to say, we are getting a little weary of it.«
Statt die Bewohner besagter Suburbs um ihren Beitritt in das Stadtgebiet zu bitten, führte der »Steuerzahler« fort, sollten die Birminghamians über diese Frage entscheiden: »Why hasn’t someone thought of asking the real people concerned about it? Instead of having them vote on it get the people of Birmingham to vote whether they want them to continue to hog their parking places, crowd the theaters, and tear up the streets, and use the many facilities of Birmingham for free. I propose […] to tax each wage earner living outside the city limits […] and make them pay somewhat of a franchise tax to work in Birmingham. Then these outlying voters would come off of that ›What you got to offer me‹ stand of theirs. Sincerely, A Birmingham Taxpayer.«116
Dass die Suburbs bestraft werden sollten, befand auch ein Unternehmer aus Mountain Brook, der sich als unfreiwilligen Einwohner verstand. Schließlich hatte er sich gegen die Eingemeindung seines Wohngebiets in diese Suburb ausgesprochen: »I am an unwilling citizen of Mountain Brook as I did live in ›No Man’s Land‹ and I voted against going into Mountain Brook and they took me in against my will and recently I voted to come into Birmingham, but unsuccessfully, and I am willing to pay extra for my part of the ›sanctions‹ in order to see the other fellow have to pay until such time as they get ready to come in and be a citizen.«117
Quasi als Erziehungsmaßnahme für die widerwilligen Suburbs schlug er höhere Lizenzgebühren für Ärzte vor, die in den Suburbs wohnten. So bestünde die Möglichkeit, die Bewohner der Suburbs zum Beitritt in die Stadt zu zwingen. Da er selbst ohne eigenes Zutun eingemeindet wurde, unterstütze er nun alle Formen von Sanktionen, die mittlerweile in der Öffentlichkeit diskutiert wurden: »I think it is high time that the city of Birmingham stopped begging these suburban towns to join Birmingham and start treating them as if they were step-children by increasing their water bill and everything else you can think of, including taking them off all honorary jobs that the city has authority over.«118
Dieser Hinweis fand 1959 im Rathaus von Birmingham offene Ohren, wo sich die Vertreter der Stadt seit Jahren dem Abwanderungstrend entgegenstellten. Parallel zu Versuchen, die Stadt attraktiver für Familien zu machen, ersann man im Rathaus verschiedene Ideen, um in Zukunft die grundlegenden finanziellen Mittel für die Stadt erheben zu können. Dazu gehörte, nach zahlreichen gescheiterten Eingemeindungsversuchen umliegender Gebiete, auch die Idee, Pendler 116 Anonym an Morgan, 21.4.1959, Akte: 266.3.8, MOPA, BPL, AM. 117 Claude Grayson, Grayson Lumber, an Morgan, 14.5.1959, Akte: 266.3.9, MOPA, BPL, AM. 118 Ebd.
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zu besteuern. Die Pläne zu einer occupational tax verschwanden vorläufig jedoch wieder in der Schublade. Als im Dezember 1961 der Zoo von Birmingham vorübergehend geschlossen werden musste, wandte sich eine besorgte Städterin an Bürgermeister Arthur »Art« Hanes. Sie schlug vor, die »Tausenden« Pendler der umliegenden Suburbs mit einer »head tax« zur Unterstützung der Stadt heranzuziehen: »For shame: One more of the rights of childhood has been taken away from the little poor children of Birmingham. […] If money is needed, what about a ›head‹ tax on the thousands who come into Birmingham daily, earn their living here, and then go back over the Mountain? […] No wonder Atlanta is a city and we are a town.«119
Parallel zur occupational tax stand die Einführung einer städtischen Umsatzsteuer, einer sales tax, im Raum.120 Diese konnte theoretisch durch die Stadt erhoben werden. Kritiker einer solchen städtischen Umsatzsteuer betonten jedoch, dass dieser Schritt im Gegensatz zu einer occupational tax alle Hoffnungen auf eine Eingemeindung der Suburbs zunichtemachen würde. Denn sie würden höheren Steuern zustimmen, sollten sie sich für eine solche Integration entscheiden.121 Die occupational tax war hingegen ein probates Mittel, um eine Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusammenlegung mit der Stadt zu fördern. Wenn eine Suburb Teil Birminghams wurde, so die Ratio, konnten ihre Bewohner die occupational tax einsparen. Sie galt damit letztlich als finanzieller Anreiz für die Mittelklasse. Im Haushaltsjahr 1962 nahm Birmingham 21.864.492,18 Dollar ein. Damit kamen auf jeden der 340.887 Einwohner im Schnitt 64,14 Dollar an Einnahmen. Davon entfielen 32,79 Dollar auf Steuern, von denen wiederum 17,59 Dollar Grundsteuern waren. Der Rest stammte aus anderen Quellen, etwa aus »Intergovernmental Revenue«, welche pro Kopf 12,78 Dollar ausmachte. Zum dritten Mal in Folge überstiegen damit in diesem Jahr die Ausgaben die Einnahmen. Knapp siebzig Dollar hatte die Stadt 1962 pro Einwohner ausgegeben. Der höchste Anteil entfiel mit 13,63 Dollar auf die Instandhaltung der Highways, der niedrigste auf die städtische »public welfare«. Für sie bezahlte jeder Bewohner Birminghams in diesem Jahr acht Cent.122 Im Schnitt machten im Jahr 1962 119 Mrs. M. H. Pearce an Hanes, 7.12.1961, Akte: 269.7.11, HAPA, BPL, AM. 120 Der Staat Alabama erhob zu diesem Zeitpunkt bereits eine sales tax in Höhe von vier Prozent. 121 Die Umsatzsteuer der Bundesstaaten wurde im Moment des Verkaufs an den Kunden erhoben (retail stage). Damit unterschied sie sich von den Umsatzsteuern in Kanada, wo die Steuer während der Herstellung (manufactoring) erhoben wurde. In England wurde sie zu dieser Zeit während des Verkaufs an den Großhandel (wholesale) und in Deutschland und Frankreich an mehreren Stufen von Produktion und Distribution erhoben. 122 Ein Bewohner von Alabamas Hauptstadt, Montgomery, gab im gleichen Zeitraum 45 Cent hierfür aus, investierte aber auch nur 9,35 Dollar in Highways, vgl. Office of the Director of Finance, Comparison of per capita amounts of selected financial items for fiscal year ended in 1962, City of Birmingham, 3.10.1963, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM.
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die Grundsteuern der Städte und Gemeinden 87,9 Prozent der Steuereinnahmen der USA aus.123 Dennoch weigerte sich das Morgenblatt Birmingham Post-Herald 1962, eine occupational tax gutzuheißen. Die Zeitung sah in der Einführung einer solchen selektiven Abgabe für Pendler einen »serious and perhaps costly mistake«, der unbedingt vermieden werden müsse.124 Daneben konstatierte auch die Post-Herald das Dilemma aus städtischer Geldnot einerseits und dem Unwillen der Bürger, höhere Steuern zu akzeptieren: »There are some who say the people will never vote to tax themselves. We admit the recent record in Alabama would indicate such conclusion.«125 Diese Einsicht entstammte einer aktuellen Beobachtung, denn wenige Monate zuvor hatte das County über eine spezielle Steuer für eine Verbesserung der Schulausstattung abgestimmt. Obwohl die zusätzlichen Einnahmen nur zu diesem Zweck einsetzbar gewesen wären, stimmten lediglich zwei Gemeinden, Mountain Brook und Tuscaloosa, dafür.126 In Birmingham, und in allen anderen Schuldistrikten, wurde dieser, dem öffentlichen Einvernehmen nach, begrüßenswerte Vorschlag abgelehnt.127 Von der Weigerung, einer neuen Steuer zuzustimmen, erfuhr der Bürgermeister jedoch nicht nur aus der Zeitung. Als ein Vertreter der Stadt in einem Interview die Möglichkeit erwähnte, eine städtische Umsatzsteuer einzuführen, tauchte das Thema in vielen Beschwerden an das Rathaus in den folgenden Wochen auf. Die strikte Ablehnung einer solchen Umsatzsteuer, welche die Einwohner der Stadt und kaum die Pendler getroffen hätte, ging einher mit dem lauter werdenden Ruf nach einer occupational tax. Gerade bei Rentnern rief eine weitere Umsatzsteuer Unwillen hervor.128 Vielmehr forderten gerade Menschen aus der Mittelklasse, die Anzahl und Höhe von Steuern generell zu reduzieren. Emily S. Haylay etwa betonte, dass die Steuerlast bereits unnötig hoch sei: »[W]here is this tax business going to end?«. Sie schlug vor, Aufgaben, die nun die Stadt wahrnahm, wieder selbst zu erledigen: »Some city services cannot be cut short but some can.« So wollte sie ihren Müll an einen zentral gelegenen Sammelplatz tragen und auch die Straße vor ihrem Haus wieder selbst kehren. Nicht einmal für Arme, Kranke und Schulen sollten neue Steuern erhoben werden, denn dies würde nur die Selbstständigkeit der »middle class« unterminieren.129 Solch libertären Einsichten zum Trotz suchte die Stadtverwaltung weiter einen Weg aus der Finanzklemme. 123 The Advisory Commission on Intergovernmental Relations, Tax Overlapping in the United States 1964, S. 86. 124 Taxes and the People, Birmingham Post-Herald, 14.8.1962. 125 Ebd. 126 In Mountain Brook wurde die Ausstattung des Bildungswesens auch in der Folge ernst genommen. Die vier Grundschulen und die Highschool des Mountain Brook School System gehören heute zu den besten der USA. 127 Taxes and the People, Birmingham Post-Herald, 14.8.1962. 128 »But why another sales tax? It’s wrong mayor.«, Mrs. Caylor an Boutwell, 1.8.1963, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM; vgl. zahlreiche weitere Schreiben in der gleichen Akte. 129 Hayley an Boutwell, 29.6.1963, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM.
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Am 3. Oktober 1963 berichtete Birminghams Schatzmeister, der Director of Finance S. G. Fullerton, wie es um das Budget der Stadt stand. In einer Gegenüberstellung schilderte er, mit welchen Steuereinnahmen andere Städte vergleichbarer Größe in den USA umgingen und welche Leistungen sie damit erbrachten.130 Die Stadt Newport News in Virginia, die vergleichbar viele Einwohner wie Birmingham hatte, nahm zweieinhalb Mal so viele Steuern ein. Fullerton folgerte daraus, dass die Verwaltung in Birmingham effizient arbeitete, da sie mit weniger Mitteln eine gleich große Stadt am Laufen halten konnte.131 Doch nicht nur Städte außerhalb Alabamas wurden herangezogen. Schließlich standen auch andere Gemeinden im Staat vor den gleichen finanziellen Problemen. Auch dort war die occupational tax Thema. In Mobile, der Hafenstadt im Süden Alabamas, war sie sogar bereits widerrufen worden,132 während sie auch in der Hauptstadt Montgomery debattiert wurde.133 In mehreren internen Briefwechseln erdachten und verwarfen die Vertreter der verschiedenen Behörden neue Einnahmequellen für die Stadt. Die Grundsteuer wurde dabei als die verlässlichste dieser Quellen gesehen. Ein Verfassungszusatz, der die Steuer auf fünfzig Cent je einhundert Dollar an geschätz tem Wert des Grundstücks erhöht hätte, hätte in einem Jahr Steuermehreinnahmen von 2,7 Millionen Dollar generiert.134 Im gleichen, langen Schreiben werden die rechtlichen Fragen zu einer sales tax und einer occupational tax aufgezählt. Diese Umsatzsteuer sollte zunächst ein Prozent betragen. Außerdem sollte berechnet werden, welche Einnahmen eine einprozentige occupational tax generieren würde. Sollten für eine sales tax die gleichen Ausnahmen gelten wie auf Ebene des Staats? Sollte die Steuer in der Stadt auch auf Güter erhoben werden, die in der Stadt verkauft, aber erst nachträglich in die Stadt geliefert wurden? Welche Ausnahmen, wie zum Beispiel Freibeträge, sollten für die occupational tax gelten? Wie konnten die Steuern von den Menschen erhoben werden, die außerhalb der Stadt wohnten aber in der Stadt arbeiteten?135 Zu diesem Zeitpunkt standen noch beide Optionen als potentielle Einnahmequellen im Raum. Schließlich wurde die Bevölkerung aufgerufen, den Verantwortlichen ihre Meinung zu schildern.136
130 S. G. Fullerton zitierte eine Veröffentlichung des Bundes, in welcher dieser die Steuereinnahmen den Ausgaben der Gemeinden gegenübergestellte, Fullerton an Boutwell, 3.10.1963, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM. 131 Ebd. 132 City Kills Wage Tax And Hikes Sales Levy, Mobile Press, 19.9.1963. 133 City Studying New Taxation, Alabama Journal, 24.9.1963; im gleichen Artikel wurde auch deutlich, dass die Kosten der Stadt gestiegen waren, weil afroamerikanische Arbeiter (etwa bei der Müllentsorgung und bei den sanitären Diensten) gerechtere Löhne forderten. Damit stiegen auch die Kosten der Stadt. 134 Erskine Smith an Donald Brabston, 30.12.1963, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM. 135 Ebd. 136 Ebd.
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Die weniger werdenden Unternehmer, die Ende des Jahres 1963 noch Geschäfte in Birminghams Innenstadt unterhielten, warnten vor der Einführung einer Umsatzsteuer. Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts in der First Avenue im Norden Birminghams trug die Argumente, die dagegen sprachen, in seinem Schreiben vor: »The downtown merchants have been hit hard enough and another obstacle like the sales tax would cause a loss of business to the merchants as it would drive more customers to the suburbs and suburban shopping areas. As you know, the city of Birmingham gets no revenue from these suburban shopping areas.«137
Der Artikel einer Fachzeitschrift, den der Unternehmer beigelegt hatte, unterstrich dessen Befürchtungen. In New York City, so der Artikel, befänden sich immer mehr Läden auf der Flucht in die »tax-free« Suburbs, um nicht von städtischen Sonderabgaben belangt zu werden.138 Die Interessen der Geschäftsleute fanden Gehör. Ihre Kritik an einer Erhöhung der Umsatzsteuer variierte sich in Argumenten und Ton während dieser Phase kaum. In internen Memoranden der Stadtverwaltung war jedoch offen, welche der diskutierten Abgaben eingeführt werden sollte. Die Stadt sah ein, dass eine Umsatzsteuer Ärmere stärker belasten würde. Der Aufschrei der Händler hatte gezeigt, dass sie die Steuer zum Anlass nehmen könnten, die Stadt zu verlassen.139 Da die Suburbs eine Erhöhung der Umsatzsteuer kaum beschließen würden, könnten diese von einer solchen Entscheidung Birminghams sogar noch profitieren, wenn Geschäfte in die Suburbs abwanderten. Außerdem, so ein Verantwortlicher, hatten die Händler in downtown Birmingham »because of the racial disputes« bereits genug gelitten. Sie sollten daher geschont werden.140 Kurz nach dem Weihnachtsfest des Jahres 1963 gaben sich die Befürworter der occupational tax im Rathaus daher optimistisch. Den Nachteil einer occupational tax sahen deren Fürsprecher darin, dass ihre Effekte bislang quasi unbekannt waren. Daher konkretisierten die Verwaltungsmitarbeiter in mehreren Treffen die Eckdaten der occupational tax. Sie sollte, nach dem Vorbild der Social Security-Beiträge, durch Arbeitgeber vom Lohn einbehalten werden. Wer die Steuer entrichten müsste, würde einer Eingemeindung seiner Suburb allein deswegen zustimmen, um in Zukunft mitbestimmen zu können, wofür diese Gelder eingesetzt würden.141 Gleichzeitig begannen der Bürgermeister und andere Vertreter des öffentlichen Lebens in Interviews für die occupational tax zu werben. Innerhalb Birminghams war die Wut auf die pendelnden Suburb-Bewohner nochmals spürbar angewachsen. Der Vorwurf lautete, dass sie sich ihrer Verantwortung entzogen, zum Wohlergehen der 137 Ellis Weinstein an Boutwell, 28.12.1963, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM. 138 Vgl. Women’s Wear Daily, Dez. 1963. 139 Smith an Brabston, 30.12.1963, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM. 140 Ebd. 141 Ebd.
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Stadt beizutragen, obwohl sie von deren Leistungen profitierten. Im Dezember 1963 und Januar 1964 befanden sich die Steuerdebatten auf einem Höhepunkt. An ihnen lassen sich auch Widersprüche zwischen Forderungen an die Regierung und dem eigenen Handeln ablesen. Eine Zahnklinik beschwert sich etwa im Januar, dass die Regierung Birminghams sich mittlerweile genauso verhalte wie Washington. Die zunehmende Zentralisierung von Macht und der Eingriff in das Leben gewöhnlicher Amerikaner schreite voran: »That is exercising your authority to impose penalty taxation, taxation without representation, and taxation that is definitely against the wills of most voters of this city.«142 Mittlerweile schien jedoch die Entscheidung im Rathaus für eine occupational tax gefallen zu sein. Im Januar 1964 erhielt Bürgermeister Boutwell den jährlichen Bericht des neuen Director of Finance. Darin hieß es von B. R. Winstead, der mittlerweile auf Fullerton gefolgt war, dass selbst einfachste Aufgaben der Stadt demnächst nicht mehr wahrgenommen werden konnten: »The general fund, which finances the general operations of the City including the fire and police departments, the streets and sanitation department, the airport, auditorium, museum, library system and zoo, is inadequately financed and faces insolvency.«143
In den drei Jahren zuvor waren die Haushalte der Stadt mit 416.000, 402.000 und 845.000 Dollar im Soll geblieben. Die annähernd zwei Millionen Dollar große Bargeldreserve, welche die Stadt bis 1960 angespart hatte, war in den vergangen beiden Jahren aufgebraucht worden. Die verbliebenen 194.000 Dollar stellten die notwendigen städtischen Ausgaben für insgesamt drei Tage dar.144 Unvorhergesehene Kosten und ausbleibende Einnahmen durch nicht gezahlte Strafen und Gebühren hatten für extreme Einnahmerückgänge gesorgt, die nicht kompensiert werden konnten: »[…] the basic cause of the present financial plight is an inadequate revenue base. The cost of municipal services in Birmingham is very low when compared to other cities of comparable size, yet Birmingham has the lowest property tax of any major city and has neither of the two major non-property taxes levied by other cities.«145
Ausgabenkürzungen in der Verwaltung konnten dem kaum noch entgegenwirken. Schließlich operierte die Stadt bereits mit einem Minimum an, zudem gering bezahlten, Personal. Entlassungen waren daher ausgeschlossen. Mit der Zahlungsunfähigkeit der Stadt rechnete Winstead für den Sommer des Jahres, sollte keine neue Einnahmequelle aufgetan werden. Lösungsvorschläge für die 142 Vertreter der Acipco Dental Clinic an Boutwell, 30.1.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM. 143 B. R. Winstead, Jr., Director of Finance, an Boutwell, 8.1.1964, Akte: 264.22.37, BOPA, BPL, AM. 144 »As a consequence, the net cash position deteriorated from $ 1,900,000 in 1960 to $ 194,000 at August 31, 1963. The $194,000 represents the cost of about three days’ operations.«, Winstead an Boutwell, 8.1.1964, Akte: 264.22.27, BOPA, BPL, AM. 145 Ebd.
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finanziell ausweglos erscheinende Situation nannte auch Winstead nur wenige. Verschiedene Einsparungen, wie bei der Ausrüstung von Polizei und Feuerwehr, waren bereits vorgenommen worden. Hier hatte man die Kosten im letzten Jahr um 70 und 85 Prozent gekürzt.146 Zugespitzt hatte sich die Finanzlage der Stadt durch höhere Ausgaben aufgrund unvorhergesehener Ereignisse, wie Winstead die brutalen Ausschreitungen gegen die Bürgerrechtsbewegung und rassistisch motivierte Bombenanschläge euphemistisch bezeichnete, erheblich verschlechtert.147 Winstead hielt es daher für »[…] impossible for the city to continue solvent if even a small deficit is permitted to occur during this fiscal year. […] In the event that no new source of revenue is found, or salaries or personnel are not cut by 20 %, the general fund will certainly become insolvent and the resulting collapse will probably occur in August or September of this year«.148
Die Insolvenz der Stadt könnte allein durch die Einführung der »city income tax or the city sales tax« vermieden werden.149 Obwohl die Umsatzsteuer höhere Einnahmen versprach, betonte auch Winstead ihre Nachteile. Dazu gehörte, dass das Gebiet rund um die Stadt keine zusätzliche Umsatzsteuer erhob.150 Daher hatten Winstead und sein Stab umfangreiche Recherchen zur occupational tax durchgeführt.151 Das erste Mal war demnach im frühen 19. Jahrhundert eine vergleichbare Abgabe in Charleston eingeführt worden. Zwischenzeitlich war sie in Kanada und 1932 in Philadelphia erhoben worden. Zu den Großstädten, in denen sie 1964 gültig war, gehörten Philadelphia, Detroit, St. Louis, Kansas City und Pittsburgh. Da der Regierung in Montgomery die Einkommensbesteuerung der Bürger Alabamas vorbehalten war, musste ein Umweg gefunden werden. Die occupational tax bot einen solchen Umweg, da sie nicht als Einkommensteuer galt. Sie war trotz des beträchtlichen Umfangs der Verfassung Alabamas in diesem Dokument noch unerwähnt geblieben. Als Einkommensteuer galt sie nicht, da sie unter anderem nicht für alle Einkommensformen galt, sondern sich lediglich an der Höhe von Löhnen bemessen sollte: »The all important word is the word ›measured.‹ Thus the tax would be levied only on salaries. Income from social security, welfare payments, pensions, dividends, interest, and real estate rentals would not be subject to the tax.«152 146 »Police equipment was curtailed by 70 % or $75,000. Fire equipment was curtailed by 85 % or $50,000 and traffic equipment by 80 % or $45,000.«, ebd. 147 Um 10:22 Uhr am 15. September 1963 explodierte die Bombe in der Baptist Church in der 16. Straße und tötete vier Mädchen. Das Attentat markierte einen Zenit der Gewalt in der Stadt und den Tiefpunkt ihres Ansehens. Mehr als 20 Bombenanschläge, in den acht Jahren zuvor, waren ungeahndet geblieben, siehe Branch. 148 Winstead an Boutwell, 8.1.1964, Akte: 264.22.37, BOPA, BPL, AM. 149 Ebd. 150 Winstead an Boutwell, 9.1.1964, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM. 151 Weinstein an Boutwell, 28.12.1963, Akte: 264.22.20, BOPA, BPL, AM. 152 Ebd.
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Ärzte, Rechtsanwälte und andere professionals waren schon jetzt zum Erwerb einer Lizenz verpflichtet. Sollte die Steuer in Höhe von einem Prozent erhoben werden, rechnete Winstead mit jährlichen Mehreinnahmen von fast fünf Millionen Dollar. Der Zensus von 1960 hatte gezeigt, dass ein Viertel der Arbeitnehmer in Birmingham außerhalb der Stadt wohnten, was die occupational tax als die ergiebigste Steuer erscheinen ließ.153 Eine Woche nachdem Winstead seinen Bericht eingereicht hatte, begann im Rathaus eine öffentliche Anhörung zur Einführung der neuen Steuer.154 Bei diesem Hearing wurde zunächst die Angst genährt, dass Arbeitgeber die Stadt bei Einführung der occupational tax verlassen würden. Der Immobilienmakler Marshall Heynes Jr. prognostizierte außerdem den weiteren Wegzug von Familien aufgrund der occupational tax, weshalb er, gegen seine Interessen als Makler, für eine höhere Grundsteuer eintrat.155 Auch David J. Vann beschrieb die Vorzüge einer occupational tax. Vann, der später selbst Bürgermeister von Birmingham werden sollte (1975–1979), war zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiter und Berater Boutwells.156 Er schloss die Umsatzsteuer als degressive Steuer ebenfalls aus, während er die occupational tax positiv bewertete. Da Pendler diese Abgabe zudem von Bundes- und Staatssteuern absetzen konnte, träfe sie die Familien mit mittleren Einkommen nicht so stark wie zunächst befürchtet.157 Die Debatte um die neue Art der Steuer spitzte sich zu, als immer neue Beschwerden das Bürgermeisterbüro erreichten. Die höheren Steuern, welche die Stadt wegen ihrer angespannten finanziellen Situation erheben wollte, drohten jene besonders zu treffen, deren Renten aufgrund steigender Lebenshaltungskosten immer weniger ausreichten. Neben solchen konkreten Befürchtungen offenbarten sich jedoch auch allgemeinere Aspekte in den Argumenten der Umsatzsteuergegner. Sie meinten, eine solche Steuer unterminiere das Prinzip des Verdiensts. Ein Lebensabend in Würde gehörte demnach zum Versprechen, das der Mittelklasse gemacht worden war. Dass höhere Steuern zum Verlust von Selbständigkeit führten, beschäftigte all jene, die genau diese idealisiert hatten. Wer diesen Gedankengang zu Ende führte, sah sich schnell mit der Schreckensvision konfrontiert, letztlich auch selbst welfare beantragen zu müssen und so auf die Hilfe Fremder angewiesen zu 153 Insgesamt 103.000 der Menschen, die in Birmingham arbeiteten, wohnten hier; 38.000 lebten in den umliegenden Gebieten und arbeiten in Birmingham; nur 14.000 wohnten in der Stadt und arbeiten außerhalb, Winstead an Boutwell, 9.1.1964, Akte: 264.22.20, BPL, AM. 154 Die drastische Situation legte Wiggins noch einmal dar. Er betonte die Notwendigkeit einer neuen Steuer, Entwurf einer Eröffnungsrede der öffentlichen Anhörung am 13.1.1964 vor dem Stadtrat durch M. E. Wiggins, 9.1.1964, Akte: 264.20.20, BOPA, BPL, AM. 155 M. Haynes jr. an City Commission Birmingham, 3.1.1964, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM. 156 Vann war auch an der Umstrukturierung der Stadtregierung von 1963 beteiligt. Am 17. April hatte die neue Regierung unter Boutwell versucht, ihr Amt anzutreten. Die alte Regierung weigerte sich jedoch zunächst, abzutreten. Erst zwei Gerichtsurteile vom 23. April und 23. Mai besiegelten das Ende der City Commission. 157 Vann an Donald C. Brabston, 3.1.1964, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM.
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sein. Dazu gehörte etwa Mrs. Scott: »Try to maintain my humble home, am trying to keep off welfare. When you add more taxes that force people to seek welfare. I would like to feel independent.«158 Typische Briefe, die Boutwell in diesen Tagen erreichten, stellten die Unzufriedenheit der Mittelklasse ins Zentrum: »I am among a large number that will be against their [the city officials’] every move unless this is corrected. My contribution to Community Chest will be cancelled since the middle class is tired of being the goat.«159
Vertreter der Mittelklasse hatten demnach nicht nur Angst arm und abhängig zu werden. Sie fühlten sich als Sündenbock. Dabei verstanden sie sich auch als Garant sozialer Leistungen. Den Steuerplänen warfen sie die Drohung entgegen, in Zukunft ihre freiwilligen wohltätigen Bemühungen einzustellen. Hier fügten sich auch Proteste an, die Umsatzsteuer stelle einen Fall von »taxation without representation« dar. Diese Anwürfe stammten aus der Mittelklasse, die zwar durch die Umsatzsteuer der Stadt bezahlen müsste, aber nicht deren Regierung wählen konnte.160 Der Widerstand basierte damit auf den gleichen Argumenten, die 15 Jahre später auch im massiven Steuerprotest in Kalifornien wieder auftauchten.161 So hieß es in einem Schreiben eines Suburb-Bewohners: »It is time for a Birmingham tea party instead of a Boston tea party.«162 Die entscheidenden Beratungen von Bürgermeister und Stadtrat lassen sich heute nicht exakt rekonstruieren. Die Entscheidung fiel jedoch auf die Einführung einer occupational tax am 21. Januar 1964. In den Wochen nach diesem Beschluss nahm die Zahl der Schreiben noch einmal zu. »You may be doing what you think is best. I certainly think tahat [sic] I will be doing whats [sic] best for my pocketbook by voting the present administration out of office in the next election. Taxes have grown so burdensome in the last few years that individual voter’s such as myself have to strike back in any manner they can.«163
Schon im Februar 1964 forderten große Teile der Bevölkerung Birminghams und der Suburbs, die occupational tax wieder zurückzunehmen.164 Am 6. Februar gestand der Unternehmer Sidney »Sid« Smyer (1897–1985) ein, dass keine andere Stadt vor derart schweren Problemen stünde wie Birmingham. Trotzdem 158 Scott an Boutwell, 27.1.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM. 159 R. Phillips an Boutwell, 22.1.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM. Mit »goat« ist »scapegoat«, Sündenbock, gemeint; Community Chest war eine wohltätige Organisation, heute nennt sie sich United Way. 160 Vgl. etwa Harral an Boutwell, 23.1.1964, Akte: 264.22.29, BOPA, BPL, AM. 161 Zu Proposition 13 und ihren Ursachen in Kalifornien siehe insbesondere Smith; Martin. 162 Carlton E. Brooks an Boutwell, 31.1.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM; das Bild der Tea Party ist nicht auf eine bestimmte Periode oder politische Richtung festgelegt, es wird vielmehr regelmäßig durch Gegner von Steuererhöhungen verwendet, siehe Lepore. 163 Anonym an Boutwell, 20.2.1964, Akte: 264.21.32, BOPA, BPL, AM. 164 Vgl. beispielhaft das umfangreiche Schreiben von N. C. Aspinwall an Boutwell, 6.2.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM.
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sollte, so sein Rat, die occupational tax zugunsten einer Umsatzsteuer wieder abgeschafft werden.165 Weitere einflussreiche Bürger forderten, die Entscheidung für die occupational tax sofort wieder zu revidieren, da sie kleinen Unternehmen eine zu große Bürde bei der Einbehaltung der Steuer auferlege. Die nun anfallenden administrativen Aufgaben trieben sie in den Ruin: »A failure of this slight concession to these small proprietorships could go a long way toward crippling Birmingham’s potential of merger. Why? Our suburban municipalities are made up of hundreds of these small proprietorships, and when their owners realize the additional cost and trouble merger possibly will bring to them, could band together and wreck any possible chance of merger.«166
Starken Widerstand erfuhr das Rathaus im Februar aus den Reihen der Vertreter der Freien Berufe. So sprachen sich die Anwaltskammer und die Alabama Society of Professional Engineers gegen die occupational tax und für eine Umsatzsteuer aus.167 Nicht nur die Arbeitgeber, auch die Gewerkschaften liefen Sturm. Die Resolution der örtlichen Gruppe der AFL-CIO beklagte insbesondere, dass die »wage tax«, wie sie auch genannt wurde, nicht progressiv sei, keine Ausnahmen für Familienangehörige erlaubte, Einnahmen aus Investitionen ausnahm und die Bewohner der Stadt nicht besteuerte, die außerhalb der Stadtgrenzen arbeiteten. Daher hieß es, dass die örtliche AFL-CIO-Gruppe »hereby go on record as being unequivocable and unaltereably opposed to this unfair, discriminatory and regressive tax«.168 Auch hier wurden also die bereits bekannten Argumente verwendet, auf die sich auch die Mittelklasse in ihren Protestbriefen berief. Die AFL-CIO vertrat hier die gleichen Interessen. Für die Beschäftigungssteuer sprachen sich jene aus, die in der Stadt wohnten und die die Bewohner der umliegenden Gegenden, die von Leistungen der Stadt profitierten, auch zahlen lassen wollten.169 Die Beschwerden zeigten Wirkung. Schon am 11. Februar 1964, nur drei Wochen nach ihrer Einführung, stand die occupational tax wieder auf dem Prüfstand.170 Am 21. Februar äußerte sich Stadtratsmitglied George G. Seibels (1913–2000).171 Sein Appell in der Stadtratssitzung kombinierte die Steuer165 S. W. Smyer an John E. Bryan, 6.2.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM. 166 Otis K. Lawson an Boutwell, 6.2.1964, Akte: 264.22.32, BOPA, BPL, AM. 167 Louis Eberdt an Boutwell, 10.2.1964, Akte: 264.22.31, BOPA, BPL, AM. 168 Resolution Birmingham Labor Council der AFL-CIO, 11.2.1964, Akte: 264.22.32, BOPA, BPL, AM. 169 U. A. W. Local 1155, Spotlight, 27.2.1964, Akte: 264.22.33, BOPA, BPL, AM. 170 Mehrere professionals gratulierten Boutwell zur Wiederaufnahme der Anhörungen. Sie forderten, nun die, ursprünglich diskutierte, Umsatzsteuer, Charles B. Crow an Boutwell, 11.2.1984, Akte: 264.22.31, BPL, AM. 171 George Seibels jr. war seit 1963 Mitglied im City Council. Er hatte sich, vor ihrer Verabschiedung, gegen die occupational tax ausgesprochen. Er stammte aus einer Familie, die Senatoren und Admirale hervorgebracht hatte. Nach dem Geschichtsstudium, mit parallelen Boxerfolgen, war Seibels ein Jahr lang professioneller Footballspieler. Während des
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frage erneut mit der Aussicht auf einen Zusammenschluss mit den umliegenden Suburbs: »Now, right now, is the time for those businessmen and all others who say ›we must have merger but the Occupational Tax will kill it‹ to get busy and work for the immediate goal of merger. I repeat now is the time! Only a fool will deny that the continued Exodus from the City by young people and others plus the thousands whose living is made in Birmingham but who have no voter partizipation, can only result in choking off the potential of our City. I say to all of them ›you can’t have your cake and eat it too‹ ›join us and do your part, just not through lip service, to support the City which helps us all.‹ Without merger we shall see a degeneration of the City in growth and prosperity. To those who selfishly ignore this fact do I address myself.«172
Auch um die Aussicht auf eine Zusammenlegung am Leben zu halten, wurde die occupational tax am 25. Februar 1964 wieder abgeschafft. Sie wurde durch eine einprozentige Umsatzsteuer ersetzt, die innerhalb der Stadtgrenzen erhoben wurde.173 In einem gewerkschaftlichen Mitteilungsblatt vom Februar 1964 hieß es dazu, dass sich das Rathaus dem Druck der »big businessmen from over the mountain« gebeugt hatte,174 obwohl auch die Gewerkschaften sich dagegen ausgesprochen hatten. Erst eine Woche später, am 2. März 1964 führte der öffentliche Druck dazu, dass Bürgermeister Boutwell die Rücknahme der Steuer ausführlich erklären musste. Mit Rundbriefen und Aushängen informierte er die Stadtbewohner.175 Im Mittelpunkt seiner Erläuterungen standen erneut die finanziellen Probleme der Stadt, die durch die Abwanderung, den »Exodus«, von Steuerzahlern ausgelöst worden waren. Diesen hatte man versucht, mit der occupational tax Herr zu werden. Die Rücknahme der Steuer habe allerdings in den Suburbs die Bereitschaft geweckt, sich für einen Zusammenschluss mit der Stadt einzusetzen, hoffte Boutwell: »The central city, affected as are hundreds of others, by the exodus of resident citizens and businesses to ›fringe‹ areas, has been engaged for several years to bring about merger of these satellite areas with the city. The delicate and sometimes strained relationships related to the proposed mergers appeared to have been almost certainly adversely affected by the effect of the occupational type of levy. The effect of the change appears to have consolidated substantial support by people, influential in the suburban areas, for the merger, which many of them historically opposed.«176 Zweiten Weltkriegs diente er auf einem U-Boot und nahm an der Invasion Italiens teil. 1967 wurde er der erste, und einzige, republikanische Bürgermeister von Birmingham. 172 Statement Seibels’ bei der Versammlung des City Council, 21.2.1964, Akte: 264.22.21, BOPA, BPL, AM. 173 Ausnahmen sollten beim Verkauf von Kfz und Maschinen gelten, auf die nur 0,5 Prozent anfallen sollten. Die Verfassung verhinderte jedoch, dass dieses Versprechen erfüllt werden konnte. 174 U. A. W. Local 1155, Spotlight, 27.2.1964, Akte: 264.22.33, BOPA, BPL, AM. 175 Boutwell, To whom it may concern, 2.3.1964, Akte: 264.22.33, BOPA, BPL, AM. 176 Ebd.
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Boutwells Hoffnungen blieben unerfüllt. Die beschämende Episode um die Einführung und rasche Abschaffung der Steuer war außerdem, so Boutwells Verweis, dem Desinteresse der Bewohner der Stadt geschuldet. Sie hätten bei den Anhörungen ihre Meinung nicht deutlich genug geäußert. Stattdessen hätte eine Mehrheit ihre Meinung erst nach Einführung der occupational tax, dafür nun umso lautstärker, geäußert. Entscheidender sei aber die Einsicht des Stadtrats gewesen, so Boutwell weiter, dass die finanziellen Probleme der Stadt am ehesten durch eine Umsatzsteuer gelöst werden könnten.177 Die zahlreichen Eingaben des Winters 1963/64 sprechen, im Gegensatz zu Boutwells Kritik an den Bürgern, durchaus für deren Beteiligung. Sie zeichneten aber auch ein gemischtes Bild. Einigkeit bestand in fast allen Schreiben zur sales tax lediglich darin, dass Rentner mit geringen Einkommen härter von einer Umsatzsteuer betroffen waren als der Rest. Dem wollten Boutwell und der Stadtrat Rechnung tragen und so erließen sie einen Gesetzeszusatz nachdem Personen, die älter als 65 Jahre alt waren und ein Einkommen unter 2.000 Dollar hatten, von der Steuer befreit waren.178 Schon eine Woche später, am Freitag, den 6. März 1964, musste die Stadt jedoch auch dieses Versprechen revidieren. Die Konsultation des City Attorneys hatte die Befürchtung bestätigt, dass die Ausnahme, die zugleich »vage und unbestimmt« gehalten war, vor keinem Gericht Bestand haben könnte.179 Am gleichen Tag unterrichtete Finanzdirektor Winstead den Stadtrat über die juristischen Vorgaben und praktische Details bei der Erhebung der Steuer. Er bestätigte, dass die Sonderregelung für arme Rentner nicht haltbar sein würde. Zwar wäre es fair gewesen, diese Gruppe von der Steuer auszunehmen. Die konstitutionellen Hürden seien jedoch so hoch, dass es sich angesichts der relativ geringen Zahl von 20.000 Personen, auf die dies zugetroffen hätte, nicht lohnen würde. Auch die administrativen Hürden, die zuvor scheinbar unbeachtet geblieben waren, erwiesen sich als unüberwindbar. Wie hätte überprüft werden können, ob eine Person überhaupt in Birmingham wohnte und wirklich älter als 65 war? Was sollte man tun, um ihr Einkommen festzustellen? Die Ausstellung von personalisierten und mit einem Foto zu versehenden Berechtigungsscheinen wäre zu teuer. Hätten auch nur drei Viertel der Berechtigten eine solche Berechtigung beantragt und wären dann pro Person 500 Einkäufe pro Jahr getätigt, rechnete Winstead vor, hätte sich die Summe dieser Einkäufe auf 7,5 Millionen Transaktionen belaufen:
177 Die Umsatzsteuer erhielt das Enddatum 31.8.1965, vgl. ebd. 178 Der genaue Titel der neu eingeführten Steuer lautete schließlich »privilege or license tax based upon gross retail services«, die jedoch allgemein als sales tax bezeichnet wurde: »For convenience, we are calling it a sales tax.«, Rundbrief Rathaus an alle Gewerbetreibenen, 28.2.1964, Akte: 264.22.21, BOPA, BPL, AM. 179 J. M. Breckenridge, City Attorney, an Winstead, 6.3.1964, Akte: 264.22.21, BOPA, BPL, AM.
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»7,500,000 transactions that some merchant must record in order to obtain the exemption; 7,500,000 opportunities for confusing the sales girl and delaying a checkout line; 7,500,000 transactions for the city to record to accumulate the purchases of any given individual.«180
Die Gegenrechnung ergab, wie wenig sich diese Ausnahme bei einem geringem Anteil alter Menschen in der Stadt lohnte: »According to my calculations, a person earning $2,000 a year would pay $10,50 in Birmingham sales tax. It just doesn’t seem reasonable to perform so much work in order to provide such a small benefit.«181 Winstead war auch deshalb gegen die Sonderregelung, weil das politische Potential dieser Gruppe offensichtlich nicht groß genug war. Damit wurde auch deutlich, wie wenig durchdacht die Steuereinführung und die damit versprochenen Sonderregelungen waren. Dies belegte auch die Wellen von Protestbriefen von städtischen Händlern, die in den kommenden Monaten und Jahren die Bürgermeister Birminghams erreichten. Scheinbar war bei der Einführung der Umsatzsteuer nicht geregelt worden, ob sie auch für Waren galt, die in die Suburbs geliefert wurde. Die Käufer fühlten sich in Fällen, wo sie die städtische Abgabe zahlen mussten, ungerecht besteuert. In manchen Fällen, etwa bei Lieferungen nach Homewood, mussten Käufer die mittlerweile hier auch eingeführte sales tax sowie die für Birmingham zahlen.182 Der Streit um die beste Form der Besteuerung blieb den Bewohnern der Stadt und der Suburbs noch lange erhalten. Er war im Wesentlichen den Konjunkturen der Annexionsversuche unterworfen, die die Stadt unternahm. Hatten sich die Suburbs wie Homewood, Vestavia Hills oder Mountain Brook wieder einmal einer Eingemeindung widersetzt, wuchs die Wut innerhalb der Stadtgrenzen. Rufe nach einer Strafsteuer wurden laut. Noch im März 1967 beschweren Bewohner sich, dass die occupational tax vorschnell verworfen worden war: »Frankly, Loyal Citizens of Birmingham are filled up with this one sided affair. And it seems that nothing is being done about it except finding some new way to Tax us to keep the town nice and attractive for the Outside Dwellers to come in and enjoy and make their living.«183
Nicht wenige Birminghamians beschrieben ihre Nachbarn in den Suburbs als »›suckers‹ on the main tree« und als »selfish«. Sie forderten die erneute und dauerhafte Einführung einer occupational tax. Damit sollten auch die Bewohner von Hoover, Homewood und den anderen Vororten in die Finanzierung der Stadtkasse eingebunden werden. Die städtische Umsatzsteuer sollte dagegen wieder abgeschafft werden.184 180 Winstead an City Council, 6.3.1964, Akte: 264.22.21, BOPA, BPL, AM. 181 Ebd. 182 Schreiben einer Anwaltskanzlei an Boutwell, 19.1.1966, Akte: 264.22.21, BOPA, BPL, AM. 183 J. C. Chapman an Boutwell, 7.3.1967, Akte: 264.22.25, BOPA, BPL, AM. 184 Zeitungsberichte zu »annexation« und »sales tax«, 15.12.1966, Akte: 264.22.25, BOPA, BPL, AM.
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Insbesondere an Steuerdebatten lassen sich Selbstverständnis und Forderungen gesellschaftlicher Gruppen ablesen. Es ist wenig verwunderlich, dass Abgaben auch und gerade hier die Verbindung zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat bedeuteten. Dabei ging es nicht in erster Linie darum, etwas vom Wohlfahrtsstaat zu erhalten. Eher standen die Kosten der Stadt für die Verfasser der Eingaben im Zentrum. Sie beklagten vor allem, die Suburbs hätten sich ihrer Verantwortung entzogen. Dagegen zeigte sich auch, dass drohenden Steuererhebungen mit dem Argument begegnet wurde, diese würden den aktuellen und verdienten Lebensstandard erodieren. Dadurch drohte der Verlust der Selbstständigkeit, der mit dem Bezug von welfare einherging. In der Episode um die occupational tax zeigen sich darüber hinaus alle Bestandteile späterer Streitigkeiten um Steuererhebungen auf lokaler Ebene, die 1978 im Rahmen der kalifornischen Debatte um Proposition 13 deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren sollte. 4.3.2 Ausblick: Birminghams Suburbs nach der gescheiterten occupational tax Wenige Monate nach Einführung und Abschaffung der occupational tax in Birmingham misslang im Sommer 1964 ein weiterer Anlauf, mehrere Suburbs einzugemeinden. Die Hoffnungen, die Bürgermeister Albert Boutwell mit der Rücknahme der auch als Bestrafung für die Suburbs verstandenen occupational tax verbunden hatte, erfüllten sich nicht. Die vielen gescheiterten Annexions-Versuche zeigen indes, wie die Interessen von Stadt und Suburb einander zunehmend entgegenstanden und wie entschieden die Bewohner der Suburbs einer gemeinsamen Verwaltung entgegentraten. Spätestens 1964 sah Birmingham ein, dass die Suburbs nicht gezwungen werden konnten, sich der Stadt anzuschließen. Die Rücknahme der occupational tax stand damit auch für einen Wandel in der Haltung der Stadt gegenüber ihren Vororten. Drohungen hatten nicht zum Ziel geführt. Vielmehr mehrten sich in den folgenden Jahren Birminghams Versuche, den Suburbs eine bevorzugte Behandlung zukommen zu lassen, wenn sie sich bereit erklären sollten, der Stadt beizutreten. Die Verzweiflung der Stadt wurde im fehlgeschlagenen Eingemeindungsversuch von 1964 manifestiert. Homewood und Mountain Brook weigerten sich erneut, Teil Birminghams zu werden. Nachdem am 4. Mai 1964 rund 1.500 Bewohner Homewoods eine Petition unterzeichnet hatte, die eine Abstimmung zur Zusammenlegung mit Birmingham forderte, kam es im Sommer des Jahres 1964 zu mehreren Treffen der Vertreter Birminghams mit den Repräsentanten der Suburbs.185 Der Delegation aus 185 Protokoll The Merger Committee mit Vertretern aus Homewood, 1.7.1964, Akte: 263.7.22, Seibels Pap (SEPA), BPL, AM. Inder gleichen Akte finden sich noch Protokolle zu weiteren Treffen mit Vertretern aus Mountain Brook.
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Mountain Brook wurde im Zuge dieser Treffen zugesichert, dass bei einer Annexion die beiden Schulsysteme der Stadt und der Suburb nicht vereinigt werden würden. Auf diese Art hoffte man in Birmingham, Mountain Brook zur Zustimmung zu bewegen. Da hier so gut wie keine Afroamerikaner wohnten, unterrichteten die Schulen von Mountain Brook nur Schüler weißer Hautfarbe. Eine Desegregationsanordnung hätte daher keinen Effekt gehabt, da solche Anordnungen nur eine Integration innerhalb eines Schulbezirks vorsahen. Solange demnach die Schulbezirke von Mountain Brook und Birmingham nicht fusioniert würden, herrschte de jure keine Segregation. Doch auch dieser Zusicherung Birminghams verwehrte man sich in der Suburb. Birmingham wurde vor dem Hintergrund der eben gescheiterten Einführung der occupational tax nicht vertraut, was Lesebriefe an die Birmingham News und Schreiben an Boutwell in dieser Phase belegen.186 In der zweiten Suburb, die Birmingham Mitte 1964 annektieren wollte, Homewood, wurde der Widerstand dagegen durch Bürgermeister E. G. Walker (1956–1968) personifiziert.187 Er stand im Mittelpunkt der Ereignisse des Jahres 1964.188 Da die Bewohner über die Eingemeindungen abstimmten, war mittlerweile ein regelrechter Kampf um die Stimmen der suburbians entbrannt. In offiziellen Broschüren und internen Gesprächsleitfäden fanden sich die Argumente, deren Zielgruppe die »middle class families«189 der Suburbs war. Ihren Unterstützern, die in den Homewood von Tür zu Tür gingen, gab die Stadtverwaltung von Birmingham damit Argumente zum Auswendiglernen an die Hand, um sie besser für Diskussionen mit den Bewohnern von Homewood zu wappnen. Der Aufbau war einfach. Fragen zu den Konsequenzen einer Eingemeindung wurden Antworten gegenübergestellt, die deutlich machen sollten, dass die Suburbs davon profitieren würden: »The following information should be useful for workers and volunteers in talking to Homewood citizens who are undecided or who have been mislead and confused by the slanted information already distributed by the opponents on merger.«190
Der Kampf um die Köpfe der Bewohner fand fast ausschließlich auf den Schlacht feldern der Bildungs- und Steuerpolitik statt. Damit reagierte Birmingham seinerseits auf die Anschuldigungen, die in der Broschüre »The Truth« verbreitet worden waren. Diese war das Organ der Gegner der Eingemeindung um Bürgermeister Walker. Der Ton war scharf. Die Vorwürfe in den Instruktionen für die Mitstreiter klangen schwerwiegend: »For years Walker […] used the same ole stuff about ›taking away rights,‹ ›losing your 186 Siehe Akte: 263.7.22, SEPA, BPL, AM. 187 Walker war der erste Bürgermeister, der dieses Amt hauptberuflich ausübte. 188 Zur persönlichen Fehde zwischen Boutwell und Walker vgl. Statement Walker, 6.7.1965, Akte: 263.7.22, SEPA, BPL, AM. 189 Handreichung, Juli 1964, Akte: 263.7.25, SEPA, BPL, AM. 190 Ebd.
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identity, ‹ hurting the schools, less municipal service, etc.« Dagegen wurden als Argumente für eine Eingemeindung immer wieder angeführt, dass sich mit den typischen Bewohnern von Homewood eine komplette »class of people« aus den Angelegenheiten der Stadt zurückziehen würde. Dies gefährde den Fortbestand einer »well-balanced citizenry, not dominated by any particular group that ordinarily votes as a solid block«.191 Damit verband sich mit der Angst vor dem Wegzug gewollter Bürger auch die Furcht vor dem proportional steigenden Einflussverlust der zurückbleibenden weißen Familien. Denn dass die Stadt in Zukunft von den Interessen einer Gruppe dominiert werden würde, zielte auf den steigenden Anteil afroamerikanischer Wähler ab. Nicht mehr die weiße Mehrheit einer mittleren Einkommensschicht würde in Zukunft in Birmingham entscheiden können, wenn Homewood nicht in die Stadt fände. Die Flucht weißer Familien vor ihren afroamerikanischen Nachbarn in die Suburbs wurde in der Broschüre ebenfalls offen angesprochen. Unter dem Punkt, der auf die öffentlichen Freizeiteinrichtungen eingeht, hieß es dort: »Already, the Negroes have sought admission to the pool and park. Like it or not, the Civil Rights Bill is the law and one would be like a proverbial ostrich with head in sand to dream and hope that there will be no more ›intrusions.‹ Homewood by itself, or Homewood as a community of Birmingham, it makes no difference, the problem is there.«
Vor Desegregation, welche im Text als »Problem« dämonisiert wird, böten demnach auch die Suburbs keinen Schutz. Hier wurde deutlich, dass es den Gegnern der Zusammenlegung darum ging, die Segregation solange wie möglich zu bewahren. Birmingham versuchte wiederum, ihnen die Sinnlosigkeit dieser Flucht deutlich zu machen. Dabei war die Situation der Schulen in Homewood, neben den öffentlichen Swimmingpools, zentral. Im Leitfaden tauchte auf eine vermutete Frage in diese Richtung die entsprechende Antwort auf: »No county school […] is immune to the 1954 Supreme Court decision – distasteful as it is.«192 Die auf den verbissen geführten Kampf zwischen den Verwaltungen in Homewood und Birmingham folgende Abstimmung ging denkbar knapp aus. Laut der Petition der Befürworter der Zusammenlegung vom Mai sollte die Abstimmung am 3. November 1964 stattfinden. Nachdem das Rathaus von Homewood die Entscheidung immer wieder vertagt hatte, entschied Walker erst am 6. Juli, dass die Abstimmung stattfinden sollte. Sie wurde jedoch auf den 11. August statt auf den ursprünglich geforderten Novembertermin gelegt. Trotz drückender Augusthitze beteiligten sich 4.840 Einwohner. 2.423 Einwohner Homewoods sprachen sich für eine Zusammenlegung, 2.417 da191 »[…] there must be a well-balanced citizenry, not dominated by any particular group that ordinarily votes as a solid block.« Als »solid block« zu wählen, wurde in dieser Zeit Afroamerikanern häufig vorgeworfen. 192 Handreichung, Juli 1964, Akte: 263.7.25, SEPA, BPL, AM.
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gegen aus. Damit war Homewood bereit, Teil Birminghams zu werden. Jedoch klagte nur eine Woche nach der Wahl ein Bewohner Homewoods. Sein Vorwurf lautete, dass die Abstimmung nicht rechtzeitig angekündigt und damit illegal gewesen sei. Die erforderliche Frist von sechzig Tagen zwischen Ankündigung und Stimmabgabe war nicht eingehalten worden. Das Gericht kassierte die Entscheidung der knappen Mehrheit und Birmingham wuchs auch 1964 nicht.193 In der Suburb Hoover, deren Entwicklung der gleichnamige Präsident der Employers Insurance wesentlich vorangetrieben hatte, scheiterte 1964 der erste Versuch, selbst den Status einer Stadt durch die erforderliche Stadtgründung zu erlangen.194 Erst 1967 reichte das Votum der Bewohner des Gebiets, um ihre Stadt zu gründen. In Hoover ein Haus zu bauen, war auch deswegen attraktiv, weil hier keine Grundsteuern erhoben wurden.195 Noch kurz zuvor hatte Birminghams Bürgermeister, Seibels, in einer Aufstellung der neu erteilten Baugenehmigungen in Jefferson County die auffällig hohen Zahlen in der Gegend markiert. Sein Rotstift hatte die 86 erteilten Baugenehmigungen umkreist und am Rand »Around Hoover Regent Forest« notiert. Mit diesen gut sieben Dutzend neu erteilten Genehmigungen übertraf die Zahl in diesem relativ kleinen Gebiet, jene der Genehmigungen in Birmingham um das Dreifache. Während im gleichen Monat in der Stadt sechs Baugenehmigung für Mehrfamilienhäuser vergeben wurden, war es wiederum im Rest des Countys nicht eine.196 Die 86 zu errichtenden Einfamilienhäuser in Hoover hatten einen Gesamtwert von 1,45 Millionen Dollar. In Mountain Brook beliefen sich die Kosten der in diesem Monat bewilligten 17 Häuser auf 660.000 Dollar. Damit kostete ein neues Haus in Hoover 17.000 und in Mountain Brook 39.000 Dollar. Die dreißig neu bewilligten Häuser in Birmingham hatten dagegen einen durchschnittlichen Wert von 11.800 Dollar. Auch daran lassen sich die deutlich akzentuierten Abstufungen zwischen den Einkommensverhältnissen der Bewohner der jeweiligen Gemeinden ablesen. Hoover lag in der Mitte, während Mountain Brook sich in der Folge zu einer der exklusivsten und wohlhabendsten Ortschaften der USA entwickeln würde. Kurz nach der Gründung der Stadt Hoover im Jahr 1967 startete diese ihrerseits zahlreiche Eingemeindungsversuche, von denen nur wenige erfolgreich waren.197 Rechtstreitigkeiten führten dazu, dass ein neues Gesetz die Abstände 193 Ebd. 194 Beim ersten Gründungsversuch, Ende 1964, wurde eine Grundsteuer von »5 mill«, also 0,5 Prozent, vorgeschlagen, vgl. Hoover will vote on two questions, BN, 15.12.1964. 195 Die Müllabfuhr erfolgte kostenlos, Byron Casey, Infant Hoover starts to bust at seems, BN, 15.12.1964. 196 Birmingham Association of Home Builders, Infoblatt, Nov. 1967, Akte: 263.15.27, SEPA, BPL, AM. 197 Hoover zeigte außerdem rasch nach der Gründung das Selbstbewusstsein, neue Stadtgründungen an seiner Peripherie zu unterbinden. Als 1968 das benachbarte Green Valley entschied, ebenfalls eine eigene Stadt zu werden, stellte Hoovers City Attorney einen Fehler in
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zwischen bestehenden und neuen Städten auf drei Meilen festlegte.198 Der Wettlauf um neue Stadtgebiete wurde dadurch jedoch kaum gebremst. Hoover wuchs stetig. Hatte die Stadt 1970 1.393 Einwohner, waren es 1980 bereits 19.792 und weitere fünf Jahre später schon 24.000 Einwohner.199 Auch wirtschaftlich prosperierte die Stadt, sodass das durchschnittliche Haushaltseinkommen 1978 25.900 Dollar betrug und damit fast doppelt so hoch wie im Rest des Staates und wesentlich höher als im Rest der USA (16.900 Dollar) war.200 Ein Acre Land, für den 1959 weniger als 4.000 Dollar gezahlt werden mussten, hatte zwanzig Jahre später einen Wert von 14.000 Dollar.201 1971 wehrte sich Hoover erfolgreich und ein letztes Mal gegen eine anvisierte Eingemeindung durch Birmingham.202
der Vorgehensweise dort fest und ließ die Gründung erfolgreich unterbinden. Aus dieser Abwehr wurde bald ein Angriff. Hoover begann 1969 mit der Eingemeindung angrenzender Landstriche. 1971 wurde das erste Rathaus (inkl. erstem Gefängnis) am Highway 31 gebaut. Als die Stadt Hoover gegründet wurde, war sie von einem Tag auf den nächsten die achtgrößte Stadt in Alabama. 1980 wurde Riverchase eingemeindet. Bis 1989 wurden Bluff Park, Rocky Ridge, Altadena Woods, Southlake, und andere Wohngebiete Teil von Hoover. 1992 folgten Inverness and Greystone. 198 Vgl. Barefield, S. 108. 199 Vgl. Hoover – farmland to booming city, BN, 26.9.1985. 200 Damit verdienten achtzig Prozent der Einwohner Hoovers mehr als das, 1978 von Statistikern der Bundesregierung bei 5.000 bis 12.000 Dollar p. a. verortete, »middle income. 17,5 Prozent der Menschen in Hoover befanden sich innerhalb dieses Spektrums, 2,7 Prozent darunter, Hoover goes from burg to boom town, 14.1.1978, Birmingham Post-Herald. 201 Dass der Zuzug nach Hoover größtenteils ungeordnet verlief, zeigt auch die Verleihung des Onion Award für schlechte Stadtplanung des American Institute of Architects 1977, ebd. 202 Vgl. Titelseite, Birmingham Post-Herald, 22.6.1971.
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5. Skepsis und Gegner: Die untere Mittelklasse und neue Formen der Kritik am Wohlfahrtsstaat
Dieses Kapitel untersucht die zunehmende Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat der späten sechziger Jahre. Zunächst werden dazu die Abgrenzungsbemühungen der Mittelklasse geschildert. Neben ihrer Beschreibung als »Zwischenraum« zwischen Arm und Reich ließ sich dabei auch eine Binnendifferenzierung beobachten. Die Middle Americans erschienen als eine Gruppe innerhalb der Mittelklasse. Sie entwickelten im Wechselspiel mit der Fremdbeschreibung durch Journalisten und Politiker eigene Forderungen. Außerdem werden erneut wohnungspolitische Maßnahmen ins Zentrum gestellt, wenn es um die wohlfahrtsstaatliche Auseinandersetzung mit Menschen ging, die am unteren Rand der Mittelklasse vermutet wurden. Die Rechtfertigungen der FHA in einer Darstellung ihrer eigenen Geschichte vom Juni 1972 offenbarten die mittlerweile allgemein am Wohlfahrtsstaat angebrachte Kritik. Um sich und ihre Aufgaben zu legitimieren, betonten die Mitarbeiter der FHA, stets die Mittelklasse im Auge gehabt zu haben. Die Kritik am Wohlfahrtsstaat – wie etwa an der welfare mess, einer neuen Unübersichtlichkeit sozialpolitischer Programme – war in der zweiten Hälfte der Dekade intensiver geworden. Nachdem Social Security, als Bestandteil der social insurance-Sphäre des Wohlfahrtsstaats, über Jahrzehnte als achtbarer Kontrast zu welfare verstanden worden war, wurde in den späten sechziger Jahren auch an ihr Kritik laut. Diese wurde getragen von Vertretern der Chicago School. Wirtschaftswissenschaftler wie Milton Friedman klagten an, dass die Mittelklasse aus den Leistungen des Wohlfahrtsstaats überproportional großen Nutzen zöge, was sie auch am Beispiel von Social Security rational-ökonomisch zu belegen suchten.
5.1 Abgrenzungstendenzen der unteren Mittelklasse entlang wohlfahrtsstaatlicher Strukturen 5.1.1 Die Middle Americans als wohlfahrtsstaatlich bedingte gesellschaftliche Gruppe Gegen Ende der sechziger Jahre entdeckte Amerika die Middle Americans. War zu Beginn des Jahrzehnts die Entdeckung der Armen ein Anlass für weitgehende politische Reformen gewesen, stießen Presse und Politiker nun auf 169
eine weitere gesellschaftliche Gruppe. Dabei äußerten Sozialwissenschaftler bereits früh den Verdacht, die Middle Americans seien bereits länger da gewesen.1 Denn der Begriff wurde für jenen Teil der gesellschaftlichen Mitte verwendet, der zuvor meist als untere Mittelklasse bezeichnet wurde. Über sozioökonomische Merkmale hinaus wurden sie entlang bestimmter politischer Einstellungen charakterisiert. Neben dem Charakteristikum, am unteren Ende der Einkommensskala zu stehen galt für sie, dass sie zu großen Teilen in manuellen Berufsfeldern tätig waren oder im Dienstleistungssektor. Die Zuschreibung zur Mittelklasse erfolgte meist durch die Personen dieser Gruppe selbst. Sie wurden in Eigen- und Fremdbeschreibungen als nicht vermögend und dennoch stolz beschrieben: ein Charakterzug, den sie mit dem den bedürftigen white collar workers während der Zeit des New Deal teilten.2 Ihr vermeintlicher Stolz verbot auch ihnen, wohlfahrtsstaatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Lehrerin einer Schule in Detroit beschrieb 1970 aus ihrer Sicht dieses Phänomen: »They don’t ask for anything […] They have pride. This is the one thing these people have. They plug along as best they can. They don’t expect help and they don’t get it.«3 Wohlfahrtsstaatliche Hilfen kritisierten sie. Diese gingen im, durch den War on Poverty geprägten, öffentlichen Bewusstsein in konzentrierter Form an Benachteiligte in den Innenstädten und an Afroamerikaner. Mit der Beschreibung der Middle Americans durch Soziologen und Journalisten wurde die große Gruppe der Mittelklasse ausdifferenziert. Neben Unterteilungen in obere, untere und mittlere Mittelklasse, definierte man nun daneben weitere Gruppen und Schichten innerhalb der omnipräsent wirkenden Mittelklasse. Neue Bezeichnungen, wie New Class, Forgotten Americans und Middle Americans, griffen bestehende Bilder und ältere Stereotype auf: Aus Verhaltensmustern, Berufsstatus und Wohnort entstanden neue Untergruppen. Diese standen einander gegenüber, konnten aber auch, wie im Beispiel der Middle Americans und der New Class, einander bedingen. So entwickelte sich die Bezeichnung New Class im Geleit wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen. Der Begriff bezeichnete Intellektuelle einer oberen, oft gut verdienenden, Mittelklasse und linksgerichtete Sozialexperten in Behörden, Parlamenten und Gerichten. Sie schufen in ihrer Arbeit im Wohlfahrtsstaat Bilder einer unteren Mittelklasse. Diese war auch Teil einer gemeinsamen Mittelklasse, unterschied sich aber in Aspekten wie der Einstellung gegenüber Immigranten, Arbeitselan oder Bildungszielen. Durch die Fremdbeschreibung dieser unteren Mittelklasse vergewisserte sich die New Class ihres eigenen Kanons an Einstellungen und Werten. Die Genese der Middle Americans stellte beispielhaft der Soziologe Murray
1 Vgl. Friedman, America, S. 15.; zur unteren Mittelklasse als »defiziente Mittelschicht« vgl. Nolte u. Hilpert, S. 30–31. 2 Zu Versuchen der Bundesregierung, dieser Zielgruppe Hilfe zukommen zu lassen, vgl. das zweite Kapitel dieser Arbeit. 3 Eleanor R. Coghlan, zit.n. Binzen, S. 115.
