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German Pages [472] Year 2015
Cornelius Torp
Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 16 Graphiken und 11 Tabellen Umschlagabbildung: Gemeinsamer Protest von Rentnern und walisischen Bergarbeitern am Eaton Square, London, 1959 © ullstein bild – TopFoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30168-6
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Für Constantin und Lucian
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.
Austerity Britain – Alter und Alterssicherung im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . 29
1. Die soziale und politische Ausgangslage während