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Friedman (1926–2004) in Beziehung zur New Class. Er zitierte 1971 den Präsidenten einer kalifornischen Hochschule: »This great middle class majority didn’t just spring up. They’ve been there all along, but the college-educated classes have been moving farther and farther away from the middle and lower classes. Their professors teach them to look down on […] all the popular manifestations of everyday culture. The professors represent a value system that is foreign to the middle class.«4
Auch Daniel P. Moynihan (1927–2003) beschrieb die untere Mittelklasse oder, in seinen Worten, die Forgotten Americans. Zu ihnen rechnete der einfluss reiche Soziologe und spätere demokratische Senator weiße, arbeitende Menschen, die im Jahr zwischen 5.000 und 10.000 Dollar verdienten, was zu wenig für ein Leben in einer Stadt wie etwa New York City war. Er beschrieb ebenfalls eine latente Verbitterung der Middle Americans, die in seinen Augen auch auf dem Unverständnis berufstätiger Weißer für Forderungen armer Menschen nach umfangreicherer Sozialpolitik beruhte.5 Zu den ersten, die öffentlich mit den Middle Americans sympathisierten, gehörte Richard Nixon. Von ihrer Unterstützung erhoffte er sich ein neues Reser voir an Wählerstimmen. In seiner öffentlichen Unterstützung der unteren Mittelklasse pflegte er auch das ihm attestierte Misstrauen gegenüber Intellektuellen. Nixon hatte, so beschrieb Moynihan, der ihm zu dieser Zeit als Berater diente, ein Artikel des damals 34-jährigen New Yorker Kolumnisten Pete Hamill beeindruckt. Dieser hatte am 14. April 1969 im New York Magazine vor einer Revolte der »White Lower Middle Class« gewarnt.6 Hamill schilderte die Wut einer vergessenen weißen unteren Mittelklasse. In seinem Artikel kritisierte er zunächst, der Begriff der lower middle class sei lediglich ein Substitut für jenen der working class. Einen Grund für diesen Austausch führte er nicht an. Jedoch schilderte auch Hamill die untere weiße Mittelklasse als genügsam und verbunden im Glauben an Fairness. Beispielhaft zitierte er den demokra tischen Abgeordneten Hugh Carey (1919–2011) aus New York. Ein großer Anteil von dessen Wählerschaft entstammte der unteren Mittelklasse. Carey wusste also, wovon er sprach, wenn er den, seiner Meinung nach repräsentativen, Familienvater aus der lower white middle class, den Middle American, und dessen Ansprüche beschrieb: »He […] wants a few beers on the weekend, he wants his kids to have decent clothes, he wants to go to a ballgame once in a while, and he would like to put a little money away so that his kids can have the education that he never could afford. That’s not asking a hell of a lot. But he’s not getting that. He thinks society has failed him and, in a way, if he is white, he is often more alienated than the black man. At least the black man has
4 S. I. Hayakawa, Präsident San Francisco State College, zit. nach Friedman, America, S. 20. 5 Vgl. Moynihan, S. 104–105. 6 Pete Hamill, The Revolt of the White Lower Middle Class, New York Magazine, 14.4.1969.
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hope […]. The white man who makes $7,000 a year, who is 40, knows that he is never going to earn much more than that for the rest of his life, and he sees things getting worse, more hopeless.«7
Hamill teilte in seiner Warnung vor gewalttätigen Unruhen der Middle Americans diese Einschätzung. In seinem Nachwort zum Artikel, betitelt mit »Hamill on Hamill«, beschrieb der irisch-stämmige Journalist seine Familie. Er identifizierte sich in diesem Peritext nicht nur ebenfalls als Abkömmling armer aber verdienter Amerikaner. Hamill nutzte auch die gleichen Muster, die schon zwanzig Jahre zuvor in den Briefen an das Curtis Committee Verwendung gefunden hatten. So betonte er die Beschäftigung seines nun invaliden Vaters in einer Munitionsfabrik während des Zweiten Weltkriegs. Dessen Einkommen habe 85 Dollar pro Woche nie überstiegen. Und obgleich Familie Hamill mit ihren sieben Kindern ein Anrecht auf welfare besessen hätte, habe sie dieses nie in Anspruch genommen: »The family never took welfare, although they were certainly entitled to it.«8 Das Anrecht auf Hilfsleistungen wurde nicht wahrgenommen, da der Stolz der Familie es verboten hatte. Daran lässt sich auch nachvollziehen, wie eine Ausdifferenzierung der Mittelklasse wahrgenommen und katalysiert wurde. Wie auch Hamill in seinem Artikel, hinterfragten Journalisten in Print, Rundfunk und TV nun regelmäßig, ob eine, die Gesellschaft fast komplett umfassende, Mittelklasse-Mehrheit wirklich existierte. Dahinter verbargen sich modernisierungskritische Motive, die vermeintlich zu optimistische Gesellschaftsprognosen der vorausgegangenen Jahre in Frage stellten, beschrieb ein Sozialwissenschaftler kurz darauf: »The euphoric concept of a middle-class majority, the end of manual labor, and a new age in human history is based on the inclusion in the middle class of steelworkers’ wives who go to work as cashiers and salesgirls.«9 Mit dem Anzweifeln einer allumfassenden Mittelklasse ging das neue Verständnis einher, nach dem sich ihre einzelnen Bestandteile voneinander entfremdeten. Sozialwissenschaftler und Journalisten beschrieben die Mittelklasse zunehmend als binnendifferenziert. Dabei bildete die Einstellung zu wohlfahrtsstaatlichen Vorkehrungen eine Konfliktachse zwischen den entstehenden Lagern innerhalb der Mittelklasse. Öffentliche Meinungsführer wie George Wallace und Daniel P. Moynihan warfen der als New Class bezeichneten Schicht linker Intellektueller vor, sie würde sich vom Rest der Mittelklasse entfernen. Die New Class blickte demnach herab auf eine als reaktionär, neurotisch und rassistisch eingestellt wahrgenommene untere Mittelklasse. Ähnlich schilderte dies erneut Murray Friedman:10 7 Hugh Carey, zit. n. ebd. 8 Ebd. 9 Levison, S. 36. 10 Murray Friedman war unter den ersten Sozialwissenschaftlern, welche die Proteste der sechziger Jahre gesellschaftlich einzuordnen versuchten. Wie viele seiner Kollegen wurden zunächst seine Arbeiten und später auch er persönlich (1986–1989 unter Reagan) herangezogen, wenn politische Reformen wissenschaftlich fundiert werden sollten.
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»To Middle Americans in the latter part of the 1960’s, the suspicion grew that an informal alliance had been effected between better-educated and upper-class whites and the black poor and other minorities – direct against them.«11
In einem Klima gegenseitigen Unverständnisses bildete der Kerner Report 1968 eine Klimax der Auseinandersetzung. Der 1908 geborene, ehemalige Gouverneur von Illinois, Otto Kerner, befand in seinem Bericht zu den Ursachen der Rassenunruhen, es existierten mittlerweile eine weiße und eine schwarze Gesellschaft parallel zueinander.12 Diese postulierte Zweiteilung ergänzte verschiedene Formen der gesellschaftlichen Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Ethnien, Religionen und Hautfarben. Dazu gehörten auch tolerierte, alltägliche Formen der Xenophobie gegenüber italienisch- oder polnischstämmigen sowie jüdischen Amerikanern. Auch mit vermeintlich kulturellen Unterschieden zwischen weißen Amerikanern unterschiedlicher Abstammung (white ethnics) wurden nun Kluften zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Mittelklasse erklärt.13 Moynihan etwa beschrieb 1973 mit Blick auf die vorausgegangenen Jahre eine zunehmende Ausdifferenzierung der Mittelklasse als Konsequenz eines gewachsenen Selbstbewusstseins der white ethnics: »[…] there was then beginning to be voiced a generalized but powerful sentiment among the white working-class that it was being discriminated against, even exploited, in the interest of lower-class minorities.«14 Der Begriff der »Minderheiten aus der Unterklasse« stand dabei vor allem für Afroamerikaner. Politiker wiederum beschäftigte die Frage, wie die untere Mittelklasse als Unterstützerin gewonnen werden konnte. Beide großen Parteien umwarben sie. Dass die Leitfrage, wie diese vielversprechende Wählergruppe anzusprechen war, wohlfahrtsstaatliche Komponenten zentral stellte, zeigte ein Bericht des Arbeitsministeriums von 1970, der sogenannte Rosow Report.
5.1.2 »The Problem of the Blue-Collar Worker«: Der Rosow Report, 1970 Wie ein zentraler Teil des Kabinetts Nixons die Middle Americans unterstützen wollte, zeigte ein 1970 von einem Unterausschuss im Arbeitsministerium verfasster Bericht zur Situation der unteren Mittelklasse.15 Am 13. April 1970 hatte sich Präsident Nixon per Memorandum an die Mitglieder des Council for Urban Affairs gewendet, das kurz zuvor um Moynihan installiert worden war. Erst seit Kurzem, so der Präsident, waren in einem anderen Ausschuss die »Konfusion 11 Friedman, America, S. 22. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Lerner, S. 146. 14 Moynihan, S. 104. 15 Der Bericht wird zeitgenössisch eingeordnet von Parker, S. 134.
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und Komplexität« thematisiert worden, welche bundesstaatliche Programme hervorriefen: »[…] there are now a multitude of planning assistance and action programs which are financed by the Federal government and which run to states, to cities, to metropolitan areas, and even to Regional Commissions made up for more than one State.«16
Wie schon seine Vorgänger betonte Nixon, grundlegende Ordnung in das Chaos bringen zu wollen: »It is my desire […] that we not simply manage the chaos.« Hierzu beauftragte er seinen Protegé, den 38-jährigen Donald Rumsfeld, mit der Gründung eines neuen Unterausschusses des Council for Urban Affairs, »whose purpose will be to do a thorough analysis of the overlap and effectiveness of planning assistance programs […]«.17 Eine Woche nach diesem Impuls übermittelte das Arbeitsministerium am 20. Juni 1970 seinen Bericht zur Lage der blue collar workers an das Weiße Haus. Die verantwortliche Arbeitsgruppe überschnitt sich personell mit dem Council for Urban Affairs. Ihr gehörten unter anderem Moynihan, Rumsfeld, Bob Haldeman und John Ehrlichman an. Leiter war Jerome M. Rosow (1919–2002).18 Der Bericht stellte zunächst die von ihm untersuchte Gruppe vor. In einer Erweiterung des Titels »The Problem of the Blue-Collar Worker« bestand diese indes auch aus zwei Millionen »minority group males […] who share many of the same problems as whites in their income classes.« Wieder wurde also die Einkommensgruppe als vereinendes Merkmal über Hautfarben, Berufsbilder und Wohnort gestellt. Der Report Rosows hob hervor, die Sorgen der nicht-weißen Gruppe seien deckungsgleich zu denen der weißen Arbeitnehmer. Für die gesamte gesellschaftliche »group« befand der Bericht, sie sehnte sich nach »law and order and other middle-class values«. Jene Kriterien, welche die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen einten, wurden als Werte der Mittelklasse beschrieben. Die grundlegenden Probleme von Menschen aller Hautfarben aus diesen Einkommensgruppen glichen einander stärker, als es die städtischen Unruhen vermuten ließen. Dies gelte auch trotz beachtlicher Einkommensunterschiede. Das jährliche Medianeinkommen aller schwarzen Familien lag mit 5.590 Dollar gerade einmal bei 63 Prozent von dem der Weißen, das mit 8.937 Dollar beziffert wurde. Trotz dieser beachtlichen Differenz betonten Rosow und sein Stab die grundlegend vergleichbaren wirtschaftlichen und sozialen Probleme, »related to wage, tax and government benefit structure for the nonpoor – a fact not given adequate recognition by the media, which, to the extent it emphasizes only the black ghetto, perpetuates a stereotype«. 16 Nixon, Memorandum for Members of the Urban Affairs Council, 13.4.1970, Akte: Domestic Council: General, Box: I 269, MP, LOC. 17 Ebd. 18 Rosow gründete 1975 das Work in America Institute, unterstützt durch eine Spende der Ford Foundation, vgl. Jerome Rosow, Oil Executive, 82; Led Workplace Research Group, NYT, 21.10.2002.
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Den vergleichbaren Problemen werde zugunsten der Berichterstattung über die Ghettos Amerikas zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Verantwortlich dafür war in den Augen des Vertreters des Arbeitsministeriums die Einstellung der Amerikaner zu Löhnen und Gehältern. Sie basierte auf der ethischen Überzeugung »equal pay for equal work«, gleiche Arbeit müsse gleich bezahlt werden: »It does not provide additions for either growing family size or age (except as it may reflect job seniority); payment is exclusively for work done […] and, unlike the situation in many other countries, the wage structure is not supplemented by public payments based on family size, although income tax exemptions give some recognition […].«19
Das Verständnis einer auf der verrichteten Arbeit beruhenden Gehaltsstruktur schuf demnach Ungleichbehandlungen, die zuerst Familien, Kranke und Alte treffen mussten. Rosow nutzte dann die Worte, die Moynihan später mehrfach als Ursache für die Wut der unteren Mittelklasse verwendete und die sich auch in Pete Hamills oben zitierten Artikel von 1969 fanden: »The children of this group in our society are not ›making it‹ to the same degree as are children in the middle and upper-middle classes.« Kindern dieser Gruppe blieb der gesellschaftliche Aufstieg verwehrt. Sie »schafften es nicht mehr«. Mehr noch: Den Status ihrer Eltern schienen sie nicht einmal mehr halten zu können. Auch hier wurde der Vorwurf laut, Armen würde zuviel Hilfe zukommen, während die untere Mittelklasse alleingelassen werde: »Many white and black school dropouts are from this lower-middle-income group; in some of the urban areas the dropout rate for this group runs about 30 percent. […] Present efforts to reduce youth unemployment […] are geared to disadvantaged youth – not these people.«20
Wieder schien es, dass diejenigen, die sich nur knapp nicht für wohlfahrtsstaatliche Hilfen qualifizieren konnten, keine Beachtung fanden und gleichsam vergessen wurden. Ein zweiter Teil des Berichts beschrieb den zunehmenden Druck, dem die untere Mittelklasse aufgrund wohlfahrtsstaatlicher Hilfen ausgesetzt würde: »People working and living close to the margin of economic needs are under constant pressures. These pressures have an economic base but find other outlets, other frustrations of a social nature. […] they feel like ›forgotten people‹ – those to whom the government and the society have limited, if any direct concern and little visible action.«21
19 Jerome M. Rosow (Assistant Secretary of Labor), The Problem of the Blue-Collar Worker, Memorandum for the Secretary, 20.4.1970, Akte: Domestic Council: General, Box: I 269, MP, LOC. 20 Ebd. 21 Ebd.
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Neben der Angst vor Kriminalität und wirtschaftlicher Stagnation gehörte für die »forgotten people« ihr »class status« zu den drängendsten Sorgen. Da sie ökonomisch nicht aufsteigen könnten, fühlten sie sich durch den gesellschaftlichen Aufstieg von Schwarzen und anderen Minderheiten unter Druck gesetzt: »As the minorities move up a bit, they squeeze these people.« Dieser Aufstieg war dadurch gekennzeichnet, dass Afroamerikaner dank wichtiger Erfolge der Bürgerrechtsbewegung nun immer mehr zu gleichberechtigten Mitbewerbern in den Feldern »housing, schools, and jobs« wurden. Daraus folgten »Ängste« und das Gefühl, »vergessen zu werden«, befand der Expertenstab aus dem Arbeitsministerium. Als Ursache der Furcht vor Vernachlässigung sah auch Rosow die räumliche Nähe der unteren Mittelklasse zu den Armen: »These people are most exposed to the poor and the welfare recipients. Often their wages are only a notch or so above the liberal states’ welfare payments. Yet they are excluded from social programs targeted at the disadvantaged […].« Der soziale Druck auf diese Gruppe, deren Erfahrungswelt die Ungerechtigkeit wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen zu belegen schien, vervollständigte sich durch das Verständnis, als Steuerzahler für diese wohlfahrtsstaatlichen Hilfen aufzukommen. Wieder stand das Motiv des Steuerzahlers im Zentrum, wenn Rosow zusammenfasste: »As taxpayers, they support these programs with no visible relief – no visible share.«22 Das Gremium um Rosow bot abschließend recht allgemeine Lösungsvorschläge an. So sollte das Image handwerklicher und manueller Berufe gesteigert werden. Der Bund sollte zudem umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaß nahmen und Qualifizierungsprogramme initiieren. Die Vorschläge schienen geradezu inspiriert von New Deal und War of Poverty. Neben allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Initiativen wurde lediglich ein konkretes aktuelles Vorgehen gelobt: »Action has been taken to pump more mortgage money into the housing market which should increase the houses available to low-income workers and reduce their costs.«23 Zusätzliche Mittel für Hypotheken sollten letzten Endes allen helfen. In der wohlfahrtsstaatlichen Wirkungskette war das eigene Haus der Auslöser für die Linderung gesellschaftlicher Probleme. Wieder lag die Förderung von Wohneigentum als Option auf dem Tableau. Das Begleitschreiben des damaligen Arbeitsministers, George P. Shultz, fasste den Bericht zusammen und hob dessen Kernaussagen hervor. Shultz betonte, dass auch er die Situation des »lower-middle-income worker« als besorgnis erregend sah. Seine Sorge schlösse dabei alle in dieser Einkommensgruppe versammelten Ethnien, Hautfarben und Berufe ein: »white, black, other minorities, and especially blue-collar workers«. Wie von Rosow angemerkt und später auch von Moynihan verwendet, pointierte auch Shultz: »They are not ›making it‹. […] They have received relatively little attention in the midst of the Nation’s focusing on the urgent needs of the disadvantaged.« Nicht weniger als vierzig Prozent 22 Ebd. 23 Ebd.
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der Familien der USA sah Shultz von dieser Vernachlässigung betroffen: »Forty percent of American families – including 70 million family members – have incomes between $5,000 and $10,000 a year and might be termed ›lower-middleincome.‹« Diese Familien ähnelten einander, in den Beschreibungen des Arbeitsministers, vor allem im Status der Väter. Sie beschrieb Shultz als »vigorous, fully employed blue-collar worker with heavy family responsibilities (although many of this group are also in white-collar or service jobs)«. Sie hatten auf der Karriereleiter die oberste, für sie erreichbare, Sprosse erklommen: »[…] yet their expenses continue to rise, as the last family members are born, as they become homeowners, as car and home equipment pressures mount, as the children may become ready for college, or support is needed for aging parents.«24
Die wohlfahrtsstaatliche Komponente der Versorgung alter Familienmitglieder war erneut ein zentraler Kostenfaktor, der hier noch von Familie und Staat zugleich, mit Betonung auf der familiären Verantwortung, geteilt wurde. Auf diese Familien wartete ein als feindlich beschriebenes Umfeld. Steuern und Abgaben verschlängen einen zu hohen Anteil des Einkommens. Fehlannahmen der Regierung sorgten für eine Vernachlässigung dieser Gruppe, berichtete Shultz seinem Präsidenten: »Government aids which would increase income such as the minimum wage and job training programs are not for this group because they have presumably ›made it.‹« Shultz fasste die Vernachlässigung zusammen: »At the short end of the income class, they also get the short end of the social advantages. Living in close proximity to the poor and the next-poor, they rub up against these severe social tensions in their daily lives. They feel the relentless pressures of the minorities in their immediate neighborhoods, at the job site, in the schools, and in the community. Observing the welfare programs for the poor, they feel excluded and forgotten. As taxpayers they help pay the freight for ›free riders‹ and get none of the apparent help.«25
Die unmittelbare politische Gefahr, die in den dreißiger Jahren in der Radikalisierung von Angestellten gesehen wurde, taucht nun im Bild des Demagogen Wallace auf, das der spätere Außenminister Shultz bemühte. Ihm würde sich der Familienvater aus der unteren Mittelklasse zuwenden, sollte er nicht mehr Aufmerksamkeit erfahren: »In the absence of attention to his specific problems by either political party, he will support politicians such as Wallace. […] Resentment against blacks and even against the government is likely to worsen with any increase in unemployment, continued inflation, together with a continued push for opportunities for the disadvantaged […].«26
24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd.
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Auch Shultz plädierte für staatliche Hilfe, die der unteren Mittelklasse den sozialen Aufstieg ermöglichen sollten, um so Ärmeren den Aufstieg zu erleichtern. Er betonte, wohlfahrtsstaatliche Hilfen »would […] tend to ease pressure on wages, reduce racial tension and open up new and better opportunities for the poor, as those above them ›move up.‹« Eine weitere Arbeitsgruppe im Arbeitsministerium sollte sich der von Rosow zusammengetragenen Probleme und Sorgen der Middle Americans annehmen: »Among the initial areas to be explored are health, job safety, housing, minimum wage, pension-vesting, discrimination and job status, as well as an understanding of the wants, needs and concerns of the worker.«27 Der von Rosow erarbeitete Bericht provozierte demnach eine Reihe von Reaktionen und Folgeprojekten. Bemerkenswert waren dabei auch die Umstände seiner Entstehung. Der Bericht wurde kurz nach seiner Fertigstellung im Frühling 1970 anonym an die Presse weitergegeben und im Sommer 1970 veröffentlicht.28 Damit stand der Bericht von Rosow nicht nur in einer Linie mit dem Family Assistance Plan (FAP), den Nixon in dieser Phase entwickeln ließ.29 Er wurde, zumeist von Kritikern, auch als eine Neuauflage liberaler Großprojekte wie New Deal oder War of Poverty gesehen. Aus solchen negativen Reaktionen schloss Nixon, dass eine politische Mehrheit mit diesem Thema nicht ohne weiteres zu begeistern sei: trotz der von Rosow und Shultz postulierten vierzig Prozent der Amerikaner, die betroffen waren. 5.1.3 White collar worker und blue collar worker als Teil der Mittelklasse Folgt man dem Soziologen Stephan Lessenich, ist der Wohlfahrtsstaat nicht die »markt-, sondern moralökonomische Antwort auf die Frage, wem in einer Gesellschaft der marktförmigen, über die Logik der Kapitalverwertung vermittelten Arbeitsteilung was zusteht – und warum.« Für Lessenich stellt die wohlfahrtsstaatliche »Anerkennungsordnung« gar eine »Achse der Strukturierung individueller Lebenschancen und gesellschaftlicher Statuspositionen« dar.30 Legt man diese Sicht als Schablone auf die Situation der unteren Mittelklasse der USA um 1970, markierte der Wohlfahrtsstaat auch, wer sich welcher gesellschaftlichen Gruppe zurechnen konnte. Wie auch im Rosow Report geschildert, wurden die Grenzen der unteren Mittelklasse um 1970 nicht entlang der Kragenlinie gezogen. Die Unterschiede zwischen blue und white collar workers wurden von Gemeinsamkeiten, die sich am Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat ablesen 27 Von der Einrichtung dieser Arbeitsgruppe berichtete ein Memorandum an die Mitglieder des Council for Urban Affairs vom 12. Oktober 1970: John D. Ehrlichman an Members of the Domestic Council, 12.10.1970. Akte: Domestic Council: General, Box: I 269, MP, LOC. 28 Friedman, America, S. 38. 29 Vgl. ebd., S. 39. 30 Lessenich, S. 103.
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ließen, überdeckt. Zeitgenössisch beschrieben die beiden Politikwissenschaftler Richard M. Scammon und Ben J. Watenberg die Mehrheit der Amerikaner als »unyoung, unpoor and unblack«. Diese negativen Attribute lauteten im positiv gewendeten Urteil der beiden: »middle-aged, middle-class, middle-minded«.31 Ihre Studie »The Real Majority« erschien 1970 und damit in einer Phase, in der sich die politischen Mehrheitsbilder verschoben zu haben schienen. Die Historikerin Mary Kay Vaughan beschrieb dies als Abschluss eines Wandels im seit der Nachkriegszeit gehegten Selbstverständnis der Mittelklasse: »They forged their identity around a core set of values – thrift, sobriety, self-discipline, order, hygiene, work, responsible patriarchy, and empathy. They believed these to be lacking or deficient in those above and below them in the social hierarchy.«32
Im gleichen Jahr, in dem »The Real Majority« erschien, widmete sich Eric H offer (1902–1983) der so oft gestellten Frage, was einen Amerikaner überhaupt auszeichnete. Die Frage hatte jedoch nun einen anderen Klang als den, der sich in Crèvecœurs »Letters from an American Farmer« von 1782 heraushören ließ. Hatte der französische Autor gefragt, was einen Amerikaner ausmachte, sollte 188 Jahre später präzisiert werden, wem Amerika gehörte. Die Antwort des Philosophen Hoffer lautete: »It is the country of the common – the common men and women, a good 70 percent of the population – who do most of the work, pay much of the taxes, crave neither power nor importance, and want to be left alone to live pleasurable humdrum lives.«33
Einen Einblick in das Leben dieses »gewöhnlichen Mannes«, des Average Joe, dem amerikanischen Pendant zum deutschen Otto Normalverbraucher, bot 1971 ein Aufsatz von Richard Rogin. Er beschrieb den New Yorker Joe Kelly. Der Aufzugsmonteur arbeitete an einem der Türme des World Trade Center, das in diesem Jahr erbaut wurde. Kelly hatte drei Kinder, verabscheute Hippies und glaubte fest an law and order. Daher hatte er Nixon gewählt und sich bei der berühmt gewordenen Schlägerei an der Wall Street zwischen Kriegsgegnern und Bauarbeitern tatkräftig beteiligt. Kelly fürchtete, der Zuzug von Schwarzen würde seinen Traum vom guten Wohnviertel zerstören. Er beschrieb dies als ungerecht, da er selbst so hart daran gearbeitet hatte, um anzukommen, wo er nun war.34 Die Grenzen zwischen blue und white collar, die auch nach 1970 im Sprachgebrauch weiter bestanden und die Arbeitnehmer in manuellen und administrativ-kaufmännischen Berufsfeldern voneinander trennten, erschienen nun verwischt. Kinder von Arbeitern konnten dank erweiterter Bildungschancen 31 Vgl. Scammon u. Wattenberg; auch Friedman erwähnt die Ergebnisse der beiden Polito logen: Friedman, America, S. 41. 32 Vaughan, S. 223. 33 Eric Hoffer, Whose Country Is America? NYT Magazine, 22.11.1970, S. 121. 34 Vgl. Rogin.
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und dem proportionalen Zuwachs von administrativen Berufen leichter Angestellte werden. Zudem hatten sich Arbeitnehmer immer mehr Rechte und Vorteile am Arbeitsplatz erstritten. Umgekehrt litten auch immer mehr Angestellte unter der Furcht struktureller Arbeitslosigkeit, welche nun auch die einst als krisenfest geltenden Berufe betraf.35 Der bereits zitierte Soziologe Herbert J. Gans unterschied schon 1962 zwei Schulen der Beschreibung von gesellschaftlichen Klassen. Neben ihrem analytischen Beitrag zur Bestimmung sozialer Lagen zeigten seine Beobachtungen die grundlegende Einsicht, dass die Kategorien white collar und blue collar nicht mehr zur Differenzierung, ob jemand zur Mittelklasse gehörte, geeignet schienen. Gans verstand Klasse vielmehr als heuristisches Konzept. Als Arbeitshypothese konnte es der Forschung dienen, wenn vorläufige Annahmen zur gesellschaftlichen Position entlang der Kriterien Einkommen, Beruf, Bildung und damit verbundenen Charakteristika gemacht wurden. In der Erweiterung plädierte Gans jedoch dafür, Klasse als tatsächliches Aggregat von Menschen zu verstehen. Diese teilten spezifische Gruppeninteressen und bevorzugten einander in sozialen Beziehungen. Außerdem wiesen sie, in unterschiedlich ausgeprägten Maße, ein Gruppenbewusstsein auf. Innerhalb dieser Erweiterung sah Gans zwar eine vorgelagerte Definition der Mittelklasse durch den Beruf am vielversprechendsten. Durch ihn erlange das Individuum Zugang zu Einkommen, Macht und Status. Berufsbedingte Aggregate wiesen wiederum wiederkehrende Merkmale in sozialen Beziehungen, Verhaltensmustern und Attitüden auf.36 Für die historische Betrachtung der Mittelklasse eignet sich eine ausschließliche Definition einer Klasse anhand des Berufs in den sechziger Jahren, anders als etwa im frühen Stadium der Industrialisierung, jedoch kaum. Die freie Berufswahl und die mannigfaltigen Variationen innerhalb der verschiedenen Berufsfelder verbieten, dieses Merkmal für diesen Zeitraum sui generis heranzuziehen. Auch Gans beschrieb die Widersprüche, die daraus entstünden: »[…] when a blue-collar worker earns more than a white-collar one, and can live by the values of the middle class, it would be a mistake to classify him as working class. Similarly, when a white-collar worker lives like a blue-collar one, even in a middleclass neighborhood, one should not consider him middle class.«37
Die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern mit einem weißen und einem blauen Kragen, also nach den reinen Berufsbezeichnungen, war somit keine hinreichende Hilfe bei der Definition des Begriffs der Mittelklasse. Gleichzeitig führte die daraus resultierende Arbitrarität des Begriffs der Mittelklasse zu einer Situation, in der die Beschreibungen »der« Mittelklasse nie eine klar erkennbare Gruppe kennzeichneten. In seinem 1974 erschienenen Bei35 Kocka diagnostiziert dies für die deutschen Angestellten, vgl. Kocka, S. 51. 36 Diese bezeichnete Gans als Subkulturen: Gans, S. 242. 37 Ebd., S. 243.
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trag im New Yorker beschrieb Journalist Andrew Levison vermeintliche Fehlkonzeptionen, die sich so in die Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft eingeschlichen hätten.38 So sei man in den vorausgegangenen zwanzig Jahren fälschlich von einer Mehrheit der Mittelklasse ausgegangen. Ihre postulierte zahlenmäßige Dominanz, von der Kommentatoren seit Kriegsende ausgegangen waren, sei eine falsche Wahrnehmung einer Gesellschaft, in der noch immer die Arbeiterklasse, die Levison mit den blue collar workers gleichsetzte, den größten Anteil stellte. Zwar waren Zahl und Anteil der white collar workers zwischen 1950 und 1969 stärker gewachsen als jene der blue collar workers: hier von 13 auf 19 Millionen um 46 Prozent und dort von 22 auf 26 Millionen um 18 Prozent. Damit sank der von Levison errechnete Anteil der Arbeiter an der Bevölkerung von 62,4 auf 57,5 Prozent. Levison betonte jedoch, dass er jene nicht einberechnet hatte, die er als »falsch« klassifiziert beschrieb: Verkäufer und prekär beschäftigte Angestellte.39 Aus seinen Berechnungen und Beobachtungen schloss Levison auf eine Mehrheit der Arbeiterklasse in den USA der siebziger Jahre: »[…] twenty-six million working-class American men and nineteen million middle-class American men – a raw social and political fact that cannot be denied.«40 Eine Mehrheit der Mittelklasse wurde damit in dem Moment bezweifelt, in der sie als vermeintlich gesellschaftliche Gewissheit wahrgenommen worden war. Obwohl Levison über die Unterschiede zwischen white und blue collar-Arbeitnehmern sprach und obgleich er Wert auf präzise Unterscheidungen legte, setzt er an dieser Stelle white collar workers und Mittelklasseangehörige gleich. Abschließend zeigte er jedoch die, in seinem Urteil, bestehenden Unterschiede zwischen blue collar workers und der Mittelklasse auf, die sich insbesondere aus dem geringeren Verdienst des Großteils dieser Gruppe ergaben. Betrachtungen anderer Autoren seien von einer maximal 15-prozentigen Gruppe der blue collar workers ausgegangen und damit nur von den gutausgebildeten Arbeitern, Handwerkern und Vorarbeitern, welche sich tatsächlich einen mit der Mittelklasse konnotierten Lebensstil erlauben konnten.41 Auch ohne noch detaillierter in die Grundlagen von Gans oder Levison zu gehen, zeigen die beiden Ansichten zu Ausdifferenzierungen und Fehlperzeptionen, dass der Begriff der Mittelklasse auch zwischen 1962 und 1974 umstritten blieb. Teil der Aushandlung war dabei, ob Arbeiter dazu gehörten oder nicht. Besonders einte die Kritiker eine Unzufriedenheit mit einer monolithisch beschriebenen Mittelklassemehrheit. Aus ihrer Sicht ließ sich die Mittelklasse intern in unterschiedliche Lager, Positionen und Gruppen differenzieren. Nur wenige standen außerhalb.
38 Vgl. Levison. 39 Vgl. ebd. S. 36. 40 Ebd. 41 Vgl. ebd., S. 37.
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5.1.4 Die Abgrenzung der Mittelklasse von den Reichen um 1970 Wer sich als Teil der Mittelklasse beschreiben wollte, benötigte, neben intrinsischen Statusanzeigern, wie zum Beispiel dem eigenen Haus, auch Gewissheit über seinen relativen Status. Dieser ergab sich zumeist aus der Lage zwischen zwei Polen und dem Bewusstsein, sich zwischen diesen beiden Extremen zu befinden.42 Daher konnten auch durch Beschreibungen der Besserverdienenden, gleichsam nach oben, Abgrenzungsbemühungen und Polarisierungstendenzen beobachtet werden. Richtete sich etwa ein Politiker an ein Publikum, das er als Mitte adressierte, konnte er dieses klarer beschreiben, wenn auch eine obere Grenze markierte. Vielfach verwendet wurde hierzu der Begriff des Steuerzahlers. Am 13. April 1969 veröffentlichte das New York Times Magazine einen Artikel, der diesen Begriff zur Abgrenzung der Mitte gegenüber Armen und Reichen zugleich einzusetzen wusste. Hier empfingen die Armen durch Steuern finanzierte welfare. Dort entkamen die Reichen ihrer Steuerpflicht. In »How 381 Super-Rich Americans Managed Not to Pay a Cent in Taxes Last Year«43 beschrieb der Autor nicht nur, wie es einigen Superreichen gelänge, gar keine Steuern zu bezahlen. Er berichtete auch über die vermeintlich gängige Praxis reicher Amerikaner, nur ungerecht geringe Einkommensteuern zu entrichten. Die Ungerechtigkeit belegte der Bericht durch die Gegenüberstellungen zu prozentualen Einkommensteuerzahlungen durchschnittlicher Verdiener. Da diese oft nur über einen Bruchteil des absoluten Einkommens verfügten, stand die Benachteiligung und nicht der Aspekt einer prozentualen Einkommensteuerlast im Vordergrund. Um 1970 waren diese Gegenüberstellungen nicht selten. Aus dem kalifornischen Eureka etwa erreichte Wilbur Mills und dessen Ausschuss Ways and Means am 11. April 1971 ein Schreiben von Kathryn L. Corbett, das diese an ihren Abgeordneten geschickt hatte.44 Sie hatte soeben ihre Einkommensteuer gezahlt: »Its amount is horrendous, but it is particularly difficult to understand when I read in the paper that over 200 persons in the United States with incomes of over one million dollars each paid no tax this year. […] Something is wrong wrong wrong in a tax
42 Vgl. Bourdieu, Genesis, S. 725. 43 How 381 Super-Rich Americans Managed Not to Pay a Cent in Taxes Last Year, New York Times Magazine, 13.4.1969. 44 In Fachfragen oder Beschwerden leiteten die Abgeordneten die Briefe der Bewohner ihrer Wahlkreise in den allermeisten Fällen an die jeweiligen parlamentarischen Fachausschüsse mit der Bitte um Beantwortung weiter; Kathryn L. Corbett an ihren Abgeorneten, Don H. Clausen, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; Wilbur Mills war seit 1957 Vorsitzender des Committee on Ways and Means und damit, nach dem Speaker und dem Majority Leader, anerkanntermaßen der drittmächtigste Politiker im Repräsentantenhaus. Mit 29 Jahren ins House gewählt, galt der Sohn reicher Eltern als »politician’s politician«, vgl. Mr. Mills Emerges, Washington News, 21.12.1957.
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structure when those of us in the middle pay the taxes, and if you really make money, you don’t pay. […] I urge you to do something to end this gross inequity.«45
Mills und seine Mitarbeiter bemühten sich, auf die Petition einzugehen. So berichtete Mills, das Finanzministerium hätte im Jahr 1968 einen Bericht veröffentlicht, nach welchem 154 Personen mit Jahreseinkommen über 250.000 Dollar keine Einkommensteuer gezahlt hätten. Aufgrund dieser Vorwürfe, so Mills, sei daher ein Gesetz zur Steuerreform in seinem Ausschuss erarbeitet worden, dass diese Ungerechtigkeit in Zukunft unterbinden sollte. So wäre es zum Beispiel fortan verboten, Verluste aus Agrargeschäften mit Gewinnen außerhalb von Agrargeschäften zu verrechnen, um so Steuern auf letztere zu sparen. Die Neuregelung sollte jedoch erst ein Jahr später in Kraft treten.46 Der Wirtschaftshistoriker W. Elliot Brownlee hat auf die Instrumentalisie rung von Steuerpolitik zu sozialpolitischen Zwecken hingewiesen. Dabei hat er wohlfahrtsstaatliche und moralische Ideen im Zentrum als verbunden beschrieben: »Politicians became attracted to tax expenditures as a way to accomplish social goals – such as the promotion of home ownership embedded in the deduction of mortgage interest – without having to make large and politically difficult direct expenditures of funds.«47
Gleichzeitig schilderten Ökonomen wie Joseph A. Pechman (1918–1989) und Stanley S. Surrey (1910–1984) Ungerechtigkeiten, die sich aus einer Vielzahl von Abschreibungsmöglichkeiten und Sonderregelungen ergaben.48 Bei der Einkommensteuer galt, dass von Abschreibungen und Ausnahmen nur profitieren konnte, wer sie überhaupt zahlen musste. Dass Reiche hier den größten Vorteil genossen, wurde in der Öffentlichkeit latent wahrgenommen.49 Die Selbstwahrnehmung der Mittelklasse als Steuerzahler diente somit nicht nur als Kriterium, wenn sie nach unten, sondern auch nach oben abgegrenzt werden sollte. Auch hier fand der Begriff der Revolte Anwendung. Finanzminister Joseph W. Barr, der mit nur einem Monat Amtszeit eigentlich wenig Zeit dazu hatte, warnte vor einer »Steuerzahlerrevolte«, sollten Steuerschlupflöcher für Reiche nicht bald geschlossen werden. Zuvor hatten Zeitungsberichte Aufmerksamkeit erregt, wonach in den USA einige Hundert Millionäre so gut wie keine Einkommensteuer zahlen würden.50 Wie oben von Corbett im Schreiben 45 Ebd. 46 Mills an Clausen, 26.4.1971, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 47 Brownlee, S. 109. 48 Sie standen damit in der Tradition von Wirtschaftswissenschaftlern wie Thomas S. Adams, Robert Murray Haig und Henry Simons, die vor den gleichen Gefahren bereits in den 1920er und dreißiger Jahren gewarnt hatten: vgl. ebd. 49 Vgl. Stearn, S. 123. 50 Briefe an das Committee on Ways and Means, Anfang 1971, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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an ihren Abgeordneten angeführt, kursierten zu Beginn der siebziger Jahre vermehrt solche Berichte.51 Dies provozierte eine Debatte, in der sich die meisten Beschwerden gegen Steuerschlupflöcher, sogenannte loopholes, richteten: »Capital gains, for example, are taxed at half the rate of earned income, and income from municipal bonds is not taxed at all. Such tax breaks and ›loopholes‹ constitute a form of social policy.«52 Kritiker der hier nicht intensiver analysierten Steuerreform von 1969 befanden, dass sie das Problem der Steuerschlupflöcher nicht gelöst hatte. Wilbur Mills äußerte sich optimistischer. In einem Brief an einen Gewerkschaftsvertreter betonte er, dass die Effekte der Reform erst nach drei bis vier Jahren eintreten würden. Dennoch versicherte er, die 112 Fälle, in denen Einkommen von über 200.000 Dollar steuerfrei geblieben seien, untersuchen zu lassen.53 Die Steuerreform von 1969 sahen Mills und seine Mitstreiter im Committee on Ways and Means hingegen als die umfassendste seit der Einführung der Einkommensteuer im Jahr 1913.54 Dennoch reagierten die Beobachter aus der Mittelklasse empört. Zu ihnen gehörte die Studentin Carla Wool, die den Artikel zu den nicht ausreichend besteuerten Reichen in einem Soziologie-Kurs gelesen hatte: »As a future taxpayer of this country I am totally discusted [sic] and disappointed in the government my parents elected. I shutter [sic] to think of what the taxes will be like when I become a [sic] official taxpayer.«55
Wool identifizierte sich bereits mit ihrer zukünftigen Rolle als »offizielle Steuerzahlerin«. Die exklusiv für Reiche bestehende Möglichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit in bestimmten Fällen beschrieb eine Bostoner Studentin am 17. Februar 1971: »[…] in my course of studies I have found that our country has a tax reform problem. It seems that the middle and lower income families are hit the hardest by taxes while the upper income bracket avoids taxes by the various loopholes in our tax system.«56
Ein Stadtentwicklungsplan für die Industriemetropole Detroit, auf den im sechsten Kapitel noch näher eingegangen wird, benannte ebenfalls Steuerschlupflöcher. Sie wurden hier als eine Form wohlfahrtsstaatlicher Politik für Besserverdienende beschrieben.57 Als regelrechte Form der welfare für Reiche 51 Vgl. z. B. 112 With Income Of $200,000 Paid No Tax, St. Louis Post-Dispatch, 3.1.1972. 52 Meyers u. Musial, S. 97. 53 Mills an William C. Hall, Amalgamated Clothing Workers of America, 4.2.1972, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 54 John M. Martin jr. an das Sociology Department des Grahm Junior College, 25.2.1971, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 55 Carla Wool an Mills, 18.2.1971, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 56 Alice Mary Crum an Mills, 17.2.1971, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 57 Meyers u. Musial, S. 97. Damit ähnelt der Text der Polemik von Zepezauer.
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beschrieben Autoren die zahlreichen Sonderbedingungen des Steuersystems.58 Seinem Abgeordneten legte Mr. Bradbury aus North Carolina im März 1972 die Ungerechtigkeit der Situation aus der Sicht des »middle income man« dar. Diese stellte sich im auch im historischen Vergleich zu denen dar, die nicht ihren fairen Anteil an den Ausgaben der Exekutive aufbrachten. Auch Bradbury stilisierte sich als Sprecher seiner Gruppe, der »middle income men«. Auch er sah die Mitte als Unterstützerin sowohl der Armen als auch der Reichen: »We find it exceedingly hard to take that the middle income man will again be bitten when the wealthy are left virtually untouched. Why? It is one thing to pay one’s fair share of the governmental expense and quite another to be gouged while the wealthy, who can afford the expense, pay nothing. […] All through our history the middle income groups [sic] taxes have been the fuel that our national economy has operated on, giving benefit to the lower income groups as well as the high income groups.«59
Neben den Armen profitierten die Reichen vom »Treibstoff«, den die mittleren Einkommen ablieferten. Im Jahr 1970 zahlten Familien in den drei möglichen Steuerebenen – Bund, Staat, Gemeinde – stark voneinander abweichende Steuersätze. Unter einem Jahreseinkommen von 2.000 Dollar lag die Steuerlast bei ungefähr 28 Prozent. Unter 3.000 Dollar Jahreseinkommen war der Anteil, mit 26,7 Prozent, geringer. Für Einkommen bis 4.000 stieg er auf 29,7 Prozent und damit auf eine Anteilsgröße, die erst bei Einkommen zwischen 10.000 und 14.999 Dollar, mit 30,6 Prozent, wieder erreicht wurde. Dazwischen betrugen die Steuerquoten im Schnitt 28,5 Prozent. Für alle Einkommensklassen betrug der Durchschnitt 30,4 Prozent. Dieser wurde nur von Familien mit den beiden höchsten noch einkalkulierten Einkommenshöhen erreicht. Wer mehr als 14.999 Dollar verdiente, gab im Schnitt 44 Prozent an diverse Finanzämter.60 Doch nicht nur im Feld der Einkommensteuer wurde die Besteuerung als ungerecht empfunden. Ein Effekt des nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetretenen Suburbanisierungstrends war der Umstand, dass die Infrastrukturkosten der Innenstädte kaum mehr von den meist besserverdienenden Bewohnern der Suburbs mitfinanziert wurden. Als finanziell weitgehend auf sich gestellte Jurisdiktion stellten die Städte den Bewohnern der Suburbs sogar öffentliche Leistungen unter den tatsächlichen Kosten oder kostenfrei zur Verfügung: Wasserversorgung, Müllentsorgung, Parkanlagen, Museen und Ausstellungen, Bibliotheken, steuerbefreite Einrichtungen wie Krankenhäuser und Universitäten, Häfen, Buslinien, Kosten für Gefängnisse und Gerichtsmedizin gehörten zu Ausgaben, die zwar nicht per se als wohlfahrtsstaatlich eingeordnet werden
58 Eine polemische Kritik bezeichnete das Steuerrecht von 1954 als »welfare law« der Reichen, vgl. Stearn, S. 112. 59 Mr. und Mrs. K. R. Bradbury an Mills, 27.3.1972, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 60 Meyers u. Musial, S. 98.
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können. Ihre Kosten und damit das auch bei den wohlfahrtsstaatlichen Kritiken am intensivsten angebrachte Element schienen jedoch ungerecht verteilt. Dabei kam hinzu, dass vergleichbare Angebote in den Suburbs oft nicht öffentlich waren und sich somit die Menschen innerhalb der Stadtgrenzen im Nachteil sahen.61
5.2 Förderung von Eigenheimerwerb: Home Mortgage Interest Deduction und Section 235, 1967–1973 »It can generally be said that less critical analysis is paid to these tax expenditures than to almost any direct expenditure program one can mention.«62 Stanley S. Surrey, 1973
Im November 1969 gewährte Helen Thompson aus Omaha in Nebraska George Romney einen Einblick in ihr Leben und in ihre Wohnsituation. Zusammen mit zwei Zeitungsartikeln sandte sie Romney (1907–1995), dem Secretary des Department of Housing and Urban Development (HUD), einen längeren Brief. Darin setzte sie die beiden beigelegten Artikel in Relation zueinander und brachte ihr Unverständnis über die dort beschriebenen wohlfahrtsstaatlichen Programme deutlich zum Ausdruck.63 In einem Artikel waren die Ziele des Ministeriums als komplementär zur frontier-Mentalität der Amerikaner beschrieben worden. Der zweite ging auf ein geplantes wohnungspolitisches Projekt ein, in welchem die Finanzierung von Eigenheimen subventioniert werden sollte. Dass das HUD plante, Häuser bis zu einem Wert von 19.000 Dollar zu subventionieren, sich gleichzeitig aber auf eine frontier-Mentalität bezog, rief das Unverständnis von Thompson hervor, die sich als »middle class« beschrieb. Zwar bezog sich ihre Kritik vor allem auch auf protestierende Studenten und andere »Unruhestifter«; letztlich aber war ihre Beschreibung von Empfängern direkter wohlfahrtsstaatlicher Hilfen ebenso eine Beschreibung ihrer eigenen Vorstellungen davon, wem welche Hilfe zukommen sollte und wem nicht: »Building dwellings at $ 19.000 each for people who will undoubtedly be subsidized doesn’t strike me as frontier attitude, especially in view of the fact that there are many of us in this country who live in houses valued under $ 10.000 who have always worked for a living, never received government subsidies, and certainly couldn’t afford to have
61 Ebd., S. 42–43. 62 Surrey, S. 6. 63 Helen Thompson an George Romney, Secretary HUD, 18.11.1969, Akte: Misc. ReferenceMaterial, Box: J–O, FHA, RG 31, NACP.
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$ 19.000 homes. […] Why is it necessary to build homes for these people who haven’t demonstrated by their care of public housing facilities that the value of this property will increase after they occupy it for a year.«64
Der Mythos der Mittelklasse im eigenen Haus und die Realität der fehlenden staatlichen Unterstützung dazu trafen hier aufeinander. Gleichzeitig wurde dieser Mythos des Hausbesitzes als Zugangskriterium zur Mittelklasse ergänzt durch einen anderen: Die Mittelklasse wurde hier als finanziell geradezu ausgebeutete Gruppe beschrieben. Die Beschreibung ihrer eigenen Wohnsituation leitete Thompson mit den Worten »I am a good example of many middle-class working people who are gradually approaching desperation« ein. Da ein Haus immer auch die Werte seiner Bewohner widerspiegelte, so fuhr sie fort, habe sie darauf geachtet, ihr Heim »clean and presentable« zu halten. Während jedoch ihre Steuern immer weiter stiegen, könne sie nichts dazu beitragen, den Wert ihres Hauses zu erhalten. Das ganze Dilemma ihrer Situation wird im nächsten Abschnitt deutlich: »So I live in a house which is depreciating in value every year, no matter what improvements I might make. Its condition is too good for the Federal Housing Authority to buy it, and it isn’t good enough for these individuals who can get $ 19.000 houses with the help of my taxes.«65
Die »middle-class working people« fanden sich, in den Worten von Thompson, in einer Situation wieder, in welcher sie durch Ordnungsliebe und Umsicht den Wert ihrer Häuser über dem Wert erhalten hatten, der es der FHA erlaubt hätte, das Haus zu kaufen. Gleichzeitig war es nicht gut genug für jene, denen der Wohlfahrtsstaat dabei half, ein Haus zu kaufen. Wieder erschienen sie in einer Zwischenlage im Zusammenspiel wohlfahrtsstaatlicher Programme und volkswirtschaftlicher Gegebenheiten. Um Secretary Romney ihre Situation noch plastischer zu schildern, beschrieb Thompson die Familie von der anderen Straßenseite. Dieser stand nach ihren Worten ein alkoholabhängiger Koreakriegsveteran vor, der stets nur die Ausnüchterungsklinik verlassen würde, um wieder mit dem Trinken zu beginnen: »All the while his wife collected ADC, food stamps, and perhaps other subsidies.« Zu allem Überfluss hatte seine, in Spanien geborene, Ehefrau Thompson kürzlich darüber informiert, dass ihre Familie nun dank einer Invalidenrente für den Gatten in ein besseres Viertel ziehen würde. Diese Möglichkeit wiederum blieb Thompson verwehrt. Ihr Haus befand sich schließlich in ihrem Eigentum. Der vierseitige Brief von Helen Thompson aus dem Mittleren Westen versammelte noch weitere Beschreibungen ungerechter Situationen. Sein Fazit und damit der Kern ihrer Kritik fanden sich in ihrer Weigerung einzusehen, 64 Ebd. 65 Ebd.
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»[…] why I should be paying taxes to subsidize the ›poor‹ so they can live in a better house than I can afford. Whats [sic] good enough for me should be good enough for them even though I am employed, white and middle class, which is almost a stigma these days. […] We seem to be the second class citizens.«66
Teile der Mittelklasse verstanden sich, in Abgrenzung zu denen, die wohlfahrtsstaatliche Hilfe erhielten, als Bürger zweiter Klasse. Die Polarisierung entlang der Verteilungskriterien und Verteilungsmuster staatlicher Behörden wurde von den Betroffenen geschildert, basierte aber auch auf den Stichworten und Hinweisen, die Politiker lieferten.67
5.2.1 Absetzbare Hypothekenzinsen als »versteckte« wohlfahrtsstaatliche Hilfe Der Ausdruck third rail bezeichnet in der politischen Kultur der USA Themen, die als unantastbar gelten. Die Metapher bezieht sich auf die stromführende dritte Schiene, die häufig in den Gleisbetten Nordamerikas zu finden ist. Der Tod erwartet dabei im übertragenen Sinne alle Politiker, die ein als third rail charakterisiertes Thema auch nur berühren. Eines dieser brenzligen Sujets war die steuerliche Abzugsfähigkeit von Hypothekenzinsen. Dieser Steuervorteil war bereits mit der Verabschiedung der bundesweiten persönlichen Einkommensteuer im Jahr 1913 etabliert worden. Die Befürworter des Gesetzes zu dieser Abgabe wollten so auch vermögende Mitbürger davon überzeugen. Das Zugeständnis war zu diesem Zeitpunkt noch vergleichsweise gering. Nur wenige schlossen um die Jahrhundertwende Hypotheken ab, um ein Haus zu bauen oder zu kaufen. Wer aber dazu gehörte, verfügte meist über ein Einkommen, das hoch genug war, um überhaupt von der Einkommensteuer betroffen zu sein. Sie wurde erst ab einem vergleichsweise hohen Verdienst fällig. Erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich die Einkommensteuer zur Massensteuer. Ihr Anteil am Haushalt der USA wuchs genauso, wie auch die Belastung der Haushalte. Gemessen an einem Einkommen von 5.000 Dollar im Jahr 1940 gingen 1,5 Prozent davon an Washington. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich dieser Anteil auf 15,1 Prozent verzehnfacht. Obwohl sie danach leicht sank, blieb die Einkommensteuer bis 1964 bei durchschnittlich zehn Prozent. Der bedeutsamste Effekt dieses Anstiegs der qualitativen und quantitativen Ausmaße der Einkommensteuer resultierte aus dem Zusammenspiel mit der Abzugsfähigkeit von Hypothekenzinsen und den in den dreißiger Jahren aufgelegten 66 Ebd. 67 Nur kurz zuvor hatte Präsident Nixon seine Ansprache zur silent majority, einer schweigenden Mehrheit, gehalten. Thompson bezog sich auf Aspekte der Rede von einer duldsamen Majorität, die Abweichungen tolerieren musste.
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Hypothekenhilfen des Bundes: zwei voneinander unabhängigen Entwicklungen. Einerseits stieg mit dem Zweiten Weltkrieg die Steuerlast aller Amerikaner stark an, als die Einkommensteuer auch von geringer Verdienenden entrichtet werden musste. Andererseits kauften in den Jahren nach Kriegsende immer mehr Menschen ein Haus unter Zuhilfenahme von Kreditgarantien. Diese Vereinfachung erlaubte nun deutlich mehr Amerikanern, Einkommensteuern zu sparen, wenn sie ein eigenes Haus erstanden.68 Mit dem Anstieg des Steuer satzes konnte zudem ein größerer Anteil des Einkommens für die Löschung der Hypothek gezahlt werden. Die Home Mortgage Interest Deduction (HMID) war so durch den Bedeutungszuwachs der Einkommensteuer zu einem wichtigen Anreiz zum Kauf eines Hauses geworden.69 Die Steuerreform von 1942 verringerte den Freibetrag bei der Einkommensteuer und erhöhte gleichzeitig den Einstiegssteuersatz auf 19 Prozent. Außerdem wurde eine victory tax, eine Siegessteuer, von fünf Prozent auf alle Einkommen über 624 Dollar erlassen.70 Zahlten 1932 weniger als zwei Millionen Amerikaner überhaupt Einkommensteuern, so waren es 1943 mit einem Schlag mehr als vierzig Millionen. 1945 waren damit sieben von zehn Arbeitnehmern betroffen, während die Gruppe 1939 mit sechs Prozent deutlich geringer gewesen war. Um der administrativen Herausforderung einer solchen Ausweitung überhaupt Herr werden zu können, hatte das Finanzministerium 1944 eine Standardabschreibung eingeführt. Sie erlaubte die pauschale Senkung der Einkommensteuer. Dadurch wurden Steuerzahler davon befreit, eine detaillierte Steuererklärung erstellen zu müssen. Dies minimierte die Nachforschungen der Steuerbehörde, des Internal Revenue Service (IRS), um so Zeit und Geld zu sparen. Als aufgrund allgemeiner Einkommenszuwächse diese pauschale Abschreibung an Einsparmöglichkeiten einbüßte, wuchs die Attraktivität der HMID.71 So stieg die Unterstützergruppe einer Steuervergünstigung für den Zweck des Häuserkaufs zunächst unbemerkt an. Zwar hat der Princetoner Politologe Christopher Howard diese Prozesse als Ursache für »Wachstum ohne Fürsprecher« kategorisiert.72 Dem ist entgegenzuhalten, dass niemand gegen diese Möglichkeiten der steuerlichen Absetzungsfähigkeit argumentierte und sie dadurch relativ ungehindert zunehmen konnte. Ähnlich wie die Sozialversicherungsrente Social Security wurde die HMID von keinem Politiker mit ernsthaften Karriereabsichten kritisiert. Präsident Kennedy war der erste, der intensiven 68 Vgl. Tobey u. a., S. 1415. 69 Obwohl staatliche Programme zur Wohnungsbeschaffung für arme Familien öffentliche Aufmerksamkeit und Debatten erregten, waren die weit kostspieligeren Abschreibungsmög lichkeiten für Hausbesitzer und Vermieter mindestens ebenso teuer: vgl. Fish, Housing, S. 1. 70 Howard, Hidden, S. 98. 71 Erst unter Präsident Kennedy wurde 1963–64 breit die Idee diskutiert, Steuerschlupflöcher zu schließen. Kennedys Regierung schlug vor, abschreibbare Positionen nur noch zu gestatten, wenn sie 5 Prozent des jeweiligen Einkommens überstiegen. So erhoffte man sich, dass die standard deduction wieder mehr genutzt würde. 72 Ebd., S. 94.
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Widerstand erfuhr, als seine Berater öffentlich Kürzungen vorschlugen. Später beteuerte Präsident Reagan, der auch über eine Einschränkung der HMID nachgedacht hatte: »[…] we will preserve the part of the American dream which the home mortgage interest deduction symbolizes.«73 Die steuerliche Abzugsfähigkeit der Hypothekenzinsen gewährte Bauherren und Hauskäufern Steuerersparnisse, die Mietern verwehrt blieben. Obwohl sie in Kombination mit der Erleichterung der Hypothekenaufnahme für weiße Familien für ein Ungleichgewicht in der Wohnungs- und Steuerpolitik sorgte, stand die HMID lange nicht zur Debatte. Dass der Ausfall dieser Steuer einnahmen eigentlich Kosten im Budget der USA bedeutete, weil Einkünfte ausblieben, wurde erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre überhaupt zu einem öffentlichen Thema.74 Diese indirekten Kosten, durch Ausfall von Steuer einnahmen, gingen erst am 15. November 1967 als »tax expenditures« in den Sprachgebrauch der Amerikaner ein. In seiner Ansprache vor einer New Yorker Finanzgruppe führte der Steuerexperte Stanley S. Surrey an diesem Tag aus, weshalb Steuererleichterungen mit direkten Ausgaben gleichzusetzen sein. Zu diesem Zeitpunkt galt Surrey bereits als Koryphäe in Fragen der Steuergesetzgebung.75 Während seiner erfolgreichen Karriere hatte er nicht nur zahlreiche Monografien und Artikel zu Funktion und Reform des Steuersystems publiziert. Er war darüber hinaus als Berater nationaler und internationaler Institutionen an zahlreichen steuerpolitischen Entscheidungen direkt beteiligt. Zu den unbeabsichtigten Resultaten dieser Entscheidungen fielen laut Surrey indirekte Ausgaben in Form von »special exceptions, exclusions, deductions, and other tax benefits«.76 Erst seit 1974 errechnete der Kongress überhaupt erst diese indirekten, und teilweise als versteckt bezeichneten, Kosten.77 Die Steuervergünstigungen hatten im Bereich der Hypothekenbeihilfen Konsequenzen, die als degressiv bezeichnet wurden: Sie bevorzugten reiche Hausbauer. In den siebziger Jahren wurden jährlich zehn Milliarden Dollar erlassen, wenn den Käufern neuer Häuser steuerliche Vergünstigungen gewährt wurden.78 Nur kurz vor Surreys Ansprache hatte Präsident Lyndon B. Johnson eine Erhöhung der Einkommensteuer zur Finanzierung des Vietnamkriegs gefordert. Das Committee on Ways and Means war unentschlossen, ob statt einer Erhöhung der Abgaben nicht Ausgaben gekürzt werden sollten. Die Steuerexperten des Ausschusses waren sich zu diesem Zeitpunkt bereits der zahlreichen Ausnahmen und Sonderregelungen im Steuersystem bewusst. Bereits längere Zeit waren die Möglichkeiten zur Son73 Zit. nach ebd., S. 107–108. 74 Andere Steuervergünstigungen waren bspw. die Abschreibungsfähigkeit von lokalen Grundsteuern oder die Beschränkungen von Kapitalertragssteuern bei Personen, die älter als 55 Jahre alt waren. 75 Vgl. Stearn, S. 124. 76 Surrey, S. vii. 77 Vgl. Brownlee, S. 110. 78 Vgl. Stearn, S. 122.
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derabschreibung von Verlusten in der Ölbranche kritisiert worden. Jedoch war nie zuvor offiziell berechnet worden, in welcher Höhe Abschreibungsmöglichkeiten insgesamt in Anspruch genommen wurden.79 Zwar setzte sich der Kongress gegenüber Johnson 1967 weitgehend durch – Ausgaben in vielen Bereichen wurden gekürzt, während der Präsident für Steuererhöhung eingetreten war. Nicht angetastet wurden jedoch auch in diesem Jahr die indirekten Ausgaben, für die Surrey wenig später den Begriff tax expenditures etablierte. Erst die Entwürfe zur Steuerreform von 1969 beinhalteten das Ziel, diese zu minimieren. Doch auch in diesem Jahr wurden sie nicht zurückgefahren oder eingeschränkt. Surrey sah die Profiteure der Abschreibungsmöglichkeiten als mittlerweile zu einflussreich und zu gut organisiert. Weitere Versuche, die HMID abzuschaffen, versprachen zu scheitern. Schon in seiner New Yorker Rede von 1967 hatte Surrey prognostiziert, dass jede Form von tax expenditures nur schwer rückgängig zu machen war. Sie waren in der Sprache des Steuerrechts geschrieben und für eine Mehrheit der Wähler zu kompliziert formuliert. Außerdem konnten sie nicht durch die Exekutive begrenzt werden, wie etwa durch Ausgabenkürzungen. Vielmehr konnten sie allein durch neue Steuergesetze aufgehoben oder limitiert werden. Verantwortlich für die Steuergesetzgebung war im Kongress das Committee on Ways and Means, der Fachausschus des Repräsentantenhauses, der auch für das Rentensystem zuständig war. Er veröffentlichte im Oktober 1972, und damit fünf Jahre nach der oben erwähnten Rede Surreys, seine Schätzungen zur Höhe der tax expenditures. Mit der Publikation der »Estimates of Federal Tax Expenditures (1967–1971)« begann die offene Auseinandersetzung um den Charakter und die Höhe dieser Kosten.80 Nach der Publikation dieser ersten Studie zu ihren Kosten im Jahr 1969 dauerte es nicht mehr lange, bis der Kongress im Budget Act von 1974 forderte, dass die tax expenditures mit in den Haushalt einberechnet würden.81 Ab diesem Zeitpunkt wurden damit nicht nur versteckte Kosten, sondern auch eine asymmetrische Abgabenerhebung sichtbar. 5.2.2 Steuerpolitik als Verbindung von Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat um 1970 Eveline Burns, eine Kritikerin der Ausweitung von Sozialversicherungen, bemerkte 1965: »We have also witnessed a growing tendency to use the tax system as a welfare instrument.«82 Als soziale Effekte von Steuern verstand Burns nicht nur deren progressive Eigenschaften, 79 Genauer gesagt, waren alle in Anspruch genommenen Abschreibungen zuvor gesammelt und ohne genaue Angabe ihrer Art aufgezeichnet worden, vgl. Howard, Hidden, S. 95. 80 Estimates of Federal tax expenditures, Committee on Ways and Means, Washington 1972. 81 Howard, Hidden, S. 105. 82 Vgl. Burns, S. 135.
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»but rather to the special deductions or exemptions which have a welfare objective. Among these are the exemptions for dependents, the double exemption for persons over sixty-five and over […] and the complete exemption from tax liability of social insurance and other forms of socially provided income.«83
Das Thema der Steuerpolitik bot der Thematisierung von Ungleichbehandlungen der gesellschaftlichen Mitte in den sechziger Jahren eine Arena. Auch Alabamas Gouverneur Wallace thematisierte immer wieder steuerliche Aspekte, wenn er über die Mittelklasse oder den Wohlfahrtsstaat sprach. Einerseits kritisierte er, es schüre die Inflation, wenn öffentliche Gelder für vermeintlich unproduktive Tätigkeiten, wie aus seiner Sicht das busing, durch Bundesbehörden ausgegeben wurden. Gleichzeitig attackierte Wallace um 1970 und damit in einer Hochphase seines bundespolitischen Einflusses immer wieder die zunehmende Degressivität des Steuersystems. Steuerbefreiungen für Kirchen und Stiftungen dienten in seiner Kritik demnach als Steuerschlupflöcher für Ultrareiche, während die Steuerlast für die »low and middle incomes« immer weiter anstieg.84 Damit bündelte die Kritik von Wallace gleich mehrere Szenarien, die der Mittelklasse als bedrohlich erschienen. Die Inflation gefährdete alle, die ein festes monatliches Einkommen erzielten und schien durch die Maßnahmen der bundesbehördlichen Großaggregate, wie das HEW und seine Maßnahmen wie das busing, befördert zu werden.85 So konnten wohlfahrtsstaatliche Programme entlang fiskalischer Aspekte kritisiert werden und nicht entlang rassistischer. Steuern nahmen damit zentrale Bedeutung in den Debatten ein, die um die Themen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat kreisten. Als er am 7. Juni 1972 in einem Fernsehinterview kritisch zum Thema der Steuerschlupflöcher befragt wurde, antwortete der demokratische Senator Russel B. Long, dass es jedem Kongressmitglied darum ginge, diese zu schließen; nur eben die der anderen und nicht die der eigenen Wähler. Obwohl es der Mehrheit nur Recht wäre, ausschließlich hohe Einkommen oder Reiche zu besteuern, gäbe es keine Möglichkeit, auf die Besteuerung der »middle-income brackets« verzichten zu können. Da die Steuererleichterungen in Feldern wie der Wohnungspolitik nun auch von großen Teilen dieser mittleren Einkommensgruppen in Anspruch genommen wurden, kamen die Parlamentarier nicht umhin, diese bei Reformen unangetastet zu lassen:
83 Ebd., S. 136. 84 Interview George Wallace, Nation’s Business Okt. 1971. 85 Hinzu kommen für Wallace außenpolitische Themen. So wandte er sich bspw. gegen weitere Unterstützung für die BRD und Japan, die beide die ökonomisch Vormachtstellung der USA unterminiert hatten und am Zenit ihrer Wirtschaftsleistung nach dem Kriege angelangt seien. Auch die Vereinten Nationen sind immer wieder Ziel der Attacken von Wallace, der hervorhob, dass die Organisation zum Großteil durch amerikanische Gelder finanziert würde, dort aber anti-amerikanische Politik gemacht würde, vgl. ebd.
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»[…] to raise a large amount of revenue, you are going to have to tax on down into the middle-income brackets because, otherwise, you just don’t find enough people to tax. It is fine to tax a millionaire, but there are not that many of them to raise several billion plus in the so-called reform area. They can talk about it but I just challenge them to achieve it […].«86
Das System der Einkommensbesteuerung in den USA war seit seiner Implementierung gestaffelt und progressiv. Bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze zahlten alle Steuerpflichtigen einen gleich hohen Steuersatz. Wie bei einer Treppe wurde für den Betrag über der letzten und vor der nächsten Grenze der nächsthohe Steuersatz angewandt. Dieser folgende Steuerbetrag wurde jedoch nur auf den absoluten Betrag dieser Stufe fällig und nicht auf das gesamte Einkommen. Konkret bedeutete dies, dass bei einem Einkommen von 4.000 Dollar und einer Bemessungsgrenze von 3.000 Dollar ein bestimmter Steuersatz auf die »ersten« 3.000 Dollar fällig wurde und ein anderer auf die 1.000 Dollar angewandt wurde, die darüber lagen. Das hieß auch, dass Steuersätze von bis zu 93 Prozent, die zeitweise in den USA angewandt wurden, nie pauschal für das gesamte Einkommen galten. Der Bundeshaushalt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeglichen. Die Staatsschulden beliefen sich auf 1,3 Milliarden Dollar. Im Haushaltsjahr 1900 standen Einnahmen von 567 Millionen Ausgaben in Höhe von 521 Millionen Dollar gegenüber. Die Einkünfte des Bundes stammten aus Zöllen und excises, also Sondersteuern, auf Alkohol, Tabak, Kosmetik, Medizin und andere Verbrauchsgüter. In der ersten Dekade sanken die Schulden und eine excise tax für Unternehmen wurde eingeführt, die aber kaum Einnahmen bescherte. Auch die Einführung der individuellen Einkommensteuer 1913 veränderte die Finanzlage zunächst kaum. Erst der Erste Weltkrieg brachte Veränderung.87 Nun wurden die Steuern für Bier und Wein erhöht; Broker und andere Händler und Kaufleute wurden mit speziellen Abgaben belegt. Als 1916 eine Grundsteuer eingeführt wurde, endete »a period of nearly half a century during which the main sources of revenue had been distilled spirits, fermented liquors and tobacco«. Parallel zum Kriegseintritt der USA stiegen die Steuereinnahmen: von 700 Millionen im Jahr 1915 auf 3,7 Milliarden im Jahr 1918 und 5,2 Milliarden Dollar 1919. Zugleich wuchs aber auch das Defizit. Es lag 1917 bei 850 Millionen Dollar; 1918 hatte es sich auf neun Milliarden Dollar mehr als verzehnfacht. Bei 13,4 Milliarden Dollar lag es schließlich 1919. Die Verbindlichkeiten beliefen sich 1919 auf 26,6 Milliarden Dollar. In den zwanziger Jahren wurden die Abgaben zunächst gesenkt. Nach Erlass der Prohibition von 1920 spielten Abgaben auf Alkohol keine Rolle mehr. Einkommensteuern machten die Hälfte der
86 Fernsehinterview mit Russell B. Long, 9.6.1972, Akte: H. R.1 Leg.-File, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 87 Darstellung der Geschichte der Einkommensteuer durch das Committee on Ways and Means, 29.10.1953, S. 1–5, Akte: 033.2, Box: 100, Office of the Commissioner, RG 47, NACP.
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Einnahmen aus. Dieser Wert blieb stabil. Bis 1930 wurden die Staatsschulden von 24,3 auf 16,2 Milliarden Dollar abgebaut. Die vierziger Jahre begannen nach der wirtschaftlichen Depression der dreißiger Jahre mit staatlichen Einnahmen von weniger als sechs Milliarden Dollar. Im Jahr 1941 hatte sich diese Summe auf gerade einmal acht Milliarden Dollar erhöht. Im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs betrug sie dann mit 48 Milliarden Dollar das Sechsfache. Die Gesamtschulden wiederum beliefen sich 1946 auf 269 Milliarden Dollar.88 Nicht mit der Einkommensteuer belegt wurde die OASI.89 Dennoch barg die erfolgreiche Implementierung der Rente eine wichtige Lektion für die Steuer beamten des IRS: Auch relativ geringe Einkommen konnten effizient erfasst werden. Diese Einkommenserfassung aller Beitragspflichtigen war seit der Verabschiedung des Social Security Act 1935 von der SSA soweit perfektioniert worden, dass sie in den vierziger Jahren vom Finanzministerium kopiert werden konnte.90 Zwar war die Einkommensteuer für Individuen schon 1913 eingeführt worden, jedoch trug erst die 1942 beschlossene Steuerreform, die 1943 als Tax Revenue Act in Kraft trat, solch gravierende Veränderungen in sich, dass Experten von nun an von einem neuen Steuersystem sprachen.91 Die Reform von 1943 zementierte die neue, zentrale Stellung einer Einkommensteuer. Sie basierte nun auf einem Großteil aller Einkommen. Der Abbau von persönlichen Abschreibungsmöglichkeiten und Freibeträgen, welche zuvor kleine und mittlere Einkommen steuerlich unberücksichtigt ließen, hatte dies ermöglicht.92 Bei der Steuerreform von 1943 setzten sich auch die Präferenzen von Menschen mit mittleren Einkommen durch. Zunächst herrschte in diesem Jahr eine generell hohe Zustimmung zu einer allgemeinen Erhöhung von Steuern. Nicht die Frage ob, sondern vielmehr die Art der einzuführenden oder zu erhöhenden Steuern war umstritten. Vertreter aus Unternehmen und Arbeitgeberverbänden favorisierten eine Erhöhung der Umsatzsteuern. Dagegen sicherte jedoch die zu diesem Zeitpunkt von zahlreichen Abschreibungsmöglichkeiten gekennzeichnete Einkommensteuer der Regierung die Unterstützung von Familien mit mittleren Einkommen. Die Möglichkeiten zur Abschreibung trafen auf Steuern lokaler und einzelstaatlicher Ebene zu. Viel wichtiger noch war aber die Möglichkeit, Hypothekenzinsen vom versteuernden Einkommen absetzen zu können.93 Die Umsatzsteuer kannte eine solche Möglichkeit nicht. Daher fiel
88 Ebd. 89 Allerdings erhoben manche Einzelstaaten solche Abgaben auf Einnahmen aus der Rente, vgl. Williams, Cheated, S. 26. 90 Vgl. Burns, S. 135. 91 Dieses blieb bis in die achtziger Jahre so. Erst die Steuerreformen unter Reagan veränderten das Steuersystem ähnlich gravierend, vgl. Brownlee, S. 97. 92 Vgl. ebd., S. 92–93. 93 »The federal government won middle-class political support for, and compliance with, the new income tax in part because of the structure of the tax«, schreibt Brownlee über die Reform von 1943. Als Ende der, von ihm »era of easy finance« getauften, Periode sieht er die
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einer breiten Mehrheit die Wahl für die Einkommensteuer leichter. Der Wohlstand der Amerikaner hatte während des Zweiten Weltkriegs nicht gelitten; das durchschnittliche Bankguthaben hatte sich während des Kriegs vielmehr verdoppelt. Vielen ging es finanziell nach dem Krieg besser als zuvor. Der Trend hielt an, als in den 13 Jahren von 1947 bis 1960 das Durchschnittseinkommen im gleichen Maße stieg, wie in den insgesamt 47 Jahren zuvor.94 Was im deutschsprachigen Raum als inflationsbedingte, als »kalte«, Progression verhandelt wird, wurde in den USA im Zusammenhang der Einkommensteuer unter dem Namen bracket creap bekannt. Das progressive System generierte auch deshalb immer mehr Einnahmen durch die Einkommensteuer, weil die absoluten Einkommen dank Inflation und Wirtschaftswachstum nach dem Krieg stiegen. Die Unternehmen auferlegte flat tax trug im Vergleich deutlich weniger zum Steueraufkommen bei. Machten 1950 die beiden Formen der Steuer je die Hälfte des nationalen Steueraufkommens aus, hatte sich bis zum Ende der siebziger Jahre das Verhältnis auf vier zu eins zugunsten der individuellen Einkommensteuer verändert.95 Hinzu kam, dass die Einkommensverteilung im gleichen Zeitraum quasi unverändert blieb.96 Eine in Fünftel, oder quintiles, aufgeteilte Einkommensverteilung sah 1947 in ihrem untersten Fünftel 5,1 Prozent der Steuerzahler. Der Anteil stieg auf 5,4 Prozent im Jahr 1972. Im darüber liegenden quintile ließen sich 11,8 (11,9), 16,7 (17,5) und 23,2 (23,9) Prozent verorten in den Jahren 1947 beziehungsweise 1972. Zu den obersten zwanzig Prozent der Einkommen wurden 17,5 Prozent der Amerikaner im Jahr 1947 und 15,9 Prozent im Jahr 1972 gezählt.97 Im November 1969 sprach Surrey auf einem Symposium von tax incentives. Im gleichen Monat, in dem die empörte Helen Thompson aus Nebraska ihren Brief zu den Ungerechtigkeiten von Wohnungsprogrammen an Romney versandte, empfahl der Steuerexperte, das Steuererleichterungen genutzt werden sollten, um wohlfahrtsstaatliche Ziele zu erreichen. So interpretierte zumindest ein Anwesender Surrey in einem Artikel, den er 1971 zu dessen Thesen verfasste: »[…] with the increased scale of governmental financing, there has […] been a growing interest in the potential of taxation as a tool for influencing the scale and channeling of economic activities.« Erfolgreiche Versuche der Vergangenheit in diese Richtung hätten zu einer Vervielfachung der Vorschläge zu »various types of additional special tax arrangements« geführt. Unterstützt wurden diese prinzipiell durch »those concerned with reaching certain economic or social goals and by those most likely to benefit initially from the preferential Steuerreform von 1981, ebd., S. 97.: »The act made major reductions in personal exemptions, establishing the means for the federal government to acquire huge revenues from the taxation of middle-class wages and salaries.« 94 Chafe, S. 163. 95 Vgl. Brownlee, S. 107. 96 Vgl. Herman, S. 112. 97 Ebd.
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treatment being urged«.98 Eine Koalition aus allen, denen Steuererleichterungen zugutekamen und denen, die an der Verfolgung ökonomischer und sozialer Ziele interessiert waren, hatte den Ausbau steuerlicher Anreize begünstigt. Die Interessen von Menschen mit mittleren Einkommen, die etwa von der HMID profitierten, und die Ziele von Sozialexperten, die an eine generelle Anhebung des Wohnstandards durch wohlfahrtsstaatliche Hilfen für das No Man’s Land glaubten, überschnitten sich im Aspekt der tax incentives. Ein Jahr später, 1970, sahen auch die Stadtplaner, die mit einer kohärenten Initiative für die Stadt Detroit beauftragt waren, die Einkommensteuer als vielversprechendes Vehikel für wohlfahrtsstaatliche Programme: »The […] income tax system could be used for direct tax credit incentives. […] it would seem reasonable to utilize the tax system from the standpoint of its implementability, cost savings and convenience, and also since the lure of ›tax breaks‹ is so firmly inculcated in the minds of middle and upper income America.«99
Die Posten, die als tax expenditures verstanden werden konnten, ließen sich 1972 auf mehr als sechzig Milliarden Dollar beziffern. Damit hatten sie ein Viertel dessen erreicht, was im Bundeshaushalt als Ausgabe deklariert war. Erneut war es Surrey, der 1973 die Konfusion und die fehlende Zuständigkeit einer zentralen Stelle für diese Kosten kritisierte: »[…] most of these items seem almost to live a life of their own, undisturbed and unexamined. No agency really studies or controls them. The Office of Management and Budget largely neglects them, for the items are not in its budget. The executive departments likewise are usually unconcerned, for the items are not in their programs. The Treasury is apparently not evaluating them, but rather is adding new and indefensible items.«100
Die Kritik Surreys, die er mit: »This is no way to run a tax system and no way to run a budget policy«, auf den Punkt brachte, rückte auch die bis dahin positiv wahrgenommenen Entwicklungen in der Wohnungspolitik in ein neues Licht. Schon der ehemalige Bauminister, George Romney, hatte die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten als unausgewogene wohlfahrtsstaatliche Hilfe kritisiert. Sie ermöglichten einem Teil der Amerikaner, in schöne Suburbs und größere Häuser zu ziehen. Gleichzeitig würden die Nutznießer dieser Unterstützung den leidenden Städten ihre Hilfe nun vorenthalten. Allein im Jahr 1960 konnten Eigenheimbesitzer dank verschiedener Steuervorteile 3,8 Milliarden Dollar an Bundessteuern sparen.101 Surrey schloss sich Romneys Vorwurf an und bekräftigte ihn: Obwohl Abschreibungsmöglichkeiten und staatliche Hypothekengarantien nicht als Hilfe 98 Marvell, S. 1. 99 Meyers u. Musial, S. 71. 100 Surrey, S. 7. 101 Vgl. Goode.
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durch den Staat wahrgenommen und verhandelt wurden, konnten sie doch nur als solche verstanden werden.102 Die Gewährung der HMID auf alle Häuser unabhängig von der Größe oder der Anzahl, die ein Besitzer bereits sein Eigen nannte, war unfair, so Surrey. Für das Fiskaljahr 1970 hatte Surrey wohnungspolitische indirekte Ausgaben von 5,4 Milliarden Dollar errechnet, welche direkten Ausgaben in Höhe von gerade einmal der Hälfte, 2,7 Milliarden Dollar, gegenüberstanden. Letztere waren als Posten im Haushalt sichtbar. Ihre Sichtbarkeit bedingte ihre Unpopularität. Sie wurden für eine andere Form des Wohnens, »largely for […] subsidized low-income rental housing«103 verwendet. Die Unsichtbarkeit der Unterstützung, die ihnen zugutegekommen war, verstärkte in großen Teilen der Gesellschaft das Gefühl, unabhängig zu sein, obwohl man von den Steuerersparnissen finanziell hatte profitieren können. Damit erfüllte die Konstruktion der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Hypothekenzinsen auch für die Selbstverortung der Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat zwei wichtige Aspekte. Zum einen halfen die Steuererleichterungen und Hypothekengarantien beim Kauf des eigenen Hauses. Da das eigene Haus als Merkmal der Zugehörigkeit zur Mittelklasse verstanden wurde, wuchs die Mittelklasse hierdurch. Weil aber Restriktionen die Möglichkeit zum Hauskauf verwehrten oder erschwerten, war diese Hilfe selektiv. Zum anderen unterstützte der indirekte Charakter der Hilfe durch Steuervergünstigungen die Eigeneinschätzung, unabhängig von fremder Hilfe zu sein. Diese Unabhängigkeit von fremder, zumal staatlicher Hilfe, war ein Prädikat, mit welchem Familien ihren eigenen Status als Teil Mittelklasse präsentierten. Wenn sich Kritik an dieser Konstruktion fand, dann wurde sie, wie im Fall von Surrey, von Experten geäußert.104 Sie kritisierten als gut informierte Beobachter, die sich zudem keiner demokratischen Wahl stellen mussten, die Bevorteilung von Hausbesitzern gegenüber Mietern. Vergleichbare Beschwerden über ungerechte Behandlungen fanden sich in mehreren speziellen Bereichen der Einkommensbesteuerung aber auch in Anmerkungen zu einer generellen Benachteiligung der »middle class« gegenüber Arm und Reich. Der New Yorker Barry Carol monierte im Winter 1972 etwa eine vermeintliche Benachteiligung arbeitender Eheleute aus der Mittelklasse. Dem Ausschuss Ways and Means legte er dar, wie seine Frau und er kein Verständnis für ihre Steuerlast mehr aufbringen konnten, da diese im Verhältnis zu »Armen«, »Reichen« und »Unverheirateten« nicht »fair« sei: »[…] a revision of the income tax structure […] would go a long way toward providing more equitable treatment for the middle class. This group, which includes myself and my wife, makes too much money to warrant the special considerations accorded the poor and not enough to take advantage of the tax shelters available to the rich. As 102 Vgl. Surrey, S. 233. 103 Ebd., S. 233–235. 104 Neben Surrey war dies vor allem Paul.
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a result, the middle class winds up paying more than its fair share of government costs under the current setup. Middle class working married couples are penalized twice – once for being middle class and once for being married.«105
Carols Zitat beschreibt die Selbstwahrnehmung derer, die sich 1972 zur Mittelklasse rechneten. Über seinen Beruf oder sein Einkommen machte er in diesem Schreiben keine Angaben. Ihm genügte der bloße Verweis, dazu zu gehören. Die Darstellung der verschiedenen Abschreibungsmöglichkeiten und der Debatten darum verdeutlich nicht nur deren Vielzahl. Sie belegt, dass wohlfahrtsstaatliche Hilfe mehr Menschen zukam als den Empfängern von welfare oder OASI. Die HMID macht zudem die Umfunktionierung einer eigentlich steuerlichen Regelung zu Zwecken außerhalb der Finanzpolitik deutlich. Sie lässt sich vielmehr einerseits im Gebiet der Steuern, andererseits aber auch im Bereich der Wohnungspolitik einordnen. Die HMID ist ein Beispiel für eine indirekte Form der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung nicht-Armer. 5.2.3 »We are subsidizing the wrong people in the wrong housing.« Section 235 als umstrittene Subventionierung, 1968–1971 Der Housing Act von 1949 hatte das hehre Versprechen eines »decent home and a suitable living environment for every American family« geleistet und symbolisierte das breite Einverständnis der Amerikaner zum Markteingriff der Exekutive in den Wohnungsmarkt.106 Die Qualitätsversicherungen der FHA, die sogenannte quality assurance, setzten seit 1949 Standards für den Hausbau.107 War der Bau neuer Häuser lange als Instrument zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Aufbesserung der generellen Wirtschaftslage verstanden worden, sollten die Qualitätsstandards und vor allem Programme wie die 1968 verabschiedete Section 235, durch weitere Erleichterungen bei der Aufnahme von Hypotheken, aktiv dazu beitragen, den sozialen Aufstieg in die Mittelklasse zu fördern. Die Section 235 des Housing Act von 1968 Die gewalttätigen Unruhen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre waren nicht die ersten während des 20. Jahrhunderts. Bereits während beider Weltkriege und der Großen Depression war es zu vergleichbaren Revolten gekommen. Der Unterschied bestand zwischen 1965 und 1968 darin, dass die Suche nach den Ursachen für diese Unruhen in die Innenstädte der großen Städte 105 Barry Carol an Mills, 27.2.1972, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 106 Vgl. Fish, Story, S. 4. 107 Vgl. Martinez, S. 471.
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führte. Hier vervielfachte sich die Zahl gewaltsamer Auseinandersetzungen im Jahrestakt. 1965 waren es vier, 1966 bereits 21 und 1967 insgesamt 83 größere, wütende Proteste, die von Plünderungen begleitet und mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1968 kam es zu 57 riots.108 Der schon erwähnte Bericht der Kerner Commission sollte die Ursachen und Lösungswege benennen. Er prägte für die kommenden Jahrzehnte Duktus und Begriffe in der Auseinandersetzung mit den Ghettos der amerikanischen Innenstädte. Kerner empfahl, das Ziel »open housing in single-family homes« auf die politische Agenda zu nehmen, um so in Zukunft der Eskalation in den Städten vorzubeugen. Konkret sollte ein »expensive subsidized housing production program« etabliert werden, um auch armen Schichten zu ermöglichen, ein Einfamilienhaus zu kaufen. Der Glaube an die Modernisierungsfähigkeit der Gesellschaft durch wohnstrukturelle Maßnahmen spiegelte sich in der daraufhin verabschiedeten, neuen Section 235 des Housing Act wider. Die Gesetzesreform verpflichtete den Präsidenten zudem, den Kongress fortan von den Fortschritten zu unterrichten, die zu dem Ziel der Erweiterung von »homeownership and equal housing opportunities, and assuring reasonable shelter costs« unternommen wurden.109 Innerhalb der Exekutive übernahm das HUD und deren nachgeordnete Behörde FHA die Verantwortung für die Section 235. Als einzige Behörde hatte sie Erfahrungen in der Organisation und Überwachung eines nationalen Wohnungsprogramms. Die Streichung von Section 235 und Section 236 wurde, nach nur zwei Jahren Laufzeit, schon 1970 beschlossen.110 George Romney, der ehemalige Gouverneur von Michigan, der 1969 die Leitung des Department of Housing and Urban Development angetreten hatte, zog damit nach einer Serie negativer Medienberichte und zahlreicher Beschwerden aus der Bevölkerung einen Schlussstrich unter beide Programme. Zuvor hatte der resolute Minister jedem field office director, dem chief underwriter und dem chief appraiser der FHA angeordnet, mindestens fünf inner-city projects besuchen zu müssen. Die Garde der Wohnungsbehörde sollte den Schreibtisch verlassen, um sich über die Probleme der beiden Programme zu überzeugen.111 Section 235 stand in der Tradition der Rhetorik des No Man’s Land. Mit ihr sollte Familien geholfen werden, Teil der Mittelklasse zu werden, die dem Einvernehmen nach von Subventionen und Hilfen nicht begünstigt worden waren. Im Fall dieser Teilregelung zu 108 Moynihan, S. 102. 109 Martinez, S. 469. 110 Sie wurden einige Jahre später erneut gestartet. Die »reactivation of section 235« wurde 1984 beschlossen, nachdem dies in Section 226 des Housing and Urban Rural Recovery Act (HURRA) von 1983 beschlossen wurde. 1989 erfolgte die erneute Einstellung. Martinez, S. 470–473. 111 Vgl. Salinger, S. 404.; der Soziologe Kevin Gotham setzte sich mit den rassistischen Konnotationen des Gesetzesabschnitts auseinander, vgl: Gotham.
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Hypothekensubventionen offenbarten sich jedoch grundlegende Mängel und erstmals auch Kritik an einer solchen Form der Wohnungsbauförderung. Der Bauunternehmer und Präsident der National Association of Home Builders (NAHB) Louis R. Barba gestattete im Juli 1970 einem Unterausschuss des Senats Einblick in seine Ansichten zu den aktuellen Programmen des HUD.112 Er diskutierte vor allem den Housing and Urban Development Act von 1970 und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben hatten. Das Gesetz war geprägt von Vereinfachungen und einer Konsolidierung der Aufgaben und Zuständigkeiten der FHA: »The FHA programs […] have been able to give massive support to housing production over this past year of distress. If it had not been for this support, the housing crisis would have become a disaster. The FHA programs, especially those for low and moderate income families, have been the mainstays of the production we have had.«113
Als Vertreter einer bis dahin eher skeptischen Interessengruppe lobte Barba die Subventionen des Bundes an prospektive Hausbauer. Dem Ausschuss über mittelte er jedoch auch die Botschaft, dass es noch Nachbesserungsbedarf gäbe. So sei das Einkommenslimit, das für eine Bewerbung für die Programme festgesetzt worden war, zu niedrig. Dieses Limit sollte variabler sein und sich an den wirklichen Baukosten orientieren: »Any arbitrary income limit which is not related to the cost of housing will leave a gap between those who are eligible for assistance and those who can afford housing in the market without assistance. […] Every effort should be made to avoid the existence of such a gap. We suggest for […] consideration of means of avoiding this gap problem.«114
Erneut galt jener gesellschaftliche Teil als benachteiligt, der sich nicht für Subventionen qualifizierte. Außerdem bildete der Begriff der Lücke, der allein in dieser kurzen Passage dreimal vorkam, ein Schlüsselwort. Diese Lücke war die rhetorische Nachfolgerin jenes No Man’s Land, das schon 1944 die staatlichen Planer beunruhigt hatte und nun auch vom Bausektor angesprochen wurde. Für die Mietsubventionsprogramme empfahl der Wirtschaftsvertreter dem Senat, dass er dem Secretary des Bauministeriums keine Entscheidungsgewalt über Einkommensgrenzen und Kinderfreibeträge überlassen sollte. Die vorgeschlagene Regelung sah vor, dass Familien, ab dem dritten Kind, 300 Dollar von ihrem zu versteuernden Einkommen abziehen konnten, damit sie von den Fördermaßnahmen profitieren konnten. Abseits von den interessensgelenkten 112 Louis R. Barba, Statement before the Subcommittee on Housing and Urban Affairs, Committee on Banking and Currency, 14.7.1970, Akte: Legislation 1970, Box: J–O, Housing Production and Mortgage Credit – FHA, Correspondence and Related Subject Files 1969– 1973, RG 31, NACP. 113 Ebd., S. 4. 114 Ebd., S. 9–10.
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Ansichten Barbas, der jede Form steigender Bauaktivitäten sicherlich guthieß, zeigt der Blick auf seine Empfehlungen, dass auch hier Selbstwertgefühl und Anreiz ein wesentliches Merkmal der Argumentation waren. Familien, die ihre Kinder als vergünstigendes Element angeben müssten, würden sich scheuen, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. So drohte ein Subventionsprogramm an mangelnder Beteiligung zu scheitern. Barba urteilte: »[…] nothing is more self-defeating to family pride and initiative than requiring a child’s income to be counted for rent payment purposes.«115 Eine Woche später äußerte sich H. Harland Crowell vor dem gleichen Unterausschuss zur Section 235. Als Vertreter der Immobilienmaklerlobby NAREB äußerte er sich, wie auch Barba, zu den aktuellen Entwicklungen im Wohnungsbau und den Zielgruppen des HUD. Auch er beschrieb jene Schicht, die sich jenseits von aktuellen Wohnförderprogrammen oder ausreichen hohen Einkommen wiederfand, die den Bau eines Hauses erlaubten. Im Gegensatz zu Barba, den meisten Politikern und Sozialexperten, sprach Crowell sich jedoch dezidiert dagegen aus, dieser Schicht zu helfen. Er nahm Bezug auf die Einkommensstruktur. Mehr als fünf Millionen Familien standen weniger als 3.000 Dollar im Jahr zur Verfügung. Weitere sechs Millionen Familien hatten ein Einkommen von 3.000 bis 5.000 Dollar im Jahr. 3,5 Millionen verfügten über Einkommen zwischen 5.000 bis 6.000 Dollar. Das bedeutete, 14,6 Millionen und damit ein Drittel der fünfzig Millionen amerikanischen Familien hatten weniger als 6.000 Dollar an jährlichem Einkommen.116 Einige der aktuellen oder geplanten Programme wie Section 235 richteten sich jedoch an solche Familien, deren Einkommen über diesen 6.000 Dollar und unterhalb des Einkommensmedian lägen. In diesem Zwischenbereich fände sich mittlerweile, so Crowell, jede fünfte Familie wieder. Der Makler warnte vor der Tendenz, sie in den Fokus wohlfahrtsstaatlicher Hilfen zu nehmen. Die Maßnahmen des Ministeriums würden a priori diskreditiert, wenn sie nicht Arme adressierten, sondern Menschen aus den »middle income ranges«: »Nothing will discredit these programs more than mounting evidence that families well within the middle income ranges are the prime beneficiaries of the programs; that these programs widen rather than narrow the gap between the living conditions of the poor and the middle class.«117
Crowell teilte demnach nicht die Einschätzung, nach der Armen nützte, was den etwas Reicheren half. Er warnte, Section 235 ließe geringverdienende Familien 115 Ebd., S. 12. 116 Statement of H. Harland Crowell, Jr., Chairman, Realtor’s Washington Committee of the National Association of Real Estate Boards, before the Subcommittee on Housing and Urban Affairs, Senate Banking and Currency Committee, on pending housing legislation, 22.7.1970, Akte: Legislation 1970, Box: J–O, Division: Housing Production and Mortgage Credit – FHA, Correspondence and Related Subject Files, 1969–1973, RG 31, NACP. 117 Ebd.
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und Menschen in Häusern, deren Wert unterhalb der Marke von 20.000 Dollar bewertet worden waren, außen vor. Zu letzteren gehörte Helen Thompson, die sich in dem oben zitierten Schreiben an George Romney genau über diese Tendenz beschwert hatte. In seinem Statement vor den Senatoren nutzte Crowell für die jüngeren Familien, die mit Hilfe der Hypothekensubventionen von Section 235 in ein neues Haus ziehen konnten, die Bezeichnung »less deserving«. Damit verwendete auch er die Idee des Verdienstes zentral, um wohlfahrtsstaatliche Hilfe zu beschreiben. Mit Thompson teilte er aus der Expertenperspektive die Einsicht, dass Menschen wie sie, als eigentlich verdiente Gruppe, realiter vernachlässigt worden waren: »The program will, unless redirected to serve lower income families in this country – those earning less than $5,000 who have been led to believe the program will make home owners out of them – and the older families who live in the millions of homes now valued at less than $20,000 who are quickly learning the way the Section 235 program really functions, forcing them to remain in their present homes while enabling younger and less deserving families, who could easily afford unsubsidized housing, to enjoy the more expensive new homes.«118
Während Crowell also Helen Thompsons Meinung teilte, hatte Barba, der eine Woche vor ihm die gleiche Gruppe erkannt hatte, das genaue Gegenteil empfohlen. Er hatte gefordert, denen zu helfen, die von wohlfahrtsstaatlichen Programmen für die Armen unberücksichtigt geblieben waren. Crowell warnte vor der Inkonsistenz der darin fortlebenden Rhetorik des No Man’s Land: »Is our national policy going to be to increase production or to house poor people? These objectives are far more inconsistent than many realize.«119 Produktionssteigerung sei keineswegs mit wohlfahrtsstaatlichem Impetus gleichzusetzen. Daher mahnte Crowell im Namen der Immobilienmakler, die er vertrat, vor den Konsequenzen und einem anstehenden öffentlichen Aufschrei, sollten die Vorgaben der Section 235 nicht abgeändert werden: »[…] we are convinced […] the Section 235 program is going to turn into a major scandal when the public begins to understand what this program is doing to millions of families who own homes worth less than $20.000. It is unconscionable that a family that can provide adequate housing for itself without a subsidy should be able to enjoy federal subsidies to buy more expensive housing. That is a result that was never contemplated, but it is the inevitable consequence of a policy which places the increased production of lower cost units above all other goals.«120
Auf die rhetorische Frage »Are we going to house poor people in the country or are we going to abandon them to increase the housing inventory?« folgte 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd.
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Crowells zentrale Mahnung: »We are subsidizing the wrong people in the wrong housing.«121 Nachdem er auf die Armen, die nicht profitieren würden, eingegangen war, richtete Crowell seinen Blick auf die wirklichen Nutznießer des Programms, die er in der Mittelklasse sah. Da es in den Innenstädten ohnehin kaum Bauland gäbe, auf dem die Errichtung von Einfamilienhäusern mit Hilfe der Section 235 möglich sei, trage Washington zu einer weiteren Suburbanisierung bei. Da damit die Verwahrlosung der Innenstädte einherginge, sei auch dafür die Regierung verantwortbar: »[…] it follows that city residents who want to purchase Section 235 housing will have to find it in the suburbs. Naturally these people are going to be relatively affluent because they must be earning a regular income around $ 7,000 to meet even the minimum requirements for affording a new Section 235 home. Families with lower incomes will be denied benefits under the program outright because there are no funds even to buy an FHA repossessed home. Thus as a direct result of federal policy the inner city deteriorates even more rapidly and the tax base further erodes.«122
Da die wirtschaftlichen Interessen der Immobilienmakler, die Crowell vertrat, durch den vereinfachten Bau neuer Häuser gestört wurden, fiel es ihm leicht, das Gegenteil dessen zu fordern, was Bauunternehmer Barba eine Woche zuvor proklamiert hatte. Ökonomische Gefahr resultierte für die Immobilienmakler aus einem wohlfahrtsstaatlichen Programm. Mit Hilfe der Section 235 lohnte es sich, ein neues Haus zu bauen, statt mithilfe eines Maklers eines zu kaufen. Ein Großteil der bestehenden Häuser qualifizierte sich nicht für diese Fördermöglichkeit, da ihr Wert unter den festgeschriebenen 20.000 Dollar lag. Helen Thompsons Haus fand damit schwerer einen Käufer. Die FHA, so der Vorwurf, würde den Bau neuer Häuser eher fördern als den Verkauf bestehender an arme Familien.123 Sarkastisch schloss Crowell seinen Kommentar mit dem Verweis auf die aus seiner Sicht wahren Profiteure der wohlfahrtsstaatlichen Subvention Section 235: »We look forward to the day when the Secretary of Housing and Urban Development will be able to tell this Committee in testimony how many truly low income families our federal programs are accommodating, and not how many units those programs were able to produce for middle income Americans.«124
Der Wunsch nach einer Rechtfertigung des zuständigen Ministers zur Section 235 vor dem Kongress wurde ein knappes Jahr später erfüllt. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Das Dilemma der FHA wird deutlich, wirft man einen Blick auf Beschwerden, die bemängelten, dass der Kauf von Häusern nicht jenen ermöglicht werden sollte, die welfare empfingen. Im April 1971 erreichte eine ganze Reihe von Briefen die FHA, die genau dies monierten, etwa John J. Collins an Eugene A. Gullegde, 14.4.1971, Akte: 235, Box: HUD Correspondence, 1969–1973, Housing Production and Mortgage Credit, RG 31, NACP. 124 Ebd.
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Romneys Anhörung Am 24. Mai 1971 wurde George Romney, Secretary des Department of Housing and Urban Development, vor dem Unterausschuss des Committee on Government Operations des Repräsentantenhauses angehört.125 Thema waren die aktuellen Programme zur Wohneigentumsförderung. Der Abgeordnete John S. Monagan (1911–2005) aus Connecticut bat Romney zu beschreiben, was er unter »assisted housing« verstand. Romney bemühte sich, die Unterscheidungskriterien seines Ministeriums darzustellen: »That is really subsidized housing, where there is a subsidy involved. And then in addition to the subsidized programs, we have the programs where we insure the mortgages. We don’t consider that assisted. Assisted and subsidized we tend to use interchangeably. And these are principally for low- and moderate-income families, the subsidized or assisted.«126
Demnach waren Subventionen und assistance, die von der Behörde synonym verwendet wurden, für Familien mit geringen und moderaten Einkommen vorgesehen. Die Versicherungsprogramme hingegen sollten demnach Familien mit höheren Einkommen vorbehalten sein. Um ein allgemeines Statement zur Situation des Wohnungsmarkts gebeten, gab Romney zu Protokoll, dass in den vorausgegangenen Jahren ein Anstieg der allgemeinen Wohnkosten zu verzeichnen gewesen sei. Bezöge man alle Kosten wie Baufinanzierung, Steuern, Versicherung, Pflege und Nebenkosten ein, seien die Kosten für ein durchschnittliches Haus von 148 Dollar pro Monat im Jahr 1965 auf 272 Dollar im Jahr 1970 angestiegen. Diesem 84-prozentigen Kostenzuwachs stünde ein lediglich 46-prozentiges Anwachsen des Median einkommens gegenüber, das sich von 7.000 auf 10.000 Dollar erhöht hatte: »This means that in 5 years a large number of potential home buyers were priced right out of the housing market because of exorbitant housing costs.«127 Alle denkbaren Kostenfaktoren für den Bau eines Hauses wie Bauland, Material und Arbeitslöhne seien in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre rapide angestiegen. Hoffnung verband Romney jedoch mit der der fortschreitenden Industrialisierung in der Baubranche, die sein Ministerium strukturell zu fördern gedachte.128 Romney bemühte sich jedoch auch, den direkter im Wohlfahrtsstaat zu verortenden Aspekten seines Ministeriums gerecht zu werden: »But there are many other aspects of the problem, including the human and social aspects of 125 Anhörung Romney, Subcommittee of the Committee on Government Operations, 24.5.1971, Akte: Hearing 10/13–14 Govt. Op. Committee, Box: D–I, Division: Housing Production and Mortgage Credit – FHA, Correspondence and Related Subject Files 1969–1973, RG 31, NACP. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 So zielte das Programm Operation Breakthrough darauf ab, ein Haus in einem County aufzubauen, das in einem anderen gefertigt worden war. Dies war zu diesem Zeitpunkt illegal.
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housing and community relationships, that make it the most complex problem on the domestic scene.« Die Szene zwischen Romney und Monagan lebt wieder auf, liest man den protokollierten kurzen Wortwechsel, der auf diese Aussage Romneys folgte. Monagan setzte hinzu: »And also possibly the most important.« Worauf Romney beipflichtete: »The most urgent« und es von Monagan echote: »Most urgent.«129 Eines der Ausschussmitglieder, der langjährige demokratische Abgeordnete aus Florida, Dante Bruno Fascell (1917–1998), sah die Situation der verwahrlosenden Innenstädte als unlösbar. Der vom HUD mitgetragene fragmentierte Ansatz erscheine ihm als »waste of time and money«.130 Damit schlug Fascell ähnliche Töne an, wie George Wallace es als Kritiker der Regierung ebenfalls tat. Sein Ausschusskollege, Fernand Joseph St. Germain, stellte die aktuelle Umsetzung der Section 235 dem gegenüber, was er bei der Verabschiedung des dazugehörigen Gesetzes darunter verstanden hatte. Für den demokratischen Abgeordneten aus Rhode Island glich Section 235 nun einem welfare-Programm. Er fühlte sich vom republikanischen Minister getäuscht: »Mr. Secretary, as I recall it, and maybe you can correct me, when we were consider ing the 235 and 236 housing before the other committee, I wasn’t, frankly, of the impression that this was supposed to be a welfare program. It was my impression it was for low-income people, people who were working, didn’t have enough money to buy a house and we are going to give them a hand, assistance in buying a home. Was that your impression at the time?«131
Der implizite Vorwurf St. Germains provozierte einen bemerkenswerten Dialog, in dem Romney definierte, was er unter der Section 235 verstand und was unter welfare. Seine erste Antwort lautete daher, Section 235 sei eine Mischung aus welfare und etwas anderem: »You have a mixture. It depends on what you consider welfare.« Der Abgeordnete versuchte darauf, am Beispiel eines seiner Wähler, zu erklären, was er nicht unter welfare verstanden wissen wollte: »[…] I have a man at home in one of the 235’s. There are 11 in the family, there is a mother-in-law who is disabled, in a hospital bed, two mentally retarded children, but the man has been working. He was living in the public housing for 20 years before he was able to buy this 235. Sure, he gets a welfare supplement, but I don’t consider him per se a welfare case. He is a workingman who had a lot of adversity.«132
Die Formulierungen St. Germains beschrieben den elffachen Vater mit bettlägeriger Mutter und zwei geistig behinderten Kindern als keinen klassischen »welfare case«. Ihn zeichnete aus, dass er arbeitete und lediglich viel Widerstand im
129 Anhörung Romney. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Ebd.
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Leben erfahren musste. Er hatte eine andere Hilfe als welfare verdient, befand St. Germain. Eine wirkliche Klarstellung, auch wegen der unklaren Vorwürfe des Abgeordneten, fiel Romney schwer: »If you are saying, aren’t there a lot of people who are working in subsidized housing units, yes, there are many people who are working in subsidized housing units. On the other hand, there are many people receiving welfare in subsidized units. You have both.«133 Der Demokrat aus Rhode Island legte sogleich nach. Er hatte der Section 235 in ihrer aktuellen Form nicht zugestimmt, weil sie »pure, unadultered welfare people« helfen sollte, sondern hart arbeitenden Familien: »I […] was not so enthusiastic about the program because I expected that we would have pure, unadulterated welfare people in there. I was enthusiastic because I felt it would help the man who has worked all of his life, his wife is working, they have a large family, and they need the help. Now, wasn’t that […] your concept when we were considering it?«134
Damit stand erneut die grundsätzliche Frage im Raum, wem welche Hilfe zukommen sollte. St. Germain schilderte seinen Enthusiasmus, Männern und ihren berufstätigen Frauen helfen zu können, die ihr Leben lang für eine große Familie gearbeitet hatten. Sie waren für ihn die verdienten Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Hilfen. Romney blieb nur die vage Beschwichtigung: »It is a mixed situation.« Weder widersprach er, noch stimmte er zu. Als die stundenlange Anhörung keine Erkenntnis dazu brachte, wem wirklich damit geholfen werden durfte, verlangte St Germain die präzisen Zahlen für welfare-Empfänger in den Wohnungen, die durch Section 235 und 236 gefördert wurden im Gegensatz zu »working families«, denen die gleiche Förderung zukam. Romney konnte die Verteilung aufschlüsseln. Für das letzte Quartal des Jahres 1970 war sie deutlich. In Häusern, die mit Hypothekenbeihilfen im Rahmen der Section 235 gekauft worden waren, wohnten zu 92,2 Prozent Menschen mit »wages and saleries«. 2,2 Prozent aller Begünstigten bezogen Social Security. Welfare erhielten 3,8 Prozent.135 Dies ergab einen Mix, mit welchem der Abgeordnete St. Germain zufrieden gewesen sein mag.
133 Ebd. 134 Ebd. 135 Die Zahlen ähnelten der Verteilung im »Schwesterprogramm«, Section 236, zur Förderung des Mietshausbaus: »Wages und salaries«: 93,1 Prozent, »welfare«: 6,6 Prozent.
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5.3 Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat: Welfare mess und Directors Gesetz Dieses Unterkapitel untersucht die Wahrnehmung der beiden zentralen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements Social Security und welfare im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit. Beide bezeichneten jeweils getrennte Bereiche des Wohlfahrtsstaats, auf welche sich Behörden, wie die SSA bei der Trennung der Renten OASI und OAA, ebenso beriefen wie Populisten bei der Unterscheidung von Unterstützung für verdiente und unverdiente Arme. 5.3.1 AFDC und Social Security als wohlfahrtsstaatliche Pole Als Bill Clinton in seinem Wahlkampf des Jahres 1992 versprach, »welfare as we know it« zu beenden, erfuhr er, wie auch bei der Umsetzung des Versprechens im Jahr 1996, kaum politischen Widerstand. Das wohlfahrtsstaatliche Programm, das sich hinter der Bezeichnung welfare verbarg, hieß Aid for Fami lies with Dependent Children oder AFDC. Alleinerziehenden Müttern wurde hierbei durch Geldleistungen geholfen, wenn sie zuvor ihre Bedürftigkeit belegt hatten. Zwei parallele Entwicklungen hatten seit den sechziger Jahren die öffentliche Ablehnung des Programms begünstigt. So stieg einerseits ab Mitte der sechziger Jahre die Rate berufstätiger Frauen stark an.136 Berufstätige Ehefrauen, zwei monatliche Gehaltsschecks pro Familie: Beides wurde nun auch in Familien üblicher, die während der fünfziger noch von einem Gehalt hatten leben können.137 Die breite gesellschaftliche Einsicht in die Notwendigkeit, armen, alleinstehenden Frauen zu helfen, erodierte jedoch. Diese Entwicklung wurde auch durch die Wahrnehmung von Social Security beeinflusst. Die Rentenversicherung wurde, mit der Ausweitung der einbezogenen Berufsgruppen, als zunehmend verschieden zu welfare gesehen. Für Social Security, das umgangssprachlich eigentlich nur den Teilbereich der OASI meinte, galt nun in Abgrenzung zu vermeintlich unverdienten Leistungen das übergeordnete Label der Sozialversicherung, der social insurance.138 Auf dieser übergeordneten Ebene stand der Sozialversicherung die Alternative der public assistance gegenüber. Der Begriff welfare wiederum war dem Label der public assistance untergeordnet; es beschrieb eine speziellere Form dieser Art 136 Vgl. Berkowitz, America’s. 137 Entgegen populärer Annahmen blieb aber der Anteil von alleinerziehenden Müttern das gesamte 20. Jahrhundert stabil bei 29 Prozent. Um 1900 waren achtzig Prozent dieser Mütter Witwen. Auch zur Jahrhundertmitte war diese Quote kaum geringer. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte sank der Anteil der Witwen auf 20 Prozent, während andere Ur sachen einen größeren Anteil ausmachten, vgl. Katz u. Stern, S. 159. 138 Vgl. hierzu Berkowitz u. McQuaid, S. 195; siehe außerdem Kapitel 2 dieser Arbeit.
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der wohlfahrtsstaatlichen Hilfe.139 Weitere Programme, die unter dem begrifflichen Dach social insurance Platz fanden, waren die 1956 eingeführte Disability Insurance und das, erstmals 1965 ausgezahlte, Medicare. Mit der OASI teilten diese beiden Programme, dass die Leistungen hier bundesweit gleich hoch waren und dass sie durch monatliche Abgaben von den Arbeitnehmern mitfinanziert wurden. Von den Verwaltern der Rentenversicherung wurde die OASI als Steuerungsinstrument beschrieben, das weit über die Grundfunktion der finanziellen Absicherung alter Menschen, hinausging. Wilbur Cohen etwa erläuterte in einer parlamentarischen Anhörung: »The Social Security program, however, is not solely directed to relieving poverty. Nor do I believe it should be. Social security is designed to enable an incentive, risk-taking economy to function. It attempts to provide compensation to individuals who produce and take risks.«140
Cohen sah die Rentenversicherung als eine Grundlage des amerikanischen Wirtschaftssystems und einen Garant für dessen Erfolg. In den Jahren zwischen New Deal und War on Poverty konnte ein Auseinanderdriften von social insurance, welche die Menschen für ihre Arbeit belohnte, auf der einen Seite, und public assistance, welche Menschen aufgrund von Bedürftigkeit unterstützte, auf der anderen, beobachtet werden. Darin lag auch das Fundament der Überzeugung, dass die public assistance-Teile des Wohlfahrtsstaats durch social insurance-Arrangements ersetzt werden müssten.141 Den begrifflichen Gegensatz in der Gruppierung von public assistance und social insurance bildeten damit vor allem die Begriffe assistance und insurance.142 Dieses Gegensatzpaar trug stellvertretend die ältere Unterscheidung von verdienenden (deserving) und nicht-verdienenden (undeserving) Bedürftigen in sich.143 Public assistance wurde von Politikern beider großen Parteien und von der SSA als dahinwelkendes Element dargestellt, welches es zugunsten der als überlegen dargestellten social insurance zu überwinden galt. Dieses Verständnis trug dazu bei, dass der Missmut immer größer wurde, als Leistungen wie AFDC, anders als prognostiziert, nicht überflüssig wurden, sondern, im Gegenteil, immer notwendiger. Dieser nicht eintretenden Abkömmlichkeit von AFDC stand die politische Unangreifbarkeit von OASI gegenüber. Während die Empfänger von Social Security Anfang der sechziger Jahre kaum in politischen Debatten Erwähnung fanden, stieg die Aufmerksamkeit für die Empfänge 139 Social Security verhält sich zu social insurance wie welfare zu public assistance. 140 Cohen, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 34, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 141 Vgl. Berkowitz, America’s, S. 91. 142 Ein Bericht von 1972 sagte: »Total federal public assistance (›welfare‹) expenditures, including aid to dependent children and aid to the blind and permanently disabled […].« Meyers u. Musial, S. 52. 143 Vgl. Katz, Undeserving.
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rinnen von AFDC. Wer diese Hilfe in Anspruch nahm, war »on the dole«. In einem Nullsummenspiel der öffentlichen Anerkennung und Akzeptanz beschädigten die Erweiterungen von Social Security das Image der public assistance. Im Jahr 1960 bezogen 3,1 Millionen Amerikanerinnen ADC. Fünf Jahre später waren es 4,4 Millionen, die das, nun in AFDC umbenannte, Programm in Anspruch nahmen; 1968 war die Zahl auf 6,1 Millionen gestiegen.144 Der Anteil afroamerikanischer Frauen unter den Empfängerinnen stieg von 32 Prozent im Jahr 1950 auf 47 Prozent 1967, nachdem er 1961 bei 41 Prozent gelegen hatte.145 Allein in den sechziger Jahren stieg damit die Zahl der Frauen, die AFDC bezogen, um 4,4 Millionen und damit um nahezu 150 Prozent. Gleichzeitig verdreifachten sich die Kosten, was auch an der umfangreicheren Betreuung der Berechtigten lag. Von einer Milliarde Dollar waren die Ausgaben für AFDC zwischen 1960 und 1969 auf 3,5 Milliarden Dollar gestiegen. Während die wohlfahrtsstaatlichen Zahlungen an körperlich Behinderte, Blinde und Alte 1955 noch doppelt so hoch waren wie jene an alleinerziehende Mütter, hatten diese 1957 alle anderen Formen der public assistance überholt.146 Am Ende der sechziger Jahre war die Summe, die monatlich als AFDC ausgezahlt wurde, größer als alle anderen public assistance-Programme des Bundes zusammengenommen.147 Wenig später warnte Wilbur Mills 1971 den Kongress vor einer »außer Kontrolle geratenen« Situation: »If the situation in welfare was alarming and in a state of crisis at the beginning of 1970, the AFDC program is now completely out of control.«148 Allein im Januar des Jahres 1971 schlugen die Kosten für AFDC, hier von Mills wieder gleichgesetzt mit welfare, mit 483 Millionen Dollar zu Buche. Sie waren somit um mehr als vierzig Prozent gegenüber dem Vorjahr angewachsen. Die Zahl der Bezieherinnen war im gleichen Zeitraum um weitere 2,3 Millionen Frauen auf nun insgesamt 9,8 Millionen landesweit angestiegen. Nur zwei Monate später, im März 1971, durchbrach ihre Zahl die symbolträchtige Marke von zehn Millionen.149 In Detroit stellten die Autoren einer Studie zur Entwicklung der Innenstadt schockiert fest, dass mittlerweile jeder sechste Bewohner auf public assistance-Programme angewiesen war: »Incredibly, […] 241,000 persons whom the broader society is placing 144 1975 betrug sie schließlich 10,8 Millionen. 145 Patterson, Freedom, S. 96.; da neunzig Prozent der Amerikanerinnen nicht afroamerikanisch waren, war die Wahrscheinlichkeit, als Afroamerikanerin auf AFDC angewiesen zu sein, überproportional groß. 146 Insgesamt verfünffachten sich zwischen 1945 und 1969 die Ausgaben des Bundes für »social welfare« pro Kopf. Darin einberechnet waren alle Formen wohlfahrtsstaatlicher Zahlungen. US Bureau of Census, S. 377. 147 Berkowitz u. McQuaid, S. 203. 148 Wilbur Mills, Floor Statement on H. R. 1, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 34, Committee on Ways and Means, RG 233, 92nd Congress, 1971. 149 Vgl. ebd.; das Ziel von Mills war es, AFDC allein auf Bundesebene verwalten zu lassen, da die Einzelstaaten, seiner Meinung nach, die Kosten nicht ausreichend gut kontrollierten. Außerdem sah er mit Sorge die vermeintlichen Anreize, die dazu führten, dass sich Familien trennten, um AFDC erhalten zu können, vgl. hierzu Zelizer, S. 317.
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in a dependent and subservient position rather than taking steps to reverse the trends.«150 Als Schlüsselwörter dienten den beiden Sozialwissenschaftlern die Begriffe »abhängig« und »unterwürfig«. Die Position der Empfänger von public assistance war damit klar besetzt. Social Security genoss im Vergleich zu welfare eine völlig andere, positive Reputation. Anders als die Hilfen für alleinstehende Mütter hatte sich die Rentenversicherung als Sinnbild der verdienten Hilfe und andererseits der gut verwalteten staatlichen Aufgabe etabliert. Die Auseinandersetzung um den Wohlfahrtsstaat und um die Frage, wie der Verfassungsauftrag, für das »well-being« aller Amerikaner Sorge zu tragen, zu verstehen war, war eine der zentralen Debatten zwischen Liberalen und Neokonservativen. 1968 war es auf einem Princetoner Symposium für Richard A. Musgrave selbstverständlich, dass moderne Sozialversicherungen Aufgaben wahrnehmen, die über die Vermeidung von Armut hinausgingen.151 In seiner Rede sprach der 1910 in Deutschland geborene Musgrave von aktuellen Debatten, in denen es um den Widerspruch zwischen humanitären und egalitären Zielen von Sozialversicherungen ginge. So wären die humanitären Ziele überall in der Gesellschaft akzeptiert. Musgrave, der zuvor Kennedy und Johnson als Experte zur Seite gestanden hatte, betonte: »But though the relief of poverty remains an important part of social insurance, it is no longer the core issue. Increasingly social insurance has become a budgeting aid for the middle class and a device to protect the more prudent members of society against those less given to provide for future needs.«152
Leid sollte prinzipiell gemindert werden. Mögliche egalitäre Ziele, die durch Umverteilungen erreicht werden konnten, waren dagegen Zentrum der Kontroverse, wenn es um die Ziele von Sozialversicherungen ging. Musgrave versuchte, die Anhänger von Keynes mit denen des deregulierten Marktes zu versöhnen. Obgleich auch afroamerikanische Familien wirtschaftlich aufsteigen konnten und obwohl sich eine schwarze Mittelklasse formierte, war der Anteil der Afroamerikaner, der in Innenstädten wohnte, überdurchschnittlich hoch. Die Arbeitslosenquote für Afroamerikaner zwischen 16 und 19 Jahren lag 1967 bei über dreißig Prozent. Sie war damit doppelt so hoch wie für Weiße gleichen Alters.153 In der öffentlichen Meinung rückten die wirtschaftlichen Probleme der Innenstädte und ihrer Bewohner immer näher zu denen von afroamerikanischen Familien und von Empfängerinnen von AFDC. So ergaben Umfragen 150 Meyers u. Musial, S. 39. 151 Der in Königstein bei Frankfurt geborene Richard Abel Musgraves (1910–2007) war neben seiner Tätigkeit als Wirtschaftswissenschaftler auch für das Federal Reserve Board tätig. Von ihm stammt der Klassiker »The Theory of Public Finance« aus dem Jahr 1959, vgl. zu biografischen Angaben den Nachruf in der Times, Mary Williams Walsh, Richard A. Musgrave, 96, Theoretician of Public Finance, NYT, 20.1.2007. 152 Musgrave, S. 24.; im gleichen Beitrag schildert Musgrave sehr anschaulich, wie Sozialversicherungen die Interessen von Reichen und Sparsamen schützen würden, vgl. ebd. S. 28. 153 Patterson, Freedom, S. 89.
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im Sommer 1968, die unter weißen Amerikanern durchgeführt wurden, dass rassistische Vorurteile insbesondere Komponenten aus den Bereichen Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat beinhalteten. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, dass Afroamerikaner mehr wollten, als ihnen zustünde. Sechs von zehn Befragten gaben an, Afroamerikanern fehlte es an Ehrgeiz und die Hälfte stimmte der These »Negroes want to live off handouts« zu.154 Ein afroamerikanischer Bürgerrechtler betonte 1968 bei einer öffentlichen Veranstaltung in Birmingham ausdrücklich, dass er die Chance nutzen wollte, sich dem weitverbreiteten Vorurteil entgegenzustellen, Schwarze würden sich aus Faulheit mit dem Bezug von welfare zufriedengeben.155 Schwarze und weiße Familien schienen sich in dieser Wahrnehmung von einander zu unterscheiden. Dabei war AFDC immer wieder die Messlatte für die Bewertung, ob Hilfe verdient oder unverdient gezahlt wurde. Als in den sechziger Jahren der Anteil der unehelichen Geburten stieg, betraf dies in überproportionalem Maß afroamerikanische junge Frauen.156 Einige Jahre später stiegen die Quoten nicht nur länger bei Teenagern, sondern auch bei älteren Afroamerikanerinnen und ärmeren weißen Frauen.157 Gleichzeitig hatte jede Erweiterung der Empfangsberechtigten in der Rentenversicherung die Gruppe der Empfänger von public assistance ein wenig schwärzer, weiblicher und ärmer werden lassen. Mit AFDC konnotierte Begriffe waren zu Beginn der siebziger Jahre race, sex, unmarried mothers, Hispanics, African americans. Social Security hingegen wurde im Kontext mit den Begriffen work, middle class, saving und taxes verwendet. Insbesondere die Wahrnehmung der Einkommensteuer bot einen gemeinsamen Nexus für welfare-Empfänger und Steuerzahler. Wenn der Begriff Steuerzahler, wie oben bereits mehrfach gesehen, synonym für Menschen verstanden wurde, die sich als Teil der Mittelklasse verstanden, dann umfasste dies auch, dass sie für die Kosten aufkamen, die sich hinter der Vokabel welfare verbargen. Wann immer das Thema einer welfare-Reform diskutiert wurde, meldeten sich auch Verbände und Initiativen zu Wort, welche die Interessen von Steuerzahlern vertraten. Eine solche Organisation war auch »The Taxpayers Association for Welfare Reforms«. Die Gruppe war eine in New York ansässige Vereinigung, die mit Zeitungsannoncen um Spenden warb und sich für die Interessen von Steuerzahlern im Bereich wohlfahrtsstaatlicher Reformen engagierte. In ih154 Zit. n. ebd., S. 90. 155 Tommy Wrenn, Birmingham’s racial calm applauded, BN, 21.8.1968. 156 Die Entwicklungen seit Mitte der sechziger Jahre stellt Patterson in den Fokus. So waren 1965 zwei Drittel aller Frauen zwischen 20 und 24 verheiratet. 1993 war es nur noch ein Drittel. 1965 waren fast neunzig Prozent aller Frauen zwischen 25 und 29 verheiratet. 1993 lag die Quote unter sechzig Prozent, vgl. Patterson, Freedom, S. 92. 157 Erst um 1980 sollte klar werden, dass die Entwicklung unter jungen, afroamerikanischen Müttern eine Tendenz ankündigte, die sich im letzten Drittel des Jahrhunderts in allen Industrienationen vollzog. Die Zahl der Eheschließungen sank, die Geburtenrate bei Un verheirateten schnellte nach oben, vgl. ebd., S. 93.
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ren Anzeigen hieß es: »Taxes are going up! Is this the wish of the Majority? If not, what are you doing about it?«. In der Beschreibung ihrer Arbeit stellte die Vereinigung die Untersuchung von »Welfare and social services« in den Mittelpunkt. Beide public assistance-Bestandteile nähmen einen »great and ever expanding percentage of our tax money« in Anspruch.158 Einer ihrer Vertreter schilderte im April 1971 die Sicht seiner Mitstreiter auf eine anstehende AFDCReform. In seinem Schreiben an das Committee on Ways and Means griff er eine geplante Verschmelzung von welfare-Komponenten mit solchen der social insurance scharf an. Als regelrechte Beleidigung verstanden sie aktuelle Reformvorschläge, die welfare und OASI in einem Entwurf verbanden: »You are insulting the intelligence of the voters and taxpayers by combining the […] proposals into one bill. […] we find some aspects of this plan good, in that they are correcting some of the shortcomings of our present welfare program. There are some areas however, that we feel are not in the best interests of the majority – the taxpayers, or in fact, in the best interests of democracy.«159
Demnach waren welfare und Social Security zwei verschiedene Elemente des Wohlfahrtsstaats. Sie unterschieden sich vermeintlich so stark, dass ein gemeinsames Gesetz nicht länger den Container für eine gemeinsame Reform bieten sollte. Diese Sicht wurde von Gruppen vertreten, die sich als Steuerzahler verstanden und zugleich auch ihre OASI-Rente in Anspruch nehmen wollten. Zur gleichen Zeit bekräftigten Menschen aus allen Landesteilen in Eingaben, Umfragen und Zeitungsinterviews ihre Unzufriedenheit mit den anhaltend schlechten Nachrichten zur Entwicklung der unter welfare subsumierten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Immer wieder stellten die wachsenden Empfängerzahlen lokale Verwaltungen vor erhebliche finanzielle und organisatorische Probleme. Im Winter 1970/71 nahmen allein in New York City 1.181.310 Menschen irgendeine Form der public assistance in Anspruch. Dieser Anteil von 15 Prozent der Bevölkerung der größten Stadt des Landes wurde nur in Baltimore und Boston übertroffen. Dort empfingen 15,2 beziehungsweise 16,6 Prozent der Bewohner public assistance-Zahlungen.160 Um den kritischen Forderungen der Öffentlichkeit nachzukommen und um die Kosten zu reduzieren, entschieden sich Verantwortliche überall im Land zu Kürzungen und Streichungen von Leistungen. Große öffentliche Aufmerksamkeit hatte so zu Beginn der sechziger Jahre die Situation in Newburgh im Staat New York erfahren. Die Stadt am Hudson war einst Hauptquartier der Armee George Washingtons gewesen. Diese historische Randnotiz wurde jedoch überstrahlt durch die Entscheidungen des hiesigen city 158 Zeitungsanzeige in Union Sun and Journal, Lockwood, NY, 5.2.1971. 159 Taxpayers Association for Welfare Reforms an Mills, 13.4.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; der Family Assistance Plan, wird in Kapitel 7 thematisiert. 160 Crackdown on Welfare Payments, U. S. News & World Report, 9.8.1971, S. 14.
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managers, Joseph McDowell Mitchell. Er wurde mit seinem rigiden Kurs gegen public assistance-Empfänger zum »Nemesis« liberaler Wohlfahrtsstaatsadvoka ten.161 Ende des Jahres 1961 hatte er die Zahlung aller public assistance-Leistungen auf maximal drei Monate pro Jahr gekürzt. Zugleich mussten alle, denen ein Scheck aus public assistance-Hilfen zustand, diesen auf der Polizeiwache abholen. Ausgenommen waren allein Hilfen für Blinde, körperlich Behinderte und alte Bedürftige. Seine, ohne genauere Belege, dargebrachte Begründung lautete, die Stadt habe wiederholt Leistungen an Betrüger gezahlt. Dadurch legitimierte er die rigorose Einschränkung von Hilfsleistungen in der Öffentlichkeit. Auch die Einstellung jeglicher Unterstützung für eine Frau, die zum wiederholten Male unehelich ein Kind zur Welt gebracht hatte, schien öffentlich Zustimmung zu finden. Diese wurde erst versagt, als sich herausstellte, dass sich kein einziger Betrüger an den Hilfen der Stadt bereichert hatte. Zwölf der dreizehn Kürzungserlasse des city managers wurden vom Obersten Gerichtshof für nichtig erklärt und aufgehoben.162 Fast zehn Jahre später, im Sommer 1971, griffen Verwaltungen überall im Land gewohnheitsmäßig zu teils weitgehenden Kürzungen. Nachdem das Bild der Empfänger von public assistance während des Jahrzehnts deutlich gelitten hatte, konnte Rufen nach Einsparungen einfacher durch Kürzungen begegnet werden. Der Staat Illinois versuchte etwa seine Ausgaben einerseits durch effizientere Verwaltungsprozesse und andererseits durch Programme, die Empfänger zur Arbeit verpflichteten, zu reduzieren. In New York waren mittlerweile striktere Regeln zur Aufenthaltsdauer im Bundesstaat verabschiedet worden. Wer nicht nachweisen konnte, eine längere Zeit hier gelebt zu haben, erhielt keine Form der public assistance. Die notwendige Dauer wurde gleichsam als Stellschraube zur Ausgabenkürzung immer weiter verlängert. Im Mittleren Westen kürzte Kansas alle wohlfahrtsstaatlichen Hilfen aus dem Bereich der public assistance allgemein um ein Fünftel. Im Süden strich Alabama die Zahlungen von AFDC an Familien, die über ein Einkommen, gleich welcher Art, verfügten. Dadurch verloren 6.900 Frauen mit einem Schlag jede wohlfahrtsstaatliche Unterstützung. Das gleiche galt hier für Menschen, die Leistungen aus der »Aid to the Permanently and Totally Disabled«, einem lokalen Hilfsprogramm, erhalten hatten. Insgesamt 2.100 Menschen, deren Familien über eine andere Form des Einkommens verfügten, verloren so ihr Anrecht. Weiter westlich, in Texas, wo die public assistance-Empfängerzahl binnen eines Jahres, um monatlich 12.000, auf nun 640.000 Personen gestiegen war, wurden, wie in Kansas, die Zahlungen pauschal gekürzt. Anders als in den meisten anderen Staaten verbot die texanische Verfassung, neu Hinzugezogenen Hilfen zu verwehren. Auch deshalb waren binnen eines Jahres 22.000 Bedürftige, denen dies möglich war, nach Texas gezogen. Welfare-Empfängern in Kalifornien, die eine
161 Sam Roberts, Spirit of Newburgh Past Haunts Political Present, NYT, 9.3.1972. 162 Die Situation in Newburgh schildert May.
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ihnen angebotene Arbeit nicht annahmen, erhielten keinerlei Hilfen mehr.163 Im Osten intensivierten die Behörden in Pennsylvania ihre Untersuchungen in möglichen Betrugsfällen. Zudem experimentierte der Staat als erster mit der Ausgabe von Lichtbildausweisen an welfare-Empfänger.164 Weiter nördlich gestattete New Hampshires Verfassung keine Kürzungen der public-assistance. Dies führte dazu, dass die Kosten, die der Regierung in der Hauptstadt Concord entstanden und die auf steigende welfare-Empfängerzahlen zurückgeführt wurden, nicht mehr kompensiert werden konnten. New Hampshire kürzte Ausgaben für Schulen oder übertrug sie an die Städte und Countys.165 Im Sommer 1971 stoppte der Staat New York die Praxis, AFDCEmpfängerinnen ihre monatlichen Schecks per Post zuzustellen. »Employable welfare recipients«, beschäftigungstaugliche Bezieherinnen mussten stattdessen ihre Schecks persönlich abholen. Das führte dazu, dass fast ein Fünftel der Auszahlungen nicht in Anspruch genommen wurden.166 In den Berichten zu diesen Kontroll- und Kürzungsmaßnahmen lasen sich die Rechtfertigungen ähnlich. Die Steuerzahler müssten vor dem großen Anstieg der welfare-Zahlungen geschützt werden. Da die mittleren Einkommensgruppen, in ihrer zentralen Selbstwahrnehmung als Steuerzahler, besonders diese Kosten zu tragen hatten und ihre Präferenz auf den nicht debattierten Formen der social insurance lag, stieg ihre Wut. Einer der Artikel schloss mit dem Fazit: »A look around the U. S. makes it clear that taxpayers are in revolt against the increasingly oppressive burden of welfare – and that public officials are getting the message.«167 Die Zunahme der wohlfahrtsstaatlichen Kosten schien auf den Schultern der mittleren Einkommensgruppen zu lasten. Eine andere Lesart lieferten Vertreter der neokonservativen Chicago School. 5.3.2 Directors Gesetz als neue Form der Kritik am Wohlfahrtsstaat »Public expenditures are made for the primary benefit of the middle classes.« Aaron Director, 1970
Der Ökonom Aaron Director (1901–2004) stellte 1970 den Lehrsatz auf, dass öffentliche Ausgaben prinzipiell dem Wohle der Mittelklasse zugutekamen. Damit beschritt er den Weg einer neuen Form der Kritik am Wohlfahrtsstaat. Diese sah nun auch die Kosten für bislang breit akzeptierte wohlfahrtsstaat163 »Denial of benefits to recipients who dodge opportunities to work is a spreading pattern«, Crackdown, S. 16. 164 Vgl. ebd.; in einem Land, in ohne persönliche Ausweispflicht war dies eine erhebliche Neuerung. 165 Crackdown, S. 16. 166 Welfare Cost Off, Rockefeller Says, NYT, 4.8.1971. 167 Crackdown, S. 16.
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liche Programme, wie Social Security, skeptischer. Director gehörte als Schwager von Milton Friedman, der mit seiner Schwester Rose verheiratet war, und als Professor an der University of Chicago Law School zu einer Gruppe von Ökonomen, die mit radikalen Theorien und Konzepten, Marktstrukturen und Steuersystem hinterfragten. Zu den Thesen dieses losen Zusammenschlusses, unter der Bezeichnung Chicago School, fanden sich Konzepte wie Directors Gesetz. Mit diesem und anderen Theoremen zur Funktion staatlicher Strukturen wurden Professoren und Nobelpreisträger, wie Friedman, George Stigler, Theodore W. Schultz und andere Wegbereiter für eine grundlegend skeptische Sicht auf staatliche Eingriffe in den Markt und das Leben der Amerikaner. Mit ihnen gewannen zudem konservative ökonomische Analysen an Autorität in den Debatten zum Wohlfahrtsstaat.168 Das Ende der sechziger Jahre war vom Vertrauensverlust der Amerikaner in die Arbeit ihrer Regierung begleitet. Außenpolitisch setzte Richard Nixon im Krieg gegen Nordvietnam auf das Mittel der »kalkulierten Rücksichtslosigkeit«. Aus strategischen Gründen wollte er gar für einen Verrückten gehalten werden, dem jedes Mittel recht war, die Feinde aus Indochina an den Verhandlungstisch zu bringen. In einer zunehmenden Entgrenzung des Kriegs begannen US-Bomber, über 14 Monate hinweg, Rückzugsgebiete der Nordvietnamesen in Kambodscha zu bombardieren.169 Die Kombination aus Kalkulation, Rücksichtslosigkeit und Radikalität war auch durch die Ohnmacht gegenüber den Krisen der sechziger Jahre begünstigt worden. Nixons geheim gehaltene Bombardierung kambodschanischer Gebiete, von der selbst hochrangige Militärs der Luftwaffe nicht informiert worden waren,170 markierte das Ende eines turbulenten Jahrzehnts. So wie der Vietnamkrieg der erste Krieg war, den die Amerikaner daheim am Fernseher verfolgen konnten, so wurden auch die Unruhen in den Städten in die Wohnzimmer der Nation übertragen. Das provozierte Fragen nach Ursachen und Forderungen von Lösungen. Die Bürgerrechtsbewegung, der Krieg in Indochina, Proteste und Unruhen in den Innenstädten und die Gegenkultur der großen Kohorte der Babyboomer schufen neue Konfliktlinien und verstärkten alte Verwerfungen. Davon blieb auch das Verhältnis zwischen Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat nicht verschont. Directors Gesetz eignet sich dazu, einen Einblick in die Deutungsmuster von Wirtschaftsexperten wie George Stigler und Milton Friedman zu erhalten. Beide traten in Artikeln, Interviews und öffentlichen Debatten als Verfechter der Thesen Directors auf. Galt er Kritikern zuvor, aus Gründen der Moral, der sozialistischen Konnotation und mangelnder Anreizsysteme, als fehlerhaft oder negativ, führten Männer wie Friedman und Stigler nun neue Begründungen für die Unzulänglichkeit des Wohlfahrtsstaats ins Feld. Dazu gehörte der Vorwurf, dass sich bestimmte Teile der Gesellschaft das politische System der 168 Vgl. Berkowitz, America’s, S. 120. 169 Vgl. Frey, S. 190–191. 170 Ebd., S. 191.
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USA zunutze machten, um auf Kosten aller anderen zu profitieren. Damit offenbarten die Anhänger der Chicago School, wie grundverschieden sie den Staat und dessen Aufgaben im Vergleich zur Wisconsin School verstanden. Sie analysierten wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten entlang ökonomischer Modelle. Dies war nichts Neues. Schon Frederick W. Taylor und die Apologeten der »corporate welfare« in Birmingham der zwanziger Jahre waren Beispiele für ein Primat der Ökonomie. Der Unterschied zu den sechziger Jahren lag jedoch darin, dass damals Aggregate wie Social Security, AFDC oder öffentliche Hypothekenprogramme noch nicht bundesweit etabliert waren. Die Kritik an der ökonomischen Ratio von wohlfahrtsstaatlichen Programmen wurde damit in eine neue Form gegossen. Milton Friedman wurde zum wichtigsten und meistbeachteten Vertreter der Chicago School der siebziger Jahre. Er hatte zwar selbst kurzzeitig im Finanzministerium gearbeitet, war jedoch schnell wieder an die Universität zurückgekehrt. Friedman, dessen Eltern aus den ukrainischen Karpaten stammten, zitierte in mehreren seiner Artikel und in verschiedenen Diskussionsrunden, in denen er die Sinnhaftigkeit und Effizienz des aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements kritisierte,171 das Gesetz seines Schwagers, Aaron Director.172 Dessen Lehrsatz zu den größten Profiteuren staatlicher Ausgaben besagte, dass die Mittelklasse auf Kosten aller anderen Vorteile genoss. Dies basierte auf ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit in einer Demokratie und ihrer Angepasstheit in einer Bürokratie. Noch zentraler als Friedman für die Erklärungen dieser These von Aaron Director war jedoch George Stigler. Er verfasste 1970 einen Aufsatz zu Aaron Directors »Gesetz zur öffentlichen Einkommensumverteilung«.173 Die Auslegung und Erläuterung des 1911 geborenen Stigler sind auch deshalb die wichtigste Informationsquelle zu Directors Gesetz, weil dieser selbst sich nicht dazu äußerte. Die Analyse Stiglers ist jedoch nicht nur die bedeutendste Auslegung seiner Argumente.174 Sie legte nachträglich ein theoretisches Fundament unter die Beobachtungen Directors, der seine Schlüsse aus Überlegungen zu allgemein zugänglichen Daten gezogen hatte. Den vermeintlich überdurchschnittlich hohen Profit der Mittelklasse erklärte Stigler durch die dem Staat zur Verfügung stehenden Zwangsmittel. Ganzen Gesellschaftsteilen konnten Ressourcen entzogen werden. Die Einteilung ba171 Siehe hierzu die unten erwähnte und publizierte Debatte zwischen Wilbur Cohen und Milton Friedman. Außerdem bezeichnete Friedman in weiteren öffentlichen Vorträgen den »Robin Hood Myth« der SSA. Er versuchte, zu dekonstruieren, die Regierung nehme den Reichen Geld ab, um es den Armen zu geben. Die Quintessenz dieses Vortrags lautete, dass die Mittelklasse profitierte und nicht die Armen. In der Reihe »Milton Friedman Speaks« betraf dies bes. die zweite Vorlesung, Lecture 02, »Myths That Conceal Reality«, [URL: http://www.youtube.com/watch?v=uyW8US8qeDM&index=7&list=FLjMP5pm-itm Ab5f3Pf371Pw, 30.3.2014] 172 Vgl. Friedman u. Friedman, S. 122. 173 Stigler. 174 Ebd.
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sierte in diesem marktorientierten Schema zunächst auf der Höhe der Einkommen. Die Gruppe, die am meisten Kontrolle über den Staat ausübte, konnte in diesem Bild von diesen Ressourcen am meisten profitieren.175 Dies waren die »middle income classes«. Zur für die Chicago School typischen Veranschaulichung anhand einfacher Beispiele nutzte Stigler das Modell Kalifornischer Hochschulen. Die Eltern der Studenten verfügten über Einkommen, die Stigler den mittleren Einkommensgruppen zuordnet. Eine Tabelle zu Einkommen und zu der Höhe der bezahlten Steuern der jeweiligen Gruppen belegte, so Stigler, dass »public provision of higher education redistributes income from the poorer to the higher income classes«. Wenn Stigler in seiner Darstellung von den Eltern von Universitätsabsolventen sprach, bezeichnete er diese als middle class. Die Konkretisierung einer bestimmten Einkommenshöhe entfiel dabei. Hinzu kamen Steuerbefreiungen, die in Kalifornien für Ausbildungszwecke gewährt wurden, und für Eltern hohe Ersparnisse bedeuteten. Ihre Kinder wären demnach auf Kosten der Allgemeinheit eher in die Lage versetzt, Universitäten zu besuchen. Insgesamt begünstigte dies, dass »a middle-class offspring is significantly more likely to graduate compared to one of a lower income household«.176 Stigler war überdies der Meinung, dass auch alle anderen öffentlichen Ausgaben am ehesten den mittleren Einkommensschichten nutzten.177 So seien auch die Leistungen von Feuerwehr und Polizei am Nutzen der Mittelklassen orientiert. Denn sie bewahrten in erster Linie Eigentum. Reiche Amerikaner könnten diesen Schutz privat organisieren, während arme kein bewahrenswertes Eigentum besaßen. Auch hier überschnitten sich die Interessen der Mittelklasse kaum mit denen von Arm und Reich. Neben diesen recht einfach erscheinenden Belegen für Directors Gesetz, führte Stigler aus insgesamt sechs verschiedenen öffentlichen Bereichen Beispiele an, um diese weiter zu untermauern. Bis auf militärische Ausgaben waren hier mit der Landwirtschaft, Mindestlöhnen, Social Security, öffentlichem Wohnungsbau, Steuerbefreiungen und welfare-Ausgaben fast alle staatlichen Ausgabenfelder vereint. Für die Landwirtschaft geltende Produktionsbeschränkungen verstand Stigler so zum Beispiel als Hilfe für Farmbesitzer, die in diesem Bild die Mitte der ländlichen Gesellschaft ausmachten. Sie konnten dadurch höhere Preise verlangen. Ärmere rurale Bevölkerungsgruppen, wie Landarbeiter, sowie die reicheren Schichten im Agrarsektor, die Pächter, könnten hingegen nicht profitieren. Letzten Endes zahlten die Konsumenten den Preis für politisch auferlegte Produktionsbeschränkungen. Dies stellte in den Augen des Ökonomen Stigler eine degressive Umsatzsteuer dar. Im Falle staatlich geregelter Mindestlöhne sah Stigler zwei Arten von Arbeitnehmern als prinzipielle Gewinner. Auch ein, zunächst als soziale Einrichtung erscheinendes, Arrangement wie den Mindestlohn sahen Stigler und Director als Beleg für die These, dass Regierungs175 Ebd., S. 1. 176 Ebd. 177 Eine Diskussion zu diesem Punkt findet sich bei Feld u. Schnellenbach, S. 3.
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instrumente eingesetzt wurden, um in erster Linie Familien mit mittleren Einkommen zu schützen und zu fördern. So profitierten gutbezahlte Arbeitnehmer im Norden und Nordosten der USA. Sie konnten sich darauf verlassen, dass ihre Arbeitgeber nicht die Löhne des Südens adaptieren würden. Zugleich konnten Arbeitnehmer, die aus dem Süden arbeitssuchend in den Norden migrierten, nicht durch ihre Bereitschaft, für einen geringeren Lohn zu arbeiten, die aktuellen Arbeitnehmer aus ihren Jobs vertreiben.178 Noch bedeutender aber war die Kritik an der Rentenversicherung Social Security, die in Directors Schema ebenfalls die Mittelklasse bevorzugte. Dabei lehnte Stigler in seiner Auslegung komplexe mathematische Modelle zugunsten einer auf common sense basierenden, anekdotischen Empirie ab. Wie auch Friedman stellte Stigler damit die Rentenversicherung anhand demographischer Entwicklungen und lebenszyklischer Evidenzen auf den Prüfstand. So belasteten die monatlichen Rentenversicherungsbeiträge jene Arbeitnehmer, die früher ins Berufsleben eintraten, insgesamt stärker. Wer länger arbeitete, zahlte schließlich länger Beiträge. Damit würden alle, die nach der Schule nicht an die Hochschule, sondern in den Beruf gingen, insgesamt längere Beitragszeiten aufweisen. Auf der anderen Seite erhielten relativ früh versterbende Personengruppen weniger Rente: Zu ihnen gehörten alle, die körperlich schwer arbeiten mussten. Angestellte und Akademiker waren hier im Vorteil. Der Zeitpunkt der Ausweitung der OASI auf bestimmte Berufsgruppen ließ ebenfalls einzelne Gruppen stärker profitieren. Wer nur noch kurze Zeit arbeiten musste, nachdem auch sein Beruf Teil der OASI geworden war, zahlte im gesamten Berufsleben deutlich weniger ein als jemand, dessen Beitragszahlungen bereits früh einsetzten. In seinen Annahmen, so betont Stigler, gingen er und Director davon aus, die Arbeitnehmer trügen die finanzielle Last der Rentenbeiträge allein. Nähme man in einer globaleren Perspektive die Konsumenten mit in den Blick ergäben sich noch mehr Vorteile für Besserverdienende. Sie zahlten schließlich einen geringeren Anteil ihres Einkommens für Produkte, von deren Warenpreis ein Teil in die OASI entrichtet wurde. Skeptisch gegenüber der Großzügigkeit von Verwaltungen und der Effizienz von öffentlichen Einrichtungen, kritisierten Director und Stigler auch den öffentlichen Wohnungsbau. Nicht etwa die Armen profitierten davon. In Stiglers Augen dienten öffentliche Wohnungsprojekte dem Zweck, die Bevölkerungsdichte in beliebten Wohnvierteln niedrig zu halten. Dies steigerte die Lebensqualität derer, die sich ein Haus in der Suburb leisten konnten. Ärmere Schichten wurden damit gleichsam in bestimmten Gebieten konzentriert angesiedelt. Die Kosten hierfür wurden für Hauskäufer durch Subventionen künstlich niedrig gehalten, womit Stigler öffentliche Hypothekenversicherungen den Kosten für den öffentlichen Wohnungsbaus gegenüberstellte. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive öffnete sich für Stigler auch der Blick für steuerliche Bevorzugungen, welche allein die Mittelklasse genoss. So ließen Steuerbefreiungen jene Institutionen 178 Vgl. Stigler, S. 2.
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überdurchschnittlich profitieren, deren Klientel vor allem aus Mittelklasse-Familien bestand. Mehr als die darüber und darunter liegenden Gesellschaftsteile waren die Familien der Mittelklasse aktiv in Kirchen, Bildungseinrichtungen und medizinischen Organisationen. Alle drei Bereiche, die oft auch der Arbeitsplatz von Angehörigen der Mittelklasse waren, genossen Vorteile, die bis zur völligen Steuerbefreiung reichten. Schließlich rechnete Director auch die Ausgaben für welfare dem Strauß an Vorteilen zu, den sich die Mittelklasse dank politischen Einflusses verschafft hatte. Armenhilfe sei demnach jahrhundertelang eine wohltätige Gabe von Privatpersonen gewesen. Im 19. Jahrhundert hatte jedoch ein Prozess eingesetzt, in welcher der Staat diese Aufgabe übernahm und zunehmend die Verantwortung und die Kosten dafür trug.179 All dies sei der Mittelklasse gelungen, da sie die mächtigste Wählergruppe darstellte. Als Wählerkoalition hatte sie sich die Orientierung der Politik an der Mehrheit zunutze gemacht. Jede Tätigkeit des Staates, bei welcher der Nutzen für die Koalition größer als dessen Kosten war, war schrittweise den Interessen der Mittelklasse untergeordnet worden. Als eine solche Wählerkoalition sah Director im 19. Jahrhundert, also vor der Einführung der großen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen wie SSA, FHA oder HEW, den interessengeleiteten Zusammenhalt von Menschen mit geringen und mittleren Einkommen an der Wahlurne.180 Ohne den sicher etablierten Steuerstaat, der zuerst auf der 1913 eingeführten Einkommensteuer basierte, waren Staatseinnahmen hauptsächlich aus Verbrauchssteuern und Zöllen hervorgegangen. Beide waren nicht an Einkommen gebunden. Sie konnten jedoch in unterschiedlicher Form für bestimmte gesellschaftliche Teile gelten, die sich durch andere Kriterien, wie Religion oder Region definierten. Zudem waren staatliche Leistungen jeder Art stark beschränkt. Das Einkommen wurde erst der zentrale Faktor in der Zusammensetzung von Klassen und in der Finanzierung von Staatsausgaben, als der Steuerstaat des 20. Jahrhunderts entstand. Erst jetzt wurden auch die ökonomischen Biographien der Bürger durch den Staat nachvollziehbar. Parallel lösten nun Beschäftigungsverhältnisse in großen Firmen die Selbständigkeit als wichtigste Beschäftigungsform ab.181 Damit wurde das Einkommen die Basis für die Formierung von Wählerkoalitionen. Familien mit geringem Einkommen waren meist solche mit nur einem Elternteil. Familien mit größeren Einkommen dagegen bestanden aus mehreren Verdienern und meist älteren Kindern. Unter Einbezug abstrakter Fragen der Wahlforschung wies Stigler darauf hin, dass die Verteilung der abgegebenen Stimmen bei einer Wahl meist nicht widerspiegelte, was für eine Mehrheit der Wähler optimal wäre. Ein politisch einflussreicherer Teil der Gesellschaft hatte andere mit Wahlrestriktionen belegt. Dazu gehörten Tests zu Lesefähigkeiten oder poll taxes. Außerdem wäre der Nutzen, sich an der Wahl zu beteiligen, für alle außerhalb der bestimmen179 Ebd., S. 3. 180 Ebd., S. 4. 181 Ebd., S. 5.
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den Wählerkoalition, gering. Anders als Friedman nutzte Stigler an diesem Punkt mathematische Modelle, um Wahlverhalten und Wählerkoalitionen zu berechnen und zu erklären. Entlang der Erkenntnisse von Wahlforschern und Studien zur politischen Ökonomie untermauerte er seine Unterstützung für Directors Gesetz.182 Aus den ursprünglich induktiven Überlegungen Directors und dessen Gedankenmodell, das auf empirischen Datensammlungen und Beobachtungen basierte, formten Stigler und Friedman ein Axiom zum Ausgabeverhalten von Demokratien. Der inklusive Ansatz von Directors Gesetz, der sich eben nicht allein auf wohlfahrtsstaatliche Ausgaben, sondern auf Staatsausgaben im Allgemeinen bezogen hatte, war dafür prädestiniert. Stigler verfeinerte und veränderte im Grunde Directors Aussagen, wenn er annahm, Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen würden gemeinsam den Reichen als Koalition gegenüberstehen. Während die Mittelklasse in Stiglers Augen im 19. Jahrhundert von einer Koalition mit den Reichen profitierte, so galten Wohlhabende ihm nun als Nutznießer einer Wählerkoalition mit den Armen.183 Auch David S. Broder (1929–2011) schilderte den, auch von Director und Friedman thematisierten, Mythos rund um Social Security kurze Zeit nach Erscheinen von Stiglers Analysen. Im Mai 1971 machte Broder, als einer der über Jahrzehnte hinweg einflussreichsten Journalisten der Washington Post, auf die steigenden Rentenbeiträge aufmerksam. Die payroll tax war mittlerweile zur zweitgrößten Einnahmequelle Washingtons, nach der Einkommensteuer, angewachsen.184 Dies schilderte Broder als Ungerechtigkeit. Da die Rentenbeiträge anders als die Einkommensteuer keine Befreiungen oder Abzüge kannten, seien sie degressiv.185 Mittlere und geringe Einkommen wurden überproportional stark belastet.186 Dass dies ohne politischen Widerstand der Betroffenen geschehen konnte, erklärte Broder mit einem sorgsam kultivierten Mythos, welcher das Social Security-System umgäbe.187 Der Journalist beschrieb die Vernachlässigung in der öffentlichen Debatte: 182 Ebd., S. 7. 183 Ebd., S. 9. 184 Vgl. Broder. 185 Ob die Rentenversicherung pro- oder degressiv sei, war eine der wichtigsten Fragen, die Amerikaner zu Beginn der siebziger Jahre in diesem Zusammenhang stellten, vgl. Cates, S. 7–9.; siehe hierzu auch Goodwin u. Tu, die Studie der beiden Autoren berichtet auch vom Widerstand der SSA gegen die Untersuchung und alle damit verbundenen Recherchen. So weigerte sie sich, anders als ursprünglich vereinbart, dafür aufzukommen. Schließlich sprang die Brookings Institution als Geldgeberin ein. 186 »That tax is levied regardless of the number of dependents or legitimate deductions the earner has. It gives no real consideration to his ability to pay.«, Broder. 187 Eine weitere Facette des Mythos, den Broder an Social Security kritisiert hatte, bestand aus der Annahme, dass der Arbeitgeber eine Hälfte der payroll tax bezahlen würde. Dies sei unter anderem in einer Studie der Brookings Institution widerlegt und auch Milton Friedman hatte zu diesem Zeitpunkt mehrmals öffentlich auf diesen Umstand verwiesen. Arbeitnehmer trügen demnach alle Kosten, da die gesamte payroll tax, also Arbeitgeber-
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»[…] the social security tax system has been protected from debate by two carefully cultivated myths. One is the notion that it is a ›social insurance‹ system, in which an individual’s contributions (taxes) are held in trust for him and returned, with interest, as retirement benefits.«188
Damit focht er die Vorstellung an, gezahlte Rentenbeiträge würden bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters angespart. Die Kritik an Social Security gelangte so prominent in die öffentliche Debatte. Broder selbst hielt seine Einsichten jedoch keineswegs für verwerflich. Es entsprach seinem Gerechtigkeitsempfinden, aktuelle Arbeitnehmer für aktuelle Rentner aufkommen zu lassen. Nur, so befand er, sollte dies so auch kommuniziert werden. Wieder fanden Debatten um den Wohlfahrtsstaat auf einer semantischen Ebene statt. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Rentenversicherung beinhaltete um 1970 noch zwei weitere Facetten. Neben der Frage, ob Social Security progressiv oder degressiv sei, in welchem Maße und in welche Richtung hier also zwischen verschiedenen Einkommensgruppen umverteilt wurde, war eine weitere dieser Facetten die Frage, ob es sich bei OASI überhaupt um eine Versicherung handelte. Eveline M. Burns beschrieb 1965 die Weiterentwicklung des Rentensystems, indem sie sich auf die Frage nach dem Versicherungscharakter von Social Security konzentrierte.189 Als eine der Verfasserinnen des Social Security Act von 1935 blieb Burns bis zu ihrem Tod 1968 eine der wichtigsten Vordenkerinnen des US-Wohlfahrtsstaats. Das nun im Vergleich zum ursprünglichen New Deal-Gesetz stark erweiterte Wohlfahrtstaatskonzept war für Burns nur denkbar, weil die OASI einer allgemeinen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Hilfe den Weg gebahnt hätte. In ihrer Erinnerung an die Verabschiedung des Social Security Act war die Analogie der OASI zu einer privaten Versicherung zentral für diesen Erfolg: Die Gleichsetzung »with private insurance made the change acceptable to a society which was dominated by business ethics and which stressed individual economic responsibility«.190 Burns identifizierte anhand der Versicherungsanalogie drei Phasen. In der Phase vor 1935 sei man davon ausgegangen, nur eine strikte Einhaltung versicherungsmathematischer Prinzipien könne eine staatliche Rentenversicherung legitimieren. Einzahlungen und Auszahlungen sollten sich dabei in linearem Verhältnis zueinander befinden. Schon kurz nach der Verabschiedung wurden diese Prinzipien jedoch aufgeweicht. Immer weitere Berufsgruppen sollten nun in das System integriert werden: und Arbeitnehmeranteile, sonst an sie ausgezahlt würde, vgl. Cohen u. Friedman; auch darin stimmte Broder mit Friedman überein. Ein weiterer Autor, der die Arbeitgeberanteile als zusätzliche Last der Arbeitnehmer verstand, war 1972 Brittain; zum Einsatz von Mythen in der Wohnungspolitik siehe Unterkapitel 4.2.1 dieser Arbeit. 188 Vgl. Broder. 189 Dabei war der Hintergrund ihres Artikels die bevorstehende Einführung von Medicare, siehe Burns. 190 Ebd., S. 129.
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»As the poorer and more irregularly employed were brought into the system, the strict relationship between benefits and earnings would become ever more untenable because of the necessity to insure a meaningful benefit to covered workers with low earnings. […] Equity would give place to adequacy as a guiding principle.«191
Das »leitende Prinzip« bestand nun weniger im Streben nach Gleichheit. Das Ziel, Mittel gerecht zu verteilen, schien dem Anliegen nach Angemessenheit zu weichen. Burns ließ in ihre Analyse die aktuellen demographischen Herausforderungen einfließen. Wie sollte der zunehmend größer werdenden Gruppe der Alten geholfen werden? Da sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt habe, unverschuldet in Not geratenen Personen musste geholfen werden, stellte sich nun die Frage, ob dies durch Formen der social insurance oder der public assistance erreicht werden sollte.192 Aus den Vorschlägen von Burns ließ sich auch ein neues Symptom der Armut der sechziger Jahre herauslesen. Menschen hatten nun nicht mehr mit dem Problem zu kämpfen, temporäre Verdienstausfälle zu kompensieren. Sie fanden oft gar keine Arbeit mehr. Bei der Frage, wie Armen und Alten zu helfen sei, würden Konzepte diskutiert, die unter Kennern der wohlfahrtsstaatlichen Materie schon lange verhandelt wurden. Eines dieser Konzepte war die negative Einkommensteuer, deren berühmtester Vordenker Friedman war. Dieser Idee ähnelte das, wie Burns es nannte, sozialistische Pendant der »social dividend or guaranteed-income«. Dabei sei die bedeutendste Frage, wie in einer solchen Form der bedingungslosen Hilfe der Arbeitsanreiz erhalten bleiben konnte.193 Auch Friedman selbst äußerte sich zur Frage, ob die Rentenversicherung ihren zweiten Namensbestandteil zu Recht trug. 1972 trennte er die beiden Bestandteile des Programms, die payroll tax und die Rentenauszahlung, und negierte einen, bei einer Versicherung gegebenen, unauflöslichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Komponenten. Sein Kernargument lautete, dass zahlreiche Faktoren die Höhe der Auszahlungen beeinflussten, wie zum Beispiel der Familienstand. Ein verheirateter Mann erhielt eine höhere Rente als ein alleinstehender, selbst wenn beide identische Beiträge in den gleichen Berufen geleistet hatten. Die Höhe der Einzahlungen blieb unbetroffen. Auch den Anspruch, ein Vertrag zwischen den Generationen zu sein, wies Friedman, genauso wie die Versicherungsbehauptung ab. Gewohnt polemisch meinte Friedman, die OASI glich eher einem »Kettenbrief«.194 Nach seiner Analyse der getrennt betrachteten Bestandteile von OASI kam Friedman zu dem Schluss, dass das Rentensystem aufgrund seiner Degres-
191 Ebd., S. 130. 192 Vgl. ebd., S. 135. 193 Ebd., S. 137–138. Burns, Moynihan und Friedman gehörten zu denen, die Ende der sechziger Jahre »negative income tax« und »guaranteed annual income« öffentlich diskutierten, vgl. Patterson, Freedom, S. 114. und Kapitel 7 dieser Arbeit. 194 Cohen u. Friedman, S. 23–26.
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sivität ungerecht sei und lediglich drei bestimmte Gruppen und keineswegs alle Amerikaner profitieren lasse. Zuerst seien dies jene, die bereits früh eine Rente erhalten und zuvor nur kurze Zeit eingezahlt hatten. Zweitens profitierten jene überdurchschnittlich, deren Berufsgruppe erst später hinzugekommen war. Sie zahlten nur eine verhältnismäßig kurze Zeit ihre payroll tax. Die dritte Gruppe wären alle, die in Berufen ohne aktuelle OASI-Berechtigung arbeiten würden, wobei Friedman explizit Regierungsmitarbeiter erwähnt. Eine gängige Praxis bei dieser Berufsgruppe bestand darin, nach dem frühen Ruhestand noch die Mindestzeit von sechs Quartalen in einem Beruf zu arbeiten, der Teil von OASI war. So war es möglich, schließlich zwei Renten zu erhalten.195 Mittlerweile wäre damit, so Friedman, die Versicherungsanalogie hinfällig geworden. Sie hatte auch dazu gedient, Außenstehende von der Attraktivität von OASI zu überzeugen. Da durch die Ausweitung der Rentenversicherung kaum noch jemand unberücksichtigt geblieben war, sei die SSA nun zum Umdenken gezwungen. Das Bild der Versicherung hätte damit, mit Anbruch der siebziger Jahre, ausgedient. Stattdessen beobachtete der Professor aus Chicago, wie in zeitgenössischen Veröffentlichungen das Bild des Generationenvertrags propagiert wurde.196 Hinter dieser Idee sah der libertäre Ökonom Friedman eine marxistische Konstruktion: Eine Klasse verpflichtete eine andere, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. In Friedmans Analogie standen dabei alte und junge Menschen einander als Klassen gegenüber. Weil er einer solchen Entwicklung entgegensteuern wollte, warnte Friedman davor, die Rente durch allgemeine Steuern zu finanzieren. Eine Alternative zu einer solchen Entwicklung sah Friedman in der moralischen Verpflichtung aller Amerikaner. Würde es nicht gelingen, nachfolgende Generationen von einer ethischen Notwendigkeit zu überzeugen, für ihre Alten zu sorgen, würden sich diese auch durch Gesetze nicht dazu zwingen lassen. Damit war der Generationenvertrag in den Augen Friedmans kaum zu unterscheiden von der bis dato verwendeten Versicherungsanalogie. Das Konzept sollte als eine Art Nebelwand unangenehme Wahrheiten verschleiern.197 Eine rhetorische Meisterleistung der SSA hatte zu einer ungenügenden Auseinandersetzung mit dem Rentensystem und zu dessen Fehlverständnis geführt. In einer Debatte mit einem Verteidiger der SSA, dem ehemaligen Secretary des HEW, Wilbur Cohen, behauptete Friedman, auch im Wissen um Directors Gesetz, dass die Mittelklasse die wahre Profiteurin der Rente wäre. Cohen leugnete dies nicht. Er nahm Friedmans Darstellung sogar dankbar auf. Die Öffentlichkeitsarbeit für Social Security als, wie Friedman es getan hatte, rhetorische Meisterleistung zu bezeichnen, stimmte Cohen vielmehr stolz.198 Er bestärkte sogar, das als Vor-
195 Ebd., S. 34–37. 196 Vgl. ebd., S. 37–40. 197 Vgl. ebd., S. 40. 198 Zumal die Debatte der beiden vor einem Rhetorik-Seminar stattfand.
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wurf beabsichtigte Argument Friedmans, OASI verteile Gelder zugunsten mittlerer Einkommensschichten um: »[…] Mr. Friedman attacks the idea that American social security is primarily a system of redistribution of income to middle income people. Actually I think he is probably right about that. But, that is part of the system’s political sagacity. Since most of the people in the United States are in the middle income, middle class range, social security is a program which appeals to them.«199
Die Popularität der Rentenversicherung habe sich demnach gerade aus dem Umstand ergeben, dass Menschen mit mittleren Einkommen überdurchschnittlich stark profitieren würden. Die große Mehrheit der Nutznießer garantierte die politische Unangreifbarkeit der Rentenversicherung, gab Cohen zu: jedoch nicht aufgrund der absoluten Größe, sondern aufgrund des großen Anteils in den Einkommensgruppen der »middle class range«, die hier der nebeneinander gestellt wurden. Andere Institutionen, die sich dieser Unterstützung nicht bedienen konnten, waren dem Misstrauen der Öffentlichkeit ausgesetzt, diagnostizierte Cohen offen. So sei es zu erklären, dass das Office for Economic Opportunity und andere Einrichtungen des War on Poverty kaum Unterstützung erfahren hatten. Mit ihrem Fokus auf die Innenstädte hatte sich diese Behörde nicht an die »middle class, middle income person« gerichtet. Den Zusammenhang zwischen der wohlfahrtsstaatlichen Leistung und den Adressaten mit mittleren Einkommen hielt Cohen damit als elementar fest. Jede Kritik und alle eventuellen Fehler seien durch technische Änderungen leicht zu beseitigen: »[…] the essence of social security, with its appeal to middle income people, is desirable and those things that are legitimately criticized about the system could easily be remedied by certain changes.«200
Obwohl sich Cohens dazugehöriges Zitat selten in Studien zum Wohlfahrtsstaat findet, ist es im analytischen Kontext zur Untersuchung der Mittelklasse umso wichtiger: »[A] program that deals only with the poor will end up being a poor program.« Ein wohlfahrtsstaatliches Programm, das sich allein an Bedürftige richte, sei ein hilfsbedürftiges Programm. Nur wenn gleichzeitig mittlere Einkommensgruppen mit einbezogen würden, entstünde ein wohlfahrtsstaatliches Programm, das über politische Legitimität und Robustheit verfüge. Würde man Social Security abschaffen, wie Friedman es in den Augen Cohens forderte, und stattdessen ein Programm allein für die Armen installieren, wären es die Armen, denen am Ende am wenigsten dadurch geholfen wäre.201 199 Cohen u. Friedman, S. 54. 200 Ebd., S. 55. 201 Ebd.; dem skeptischen Blick des Historikers Jerry Cates entging die Debatte zwischen Cohen und Friedman nicht. Er analysierte die Sozialversicherungsidee hinter Social Security als eine von vielen und verlieh ihr das Prädikat »conservative social insurance«, Cates, S. 11–14.
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Während also der Begriff der Versicherung von Ökonomen der Chicago School für das Konzept der staatlichen Rentenversicherung verworfen wurde und auch die zuständige Behörde zugunsten des Bildes des Generationenvertrags davon abrückte, hielten die Abgeordneten des Kongresses daran fest. Wenige Monate zuvor hatten Wilbur Mills und sein Mitarbeiterstab im Ways and Means-Ausschuss befunden, dass »insurance« eindeutig abdecke, worum es sich bei Social Security handelte. In einer eigens angefertigten Stellungnahme, die Mills vielfach an Kritiker versendete,202 hieß es: »It is both appropriate and desirable to refer to the social security program of [OASI] as ›insurance‹.«203 Der Begriff der Versicherung beschreibe nun einmal mittlerweile sowohl kommerzielle Bereiche als auch das Prinzip der social insurance. Den Beleg führte Mills historisch und juristisch. Lexika wie die Enzyclopedia Britannica und Urteile des Obersten Gerichtshofs dienten ihm dabei als Grundlage. Der fehlende konkrete Vertrag in Papierform und das ungewöhnliche Verhältnis zwischen Versicherungsgeber und Versicherungsnehmer, die Social Security unter anderem vorgeworfen wurden, kennzeichneten dieses System, in Mills Argumentation, keineswegs als minderwertig. Beide Faktoren erhöhten Social Security sogar noch im Vergleich zu den üblichen, kommerziellen Versicherungstypen. Schließlich seien diese zumeist inflexibel. Social Security hingegen würde steigenden Preisen regelmäßig angepasst und spiegelte so den allgemeinen Lebensstandard der Nation wider.204 Der Washington Post-Journalist Broder sah die größte Ungerechtigkeit in der nicht angepassten Beitragsbemessungsgrenze, dem wage-base limit. Damit wurden verhindert, dass die Beitragshöhe, die ja prozentual ermittelt wurde, unbegrenzt steigen konnte. Sie lag bei der Einführung der Rente bei 3.000 Dollar. Das Einkommen, das diese Summe überstieg, wurde in die Berechnung des Rentenbeitrags nicht einbezogen. Als die OAI 1935 etabliert worden war, bezog die 3.000-Dollar-Bemessungsgrenze das komplette Jahreseinkommen von 97 Prozent aller Arbeitnehmer ein. Damit wurde quasi jedes Einkommen nahezu komplett in die Bemessung der Rentenbeiträge einbezogen. Da mit ihren Einkommen deutlich unter der Bemessungsgrenze blieben, waren die prozentualen Anteile der Rentenbeiträge, wenn auch nicht die absolute Summe, für alle Beitragszahler identisch. Um möglichst alle Arbeitnehmer gleich stark zu belasten, wurde die Höhe der Bemessungsgrenze regelmäßig den gestiegenen Löhnen und der Geldentwertung angepasst. Da jedoch, so Broders Vorwurf, Wilbur Mills und sein Ausschuss in den zurückliegenden Jahren diese Grenze nicht angehoben hatten, verdienten mittlerweile ein Viertel aller Arbeitnehmer mehr als das Maximum der Bemessungsgrenze: 202 Etwa an Broder von der Washington Post. 203 Mills, The Social Security Program Is Insurance, 19.5.1971, Akte: H. R. 1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; auch Zelizer betont diese Einstellung von Mills, vgl. Zelizer, S. 12. 204 Vgl. Mills, Insurance.
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»These well-off workers get a real break on social security taxes. A $23,400-a-year man, for example, gets just as big retirement benefits as a $7,800-a-year-man, but the effective payroll tax on his income is just one-third of the lower-salaried man’s.«205
Dass diese Themen so vernachlässigt würden, schrieb Broder auch dem Unwillen der Demokraten zu, sich damit zu beschäftigen. Sie überließen das ökonomische Denken allein dem Experten Mills.206 Broders Artikel hatte Wirkung. Immer mehr griff die, zuvor nur unter Experten geführte, Debatte über die Effektivität und Fairness von Social Security auf die Öffentlichkeit über. Wilbur Mills, dem zu diesem Zeitpunkt Ambitionen auf das Weiße Haus nachgesagt wurden, sah sich Dutzenden Nachfragen und Kommentaren ausgesetzt, die Broders Artikel zitierten. Mills reagierte: Gemeinsam mit seinem Stab erarbeitete er eine Reaktion auf Broders Vorwürfe.207 Die erarbeitete Stellungnahme erklärte Broders Kritik für haltlos. Dem Mechanismus der Finanzierung der Rente sei in den vergangenen Jahren mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden, als allen anderen Bereichen. Auch der Bericht des Social Security-Beirats von 1971 wird in der Stellungnahme mehrmals zitiert.208 Dieser Beirat hatte die besondere Legitimität und das Vertrauen in Social Security insbesondere darauf zurückgeführt, dass es aus speziellen Zwecken zugeordneten (earmarked) und einkommensbezogenen Beiträgen finanziert werde. Dies sei der Unterschied zwischen Social Security und welfare, welche damit auch in diesem Dokument abgewertet wurde: »The contributory nature of social security helps to avoid any implication that the benefits are a form of Government assistance or public charity.« Dass Social Security gemeinsam von allen finanziert werde, stärkte zudem die gesellschaftliche Solidarität, so der Bericht weiter.209 Damit kam Wilbur Mills, wie auch der Beirat, zu dem Schluss, dass die Rente nicht nur Altersvorsorge vieler, sondern auch eine Möglichkeit zur Solidarisierung aller Amerikaner war. Dieses Bild der Verbundenheit wurde damit als Teil des Mythos, der Social Security umgab, der Kritik an dessen finanzieller Basis gegenübergestellt. Mills nutzte den fast sakrosankten Status, um die versäumte Anpassung der Bemessungsgrenze zu schützen.210 205 Broder. 206 Vgl. ebd. 207 Die Arbeiten daran lassen sich anhand der Akten im Nachlass von Mills im Repräsentantenhaus rekonstruieren: Mills, Statement concerning an article, The Growing Impact of Payroll Taxes on Middle Incomes by David S. Broder, 27.5.1971, Akte: H. R. 1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 208 Der Advisory Council on Social Security war ein informeller Beirat aus Experten und Politikern. 209 Mills, Statement concerning an article. 210 Genau wie Mills hatte in den Jahren zuvor auch die SSA Social Security als komplementär zu »America’s wage economy« geschildert. Einen erheblichen Beitrag dazu leistete Robert Ball (1914–2008). Er arbeitete an einer Außendarstellung der Behörde, die er von 1962–1973 als Commissioner leitete, als effizienter und technologisch moderner Behörde, vgl. Berkowitz, Robert Ball, S. 74–75.
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Als Milton Friedman einige Jahre später gemeinsam mit seiner Frau Rose vergleichbare Kritikpunkte ins Feld führte, schlossen diese an jene von Stigler und Broder an. Die Ungerechtigkeiten des Systems von Social Security seien zu lange dank der großen Beliebtheit und Akzeptanz des Systems vernachlässigt worden. Der für seine Direktheit bewunderte und gleichzeitig gefürchtete Ökonom Friedman charakterisierte die Sozialexperten in der Verwaltung von Social Security hingegen als unehrliche Elite. Er und seine Frau Rose, die Schwester von Aaron Director, seien »schockiert« gewesen über die Argumente der Verteidiger und Verwalter von Social Security: »Leute, die ihre Kinder, Freunde oder Kollegen nie anlügen würden, denen wir in unseren wichtigsten persönlichen Angelegenheiten restlos vertrauen würden, haben ein falsches Bild der Sozialversicherung propagiert. Bei ihrer Intelligenz und ihren guten Informationsmöglichkeiten ist es schwer zu glauben, daß sie dies unbeabsichtigt und unbewußt taten. Sie hielten sich anscheinend für eine Elitegruppe innerhalb der Gesellschaft, die besser weiß, was für andere gut ist, als die Betroffenen selbst. Eine Elite, die die Pflicht und die Verantwortung hat, die Wähler zu überreden, Gesetze zu verabschieden, die ihnen zu Gute kommen werden, sogar wenn sie dabei die Wähler hinters Licht führen müssen, um dies zu erreichen.«211
Friedman setzte damit die letzten Pinselstriche am Bildnis einer bürokratischen Elite, der das Wohl ihres Programms und ihrer Behörde über die Ehrlichkeit zu den Wählern ging und welches seit Mitte der siebziger Jahre an Form gewonnen hatte. In der Folge nahmen kritische Sichten zur von Director geschilderten und Stigler präzisierten Sicht auf die Mittelklasse nicht ab. Die New York Times kritisierte 1975 den zu hohen Nutzen der Mittelklasse aus der staatlichen Förderung höherer Bildung: »[…] public subsidies of higher education end up benefiting the ›haves‹ out of proportion to their numbers – not because they are designed to do so but because the middle class has the skills to use the system.«212 Directors Gesetz stand für einen Wandel der Kritik am Wohlfahrtsstaat in den USA. Ökonomen bemühten sich um eine Dekonstruktion des Mythos der verdienten Hilfe. Die SSA wiederum etablierte neue Facetten dieses Mythos um die OASI, um ihren Nimbus zu wahren. Zu diesen Facetten gehörten das Bild des Gesellschaftsvertrags, das der verdienten Hilfe und das der mittelklasseorientierten wohlfahrtsstaatlichen Vorkehrung. Wieder waren semantics geeignet, das wohlfahrtsstaatliche Programm positiv zu bezeichnen.
211 »Als wir die Literatur zum Thema Sozialversicherung durchgingen, waren wir schockiert über die Argumente, die vorgebracht wurden, um das Programm zu verteidigen.«, Friedman u. Friedman, S. 120. 212 Fiske.
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5.3.3 Familie und Steuern im Wohlfahrtsstaat der späten sechziger Jahre »[…] the middle class winds up paying more than its fair share of government costs under the current setup. Middle class working married couples are penalized twice – once for being middle class and once for being married.«213 Barry Carol an Wilbur Mills, 27.2.1972
Seit den fünfziger Jahren wiesen Fachartikel zur Kindererziehung den Trend auf, Erziehungsmethoden der Arbeiterklasse denen der Mittelklasse gegenüberzustellen. Häufig fand sich der Hinweis, dass letztere dem Rat von Experten offener gegenüberstünden. Gleichzeitig wurden Familien aus der Mittelklasse als »Wiege der Demokratie« bezeichnet und gelobt.214 Die Erziehungsratgeber des Kinderarztes Benjamin Spock (1903–1998)215 gehörten zum festen Repertoire bei allen, die das Ideal der Mittelklasse teilten. Als schließlich Soziologen in den fünfziger und sechziger Jahren aufbrachen,216 um die gesellschaftlichen Strukturen der USA zu erforschen, stießen sie auf eine untere Mittelklasse, die auch unter dem Namen Middle Americans Bekanntheit erlangte. Für die Mütter innerhalb dieser unteren Mittelklasse befand unter anderem Herbert Gans, dass es ihnen an Selbstkontrolle mangelte. Dies führte in seinen Augen wiederum zu mangelnder Disziplin und Selbstkontrolle bei den Kindern. Maßstab waren auch hier die Attribute der Mittelklasse, an welcher sich mittlerweile Familien messen lassen mussten.217 Doch nicht nur die untere Mittelklasse wurde als Teilmenge der omnipräsent scheinenden Formation middle class differenziert. Gans beschrieb auch die obere Mittelklasse. Sie sah er im Besitz des Monopols der Analyse und Beschreibung der gesamten Gesellschaft: »[…] it tends to see the world from its own perspective. Therefore it is particularly sensitive to the differences between itself and the rest of society […] such distinctions as other-direction and inner-direction, local and cosmopolitan, person-orientation and
213 Carol an Mills, 27.2.1972, Akte: Tax Income Correspondence, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 214 Für diesen Befund vgl. O’Connor, S. 107.; in einem Beitrag zur kolumbianischen Mittelklasse wird das Ideal der Mittelklassefamilie ebenfalls als günstig für die Entwicklung einer modernen Demokratie besprochen, siehe López. 215 Seine Werke verkauften sich nach dem Krieg millionenfach, Spock, Common; ders., Pocket; ders., Problems; ders., Baby. 216 Das Bild des Aufbruchs traf besonders auf Soziologen wie den deutsch-stämmigen Herbert Gans zu. Er begab sich, wie unter Anthropologen üblich, in die Gemeinschaft derer, die er untersuchen wollte. 217 Siehe hierzu auch Riessman, Culturally; ders., Mental; Pearl u. Riessman; Redfield, Peasant; ders., Little; Rainwater u. a.; Lewis.
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object-orientation are in many ways dichotomies between ›them‹ and ›us‹. If they are not intended as such by their formulators, they are often interpreted in this way by the upper-middle-class […].«218
Jedoch untersuchte Gans vor allem die Arbeiterklasse und die lower-middle class. Die genauen Definitionen können in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle einnehmen. Bedeutsamer erscheint zunächst die interne Unterteilung der Mittelklasse. Diese wurde nun von nahezu allen Soziologen anhand alltäglicher Beobachtungen von Familien postuliert. Als Orientierungsmarken dafür, in welchen Teil der Gesellschaft eine Familie gehörte, dienten vor allem die Parameter Individuum und Staat. In Studien der fünfziger Jahre war die Familie als mittlere Instanz zwischen diesen beiden zunächst wenig besprochen worden.219 Dies änderte sich in den sechziger Jahren. Dank des zunehmenden Einflusses katholischer Gruppen wurde die Familie als immer zentraler für das gesellschaftliche Wohl verstanden. Sie galt immer stärker als die basale, unteilbare soziale Einheit und nahm so, auch gemäß der Tradition der katholischen Soziallehre, eine Vorrangstellung gegenüber Individuum und Staat ein. Skeptisch beobachteten dies protestantische und jüdische Politiker in den Reihen der Demokraten.220 Im Diskurs um die Mittelklasse der sechziger Jahre ist das Bild der Familie nicht von dem der Mittelklasse zu trennen. Anders als in der Arbeiterklasse oder bei den Reichen schienen Mittelklasseangehörige immer Teil einer Familie zu sein. Dass dieses Bild schließlich karikiert und kritisiert wurde,221 änderte daran wenig. Wie zentral der Diskurs um die Familie war, zeigt sich noch mehr im Zusammenhang mit den Debatten um die Ursachen und Linderung von Armut. Als Gans 1962 die Mittelklasse in ihre Segmente zerlegte, waren seine Beschreibungen die eines Soziologen. Sie fanden dennoch schnell Eingang in die Vorstellungswelt von Politikern und den Sozialexperten wohlfahrtsstaatlicher Behörden. Die Frauen der Arbeiterklasse, die Gans als Gegenmodell zur Mittelklasse ausmachte, überlegten zu oft, was andere über sie dachten. Sie hätten Angst, allein zu sein und personalisierten alle Ereignisse in ihrem Umfeld. Es fiele ihnen zudem schwer, fremde Perspektiven einzunehmen. Gans betonte außerdem, dass sie sich nur unzureichend am »community life« beteiligten und Staatsbediensteten gegenüber generell misstrauisch waren.222 Wieder im Kontrast zu Einstellungen der Mittelklasse attestierte Gans der Arbeiterklasse auch einen Antagonismus gegenüber Gesetz, Regierung und Politik; wohin218 Gans, S. 260. 219 Eine der wenigen Ausnahmen war Myrdal; die Taschenbuchausgabe erschien 1968. 220 Vgl. auch Moynihans skeptischen Blick auf diese Entwicklung, Moynihan, S. 20–22.; auch er hatte mit seinen Thesen zu afroamerikanischen Familien den Trend bestärkt, sich mit Familienkonstellationen und Familien als Kernelement der Gesellschaft auseinanderzusetzen. 221 Siehe etwa Friedan, 1963. 222 Gans, S. 235.
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gegen Medien hier eher als Autoritäten akzeptiert würden.223 Was der Arbeiter klasse darüber hinaus typischerweise fehlte, so Gans weiter, sei der »stable breadwinner«: »[…] when the woman is able to find steady employment or can subsist on welfare payments, she tends to treat the man with disdain and often with open hostility, especially if he complicates her life by making her pregnant. Under these conditions, there is no incentive for the man to remain in the family, and in times of stress he deserts.«224
Die ausführliche Wiedergabe der Analyse von Gans dient dazu, Rückschlüsse auf das Bild der Mittelklasse zu ziehen. Indirekt schilderte er die Stabilität der Mittelklassefamilie und die Bedeutung beständiger Arbeitsverhältnisse. Indem er den Mangel an Fähigkeiten und Kenntnissen der anderen hervorhob, bestätigte er diese für die Mittelklasse, von der alle anderen abzuweichen schienen. Dazu gehörten vor allem Abstraktionsvermögen und eine gewisse Gewandtheit in der bürokratischen Welt der Behörden und Ämter. Directors Gesetz schien auch aufgrund solcher Annahmen formuliert worden zu sein. Die Mittelklasse fand sich im modernen Staat am besten zurecht. Die lower class, die in seiner Analyse noch unter der Arbeiterklasse stand, beschrieb Gans durch noch weiter von der Mittelklasse entfernte Charakteristika. Sie definierte er durch die Zentrierung auf die Mutter und eine vollends marginale Rolle des Vaters – womit er auch weitverbreitete Images von schwarzen Familien beschrieb, ohne sie explizit so zu nennen.225 Wenn dieser als Vorbild diente, dann zumeist als negatives. Wie bei einem linearen Qualitätsverlust ist die Unterteilung der Geschlechter und ihrer Zuständigkeiten hier noch höher als in Arbeiterklasse und Mittelklasse: »In the lower class, the segregation of the sexes […] is complete.«226 Während Frauen aller Klassen nach Stabilität strebten, zeigten Männer der lower class keinerlei Verlangen danach. Je weiter der Mann, in den Definitionen des Soziologen Gans, von der Mittelklasse entfernt war, desto unwahrscheinlicher war, dass er Bestätigung durch seinen Beruf erhalten konnte. Sofern er überhaupt eine Anstellung hatte, war er dort nie lange beschäftigt. Der Mittelklasse wurde hingegen nicht nur Stetigkeit attestiert. Sie wünschte sich auch den gesellschaftlichen Aufstieg: »The middle-class […] is built around the nuclear family and its desire to make its way in the larger society. […] Individuals derive most of their social and emotional gratifications from the nuclear family itself.«227 Dieses Bild der Mittelklasse erschien zugleich wie die Anleitung, auf Basis welcher Elemente man sich ihr zurechnen konnte. Neben der Bedeutung der Kernfamilie erschien ein weiteres Unterscheidungs223 Vgl. ebd., S. 235–236. 224 Ebd., S. 239. 225 Vgl. ebd., S. 245. 226 Ebd., S. 246. 227 Ebd.
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merkmal zwischen der Mittelklasse und allen anderen zu sein, dass sie die externe Welt beeinflussen wollte. Die unmittelbare gesellschaftliche Umgebung galt ihr, in Gans’ Worten, als Erweiterung der eigenen Familie, in die der Vater als Botschafter entsandt würde: »The nuclear family makes its way in the larger society mainly through the career of its breadwinner. Thus work is not merely a job that maximizes income, but a series of related jobs or job advances which provide the breadwinner with higher income, greater responsibility, and, if possible, greater job satisfaction. In turn his career enhances the way of life of the rest of the family, through increases in status and in the standard of living.«228
Diese Konstruktion ruhte fest auf dem Fundament der Bildung. Sie wurde als Instrument genutzt, um Status und Lebensstandard zu verbessern: für den Mann im Beruf und die Frau in ihrer Rolle als Mutter. Gemäß Bourdieus feinen Unterschieden diente Bildung der Mittelklasse auch dazu, ihre Freizeit angemessen zu gestalten oder an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen: »The purpose of education is to provide the skills needed for the man’s career and for the woman’s role as a mother. […] it is also used to develop the skills necessary to the maintenance and increase of status, the proper use of leisure time, and the occasional participation in community activities.«229
Diese Einstellung, so kam Gans nicht umhin zu loben, stellte eine Akzeptanz der »wichtigsten Merkmale von Bildung« dar. Jedoch fehlte es der Mittelklasse am Verständnis dafür, dass Bildung auch Selbstzweck sein konnte, »and should be used to maximize individual development of the person«.230 Somit wertete der Soziologe den Wunsch der Mittelklasse nach Bildung als ein Instrument zur Karriere und nicht zur Selbstverwirklichung oder zur Befriedigung von Forschungsinteressen. Damit schien sich Gans zugleich von der Mittelklasse zu distanzieren. Seine Beobachtungen zu Familien in den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen beeinflussten die Debatten der sechziger Jahre. Kurze Zeit nach Erscheinen von Gans’ Studie zu den »Urban Villagers« verstärkte sich der Trend, die Familie als Ausgangspunkt auf der Suche nach den Ursachen für Armut zu verstehen. Politiker und Sozialexperten fragten, weshalb ganze Bevölkerungsgruppen, trotz verbesserter allgemeiner Wirtschaftslage, abgehängt waren. Hatte Armut während der Großen Depression noch als Bedrohung für alle gegolten, schien sie nun einem bestimmten Teil der Gesellschaft zu drohen. Die Gefährdungsszenarien der sechziger Jahre waren für unterschiedliche Gruppen verschieden. Der Familienbegriff und der öffentliche sowie wissenschaftliche Diskurs darum bieten Anknüpfungspunkte für eine
228 Ebd. 229 Ebd., S. 247. 230 Ebd.
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Betrachtung des Wohlfahrtsstaates und der Mittelklasse. Als normatives Bild war die Mittelklassefamilie zum Fluchtpunkt für die Gesellschaft geworden: auch für jene, die ihm nicht gerecht wurden.231 5.3.4 Die welfare mess als Ausdruck der Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat »There is no question in anyone’s mind that the present welfare program is a mess.«232 Russel B. Long, 1972 »The monster that welfare has become.«233 Ronald Reagan, 1973
Im Juli 1968 veröffentlichte das Magazin Forbes einen Artikel, der ein düsteres Bild der politischen Zukunft für die republikanische Partei zeichnete. Sie hatte, so der Vorwurf, während der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson die Fähigkeit zu glaubwürdiger wohlfahrtsstaatlicher Politik verlernt. Menschen aus der Mittelklasse, hieß es weiter, seien aus diesem Grund in Scharen in das Lager der Demokraten gewandert. Hier fanden sie Aufgaben und Ziele, die es sich lohnten, verfolgt zu werden.234 Neben dieser Diagnose, die daraus irrtümlich eine demokratische Vorherrschaft für das restliche Jahrhundert ableitete, war der Titel des Beitrags interessant. Mit »A Way out of the Welfare Mess« griff der Autor den mittlerweile weit verbreiteten Begriff der welfare mess auf. In Birmingham stellte eine Planungskommission zwei Jahre später rückblickend fest, dass 231 Vgl. O’Connor, S. 112. 232 Russell B. Long, Welfare Cheating, Pressemitteilung 3.1.1972, Akte: Organization’s Correspondence, Box: 2136, Committee on Ways and Means, 83rd Congress, RG 233, NAB. 233 »Governor Reagan today proposed a sweeping reform of welfare […] to assure that the truly needy receive the care they require at a cost the taxpayers of California can afford. In a lengthy message to the legislature, which the governor called ›the most detailed and specific‹ ever presented by a California chief executive, he asked the legislators ›to join with me in making this the year that we put partisanship aside and get down to the business of controlling the monster that welfare has become.‹« Pressemitteilung des Office of the Governor, 3.3.1973, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 38, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 234 »By all indications, an entire generation of middle- and upper-class youth, offspring of Republican parents, moved during this period to the Democratic party or beyond. It may surely be argued that this occurred in part because the Democrats gave them something to do. […] The consequences of this shift are likely to be significant in American politics for the remainder of the century.« Zit. n. Moynihan, Guaranteed, S. 63. Später sekundierte Fareed Zakaria diesem Befund: »In the 1960s you got elected, believe it or not, by promising to raise people’s taxes and spend them on grandiose public schemes.« Zakaria, S. 188.
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seit 1965 »[…] aid to urban areas from the Federal government had increased substantially and the actual and potential chaos resulting from the proliferation of urban programs had become highly visible.« Die Unübersichtlichkeit der vielen gezielten wohlfahrtsstaatlichen Hilfen hinterließ Verwirrung.235 Dies betraf nicht nur städtebauliche Projekte. Zwischen 1950 und 1970 hatten zahlreiche Gerichtsentscheidungen dazu beigetragen, dass sich die Zahl der AFDC-Empfängerinnen mehr als verzehnfacht hatte. Dazu kamen die unterschiedlichen Bezeichnungen bei der Finanzierung und der dahinterliegenden Systeme. Welfare wurde mit »soaring costs« gleichgesetzt.236 Ein Beispiel für die Semantik, die beide Dimensionen verknüpfte, findet sich in einem Bericht der U. S. News & World Report vom Sommer 1971.237 Hier wurde über die Forderungen von wütenden Steuerzahlern berichtet: »Mounting demands by taxpayers across the country for a crackdown on soaring costs of welfare are beginning to get some results.«238 Diskutiert wurden vor allem die anstehenden Reformbemühungen der Regierung von Richard Nixon. Sie sollten vor allem die Kosten senken, die auf allen Ebenen und in allen Teilen des Landes beklagt wurden. In diesem Zusammenhang erwies sich besonders die Gleichsetzung der Mittelklasse als Gruppe von Steuerzahlern als bedeutsam. Diese stellte eine Verbindung zwischen der eigenen gesellschaftlichen Position und dem Wohlfahrtsstaat dar. Das prononcierteste Beispiel für diese Verbindungen waren die Debatten um die welfare mess, die ab der Mitte der sechziger Jahre einsetzten.239 In einer Publikation beschrieb die SSA 1969 das System der public assistance mit den drastisch einleitenden Worten: »The present welfare system has been a failure«.240 Obwohl sich statt der Bezeichnung »failure« die Rede von der »mess« durchsetzte, stimmte die Behörde, die zuständig für einen Großteil jenes »welfare system« war, in einen allgemein negativen Tenor ein, der die Distribution wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung begleitete. Ganz anders als das mit welfare umschriebene Programm AFDC war die OASI in der öffentlichen und politischen Meinung weit davon entfernt, als mess charakterisiert zu werden. 1968 führte Robert Myers die Gründe für den anhaltenden Erfolg und die Popularität der OASI: Sie böte ökonomische Sicherheit, sei öffentlich akzeptiert und werde effizient verwaltet.241 Zu dieser effizienten Verwaltung gehörte auch, dass die SSA zwar dem HEW untergeordnet war, größtenteils jedoch autonom agierte.242 235 Birmingham Regional Planning Commission, 6. Annual Report 1969, 28.1.1970, Akte: 263.43.7, SEPA, BPL, AM. 236 Crackdown. 237 Ebd. 238 Ebd., 13. 239 »Mess« lässt sich als Chaos und Durcheinander übersetzen, aber auch als Ferkelei oder Schmutz. 240 Welfare Reform Fact Sheet, August 1969, zit. n. Moynihan, S. 229. 241 Vgl. Myers, S. 77. 242 Vgl. Berkowitz, Robert Ball, S. 11. Welfare steckt auch in der Bezeichnung des U. S. Department of Health, Education and Welfare, das im Jahr 1965 Kabinettstatus erhielt.
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Der Begriff der welfare mess bezeichnete damit um das Jahr 1970 die Schnittmenge dreier Problemlagen. Die erste war die scheinbar unüberwindbare und zudem ansteigende Armut in den Städten. Die zweite lag in einem, von Sozialexperten als culture of poverty getauften, Syndrom, welches Minderheiten daran zu hindern schien, ihre Armut allein zu bekämpfen. Die dritte bestand im, als gescheitert wahrgenommenen und trotzdem regelmäßig erweiterten, System wohlfahrtsstaatlicher Agenturen. Dieses war aus Sicht regierungskritischer Kommentatoren nicht in der Lage, die beiden ersten Problemlagen zu beheben. Als zeitgenössische Bezeichnung war welfare mess weit verbreitet. Spätestens 1962 war die Bezeichnung in Gebrauch. Die Bildunterschrift zu einem Artikel in der New York Herald Tribune mit dem Titel »A Way Out of the Welfare Mess?« lieferte in diesem Jahr zugleich die wichtigsten Stichpunkte der Debatte um die welfare mess, die mehrere Jahrzehnte lang in der Öffentlichkeit geführt werden sollte: »While Peace Corpsmen work among the poor and needy overseas, millions of Americans, too, live in poverty – and for many poverty has meant continuing subsistence on public welfare. The dollar cost of welfare has mounted; the human cost when mere handouts substitute for rehabilitation is immeasurable. But many caseworkers have little time and little training.«243
Diese Beschreibung unter einem großformatigem Schwarzweißfoto einer herabgekommenen Straßenecke, mit einem zwischen Mülltonnen auf dem Boden sitzenden Kind, schilderte das Ungleichgewicht zwischen den weltweiten Hilfsbemühungen der USA und der steigenden Zahl derer, die daheim regelrecht »abhängig« von public assistance waren. Aller Kritik an AFDC war gemein, dass die Empfängerinnen dieser Hilfen kein Teil der Mittelklasse waren. Jedes ihnen zugeschriebene Merkmal funktionierte gleichsam als Antithese zur Mittelklasse. Die Wut über, und später auf, die stark anwachsende Empfängergruppe wuchs auch, weil die Empfängerinnen als Residualgröße außerhalb der breit akzeptierten wohlfahrtsstaatlichen Programme immer weniger den Normen und Werten der Mittelklasse entsprachen.244 Die gewachsene Mittelklasse brachte damit auch immer weniger Verständnis für ihre Unterstützung auf. Eine regelrechte Besessenheit vom Kampf gegen die welfare mess hat die Historikerin Alice O’Connor konstatiert. Sie beklagte, der in den sechziger Jahren erweiterte Wohlfahrtsstaat, sei zweckentfremdet worden, um die welfare mess zu bekämpfen.245 Dies schadete zuerst dem Bild derer, denen geholfen wurde. 243 May, Mess; May war als investigativer Journalist 1961 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet worden. Er hatte eine vierzehnteilige Serie mit dem Titel »Our Costly Dilemma« für die Buffalo Evening News verfasst. Außerdem forderte er zu Beginn der sechziger Jahre die Etablierung einer inländischen Organisation nach dem Bsp. des Peace Corps, welches bis dato nur im Ausland aktiv war. 244 Zur Darstellung der Homogenisierung von AFDC-Empfängerinnen vgl. Berkowitz, America’s, S. 93–119. 245 Vgl. O’Connor, S. 195.
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Schon lange galten moralische Verfehlungen als Ursache von Armut. Nun erwuchs im Kontext des Diskurses um die welfare mess ein neuer Vorwurf. Die zunehmende Kritik am Wohlfahrtsstaat durch Populisten und wütende Bürger richtete sich auch gegen den Wohlfahrtsstaat selbst. Ihm wurde vorgeworfen, er veranlasste Menschen dazu, unmoralisch zu handeln. Dieses Ressentiment stellte einen Zirkelschluss aus moralischen Ursachen für Armut und ihrer gezielten Bekämpfung dar. Am Beispiel von AFDC erschien dieser Schluss nachvollziehbar. Die monatliche Unterstützung wurde nur an alleinerziehende Mütter gezahlt. Unterstellte man den Empfängerinnen aufgrund von unmoralischem Verhalten auf diese Hilfe angewiesen zu sein, war es nicht weit zur Anschuldigung, sich diese Hilfen erschleichen zu wollen. Als die Scheidungsrate stieg und die Zahl unehelicher Geburten zunahm, fanden die Diskussionen, die Sozialexperten bereits in den fünfziger Jahren geführt hatten, im Gewand der welfare mess in die breite Öffentlichkeit.246 Wohlfahrtsstaatliche Programme wurden nun mitverantwortlich dafür gemacht, dass Väter ihre Familien verließen. Den Anreiz dazu bot, dass AFDC nur gezahlt wurde, wenn der Vater nicht bei der Mutter lebte. Denn selbst wenn beide Eltern mittellos waren, qualifizierten sie sich nicht für AFDC. Allein arbeitslose, alleinerziehende Frauen konnten es beziehen.247 Als der demokratische Vorsitzende des Committee on Ways and Means, Wilbur Mills, 1971 das zentrale Ziel eines von ihm eingebrachten Gesetzesvorschlags vorstellte, beschrieb er zunächst das damit zu behebende Übel. Arbeitslose Väter sahen sich in der damals geltenden Konstellation vor der Entscheidung, ihre Familie zu verlassen, um ihr so zumindest ein minimales Einkommen zu ermöglichen. »This anomaly«, stellte Mills fest, »is not only inequitable on its face but leads to severe economic pressures for a father to leave his family. These incentives are, of course, exactly contrary […] to good public policy.«248 Wohlfahrtsstaatliche Programme hatten stets Anreize integriert. Ob Workable Program, Hypothekenhilfen, Steuererleichterungen: Alle funktionierten auf der Basis der Aktivierung ihrer Empfänger. Es verwunderte wenig, dass Sozialexperten wie Mills dieses ihnen bekannte Muster auf alle Elemente des Wohlfahrtsstaats anlegten. Der ökonomische Anreiz fiel ihnen so als Ursache für unmoralisches Handeln ins Auge. Damit geriet das Programm AFDC in ein generelles Dilemma. Daniel P. Moynihan erkannte in der bloßen Existenz von AFDC eine Mitschuld an der welfare mess und der generellen Unzufriedenheit mit dem Wohlfahrtsstaat. Die Diagnose einer vermeintlich problematischen und unmora lischen Gruppe von Empfängerinnen hatte überhaupt nur gestellt werden können, weil es dieses Programm gab. Wenn andere Nationen keine vergleichbare Form 246 Berkowitz und andere diagnostizieren es als eine Triebfeder der jahrzehntelangen Debatten um eine welfare reform, vgl. Berkowitz, America’s, S. 124. 247 Vgl. Patterson, Freedom, S. 113. 248 Mills, Floor Statement on H. R. 1, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 34, Committee on Ways and Means, RG 233, 92nd Congress, 1971.
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der welfare mess kannten, lag dies laut Moynihan schlicht daran, dass es dort kein AFDC gab. Mit einem Programm, das sich explizit an arme, alleinstehende Mütter richtete, geriet diese Gruppe nicht nur in den Fokus der Öffentlichkeit.249 Sie wurde vielmehr durch dieses wohlfahrtsstaatliche Arrangement überhaupt erst kreiert. Somit schien auch das Konzept des Wohlfahrtsstaats zum Ende der sechziger Jahre einen Bedeutungswandel durchlaufen zu haben. Welfare war mittlerweile zu einem Codewort geworden.250 Es stand für public assistance-Zahlungen, die in Form von AFDC an arme, zum allergrößten Teil afroamerikanische, Mütter gezahlt wurde. Keiner anderen wohlfahrtsstaatlichen Komponente schlug vergleichbar viel Skepsis und Ablehnung entgegen. Damit zog die Debatte um die welfare mess auch eine Grenze zwischen den beiden Sphären des Wohlfahrtsstaats, welche public assistance und social insurance voneinander trennte. Endlich schwamm er einmal mit dem Strom, freute sich Milton Friedman, als er 1972 den Wohlfahrtsstaat generell als welfare mess bezeichnete.251 Während die OASI 43 Milliarden Dollar im Jahr kostete und hier Geld von eher niedrigen Einkommen zu mittleren und hohen Einkommen umverteilt würde, blühte und gedieh das System, monierte Friedman. Auf der anderen Seite kosteten alle welfare-Programme zusammen 15 Milliarden Dollar pro Jahr. Sie aber transferierten Geld von Menschen mit mittleren und hohen Einkommen zu solchen mit niedrigen oder keinen. Welfare wurde im Zustand der dauerhaften Krise beschrieben, als nicht tolerierbar und unbedingt reformbedürftig.252 Dem setzte Friedman hier Directors Gesetz entgegen: »Public expenditures are made for the primary benefit of the middle class, and financed with taxes which are borne in considerable part by the poor and rich.«253 Damit bezog Friedman den Begriff der welfare mess, der urspünglich der Unzufriedenheit mit public assistance-Programmen zugeordnet war, auf den gesamten Wohlfahrtsstaat. Er benannte die ungerechte Verteilung zwischen den Einkommensgruppen, die er in der OASI erkannte, als einen Bestandteil der welfare mess. So zog Friedman den Fokus auf. Auch die politisch sakrosankt erscheinende Rentenversicherung geriet nun in die Kritik. Er nutzte dazu den nun etablierten Begriff der welfare mess, um auch die Sphäre der social insurance – und so den Kern des mittlerweile etablierten US-Wohlfahrtsstaats – zu kritisieren. Im Vorfeld zur Rentenreform von 1972 thematisierten alle politischen Lager die Kosten für welfare. Ein Blick auf die Probleme bei der Auslegung dieses Begriffs lässt erkennen, wie unterschiedlich er verstanden werden konnte und wie 249 Vgl. Moynihan, S. 93. 250 Historiker Katz bezieht seine Begriffsbestimmung von welfare auf die neunziger Jahre. Der gleiche Befund kann auch für die sechziger Jahre gestellt werden, vgl. Katz, Price, S. 1. Siehe außerdem Kapitel 3.2 dieser Arbeit. 251 Friedman, in: Cohen u. Friedman, S. 41. 252 Ebd., S. 48. 253 Ebd., S. 49.
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er dennoch zum Schlagwort in den Auseinandersetzungen zwischen liberalen und konservativen Politikern geworden war. Konservative Kritiker bezifferten die Regierungsausgaben für welfare mit nun 72 Milliarden Dollar. Dem hielten Fürsprecher der Reform entgegen, dass diese Summe alle Programme umfasste, die in die Kategorie der »Human Resource« fielen. Diesen Bereich sahen sie weit globaler und zugleich getrennt von welfare: »We assume the reference is to all ›Human Resource‹ programs. […] That is not a ›welfare‹ expenditure. It includes all Federal expenditures for education, health, manpower training, income maintenance and veterans benefits, including all of Social Security which as a program of social insurance is in no way a ›welfare program‹. The ›Public Assistance‹ – welfare – expenditures are projected at $9.8 billion […].«254
Dies belegte die klare begriffliche Differenzierung, des hier zitierten Ways and Means-Ausschusses, zwischen einer allgemeinen Bezeichnung welfare und der OASI. Diese sei in keiner Weise ein »welfare program«, sondern eine social insurance. Allein deshalb dürften ihre Kosten nicht der gleichen Kritik unterzogen werden. Das gleiche schien im Zusammenhang mit der welfare mess auch für deren Empfänger zu gelten. Damit war ein Deutungsstreit entbrannt. Kritiker wie Friedman versuchten, den abwertenden Begriff der welfare mess auf beide Sphären des Wohlfahrtsstaats zu applizieren. Die Verteidiger der social insurance-Idee, die auch an der Genese des Begriffs der welfare mess beteiligt geweseb waren,255 wehrten sich nun gegen diese Erweiterung. Derweil wuchs auch die Unzufriedenheit mit den Empfängern von welfare. Das Department of Health, Education, and Welfare hatte zu Beginn des Jahres 1972 berichtet, dass 17 Prozent der Empfänger von public assistance-Programmen zu Unrecht oder zu hohe Zahlungen erhielten. Eine halbe Million Menschen standen damit unter Betrugsverdacht.256 Senator Long aus Louisiana machte die vermeintlich laxen Anforderungen an die AFDC-Antragstellerinnen für das Anwachsen der Empfängerzahlen verantwortlich. In einem Interview verband er die drei oben angeführten Komponenten der welfare mess: »[…] most alarming about this explosive growth is the large number of cheats and ineligibles who get on the welfare rolls. Once these people get on welfare, it is usually very difficult to get them off – sometimes next to impossible. The program to assist families with dependent children has gone astray so badly that the children are described as its victims rather than its beneficiaries. It is this program that has mushroomed without planning, grown like Topsy, until it has caused the entire program to take on the appellation of the ›Welfare Mess‹.«257
254 Memorandum Veneman, 18.6.1971, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 255 Welfare Reform Fact Sheet, zit. nach Moynihan, S. 229. 256 Long, Welfare Cheating, 3.1.1972. 257 Ebd.
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Zwölf Monate darauf, Ende 1972, ergänzte Journalist May Longs Vorwürfe: »Poverty, that persistent and embarrassing irritant in this land of plenty, is climbing the rungs of domestic issues with a new sense of urgency. And the upsurge is motivated partially by conscience but mostly by cost.«258 Zur gleichen Zeit hielt Moynihan fest, dass der »moderne Wohlfahrtsstaat« mittlerweile Aktivitäten aufgenommen hatte, welche niemand mehr recht verstand: »It had not reached the point of picking every man a wife, but it was getting close enough to other such imponderables to find itself increasingly held to account for failure in areas where no government could reasonably promise success.«259
Die Kehrseite der martialischen Rhetorik eines War on Poverty war, dass der ausgebliebene Sieg nun als Niederlage verstanden wurde.260 Die Regierung hatte Verantwortung übernommen und schien dieser nicht gerecht geworden zu sein. Die Kritik an ihr wurde gleichsam institutionalisiert durch konservative Thinktanks, wie The American Enterprise Institute oder die Hoover Institution, die teilweise schon länger bestanden, nun aber neue Finanziers und ein breiteres Publikum erreichten.261 In den Schreiben der Mittelklasse, welche wohlfahrtsstaatliche Arrangements kritisierten, tauchten die Argumente von Long, May und Moynihan ebenfalls auf. Am 4. März 1972 beschrieb Nathalie Reister aus Wyoming im Staat Michigan ihre Sicht auf Steuerrecht, Arbeitsanreize und AFDC.262 Ihrem republikanischen Abgeordneten, dem späteren Präsidenten Gerald Ford, erläuterte sie ihr Unverständnis darüber, dass Mütter, die welfare bezogen, besser als berufstätige leben konnten. Sie fühlte sich als Teil der »working middle class« ungerecht behandelt. Eingeleitet wurde der Brief durch Reisters »disgust« gegenüber der Steuerreform von 1971. Sie gestattete Ehepaaren, die bis zu 18.000 Dollar jährlich verdienten, Geld für »child and home care expenses« von der Einkommensteuer abzusetzen. Diese Bevorzugung für gut Verdienende, zu denen sie sich nicht zählte, kontrastierte sie mit dem, was über Empfängerinnen von welfare in der Zeitung stand. Für sie ergab sich ein chaotisches Szenario. Alle schienen zu profitieren, bis auf jene, die es verdient hätten: 258 May. 259 Moynihan, S. 53. 260 Zum Aspekt der Militarisierung in den USA vgl. Marco, S. 63–65. 261 Für Historiker Katz war die Kritik am Wohlfahrtsstaat ab den sechziger Jahren eines der drei Signets des new conservatism. Dieser verwob ökonomische Deregulierung, gesellschaftliche Forderungen nach Wiederherstellung sozialer Ordnung und privater Moral durch eine autoritärere Regierung und Nationalismus, der sich in hohen Militärausgaben ausdrückte. Getragen wurde diese Kritik auch in der Folge von konservativen Thinktanks, allen voran The American Enterprise Institute (1943 gegr., reorganisiert 1953); Hoover Insitution (1919 gegründet und 1959 von der University of Stanford losgelöst); Heritage Foundation (1973 gegr.); Cato Institute (1977), Hudson Insitute, Empower America, siehe Katz, Price, S. 9–32. 262 Nathalie Reister an Gerald R. Ford, 14.3.1972, Akte: Income Tax Correspondence, Box: 43, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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»One constantly reads about the increasing welfare rolls and my feeling is that this will continue because there is absolutely no incentive for a single woman to support her children when she can live better on ADC and have fewer responsibilities – so why work??«263
Auch Reister teilte die Sicht, dass allein ökonomische Anreize dazu führten, eine Arbeit aufzunehmen. Wer besser von wohlfahrtsstaatlicher Hilfe leben konnte, begäbe sich nicht auf Arbeitssuche. Ausführlich erklärte Reister Ford die vermeintliche Bevorzugung der AFDC-Empfängerinnen: »[…] the ADC mother can live better than the working mother […]. First of all the ADC mother doesn’t have the headaches of finding a sitter and paying one. Then there isn’t the need of having a car and keeping it in A-1 condition to get to work or the expense of the gas and oil. She is home to fix a decent meal instead of buying convenience food. […] If Congress wants the welfare rolls decreased it’s time they make it more profitable to work than to be on welfare. I have known of many instances where people do not work because they can do better on welfare. The new law on child care deductions only helps those who probably have a comfortable living. As a child I was taught that GOD helps those who try to help themselves. I’m afraid I am fast losing faith in the old adage.«264
Mit ihrer Resignation ging auch hier wieder das Gefühl einher, dass Steuer vorteile die Wohlhabenderen begünstigten und wohlfahrtsstaatliche Leistungen die unterstützten, die dank dieser Unterstützung nicht arbeiten müssten. Dabei schien das Verhalten der Mutter, die aufgrund ökonomischer Vorteile nicht arbeiten ging, vielen als nachvollziehbar. Der Vorwurf richtete sich, wie auch in Reisters Fall, weniger an die Empfänger als mehr an die Verteiler wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Ebenso viel Empörung traf jedoch solche Empfänger von Hilfen, denen vorgeworfen wurde, diese zu erschleichen. Unter dem Begriff des welfare chiselers wurden öffentlichkeitswirksam Bilder von Betrügern etabliert, die lange Bestand haben sollten. Aus den Schilderungen von Senator Long lässt sich schließen, welche Betrugsvorwürfe um 1970 diskutiert wurden.265 Long beklagte, dass Menschen welfare empfingen, die nicht darauf angewiesen waren. Dazu hatten Betrug und Missmanagement auf Seiten der zuständigen Behörden geführt. Als Sohn des Gouverneurs und Senators Huey Long (1893–1935), der mit seiner »Share our Wealth«-Kampagne während der Großen Depression eine egalitäre Umverteilung gefordert hatte, und aufgrund seiner eigenen Karriere, die im Vorsitz des Finanzausschusses des Senats gipfelte, konnte Long zu Recht behaupten: »I am no newcomer to the welfare scene. My record on behalf of the poor is clear.« Die aktuelle Lage stimmte ihn 1972 dennoch besorgt: 263 Ebd.; Reister nutzte die ältere Bezeichnung, ADC, die nur bis 1962 gegolten hatte, aber umgangssprachlich noch verwendet wurde. 264 Ebd. 265 Long, Welfare Cheating, 3.1.1972.
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»[…] I am concerned – gravely concerned – that the welfare system […] is being manipulated and abused by malingerers, cheats and outright frauds to the detriment not only of the American taxpayers whose dollars support the program, but also to the detriment of the truly needy on whose behalf the federal-state system of cash assistance was founded. […] There is no question in anyone’s mind that the present welfare program is a mess.«266
Damit beschrieb auch der einflussreiche Senator seine Sicht auf ein chaotisches System.267 Zu den Opfern der »Scheinkranken« rechnete er die amerikanischen Steuerzahler und alle wirklich Bedürftigen, für die das System der public assistance ursprünglich eingeführt worden war. Damit bot der Begriff der welfare mess eine Vereinheitlichung der Kritik am Wohlfahrtsstaat. Wiederholt auftauchende Attribute der vielen Regelungen, Programme, Ausnahmen und Behörden, die mit der welfare mess konnotiert wurden, waren Armut, Abhängigkeit von public assistance, steigende Kosten, handouts, rehabilitation, chiseler.268 Hebt man die Diskussionen um die Unzulänglichkeiten des US-Wohlfahrtsstaats in einen größeren Kontext, lässt sich erkennen, wie auch die Anti-Armuts-Bewegung269 den Begriff aufnahm und ihn gegen den Wohlfahrtsstaat verwendete. Auch wenn sie keine Koalition bildeten, wuchs die Zahl der Kritiker an den Strukturen des Wohlfahrtsstaats. Verteter der eher rechten Chicago School nutzten die welfare mess, um den Wohlfahrtsstaat an sich zu diskreditieren, während linke Kritiker dem Wohlfahrtsstaat mittlerweile vorwarfen, den War on Poverty verloren zu haben. Für Familien mit mittleren Einkommen wurde ihre Position zwischen den anderen Gesellschaftsteilen nun auch beschreibbar, weil Menschen über und unter der »Mitte« mit bestimmten Kennzeichen belegt werden konnten. Zahlreiche davon stammten aus dem, mittlerweile immer polymorpher erscheinenden, Wohlfahrtsstaat. Welfare-Empfängern konnte Faulheit und Verschlagenheit unterstellt werden. Sie erhielten Hilfen ungerechtfertigt. Wohlhabendere profitierten von Steuerschlupflöchern und Abschreibungsmöglichkeiten, die sich in einem zunehmend komplizierten Steuersystem verbargen. So schienen die Armen und die Reichen von den Tugenden der Mittelklasse zu profitieren. Der untere Teil erhielt Hilfen, die durch Steuern gezahlt wurden, während der obere einen zu niedrigen oder vergleichsweise zu geringen Beitrag dazu entrichtete. 266 Ebd. 267 Das Bild des betrügerischen Armen, der sich Leistungen erschlich, war zuleich Vorbote für ein weitgeteiltes Bild, welches unter anderem Ronald Reagan später populär nutze: die welfare queen. Diese Bezeichnung für das rassistische Bild der promiskuitiven, Cadillac fahrenden und Pelzmäntel tragenden arbeitslosen Mutter tauchte erstmals in einem Artikel der NYT am 15.2.1976 auf. 268 In diesem Jahr wurde aus ADC AFDC. Der Zusatz »families with« sollte vor allem jene beruhigen, die in dem Programm Anreize zur Trennung von der Familie sahen, vgl. Blank u. Blum, S. 28–38.; Crackdown. 269 Diese Anti-Armuts-Bewegung ging, genauso wie die women’s liberation movement und die Studentenbewegung, aus der Bürgerrechtsbewegung hervor, vgl. Chafe, S. 167.
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Die Elemente und Beschreibungen des Wohlfahrtsstaats waren um 1970 zu gesellschaftlichen Abgrenzungsmerkmalen geworden. Damit war jedoch auch eine Rhetorik geschaffen, die schließlich gegen alle Bestandteile des Wohlfahrtsstaats ins Feld geführt werden konnte. Dies zeigte sich in einer, sich nun verstärkenden, allgemeinen Skepsis. Als 1975 eine Studie zur Akzeptanz der OASI durchgeführt wurde, stellten die beteiligten Wissenschaftler fest, dass viele arbeitende Amerikaner zweifelten, ob sie noch eine Rente erhalten würden. Die Ursache erblickten sie im demographischen Wandel, also einem Mehr an Rentnern und einem Weniger an Beitragszahlern. Jedoch fand auch die Studie keine Antwort auf die Frage, welche gesellschaftliche Gruppe welche Meinung zu Social Security teilte.270 Eine weitere Folge der intensiver werdenden Kritik um 1970 waren die zahlreichen Maßnahmen, die nun ergriffen wurden, um die welfare mess zu überwinden. Im Jahr 1977 wurden 176 Millionen Dollar für die Jagd nach chiselers im Bundeshaushalt veranschlagt, also etwa nach Vätern, deren Frauen ungerechtfertigt AFDC erhielten.271 Dabei war Beobachtern in den siebziger Jahren klar, dass das »welfare system has become a hobgoblin of federal ineptitude […] because there is no danger in offending its constitutents. They are no political activists.«272 Daraus folgte auch, dass das Bild der chiselers gemeinsam mit dem einer vermeintlich überforderten wohlfahrtsstaatlichen Bürokratie Zielscheibe des gesamten Spektrums populistischer Politiker, von George Wallace bis Ronald Reagan, wurde. Der Begriff der welfare mess blieb auch in der Folge wirkmächtig. Die Zustände, die er kritisierte, schienen sich kaum zu verändern. Unter Präsident Jimmy Carter (1977–1981) war die Verantwortung für die verschiedenen public assistance-Programme auf sechzig Ausschüsse und Unterausschüsse des Kongresses verteilt.273 Ein Artikel des Monatsmagazins The New Republic rekurierte einige Jahre später auf den Begriff der welfare mess; diesmal im Zusammenhang mit der Mittelklasse. Die Kritik an einer temporären Arbeitslosenhilfe beschrieb sie als »middle-class welfare«. Der Untertitel »The same mess, but none of the stigma« stellte den Zusammenhang zwischen der begrifflich mittlerweile etablierten welfare mess und den anderen Bestandteilen des Wohlfahrtsstaats her.274 Aus der Kritik an der Hilfe für unverdiente Arme war eine generelle Unzufriedenheit mit der wohlfahrtsstaatlichen Architektur erwachsen.
270 Zu diesem Zeitpunkt lag die durchschnittliche OASI payroll tax bei 11 Prozent bis zur Bemessungsgrenze von 14.100 Dollar pro Jahr. Darüber liegende Einkommensteile wurden nicht berücksichtigt, vgl. Goodwin u. Tu, S. 876. 271 Vgl. Marshall. 272 Ebd. 273 Vgl. Berkowitz, America’s, S. 138. 274 Vgl. Marshall.
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6. Alte Lasten und neue Formeln: Die Neustrukturierung des Wohlfahrtsstaats um 1970
Am 24. Juli 1969 begrüßte Präsident Nixon die drei Astronauten Neil Armstrong, Edwin Aldrin und Michael Collins persönlich an Bord des Flugzeug trägers USS Hornet zurück auf der Erde. Ihre Weltraummission war erfolgreich gewesen. Zwei Wochen nachdem sie als erste Menschen vom Mond zurückgekehrt waren und kurz vor dem Beginn der Feierlichkeiten anlässlich ihres Erfolgs, weihte Nixon die Öffentlichkeit am 8. August in seine Pläne zu einer umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Neuordnung namens Family Assistance Plan ein.1 Diese Reform hätte den Wohlfahrtsstaat der USA grundlegend verändert, wäre sie nicht gescheitert. Der Mondspaziergang symbolisierte Erfolg und Fortschritt: Dank der Kooperation von Wissenschaft, Militär und Politik war das 1961 von John F. Kennedy geleistete Versprechen, bis zum Ende des Jahrzehnts Menschen zum Mond und wieder zurück zu bringen, eingelöst worden. Zur gleichen Zeit waren alle konzertierten Aktionen zur Überwindung der Armut in den USA gescheitert. Zwar wurde für die Programme hinter der Bezeichnung welfare im Vergleich zur Mondmission das 25-Fache ausgegeben. Während sie aber als offensichtlicher Erfolg gefeiert wurde, wuchs derweil die Zahl der welfare-Empfänger stetig an. Eine Reform des Wohlfahrtsstaats sollte nun ebenso umfassend angegangen werden wie das Mondlandeprogramm, versprach Nixon am 8. August 1969: »Abolishing poverty, putting an end to dependency – like reaching the moon a generation ago – may seem to be impossible. But in the spirit of Apollo, we can lift our sights and marshal our best efforts.«2 Nixons Reformwille wurde von seinem damaligen Berater Daniel P. Moynihan wenige Jahre später geschildert. Außenpolitisch hatte Nixon den Krieg in Vietnam geerbt, der seinen Vorgänger Lyndon B. Johnson hatte resignieren lassen. Wöchentlich kam es zu neuen blutigen Unruhen in den Städten der USA. Moynihan beschrieb, wie der Präsident zugleich immer stärker unter Druck geriet, die welfare mess zu überwinden. Ihn trieb dabei auch an, dass er sich sowohl von Intellektuellen als auch von liberalen Vertretern der beiden Vorgängerregierungen verachtet und im Stich 1 Richard Nixon, Address to the Nation on Domestic Programs, 8.8.1969; als Reaktion auf die Rede erreichten das Weiße Haus mehr Telegramme und Zuschriften als nach jeder Rede zuvor, mit der Ausnahme der Ansprache von Lyndon Johnson vom 31. März 1968, vgl. Moy nihan, Memorandum, 25.8.1969, Akte: Council for Urban Affairs – Meetings, Box: I 266, MP, LOC. 2 Ebd.
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gelassen fühlte.3 Ihre Maßnahmen der direkten Hilfe für Bedürftige, im War on Poverty, erwiesen sich zunehmend als problematisches Erbe für seine Regierung. Jedes Ausbleiben von Verbesserungen konnte nun Nixon angelastet werden. Als erster Republikaner im Weißen Haus seit »Ike« Eisenhower wurde von Nixon zudem erwartet, dass er neue Lösungsvorschläge entwickeln würde. Wie Eisenhower angesichts der Rentenreformen der frühen fünfziger Jahre musste nun auch dessen ehemaliger Vizepräsident Nixon Stellung zu einem weiter ausgebauten Wohlfahrtsstaat beziehen. Innenpolitisch bedrängte die populistische Kampagne von George Wallace Nixon. Alabamas Gouverneur hatte als unabhängiger Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 1968 zehn Millionen Stimmen erhalten. Mit den Middle Americans schien er ein neues Wählerreservoir ansprechen zu können. Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft erschien dramatisch. Ein verbreitetes Urteil zum War on Poverty lautete, dass die neuen direkten Leistungen an Arme die Mittelklasse benachteiligten. Während die Mittelklasse die Steuern dafür zahlte, schienen sich reiche Amerikaner ihrer Verantwortung durch Steuerabschreibungen zu entziehen. Neben den begünstigten Armen profitierten zudem vermeintlich die Sozialexperten in den Behörden. Sie definierten derweil die Mittelklasse entlang von Erhebungen und Statistiken, was eine weniger bekannte Definition der amerikanischen Durchschnittsfamilie und ihrer Bedürfnisse zeigt. Das Amt für Arbeitsstatistiken des Arbeitsministeriums errechnete im Dezember 1970 die Lebenshaltungskosten einer vierköpfigen amerikanischen Familie in der Stadt. Subjektive Kriterien bezogen dabei mit ein, welche Standards Familien gewohnt waren. Das Ergebnis waren drei Stufen: »lower«, »intermediate« und »higher«. Die jährlichen Lebenshaltungskosten in der Stadt betrugen dabei durchschnittlich knapp 7.000 Dollar für das untere, 10.664 Dollar für Familien im mittleren und 15.511 Dollar für Familien des höheren Levels. Nach dieser absoluten Einteilung ging die Behörde jedoch für die jeweilige Stufe davon aus, dass die anteilige Kostenaufteilung gleich war. In jedem Segment wurden demnach 27 Prozent für Lebensmittel, 20,5 Prozent für die Wohnung und 7,3 Prozent für Mobilität ausgegeben. Auf Kleidung und Hygieneartikel entfielen im Schnitt 11,6 Prozent, während medizinische Kosten 8,1 Prozent ausmachten. 15,3 Prozent des Einkommens wurden als Steuern und Abgaben fällig, bevor jeder Familie circa ein Zehntel des Einkommens für sonstige Ausgaben zur Verfügung stand. In einem abschließenden Kapitel zeichnete die Behörde ein sehr präzises Bild der typischen amerikanischen Familie an der Schwelle der siebziger Jahre. Dieser Familie stand ein 38-jähriger Vater vor. Kam er von der Arbeit heim, warteten dort auf ihn seine nicht-berufstätige Ehefrau, sein 13-jähriger Sohn und seine 8-jährige Tochter. Nach mittlerweile 15 Ehejahren hatte sich die Familie gesellschaftlich etabliert. Der Vater war ein
3 Vgl. Moynihan, Guaranteed, S. 108.
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erfahrener Arbeitnehmer.4 Wenn über den Wohlfahrtsstaat und seine Kosten gesprochen wurde, schwangen nun immer auch Befürchtungen um den bedrohten Lebensstandard dieser idealisierten Mittelklassefamilie mit. Dieses Kapitel behandelt zwei Vorschläge zur Neukonfiguration des USWohlfahrtsstaats Ende der sechziger Jahre. In den gelungenen und gescheiterten Reformen zwischen 1969 bis 1972 traten die Ansichten zur Rolle der Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat in mehreren Dimensionen deutlich zu Tage. Beide spielten sich zwischen zwei Polen der Debatte um die wohlfahrtsstaatliche Zukunft ab. Auf konservativer Seite forderten Vertreter der Chicago School die Einführung einer negativen Einkommensteuer. Auf der gegenüberliegenden Seite der »liberals« stellten der Ruf nach einem garantierten Mindesteinkommen und eine Intensivierung der wohlfahrtsstaatlichen Bemühungen das andere Extrem politischer Forderungen. Zum einen zeigt der erste hier vorgestellte Reformvorschlag, der sich hinter dem Begriff »Urban Incentive Tax Credits« verbarg, welche Rolle der Mittelklasse mittlerweile zugedacht wurde. Sie wurde pauschal als eine Art Medikament für die Verbesserung der Lage in den Innenstädten verstanden. Zum anderen verdeutlicht dieses Beispiel, welcher Methoden sich der Wohlfahrtsstaat bedienen sollte: Steuerliche Vergünstigungen sollten Anreiz für die Mittelklasse sein, in die Stadt zurück zu kehren. Das zweite hier untersuchte Reformprojekt war der Family Assistance Plan (FAP). Ihn umriss Nixon in seiner einleitend erwähnten Rede zwei Wochen nach Rückkehr der erfolgreichen Mondfahrer im August 1969. Diese umfassende Reform wurde unter anderen von Moynihan und Wilbur Mills entwickelt und politisch vorangetrieben. Die Idee dahinter war radikal: Jeder amerikanischen Familie sollte ein Minimum an finanzieller Unterstützung staatlich garantiert werden. Um diese kostspielige und tiefgreifende Reform politisch zu ermöglichen, sollte sie in einem gemeinsamen Gesetz mit einer bereits länger geplanten Rentenreform verabschiedet werden. Social Security hatte Ende der sechziger Jahre den Status der politischen Unantastbarkeit erreicht. Die Initiatoren des FAP versprachen sich von einer solchen gemeinsamen Gesetzesvorlage eine zügige Verabschiedung ihrer Ideen im Windschatten einer großzügigen Rentenerhöhung. Das Scheitern des FAP offenbarte nicht nur eine zunehmende Fragmentierung des politischen Systems. Es zeigte auch, dass sich eine Mehrheit der Amerikaner, die sich als Teil der Mittelklasse verstanden, nicht mit der Erweiterung des Empfängerkreises von wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung in Form einer Sozialversicherung abfand.
4 Vgl. The League of Women Voters, Human Resources Fact Sheet, Januar 1971, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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6.1 Das System der »Urban Incentive Tax Credits« als Plan zur Rückführung der Mittelklasse in die Stadt War die Krise der amerikanischen Stadt mit Beginn der siebziger Jahre überwunden? Als Leser der Washington Post konnte man im Herbst 1973 diesen Eindruck gewinnen, denn die Zeitung berichtete von zukünftigen Einnahmeüberschüssen und einem anstehenden Ende der Finanzmisere der Städte. Im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt versprach das kommende eine Ära zu werden, in der Stadtverantwortliche in Einnahmen regelrecht »baden« würden. Die Zeitung zitierte eine Studie, die für 1980 ein Plus von insgesamt 26 Milliarden Dollar in den städtischen Budgets voraussagte.5 Der prüfende Blick auf den Haushalt Birminghams entzog dieser Prophezeiung jedoch schnell jede Grundlage, denn in die Rechnung der in der Washington Post zitierten Studie waren irrigerweise Rückstellungen für zukünftige, fixe Verbindlichkeiten einbezogen waren. Subtrahierte man diese, ergab sich auch für die siebziger Jahre ein düsteres Bild.6 Vielmehr wuchs gerade in den Städten die Bereitschaft, neue Methoden in Planung und Verwaltung – auch mit Hilfe des Bundes – auszuprobieren. Diese Meinung fand auch im Süden, der traditionell skeptisch gegenüber Washington war, vermehrt Anhänger. In Birmingham war der Bürgermeister mittlerweile überzeugt, dass die Stadtplanung in Alabamas größter Stadt detaillierterer Planung und weiterer bundesstaatlicher Hilfen bedurfte. Im Juli 1972 beantragte er daher weitere Bundeszuschüsse.7 Im Antrag wurden die Probleme und Chancen Birminghams als Argumente für die Unterstützung durch Washington präsentiert, wobei die steigende Komplexität und der zunehmende Aufgabenumfang der Stadtverwaltung zentrale Argumente waren. Trotz der gestiegenen Leistungserwartungen an die Stadt sinke die Bereitschaft der Bürger, dafür in Form von Steuern zu bezahlen. Um die Leistungen dennoch aufrechterhalten zu können, schlug der Bürgermeister vor, städtische Aufgaben stärker zu vernetzen: »There has been a definite trend towards intergovernmental administration and management of public services, as well as the growing recognition that urban problems must be dealt with within the complex of a total environment.«8
Die systematische Planung und die gesteuerte Organisation des Wohlfahrtsstaats, die hier mit den Begriffen »intergovernmental« und »management« beschworen wurden, passten sich den Anforderungen der Bundesregierung an. 5 Study predicts Local Revenues Surplus, WaPo, 20.10.1973. 6 Memorandum für Seibels, Birmingham Revenues, Akte: 263.26.44, SEPA, BPL, AM. 7 The City of Birmingham, Application for Comprehensive Planning and Assistance Grant, Juli 1972, Akte: 263.26.45, SEPA, BPL, AM. 8 Ebd.
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Der Antrag auf Unterstützung bezog die Schlüsselwörter der bundesweiten Kampagnen zu den Themen der Stadtplanung offensichtlich mit ein: »Governmental organization and structure must now find itself completely responsive to defining issues and problems, identification of resources, involvement of the community, developing a decisive plan of action, management and operation of programs, proper coordination, providing a monitoring system capable of realistic evaluation of all issues.«9
Um Unterstützung durch den Bund zu erhalten, war Birmingham zum Traditionsbruch bereit. Nun erklärte sich auch die Verwaltung der Magic City bereit, Prozesse und Organigramme zu verschriftlichen und dadurch transparent zu dokumentieren. Dies sollte denen helfen, die wiederum Hilfe bei der Stadt suchten. Zugleich – ein weiterer Bruch mit der Tradition der vielbeschworenen Autonomie vom Bund – erfüllte es die Anforderungen der Geldgeber und Unterstützer in Washington: »There is an immediate need for formal and written procedures and organizational descriptions that are responsive to today’s demand. Oral rules for governmental operations, which have traditionally been used, simply will not suffice for the efficient administration of this City today. They will not suffice to produce the services that are planned and interrelated project development of urban programs. We are in definite need of an improved system that can be utilized whereby performance standards may be devised by which the level of routine activity can be measured and that a formal reporting procedure may be devised that presents a chief administrator, as well as the department heads and subordinates with a quantitative evaluation as whether or not the resources are appropriated or resulting in the standard of performance expected in the activity.«10
Damit erwies sich die Methode der Bundesregierung, die Städte durch strikte und weitgehende Antragsvorgaben zu mehr Kooperation zu bewegen, auch in Birmingham als erfolgreich. Nachdem die Stadt auf Bundesmittel nicht mehr verzichten konnte, war sie nun auch bereit, weitergehende Bedingungen zum Erhalt dieser wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung zu erfüllen. Ungefähr 700 Meilen nordöstlich von Birmingham, im Staat Michigan, stellten derweil zwei Mitglieder der City Commission von Detroit ihren Vorschlag zu einem umfassenden Plan zur Zukunft der Stadt vor. Die strukturellen Verwerfungen zwischen Detroit und den umliegenden Suburbs waren in einer Studie als Ursachen für die dramatische Lage der Motor City identifiziert worden. Die Stadt war wenige Jahre zuvor Zeugin eines der größten sozialen Aufstände des Jahrhunderts geworden. Die Unruhen von 1967, zu deren Befriedung Gouverneur George Romney die Nationalgarde in die Stadt beordert hatte, hatten vierzig Menschenleben, etliche Verletzte und enorme Sachschäden gefordert. Ein 9 Ebd. 10 Ebd.
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tiefer Riss tat sich mittlerweile zwischen den Bewohnern der Stadt und den Suburbs auf. Die Verfasser einer zeitgenössischen Studie zur Lage Detroits erklärten dies durch »kulturelle Gräben«, die sie durch berufliches Umfeld und gesellschaftlichen Status einer Person bestimmten: »This occupational status disparity not only creates ›income gaps‹, but also ›cultural gaps‹, heightening lack of understanding between city and suburb and perhaps also encouraging hostility and mutual distrust.«11
Das Beispiel dieses letztlich unverwirklichten Detroiter Plans aus dem Jahr 1972 belegt eindrücklich die konkreten Versuche, die Mittelklasse als Steuerzahlerin in die Stadt zurückzuholen. Die Idee des Plans und die darin skizzierten Programme basierten auf Erkenntnissen und Annahmen zur Flucht der Mittelklasse in die Suburbs, die auch im Birmingham der sechziger Jahren moniert worden waren. Der Plan bezog sich zwar auf Detroit, sollte aber Blaupause für alle großen Städte sein, die zum Großteil vor vergleichbaren Problemen standen. Das wichtigste Ziel des Plans waren der Stopp und die Umkehr der Abwanderung von Menschen mittlerer Einkommen in die Suburbs. Es lässt sich nicht abschließend rekonstruieren, warum der Plan nicht umgesetzt wurde. Die Hauptgründe werden jedoch seine unkalkulierbaren Kosten und die fehlende politische Unterstützung gewesen sein. Die Relevanz des Vorschlags liegt in seiner Quelle, einer Behörde einer der am stärksten betroffenen Städte des Landes, und in seinen grundsätzlichen, weit verbreiteten Annahmen, die sich mit denen von Vertretern der Chicago School und Verfechtern einer neuen Steuerpolitik deckten. Unter dem Titel »Urban Incentive Tax Credits: A Self-Correcting Strategy to Rebuild Central Cities« legte die Social Planning Commission 1972 ihren Bericht zur Situation in der Stadt vor. Erarbeitet hatten ihn Edward M. Meyers und John J. Musial.12 Beide waren während der Arbeit daran bei der städtischen City Plan Commission beschäftigt. Meyers, ein ehemaliger Ford-Angestellter, wechselte später an die University of California und schließlich als Leiter der Public Service Commission nach Washington, D. C. Der Planungsausschuss, dem die beiden in Detroit angehörten, sollte Lösungsvorschläge für eines der schwersten sozialen Probleme des zurückliegenden Jahrzehnts erarbeiten. In den Innenstädten der amerikanischen Metropolen hatten sich die Probleme moderner Gesellschaften agglomeriert. Gleichzeitig war das finanzielle Fundament der Städte, bestehend aus Einkommens- und Grundsteuern, brüchig geworden. Der typische Innenstadtbewohner wäre in den Worten des Berichts daher mit »far more than his fair share of the social costs of our advanced urbanization« belastet.13 11 Meyers u. Musial, S. 15. 12 Zwei Jahre nachdem die beiden »social planner« der Detroit City Commission ihr einhundert Seiten starkes Werk vorgelegt hatten, wurde es 1974 auch veröffentlicht. 13 Ebd., S. i. Unter den bisherigen Lösungsvorschlag war der sogenannte Heller-Pechman revenue sharing-Vorschlag der meistdiskutierte. Es handelte sich nicht um einen kohären-
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Obwohl bereits einige Ideen umgesetzt und zahlreiche Pläne diskutiert worden waren, war noch immer keine Lösung für die urbanen Finanzprobleme gefunden. Anders als die bisherigen Vorschläge sollte das nun vorgestellte System der Urban Incentive Tax Credits der erste kohärente Plan zur Steuergleichheit zwischen Stadt- und Suburb-Bewohnern sein.14 Diese Gleichheit bestand daraus, Umweltfaktoren wie Wohnsituation und Wohnort in die Steuerbemessung aller Individuen einzukalkulieren. Wer in einer weniger attraktiven Gegend wohnte, sollte durch geringere Steuern kompensiert werden. Die Zielgruppe war vor allem die Mittelklasse, die mittlerweile zum größten Teil nicht mehr in der Stadt, sondern der Suburb wohnte. Durch die steuerliche Bevorzugung sollte ihre fortwährende Abwanderung beendet werden. Um dies umzusetzen, so die Detroiter, würde jedoch der Bund gebraucht. Nur so könnte der Plan finanziert werden. Für alle anderen Ansätze hatte sich das Leben in der Suburb als zu attraktiv und die Problemlösungskompetenz der Städte als zu limitiert erwiesen: »[…] central cities are no longer able to compete with surrounding suburbs in their efforts to attract and retain residents and businesses. Suburbs are more ›attractive,‹ and moreover, they are for the most part free of povertyrelated problems.«15 Die Verfasser des Berichts sahen ökonomische Interessen als das wesentliche Merkmal von Wohnentscheidungen der Mittelklasse und somit als eine wichtige politische Stellschraube. Meyers und Musial übernahmen damit Gedankenmodelle der Chicago School. So wie der Friedmanplan einer negativen Einkommensteuer quasi automatisiert einen strukturellen Ausgleich schaffen sollte, waren die Steueranreize der beiden Detroiter Sozialexperten dazu gedacht, Ungleichheiten durch den Steuerungsmechanismus von Abgaben ebenfalls automatisch zu überwinden. Die Attraktivität der Suburbs sollte übertrumpft, ihre Verlockungen durch Angebote der Stadt übertroffen werden. Dabei stand die Lebensqualität, ein oft erwähntes »besseres Leben«, im Vordergrund. Dieses sollte Familien durch Einkommensteuererleichterungen ermöglicht werden: »Since money (and the so-called better life it can buy), however begotten, seems to be the major motivational objective of Americans, then tax credit incentives would appear as the most logical strategy to save our cities.« Es schien, als sahen Meyers und Musial ihre These, allein monetäre Anreize böten die Chance, die Städte durch den Zuzug von Mittelklasse-Familien aufzuwerten, als Kapitulation. Daher rechtfertigten sich die beiden Sozialexperten: Ihre Herangehensweise stelle keinen Bruch mit den Traditionen amerikanischer Politik dar. Folgten Stadtverwaltungen ihren Empfehlungen, nähmen sie vielmehr einen amerikanischen Brauch auf: »[…] since this nation has practiced a variety of ten Vorschlag. Die Strategie zur effizienteren Erhebung der Einkommensteuer basierte auf mehreren Texten und Vorträgen der beiden Steuerfachmänner aus der Mitte der sechziger Jahre, siehe Heller; Pechman. 14 Vgl. Meyers u. Musial, S. i. 15 Ebd., S. 3.
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similar methods […], we see no intrinsic problem […] in the use of tax credits, based on city-suburban disparities, to help cities.«16 Die zentrale Komponente des Plans war eigentlich ein Plagiat. Schon seit einiger Zeit schufen Steuervergünstigungen Anreize für Unternehmen in Gegenden umzusiedeln, die wirtschaftlich gefördert werden sollten. Diese Subventionslogik sollte nun auf Privatpersonen transferiert werden. Der Umzug in die Stadt sollte Familien als die ökonomisch attraktivere Alternative präsentiert werden. Die Mittelklasse galt als zentrales Element bei der Linderung der Nöte der Städte und ihre Anwesenheit würde sich in gleichem Maße positiv auf die Entwicklung der Innenstädte auswirken wie in ihrer Abwesenheit die Ursache für Verwahrlosung gesehen wurde. Die Berechnung der Steuervorteile basierte auf einer Kombination aus objektiven und subjektiven Komponenten, denn die Höhe der Vergünstigung sollte aus der »sozioökonomischen Position« hervorgehen. Diese ergab sich einerseits aus Daten der Zensusbehörde, wie etwa dem Medianeinkommen, und andererseits aus durchschnittlichem Bildungsgrad und häufig vertretenen Berufen in einem Stadtviertel. So ergab sich eine »sozioökonomische« Formel: »The extent of this credit could be based upon and vary with the average socio economic status scores (composed of education, occupation, and income factors) of central city residents vis-à-vis those of residents in the entire metropolitan area, as calculated for each by the U. S. Bureau of the Census.«17
Je stärker eine Stadt oder ein bestimmtes Viertel unter sozialen Problemen litt, desto höher sollte die Steuerbefreiung hier ausfallen. Zudem sollten regelmäßige Anpassungen sicherstellen, dass die Steuervorteile schließlich endeten, wenn ein Äquilibrium der Lebensqualität zwischen Stadtviertel und Suburb erreicht wurde. Diese Strategie beruhte auf der Annahme, dass der Zuzug von Mittelklassefamilien ein Viertel aufwerten würde. Damit sollte der allgemein diskutierte Teufelskreis der stetig zunehmenden Abwanderung der Mittelklasse umgekehrt werden.18 Auch in der Perspektive dieses Plans waren die Begriffe Mittelklasse und Steuerzahler synonym. Sie sollte nicht nur in die Städte »zurückgeführt« werden, wo einerseits ihre Abgaben gebraucht und sie andererseits als Vorbild für die noch in der Stadt lebenden Menschen dienen sollte. Dieser Prozess sollte auch auf der Basis mathematischer Grundlagen automatisiert werden. Um die individuelle Wahl des Wohnorts beeinflussen zu können, glaubte man, sich auf arithmetische Konstellationen und automatisiert reagierende Steuervorteile verlassen zu können. Der Detroiter Plan charakterisierte neben der »flüchtenden« Mittelklasse auch die Stadtbewohner, denen als Zurückgebliebenen Kompensation zustünde. Fast schon als Schmerzensgeld schilderten Meyers und Musial die Nebeneffekte 16 Ebd. 17 Ebd., S. 4. 18 Vgl. ebd., S. 5.
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der vorgeschlagenen Steuervergünstigungen. Sollten die finanziellen Anreize nicht genügen, um den Ausgleich zwischen den Stadt und Suburb herzustellen, könnten zumindest die Nachteile der Innenstadtbewohner gemindert werden. Diese waren vielfältig. Entlang von Statistiken und Zeitungsartikeln gaben die Detroiter Analysten die Gefahren der Metropole wieder. Hier war es demnach wahrscheinlicher, überfallen zu werden. Hier mussten Familien eine minderwertige Bildung für ihre Kinder in Kauf nehmen. Investitionen in die eigene Wohnung erzielten keine angemessene Wertsteigerungen. Stadtbewohner waren höherer Lärm- und Geruchsbelästigung ausgesetzt, ihr Müll wurde im Vergleich zu dem in den Suburbs seltener und häufig zu spät entsorgt. Die negativen Stadtattribute standen dem gegenüber, was Populisten wie George Wallace seit Jahren forderten: der Schutz der Interessen der Familie an Sicherheit, Eigentum, Bildung und Ordnung. Dies durch einen landesweiten Masterplan zu verwirklichen, widersprach freilich den Wünschen der Populisten. Gleichzeitig nahmen die Planer in Detroit die organische Variante städtischer Entwicklung mit auf, indem sie für einen systemischen Ansatz plädierten. Die ökonomischen Effekte der Suburbanisierung auf Immobilienwerte in Stadt und Suburb ließen sich in Detroit besonders deutlich ablesen. Zwischen 1959 und 1969 waren die Grundstückswerte in Detroit um 32 Prozent gesunken, während sie parallel in allen anderen Gemeinden des Countys um 82 Prozent angestiegen waren. Dabei war die Einwohnerzahl in Detroit um 9,5 Prozent zurückgegangen und im Rest des Countys um 16 Prozent angewachsen.19 Die Ursachen für die Abwanderung in die Suburb wurden auch hier durch push- und pull-Faktoren erklärt. Die Mittelklasse hatte sich nicht nur von der Stadt abgewandt. Sie hatte sich aktiv für die Suburbs entschieden. Außer der negativen innerstädtischen Zustände wirkten die Aspekte der Suburbs spezielle Reize auf die Mittelklasse aus: »[…] relative autonomy, stability, continuity, homogeneity, status, sense of community, more direct participation, access to political officials, the insulated socialization of children and selves and the implicit recognition of the influence of peers, associates and schools on their life chances.«20
In der Suburb schienen Selbstbestimmung und größerer politischer Einfluss realisierbar. Diese Attribute galten der Mittelklasse, in dieser Beschreibung, als besonders erstrebenswert. Die Homogenität der Suburbs erlaubte ihren Familien so zu leben, wie sie es für richtig hielten. Weder mussten sie politisch mit ihren Nachbarn konkurrieren, noch für sie Sorge tragen. Obwohl der Plan Detroit explizit in den Mittelpunkt stellt, war diese Metropolregion nur ein Exempel für Orte überall in den Vereinigten Staaten. So galt die Exklusivität einiger Detroiter Suburbs als beispielhaft, besonders für die Diskriminierung der Bewohner nach der Farbe ihrer Haut: 19 Vgl. ebd., S. 37. 20 Ebd., S. 8.
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»Detroit’s suburbs are highly exclusionary, with many suburbs having a long history of overt discriminatory practices. While the city of Detroit is 43.7 % black, the suburban proportion is 3.8 %, and most of the suburban black population is concentrated in six enclaves.«21
An diesem Ungleichgewicht hatten auch die direkten Eingriffe des War on Poverty nichts geändert. Indem sie so dem Wachstum der Mittelklasse das Versagen des Wohlfahrtsstaats gegenüberstellten, stellten Meyers und Musial auch eine enge Verbindung dieser beiden Aggregate her. Die florierende Mittelklasse der Suburbs erschien ihnen dabei nicht nur als bemerkenswerter Kontrast zur Situation in den Städten. Sie versuchten die gleichsam heilbringenden Kräfte der Mittelklasse auf die Innenstädte wirken zu lassen: »While there have been some notable gains in social growth – including a growth in the middle class in this country unparalleled in mankind’s history – the cities […] continue to experience deterioration despite huge increases in programmatic expenditures. The trends are firmly established in favor of suburban growth, and any federal programs to aid the urban poor or cities in general […] can only be considered artificial in nature.«22
Wo die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung als künstlich geschildert werden, erschien den Planern die Expansion der Mittelklasse als geeignete organische Medikation für die krankenden Städte. Damit war 1972 zumindest für die Experten dieses Detroiter Gremiums die Mittelklasse zu einer gesellschaftlichen Gruppe geworden, deren Dasein nicht allein durch einen wirtschaftlichen Aufschwung erklärt werden konnte, sondern diesen auch erklärte. Die Innenstädte hingegen wurden als Patienten beschrieben, denen die Arzneien des vergangenen Jahrzehnts – in Form wohlfahrtsstaatlicher Initiativen aus Washington – nicht hatten helfen können. Damit spiegelte der Vorschlag auch eine weithin geteilte Grundstimmung wider. Die Mittelklasse wurde als eigenständig und losgelöst von staatlichen Strukturen für ihren Erfolg verantwortlich gemacht. Ihre Eigenverantwortung und insbesondere ihre Unabhängigkeit von staatlichen Hilfen schienen ein Reservoir zu schaffen, aus dem Städte schöpfen konnten, um ihre Probleme zu lösen. Verursacher dieser städtischen Probleme waren in dieser Wahrnehmung wiederum die in der Stadt Zurückgebliebenen. Sie verbrauchten mehr, als sie beitrugen. Zugleich fußte der Plan auch auf einer mittlerweile etablierten Perspektive auf die eigene Suburbanisierungsgeschichte. Wo in den vorausgegangenen drei Jahrzehnten indirekte Hilfen und finanzielle Anreize den Wohnortwechsel stimuliert hatten, sollte dies nun umgekehrt werden. Der Vorschlag der Urban Incentive Tax Credits stand damit für eine neue wohlfahrtsstaatliche Formel, die bestehende Methoden nutzte. Diese beruhten nicht nur auf mathe21 Ebd., S. 31. 22 Ebd., S. 37.
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matischen Modellen, sondern vor allem auf den vermeintlichen Erkenntnissen, die Sozialexperten aus der Beobachtung der wohlfahrtsstaatlichen Programme und von deren Effekten im letzten Jahrzehnt gewonnen hatten. Das durch seine Steuerarithmetik objektiv wirkende Instrument der Steuervorteile basierte auf einer subjektiven These. Die Mittelklasse sollte nicht allein aufgrund ihrer finanziellen Bedeutung als Steuerzahlerin zurückkehren. Sie galt als positives Vorbild für die in der Stadt lebenden Menschen. Kombiniert wurden beide Faktoren durch den Versuch, finanzielle Anreize zu schaffen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Family Assistance Plan.
6.2 Der FAP als Plan zur wohlfahrtsstaatlichen Vereinheitlichung Der Family Assistance Plan (FAP) war ein Vorschlag der Bundesregierung zu einer umfassenden Reform des Wohlfahrtsstaats. Er wurde zwischen 1969 und 1973 entwickelt, präsentiert, diskutiert, verändert, vom Repräsentantenhaus verabschiedet, vom Senat abgelehnt, erneut als Gesetzesentwurf vorgelegt und letztlich zugunsten einer großzügigen Rentenreform fallengelassen.23 Das Reformwerk sah vor, eine bundesweit einheitliche Form wohlfahrtsstaatlicher Hilfe einzuführen. Diese sollte jeder Familie ein Mindesteinkommen garantieren und so mittlerweile fragmentierte Strukturen innerhalb der Verwaltung des Wohlfahrtsstaats ersetzen. Die formelle Grenze zwischen den Sphären der social insurance und der public assistance fanden sich in den Ansätzen des FAP nicht mehr. Der Plan ähnelte der egalitären Idee des Townsendplans und war damit auch eine Einschränkung der Idee, dass der US-Wohlfahrtsstaats nur entlang der Struktur von Sozialversicherungen modelliert werden sollte. Zugleich sollten die bestehenden public assistance-Vorkehrungen grundlegend verändert werden. »The Family Assistance Plan […] would replace AFDC […] with new programs, vastly changing benefit levels, working requirements, eligibility requirements and recipients’ rights«,24 so formulierte eine Vereinigung wohltä tiger Organisationen 1971 die Ziele des FAP konzise. An der Gestaltung der Reform und dem Versuch sie umzusetzen waren neben Präsident Richard Nixon insbesondere Daniel P. Moynihan und der Vorsitzende
23 Der Ablauf der Gesetzgebung ist umfassend dokumentiert im Congressional Quarterly (CQ) Almanac: »House Passes Welfare Reform, Senate Delays Action«, in: CQ Almanac 1971, Washington 1972; außerdem schilderte der konservative Finanzchef der SSA, Robert Ball, den Verlauf: Ball. Weitere Schilderungen und Analysen finden sich auch bei Howard, Hidden, S. 64–74; Howard sieht den FAP als wichtigsten Steinbruch für jene Ideen, die 1975 zur Einführung des Earned Income Tax Credit führten. 24 S. Allen Bacon, Executive Director Greater Philadelphia Federation of Settlements, an Mills, 29.10.1971, Akte: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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des Committee on Ways and Means, Wilbur Mills, beteiligt.25 Indem er die Implementierung des FAP forcierte, trat Nixon den Sozialexperten des mittlerweile etablierten Wohlfahrtsstaats entgegen. Dabei motivierten ihn auch anti-intellektuelle Vorbehalte, wenn er meinte, sich besser in die Lage armer Familien hineinversetzen zu können, da seine Kindheit durch latent drohende Armut geprägt gewesen war.26 Dass der FAP zu großen Teilen auch ethische Komponenten in sich trug, hin auch damit zusammen, dass Nixon immer wieder betonte, seine Eltern hätten trotz Armut und Unterstützung ihre Würde bewahren können. Dies war armen Familien in den sechziger Jahren unmöglich, empfand der Präsident. Sie bekämen nicht selten die lähmende Fürsorgehaltung, eine »soul-stiffling, patronizing attitude«, der Ämter und Experten zu spüren, die mit dem Empfang von welfare einherginge.27 Als Nixon 1969 sein Präsidentenamt antrat, war ein Großteil der Demokraten und linksliberaler Organisationen genau in diesem Punkt anderer Ansicht. Sie beschrieben den Empfang von welfare als keineswegs erniedrigend. So wurde die politische Debatte um die Reform schließlich auch um den Versuch aufgeladen, die Beziehung aus Patron und Klientel zwischen Demokraten und Armen aufzubrechen.28 Dass sich diese Beziehung zwischen oft demokratischen Politikern und ihren Wählern etabliert hatte, schrieb Nixon vor allem den vielgestaltigen Sozialprogrammen zu, mit denen sich seine politischen Widersacher vermeintlich Wählerstimmen sicherten. In ihren Schreiben an den Kongress lieferten Vereinigungen wie Gewerkschaften, Kirchen, Frauenrechtsgruppen, Armenverbände und auch einzelne Amerikaner ein facettenreiches Bild von ihrer Wahrnehmung wohlfahrtsstaatlicher Vorkehrungen. Sie kritisierten nicht nur die initiierte Reform, sondern beschrieben zugleich, wem welche Hilfe zukommen sollte. So ergibt sich in vielen Fällen das Bild einer als »normal« verstandenen Familie und eines »normalen« Lebens, welche den Forderungen und Argumenten eines Großteils der Eingaben zugrunde lagen oder explizit geschildert wurden. Die Rekonstruktion dieser Normalitätsvorstellungen geben Aufschluss über das Zusammenspiel von Mittelklasse und Wohlfahrtsstaat. So eignet sich der FAP aufgrund der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit und seines umfassenden Ansatzes als Grundlage für eine Analyse des Verständnisses des US-Wohlfahrtsstaats.
25 Von Moynihan stammt auch eine der umfassendsten zeitgenössischen Schilderungen des gescheiterten Versuchs, den FAP zu implementieren, siehe Moynihan. 26 Eine oft zitierte Anekdote, die als Beleg der einfachen Verhältnisse seiner Herkunft diente, war Nixons verwehrter Wunsch, Pfadfinder zu werden. Das Geld der Eltern reichte nur, um dem älteren Bruder dies zu gestatten. 27 Vgl. Moynihan, S. 540. 28 Zu seinem Anliegen, Stigmatisierung zu überwinden, vgl. ebd., S. 98.
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6.2.1 Der Family Assistance Plan: Inhalt und Gesetzgebungsverlauf der Reform Bei Richard Nixons Amtsantritt war der politische Druck den Wohlfahrtsstaat zu reformieren immens. Die Kosten für A(F)DC hatten in den 25 Jahren von 1935 bis 1960 bei einer Milliarde Dollar gelegen. In den sieben darauffolgenden Jahren kostete das Programm den gleichen Betrag, bevor allein im Jahr 1968 eine halbe Milliarde Dollar anfielen. Vor diesem Hintergrund beauftragte Nixon unmittelbar nach seiner Wahl im November 1968 eine Taskforce, die sich mit der welfare-Frage befassen sollte. Sie formulierte den FAP, der das Programm AFDC ersetzen und ein System einführen sollte, welches einen akzeptablen Lebensstandard ermöglichen und zugleich Anreize schaffen sollte, eine Arbeit aufzunehmen. Diese Kombination sollte durch eine Konstruktion gelingen, welche die Unterstützung für Familien, die family assistance, verringerte, sobald sie ein eigenes Einkommen bezog. Wurde die maximale Höhe der family assistance durch Einkünfte überschritten, sollten Freibeträge dafür sorgen, dass die Bezüge nicht komplett, sondern stufenweise wegfielen. In diesen allmählich reduzierten Hilfen sah Nixon den Schlüssel zum Erhalt ausreichend hoher Anreize zur Aufnahme einer Arbeit.29 Lediglich arbeitsunfähige Personen, die aufgrund körperlicher Leiden nicht arbeiten konnten, sollten durch spezialisierte Programme weiter Hilfen erhalten. Damit sollte die Zahl der public assistance-Empfänger auf Menschen verringert werden, die aufgrund von Blindheit, Krankheit oder Alter zu keiner Arbeit fähig waren. Der Gesetzesvorschlag wurde im März 1970 in den Kongress gegeben, wo eine Phalanx von Südstaatenabgeordneten die Rahmenbedingungen für alle Reformbemühungen vorgab. Mit Zusammentritt des 91. Kongresses am 3. Januar 1969 leiteten Abgeordnete aus dem Süden mehr als die Hälfte aller Ausschüsse – darunter neun der zwölf einflussreichsten.30 Nach zahlreichen Anhörungen entschied das Committee on Ways and Means am 5. März 1970, dem Parlament den FAP zur Abstimmung vorzulegen.31 Jedoch hatte sich der Ausschussvorsitzende Mills geweigert, die Initiative mit einer Reform des Social Security Act zu verknüpfen.32 Am 16. April 1970 wurde der Gesetzesentwurf vom Repräsentantenhaus verabschiedet und an den Senat übermittelt.33 Nach dem Erfolg in der ersten Kongresskammer mutmaßte ein zufriedener Nixon, Historiker würden dies einst die bedeutendste wohlfahrtsstaatliche Reform eines halben Jahr29 Nixon: »With such incentives most recipients who can work will want to work. This is part of the American character.« Zit. n. ebd., S. 223; außerdem würde »hope for a life of work and pride and dignity« gefördert werden, ebd., S. 225. 30 Moynihan, S. 400. 31 Nixon, Statement About Approval of the Family Assistance Act of 1970 by the House Ways and Means Committee, 5.3.1970. 32 Vgl. Moynihan, S. 426. 33 Nixon, Statement About House Approval of the Family Assistance Act of 1970, 16.4.1970.
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hunderts nennen.34 Denn nach seiner Passage im Repräsentantenhaus schien es wahrscheinlich, dass das Gesetz auch vom Senat angenommen würde; dieser galt sogar als die leichtere Hürde, da viele seiner Mitglieder im Vergleich zu den Abgeordneten im Repräsentantenhaus als gemäßigt links galten. Die Debatten im zuständigen Finanzausschuss des Senats machten jedoch schnell deutlich, dass diese Einschätzung falsch war. Am 30. April 1970, inmitten der zunächst auf drei Tage angesetzten FAP-Senatsanhörung, gestand Präsident Nixon der Weltöffentlichkeit, dass US-Truppen nun auch in Kambodscha kämpften. Die Intensivierung des mittlerweile so unpopulären Kriegs in Indochina konsumierte von nun an einen Großteil der Zeit und Beliebtheit des Präsidenten. Sie machte ihn zudem politisch angreifbar. Keine Woche nach dem Eingeständnis der Kriegsausweitung kam es am 4. Mai 1970 zum »Kent-State-Massaker«: Die Nationalgarde erschoss vier demonstrierende Studenten beim Versuch, die Antikriegsproteste auf dem Campus der Kent State University in Ohio zu beenden. Plötzlich erschien eine zweite Amtszeit für Nixon unerreichbar, weshalb sich seine politischen Gegner noch intensiver bemühten, ihm alle Erfolge zu vereiteln.35 So waren die Hearings der späten Frühlingswochen des Jahres 1970 geprägt von scharfen Angriffen demokratischer Kongressmitglieder auf Regierungsvertreter. Seine Gegner verfolgten während dieser Anhörungen die Strategie, Nixons FAP als inkompatibel mit den Interessen der Mittelklasse darzustellen. Eine Demokratin stellte den Gewinn der Armen den Einbußen der Mittelklasse gegenüber: »There is no mention of help for students of middle-income families […] I think it’s highly unfair to ask middle-income taxpayers to foot the bill for someone else’s child to attend an expensive school while they can’t afford to send their own children to such a college.«36
Der Vorwurf verband voneinander unabhängige Reformbestandteile, wobei das verbindende Element die vermeintliche Benachteiligung der Mittelklasse war. Als sich die Anhörungen in die Länge zogen, signalisierte Nixon am 10. Juni 1970 seine Bereitschaft zu Eingeständnissen. Als aber ein Kompromissvorschlag nicht angenommen wurde, intensivierte er mit Blick auf das nahende Ende der Legislaturperiode jedoch den Druck, als Nixon am 28. August nochmals seine Verärgerung aber auch seine Verhandlungsbereitschaft öffentlich machte: »With time running out, and an historical social reform at stake, I have consulted with several cosponsors of the bill […] and we have agreed that, if the Senate accepts this modifying amendment, it will be acceptable to the administration.«37
34 Vgl. Moynihan, S. 438. 35 Zur Missgunst politischer Gegner in Wartestellung in diesen Monaten vgl. ebd., S. 489. 36 Zit. n. ebd., S. 449. 37 Nixon, Statement Urging Senate Action on the Family Assistance Bill, 28.8.1970.
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Dennoch verließ der Gesetzentwurf den Ausschuss nicht. Während ein Teil des Gremiums die Auszahlungen für zu gering hielt, war der andere überzeugt, die Kosten seien zu hoch. Erst im Dezember 1970 wurde ein verwässerter Entwurf zur Abstimmung in den Senat gegeben; er enthielt nun Modifikationen und themenfremde Ergänzungen, die unter anderem Außenhandelsfragen betrafen. Die Senatsabstimmung über dieses Gesetzespaket wurde in den letzten beiden Wochen des Jahres 1970 von Gegnern des Außenhandelsgesetzes und Befürwortern eines großzügigeren FAP per Filibuster blockiert. Mit dem Ende der Legislaturperiode des 91. Kongresses, am 3. Januar 1971, verschwand auch die welfare-Reform FAP bis auf weiteres aus dem Kongress. Ein halbes Jahr später, am 22. Juni 1971 passierte der erneut eingebrachte FAP wieder das Repräsentantenhaus. Er war nun Teil eines 687 Seiten langen, großzügigeren Reformvorschlags, der mit 288 zu 132 Stimmen verabschiedet wurde. Erneut wurde der Entwurf – als erster Gesetzesvorschlag des Repräsentantenhauses im 92. Kongress unter dem formalen Titel H. R. 1 – an den Senatsfinanzausschuss übermittelt. Hier kam es wie im Vorjahr zu erheblichen Verzögerungen. Ein Vorwurf der Gegner lautete, dass nun Familien auf staatliche Unterstützung zurückgreifen mussten, die dies üblicherweise nicht tun müssten oder wollten. Ein Artikel in der Zeitschrift The New Republic vom November 1971 analysierte treffend, dass Nixons Vorschlag schlicht zur falschen Zeit kam. Das realignment, der Wandel in der Wählerzusammensetzung der Demokraten, hatte deutlich gemacht, dass Menschen mittlerer Einkommensschichten zur wichtigsten politischen Klientel geworden waren.38 So wurde im Zusammenhang mit Wohlfahrtsstaatsreformen vermehrt die Mittelklasse anstelle der Armen adressiert. Unerwartet und parallel zu den anhaltenden Debatten um das Reformpaket H. R. 1 reichte Wilbur Mills am 23. Februar 1972 einen Gesetzentwurf ein, der vorsah, die Rente rasch um zwanzig Prozent zu erhöhen. Mills erklärte, es sei möglich, die Rentenerhöhung gemeinsam mit den Plänen des H. R. 1 finanzieren zu können und gleichzeitig die Steuern zu senken. Diesen Schluss hatte er auf Basis der Annahme eines dynamischen Wirtschaftswachstums gezogen. Heftig kritisiert wurde diese Annahme durch Robert Myers, dem obersten Aktuar der SSA.39 Er und zahlreiche Arbeitgeber, konservative Medien und kritische Kongressmitglieder warnten vor den Risiken einer solchen Rentenerhöhung. In den Augen der Kritiker lagen dem Szenario von Mills viel zu optimistische Vermutungen zugrunde.40 Als Sachverständiger warnte Myers am 29. Februar 1972 in einem Hintergrundpapier, dass Mills’ Vorschlag das finanzielle Fundament der Rentenversicherung zerstören würde.41 Denn dass die Rentenerhöhung so 38 Vgl. The Greening of Education, The New Republic, 13.11.1971. 39 U. S. Congress, Congressional Record. Permanent edition, S. 5269–5272, 23.2.1972. 40 Vgl. Statement des Abgeordneten Conable, 24.2.1972, U. S. Congress, Congressional Record. Daily edition, S. 1429. 41 Myers, Analysis of Social Security Proposal of Chairman Mills, 29.2.1972, S. 1–3, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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hoch ausfallen sollte, basierte nicht nur auf der Anhebung der Bemessungsgrundlage.42 Sie war Resultat einer angepassten versicherungsmathematischen Methode, die Myers scharf kritisierte: Mills’ Plan legte eine stetige Produktivitätssteigerung zugrunde. »The use of dynamic economic assumptions as to the future trends of prices and wages«, so warnte Myers, »is a most hazardous undertaking, especially when projected over a 75-year period […].«43 Mills’ Vorschlag basierte auf der Prognose einer durchweg positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie einer erheblichen Effizienzsteigerung. Er und sein Ausschuss gingen so etwa von einer fünfprozentigen Lohnsteigerung und einer nur halb so hohen Preissteigerung pro Jahr aus. Die Differenz dieser beiden Größen drückte die Produktivität und damit im Verlauf der Zeit die Steigerung der Produktivität aus, die demnach jährlich um 2,25 Prozent wachsen musste. Auf dieser Basis war es theoretisch nicht einmal mehr nötig, Rentenbeiträge zu erhöhen. Jedoch, mahnte Myers, würden schon geringe Abweichungen einschneidende finanzielle Folgen haben. Wuchsen die Löhne etwa jährlich um lediglich vier Prozent während die Preise um drei Prozent stiegen, müssten schon bald deutlich höhere Beiträge gezahlt werden. Während seiner Anhörung vor dem Finanzausschuss untermauerte der konservative Myers seine Warnung mit den Aussagen verschiedener Ökonomen, die voraussagten, dass eine solche Produktivitätssteigerung unrealistisch war. Zudem erstreckten sich Myers Bedenken auch auf sich wandelnden Lebensstile und ein erhöhtes Umweltbewusstsein seiner Landsleute.44 Damit bezog Myers jene »Grenzen des Wachstums« in seine Argumentation ein, welche der Club of Rome nur wenige Wochen zuvor präsentiert hatte.45 Myers Warnungen blieben unerhört. Abseits der erneut langwierigen Hearings zum FAP verabschiedete der Kongress die zwanzigprozentige Rentenerhöhung. Dies ließ weite Teile des noch immer diskutierten H. R. 1 obsolet werden. Eine stark veränderte Fassung des Gesetzes wurde schließlich, ohne den FAP, in den Vermittlungsausschuss gegeben. Dem hier gefundenen Kompromiss stimmten Repräsentantenhaus und Senat am 17. Oktober 1972 zu. Nixon ratifizierte den H. R. 1 zwei Wochen später, zeigte sich aber enttäuscht über das wiederholte Scheitern des FAP. Seine folgenden Versuche, den FAP nochmals einzubringen, blieben dennoch zaghaft. Zwar kündigte er am 2. März 1973 einen dritten Reformversuch an: »[…] with regard to family assistance, I thought at the time that I approved it – and this view has not changed – that it was the best solution to what I have termed, and 42 In der ersten, vom Repräsentantenhaus verabschiedeten, Version der Rentenreform waren fünf Prozent vorgesehen gewesen. Die nun in Mills’ Vorschlag (H. R. 13320) sehr viel höhere Rente wurde in der Öffentlichkeit auch mit der Anhebung der Bemessungsgrundlage auf 12.000 und nicht wie zuvor geplant 10.200 Dollar erklärt. 43 Myers, Analysis, S.1. 44 »[…] greater attention being paid to ecology, changing life styles, etc.«, ebd., S.2. 45 Siehe Meadows u. Club of Rome.
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many others have termed before me, the welfare mess. I believe that it is essential that we develop a new program and a new approach to welfare in which there is a bonus not for welfare but a bonus, if there is to be one, for work.«46
In seiner letzten Rede zur Lage der Nation am 30. Januar 1974 gestand der Präsident jedoch das endgültige Scheitern des FAP ein: »Neither the Congress nor the country, accepted that proposal [the FAP, d. Vf.]. I do not intend to resubmit a new version of the Family Assistance Plan. […] in their overall impact, the welfare programs remain a failure and an outrage. As an example of the failure, recent studies have shown that fully 40 percent of the AFDC benefits being paid are either going to ineligible persons or are incorrect in amount. This performance is not just the result of fraud, although there is some of that. It is primarily and overwhelmingly the result of a system which is so complex and so riddled with obscure, obsolete and incomprehensible regulations that it defies fair and efficient administration.«47
Der FAP war auch daran gescheitert, dass ihn die falsche Person zur falschen Zeit auf die Agenda gehoben hatte. Im Folgenden wird gezeigt, welche inhaltlichen Facetten der Implementierung der Reform entgegenstanden. 6.2.2 Die gescheiterte Reform: Die Ursachen für den Misserfolg des FAP Der Impuls zur Formulierung des FAP speiste sich vor allem aus der Unzufriedenheit mit der welfare mess.48 Jeder Reformvorschlag wurde Ende der sechziger Jahre im Kontext mit den Kosten artikuliert, welche von der steuerzahlenden Mehrheit für die public assistance aufgebracht werden mussten. Damit war diese traditionelle Komponente des US-Wohlfahrtsstaats vor allem der Kritik der Mittelklasse ausgesetzt, in der sich alle wähnten, die Steuern zahlten und nicht von diesen Formen wohlfahrtsstaatlicher Hilfe profitierten. Zugleich generierten Politiker Unterstützung, wenn sie Forderungen nach welfare-Kürzungen mit der Betonung der Werte der Mittelklasse verbanden. Welche Effekte hatte dies auf die geplante Reform des Programms AFDC? Politiker beider Parteien beschrieben den FAP im Zusammenhang mit dem andauernden »Krieg gegen die Armut«. So unterstützte der Demokrat und Sprecher des Repräsentantenhauses Carl B. Albert (1908–2000) den FAP und dessen republikanischen Advokaten Wilbur Mills.49 Parteiübergreifend hoben beide die Vorzüge eines bundesweit auf allen Ebenen einheitlichen Wohlfahrtsstaats hervor und betonten, dass das reichste Land der Welt Armut nicht tolerieren 46 Nixon, The President’s News Conference, 2.3.1973. 47 Ders., Annual Message to the Congress on the State of the Union, 30.1.1974. 48 Siehe hierzu Kapitel 5. 49 Vgl. Carl Albert, Remarks on H. R. 1, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 34, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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dürfte. Die Armen, so Albert, müssten zurück in den »mainstream of our American way of life« gebracht werden.50 Damit begegneten sich in der Debatte um den FAP der Wunsch, die Armut zu überwinden, und die politisch erfolgversprechende Strategie, die Interessen der Mittelklasse zu vertreten. Diese beiden Tendenzen lassen sich auch aus Äußerungen von Elliot Richardson (1920–1999) herauslesen. Der Minister des Department of Health, Education, and Welfare beschrieb 1971 den Vertrauensverlust der »taxpaying public« in den Wohlfahrtsstaat, da sie mittlerweile nicht mehr glaubte, dass alle Empfänger staatlicher Unterstützung diese auch verdienten. Vermehrt genossen demnach »träge und nicht berechtigte« Personen ungerechtfertigt Hilfe.51 Richardson diagnostizierte auf der anderen Seite bei den Hilfsempfängern eine durch den Wohlfahrtsstaat hervorgerufene Verbitterung. Sie müssten, so der Minister, Würde und Selbstrespekt als Preis für ihre Unterstützung zahlen, was sie wiederum der Hoffnung beraubte, je wieder eigenständig werden zu können. Zu den bemerkenswert kritischen Aussagen Richardsons gesellte sich auch eine von ihm registrierte Abscheu derer, die zu leicht Unterstützung erhielten, gegenüber einer »antiquated, unstable and lax welfare bureaucracy«: Selbst das zuständige Kabinettsmitglied war frustriert von der welfare mess und einem Bild des »crazy quilt pattern of benefits and eligibility requirements«, welches der Wohlfahrtsstaat mittlerweile bot. Einer der gravierendsten Kritikpunkte bot der Zustand, dass stets neue Anreize für welfare und Familientrennungen geschaffen wurden. Arbeit, als Ziel eines eigenständigen und positiven Lebenswandels, wurde hingegen so gut wie nie ins Zentrum gerückt.52 Damit beschrieb Richardson zugleich die wichtigsten Schlüsse aus der Analyse des Wohlfahrtsstaats durch die Republikaner, die sich in den zentralen Attributen des FAP niederschlugen. Er sah vor, starke Arbeitsanreize für Hilfsempfänger zu schaffen. Erstmals sollten außerdem die working poor eine Form der public assistance erhalten. Kombiniert mit einem bundesweiten Minimum sollten national einheitliche Richtlinien und Standards mehr Gleichheit schaffen. Flankiert werden sollte dies durch umfangreiche Dienste für Arbeitssuchende, die es ihnen erleichtern sollten, sich fortzubilden und Jobmöglichkeiten wahrzunehmen.53 Insbesondere die Regelungen zu bundesweiten Mindestsätzen und der 50 Ebd., S. 3. 51 »[…] a large and growing lack of confidence on the part of the taxpaying public that assistance goes only to those who need it and does not go to those who are indolent or ineligible […].«, ebd. 52 Zu diesen, wiederkehrenden, Vorwürfen vgl. Elliot L. Richardson, Secretary of HEW, Statement, 27.7.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 91st Congress, RG 233, NAB. 53 Ebd., »(1) There must be strong incentives for people to work. (2) All needy families with children, including the working poor, must be covered. (3) There must be uniform nation wide eligibility standards. (4) A minimum Federally financed income floor must be established. (5) Training, job opportunities, and child care must be provided so that recipients can qualify for, and accept employment.«
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übergreifende Charakter der Zielgruppe ließ den FAP als eine Form eines garantierten Mindesteinkommens erscheinen.54 Eine solche Form der weitgehend bedingungslosen Förderung stand vor allem im Kontrast mit dem Konzept der Eigenständigkeit, die weithin als Charakterzug der Mittelklasse verstanden wurde. Diese Wahrnehmung und die Debatte um die Einführung einer allgemeinen Grundversorgung offenbaren die zentralen Gründe für das Scheitern des Reformvorschlags. Der FAP und die Debatte um ein garantiertes Mindesteinkommen Handelte es sich bei der family assistance des FAP um ein »guaranteed annual income«, ein garantiertes Mindesteinkommen? Die Antwort auf diese Frage fällt schwer; schon zeitgenössische Kritiker und Befürworter bejahten und verneinten sie.55 Einerseits war vorgesehen, dass der FAP ein Einkommen sicherte, das nicht unterschritten werden konnte, wenn man sich um Unterstützung bewarb. Andererseits erhielten Menschen mit einem Einkommen oberhalb einer festen Grenze keine Zahlungen. So sah der FAP kein allgemein garantiertes Mindesteinkommen nach der Art vor, bei der jeder Bürger einen festen Betrag vom Staat erhielt. Dennoch wurde erstmals eine soziale Sicherung diskutiert, die allen das Recht auf finanzielle Unterstützung gewähren sollte. Die politische Debatte um ein garantiertes Mindesteinkommen war in den USA bereits älter. John F. Kennedys Kabinett hatte 1962 einen Vorschlag des Ökonomen Milton Friedman untersucht, der als negative Einkommenssteuer oder auch Friedmanplan bekannt geworden war. Kennedys Fazit lautete jedoch, dass eine Umsetzung politisch scheitern würde. Obwohl er sich als erster Präsident der Nachkriegszeit mit dem Phänomen einer strukturellen Arbeitslosigkeit konfrontiert sah,56 mied Kennedy die Frage eines garantierten Mindesteinkommens gleich welcher Form. Obwohl das Thema auch aufgrund der Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation während Kennedys Amtszeit zunehmend an Aufmerksamkeit erfuhr – etwa durch die Schriften des Ökonomen
54 Als garantiertes Mindesteinkommen sah das H. R.1 auch der Gouverneur von Missouri, Warren E. Heanes, in seinem Brief an Long, Hearnes an Long, 18.8.1971, Akte: H. R.1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 55 Neben der Bezeichnung des »guaranted annual income« wurden auch andere Begriffe zu Beschreibung des generellen Konzepts eines Einkommens von staatlicher Seite ohne Arbeitsverhältnis verwendet. Zugunsten der Übersichtlichkeit werden hier nicht alle explizit erwähnt, auch wenn sie teilweise in Aspekten voneinander abwichen. Ein Beispiel war die Debatte zwischen Eveline Burns und Milton Friedman. Burns favorisierte als Ersatz für das, aus ihrer Sicht zu kompliziert gewordene, Modell der Sozialversicherung sog. »demogrants« anstatt des Modells einer »negativen Einkommensteuer«, das von Friedman befürwortet wurde. Zu den Abweichungen zwischen beiden Ideen vgl. Burns, S. 138. 56 Vgl. Steensland, S. 1288.
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und Futuristen Robert Theobald (1929–1999)57 – blieben Kennedy und auch sein Nachfolger Johnson bei ihrer Ablehnung; auch weil eine politische Mehrheit gegen die Idee war. Milton Friedman argumentierte unterdes weiter für seinen Plan. Der nach ihm benannte Vorschlag basierte auf der integrativen Annahme, dass Arme Opfer äußerer Umstände seien und Armut keine moralische Verfehlung war.58 Friedman hatte daraus bereits 1962 den Schluss gezogen, alle Formen wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge, auch die Sozialversicherung, zugunsten einer negativen Einkommensteuer perspektivisch abzuschaffen.59 Als Richard Nixon sieben Jahre später den FAP vorstellte, betonten die beiden großen Tageszeitungen Washington Post und New York Times den Charakterzug der bedingungslosen Unterstützung aller Bürger als positiven Bestandteil.60 Bald wiesen Umfrageergebnisse jedoch eine wachsende Ablehnung gegenüber dem FAP auf, die sich speziell gegen den Aspekt des garantierten Mindesteinkommens richtete. Als weitere Erhebungen zeigten, dass dies auch aus der Skepsis herrührte, die in den Jahren zuvor gegenüber dem Friedmanplan laut geworden war, begannen die Verteidiger des FAP die Unterschiede hierzu zu betonen. Das Konzept des Chicagoer Ökonomen vereinte damit Kritiker und Verteidiger des FAP, wenngleich mit unterschiedlichen Argumenten. Das Committee on Ways and Means hob immer wieder die Arbeitsanreize des FAP hervor, welche der Friedmanplan nicht in sich trug. Während der FAP als zusätzliches Element des Wohlfahrtsstaats dargestellt wurde, beschrieb man den Friedmanplan als umfassenden Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.61 Und auch Richard Nixon betonte in seiner Rede vom August 1969, der FAP sei kein garantiertes Mindesteinkommen: »This national floor under incomes for working or dependent families is not a ›guaranteed income.‹« Anders als ein garantiertes Einkommen würde der FAP die Menschen nicht motivieren Arbeit 57 Seine Zeitschriftenartikel fanden sich in seinem Werk von 1966 destilliert: Theobald. Die Debatten um ein garantiertes Einkommen waren kein amerikanisches Phänomen. Die Britin Juliet Rhys-Williams vertrat als zunächst liberale und später konservative Politikerin und Autorin den Gedanken des bedingungslosen Grundeinkommens auf den britischen Inseln. Sie wollte dem incentive-Problem dadurch begegnen, dass jeder gesunde Bürger eine Arbeit annehmen müsse, sollte sie ihm angeboten werden, vgl. Burns, S. 138. 58 Steensland, S. 1290; zur zeitgenössischen Diagnose einer solchen »umweltbedingten« Sicht auf Armut siehe Betten. 59 Friedman beschreibt sich sogar als ersten mit dieser Idee: »Obwohl wir die ersten waren, die solch ein Programm der negativen Einkommensteuer als Ersatz unseres derzeitigen Wohlfahrtssystems vorschlugen, sagte einer von uns vor dem Kongreß gegen die Version, die Präsident Nixon als Familienhilfsplan [FAP] anbot, aus.« Friedman u. Friedman, S. 140. 60 Analysen eines Großteils des Kabinetts und umfangreiche Sammlungen von Zeitungsausschnitten liefern die Protokolle der Sitzungen des Council for Urban Affairs. Sie sind exzellent dokumentiert im Nachlass von Daniel P. Moynihan, siehe v. a. die Boxen I: 266–272, PM, LOC. 61 Mills’ Vorbereitungen auf Argumente der ACU finden sich in mehreren Memoranden und Niederschriften in Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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abzulehnen, sondern vielmehr sie zu suchen. Der Unterschied zwischen den beiden Modellen war in Nixons Augen zentral: »A guaranteed income establishes a right without any responsibilities; family assistance recognizes a need and establishes a responsibility. It provides help to those in need and, in turn, requires that those who receive help work to the extent of their capabilities. There is no reason why one person should be taxed so that another can choose to live idly.«62
Erneut wurde hier Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Hilfe mit denen, die diese finanzierten, kontrastiert. In der gleichen Ansprache betonte Nixon, es sei verwerflich, der Familie, die versuchte sich aus eigener Kraft zu helfen, weniger staatliche Hilfe zukommen zu lassen als jener Familie »across the street«, die von welfare lebte.63 Jede wohlfahrtsstaatliche Ordnung, die es lohnenswert machte, keiner Arbeit nachzugehen oder die einen Mann ermutige, seine Familie zu verlassen, sei falsch.64 Interessant ist die Frage nach dem Charakter des FAP als garantiertes Mindesteinkommen vor allem mit Blick darauf, wer dieses Argument wie nutzte. Schnell wird deutlich, dass ein garantiertes Mindesteinkommen aufgrund fehlender Arbeitsanreize nicht nur als wirtschaftlich, sondern vor allem als moralisch schädlich verstanden wurde. In seiner Ansprache zu den Zielen des FAP äußerte Nixon im August 1969 seine Überzeugung: »Poverty is not only a state of income. It is also a state of mind, a state of health.« Daher musste Armut überwunden werden, ohne dabei den »Willen zur Arbeit zu opfern«, so Nixon, »[…] for if we take the route of the permanent handout, the American character will i tself be impoverished.«65 Während der FAP so zunehmend entlang der Themenfelder eines garantierten Mindesteinkommens und notwendiger Arbeitsanreize debattiert wurde, betonte Wilbur Cohen, dass Arbeitsanreize auch im Kern von Social Security lägen. In seinem Statement vom 18. Mai 1971 argumentierte der ehemalige SSA-Mitarbeiter und spätere Minister: »The Social Security program […] is not solely directed to relieving poverty. Nor do I believe it should be. Social security is designed to enable an incentive, risk-taking economy to function. It attempts to provide compensation to individuals who produce and take risks.«66 62 Nixon, Domestic Programs, 8.8.1969. 63 Ebd., »It is morally wrong for a family that is working to try to make ends meet to receive less than the family across the street on welfare.« 64 Ebd., »[…] any system which makes it more profitable for a man not to work than to work, or which encourages a man to desert his family rather than to stay with his family, is wrong and indefensible.« 65 Ebd. 66 Statement on H. R. 1 by Wilbur J. Cohen, Dean School of Education, The University of Michigan, Formerly Secretary of Health, Education and Welfare (1968), 18.5.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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Auch Cohen beschrieb damit in dieser Phase die positiven Effekte der Rentenversicherung mit der Vokabel des Anreizes, incentive, und der Einbettung in die Infrastruktur einer funktionierenden Volkswirtschaft. Ein Jahr später nutzte P. Richard Stoesser, Welfare Commissioner eines Countys in Michigan, drastische Worte, um die Bedeutung von Arbeitsanreizen öffentlich hervorzuheben: »Destroy the will to work and the United States is destroyed.« Mit dieser apokalyptischen Mahnung bekundete Stoesser seine Meinung zu einem garantierten Mindesteinkommen.67 Stoesser wurde als Experte im Sommer 1972 vor dem Ausschuss Ways and Means zu seinen Erfahrungen im Umgang mit welfare-Empfängern gehört. Ein von ihm vorangetriebenes Experiment, bei dem welfare-Empfänger gezwungen worden waren zu arbeiten, war durch einen Bericht auf der Konferenz der County Welfare Directors am 28. Juni 1972 landesweit bekannt geworden. Stoesser und ein Kollege beschrieben darin das Konzept eines garantierten Mindesteinkommens als generell schädlich für die Arbeitsmoral.68 Das Experiment von Midland County war eine Reaktion auf den auch hier besorgniserregenden Anstieg der welfare-Empfängerzahlen gewesen. Seine Kommune sei schließlich machtlos gewesen, schilderte Stoesser: »Our County Board of Commissioners concluded that no county and no society can stand these increases every year and still survive!«69 Daher entschied sich die Gemeinde 1971, diesen Zuwachs einzudämmen und welfare-Empfängern Hilfen nur noch auszuzahlen, wenn sie im Gegenzug in öffentlichen Bereichen arbeiteten. Positiv formulierte Stoesser: »[…] provide welfare recipients an opportunity to do something of value for others in their society.« Sogleich seien die public assistance-Ausgaben gesunken, während das County auf kostenlose Arbeitskräfte zurückgreifen konnte. Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten betonte Stoesser die Wirkung auf die Betroffenen, denen die Initiative verlorengegangene Selbstachtung zurückgegeben hätte: »[…] the most exciting and encouraging aspect of this program, was the positive response of the participants. The men did good work and many said they ›felt better because they were no longer getting something for nothing.‹ These participants seemed to be gaining self-respect by working. We believe our experience with a work opportunity program tends to support the statement that ›work is not a curse, but the only means to manhood and the only measure of civilization‹. […] The reason our Nation has been great is because our people have worked.«70
67 P. Richard Stoesser, County Commissioner, Welfare – Work Experience Summary, Midland County, Michigan, 1972, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 68 Stoesser u. William H. Shaker an Committee on Ways and Means, 20. Juni 1972, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 69 Stoesser, Welfare. 70 Ebd.
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Das Resultat seines Versuchs sah Stoesser als deutliches Argument gegen ein garantiertes Mindesteinkommen. Sein Experiment rief großes Interesse bei Verwaltungen im ganzen Land hervor und fügte sich in die parallele Debatte um den FAP. Daniel Moynihan begegnete Nixons wiederholten Aussagen, es handelte sich beim FAP nicht um ein garantiertes Einkommen, mit der lakonischen Feststellung, dass ein solches nicht unbedingt so genannt werden müsste. Damit deutete er an, dass Nixon lediglich seine konservativen Unterstützer besänftigen wollte.71 Da ein garantiertes Mindesteinkommen mittlerweile von Linksliberalen als kommende Entwicklungsstufe des Wohlfahrtsstaats gesehen wurde, wollte Nixon dieses rhetorische Terrain meiden.72 Moynihan war sich in der Rückschau des enormen Konfliktpotentials eines garantierten Mindesteinkommens bewusst: »There was simply no way to be subtle about a guaranteed income: it did raise the prospects of ›fundamental social change.‹«73 Analog hat auch der Soziologe Brian Steensland die Diskussionen um die Idee eines garantierten Mindesteinkommens um 1970 analysiert.74 Er hat den FAP als eine solche Form der bedingungslosen Unterstützung für alle beschrieben. Damit stellte die Debatte auch einen Test des Verständnisses der Amerikaner zur kulturellen Kategorie des Verdienstes dar. Bis hierhin hatte die Berechtigung zum Bezug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen unbestritten im beruflichen Status gelegen. Abhängig davon, ob und in welches System sozialer Sicherung jemand eingezahlt hatte, konnte er mit Versorgung bei Bedürftigkeit rechnen. Im Gegensatz dazu versprach ein garantiertes Mindesteinkommen, diese Transmission aufzugeben. Die wirtschaftliche Not sollte für die Versorgung aller Menschen maßgeblich sein und nicht länger allein die vorherige Leistung und der daraus abgeleitete Status. Die Perspektive auf Bedürftigkeit und Anrecht hätte sich radikal gewandelt. Die Antworten der Reformbefürworter auf den Vorwurf der FAP sei ein garantiertes Mindesteinkommen zeigen, wie negativ ein solches Konzept Anfang der siebziger Jahre wahrgenommen wurde. Zunehmend empfindlich fielen während der Anhörungen des Jahres 1970 die Antworten aus: »Under Family Assistance, however, income is not provided regardless of personal effort or attitudes.« Immer wieder wurde auch Nixon zitiert: »It would not be fair to those who willingly work, or to all taxpayers, to allow others to choose idleness when opportunity is available […] No able-bodied person will have a free ride in a nation that provides opportunity for training and work.«75 71 Vgl. Moynihan, S. 10. 72 Vgl. Burns, S. 133. 73 Moynihan, S. 396. 74 Das Ziel von Steensland ist es, Schemata der politischen Willensbildung in diesem Feld herauszuarbeiten, vgl. Steensland, S. 1274. 75 Außerdem sollten alle Empfänger durch ihre Social Security-Nummer registriert werden, vgl. Mills’ Vorbereitungen auf Argumente der ACU, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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Nixons Dementi hielten jedoch die FAP-Gegner nicht davon ab, den Plan weiter als garantiertes Mindesteinkommen zu diskreditieren. Selbst einer seiner Berater, der Ökonom Arthur Burns (1904–1987), verwies auf das historische Beispiel des Speenhamland System, um vor dem FAP zu warnen. Dieses um 1800 in England durchgeführte Experiment dient im angelsächsischen Raum noch immer als Mahnung vor jeder Form von garantiertem Mindesteinkommen.76 Im County Speenhamland hatte die Einführung einer Form des bedingungslosen Grundeinkommens die Menschen letztlich verarmen lassen: »Their productive capacity was drained, their independence destroyed, their self-respect shattered«, so Burns.77 Indem es als derart abträglich für die Arbeitsmoral dargestellt wurde, konnte ein garantiertes Mindesteinkommen die Lage von welfare-Empfängern nicht verbessern. Denn während eine positive Arbeitsethik ein Charakterzug der Mittelklasse war, erschien eine mangelhafte Einstellung zur Arbeit als Kernkritik an den AFDC-Empfängerinnen.78 Die Kritik, der FAP sei ein garantiertes Mindesteinkommen, war jedoch nicht der einzige Vorwurf, der die Debatte in Repräsentantenhaus und Senat begleitete. Viele skeptische Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nannten in ihrer Kritik am FAP die drohende Erosion der allgemeinen Arbeitsmoral. Besonders bezweifelten sie, dass die Reform genug Anreiz für die Empfänger der family assistance schuf, sich eine Arbeit zu suchen. In ihrer Korrespondenz zum FAP erinnerte auch Nixon Mills mehrmals, dass dies der Schlüssel zu einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat sei. Der Präsident stellte zugleich in Aussicht, Arbeitsplätze direkt durch die Bundesregierung schaffen zu wollen. Empfindliche Strafen sollten wiederum für alle eingeführt werden, die sich weigerten eine Arbeit anzunehmen.79
76 Der Ökonom Joseph Stieglitz gab im Jahr 2001 den Klassiker von Karl Polanyi erneut heraus, in dem das Speenhamland-Beispiel ebenfalls als Antithese einer nicht regulierten Marktwirtschaft verwendet wird. In Speenhamland musste jedoch Bedürftigkeit nachgewiesen werden und es ist umstritten, ob nicht ideologische Gegner das Projekt im Nachhinein als gescheitert darstellten, um ihre Reformvorstellungen des Elisabethanischen poor law durchzusetzen. 77 Zit. nach Moynihan, S. 179. 78 Burns verfasste unter anderem ein internes Memo, in welchem er Nixon explizit auf die Würde hinwies, die durch Arbeit erlangt würde. Würde man die working poor fortan als welfare-Empfänger klassifizieren, nähme ihnen dies die Würde, die sich eben auch aus dieser Abgrenzung speiste. Auch Martin Anderson, ein weiterer Berater Nixons, nutzte den Speenhamland Plan als abschreckendes Exempel, vgl. Steensland, S. 1295. 79 Vgl. Nixon an Mills, 31.3.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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Kritik am FAP aus den Staaten des Südens Politiker aus dem traditionell konservativen Süden standen dem FAP skeptisch gegenüber. Während der Debatte um den FAP zwischen 1969 und 1972 erhielt Nixon von hier keine nennenswerte Unterstützung,80 obgleich viele Familien im Süden davon profitiert hätten. Zur kritischen Haltung der zumeist demokratischen Gouverneure und Kongressmitglieder des Südens gegenüber Washington gesellte sich eine allgemeinere Ablehnung gegenüber dem Kurs der Demokraten im Rest des Landes, die seit 1964 die Geschlossenheit der Demokraten erheblich vermindert hatte. Die politische Hausse der Republikaner im Süden war demgegenüber auch Resultat der Bürgerrechtspolitik der beiden demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson. Die politischen Vertreter des Südens wechselten das Lager. Und auch der Republikaner Nixon war am Aufbrechen der demokratischen Vorherrschaft über den Süden beteiligt. Die southern strategy, die sein Berater Kevin P. Phillips (*1940) vorgelegt hatte, versprach den Republikanern das politische Übergewicht in Dixie, sofern es gelänge, den konservativen Vorlieben dort gerecht zu werden. Diese standen wiederum in engem Zusammenhang mit den Präferenzen der Mittelklasse. 1969 beschrieb Phillips das realignment der Südstaaten als die große politische Umwälzung der Dekade: »The great political upheaval of the Nineteen-Sixties is […] a populist revolt of the American masses who have been elevated by prosperity to middle-class status and conservatism. Their revolt is against the caste, policies and taxation of the mandarins of Establishment liberalism.«81
Neben seiner Prognose der Transformation der politischen Lager, sah Phillips aus den gleichen Gründen jedoch auch ein Scheitern des von einem republikanischen Präsidenten initiierten FAP voraus. Die konservativen Grundeinstellungen des Südens und das wirtschaftliche Interesse der Mittelklasse würden eine Reform wie den FAP unmöglich machen: »Poor people would be better off […] but the middle class, as well as persons on fixed incomes, could be badly hurt.«82 Da der FAP drohte, die Mittelklasse zur Verliererin zu machen und weil er das System billiger Arbeitskräfte in Frage stellte, von dem der Süden wirtschaftlich abhängig war, sah Philips ihn zugleich als inkompatibel zu den hiesigen politischen Präferenzen.83 Die dramatische Veränderung, die der FAP für den Südstaat Alabama bedeutet hätte, schilderte im Juni 1970 der Journalist Richard Armstrong für das Magazin Fortune: Für Adie Powell, die sich mit ihren Eltern und neun Kindern, ihrer Schwester und deren sechs Kindern eine Bleibe teilte, hätte sich alles ver80 Vgl. Moynihan, S. 376. 81 Phillips, Emerging, S. 470. 82 Zeitungskolumne von Philips vom 25.7.1970, zit. n. Moynihan, S. 377. 83 Ebd., S. 385.
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ändert.84 Pro Jahr summierte sich das Familieneinkommen auf etwas mehr als 6.000 Dollar. Powell arbeitete in einer Fabrik, während ihre Schwester welfare und ihre Eltern eine OASI-Rente bezogen. Nach Einführung des FAP hätte sich das Einkommen der vielköpfigen Wohngemeinschaft auf 12.000 Dollar verdoppelt. Ein solches Einkommen wurde zu dieser Zeit jedoch lediglich »by the white merchant and landowner class in Alabama’s black belt« bezogen.85 In Mississippi hätte sich das durchschnittliche Monatseinkommen von 1.538 auf 4.493 Dollar verdreifacht. In Georgia wäre ein Drittel aller Familien bezugsberechtigt gewesen. Da eine solche Reform die Machtstruktur in Georgia komplett in Frage gestellt hätte, wehrte sich vor allem Gouverneur und Segregationsverfechter Lester Maddox (1915–2003) dagegen. Für die Ablehnung des FAP unter den Afroamerikanern des Südens fand Armstrong jedoch keine andere Erklärung als ihre Antipathie gegenüber Nixon.86 So stemmten sich im Süden nicht nur weiße Konservative gegen die Einführung des FAP. Auch schwarze Politiker, Aktivisten und Familien misstrauten der Initiative Nixons. Der Argwohn, den sie ihm als Republikaner und Person entgegenbrachten, überschattete seine Reformpläne. Kritik am FAP aus Regierung und Kongress Unabhängig vom Ways and Means-Ausschuss untersuchten auch der Congressional Research Service und das Department of Health, Education and Welfare die FAP-Reformpläne.87 Die Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Kongresses bestätigte im Februar 1971, dass die stark angewachsene Zahl der AFDC-Empfängerinnen und die allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen der Impuls für die weitgehenden Reformvorschläge gewesen war: »Commentators and politicians at all levels of government are uniformly condemning the current welfare system as a ›mess‹ and in need of ›reform.‹«88 Bemerkenswert erschien den Kongressangestellten, dass weniger die Radikalität der Reformvorschläge beanstandet wurde, sondern vielmehr eine generelle welfare-Expansion. Die von Nixon in den Vordergrund gestellten Arbeitsanreize des FAP bezweifelte der Verantwortliche der Kongressanalyse, Frederick B. Arner (1924–2015). In seinen Augen handelte es sich um den Versuch, ein »guaranteed annual 84 Richard Armstrong, The looming money revolution down South, Fortune 6, 1970, S. 66–69. 85 Ebd., S. 67. 86 Vgl. Moynihan, S. 389. 87 Frederick B. Arner, The Administration’s Family Assistance Plan – Brief Analysis of Selected Issues Relating to Work Incentives, Library of Congress, Congressional Research Service, 9.2.1971, S. 1–48, Akte: H. R.1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; die Analysen des wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments konnten auf Anfrage eines einzelnen Abgeordneten durchgeführt werden, bevor sie nach einer kurzen Sperrfrist allen Abgeordneten zugänglich gemacht wurden. Damit stand die Analyse allen Kongressmitgliedern zur Verfügung. 88 Ebd.
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income« zu verwirklichen, welches, so der Befund, per se keinerlei Arbeitsanreize schaffe. Zugleich böte die wirtschaftliche Lage nicht die Beschäftigungsmöglichkeiten, auf der die Annahmen und Hoffnung der FAP-Befürworter beruhten. Arner sah die Reform deshalb als eine nicht wünschenswerte Erweiterung des Kreises von welfare-Empfängern.89 Da der FAP den gordischen Knoten aus gerechter Höhe und ausreichendem Arbeitsanreiz nicht lösen würde, beschied die Studie des Wissenschaftlichen Dienstes der Reform ein schlechtes Zeugnis. Damit bestätigte sich auch hier, dass 1971 das Problemgemenge aus garantiertem Mindesteinkommen und zu schaffenden Arbeitsanreizen im Zentrum der öffentlichen Debatte um den FAP stand. Dessen Verfechter begegneten der Anreizfrage mit einem arithmetischen Lösungsvorschlag. In einer technisch detaillierten Darstellung begannen sie, öffentlich die Funktion von sogenannten notches zu erläutern. Diese »Kerben« waren als Berechnungshilfen für die Höhe der family assistance vorgesehen. Sie sollten regelmäßig in angemessenen Höhen festgelegt werden. Verdiente jemand mehr als einen festgelegten Betrag, und überschritt so eine »Kerbe«, verringerten sich seine Leistungsansprüche. Kritiker, wie Arner, sahen auch diesen Vorschlag als impraktikabel: Kein ökonomisch rational denkender Empfänger würde eine solche Schwelle überschreiten wollen, sondern seine Arbeit in dem Moment niederlegen, in dem er durch mehr Arbeit letztlich weniger Geld verdiente.90 Eine intrinsische Motivation zu Arbeit und Unabhängigkeit wurde den voraussichtlichen Empfängern der f amily assistance damit wie selbstverständlich abgesprochen. Auch das HEW bereitete sich minutiös auf die FAP-Debatte vor. Stellvertretend hatte Nixon Staatssekretär John G. Veneman den Auftrag erteilt, am 24. Februar 1971 den FAP vor dem Committee on Ways and Means zu verteidigen.91 Die beiden prall gefüllten Akten, die der Republikaner zu seiner Anhörung mitbrachte, bündelten die Analysen seines Ministeriums. Diese basierten wiederum auf der Untersuchung von Ausschussprotokollen und Plenarprotokollen beider Kongresskammern. Auch die Argumente von Kritikern, wie etwa der American Conservative Union (ACU), waren in den Akten Venemans aufgearbeitet. Unter den Vorwürfen seiner Gegner hatten seine Mitarbeiter jeweils mögliche Entgegnungen vermerkt, um Veneman vorzubereiten. Ein Großteil dieser präparierten Antworten bezog sich auf die Diskussion um Arbeitsanreize. Vor allem die ACU, die sich zu Beginn des Jahres 1971 als eine der 89 Vgl. ebd., S. 2–3. 90 »A ›notch‹ is a place at which an amount of earnings actually results in a decrease in total income and benefits.«, ebd., S. 12. 91 »We believe that the Nation has the desire as well as the obligation to help its less fortunate citizens to the extent they are prepared to help themselves, and that the taxpayer does not begrudge this assistance as long as he is convinced that it is going to those truly in need.«, Statement of John G. Veneman, Under Secretary of Health, Education and Welfare, Before the Committee on Ways and Means, U. S. House of Representatives, S. 1–12, Akte: Legislative File – H. R.1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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schärfsten Kritikerinnen profiliert hatte, warf der Regierung vor, mit ihrer Initiative jeglichen Arbeitsanreiz zu ersticken. Wieder wurde auch das Label des Steuerzahlers für die Mittelklasse verwendet, als die parallel laufende ACUKampagne »Taxpayer’s Campaign Against the Family Assistance Plan«, Untertitel: »Guaranteed Annual Income« die Begriffsgrundlagen für die Auseinandersetzung legte.92 Venemans Entgegnungen zu den Vorwürfen der ACU drückten den Missmut gegenüber der Denkfabrik und ihrer FAP-Kritik aus: »We find it particularly ironic that the ACU does not recognize that the only way to end idleness is to require and to reward work. The only way to achieve a structural reform of this inefficient welfare system is to cover the so-called ›working poor,‹ so that families are not penalized for work effort. Only with this coverage can we construct a program in which it always pays to work.«93
Veneman versperrte sich den Vorwürfen, der FAP würde keine Arbeitsanreize schaffen und die Zahl der welfare-Empfänger vergrößern. Jedoch entkräftete er die stigmatisierende Verwendung des Begriffs welfare nicht. Er war mittlerweile zur semantischen Hürde für eine Reform des Wohlfahrtsstaats geworden, weil er Kritikern als einfach einsetzbare Waffe diente: Der belastete Begriff welfare und die Dystopie einer weiter wachsenden Empfängerzahl waren wirkungsvolle Argumente der Reformgegner. Die geplante family assistance wurde deshalb von ihren Gegnern als welfare bezeichnet, um sie von vornherein zu diskreditieren. Niemand wollte welfare empfangen. Dies galt besonders für Menschen mit geringeren Einkommen, die den quasi unwiderlegbaren Anspruch hegten, zur Mittelklasse zu gehören. Den FAP zu bekämpfen, indem man ihn als welfare kennzeichnete, erwies sich als wirkungsvolle Strategie. Die Regierung begegnete den Anwürfen jedoch nicht auf gleicher begrifflicher Ebene. Sie adressierte nicht die Sorgen der working poor, die fürchteten trotz Arbeitseinkommen in Zukunft zu welfare-Empfängern zu werden. Damit vergab sie die Chance auf Akzeptanz durch die working poor und damit jenen, denen der FAP besonders helfen sollte. Männer und Frauen, die trotz Arbeit arm waren, wähnten sich zumindest moralisch gegenüber Armen ohne Arbeit im Vorteil. Der Empfang von welfare drohte, diese Grenze aufzulösen. Auch eine alternative Benennung oder eine parallele Definition der neuen Hilfen, die von der stigmatisierten Vokabel welfare abweichen würden, bot Veneman nicht. Die Strategie der FAP-Verteidiger ruhte fest auf der Überzeugung, dass Arme bereit waren, zu arbeiten und dass ihre Arbeitsmoral ungebrochen 92 Die ACU stellte darüber hinaus Moynihan als Chefstrategen hinter den Plänen zum FAP dar. Seine demokratische Vergangenheit war besser geeignet Skepsis hervorzurufen als die konservative Vita Nixons. Die lakonische Antwort von Mills hingegen auf die Frage, wer hauptsächlich für den FAP verantwortlich sei, lautete: »The President.« Erklärung von Moynihan in Vorbereitung auf die Anwürfe der ACU, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 93 Ebd.
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war.94 Damit wich die Regierung dem Vorwurf der Vereinheitlichung der Empfängergruppen aus und konzentrierte sich lediglich auf individuelle »Faulenzer«. Die von law and order geprägte Rhetorik sowie die versprochene Fairness gegenüber den Steuerzahlern war von Veneman als die erfolgversprechende Taktik gewählt worden. Obwohl er sich damit dem Kostenvorwurf der ACU stellte, konnte er ihn nicht entkräften, da die Belastungen für die »average taxpayer« tatsächlich steigen würden. Venemans Einwand, dass der FAP langfristig günstiger als die AFDC sein würde,95 klang in den Ohren der Kritiker wie das Eingeständnis höherer Belastungen. Kritik von den Gouverneuren Reagan und Rockefeller Da ein wesentliches Merkmal des FAP darin bestand, den Staaten die Verwaltung aller reformierten Programme zu entziehen, blickten Vertreter der Einzelstaaten besonders genau auf die Reform. Unter den lautstärksten Kritikern befanden sich neben den Republikanern Reagan (Kalifornien) und Nelson Rockefeller (New York) auch Renegat Wallace (Alabama) und Demokrat Jimmy Carter (Georgia).96 Alle vier hinterfragten insbesondere die Finanzierung der Reform und die Bürde für ihre jeweiligen Staaten. Zudem nutzten sie die Debatte um sich mit Blick auf die Präsidentschaft bundesweit politisch zu profilieren. Da sie parallel zur Ausarbeitung des FAP mit wohlfahrtsstaatlichen Reformen experimentiert hatten, ließen sie ihre Erfahrungen nun in Forderungen an Washington einfließen. Schon zuvor hatten die Gouverneure politische Unterstützung durch ihre Kritik an den bundesweit verwalteten Bestandteilen des Wohlfahrtsstaats generiert. Ein verbreiteter Vorwurf lautete, dass Washingtons Behörden zu wenig gegen Betrüger, welfare chiseler, unternahmen. Der FAP sollte dem begegnen und die vermeintliche Nachsicht gegenüber dem Missbrauch wohlfahrtsstaatlicher Leistungen beenden. So waren rigorose Strafen für Väter vorgesehen, die in andere Bundesstaaten flohen, um so finanziellen Verpflichtungen gegenüber ihren Familien zu entgehen.97 Dieses Beispiel für ein strikteres Durchgreifen gegenüber säumigen Alimente-Zahlern begegnete dem Vorwurf, die Ursache für die hohen AFDC-Kosten läge auch bei pflichtvergessenen Vätern. Neben dem kalifornischen Gouverneur Reagan hatten auch Senatoren eine energischere Gangart gefordert. Einer von ihnen, der Demokrat Russel Long aus Louisiana, brandmarkte Anfang 1972 diese Flucht der Väter als »Cheating by Desertion«.
94 Allen anderen drohten Strafen:»No able-bodied person will have a free ride in a nation that provides opportunity for training and work.«, ebd. 95 Vgl. ebd. 96 Jimmy Carter an Mills, 18.6.1971, Akte: Legislative File H. R. 1 (Answered Correspondence), Box: 38, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 97 Dies sollte zu einem Bundesverbrechen erklärt werden, vgl. Mills, Floor Statement on H. R. 1.
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Er sah darin die verwerflichste Form des Betrugs in einer langen Liste von Tricks, welcher sich sogenannte welfare chiseler bedienten: »One of the worst types of cheating is the situation where the father […] deserts or abandons his family. This situation exists in 55.8 percent of the AFDC families […]. Six out of seven of the fathers of such children provide no support of any kind to the children they have sired. This is the most vicious form of cheating of them all and, unfortunately, […] the law actually encourages and fosters it – and so does the President’s welfare expansion plan.«98
Indem er Nixon ein zu nachsichtiges Vorgehen gegenüber Betrügern vorwarf und indem er die Reform als »welfare expansion« bezeichnete, zeichneten Long und auch republikanische Politiker ein negatives Bild des FAP. Ronald Reagan (1911–2004) hatte an der Westküste die Einführung des sogenannten work relief vorangetrieben. Wer Unterstützung erhielt, musste für eine öffentlichen Einrichtung arbeiten: »Work relief would require employable welfare recipients, including mothers, to take public service jobs, to qualify for their grants.«99 Wie auch im weiter oben beschriebenen Beispiel des Welfare Commissioner Stoesser aus Michigan waren derartige Auflagen nur für Leistungen erlaubt, an denen der Bund nicht finanziell beteiligt war,100 denn die 1935 mit dem Social Security Act gestarteten Zahlungen an die Einzelstaaten zu wohlfahrtsstaatlichen Zwecken unterlagen strikten Regeln. Sie wurden zwar in den Staaten verwaltet; jedoch durfte ihr Empfang nicht an Bedingungen geknüpft werden. Dies galt nur für komplett aus einzelstaatlichen Mitteln bereitgestellte Hilfen.101 Als Reagan Empfänger von Hilfsgeldern zur Arbeit verpflichtete, fand er zurück zu einer Vorgehensweise, die vor 1935 üblich gewesen war.102 Dennoch duldete das HEW Reagans Alleingang in Kalifornien auf Geheiß Nixons. Denn Reagan wusste einerseits die kalifornische Öffentlichkeit hinter sich und konnte, andererseits, Unterstützung unter den Republikanern mobilisieren. Das Wall Street Journal vermutete, dass Nixon den Gouverneur besänftigen wollte, um sich so wiederum dessen Beistand für die Präsidentschaftswahl von 1972 zu sichern.103 In Kalifornien war die Zahl der welfare-Empfänger mittlerweile auf fast eine halbe Million angewachsen, unter ihnen 70.000 Väter und 385.000 Mütter. Noch im Sommer 1971 wusste das HEW nicht, wie es auf Reagans Maßnahmen 98 Long, Welfare Cheating, 3.1.1972. 99 Jonathan Spivak, Nixon and Reagan Seem Headed for Clash On Welfare; Result Could Affect ›72 Race, The Wall Street Journal, 8.6.1971. 100 Stoesser. 101 Spivak. 102 Einige Ausnahmen aus der Zeit zwischen 1935 und seinem Regierungsantritt in Sacramento dienten Reagan als Präzedenzfälle. Schon 1962 waren work relief Programme zwischenzeitlich implementiert worden. Der Economic Opportunity Act von 1964 erlaubte ebenfalls befristete Maßnahmen, die an work relief erinnerten. 103 Vgl. Spivak.
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des work relief reagieren sollte, während sich Nixon gleichzeitig vorläufig bedeckt hielt. Warnungen vor dem Alleingang Reagans und dem so geschaffenen Präzedenzfall ignorierte er. Gleichzeitig waren die Sozialexperten des HEW sicher, das Vorgehen in Kalifornien unterminierte das Prinzip des bedingungslosen Anrechts auf wohlfahrtstaatliche Hilfe. Daher forcierte das Ministerium eine Hilfskonstruktion. Kalifornische Hilfsempfänger, die im Gegenzug für Unterstützung arbeiten gingen, erhielten zusätzliches Geld vom Bund als »incentive«.104 Dabei konnten aber Kalifornien zugleich nicht zu viele Zugeständnisse gemacht werden, denn die Regierungschefs anderer Staaten beobachteten die kalifornische Situation, um gegebenenfalls vergleichbare Hilfskonstruktionen einzufordern. An der Ostküste etwa kursierte ein zu Reagans work relief analoger Reformvorschlag: In New York hatte der republikanische Gouverneur Rockefeller (1958–1973) 1971 ein eigenes System von Anreizstrukturen entwickelt. Als Parteigänger Nixons stärkte Rockefeller dem Präsidenten in seinen Ansprachen der Jahre 1970 und 1971 den Rücken. Noch im Frühling 1971 ging er davon aus, dass der FAP mit einer Untergrenze der family assistance in Höhe von 2.400 Dollar verabschiedet würde. Mitglieder von AFDC-Familien, so Rockefeller, sollten dessen ungeachtet erst ihre soziale Verantwortung unter Beweis stellen, indem sie ihre Kinder regelmäßig in die Schule schickten: »Members of ADC [sic] families to have the opportunity to bring their payments to the full benefit level through supplemental incentive benefits for regular school atten dance and participation in work and work-training programs, as well as other programs designed to promote social responsibility.«105
Rockefellers Reform sah vor, dass Empfänger wohlfahrtstaatlicher Hilfen »incentive points«, also Anreiz-Punkte, sammeln mussten. Diese konnte eine Mutter erhalten, wenn ihre Kinder regelmäßig zur Schule gingen oder an außerschulischen Aktivitäten teilnahmen. Dass das Programm von Rockefeller bewusst komplementär zum FAP gestaltet worden war, belegt einerseits die zeitgenössische Einschätzung des FAP als realistische Option und andererseits die Kooperationsbereitschaft Rockefellers gegenüber Washington. Die Abstimmung mit dem FAP drückte sich darin aus, dass der durch den Bund finanzierte Anteil der FAP-Gelder uneingeschränkt bei den Empfängern ankommen sollte, während alle Anteile, die aus New Yorker Geldern stammten, durch incentive points verdient werden mussten. So blieben die Bundesgelder unbeeinträchtigt von lokalen Vorgaben. Rockefeller war kein Neuling im Wohlfahrtsstaat. Der spätere Vizepräsident hatte bereits in den frühen fünfziger Jahren als Staatssekretär im damals neu gegründeten HEW bundesstaatliche welfare-Programme untersucht.106 Als sich 104 Vgl. ebd. 105 Nelson A. Rockefeller, Presseerklärung, 28.3.1971, S. 7. 106 Zu Rockefellers früher Karriere vgl. den ersten Band des Standardwerkes von Reich.
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der Spross der New Yorker Finanzdynastie im Frühjahr 1971 mehrfach für eine Reform des Wohlfahrtsstaats aussprach,107 bezeichnete er die Herangehensweise des War on Poverty von Johnson als überholt und kostspielig. Viele Einzelstaaten stünden noch immer vor erheblichen finanziellen Herausforderungen, weshalb die Amerikaner mit Recht empört reagierten.108 Insbesondere beklagte Rockefeller das geografische Gefälle bei den welfare-Summen, wodurch es zu einer regelrechten Süd-Nord-Migration gekommen war. Da Hilfsbedürftige in großzügigere Staaten wie New York zogen, fielen hier höhere Lasten für die Steuerzahler an: ein Teufelskreis, der letztlich Unternehmen und damit Arbeitsplätze in diesen Staaten gefährdete. Dadurch sei welfare ein nationales Problem geworden, das einen bundesweiten Ausgleich und eine nationale Lösung benötigte. Immer wieder verortete Rockefeller die Verantwortung für eine konsolidierte Lösung dieses sozialen und finanziellen Problems im Weißen Haus: »[S]ince welfare is a national problem, it should be dealt with by the national government. Obviously, the federal government is in the best position to solve both the human and the fiscal aspects of this problem by taking over the entire welfare responsibility on the basis of establishing national standards and paying the full costs.«109
Der Makel des aktuellen Systems läge darin, dass es welfare-Empfänger ihrer Würde und ihres Selbstvertrauen beraubte: »Many aspects of the present welfare system actually undermine rather than strengthen the dignity and self-respect of the individual and discourage the desire and initiative to work, to achieve self-sufficiency and independence and to accept responsibility.«110
Als Lösung schlug Rockefeller vor, Arme in ihre Heimatstaaten zurückzuführen.111 Ein »voluntary resettlement program« sollte etabliert werden, um sie in Regionen zu schicken, »where a job and housing are available«.112 Auch wer nicht allein aufgrund wohlfahrtsstaatlicher Zahlungen nach New York gekommen war, sollte des Staates verwiesen werden können. Dies zeigt, zu welch drastischen Maßnahmen die Staaten mittlerweile bereit waren.113 107 Nelson A. Rockefeller, To Save Our Cities: New Concepts For Changing Times. A Special Message by Governor to the New York State Legislature, 21.4.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; Rockefeller, Presseerklärung, 28.3.1971, S. 1–12, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 108 Vgl. ebd., S.1. 109 Ebd., S. 2. 110 Ebd., S. 3. 111 »[…] welfare officials would be authorized to make emergency grants including transportation back to the point of origin for dependent new arrivals […]«, ebd., S. 6. 112 Ebd. 113 Obwohl Rockefeller zum moderaten Flügel der Republikaner gezählt wurde, war er für sein hartes Durchgreifen, vor allem in der Drogenpolitik, bekannt.
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Als sich die öffentliche Meinung und die Senatsmehrheit Ende 1971 gegen den FAP wandten, rang Wilbur Mills, der Vorsitzende des Ways and Means-Ausschusses, weiter um dessen Implementierung. Seine Mitabgeordneten nahm er bei der Jagd auf das »Monster« AFDC in die Pflicht, da es von Ungerechtigkeiten und Missbräuchen geprägt sei. Noch immer könnten Stiefväter der finanziellen Verantwortung für ihre neue Familie ausweichen.114 Noch immer konnten Frauen mehrmals monatlich in das »welfare office« gehen, um dort mehrfach die gleiche Hilfe zu erhalten. Mills reagierte damit auf die hohe Zahl von Betrugsfällen, die Reformgegner wie Senator Long der Regierung vorwarfen. Dieser berichtete währenddessen in Fernsehinterviews von echten und fingierten Fällen, in welchen sich Ämter bei der Mehrfachauszahlung von AFDC blamiert hatten. Die vorgetäuschten Fälle, die von der Regierung als Tests initiiert worden waren, schlossen etwa in Kalifornien eine ganze Reihe von falschen Anträgen ein, von denen auch Gouverneur Reagan wusste und die dieser im Anschluss als Beleg für die mangelnde Effizienz des Systems heranzog. Dabei war es Frauen möglich gewesen, sich unter Decknamen bis zu fünfmal Hilfe zu erschleichen. Die Darstellung der Betrugsfälle hob meist die Inkompetenz und das Desinteresse der Sachbearbeiter hervor, die sie überhaupt ermöglicht hätten. Senator Long schilderte gerne den besonders beschämenden Vorfall, bei dem eine Frau in Begleitung ihrer vier Töchter diese als Söhne in ihren Antrag schrieb und damit erfolgreich war.115 Mills versprach, dass alle Empfänger von welfare in Zukunft schärfer kontrolliert würden: »Today, once a family gets on welfare for any length of time, welfare too often becomes a way of life. [The FAP] would not permit this.«116 Jeder Betrug sollte so im Keim erstickt werden, um den Empfang von AFDC nicht zum Lebensinhalt von Familien werden zu lassen. Gesellschaftliche Kritik Wie auch die Reformen der frühen fünfziger Jahre wurde die Ausarbeitung des FAP von großer öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet. Zeitungen berichteten und kommentierten, Nachrichtensendungen interviewten Experten und Abgeordnete erhielten von ihren Wählern Post, die sie dann an die Spezialisten im Committee on Ways and Means weiterleiteten. Wie schon in den Briefen an das Curtis Committee erhielten Mills und seine Mitarbeiter von 1969 bis 1972 etliche Anfragen zur geplanten Reform.117 Die Antworten von Mills und seinem Stab 114 Diesen »Tatbestand« hatte Senator Long kurz zuvor als den verwerflichsten beschrieben: »If he is acting like the man of the house and enjoying the privileges of the man of the house, why shouldn’t he be obligated to bear the burdens of the man of the house?«, Long, Welfare Cheating, 3.1.1972. 115 Diese und weitere Betrugsfälle schilderte ebenfalls Long, vgl. ebd. 116 Mills, Statement on the Motion to Strike Title IV, Juni 1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 117 Es schien, als hatte so gut wie jede Behörde oder Vereinigung in den USA, die sich mit welfare und Altersabsicherung befasste, einen Brief an Mills’ Ausschuss geschrieben zu haben.
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waren dabei fast immer identisch, weil auch die Fragen in eine Handvoll Themengebiete kategorisiert werden konnten. Die meisten Abgeordneten, an welche die Anfragen zur geplanten Reform ursprünglich gingen, schienen froh zu sein, diese an Mills weiterleiten zu können. Ihre Pflicht sahen sie dann als erfüllt, wenn sie Mills’ Antwort an die ursprünglichen Fragesteller weitergeleitet hatten.118 Während der Diskussionen um die Verabschiedung des Gesetzespakets H. R. 1, dem zweiten Versuch den FAP zu verwirklichen, stammte ein großer Teil der individuellen Kritik von Rentnern. Einer dieser Rentner schilderte seinem Abgeordneten und späteren Präsidenten Gerald Ford, dass er nicht einsehen konnte, weshalb der Kongress eine pauschale Rentenerhöhung plante. Schließlich profitierte so überdurchschnittlich, wer bereits eine höhere Rente bezog: »The way of 10 % to all is making the rich richer & the poor poorer it is illiminateing [sic] the middle class, so Jerry please, look into this if possible.«119 Auch wenn der Begriff hier nicht ganz korrekt buchstabiert war: Die Furcht vor der Eliminierung der Mittelklasse wurde in den Briefen an Ways and Means Anfang 1971 mit Nixons Reform verbunden. Sie drohte, die Zahl der Armen und Reichen ansteigen zu lassen, was viele Absender in einem Nullsummenspiel für die Dezimierung der Mittelklasse verantwortlich machten. Ein Vorschlag von Leslie W. Hunter, dem Leiter des Social Services Department der University of Oregon Medical School, riet im Februar 1971 dazu, alle Frauen in die Kategorien beschäftigungsfähig oder »suited for homemaking only« zu unterteilen. Die Gruppe der zweiten Kategorie könnte als Tagesmütter die erste Gruppe unterstützen und profitierte gleichzeitig von einem »equivalent of work or self-improvement.«120 Am 8. April 1971 kündigte ein Vertreter der United States Catholic Conference an, die Reformpläne zu unterstützen, solange zwei Personengruppen nicht unter die Arbeitspflicht fielen: Mütter schulpflichtiger Kinder und Menschen, die für kranke Verwandte sorgten.121 Da auch die Pennsylvania Catholic Conference den gleichen Wortlaut in ihrem Schreiben verwendete, schien es sich um eine größere katholische Initiative zu handeln.122 Dutzende Boxen, voll mit Briefen und Telegrammen, zeugen heute im Archiv des Repräsentantenhauses von der Intensivität der Debatte um den FAP. 118 Siehe Boxen: 34–41, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233. 119 Leo Fitch an Gerald R. Ford, 23.1.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Answered & Unanswered Corresp.), Box: 41, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 120 Leslie W. Hunter, ACSW Director, an Mills, 16.2.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 121 James L. Robinson, Director Catholic Conference, an John E. Cosgrove, Director Department of Social Development, United States Catholic Conference, Statement on Welfare Reform, 8.4.1971, Akte: H. R.1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 122 Howard J. Fetterhoff, Executive Director Pennsylvania Catholic Conference, an Mills, 20.4.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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Gemeinsam mit dem Vorschlag von Hunter gibt sie einen Eindruck von der Bandbreite und von den Forderungen an Mills, die aus nahezu allen Teilen der Gesellschaft und den dazugehörigen Interessensvertretungen kamen. Während beispielsweise Unternehmer die Einfachheit schätzten, die der FAP verhieß, und so auf eine Überwindung der Unübersichtlichkeit wohlfahrtsstaatlicher Regelungen und Behörden hofften, stellte sich die U. S. Chamber of Commerce gegen den Vorschlag.123 Obwohl auch niedrige Löhne auf diese Art staatlich bezuschusst worden wären, fürchteten Vertreter der Handelskammer, dass Geringverdiener als welfare-Empfänger stigmatisiert würden. Eine solche Entwicklung barg in ihren Augen die Gefahr, Menschen aus dem wichtigen Arbeitskräftereservoirs der working poor in die Arme der Gewerkschaften zu treiben, da sie keine »Almosenempfänger« werden wollten. Doch auch die Gewerkschaften lehnten den FAP ab. Die Begründung lässt sich aus einem Statement des Leitungsgremiums der AFL-CIO, des Executive Council, ablesen, welches die mitgliederstärkste Gewerkschaft des Landes im Februar 1971 an nahstehende Abgeordnete verschickte.124 Die AFL-CIO forderte darin eine grundlegende Anpassung des Reformvorschlags, da dieser den working poor nicht ausreichend helfen würde. Sie sollten aber im Zentrum künftiger Reformen stehen. Dass Nixon für die working poor aktiv werden müsse, untermauerten die Arbeitnehmervertreter mit Zahlen: Ihren Berechnungen zufolge lag die Zahl der Amerikaner, die voll arbeiteten, ohne davon leben zu können, bei 5,5 Millionen. Um sie zu unterstützen sollten der Mindestlohn auf zwei Dollar angehoben und mehr Jobs geschaffen werden. Die Summe von 1.600 Dollar, die 1969 als jährliche family assistance in Aussicht gestellt worden war, bezeichnete die AFL-CIO als indiskutabel niedrig.125 Darüber hinaus kritisierte die Gewerkschaft eine aus ihrer Sicht zu hohe marginal tax rate, die der FAP begünstigen würde. Dieser Steuersatz beschrieb den Teil des Einkommenszuwachses, der verloren ging, wenn man mit höherem Einkommen auch in eine neue Steuergruppe fiel.126 Diese Thematik betraf eine breite Schicht von auch besserverdienenden Arbeitnehmern. Die Gewerkschaft verfolgte damit eine zweigleisige Kampagne gegen die Reformvorschläge, indem sie rechts- und linksorientierte Themenschwerpunkte setzte. So kritisierte sie den FAP als nicht gut genug für Geringverdiener, bezog mit dem Thema der marginal tax rate aber auch die Interessen von Besserverdienenden mit ein. Ähnlich gingen auch konservative Interessensgruppen vor, die ihre Basis 123 Vgl. Steensland, S. 1276. 124 Statement by the AFL-CIO Executive Council on Welfare Reform, Bal Harbour, Florida, 15.2.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 125 Vgl. ebd. 126 Dieser Einkommenszuwachs wird im Deutschen »kalte Progression« bezeichnet. Ein einfaches Beispiel erklärt die Berechnung der marginal tax rate: Das Einkommen steigt um 500 Dollar. Wächst dadurch die Steuerschuld um 250 Dollar, betrug die marginal tax rate 50 Prozent. Eine parallel verwendete Bezeichnung hierfür lautete bracket creap.
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zu erweitern suchten, indem sie Arme in ihre Argumentation einbezogen. Die Debatte wurde so mit generelleren Themen aufgeladen und in weiten Teilen der Gesellschaft ausgetragen. Parallel zur Kongressdebatte meldeten sich 1971 neben der AFL-CIO weitere Gewerkschaften sowie Arbeitgeber- und Interessenverbände aller Branchen zu Wort. In einem gemeinsamen Statement richteten drei große Verbände von Versicherungsunternehmen ihre Kritik direkt an Mills’ Ausschuss. Gemeinsam wandten sich die American Life Convention, die Life Insurance Association of America und die Life Insurers Conference gegen den FAP. Sie zeichneten ein Bild der amerikanischen »Normalfamilie«, die von Leistungen des Wohlfahrtsstaats unberührt bleiben sollte. Das Maximum staatlicher Verantwortung, so die Lebensversicherer, dürfte nicht das übliche Einkommen eines durchschnittlichen, berufstätigen Mannes überschreiten. Dieses Durchschnittseinkommen sahen sie als angemessene Trennlinie, »appropriate dividing line«, zwischen staatlicher Verantwortung auf der einen und privaten Verträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf der anderen Seite.127 Alle staatlichen Lösungsansätze, die in diese Sphäre eingriffen, gefährdeten die Eigenständigkeit der Mittelklasse. Diese Kritik teilte auch der konservative Thinktank ACU, der vor allem die Kosten für »average taxpayer« beklagte.128 So würde die Mittelklasse letztlich den FAP und damit ein garantiertes Mindesteinkommen finanzieren müssen: eine klare Warnung vor den Konsequenzen der Regierungspläne.129 Einen anderen Blick eröffnete die unabhängige League of Women Voters of the United States mit ihren Erwartungen an eine wohlfahrtsstaatliche Reform. Die Präsidentin der 1920 gegründeten Organisation, Lucy Benson (*1927), sandte Mills am 1. Februar 1971 ihr Statement.130 Der Vereinigung, die sich für eine Stärkung der Frauenrechte einsetzte, war eine Vereinfachung der Auszahlungen wohlfahrtsstaatlicher Hilfen wichtig. Sie sah die Regierung in der Pflicht, Armen zu helfen und Standards für Einkommen und Gleichbehandlung festzulegen. Bedürftige sollten ihre Not allein durch eine einfache Eigen erklärung, eine »declaration of need«, bekunden, deren Richtigkeit notfalls 127 Memorandum Life Insurers Conference an Mills, 2.2.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 128 Vgl. ebd. Die ACU ist der älteste und einflussreichste konservative Think Tank der USA. Er wurde 1964 nach der Niederlage des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater gegründet und betreibt bis heute Lobbyarbeit. 129 In einer Bewertung des Plans heißt es im Sommer 1971: »The plan is a socio-economic plan designed to turn over the major burden of welfare to the Federal Government. The most controversial provision of the welfare program is the ›family assistance plan,‹ better known as a guaranteed annual income.«, Rundschreiben der NWRO, Juli 1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 33, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 130 Lucy Benson, The League of Women Voters, Statement of Position on Welfare Reform, an Committee on Ways and Means, 1.2.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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durch Stichproben kontrolliert werden sollte. Die League verstand damit auch weiterhin die Regierung als regulierende und Standards setzende Instanz. In dieser Rolle sollte sie Hilfsempfänger jedoch unbedingt zur Arbeit ermutigen. Die spätere Staatssekretärin im Außenministerium Benson verstand jedoch in der Berufstätigkeit weder ein universelles Mittel gegen Armut noch gegen die steigende Zahl von welfare-Empfängern. Eine ihrem Schreiben beigefügte Dokumentation unterstrich dies. Demnach waren mehr als 7,4 Millionen Menschen trotz Vollzeitanstellung arm, darunter 4,4 Millionen weiße und 700.000 afroamerikanische Männer; 1,5 Millionen weiße und 800.000 afroamerikanische Frauen blieben trotz Arbeit arm.131 Im Juni 1969 hatten zehn Millionen Menschen Bargeldhilfen erhalten. Von diesen war jeder fünfte alt und bedürftig; 770.000 Empfänger waren blind, 760.000 körperlich oder geistig behindert und 1,67 Millionen empfingen in ihrer Rolle als Elternteil oder Sorgeberechtigte von insgesamt 4,9 Millionen Kinder Hilfe. Damit waren in der Rechnung der League die Hälfte aller welfare-Empfänger Kinder. Von deren Erziehungsberechtigten galten nur 702.000 als beschäftigungsfähig. Trotzdem arbeitete von den dabei einbezogenen 564.000 Müttern bereits jede zweite. Die restlichen 138.000 Väter, die theoretisch arbeiten konnten, benötigten mindestens ein Jahr der Vorbereitung, um ins Arbeitsleben zurückkehren zu können. Die 965.000 übrigen erwachsenen welfare-Empfänger waren nicht beschäftigungsfähig, da sie Eltern von Kleinkindern oder physisch zu stark beeinträchtigt waren.132 Damit legte die League zwar keine Alternative zum FAP vor, forderte aber eine weitere Erleichterung der Auszahlungen von wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung. Für Lucy Benson bargen die eingeplanten Arbeitsanreize nur begrenzt Aussicht auf Erfolg, da die schiere Menge der prinzipiell nicht einstellbaren Personen zu hoch war. Schließlich würde auch Zwang die Gruppe der hilfsbedürftigen Personen nicht dazu bringen, arbeiten zu können. Vergleichbar legten auch andere bürgerschaftliche Organisationen diese zentrale Schwäche von Anreizsystemen offen, die auf der Annahme basierten, dass Armen lediglich die richtige Motivation fehlte. Wie für blinde, behinderte oder alte Menschen gab es auch bei Erziehungsberechtigten in armen Familien Gründe, die eine Arbeit nicht zuließen. Die Forderung der League of Women Voters lautete daher nicht, weitere oder bessere Anreizsysteme zu entwickeln. Vielmehr sollte grundlegend akzeptiert werden, dass es Barrieren gab, die jemanden von der Arbeit abhielten und damit auch hilfsberechtigte Arme, die nicht arbeiteten. Andere Organisationen, die sich wie auch die League für die Rechte von Benachteiligten und Minderheiten einsetzten, begegneten dem FAP ebenfalls skeptischer, als Nixon erwartet hatte. Dazu gehörte auch die 1966 gegründete National Welfare Rights Organization (NWRO), die sich für welfare-Empfänger 131 The League of Women Voters, Human Resources Fact Sheet, Januar 1971, Akte: Legislative File – H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 132 Vgl. ebd.
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engagierte und mit einer Mitgliederzahl von zwischenzeitlich 25.000 eines der wichtigsten Sprachrohre armer Amerikaner war. Die NWRO nutzte in ihren Schreiben an das Committee on Ways and Means eine auf ökonomischen Kennzahlen aus Regierungsberichten fußende Armutsdefinition. Dazu gehörte insbesondere der Bericht »Poverty Amid Plenty«, den eine durch den Präsidenten einberufene Kommission 1969 vorgelegt hatte. Er stellte nicht nur Armutsmerkmale dar, sondern kontrastierte sie auch mit den vermeintlichen Eigenschaften der amerikanischen Durchschnittsfamilie. Die Armutsgrenze richtete sich, als Orientierungsmarke für viele wohlfahrtsstaatliche Leistungen, nach einer Berechnung des Landwirtschaftsministeriums. Dieses hatte bestimmt, was eine eben noch ausreichende Ernährung für einen Haushalt kostete, woraufhin die Armutsgrenze als das Dreifache dieser Summe festgelegt wurde. Nach einigen inflationsbedingten Anpassungen lag die Armutsgrenze 1968 für eine vierköpfige Familie bei 3.553 Dollar.133 Die Beschwerden der NWRO gegen den FAP stellten immer wieder die vermeintlich unzureichenden Leistungen heraus. Anfang 1971 erarbeitete daher HEW eine längere Antwort, in der das Ministerium auf fast fünfzig Seiten auf Beschwerden der NWRO einging und diese zu entkräften versuchte.134 Nichts sollte den FAP gefährden. Dem Vorwurf, die family assistance sei für das Auskommen einer Familie zu gering, entgegnete HEW, ihre Höhe sei von der NWRO falsch berechnet worden. Die Zahlungen würden eine Verbesserung der Lebenschancen und des Lebensstils »of the 5 million children in working poor families« bedeuten. Dies galt vor allem in jenen Staaten, wo die family assistance höher als AFDC war. Viel wichtiger aber war die Erweiterung der Gruppe derer, denen nun geholfen werden sollte. Zuvor vergessene Familien gelangten dank FAP unter den Schutz des Wohlfahrtsstaats: »This is especially true for persons in male-headed, working poor families. This group constitutes the major portion of new recipients, and is a group traditionally not represented by any organized group.«135 Damit beanspruchte das HEW gleichsam die Patronage dieser Empfänger.136 Die Höhe der family assistance wurde dagegen weiterhin, teils absichtlich, fehlinterpretiert,137 wobei sie oft der Armutsgrenze gegenübergestellt wurde. Da sie deutlich darunter lag, erschien sie auf den ersten Blick als unzureichend 133 Zur Berechnung der Armutsgrenze vgl. ebd; sie war für Farmfamilien niedriger angesetzt, da man davon ausging, dass diese sich zum Teil selbst versorgen konnten. 134 Administration Responses to NWRO Grievances with Respect to H. R. 1, HEW, 16.1.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 135 Ebd. 136 Ebd., diese Zielgruppe, in welcher der Vater arbeiten ging, hat auch Berkowitz als wichtigste Zielgruppe erkannt. Für sie hätte sich der FAP am meisten gelohnt, vgl. Berkowitz, America’s, S. 130. 137 Sie war in den Planungen im Laufe des Jahres 1970 von 1.600 auf 2.400 Dollar erhöht worden.
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und dank vieler Ausnahmeregelungen und Zusatzbestimmungen komplex. Da sie durch andere Maßnahmen und Leistungen wie Essensmarken ergänzt werden konnte, stellte die family assistance allerdings lediglich eine Grundsumme dar. Familien konnten Geld hinzuverdienen, ohne sofort alle Ansprüche zu verlieren. Zahlungen für Kinder und vergleichbare öffentliche Hilfen hätten weiterbestanden.138 Hinzu kam ein breiter Strauß an Maßnahmen, der verwirklicht werden sollte, um Menschen den ersten oder erneuten Einstieg ins Arbeitsleben zu erleichtern. Die Regierung warf der NWRO vor, diese Bemühungen aus Kalkül zu verschweigen.139 Diese brandmarkte jedoch im Gegenzug die versprochenen Vermittlungsbemühungen als Schikane und nicht Unterstützung.140 Dass Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Hilfen arbeiten gehen mussten, wurde als zerstörerisch für das Familienleben charakterisiert. Dem stand wiederum eine völlig andere Sicht des Ministeriums entgegen: »It is not true that work ›destroys family life;‹ on the contrary, it is well established that work fosters independence and pride – on the part of the children as well as the adults.«141 Berufstätigkeit galt den Befürwortern des FAP als Quelle des Stolzes und der Unabhängigkeit, wie auch Nixon es in seiner Augustrede von 1969 vorgestellt hatte.142 Dass die Regierung plante, bedürftige Mütter zur Arbeit zu verpflichten, wertete die NWRO als Bruch mit wohlfahrtsstaatlichen Traditionen der USA. Die Verfasser des FAP konterten mit einer Gegendarstellung, in der sie anführten, dass siebzig Prozent aller alleinstehenden Mütter, die nicht AFDC bezogen, arbeiteten. Es erscheine damit »unreasonable to expect less of one group than economic necessity imposes on another«.143 Auch mit ihren konkreten Gegenvorschlägen zum FAP, welche die NWRO vorgelegt hatte, beschäftigte sich das Ministerium. Die Organisation hatte gefordert, jeder Familie im Rahmen des FAP ein Auskommen von 6.500 Dollar pro Jahr zu garantieren, welches damit deutlich über der Armutsgrenze gelegen hätte. Die Gesamtkosten dieses Vorschlags beliefen sich laut HEW auf Kosten in
138 Vgl. Statement of John G. Veneman. 139 Vgl. ebd. 140 Kritik aus anderer Richtung, wie etwa an den Abgeordneten Al Ullman aus Oregon, der sein eigenes Reformprojekt vertrat, entgegnete man: »As for being easy to get on, the new welfare system would be very tightly administered, following the successful methods used in social security programs, and it will be easy, rather than hard, to get off because of the work incentives in the program. The Administration’s whole reform program is based on the fundamental, Mills an Ullman, 27.7.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 141 Administration Responses to NWRO Grievances with Respect to H. R. 1. 142 Mehrere zeitgenössische Beobachter kritisierten, Nixon habe es sich in seiner Rede mit einem Rekurs auf altbekannte Bilder sehr einfach gemacht. Von einem hieß es, Nixon habe für die Armen die protestantische Arbeitsethik lediglich neu aufgewärmt: »Whether or not the poor would appreciate that, he was quite certain the middle class would; and, he was right.«, Paul Fideler, zit. n. Moynihan, S. 270. 143 Administration Responses to NWRO Grievances with Respect to H. R. 1.
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Höhe von mehr als siebzig Milliarden Dollar über den aktuellen. Zudem würde mehr als die Hälfte der Bevölkerung so zu family assistance-Empfängern werden.144 Zustimmung signalisierte die NWRO jedoch in der Einrichtung einer eigenen Behörde für die Verwaltung der family assistance, die dem HEW unterstellt sein sollte. Obwohl auch die SSA dieser Aufgabe gewachsen sei, sprach sich die NWRO gegen die Zusammenlegung mit der Administration der sozialversicherungsbasierten Rente aus. Damit unterstützte auch die Organisation der welfare-Empfänger die strukturelle Zweiteilung des Wohlfahrtsstaats. Wenig später zeigte sich, dass auch andere wohltätige Organisationen die Kritik der NWRO teilten. Aus Pennsylvania etwa meldete sich im Oktober 1971, nach der Verabschiedung im Repräsentantenhaus und während der Senats debatte, die Greater Philadelphia Federation of Settlements, ein Zusammenschluss humanitärer Vereinigungen, mit Verbesserungsvorschlägen bei Wilbur Mills. Auch sie fürchtete, die family assistance sei zu gering. Gleichzeitig argwöhnte ihr Vertreter, der Mindestlohn würde in Zukunft nicht mehr angemessen angepasst werden. Die Kombination dieser beiden Faktoren wiederum drohte, die Verbrechensrate steigen zu lassen. In der Gesamtschau des Zusammenschlusses aus Philadelphia wurde der FAP daher als besonders unvorteilhaft für die Bewohner des Nordostens der USA bewertet.145 Mehr noch: Der Verbund behauptete, dass lediglich die bedürftigsten Familien der fünf ärmsten Südstaaten profitieren und vier von fünf Kindern in AFDC-Familien außen vor bleiben würden. Die jährliche veranschlagte family assistance von mittlerweile 2.400 Dollar müsste zwangsläufig durch die Einzelstaaten aufgestockt werden. Da die durch die Bundesregierung festgesetzte Armutsgrenze von 3.960 Dollar für eine vierköpfige Familie bereits deutlich über dieser Summe lag, wäre Armut damit bei weitem nicht überwunden. Außerdem würden alle Empfänger, die älter als 16 Jahre alt waren, gezwungen sein, für einen Stundenlohn von 1,20 Dollar arbeiten zu gehen, was zu diesem Zeitpunkt nur drei Vierteln des Mindestlohns von 1,60 Dollar entsprach. Lediglich Mütter von Kindern unter drei Jahren waren davon befreit. Ältere Kinder müssten zur Betreuung in Kindertageseinrichtungen gegeben werden. Da hierbei wiederum keinerlei landesweite Qualitätsstandards galten, lehnte die Greater Philadelphia Federation of Settlements den FAP ab. Wieder waren, wie auch im Falle der NWRO, Repräsentanten Bedürftiger der Auffassung, die Reform würde Mütter von ihren Kindern trennen.146 Dies war ein typischer Vorwurf vergleichbarer 144 Ebd.; um ihren Gegenvorschlag günstiger darzustellen, hatte die NWRO ihn Agrar subventionen, Hilfen für die Ölindustrie und dem Etat des Verteidigungsministeriums gegenübergestellt: NWRO an Ways and Means, 16.3.1971, Akte: Legislative File – H. R. 1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 145 S. Allen Bacon, Executive Director Greater Philadelphia Federation of Settlements, an Mills, 29.10.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 146 Vgl. ebd.
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sozialer Organisationen. Auch die Iowa Welfare Association lehnte die Reform vorschläge im November 1971 aus diesem Grund ab. Wie viele andere bemängelte sie die zu niedrige family allowance und das Fehlen automatischer Anpassungen, die etwa für Social Security im Gespräch waren.147 Auf die Öffentlichkeitsarbeit der wohltätigen Vereinigungen reagierte wiederum die Handelskammer, die nun hinter der gesamten Reform – auch den Bestandteilen, die die Rente betrafen – einen Angriff auf Familien mit mittleren Einkommen vermutete. Durch die geplante Anhebung der wage base, der Obergrenze bei der Rentenberechnung, auf 12.000 Dollar würden die Rentenbeiträge von Arbeitnehmern mit mittleren Einkommen um 142,20 Dollar pro Jahr steigen. Neben speziellen Anschreiben an die Mitglieder des Rules Committees versendete die Chamber auch eine allgemeine Einschätzung zum Reformvorschlag.148 Hierin wurde davor gewarnt, dass das »›ability to pay‹ principle«, das bereits aus der Einkommensteuer bekannt sei, auch auf die Social SecurityBeiträge übertragen werden könnte. Auch dies würde mittlere Einkommen über Gebühr belasten. Außerdem bezogen die Wirtschaftsvertreter Stellung gegen den Reformvorschlag der NWRO. Er orientierte sich am FAP, sah dabei jedoch höhere Auszahlungssummen und Bemessungsgrenzen vor. Noch negativer als dessen hohe Kosten bewertete die Handelskammer die Aussicht, dass mit einem Schlag bis zu 25 Prozent der Bevölkerung welfare beziehen würde. Jeder Arbeitsanreiz wäre in sein Gegenteil verkehrt: »What will happen to us as a Nation, if a guaranteed income serves us as a disincentive for 25 per cent of our people – instead of providing the promised incentive?«149 Weil die Vorschläge der NWRO und anderer linker Gruppen die Regierung scheinbar erfolgreich beeinflussen würden, entschied sich die Handelskammer letztlich, nun konsequent Gegenposition zu allen Reformvorschlägen einzunehmen, die dem FAP auch nur ähnelten. Sie sah die Erweiterung des Empfängerkreises wohlfahrts147 Vern Feldman, Iowa Welfare Association, an Mills, 24.11.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB; wenn die Unterstützung für H. R. 1 zurückgenommen wurde, wurde teilweise ein anderes Programm, wie etwa das Amendment 559 von Ribicoff unterstützt, vgl. Melville Chapin, United Community Service of Metropolitan Boston, an Mills, 2.12.1971; ebenso tat dies die Maryland Commission on the Status of Women, vgl. Anne Carey Boucher, Maryland Commission on the Status of Women, an Mills, 1.2.1972; ihre weitere Unterstützung entzogen insgesamt 14 Gouverneure; auch das Council of Churches of Christ stand nicht länger hinter der Reform, vgl. Carole Y. King, Council of Churches, an Mills 6.4.1971; die Salvation Army schloss sich an, vgl. Bramwell Crawford an Mills, 12.4.1971; der Vertreter der Salvation Army zitierte den Kernerbericht: »The failure of the system alienates the tax payer who support it, the social workers who administer it, and the poor who depend on it.«, alle in Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 148 Hilton Davis, General Manager Legislative Action, an Chamber of Commerce, 24.5.1971, Akte: Welfare/Social Security Legislation (H. R. 1), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 149 Ebd.
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staatlicher Zuwendung als fatales Zeichen. Da sie dadurch eine Schwächung der Arbeitsmoral fürchtete, verstand die Vereinigung die Aussicht, dass ein Viertel aller Amerikaner bezugsberechtigt sein würden, als ernsthafte Bedrohung.
6.3 Die Rentenreform von 1972: Erhöhung und Automatisierung Der Family Assistance Plan wurde nicht verabschiedet. Nachdem der Senat eine Überarbeitung des Gesetzes in den Vermittlungsausschuss des Kongress zurückgegeben hatte, verlief die Reform im Sande. Dies hieß nicht unbedingt, dass damit größere politische Neuordnungen per se unmöglich geworden waren. Es zeigte aber, dass eine Vereinheitlichung der wohlfahrtsstaatlichen Sphären der public assistance und der social insurance an breitem gesellschaftlichem Widerstand scheiterten. Während der FAP seine Unterstützer verlor, behandelten die parlamentarischen Debatten zur Rentenreform in der Folge lediglich die Frage, wie hoch die angestrebte Erhöhung ausfallen sollte.150 Wilbur Mills stemmte sich in den Vorbereitungen in seinem Ausschuss nicht gegen eine deutliche Anhebung der Renten, sondern gegen die zweite Komponente der Rentenreform: Erhöhungen sollten zukünftig automatisiert erfolgen. Diese Anpassungen sollten sich an steigenden Lebenshaltungskosten, Costof-Living Adjustments oder auch COLAs genannt, orientieren. In Mills Augen bargen sie jedoch die Gefahr, durch zusätzlich zirkulierendes Geld, die Inf lation weiter anzuheizen. Außerdem befürchtete er, der Kongress würde als Konsequenz an Zuspruch und Einfluss verlieren. Schließlich wären nicht länger die Abgeordneten und Senatoren für Erhöhungen zuständig. Dadurch drohte ihnen der Verlust einer einfachen Möglichkeit, ihren Wählern höhere Renten zu gewähren.151 6.3.1 Die Herauslösung des FAP aus dem Gesetz H. R. 1 und das Scheitern der Reform Wilbur Mills hatte geplant, den FAP gemeinsam mit einer Rentenreform zur Abstimmung zu bringen. Politischen Gegnern, wie der Handelskammer, war klar, dass Mills damit die Abgeordneten manipulieren wollte. Schließlich würde niemand gegen eine Rentenerhöhung stimmen: »Theory is that congressmen hate to vote against social security legislation, regardless of what else may be attached to it.«152 Die öffentliche Unantastbarkeit von Social Security sollte in 150 Vgl. Zelizer, S. 312. 151 Vgl. ebd., S. 314. 152 Davis an Chamber of Commerce, 24.5.1971.
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dieser Konstruktion einem garantierten Mindesteinkommen als Schutz und Schirm dienen. Diese Verbindung aus FAP und Rentenreform wurde jedoch stark kritisiert. Am Vormittag des 12. Februar 1972 erreichte Mills ein Telegramm mehrerer nationaler Senioren-Interessensvertretungen. Darin wurde die Herauslösung der welfare-Bestandteile des Gesetzesvorschlags H. R. 1 von der Rentenerhöhung gefordert. Die zunehmende Kritik am FAP drohte, die Erhöhung der Rente zu gefährden oder zumindest zu verzögern. Das Schreiben favorisierte die Rente in Form der social insurance OASI als »erste Linie der Verteidigung gegen Armut« gegenüber dem FAP, der lediglich eine Variante von »public welfare« sei. Erst nach der Reform der social insurance sollten die Bestandteile der public assistance überhaupt behandelt werden. Daher forderten die senior citizens, T i t l e I des Gesetzes und die darin behandelte Rentenerhöhung herauszulösen und zuerst zur Abstimmung vorzulegen: »[…] we urge the Ways and Means Committee to report separately and immediately on title I of H. R. 1. […]. Historically social insurance has been nations’ first line of defense against poverty with public welfare a residual program which we respectfully suggest can better be formulated after the dimensions of social insurance are determined.«153
Zu den Unterzeichnern gehörten Nelson Cruikshank, Präsident des National Council of Senior Citizens, Thomas Walters, Präsident der National Association of Retired Civil Employees, und weitere Vertreter von Seniorenverbänden. Weitere Rückschläge musste das Reformbündel um den FAP im Finanzausschuss des Senats hinnehmen, wo Robert H. Finch (1925–1995) die Pläne der Regierung verteidigte. Neben den Vorwürfen, dass Kalifornien und New York die größten Anteile der auszuschüttenden Gelder erhalten würden, stand die vermeintlich Zahlung unverdienter Hilfen im Mittelpunkt der Kritik.154 Die Beanstandungen des Finanzausschusses waren Symptome einer öffentlich immer lauter werdenden Skepsis. Im April 1972 verkündete ein empörter J. Douglas Brown aus Princeton seine Meinung zur Reform in Form von Leserbriefen und Schreiben an den Kongress. In jeder Form eines garantierten Mindesteinkommens wie dem FAP sah Brown einen Bruch mit der erfolgreichen Tradition der OASI. Genauso war Brown von nun enthaltenen Plänen zu einer Mindestrente alarmiert. Als Teil des Reformpakets sahen diese eine Grundrente von 200 Dollar für alle vor, die ihre Beiträge über einen bestimmten Zeitraum geleistet hatten. Als einer der Schöpfer des Social Security Act von 1935 verstand Brown Mindestrenten jeder Form als Erosion der Sozialversicherungsprinzipien, von denen das grundlegendste sei, dass die Rente auf vorhergehenden Bei153 Nelson H. Criukshank, President National Council of Senior Citizens, an Mills, 12.2.1972, Akte: H. R.1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 154 Vgl. Moynihan, S. 473.
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trägen b asierte. In einem Leserbrief an die New York Times verglich Brown jedes Vorhaben zur Mindestrente am 31. März 1972 mit dem Townsendplan. Dass Social Security bislang jeder Verwechslung mit einer »dole like the $200-amonth hand-out proposed by Dr. Townsend in 1935« entgehen konnte, habe zur makellosen Reputation der Rente beigetragen und sei deren Garant.155 Fast vierzig Jahre nach Townsends ursprünglichem Vorschlag diente dieser Brown noch immer als Antithese zu Social Security. In einem Brief an den Finanzausschuss vorsitzenden, Senator Long, beschrieb Brown außerdem die »danger of mixing two fundamental concepts, contributory social insurance and public assistance«.156 Die Vermischung dieser beiden Konzepte führe zu nicht weniger als »a costly and nonviable hybrid – a free pension, a Townsend Plan – which lowers incentive and makes social security increasingly a paternalistic hand-out instead of an earned, self-respecting right. The present contributory social insurance program was developed in 1934–35 to block off the Townsend Plan of free pensions and to provide a more viable means of preventing poverty in old age.«157
Deshalb forderte Brown die Beibehaltung eines zweigeteilten Wohlfahrtsstaats. Einerseits sollte es weiter ein Programm geben, das zurückliegendes Einkommen durch die Höhe seiner Auszahlungen widerspiegelte. Andererseits sollte eine zweite Sphäre allein vor existenzieller Armut schützen.158 Auch an Wilbur Mills sendete Brown eine Kopie des Leserbriefs. In einer Ergänzung, die nur bei Mills, nicht aber in den anderen Briefen auftauchte, hieß es darüber hinaus mahnend: »The proposal is a reincarnation of the Townsend Plan.«159 Nach fast vier Dekaden des Fortschritts drohte der Finanzausschuss einem, laut Brown, »schon lange verworfenen Trugschluss« zu folgen: »that contributory social insurance and public assistance can be mixed.«160 Der politische Schachzug, Mindestrente und Rentenerhöhung in das Reformpaket einzubeziehen, wurde von einigen Kritikern als regelrechte Kontamination von Social Security verstanden. Schließlich widersprach diese Zusammenlegung der Tradition, die beiden Sphären des Wohlfahrtsstaats voneinander zu trennen. So sollte die Anpassung der OASI losgelöst von jeder anderen Reform betrachtet werden. Dies war unter anderem Blaine Short wichtig. Er war Gründer des Social Security Beneficiaries Congress of America. Zwar verbarg sich hinter dem anspruchsvollen Namen eine relativ obskure Vereinigung. Die Ansichten Shorts jedoch basierten auf einer breit geteilten Skepsis gegenüber der 155 J. Douglas Brown, Threat to Social Security, NYT, 31.3.1972. 156 Brown an Long, 7.4.1972, Akte: Legislative File: H. R.1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 157 Ebd. 158 Vgl. ebd. 159 Brown an Mills, 28.3.1972, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Answered & Unanswered Corresp.), Box: 41, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 160 »[…] to introduce a long-discarded fallacy that contributory social insurance and public assistance can be mixed.«, ebd.
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Verknüpfung von Social Security mit einem public assistance-Programm – und sei es auch nur in einem gemeinsamen Gesetz: »Why any individual or group would ›package‹ Social Security with ›Welfare‹ into a single subject is beyond ›average‹ comprehension. The connotation of ›Welfare‹ as a part of Social Security Insurance is a subject of debate, in that Social Security Insurance was not originally enacted as a ›Welfare‹ program. I, therefore, respectfully request that you and your committee members abstract Social Security Insurance from the subject of ›Welfare‹ and act upon it without any further delay, and that the amendments thereto be a substantially larger increase in benefits than proposed by HR-1.«161
Die Kritiker verlangten nicht nur eine höhere Rente, sondern auch, dass ein neues wohlfahrtsstaatliches Programm Abstand nehmen sollte von welfare. Favorisiert wurden dagegen Begriffe wie »work« oder »worker«.162 In ihren Alternativvorschlägen kombinierten kritische Organisationen, wie die Taxpayers Association for Welfare Reforms, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Weiterbildungsangeboten. Dabei konnten die Vorschläge auch weitreichende Eingriffe in das Familienleben von Empfängern fordern, wie ein Beispiel der oben genannten Vereinigung der Steuerzahler zeigte: »Unwed mothers should be allowed one child living at home, all others to be put in institutions where they would receive better care and supervision.«163 Im Herbst 1972 äußerte sich der texanische Abgeordnete Earle Cabell zu dem von ihm »Social Security-Welfare Bill« genannten Gesetzesvorschlag: »While I have serious reservations about this bill in its entirety, the fact that the Senate version contains a higher income limitation ceiling for persons eligible for Social Security makes it more palatable to me.« Als Mitglied des Vermittlungsausschusses sprach sich Cabell dafür aus, den earnings test, den er eine Bestrafung von Menschen über 65 nannte, abzuschaffen: »especially by withholding money from them which they contributed during a lifetime of work«.164 Die Version des Gesetzes, auf die Cabell sich bezog, stammte aus dem Senatsfinanzausschuss, der den Reformvorschlag aus dem Repräsentantenhaus mittlerweile überarbeitet dem Senat zur Abstimmung vorgelegt hatte. Der Vorsitzende des Finanzausschusses, Demokrat Long, beschrieb in einem Fernsehinterview vom 7. Juni 1972 den Vorschlag, den sein Ausschuss dem Senat zur Abstimmung
161 Blaine Short, Social Security Beneficiaries Congress, an Long, 18.5.1972; ähnlich sah dies auch eine Vereinigung von Steuerzahlern, die sich für eine Reform von welfare einsetzte, vgl. Taxpayers Association for Welfare Reforms an Mills, 13.4.1971, beide in Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 162 Beispiele wären »Workers Job Assistance Program« oder »Workers Temporary Assistance Program«, ebd. 163 Ebd. 164 Earle Cabell an Mills, 4.10.1972, Akte: H. R.1 – Legislative File Correspondence, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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vorgelegt hatte.165 Long wetterte in seinem Interview gegen alle, die gesund waren und dennoch nicht arbeiteten. Damit man sich in Zukunft besser um jene kümmern konnte, die körperlich nicht im Stande waren, für sich zu sorgen, wie Alte, Blinde und Behinderte, sollten alle »able-bodied« Personen zur Arbeit verpflichtet werden. Zur Not würde die Regierung entsprechende Jobs zur Verfügung stellen müssen: »We will provide the jobs, if need be, to those people will be expected to do something to earn their own keep and when they do it they will be living better and doing better than they are just sitting around doing nothing. And they will be providing a far better example for their children, which will tend to break this cycle of first, second and third generations living forever on the welfare.«166
Nur so konnte die, laut Long, größte wohlfahrtsstaatliche Reform aller Zeiten jenen Kreislauf durchbrechen, welcher die Empfänger von welfare in Abhängigkeit hielt und zu »Faulenzern« machte.167 Als überraschender Rückschlag für die Unterstützer des FAP kam die Kritik von Senator Abraham Ribicoff im Frühjahr 1972. Der ehemalige Secretary des HEW hatte bis dahin als einer der wichtigsten Fürsprecher des FAP gegolten. Der 1910 geborene Demokrat war Ende der sechziger Jahre ein Veteran auf der politischen Bühne. Von 1955 bis 1961 war Ribicoff Gouverneur von Connec ticut gewesen, bevor er unter Kennedy die Leitung des HEW übernommen und 1963 einen Sitz im Senat erobert hatte. Hier hatte Ribicoff den Gesetzesvorschlag zur großen Reform H. R. 1 eingebracht. Im Februar 1972 vollzog R ibicoff jedoch eine Kehrtwende. In einem Interview der populären Nachrichtensendung Today gab er bekannt, den FAP nun abzulehnen. Ribicoff begründete dies mit der Unvorhersehbarkeit der Reformauswirkungen. Washington warf er vor, sowohl Arme als auch Steuerzahler getäuscht zu haben: »[…] I’ve come to the conclusion that we can no longer perpetrate a hoax and a fraud on the poor and the American taxpayer which we have done consistently.«168 Ribicoff beschrieb das komplette Reformwerk als unausgegoren und plädierte nun für Tests in ausgewählten Regionen.169 Auch er bezeichnete nun den FAP als eine Ausweitung der »welfare rolls« um elf Millionen neue Empfänger und mahnte, dass die Kosten um sechs Milliarden Dollar höher als geplant liegen würden.
165 Russell B. Long, Fernsehinterview 7.6.1972, Transkript in Akte: H. R. 1 – Leg File »Conti«, Box: 39, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Transkript The Today Show, Interview with Senator Ribicoff, 1.2.1962, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 169 Moynihan beschreibt in seinen Schilderungen, dass der FAP getestet wurde. Verantwortlich für diese Tests war der Direktor des Office of Economic Opportunity, Donald Rumsfeld. Vgl. Moynihan, S. 192.
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Allein durch die Kennzeichnung der prospektiven Empfänger der family assistance als welfare-Empfänger bezog er rhetorisch eine starke Gegenposition zum FAP. Ribicoff folgte damit anderen prominenten neuen Kritikern wie der Chamber of Commerce und Reagan, die beide ebenfalls zum Jahreswechsel 1971/72 in Gegnerschaft zum FAP getreten waren, genauso wie die Welfare Commissioner von New York, Wisconsin und Oklahoma. Sie hatten in Pressekonferenzen mitgeteilt, der FAP könne keinesfalls wie geplant bis zum 1. Januar 1974 implementiert werden. Ribicoffs Abfall markiert das Ende effektvoller politischer und öffentlicher Unterstützung für den FAP. Auch innerhalb der Bundesadministration des Wohlfahrtsstaats offenbarten sich nun Zweifel. In einem vertraulichen, internen Memorandum vom Februar 1972 bezweifelte der oberste Aktuar der SSA, Robert Myers, die Kostenberechnung des FAP durch die Bundesregierung.170 Myers zufolge waren die Empfängerzahlen der family assistance deutlich zu niedrig kalkuliert – besonders im Licht der Zuwächse der AFDC-Zahlen der letzten Jahre. Neben Rechenfehlern warf Myers den Planern des FAP vor, bekannte Zusammenhänge wie Fehlerquoten oder Betrugsfälle bewusst auszublenden. Die Erfahrung aus allen bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Programmen hatte jedoch gezeigt, dass Menschen gestiegene Gehälter nicht melden würden. Dem wurde in den Kostenprognosen des FAP keinerlei Rechnung getragen. Ob die Kosten absichtlich zu niedrig angesetzt wurden, war für Myers nachrangig. In jedem Fall sah er die Aussagen der FAP-Verfechter als diskreditiert.171 Myers Kritik stand damit auch für die Abkehr der SSA von den Plänen Nixons. Auch die zunehmend an Einfluss gewinnende Interessengruppe der Senioren bezog im Frühjahr 1972 Gegenposition zum FAP. Zu ihren herausragenden Interessenvertretern gehörte der schon erwähnte Nelson H. Cruikshank. Am 13. März 1972 wurde er in einer Radiosendung durch die beiden Senatoren aus Pennsylvania interviewt.172 Cruikshank hatte als Vorsitzender des National Council for Senior Citizen seit Jahresbeginn Druck auf das Ways and Means Committee ausgeübt, um so Wilbur Mills’ Anliegen, die Rente um zwanzig Prozent zu erhöhen, zu unterstützen. Diese Erweiterung des H. R. 1 war laut Cruikshank ohne Beitragserhöhungen möglich, weil in den Jahrzehnten zuvor ein Rechenfehler in die Bestimmung der Renten eingeflossen war. Eine Erhöhung sei ohnehin nötig, da viele Alte allein auf Social Security angewiesen waren. Der republikanische Senator Richard S. Schweiker (1926–2015), der das Interview führte, sprang Cruikshank bei und untermauerte, dass man bei der Berechnung der Rente noch immer die Löhne der fünfziger Jahre zugrunde legte und Lohn 170 Myers, Analysis of Social Security Proposal of Chairman Mills, 29.2.1972, S. 1–3, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 171 Ebd. 172 Interview Nelson H. Cruikshank, 13.3.1972, Akte: Legislative File: H. R.1, Box: 35, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB.
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steigerungen keine Berücksichtigung erfahren hätten. Somit stünde eine große Ersparnis zur Verfügung, die nur darauf warte, an jene ausgezahlt zu werden, die diese Rente angespart hätten: »[…] we have accumulated a huge surplus that in essence denies the senior citizens the fruits of their own savings and the interest of those savings for some actuarially incorrect assumptions.«173 Cruikshank sah als weitere Grundlagen für eine Rentenerhöhung die andauernde Produktivitätssteigerung und den steten Erfindungsreichtum seiner Landsleute. Da auf Beides Verlass sei, stünde einer riskanteren Vorgehensweise in der Rentenkalkulation nichts im Wege: »Basically the assumption is that wages will go up as productivity goes up. All our history, our industrial history, shows that productivity is going to increase steadily, and this is a safe assumption. It is simply betting on the continuing productivity and inventiveness of Americans, and if you bet on this you are not going to be wrong.«174
Zum Zeitpunkt des Interviews bezog ein Rentner durchschnittlich 133 Dollar pro Monat. Dieser Betrag sollte auf 162 Dollar erhöht werden. Nicht nur weil immer mehr alte Menschen zum Großteil auf Social Security angewiesen waren und betriebliche Renten nie den gedachten Stellenwert erreicht hätten, sei die Erhöhung finanziell notwendig. Auch die besonderen Verdienste der R entner standen im Fokus: Sie hatten schließlich zwei Weltkriege gewonnen, sie hinterließen ihren Erben Häuser und sie hatten überdurchschnittlich viele Kinder großgezogen. Dass nun diese Häuser wegen der allgemein schwierigen Lage vieler Städte weniger wert waren, als ursprünglich erhofft, fügte Cruikshank als Argument für eine Rentenerhöhung ebenfalls an. Abschließend stellte Cruikshank heraus, dass der moderne Wohlfahrtsstaat nichts anderes sei als der Fortbestand der einst ausschließlich im Familienkreis wahrgenommenen Verantwortung. Trotz technologischen Fortschritts habe sich nichts daran geändert, dass jede Generation für ihre Eltern sorgen müsste. Analog zum Leben auf der Farm beschrieben Cruikshank und Schweiker die Mechanismen eines modernen Wohlfahrtsstaats: »[…] social security and these mechanisms [are] simply the mechanisms of a m odern industrial society fulfilling our family responsibilities. They are not replacing the family responsibilities, it simply means we have become a bigger family […] Now that we are industrialized, the whole family of the United States has got to take care of the family of old people. And we do it through the mechanisms of modern industrial finance applied to these needs, and that is what the social security system is.«175
Gleichzeitig wollten Cruikshank und die beiden Senatoren sicherstellen, dass die Würde und Teilhabe der Rentner als elementare Bestandteile des Wohl173 Senator Richard S. Schweiker (R. Pa.), ebd. 174 Ebd. 175 Ebd.
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fahrtsstaats mitgedacht wurden. Schweiker zeichnete zum Abschluss des Interviews das Bild der alten Tante, die stolz ihren Platz am Abendbrottisch einnehmen konnte, weil sie einen Beitrag zum Farmleben leistete: »You […] mentioned dignity and participation of our senior citizens in our society. […] I had a maiden grand aunt and she was fairly well up in years, but I remember she could still gather eggs and that was one of her chores, to go around and gather eggs. She was participating in helping, she had a role to perform, and I am sure that when she sat down at the dinner table, she felt that she had helped to get the food there, too.«176
Cruikshank bestätigte, dass jeder Hilfe ein Dienst vorausgehen müsste. Diese Voraussetzung hatten die Rentner Amerikas erfüllt, weshalb ihnen eine Rentenerhöhung zustand. Verdiente Hilfe für sie ruhte auf einem Fundament, auf dem welfare-Empfänger keinen Platz fanden. 6.3.2 Die Effekte der Rentenreform von 1972 »[…] wages will go up as productivity goes up. All our history […] shows that productivity is going to increase steadily, and this is a safe assumption. It is simply betting on the continuing productivity and inventiveness of Americans, and if you bet on this you are not going to be wrong.«177 Nelson Cruikshank, 1972
Die Rentenreform von 1972 brachte erhebliche Änderungen. Nachdem im Vorfeld lange eine allenfalls fünfprozentige Erhöhung debattiert worden war, hatte sich Mills im Februar 1972 entschieden, eine viermal so hohe Anhebung vorzuschlagen.178 Die Rente wurde um ein Fünftel erhöht und gleichzeitig erstmals an die Lebenshaltungskosten gekoppelt. Insgesamt betraf die Reform 27,8 Millionen Amerikaner, von denen fast zwei Millionen vorher als arm klassifiziert worden waren. Der größte Anteil – 1,4 Millionen Menschen – war älter als 65. Die Effekte der Rentenneuerungen für die Pensionäre Alabamas beschrieb dort beispielhaft der erste Newsletters der Alabama Commission on Aging vom Sommer 1972.179 Die aktuelle Zahl von 272.725 Rentnern in Alabama würde innerhalb der nächsten drei Jahre um weitere 48.655 Personen anwachsen. Wer zuvor ein durchschnittliches Einkommen bezogen hatte, würde nach der 176 Ebd. 177 Interview Cruikshank, 13.3.1972. 178 Vgl. Congressional Record, Senate, S 3503, 7.3.1972. 179 Social Security Increase Goes Into Effect, Alabama Commission on Aging News 1 (1972), S. 3.
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Reform monatlich 161 statt 133 Dollar empfangen, ein Ehepaar circa 270 statt 223 Dollar. Das Minimum erhöhte sich auf von 70,40 auf 84,50 Dollar. Das Maximum stieg von 389 auf 324 Dollar für ein Ehepaar.180 Die Automatisierung der Rentenanpassungen Als Robert Ball 1972 auf die Ergebnisse der Rentenreform blickte, beurteilte er das Rentensystem als umfassend verändert: »[…] we have a new social security program – a program that provides a new level of security to working people of all ages and to their families.«181 Die Rentenerhöhung um zwei Zehntel, erklärte Ball stolz, stellte den Unterschied zwischen einem nicht komplett zufriedenstellenden Programm und einem verlässlichen Weg aus der Altersarmut dar.182 Rentner waren nun vor den Effekten der Inflation geschützt, denn auch die Bemessungsgrundlage wurde in der Folge automatisch angepasst.183 Auf die Art erhofften sich Wilbur Mills und der Kongress, eine zukunftssichere Finanzierungsgrundlage geschaffen zu haben.184 Dennoch stellten die automatisierten Anpassungen an den consumer price incex (CPI) die folgenreichere Umgestaltung dar.185 Nicht nur finanziell barg die bloße Festlegung eines nationalen, allgemein verbindlichen Wertes für die Lebenshaltung eine enorme Herausforderung.186 Entlang von Max Webers Rationalisierungsbegriff stellte die Automatisierung die Schaffung eines nachvollziehbaren, rationalen Rahmen werks dar, welches politische Debatten über Erhöhungen und über den Charakter von Social Security fortan überflüssig machen sollte.187 So barg die Idee der Automatisierung den Wunsch nach der Entpolitisierung des Wohlfahrtsstaats, der in den Jahren zuvor im Zentrum politischer Debatten gestanden hatte. Die automatischen Rentenanpassungen basierten zunächst auf dem CPI. Sollte dieser um mehr als drei Prozent steigen, würden die Renten im gleichen Maße 180 Ebd. 181 Zit. n. Derthick, S. 339–340.; Nachdem sie sich erfolgreich für die Verabschiedung von Medicare eingesetzt hatten, begann die SSA 1967 für eine Erhöhung der Bezüge einzutreten. 182 Vgl. Berkowitz, Ball, S. 205. 183 1974 wurde sie auf 12.000 Dollar pro Jahr angehoben. 184 Vgl. ebd., S. 210. 185 Der CPI wurde während des 1. Weltkriegs eingeführt und war stets Thema hitziger Diskussionen. Mitte des Jahrhunderts nannte ein Kongresskomitee CPI »the most important single statistic issued by the government«, Stapleford, S. 3. 186 Die Berechnung des CPI ist komplex. Heutzutage beschreiben Ökonomen den CPI als Versuch, einen »cost-of-living index« folgendermaßen zu berechnen. Der »cost-of-living index« (x) wird errechnet, indem man die aktuellen Kosten eines bestimmten Lebensstandards (a) dividiert durch die Kosten zum Erreichen desselben Lebensstandards in einer Vergleichsperiode (b). Dabei wird von Vornherein deutlich, dass einer solchen Formel normative Einsichten zugrundeliegen. Was macht einen bestimmten Lebensstandard, z. B. einen angemessenen, aus? Wohnen, Kleidung, Essen, Gesundheit, Freizeit und andere Haushaltskosten spielen hier eine Rolle. vgl. hierzu insb. Stapleford, S. 298. 187 Ebd., S. 5; zu Webers Rationalisierungstheorie siehe Habermas.
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angehoben werden.188 So wurden außerdem fortan auch die Bemessungsgrundlage und der weiter bestehende earnings test angepasst. Eine neue eingeführte Mindestrente, special minimum benefit, resultierte in einer Auszahlung von monatlich fünf Dollar für jedes Jahr, in dem ein Arbeitnehmer Einzahlungen geleistet hatte. Der zuständige Minister Richardson hatte diese Konstruktion zuvor einer allgemeinen Mindestrente vorgezogen: »[…] this provision is clearly preferable to further increases in the absolute minimum […].« Wer dauerhaft in einer durch OASI gedeckten Tätigkeit gearbeitet habe, »even though he has very low earnings, should get social security benefits that are high enough to make it unnecessary for him to turn to assistance.«189 Wieder galt damit, den Bezug von public assistance für berufstätige Personen, auch mit geringen Einkommen, zu vermeiden. Gleichzeitig sollten Arbeitnehmer, die nur sporadisch Rentenbeiträge entrichtet hatten, nicht die gleichen Privilegien genießen, wie solche, die dies dauerhaft und zuverlässig getan hatten. Die Zahlungen der OASI mussten durch Beständigkeit verdient werden. Wer die Zugangskriterien nicht erreichte, sollte nicht auf Kosten anderer Berechtigter bevorzugt werden: »[…] the social insurance program should not be expected to provide benefits at the level of the assistance standards to people who have had only very irregular and sporadic attachment to covered employment and have just barely been able to meet the relatively liberal social security insured-status requirements.«190
Diese Abgrenzung und Gratwanderung beschrieb Richardson als notwendig, um die Finanzressourcen der Rente zu schützen. Aber auch Aspekte der Fairness reihte er in seine Argumentation: »If the regular minimum benefit under social security, the one paid to anyone who is insured, were raised substantially, the inevitable result would be a reduction in the resources available to provide adequate benefits for regular full-time workers in covered employment who depend for their living on their earnings in such employment.«191
Jede Mindestrente drohte, die gerechte Rente für alle anderen, verdienten Senioren zu schmälern.
188 Memorandum Fiscal Relief and a Welfare Programm, W. R. Poage, Vorsitzender des Landwirtschaftsausschusses des Repräsentenhauses, an Mills, 20.2.1971, Akte: Legislative File: H. R. 1 (Unanswered Correspondence), Box: 40, Committee on Ways and Means, 92nd Congress, RG 233, NAB. 189 Anhörung Richardson, 27.7.1971. 190 Ebd. 191 Ebd.
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SSI, EITC und technische Anpassungen Die administrative und finanzielle Verantwortung für OAA, Aid to the Blind (AB) und Aid to the Permanently and Totally Disabled (APTD) ging mit dem 1. Januar 1974 von den Staaten auf den Bund über. Das neue Programm, das diese zusammenfasste, erhielt den Namen Supplemental Security Income, kurz SSI.192 Nachdem der FAP 1972 beerdigt worden war, blieb damit einer seiner Teilaspekte dennoch am Leben. Das SSI stellte in gewisser Weise eine Variante eines garantierten Mindesteinkommens in den USA dar, dessen Auszahlung jedoch abhängig von Alter beziehungsweise Gesundheit des Empfängers war. Es war in diesem Sinne nicht bedingungslos. Anders als in den Planungen zum FAP wurden die Staaten mit dem SSI auch nicht von ihrer Verantwortung in den welfare-Programmen entbunden, von denen AFDC das umstrittenste blieb. So blieb als Effekt der Einführung des SSI die weitere Vertiefung des Grabens zwischen Alten und verdienten Armen auf der einen und den undeserving poor auf der anderen Seite. Damit setzte sich der Trend fort, dass die Gruppe der undeserving poor kleiner, homogener und weiter marginalisiert wurde.193 Auch der 1975 eingeführte Earned Income Tax Credit (EITC) war ein geistiger Abkömmling des FAP. Das Gesetz stellte de facto nichts anderes als eine negative Einkommensteuer für die working poor dar. Familien mit niedrigen Einkommen konnten die finanzielle Unterstützung erhalten, wenn sie sich aktiv dafür bewarben. Als Lohnsubvention ausgezahlt erreichte der EITC eine Maximal- oder auch Plateausumme, die im Falle steigender Einkünfte wieder reduziert wurde. Diese Reduktion erfolgte jedoch langsamer als die anfängliche Steigerung, was bedeutete, dass das die Höhe der ausgezahlten EITC-Summe nicht in der Höhe des zusätzlichen Einkommens reduziert wurde. Auf diese Weise sollten die während der FAP-Debatten diskutierten Anreize, mehr zu arbeiten und mehr zu verdienen, erhalten bleiben. Da jeder Zusammenhang zum Thema welfare beseitigt war, konnte das Programm im Gewand einer Steuerreform mühelos und ohne große Debatte verabschiedet werden. Wie auch das SSI zog der EITC eine klare Grenze zwischen Armen und working poor.194 Die schnelle Verabschiedung wenige Jahre nach dem Scheitern des FAP belegte, dass es weniger die Kosten der Reform gewesen waren, die sie hatten scheitern lassen. Die Ablehnung die letztlich im Senat einen Kristallisationspunkt fand, ruhte auf moralischen Bedenken: Die working poor, deren Selbst- und Fremdbeschreibungen sie als Teil der, wenn auch unteren, Mittelklasse auswiesen, sollten nicht durch die als welfare beschriebene family assistance kontaminiert werden. Auf der Suche nach Hindernissen für die Etablierung des FAP sticht damit mit Blick auf, die hier nur kurz dargestellten, SSI und EITC heraus, dass es im Wohlfahrtsstaat der USA keine Vorbilder gab, nach denen den working 192 SSI wurde Title III des Gesetzes. 193 Steensland, S. 1308. 194 Vgl. ebd., S. 1314.
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poor und den Armen gemeinsam durch Einkommenszuschüsse geholfen werden konnten. Das Fehlen eines solchen Rahmenwerks und einer fehlenden Tradition, auf welche sich die Unterstützer hätten berufen können, erschwerte die Verabschiedung des FAP. Hilfe durch eine Steuerreform für Menschen, die bereits ein besteuertes Einkommen bezogen, war andererseits möglich und politisch vergleichsweise problemlos realisierbar. Dort konnten bereits etablierte Kategorien beibehalten werden. Damit schien es, als konnten neue Programme leichter oder überhaupt in den Wohlfahrtsstaat integriert werden, wo bereits »kulturelle«195 Ports bestanden oder wo die Sequenz der gesetzlichen Etablierung eine Anknüpfung an ältere Formen der Unterstützung erlaubte. So fehlte in den USA eine natürliche Verbindung, mit der zum Beispiel ein garantiertes Mindesteinkommen hätte legitimiert werden können, zumal das Vorbild des jahrhundertealten Speenhamland system negativ belegt war. Mit der Einbeziehung Berufstätiger in die public assistance-Sphäre des Wohlfahrtsstaats wäre zudem ein völlig neuer Zustand etabliert worden. Der FAP blieb damit auch so kontrovers, weil er stets im Zusammenhang mit einer welfare-Reform diskutiert wurde. Schließlich sollte der FAP die welfare mess bereinigen.
6.4 Die Folgen der Rentenreform von 1972 Die Episoden um die »Urban Incentive Tax Credits«, um die Gestaltung und Berechnung des FAP oder einer negativen Einkommenssteuer spiegelten den Wunsch nach einer neutralen, unbestechlichen und fairen Berechnungsgrundlage für den Wohlfahrtsstaat wider. Mit der Rentenreform von 1972 wurde dieser Wunsch für die zentrale Komponente des Wohlfahrtsstaats, die Rentenversicherung, erfüllt. Das Vertrauen in die neugeschaffene und arithmetisch abgesicherte Rentenkalkulation wurde jedoch schon kurz darauf enttäuscht. Als die automatischen Erhöhungen in Kraft traten, sank zugleich erstmals seit einem halben Jahrzehnt die Inflationsrate von fünf auf 3,2 Prozent.196 Zugleich stellte der Finanzausschuss des Senats fest, dass Social Security eine positive versicherungsmathematische Bilanz aufwies. Die zukünftigen Kosten der Rentenversicherung waren auf Basis einer Inflationsrate von 2,75 Prozent bei einer Lohnsteigerungsrate von fünf Prozent kalkuliert worden. Für die nachfolgenden 37 Jahre, also bis ins Jahr 2010 hatten die Experten einen Sicherheitsfaktor von 0,375 Prozent in die Rechnung integriert. Damit betrug die wirkliche Differenz zwischen Inflation und Lohnsteigerung in den Berechnungen 1,875 Prozent.197 Die ersten beiden automatischen Rentenerhöhungen waren in diesem 195 Ebd., S. 1318. 196 Economic Report of the President, Washington, D. C. 1992, S. 361. 197 Die Rechnung dazu las sich so: 5 Prozent Lohnsteigerung, weniger 2,75 Prozentpunkte Inflation, weniger 0,375 Prozentpunkte Sicherheitsfaktor, ergab 1,875 Prozent.
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System für die Jahre 1975 und 1977 um 5,1 respektive 5,5 Prozent projiziert worden.198 Als im Frühjahr 1973 die Inflationsrate deutlich höher prognostiziert wurde, entschied der Kongress, die erste der beiden Rentenerhöhungen vorzuziehen.199 Diese Erhöhung wurde als Anzahlung auf die automatische Erhöhung im Januar 1975 bezeichnet. Da die Inflation weiter anstieg, beschloss der Kongress schon kurz darauf eine weitere, elfprozentige Rentenerhöhung, außerhalb des eigentlich automatischen Turnus, für den Sommer 1974. Kurz nach diesem Beschluss stellte das Board of Trustees der SSA ein strukturelles Problem fest. Obwohl der Finanzausschuss des Senats noch 1973 die rechnerische Stabilität des Systems versprochen hatte, änderten sich 1974 die Vorzeichen. Die Inflationsrate, die seit 1950 nie über fünf Prozent gelegen hatte, erreichte 1973 6,2 Prozent und stieg im Folgejahr noch einmal doppelt so stark an. Als das Board of Trustees im Mai 1974 seinen Jahresbericht veröffentlichte, offenbarte dieser eine negative Differenz. Noch im Jahr des Berichts war der Rentenbeitrag damit um fast drei Prozentpunkte zu gering. Für das Rentensystem und seine langfristigen Berechnungsgrundlagen bedeutete dies, dass die Beiträge sofort um 27 Prozent erhöht werden mussten.200 Diese Fehlentwicklung war das Ende der glorreichen Jahre von Social Security. Die finanziellen Verwerfungen riefen zuvor ungekannte Debatten hervor. Die Diskussionen um unsichere Finanzierungsgrundlagen, die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, steuerliche Ungerechtigkeiten und andere nun als Schwachstellen wahrgenommene Rentenaspekte mündeten in den Vorwurf, Social Security ähnle zunehmend einer Form von welfare.201 Diese Kritik verdichtete sich. Nachdem eine negative Artikelserie des Journalisten Warren Shore im Frühling 1974 weite Verbreitung fand,202 sah sich die SSA in der Folge in einem regel198 Committee on Finance, U. S. Senate, Social Security Amendments of 1972, Washington, D. C. 1972, S. 341–344. 199 Public Law 93–66 vom Juli 1973 erhöhte die Rente um 5,9 Prozent ab Juni 1974. 200 U. S. House of Representatives, 1974 Annual Report of the Board of Trustees of the Federal Old-Age and Survivors Insurance and Disability Insurance Trust Funds, House Document 93–313, Washington, D. C. 1974, S. 36. 201 Eine Reihe kritischer Artikel erregten große Aufmerksamkeit, darunter v. a. Robert J. Samuelson, Social Security’s Coming Crisis, WaPo, 1.9.1974; im Oktober erschien in der Sun eine dreiteilige Serie von Ghita Levine, The Years Ahead, Sometimes it doesn’t pay to work, The Sun, 6.10.1974; dies., System ignores housewife, The Sun, 13.10.1974; dies., Working woman: three-time losers, The Sun, 21.10.1974; In San Jose in Kalifornien veröffentlichte der Mercury 1974 mehrere Artikel, zu denen die SSA Stellung bezog: Norman Bowman, Social Insecurity, 8.8.1974, The Mercury; Elias Costillo, Red Tape Reigns in Chaotic Social Security Offices, The Mercury; Gil Bailey, Social Security Boondoggle Gets Worse, The Mercury, 11.11.1974; Sterling Noel, Millions Kept at Starving Level, Boston Herald American, 10.10.1974; Bob Minzesheimer, Missing Security checks rob old man of his independence, Rochester Democrat and Chronicle, 8.8.1974. 202 Die Serie begann mit Warren Shore, Social Security – The great ripoff?, Chicago Today, 29.4.1974.
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rechten Abwehrkampf gegen kritische Zeitungsartikel. So bat die Behörde geneigte Wissenschaftler um Gegendarstellungen als sie Folgeveröffentlichungen und Nachdrucke von Shores Artikeln in vierzig Zeitungen zählte.203 In Briefen an die Herausgeber etlicher Zeitungen, darunter The New York Times und The Washington Post, beschwerten sich die Vertreter der SSA über die unausgewogene Berichterstattung.204 »In retrospect, the failure […] represented the end of an era of liberal legislation in Social Security that had begun in 1950«, urteilte Berkowitz über diese neue kritische Aufmerksamkeit.205 Nach zwei aufsehenerregenden Skandalen räumte Wilbur Mills 1976 seinen Vorsitz im Ways and Means-Ausschuss. Dieser wurde in mehreren Reformen mit neuen, permanenten Unterausschüssen ausgestattet, was die Macht des Vorsitzenden empfindlich eingrenzte. Zugleich schwächte die Fragmentierung des eben noch so bedeutenden Ausschusses nicht nur seinen Einfluss; sie beendete auch die einheitliche legislative Sicht auf Social Security.206 Soziologe Wilensky prophezeite in seiner zeitgenössischen Analyse von 1975 weitere Herausforderungen durch den Aufstieg radikaler Kritiker, die behaupteten, die Interessen der Mittelklasse gegenüber einer lähmenden Bürokratie einzunehmen.207 Nachdem diese Kritik bereits länger von Konservativen geübt worden waren, nutzten nun auch »Radikale« das Motiv vermeintlicher staatlicher Fehlfunktion, um Wahlen zu gewinnen: »In recent years, ›radical‹ critics have joined their conservative counterparts with an oddly similar attack. They also denounce statism, but base the charge on a stereotype of the ›middle class‹ bias of the welfare establishment, which they see as an agent of repressive government seeking to transform the poor into pale imitations of bourgeois status-strivers.«208
Wilensky diagnostizierte damit, dass populistische Kritiker und Konservative eine neue gemeinsame Sprache gefunden hatten. Beide adressierten, wie das Beispiel von Wallace zeigte, vorgebliche Vorbehalte der Mittelklasse gegenüber zu großzügigen wohlfahrtsstaatlichen Hilfen für die Armen. Die von Wilensky beschriebene Furcht schien eine Abschottung in Richtung der unverdienten Empfänger von Hilfen zu beschreiben. Damit wurde weiter debattiert, ob wohl203 Memorandum von SSA-Commissioner Cardwell für Secretary Caspar W. Weinberger, 10.7.1974; die fünfzehnseitige Gegendarstellung verfasste schließlich der Versicherungsexperte Richard E. Johnson, Professor an der University of Georgia, beide in Akte: Magazines 1974, Akte: CORRES 61–74, Box: 32, RG 47, NACP. 204 Arthur E. Hess, Deputy Commissioner of Social Security, an die Herausgeber des Boston Herald American & Advertiser, 8.11.1974, Akte: Newspapers 1974, Box: 32, RG 47, NACP; Leserbrief des SSA-Commissioners, Cardwell, in der Baltimore Sunday Sun, 17.11.1974 als Reaktion auf die dreiteilige Artikelserie von Levine. 205 Berkowitz, Robert Ball, S. 231. 206 Vgl. ebd. 207 Vgl. Wilensky, S. xi. 208 Ebd., S. xviii.
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fahrtsstaatliche Leistungen politisches Recht oder nicht garantierte Wohltätigkeit sein.209 Der Argwohn der Mittelklasse gegenüber dem Wohlfahrtsstaat wurde nun von Politikern erfolgreich instrumentalisiert, die ihn als Transformator von unverdienten Armen in eine »falsche« Mittelklasse anprangerten. Nicht der Kampf gegen die Armut und die Befriedigung basaler Bedürfnisse wurden so mit dem Wohlfahrtsstaat konnotiert, sondern eine Form der Unterstützung für den gesellschaftlichen Aufstieg eigentlich Unverdienter. Parallel zu dieser zunehmenden Kritik wandelte sich auch die politische Öffentlichkeit der USA. Zwischen den Zeilen von Daniel P. Moynihans Schrift zum FAP von 1973 lässt sich auch der zeitgenössische Blick eines Demokraten auf diesen Wandel ablesen. Probleme bei der Mehrheitsfindung wurden durch ein zunehmend fragmentiertes Parteiensystem begünstigt, das diese Bezeichnung aus europäischer Perspektive eigentlich kaum rechtfertigte. Statt stabiler Mehrheiten oder Fraktionsdisziplin mussten die Initiatoren von Gesetzesvorschlägen auf Mehrheiten bauen, die quer durch die beiden großen Parteien liefen und eher auf regionalen Zugehörigkeiten und Interessen basierten. Dies führte immer öfter dazu, dass die Persönlichkeit einzelner Politiker die Überzeugungskraft von politischen Ideen übertrumpfte. Moynihan entwarf damit schon in den siebziger Jahren das Bild des politischen Entrepeneurs, das Politikwissenschaftler später komplettierten.210 Als Richard Nixon am 30. Januar 1974 seine letzte Rede zur Lage der N ation hielt, lag die Zahl der welfare-Empfänger drei Millionen über der, die er bei seinem Amtsantritt vorgefunden hatte. Die welfare-Kosten hatten sich mehr als verdoppelt und lagen aktuell bei 22,7 Milliarden Dollar pro Jahr. Ein Kommentar in der New York Times trauerte dem FAP einen Tag nach Nixons Ansprache als seiner »most imaginative social initiative« nach und bedauerte: »Regrettably, no spirit of urgency attends the President’s call for a fresh look at welfare reform.«211 Der Präsident schien nicht länger willens, das politische Verliererthema einer welfare-Reform persönlich voranzutreiben. Ein halbes Jahr später gab er als Konsequenz der Watergate-Affäre sein Amt auf. Niemand hätte von Präsident Nixon eine Reform des Wohlfahrtsstaats erwartet, die auf einer staatlich garantierten Verbesserung des Lebensstandards armer Amerikaner basierte. Auch wenn der Spruch »Only Nixon could go to China« beschreibt, wie Politiker Erfolge erringen, die ihnen aufgrund bisheriger Entscheidungen nicht zugetraut werden, traf dies auf Nixon und den Wohlfahrtsstaat nicht zu: Nixon could not reform AFDC. Mit dem FAP hatten allen voran Nixon, Moynihan und Mills versucht, eine Balance zu finden. Er sollte den Empfängern wohlfahrtsstaatlicher Hilfen ausreichend Anreize bieten, eine Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig sollten nicht 209 Ebd., S. 3. 210 Dazu gehört v. a. Monica Prasad, die den Typus des political entrepeneurs in der amerikanischen Politik definiert hat, siehe Prasad. 211 New Try on Welfare, Kommentar in: NYT, 1.2.1974.
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zu viele Menschen Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen werden. Wer als arbeitsfähig klassifiziert wurde – also unter 65 Jahre alt, körperlich unversehrt war und keine Kinder betreuen musste – hätte sich für Weiterbildungen oder bei einer neu zu etablierenden Arbeitsagentur melden müssen.212 Damit wäre der FAP Nixons das Gegenteil der zielgerichteten Hilfen seines Vorgängers Johnson gewesen. Der Versuch der Sozialexperten um Nixon bestand darin, Familien aus der Sphäre der public assistance zu »befreien« und gleichzeitig den working poor, die als deserving poor galten, neue Sicherheit zu gewähren. Die Kontextualisierung innerhalb der welfare mess-Debatte blockierte jedoch die Zustimmung dieser Gruppe, die zugleich als Middle Americans von Politikern umworben wurden, die sie als unabhängig und unterschiedlich von den Armen beschrieben. Das Scheitern des FAP wurde von einem Wandel der öffentlichen Wahrnehmung begleitet, in der die Gesellschaft nun öfter als zuvor in die Teile Arm, Mittelklasse und Reich dreigeteilt wurde. Reformer wie Moynihan hatten diesen Prozess bestärkt. In seinen Worten war nun die ehemalige Arbeiterklasse Teil der unteren Mittelklasse: »The working class […] largely evanesced as an object of concern, sympathy, or admiration, and having vanished from sight was soon out of mind. [A]dvanced opinion held that the workers had ›become‹ middle class.«213 In seiner Antwort auf Kritik an dessen Unzulänglichkeit hatte Mills den pragmatischen Fokus des FAP zusammengefasst: »[…] it is necessary to b alance the objectives of assisting the maximum number of persons in finding and holding employment, and of assisting the maximum number of families to become fully and immediately self-supporting through income from work.«214 Damit sollte das Gesetzwerk zum Grat zwischen zwei Abgründen werden. Auf der einen Seite drohte ein Leben in passiver Abhängigkeit durch zu großzügige wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Auf der anderen Seite lauerte ein Leben in Armut aufgrund unzureichender Unterstützung. Zugleich schwebte über dieser Konstellation die Notwendigkeit, das Selbstverständnis der Middle Americans mit einzubeziehen. Ihre moralische Konfiguration schien es aus Sicht der Sozialexperten nicht zuzulassen, dass Ärmeren dank von ihnen mitfinanzierter wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung mehr zustand als ihnen selbst. Wie auch in den Jahrzehnten zuvor wurden mit der gesellschaftlichen Mitte gewisse moralische Kriterien verknüpft. Schon 1964 konstatierte Moynihan in einem Memorandum: »[…] there is […] a rise in the demand for public morality from the vast new middle class population that we have produced since the war.«215 Diese politisch aktive, und für Politiker attraktive, Gruppe sträubte sich mit Armen ein gemeinsames wohlfahrtsstaatliches Programm in Anspruch zu nehmen. 212 Vgl. Patterson, Freedom, S. 116. 213 Ebd., S. 270. 214 Administration Responses to NWRO Grievances with Respect to H. R. 1. 215 Moynihan an Goodwin, 20.11.1964, Akte: Welfare General 1962, 1964–65, Box: I 92, MP, LOC.
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Allein das mit großem Vertrauenskredit ausgestattete Social Security konnte 1972 noch Einigkeit generieren. Eine weitere Trendwende in der Gestaltung des Wohlfahrtsstaats wurde mit dem Vertrauen in die Automatisierung deutlich. Zu Beginn der sechziger Jahre erklärten Ökonomen anhaltendes Wirtschaftswachstum zum obersten politischen Ziel.216 So beruhten etwa Steuersenkungen Kennedys auf der Annahme, eine kurzfristige Verschuldung würde langfristig die Arbeitslosigkeit reduzieren und Wachstum stimulieren. Auch der Wohlfahrtsstaat blieb nicht ausgeschlossen von einer zunehmend marktorientierten Denkweise. Diese korrelierte mit einer neuen Dezentralisierung der wohlfahrtsstaatlichen Zuständigkeit, wie zum Beispiel in workfare-Experimenten und AFDC, und verringerte den Umfang wohlfahrtsstaatlicher Programme.217 Hatte die Regierung während des New Deal der dreißiger Jahre noch versucht, den Wohlstand aller durch mehr Rechte für Gewerkschaften und die Stärkung privaten Konsums zu mehren, schien sich dies mit den sechziger Jahren ins Gegenteil verkehrt zu haben: Wachstum wurde nicht mehr als das Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Reformen verstanden, sondern als dessen Voraussetzung. Als die Wirtschaft die Prognosen nicht erreichte, auf deren Basis die großzügigen Rentenerhöhungen errechnet worden waren, fand sich der Wohlfahrtsstaat in einem neuen Dilemma und einer neuen Vertrauenskrise wieder, die nun auch Social Security nicht mehr ausschloss.
216 Der Ökonom James Tobin fasste es in der Formel »Growth has become a good word« zusammen, zit. n. Stapleford, S. 298. 217 Vgl. Katz, Price, S. 27.
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7. Fazit: Die Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat der USA Im Zentrum dieser Untersuchung stand das Verhältnis der weißen Mittelklasse zu den Behörden in den USA unter Einbezug von verschiedenen der vielen Facetten dieser beiden gesellschaftlichen Aggregationen. Die Jahre zwischen der Großen Depression und 1972 waren eine Hochphase des bundesstaatlich koordinierten Wachstums des Wohlfahrtsstaats. In dieser Phase qualifizierten die Komponenten Anreiz, Moral und Verdienst die, entlang der Präferenzen der Mittelklasse aufgestellte, Ausformung des US-Wohlfahrtsstaats. Die »Mittelklasse« im Untersuchungszeitraum Versteht man »Mittelklasse« als Abschnitt auf einer gesellschaftlichen Skala, ergab sich ihre unübersehbare und unübersichtliche Größe aus ihren variablen Außengrenzen. Sie galt in der Untersuchungszeit als anzustrebendes Ideal und als Symbol des American Way of Life. Dabei war die Mittelklasse mehr eine Vorstellung als eine ausschließlich auf »harten« Faktoren basierende gesellschaftliche Formation. Die Selbstbeschreibung »middle class« wurde auch aus Mangel an Alternativen gewählt. Einerseits förderte die Abwesenheit eines klar strukturierten mehrstufigen Klassensystems, über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg, die Möglichkeit, sich selbst einer gesellschaftlichen »Klasse« zuzuordnen. Andererseits verwehrte die salopp genutzte Zuschreibung so gut wie niemandem den Zugang. Politologen, Ökonomen, Behördenleiter, Soziologen, Journalisten: Viele wirkten zwischen 1934 und 1972 an dem Set von Merkmalen mit, welche die Mittelklasse ausmachten. Dazu gehörten zu Beginn des Untersuchungszeitraums, in den dreißiger und vierziger Jahren, berufs- und einkommensbezogene Beschreibungen. In das Modelldorf Cahaba Village in Alabama konnte nur ziehen, wer über ein bestimmtes, mittleres Einkommen verfügte.1 Auch wenn Harry Hopkins die white collar workers noch am Herzen lagen, verblasste die Kragenlinie bereits. Der Unterschied zwischen blauen und weißen Kragen, also zwischen Arbeitern und Angestellten, verlor während des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit weiter an Bedeutung für die Definition der Mittelklasse. Auch die Familie des Stahlarbeiters und der Kassiererin gehörte nach dem Krieg dazu. Ein Set aus Konsummöglichkeiten und Vorsorgestrategien kennzeichnete ihren gesellschaftlichen Status: Sie lebten im eigenen Haus, welches in Kombination mit Social Security ihr Alter absichern sollte. Ebenfalls parallel zum Boom stieg ihre Steuerlast. Nachdem die Einkommensteuer zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1 Vgl. Kap. 2.3.
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zu einer Massensteuer geworden war, bildete auch sie einen gemeinsamen Referenzpunkt für die Zuordnung zur steuerzahlenden Mittelklasse, welche immer mehr auch als Synonym für Mehrheit genutzt wurde. Die verschiedenen Versuche der Begriffsbestimmung während des Untersuchungszeitraums basierten auch auf dem jeweiligen Verständnis einer gesellschaftlichen Mehrheit der Mitte. So wie Bill Clinton die Mittelklasse 1997 in seiner eingangs erwähnten Inaugurationsrede ein Produkt des American Century nannte, so verstanden Soziologen der fünfziger Jahre die expandierende Mitte als neuartig. Sie beschrieben sie, wie der einflussreiche Soziologe C. Wright Mills, als »neue«, gemeint war »falsche«, Mittelklasse. Diese Kritik an der gesellschaftlichen Mehrheit, die sich der Mitte zurechnete, blieb jedoch hauptsächlich auf akademische Kreise beschränkt. Politiker wie der Populist George Wallace umschmeichelten die Mittelklasse 1968 als die wahre und zugleich vernachlässigte Mehrheit der Gesellschaft, die der Bürokratie und ihrer Ausbeutung durch hohe Steuern überdrüssig war. Ebenso bemühten sich ab den fünfziger Jahren Verantwortliche in den Städten, die abwandernde Mittelklasse zu halten oder wahlweise ihre neue Heimat, die Suburbs, einzugliedern. Für die historische Bestimmung eines Begriffs der Mittelklasse erscheinen somit drei Faktoren als Hürden: Die Mittelklasse schien allgegenwärtig; sie beruhte in allen Jahren der Untersuchung auf amorph wirkendenden Beschreibungen; nahezu jeder konnte sich hinzurechnen. Die wenigen eindeutigen Ausnahmen wurden durch den Wohlfahrtsstaat markiert: Wer AFDC, also welfare, bezog, gehörte nicht dazu. Damit bildete der Bezug von Leistungen, die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wurden, eine offensichtliche Markierung für Menschen außerhalb der Mittelklasse. Das bedeutet auch, dass diese hier gemeinte Mittelklasse nicht in der »vor-wohlfahrtsstaatlichen« Zeit, also vor der bundesweiten Verfasstheit wohlfahrtsstaatlicher Programme und Behörden, existierte. Die hier untersuchte Mittelklasse kommentierte wohlfahrtsstaatliche Projekte und deren Auswirkungen in Schriftstücken an ihre politischen Vertreter und Behördenmitarbeiter. Frances Callen aus dem Einfamilienhausviertel Chestnut Hills drohte in den sechziger Jahren immer wieder, Birmingham zu verlassen, wenn ihre Wünsche nicht Gehör fänden. Ihre Drohungen und ihre Forderungen tragen die Selbstbeschreibung der Mittelklasse und deren Wahrnehmung staatlicher Verantwortung in sich. Wie auch in den Briefen ihrer Nachbarn wird hier deutlich, dass die Mittelklasse intensiv mit den Behörden kommunizierte und nicht nur bei Wahlen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Gemeinden zu nehmen wusste. Die handschriftlichen Briefe an die Bürgermeister von Birmingham sind als Quelle für die Form der Kommunikation der Mittelklasse mit den politischen Verantwortlichen symptomatisch. Ihr Aufbau steht in Kontinuität zu den Briefen an das Curtis Committee von 1953, das als Gremium der ehemaligen Opposition die durch Demokraten eingeführte Rentenversicherung auf den öffentlichen Prüfstand hob. Stets betonten die Vertreter der Mittelklasse in diesen Briefen zunächst die eigene Leistung – sei es Militär302
dienst oder Familiengründung – um dann ihren Wert für die Gemeinde hervorzuheben – als Steuerzahler und verlässliche Eigenheimbesitzer – und an die Versprechen, die ihnen vermeintlich gemacht wurden zu erinnern – Sicherheit im Alter und Wertzuwachs ihrer Immobilien. Die konkreten Forderungen, sei es die nicht zu errichtende Tankstelle oder die Möglichkeit trotz Zuverdienst die volle Rente zu erhalten, wurden in diese Struktur eingebettet. Daher erfuhr der Aspekt der Selbstzuschreibung der Mittelklasse im Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat besondere Berücksichtigung in dieser Arbeit. In ihren Briefen an Behörden und Parlamente schilderten sich Absender als Teil der Mittelklasse, wenn sie Facetten des Wohlfahrtsstaats, wie den earnings test, kritisierten. Das Wechselverhältnis zwischen der Mittelklasse und dem Wohlfahrtsstaat erfolgte, neben der Verknüpfung über Steuern, über die Beeinflussung von politischen Reformen. Indem sie schilderte, welche Vorkehrungen sie im Wohlfahrtsstaat für essentiell erachtete und wem welche Hilfe gebühren sollte, trug die Mittelklasse zu dessen Aus- und Umformungen bei. Dabei verfügte dieser Wohlfahrtsstaat, spätestens seit den Rentenreformen der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, über zwei Ebenen der public assistance und der social insurance, was allein durch den Blick auf die stark voneinander abweichenden Charakterisierungen von Social Security und welfare fassbar wird. Dass der Versuch von 1969 misslang, diese beiden Ebenen durch den FAP zu vereinen, rührte daher, dass der Wohlfahrtsstaat mittlerweile als rhetorisches Reservoir für die Aktivierung der Mittelklasse etabliert war. Die Vereinigung seiner beiden Ebenen scheiterte auch an der Ablehnung von Menschen, die sich als Mittelklasse verstehen konnten, weil sie nicht zu den Adressaten von Leistungen der public assistance gehörten. Dass dieses oberflächliche Charakteristikum bereits ausreichte, um sich der Mitte zuzurechnen, zeigten die Definition und die politische Bedeutung der Middle Americans, die nur knapp über der Armutsgrenze lebten und auch aus Angst vor dem Absturz offen für Kürzungsforderungen und Strenge im Wohlfahrtsstaat waren.2 Obwohl sich die Gesellschaft der USA entlang von Einkommen und Berufsgruppe unterteilen lässt, waren Werte und Einstellungen hinter dem Attribut »Mittelklasse« deutlich stabiler als die Definitionen von Ökonomen und Soziologen. Auch wenn ihre Definition dadurch umständlich und schwer operationalisierbar wird, kann »Mittelklasse« als das Wechselspiel bestimmter Bevölkerungsgruppen mit sozialen Arrangements, wie dem Wohlfahrtsstaat, analysiert werden. Wenn Autoren den Begriff »Klasse« als definitorische Kategorie verwerfen, heben sie häufig die zunehmenden Identifikationsmöglichkeiten entlang persönlicherer Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe oder Ethnie hervor.3 »Klasse« sollte jedoch in geschichtswissenschaftlicher Perspektive nicht nur als Beschreibung einer Gruppe in Bezug auf ihre Position im kapitalistischen Pro-
2 Vgl. Kap. 5. 3 Vgl. beispielhaft Wilson, S. 5–7.
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duktionsprozess genutzt werden, sondern als historisch gewachsener Container für angestrebte und verteidigte Zuschreibungen. Ein vergleichsweise deutliches Bild dieser Zuschreibungen ergibt sich im Setting des Wohlfahrtsstaats, seiner Leistungen und seiner Finanzierung. Inwiefern profitierte die Mittelklasse vom Wohlfahrtsstaat? Wurde sie sogar bevorzugt? Die Mittelklasse profitierte sicherlich mehr von politischen Maßnahmen, weil sie in den Strukturen der liberal consensus-Demokratie mehr Macht ausübte. Sie verfügten über Zugänge und das notwenige Wissen, um Einfluss geltend machen zu können – etwa indem sie politische Entscheidungsträger wie Bürgermeister und Ausschüsse direkt adressierte. Versteht man zudem die Langlebigkeit und politische Unangreifbarkeit eines wohlfahrtsstaatlichen Programms als Erfolg, so waren jene besonders erfolgreich, die sich an die Mittelklasse richteten oder diese zumindest mit einschlossen – wie etwa Social Security oder die Absetzbarkeit von Hypothekenzinsen. Ausgaben und Projekte, die sich gezielt an Arme richteten, hatten spätestens ab 1969 Probleme finanziert zu werden. Als die gleichzeitige wirtschaftliche Stagnation und die Inflation, stagflation, begünstigt durch den Krieg in Indochina, OPEC-Preiskontrollen und zunehmende Arbeitslosigkeit, den Glauben an das unbegrenzte Wachstum und an dessen Organisierbarkeit durch die Regierung untergruben, verlor auch das Versprechen von stetigem Sicherheits- und Wohlstandszuwachses seinen Wert. Der Wohlfahrtsstaat im Untersuchungszeitraum Wie auch die Menschen in der Mittelklasse wurden die Projekte des Wohlfahrtsstaats während des Untersuchungszeitraums immer diverser. Sein Spektrum reichte bereits in den dreißiger Jahren von der Gründung und Bewirtschaftung von Modellsiedlungen für die Mittelklasse, samt Swimmingpool und Kooperative, bis zur Etablierung eines Finanzinstruments wie dem sekundären Hypothekenmarkt. Wie die Genossenschaft in Cahaba Village die Gemeinschaft stärken und ein bestimmtes wirtschaftliches Miteinander induzieren sollte, so sollten auch spätere Initiativen über ihre direkten Funktionen hinausgehen. Die Planungen zum No Man’s Land sollten 1944/45, durch Anreize und Versicherungsprogrammatik, Amerikaner einer bestimmten Schicht zu Hauseigentümern zu machen. Aspekte des Workable Program sollten ab 1954 durch Förderbedingungen, wie Beirat-Strukturen, die Desegregation voran treiben. Seit dem New Deal und seinem ersten Triumph auf der nationalen Bühne war der Wohlfahrtsstaat durch Reformen geprägt. Einmal verabschiedete Gesetze, wie etwa der Social Security Act von 1935 oder der National Housing Act von 1934, wurden durch Amendments ergänzt und erweitert. Spezielle temporäre Gremien, wie das Curtis Committee im Repräsentantenhaus, begutachteten die Konsequenzen der letzten und die Chancen kommender Reformen und besonders das Committee on Ways and Means nahm während des gesamten Unter304
suchungszeitraums eine Schlüsselposition ein. Als Gatekeeper wachte es nicht nur über das, was vor das Parlament gelangte: Hier wurde vielmehr auch strategisch über die Struktur des Wohlfahrtsstaats – allen voran durch die Schlüsselfigur Wilbur Mills, der dem Ausschuss von 1957 bis 1975 vorstand – befunden. Aus den Schreiben an diese Ausschüsse, aus deren internen Memoranden und Berichten lässt sich die Meinung der Amerikaner zum Wohlfahrtsstaat erschließen. Verabschiedet wurden die Reformen des Wohlfahrtsstaats von Politikern, die in den meisten Fällen wiedergewählt werden wollten. Das Antlitz der Wählermehrheit, die sie dazu ansprechen mussten, veränderte sich jedoch im Laufe des Untersuchungszeitraums durch neu erstrittene Wahlrechtserleichterungen oder das Aufbrechen von Wählerkoalitionen. Diesem Trend der Fragmentierung konnten Politiker, deren individuelle Karrierechancen immer weiter stiegen, den Begriff der Mittelklasse entgegensetzen. Er bot ihnen die Chance, sich auch weiterhin an eine große Mehrheit zu wenden. Auch diese Adressierung durch Politiker definierte die Mittelklasse mit. Wenn Politiker Gruppen der Mittelklasse hinzurechneten, dann durch die Benennung ihrer Position im Wohlfahrtsstaat. Im Extremfall konnte dies all jene einbeziehen, die Mitleid mit Armen hätten, zugleich aber ungern höhere Steuern zahlen würden – so etwa beschrieb George Wallace in einer Ansprache die Mittelklasse. Diese Definition schloss kaum jemanden aus, sondern nutzte vielmehr die Rage einer um ihren Status fürchtenden Zuhörerschaft als vereinendes Merkmal.4 Die Erkenntnis, dass die »Mittelklasse« ab den sechziger Jahren effizient mit wohlfahrtsstaatlichen Themen adressiert werden konnte, verstärkte den Trend, dass jene, denen geholfen wurde, besondere Eigenschaften erfüllen mussten. Je präziser sich eine Hilfsleistung allein an eine bestimmte Gruppe Bedürftiger richtete, desto leichter konnte sie kritisiert werden. Dies gab Wilbur Cohen Recht, der analysiert hatte: »A program for the poor will most likely be a poor program.« Besondere Voraussetzungen mussten erfüllt werden, wenn die Mehrheit nicht arm war, sondern Projekte durch Steuern finanzierte, von denen sie nicht profitierte. Die Empfänger dieser Hilfe mussten ein Soll moralischer Kriterien erfüllen, um als solche akzeptiert zu werden. Diese speisten sich aus dem Repertoire, das der Mittelklasse zur Selbstbeschreibung diente. Dazu gehörte Eigenständigkeit, was bedingungslose wohlfahrtsstaatliche Hilfen a priori erschwerte. Hilfe sollte zudem nicht dauerhaft geleistet werden. Sie sollte vielmehr Anreiz sein. Sie sollte Impulse liefern, schnell von ihr unabhängig zu werden. Ausnahmen waren immer wieder zu verzeichnen. In Phasen besonderer Empathie, wie Wirtschaftskrisen oder offen erkennbaren Unrechts, das einer Bevölkerungsgruppe widerfuhr, öffneten sich windows of opportunity für neue Hilfen, für die auch Steuererhöhungen in Kauf genommen wurden. Neue wohl-
4 »Rage« taucht daher auch im Titel von Carters Biographie »The Politics of Rage« über George Wallace auf: Carter.
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fahrtsstaatliche Projekte wurden außerdem leichter akzeptiert, wenn sie von ökonomischer Ratio getragen wurden. Anders als in egalitären Modellen wie Townsendplan und FAP vorgeschlagen, behandelte der Wohlfahrtsstaat der USA jeden unterschiedlich. Dies galt nicht erst in den sechziger Jahren für die, in den Innenstädten zurückgelassenen, Armen. Während der Großen Depression schien es, als behielten white collar workers ihren Status, auch wenn sie arbeitslos wurden. Dies wurde begünstigt durch das öffentlich gezeichnete Bild des stoisch-stolzen Armen. Von der Krise betroffen, traten sie den Gang zum relief office dennoch nicht an. Dies erschien umso bewundernswerter, als sie zuvor, im Gegensatz zu Farmern und Arbeitern, keine vergleichbaren Krisen gekannt hatten. Gerade deswegen, so die Schlussfolgerung auf Seiten der Sozialexperten, wie Hickok, Hopkins und Tugwell, müsste man dieser Gruppe helfen. Die Gefahr lag weniger darin, dass die white collar workers verschwinden, sondern dass sie sich radikalisieren würden. Dieses Bild wurde erneut freigelegt, als Sozialexperten, wie Jerome S. Rosow, Ende der sechziger Jahre auf die untere Mittelklasse, die Middle Americans, blickten. Auch hier erkannte die Regierung ein Radikalisierungspotenzial. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaats begünstigte nach dem New Deal zugleich Zentralisierung und Zweiteilung des Wohlfahrtsstaats. Die Versorgung von Menschen, die aus Altersgründen aus dem Berufsleben ausschieden, wurde durch zwei verschiedene, national reglementierte Programme organisiert. Die OASI und die OAA standen dabei von Beginn an in einer Art »geschwisterlicher Konkurrenz«. Die Präferenz der SSA, in diesem Bild der »Eltern«, lag auf Seiten des modernen social insurance-Ansatzes der OASI. Dem System der Sozialversicherung sollte die Zukunft gehören. Die public assistance-Rente OAA sollte hingegen möglichst schnell überwunden werden. In einem System der Sozialversicherung schien kein Platz für Leistungen, die nicht auf vorherigen Beiträgen beruhten. Als temporäre Maßnahme schufen die OAA und vergleichbare welfare-Programme damit auch eine Markierung für Menschen, die noch nicht im präferierten System Schutz fanden, weil sie keinen dazu Beitrag leisteten. Auch wenn nicht Individuen mit dieser Markierung versehen wurden, wurde sie doch zu einem gedanklichen Container für Images von Armut.5 In der Wohnungspolitik folgten die Bewertungstechniken von Stadtvierteln durch HOLC einem ähnlichen, bundesstaatlichen Modernisierungsimpuls. Sie wurden durch andere Behörden und Banken, nach der Krisenbewältigung, als Fundament genutzt. Ein dezentraler Wohlfahrtsstaat wurde in den fünfziger Jahren von Vertretern der Wisconsin School, wie Arthur Altmeyer, abgelehnt – auch weil sie meinten, dass der Ausbildungsgrad der Behördenbediensteten in den Einzelstaaten nicht mit jenem der Mitarbeiter in Baltimore und
5 Vgl. hierzu die Überlegungen der Historiker Eva Maria Gajek und Christoph Lorke zum Prozess »normativer (Sozial-)Zuschreibungen«, Gajek u. Lorke, S. 13–17.
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Washington konkurrieren konnte.6 Damit wird eine weitere Facette der Beziehung der Mittelklasse zum Wohlfahrtsstaat deutlich. Die Behörden und Ämter der zunehmenden Zahl von wohlfahrtsstaatlichen Programmen bedeuteten Arbeitsplätze für Experten, Versicherungsfachleute und Verwaltungsangestellte, die white collar workers des Wohlfahrtsstaats. Politiker kämpften um den Erhalt dieser Behörden. Die vereinheitlichenden Begleiterscheinungen der Bürokratie, wie Formulare, detaillierte Bestimmungen und gleiche Bemessungsgrenzen, wurden in den sechziger Jahren wiederum Ziel der Kritik von Populisten wie Wallace. Außerdem stellten sie ein zu überwindendes Wirrwarr für Politiker wie Nixon dar, der bei seinem Regierungsantritt 1969 Ordnung versprach. Einige Jahre vor dieser »lauten« Kritik am Wohlfahrtsstaat offenbarten 1953 die Briefe an das Curtis Committee das verletzte Gerechtigkeitsempfinden der gesellschaftlichen Mitte. Indem sich Personen der Mittelklasse zurechneten, konnten sie sich auf ein argumentatives Plateau stellen, das aus Militärdienst, Steuerzahlung, Hauskauf, Renovierungsarbeiten und Kindererziehung bestand. Dies bildete mithin gleichsam eine Basis für Ungerechtigkeitsschilderungen. Dass etwa Hausfrauen ohne eigene Berechtigung erst ab 65 Jahren eine OASIRente beziehen konnten, wurde genauso als unfair empfunden, wie der earnings test. Er verbat vorgeblich, weiter arbeiten zu gehen. Beide als ungerecht wahrgenommenen Zustände widersprachen entweder dem, was Menschen in der Realität erlebten oder dem, was sie für richtig hielten. Die Änderungsforderungen zum earnings test dokumentieren jedoch eine Demarkierung demokratischer Einwirkung. Denn, allen Anfeindungen zum Trotz, wurde die Bemessungsgrenze des earnings tests während des gesamten Untersuchungszeitraums nur behutsam verändert und nicht aufgehoben. Die Beibehaltung eines so häufig kritisierten Elements spricht für die Autonomie der Sozialexperten in SSA und dem zuständigen Ausschuss, dem Committee on Ways and Means. Die untere Mittelklasse als Grenze zwischen arm und nicht-arm Vor allem im Metatrend der Suburbanisierung begegneten sich die Mittelklasse und der Wohlfahrtsstaat. Die auf den ersten Blick klare Trennung von idyllischer Suburb und innerstädtischem Slum versperrt den Blick auf jene Menschen, die sich der Mittelklasse zurechneten aber noch in der Stadt lebten. Denn die Bevölkerungsverteilung war nicht bipolar. In Birminghams Wohnviertel Chestnut Hills stritten die Bewohner für eine bestimmte Form der neighborhood innerhalb der Stadt. Ihnen galt die Schönheit ihres Quartiers als schützenswert. Das Rathaus, also den Staat, forderten sie auf charakteristische Weise auf, ihre Wünsche zu berücksichtigen. Einerseits hatten sie verdient, 6 Altmeyer unterstützte deswegen schon früh bundesstaatlich implementierte Pläne, wie etwa den Wagner-Murray-Dingell-Gesetzesvorschlag: »Such a scheme promised to end the disturbing disparities in social benefits that separated Mississippi from Wisconsin, Alabama from Massachusetts.« zit. n. Berkowitz, America’s, S. 55.
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gehört zu werden: durch Dienst an ihrem Land, ihre gemeinnützigen Betätigungen, die Pflege ihres Eigentums und durch Wertsteigerungsversprechen, die ihnen beim Häuserkauf gemacht worden waren. Andererseits drohten sie kaum verhohlen ebenfalls in die Suburb zu ziehen. Dieses Druckmittel entfaltete Wirkung, da die Verantwortlichen sie, die »Crème de la Crème«, in den Stadtgrenzen zu halten versuchte.7 Die Suburbs südlich von Birmingham wehrten sich gegen die Eingemeindung, die annexation. Im Kampf um die Steuerzahler in den Suburbs kreuzten sich zwei Entwicklungslinien. Die Mittelklasse galt, auch abseits ihres Status’ als taxpayer, als vital für den »Organismus« Stadt. Gleichzeitig weigerten sich die Suburb-Bewohner, die oft in Birmingham arbeiteten, hier zu wohnen. Die Strafsteuer für Pendler, die occupational tax, offenbarte die Verzweiflung Birminghams auf der Suche nach Einnahmequellen. Ihr Scheitern 1964 war ein Sieg der taxpayer. Die nationalen Armutsdebatten der frühen sechziger Jahre, die parallel zu den Annexionsversuchen Birminghams geführt wurden, drehten sich auch um die Frage, ob jeder arm war, der kein Mittelklasseleben führte.8 Denn nicht nur die Armen wurden »entdeckt«, sondern auch die Gruppe der Middle Americans, eine Vor- oder Unterstufe der Mittelklasse. Der von Demokrat Lyndon B. Johnson ausgerufene War on Poverty integrierte ältere Elemente des Wohlfahrtsstaats, wie das Workable Program, um zielgerichtete Hilfe für Arme im ganzen Land zu ermöglichen. Diese Maßnahmen trafen auf breite Zustimmung und schufen dennoch ein neues Grenzgebiet zwischen Armen und Nicht-Armen. Welche Konflikte entstanden an der Grenze zwischen Menschen, denen geholfen wurde und Menschen, die helfen mussten? Entlang dieser Grenze, in diesem vermeintlich neuen No Man’s Land, fanden sich die Middle Americans wieder. Der Brief von Helen Thompson an George Romney aus dem fünften Kapitel trägt all das Unverständnis derer in sich, die in dieser Lage waren: »[…] why I should be paying taxes to subsidize the ›poor‹ so they can live in a better house than I can afford. Whats [sic] good enough for me should be good enough for them […].«9 Indem die Sozialexperten der Johnson-Regierung definierten, wem gezielt geholfen werden sollte, definierten sie deutlich abgrenzbare Gruppen von Hilfsempfängern. Wenn wirklich nur Armen geholfen werden sollte, blieb freilich keine andere Option, als wohlfahrtsstaatliche Hilfen zu kategorisieren. Die Methode des Populisten Wallace spiegelte den etymologischen Gehalt dieser Kategorisierung; denn das griechische katēgoreĩn meint auch »gegen jemanden zu sprechen«. Er, und andere Populisten, trugen durch ihre Rede gegen Arme und gegen Reiche zur weiteren Selbstverständigung der Mittelklasse bei, 7 S. Kap. 4.3.1, W. Hartsfield an die Bewohner Homewoods, 14.4.1959, Akte: 266.3.8, MOPA, BPL, AM. 8 Vgl. Flora u. Heidenheimer, S. 28–30. 9 Helen Thompson an George Romney, Secretary HUD, 18.11.1969, Akte: Misc. Reference-Material, Box: J–O, FHA, RG 31, NACP.
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die zur Mitte der sechziger Jahre erneut im Status der Genese schien. Arm und Reich erschienen damit mehr und mehr als »Nebenklassen«, abseits einer verdienten gesellschaftlichen Kerngruppe. Gemeinsam bestärkten Populisten und Sozialexperten damit die neue Prominenz der Middle Americans, die 1969 Person of the Year wurde. Auf diese untere Mittelklasse schien das Echo der Beschreibungen der white collar workers während der Großen Depression zu fallen. Sie wurden als stolz und verdient komplementiert. Jedoch schienen sie diese Charakterisierung in Rage zu transformieren. Die Wut über Leistungen und Nachsicht für Arme und Vergünstigungen für Reiche wurde zu einem vereinenden Merkmal der unteren Mittelklasse. Zur Beschreibung aller wohlfahrtsstaatlichen Verfehlungen und als politisches Schlagwort der zweiten Hälfte der sechziger Jahre stand die welfare mess für den Ruf nach Rationalisierung von Bundesprogrammen und mehr Effizienz.10 Konservative Politiker nutzten das steigende Misstrauen gegen die Zentralregierung und die Unzufriedenheit ob des scheinbar entgleitenden »Kriegsverlaufs« gegen die Armut. Sie bedienten sich eines vorhandenen ideologischen Repertoires für ihre Ziele: Der Ursprung dieses Misstrauens gegen Washington lag bei Andrew Jackson, einer der politischen Ikonen der Demokraten. Hatte der Süden die Staatensouveränität (states’ rights) im civil war noch gegen Abraham Lincoln und die Republikaner des Nordens zu verteidigen versucht, lebte sie als Schlagwort, und oft Camouflage einer rassistischen Agenda, bis weit ins 20. Jahrhundert fort. Der Süden wiederum war bis zur Mitte der sechziger Jahre zur Machtbasis der yellow dog democrats geworden. Hier – so das Bonmot – würde auch ein gelber Hund gewählt werden, wenn ihn die Demokraten aufstellen würden. Mit der Wahl Richard Nixons 1969 übernahmen die Republikaner im Zuge des realignment diese rhetorische Waffe. Nixon verstand unter Dezentralisierung jedoch vor allem eine Reorganisation der Zusammenarbeit innerhalb der Regierungsbehörden, die seinem Ideal des limited government folgen sollte.11 Den Einfluss des Weißen Hauses (oder des Altmeyer Buildings in Baltimore) wollte er nicht beschränken.12 Im Gegensatz zu diesem Befund der kontinuierlichen Zentralisierung, erwiesen sich die beginnenden siebziger Jahre als eine Phase des Umbruchs mit Blick auf soziale Bewegungen. Sie gewannen, angefacht durch den Protest gegen den Vietnamkrieg und die Segregation des Südens, an struktureller Stärke. Eine neue Wählerkoalition und der Einflussrückgang der New Deal-Apologeten, das 10 Zum generellen Anwachsen des Umfangs von Regierungsprogrammen, vgl. Béland u. Vergniolle de Chantal, S. 248. 11 Damit gingen die Rufe nach Dezentralisierung von der Bundesregierung aus. Interessanterweise gab es unter Nixon sehr viel weniger Wandel als dann später unter Reagan, der als Gouverneur von Kalifornien den Präsidenten mit seinen workfare-Reformen unter Druck setzte. Nixons Verdienst war eher, das Thema auf das Tapet zu bringen. Hierzu und zur Genese des Kampfes gegen big government, vgl. ebd., S. 249. 12 Das 1960 errichtete Hauptquartier der SSA in Baltimore wurde am 19. Januar 1973 nach Altmeyer, dem »Vater von Social Security«, umbenannt.
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Aufbrechen des demokratischen »Solid South«, die Geburt der Christlichen Rechten und neuer konservativer Bewegungen, welche die Republikaner stärkten, verdeutlichten, dass wohlfahrtsstaatliche Programme, wie AFDC, nun als Hindernisse auf dem Weg zur Wiederherstellung moralischer Werte eingestuft wurden.13 Letztere lagen oft nicht weit entfernt von ökonomischen Interessen. Die wohlfahrtsstaatlichen Debatten zum Ende des Untersuchungszeitraums waren nicht allein von der Kritik an Hilfen für vermeintlich unverdiente Arme geprägt. Directors Gesetz, das Ausdruck einer rational-ökonomischen Skepsis der Chicago School war, hinterfragte die Funktionsweise des hergebrachten Wohlfahrtsstaats insgesamt. Kritiker wie Aaron Director, Milton Friedman und der Steuerexperte Stanley S. Surrey verwiesen nun auf Steuervergünstigungen für Menschen mittlerer Einkommen und andere »versteckte« Hilfen, die allein der Mittelklasse zugutekamen. Diese neue Skepsis bildete die Basis für spätere Attacken gegen das ehemals sakrosankt erscheinende Social Security, das im öffentlichen Bild mittlerweile zur Antithese von welfare geworden war. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Synthese der beiden Ebenen social insurance und public assistance mit dem Reformversuch des Family Assistance Plan, der sich von 1969 bis 1973 hinzog, scheiterte. Mit der zunehmenden Kritik an wohlfahrtsstaatlichen Vorkehrungen und der Entwicklung rein finanzmathematischer Lösungsansätze, wie der negativen Einkommensteuer im Friedmanplan, war zuvor die Zahl von wohlfahrtsstaatlichen Alternativvorschlägen gewachsen. Diese sollten den Städten helfen und zugleich die welfare mess überwinden. Der Plan zu den Urban Incentive Tax Credits sah vor einen automatisierten Ausgleich zwischen Städten und ihren Suburbs herzustellen. Er scheiterte auch, weil in städtebaulicher und wohlfahrtsstaatlicher Planung noch immer organische Bilder dominierten: Und darin galt die Mittelklasse als Medikament für die Krankheiten der Stadt. Das Scheitern technisch komplexer Vorschläge und Vereinheitlichungen, allen voran des FAP, verdeutlichte auch die Skepsis gegenüber einer gleichmachenden Reform des Wohlfahrtsstaats. Diese Ablehnung war wiederum kein Symptom einer neuen Skepsis. Das Scheitern des Townsendplans, und vergleichbarer Reformvorschläge der dreißiger, vierziger und fünfzigerer Jahre, ähnelte in vielen Aspekten der Ablehnung des FAP. Auch zu Beginn der siebziger Jahre konnte fand nur eine Reform breite öffentliche Zustimmung: die Erhöhung und Dynamisierung der Rente. Ausblick Die Arbeitswelt der USA war nach 1972 tektonischen Veränderungen ausgesetzt. Statt zyklischer ließ sich immer mehr eine strukturelle Arbeitslosigkeit beobachten, was die sozialen Sicherungssysteme vor ungekannte Herausforderungen stellte. Der Anstieg des Dienstleistungsanteils bedeutete zugleich mehr Teilzeitarbeitende. Zudem wuchs die Ungleichheit der Einkommen. Be13 Béland u. Vergniolle de Chantal, S. 248.
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deutende Veränderungen fanden auch in den Familien statt, als mehr Scheidungen und weniger Eheschließungen die Zahl der Einpersonenhaushalte steigen ließen. Auch weil die Geburtenrate zurückging, alterte die Bevölkerung zunehmend nach 1970. Das Medianalter lag 2010 mit 37,2 Jahren fast zehn Jahre über dem von 1970 (28,1 Jahre).14 Im Blick auf die Untersuchung wohlfahrtsstaatlicher Programme war der Anstieg der Anzahl von Frauen in Beschäftigungsverhältnissen frappierend. Seit dem New Deal, dem Katalysator des bundesweiten modernen Wohlfahrtsstaats, war die Überwindung sozialer Nöte für Familien vom Beschäftigungsverhältnis ihres männlichen Haushaltsvorstands abhängig gewesen.15 Die Einkommensungleichheit blieb zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Verabschiedung der Rentenreform von 1972 unverändert.16 Auch deshalb ist der Zeitraum vielbeschrieben als Epoche des liberalen Konsenses und der Gehaltskompression. Beide Aspekte wurden von wirtschaftlichen Ausnahmezuständen getragen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachfrage nach ungelernter Arbeit stieg, ging dies einher mit einem relativen Zuwachs an gutausgebildeten Arbeitskräften.17 Da deren relativer Anteil weiter anstieg, konnte ein Äquilibrium entstehen, in dem das Einkommen von Hochschulabsolventen für blue collar workers nicht in unerreichbarer Ferne lag.18 Nach 1972 wuchs der Abstand zwischen Arm und Reich.19 Die Babyboomer verließen das C ollege und wollten ihre »Eintrittskarte« zur Mittelklasse nun, in Form einer gut bezahlten Anstellung, einlösen. Das wachsende Angebot gut ausgebildeter Absolventen trug zu einer Lohnstagnation bei. Die Nachfrage nach blue collar workers sank mit der Tertiarisierung und dem Niedergang von Schwerindustrie und gewerkschaftlicher Betätigung. Schließlich beeinflusste eine zunehmend angebotszentrierte Wirtschaftspolitik eine Einkommensumverteilung an wohlhabendere Gruppen.20 Dafür sorgten auch die tax expenditures, die noch immer schlecht erforscht sind. Unternehmen können heute hochbezahlte Angestellte ins Baseballstadion schicken und die Kosten dafür von der Steuer absetzen. Eltern, die mit ihren Kindern ins Stadion gehen, können dies nicht. 14 Zwischen 1960 und 1970 sank das Medianalter von 29,2 auf 28,1 Jahre, vgl. U. S. Census Bureau [URL: https://www.census.gov/prod/www/decennial.html, abgerufen am 15.7.2016]; in Deutschland (BRD und DDR) wuchs das Medianalter zwischen 1970 und 2010 von 34,5 auf 44,6 Jahre, vgl. Statistisches Bundesamt, Berechnungen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. 15 Hacker, S. 249. 16 Beeghley, S. 198. 17 Einer der Hauptgründe für den geringer werdenden »Gehaltsvorsprung« von College-Ausgebildeten sehen Goldin und Margo in der G. I. Bill, die auf der Angebotsseite einen Überschuss schuf, vgl. Goldin u. Margo, S. 31. 18 Vgl. ebd., S. 5. 19 Vgl. Howard, Vortrag vor der New America Foundation, 21.6.2007: [URL: www.newamerica. net/events/2007/politics_poverty_and _social_policy, abgerufen am 17.7.2014]. 20 Vgl. Beeghley, S. 200.
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Damit wurde die Frage nach der Mittelklasse im Wohlfahrtsstaat nach 1972 vor allem eine nach sozialer Ungleichheit. Die beiden Soziologen Peter Flora und Arnold Heidenheimer warnten 1981: »[…] as soon as social security develops into a security of social status, it contributes to the stabilization of inequality.«21 Diese These kann über die Grenzen von Social Security hinaus genutzt werden – besonders mit Blick auf die anschließenden Reformbemühungen, die auch in den achtziger und neunziger Jahren vor allem auf die public assistance-Komponenten des Wohlfahrtsstaats abzielten.22 Der Begriff welfare reform begleitet politische Auseinandersetzungen bis heute. Denn auch die 1996 verabschiedete AFDC-Nachfolgerin Temporary Assistance for Needy Families (TANF) reduzierte die Ungleichheit nicht, sondern manifestierte vielmehr den Status und das Image Armer. Das Programm war verabschiedet worden, als die welfare-Empfängerzahlen zwischen 1990 und 1994 um fast ein Drittel angewachsen waren. Es bildet das vorerst letzte Glied in einer Reihe von welfare-Reformen.23 Mit dem zugrundeliegenden Gesetz, dem »Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act of 1996« (PRWORA), wurde das 1935 etablierte Anrecht auf finanzielle Unterstützung empfindlich eingeschränkt und eine lebenslang gültige, maximale Bezugsdauer von sechzig Monaten festgelegt.24 Mitgestaltet durch den Politologen David T. Ellwood (*1953) basierte das Gesetz auf der Annahme, dass jeder eine Arbeitsstelle finden konnte, wenn er nur wollte.25 Die Reform war insofern erfolgreich, als dass sie die welfare-Empfängerzahl sofort drastisch reduzierte. Da parallel zur Reform jedoch auch die Wirtschaft stark anwuchs, bleibt umstritten, wie erfolgreich die Einführung dieser arbeitsbasierten Sozialhilfe war.26 Neben globalen Brüchen und Wandlungen war für die hier beschriebenen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen eine innenpolitische Tendenz entscheidend. Der Kongress demokratisierte sich ab Mitte der siebziger Jahre. Die Reformen, an denen Abgeordnete wie Joseph Biden und Edward Kennedy beteiligt waren, führten dazu, dass die Ausschüsse Einfluss einbüßten und beide Häuser mehr Macht erhielten. Ihr Ziel war die Verbesserung parlamentarischer Strukturen durch ein Mehr an Demokratie durch die Einschränkung der Befugnisse von 21 Flora u. Heidenheimer, S. 25. 22 Dabei war das ursprüngliche Ziel der Regierung Reagans nicht, gezielt die public assistance-Programme zu attackieren, sondern alle Formen wohlfahrtsstaatlicher Programme. Den Absichtswandel, beschrieb der 1946 geborene, ehemalige Mitarbeiter Reagans, David Stockman. Vielzitiert urteilte Stockman in »Triumph der Politik«, der Grund dafür sei gewesen, dass die politisch einflussreiche Mittelklasse sich nun zu wehren wusste, vgl. Stockman; Prasad, S. 82–86; Zakaria, S. 175. 23 Das PRWORA steht in der Tradition von Family Assistance Plan, Präsident Carters »Program for Better Jobs and Income« und dem Family Support Act von 1988. 24 Diese sechzig Monate sind das lebenslange Maximum für den Bezug. In einigen Staaten gelten kürzere Bezugszeiten. 25 Jason DeParle, As Benefits Expire, the Experts Worry, NYT, 10.10.1999. 26 Einen guten Überblick über die Literatur zur Vor- und Implementierungsgeschichte von TANF bietet: Caputo, S. 81–103.
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Ausschussvorsitzenden wie Mills und Long. Der politische Kommentator Fareed Zakaria hat treffen formuliert, dass damit an die Stelle zwanzig mächtiger Anführer 535 unabhängige »politische Entrepeneure« traten.27 Ein neuer Grad an Transparenz brachte nun das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten ans Licht, als in den Ausschüssen vermehrt namentlich abgestimmt und die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Die Einflussmöglichkeiten Außenstehender wuchsen dadurch. Kein Abgeordneter konnte behaupten, dass er alles getan hätte, um das Ergebnis zu Gunsten seiner Unterstützer zu beeinflussen, wenn er es in Wirklichkeit nicht getan hatte. Damit konnten Lobbygruppen fortan direkter nachverfolgen, wer ihre Linie wirklich vertrat. Die zunehmende Transparenz in den Ausschüssen machte die Abgeordneten und Senatoren nicht unabhängiger. Als wenig später dem politischen Referendum neues Leben eingehaucht wurde, trug auch dies zum Machtverlust von Expertengremien und Ausschüssen im ganzen Land bei. Eines der bis heute nachwirkenden Plebiszite kam von rechts, als 1978 in Kalifornien die sogenannte Proposition 13 ihren Erfolg feierte. Die erfolgreiche Bürgerinitiative, die schließlich als Zusatz in die Verfassung Kaliforniens aufgenommen wurde, regelte, dass Grundsteuern in Kalifornien nicht über einem Prozent des Grundstückswerts liegen dürfen.28 Der Entscheid war ein Schlusspunkt in den Debatten um die Einsatzfelder staatlicher Einnahmen und mitverantwortlich für die drastisch abnehmenden Einflussmöglichkeiten der kalifornischen Parlamente und Regierungen. Eine Änderung des Verfassungszusatzes bedürfte einer Zweidrittelmehrheit, wobei das Thema als ebenso sakrosankt gilt wie Social Security. Heute sind 85 Prozent des kalifornischen Staatsbudgets so präzisen Verwendungszwecken zugeordnet, dass der Gestaltungsspielraum der Exekutive erheblich eingeschränkt ist, denn auch Sondersteuern für spezielle Vorhaben brauchen eine Zweidrittelmehrheit, wenn die Regierung in Wahlen darüber abstimmen lässt.29 Als ein Bundesgericht den Verfassungszusatz nachträglich legitimierte, betonte der zuständige Richter des Supreme Court, die Menschen hätten ein »legitimate interest in local neighborhood preservation, continuity, and stability«.30 Die gleiche Argumentation hatten auch die Bewohner von Chestnut Hills in Birmingham immer wieder angeführt, um für ihre Interessen einzustehen. Im Jahr des Erfolgs der Bürgerinitiative kommentierte George Wallace den Erfolg der Proposition 13 als das Werk jener, die genug (»Enough!«) hätten. Er beschrieb sie als »large, fretful silent-suffering constituency, otherwise known as the American middle class«. Zugleich benannte Wallace die revoltierende Mittelklasse als untrennbar mit der »Stabilität der Republik« verquickt: 27 Vgl. Zakaria, S. 171. 28 Inflationsbedingte Anstiege bei der Bewertung von Grundstücken sind bei zwei Prozent gedeckelt. 29 Zakaria, S. 193. 30 NORDLINGER v. HAHN, IN HIS CAPACITY AS TAX ASSESSOR FOR LOS ANGELES COUNTY, et al. Certiorari to the Court of Appeal of California, Second Appellate District, No. 90–1912, verhandelt am 25.2.1992, geurteilt am 18.6.1992.
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»The health and the morale of the middle class are inseparable from the stability of the republic. It IS the republic. […] The middle class has a compassion for the poor, but its patience with clumsy federal programs that are ostensibly designed to alleviate poverty is all but exhausted. The middle class is fed up with being the pivot on which privilege spins, the wealthy on one end and the professionally poor on the other.«31
Ein gutes Jahr darauf wurde Kaliforniens Ex-Gouverneur Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt. Sein wichtigstes wohlfahrtsstaatliches Gesetz wurde der Family Support Act von 1988, mit dem er seine kalifornischen workfare-Experimente auch bundesweit verwirklichte.32 Damit war auch der Charakter von AFDC verändert worden. Das Programm war nicht länger ein Anrecht auf Hilfe, sondern knüpfte diese an Bedingungen – wie es auch Nixons FAP vorgesehen hatte. Im Jahr 1994 erhielten die Republikaner erstmals seit der midterm-Wahl von 1952 die Mehrheit in beiden Kongresskammern. Der 1943 geborene Republikaner Newt Gingrich sah dies als Möglichkeit, nun den Verantwortlichen für die welfare mess, das big government, zur Rechenschaft zu ziehen. Mit seinem Buch »To Renew America« legte er 1995 den Grundstein dafür. Bill Clinton, seit 1993 Präsident, sah sich nun einer der schärfsten ideologischen Kampagnen des 20. Jahrhunderts gegenüber. Denn Gingrich verwies vor allem auf die Moral, um die Mittelklasse zu adressieren.33 Zwei government shutdowns im November 1995 und Januar 1996 kennzeichneten die Pattsituation zwischen dem demokratischen Präsidenten und seiner Gegnerschaft, die mittlerweile Republikaner und konservative Demokraten einte. Als Clinton 1997 in seiner in der Einleitung zitierten Inaugurationsrede die Mittelklasse und die Rente als zwei der größten amerikanischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts ehrte, hatte er kurz zuvor AFDC endgültig abgeschafft. Den Weg zu dieser Reform hatten ihm Konservative wie Nixon, Reagan und Gingrich gewiesen. Clintons welfare reform wurde nun auch von ihm mit workfare, einer Mischung aus Hilfe und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, beschrieben. Diese Synthese diente ihm als Schild gegen konservative Angriffe. Drei Monate vor der Präsidentschaftswahl von 1996 hatte diese welfare-Reform Clinton die Wiederwahl gesichert.34
31 George Wallace, Enough!, Yelled Middle Class Voice to Politicians in 1978, BN 3.12.1978. 32 An den, 1990 startenden, »welfare to work training programs« mussten alle AFDC-Empfängerinnen teilnehmen. 33 Vgl. Béland u. Vergniolle de Chantal, S. 253; Gingrich. 34 Der TANF-Zuschuss, den der Bund an die Staaten zahlte, bemaß sich nun nicht mehr an der Zahl der Empfängerinnen dort. Vielmehr erhielten die Staaten eine für sechs Jahre festgelegte Summen, sogenannte block grants. Damit wurde der Bundeshaushalt übersichtlicher. Da nun nicht mehr die Zahl der welfare-Empfänger ausschlaggebend war, sahen sich die Staaten in die Lage versetzt, eigene Programme zu entwickeln. Zuvor war der Bundeszuschuss gesunken, wenn die Zahl der TANF-Bezieher sank.
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Dank Diese Untersuchung basiert auf meiner Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts »Mittelschichten und Wohlfahrtsstaat«, die im Wintersemester 2014/15 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Paul Nolte. Vom Exposé bis zur Empfehlung für die »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« – seine Hilfsbereitschaft und seine Verfügbarkeit, seine Sorgfalt und seine Impulse inspirierten und leiteten mich während meiner Promotion und darüber hinaus. Von den vielen Menschen, die ich am Friedrich-Meinecke-Institut kennen gelernt habe, möchte ich mich insbesondere bei Dagmar Hilpert, Daniel Morat, Christiane Kuller, Christine Gundermann und Sindy Duong für Beistand und Kritik bedanken. Michaela Hampf danke ich für ihr Gutachten, Jessica GienowHecht für ihre Ratschläge und ihren Part in der Prüfungskommission – ich freue mich, dass so die Brücke zu meiner Studienzeit am John-F.-Kennedy- Institut geschlagen wurde. Drei Jahre finanzierte die Fritz-Thyssen-Stiftung meine Arbeit durch ein Stipendium im Rahmen des Forschungsprojekts unter Leitung von Paul Nolte. Diese Förderung wurde schließlich durch eine Druckbeihilfe für die vorliegende Veröffentlichung gekrönt – für beides danke ich der Stiftung sehr herzlich. Das Deutsche Historische Institut in Washington bezuschusste im Rahmen eines Doctoral Fellowships meine beiden längeren Archivreisen in die USA, wofür ich mich aufrichtig bedanke. Obendrein konnte ich so vom Arbeitsklima im Blair House in der New Hampshire Avenue profitieren, wo mich Marcus Gräser betreute und viele andere meine Arbeit kritisch begleiteten. Ihre Hinweise und Einsichten bereicherten einige der spannendsten Monate, die ich je erlebt habe. Ob Washington, Montgomery, Freiburg, Göttingen, Berlin oder Köln: Meine Ideen konnte ich auch danach noch oft vorstellen und diskutieren. Für zahlreiche Hinweise danke ich vor allem Christoph Lorke und Winfried Süß. Ich hoffe, ich habe ihre Anmerkungen – stets frisch in später Abendstunde notiert – korrekt in die Arbeit aufgenommen. Für die Unterstützung in den Archiven in Birmingham bedanke ich mich bei James Baggett – jede Akte wurde begleitet von einer Anekdote zur Geschichte Alabamas. Für den Zugang zu den Archiven des Alabama Department of A rchives and History bedanke ich mich bei Norwood Kerr, der mir beistand, wenn es um die Genealogie der Gouverneure ging, um College Football und um die besten Lunch-Gelegenheiten. Während meiner Recherchen in den USA durfte ich bei vier Familien wohnen, die verschieden schienen und doch ein Wesensmerkmal teilen: eine unglaublich großzügige Gastfreund315
schaft. Thank you so much Tom, Maggie, Jim, Bunnie, LeAnne, Steve, Travis, and Amy! In allen Phasen der Promotion haben mich meine Freunde Robert Greve, Johannes Rothe, Julian Fürstenau, Franziska Gensch, Ole Eggert und vor allem Benjamin Wetzer unterstützt. Ich danke euch! Mein Dank gilt auch Peter Kiel und Jörg Goldbeck, die mich mit ihrem Geschichtsunterricht erreicht und meine Neugier gefördert haben. Die Grundlagen für diese Neugier und das Wissen um den Wert von Fleiß und Beharrlichkeit verdanke ich meinen Eltern, die mir alles mitgegeben haben, was wirklich zählt. Wenn ich mich heute frage, für wen ich mich denn nun bemüht habe, fleißig und beharrlich zu sein, dann sehe ich meine Frau Elisabeth und meine Kinder Jonas und Nora. Ohne ihre Wärme, ihr Verständnis und ihre Liebe hätte ich es nicht geschafft. Ihnen widme ich dieses Buch. Berlin, im Juni 2017 Christian Johann
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Abkürzungen ACU AFDC AFGE AFL-CIO AMA APHA CPI EITC FAP FERA FHA FHLBB FHLBS FNMA HEW HHFA HMID HOLC HUD IRS NAACP NAHB NAREB NHA NRA NWRO OAA OAI OASI OEO SSA SSB VA WPA
American Conservative Union Aid to Families with Dependent Children (bis 1962, Aid to Dependent Children, ADC) American Federation of Government Employees American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations American Medical Association American Public Health Association Consumer Price Index Earned Income Tax Credit Family Assistance Plan Federal Emergency and Relief Administration Federal Housing Administration Federal Home Loan Bank Board Federal Home Loan Bank System Federal National Mortgage Association (auch Fannie Mae) United States Department of Health, Education and Welfare Housing and Home Finance Agency Home Mortgage Interest Deduction Home Owners’ Loan Corporation United States Department of Housing and Urban Development Internal Revenue Service National Association for the Advancement of Colored People National Association of Home Builders National Association of Real Estate Brokers National Housing Authority National Recovery Administration National Welfare Rights Organization Old-Age Assistance Old-Age Insurance Old-Age and Survivors Insurance Office of Economic Opportunity Social Security Administration Social Security Board Veterans Administration Works Progress Administration (ab 1939 Work Projects Administration)
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Tabellen 1. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (1933–1974) 1933–1945 1945–1953 1953–1961 1961–1963 1963–1969 1969–1974
Franklin D. Roosevelt (D) Harry S. Truman (D) Dwight D. Eisenhower (R) John F. Kennedy (D) Lyndon B. Johnson (D) Richard M. Nixon (R)
2. Social Security Commissioner (1946–1977)1 1946–1953 1953 1953–1954 1954–1958 1959–1962 1962–1973 1973 1973–1977
Arthur J. Altmeyer William L. Mitchell John W. Tramburg Charles I. Schottland William L. Mitchell Robert M. Ball Arthur E. Hess James B. Cardwell
3. Commissioner of the Federal Housing Administration (1934–1973)2 1934–1935 1935–1940 1940–1945 1945–1947 1947–1952 1952–1953 1953–1954 1954–1959 1959–1960 1961 1961 1961–1963 1963–1969 1969–1973
James A. Moffett Stewart McDonald Abner H. Ferguson Raymond M. Foley Franklin D. Richards Walter L. Greene Guy T. O. Hollyday Norman P. Mason Julian H. Zimmerman Lester H. Thompson James B. Cash jr. Neal J. Hardy Paul N. Brownstein Eugene A. Gulledge
1 Bis 1946 leitete ein dreiköpfiges Gremium, das Social Security Board, die Behörde. Von 1946 bis 1953 war der Titel der neuen leitenden Position Commissioner for Social Security, danach Commissioner of Social Security. 2 Bis 1942 Federal Housing Administrator, ab 1942 Federal Housing Commissioner, ab 1966 Assistant Secretary for Housing – Federal Housing Commissioner im HUD.
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4. Secretary of the Department of Housing and Urban Development (1966–1975) 1966–1969 1969 1969–1973 1973–1975
Robert C. Weaver Robert C. Wood George W. Romney James T. Lynn
5. Secretary of the Department of Health, Education and Welfare (1953–1975) 1953–1955 1955–1958 1958–1961 1961–1962 1962–1965 1965–1968 1968–1969 1969–1970 1970–1973 1973–1975
Oveta Culp Hobby (R) Marion B. Folsom (R) Arthur S. Flemming (R) Abraham A. Ribicoff (D) Anthony J. Celebrezze (D) John W. Gardner (R) Wilbur J. Cohen (D) Robert H. Finch (R) Elliot L. Richardson (R) Casper W. Weinberger (R)
6. Gouverneure von Alabama (1931–1979) 1931–1935 1935–1939 1939–1943 1943–1947 1947–1951 1951–1955 1955–1959 1959–1963 1963–1967 1967–1968 1968–1971 1971–1979
Benjamin Meek Miller David Bibb Graves Frank M. Dixon Chauncey Sparks James E. Folsom Seth Gordon Persons James E. Folsom John M. Patterson George Wallace Lurleen Wallace Albert P. Brewer George Wallace
7. Bürgermeister von Birmingham (1925–1975) 1925–1940 1940–1953 1953–1961 1960–1963 1963–1967 1967–1975
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James M. Jones jr. W. Cooper Green James W. »Jimmy« Morgan Arthur J. »Art« Hanes Albert B. Boutwell George G. Seibels jr.
8. Vorsitzende United States House Committee on Ways and Means (1933–1975) 1933–1947 1947–1949 1949–1953 1953–1955 1955–1957 1957–1975
Robert L. Doughton (D) Harold Knutson (R) Robert L. Doughton (D) Daniel A. Reed (R) Jere Cooper (D) Wilbur Mills (D)
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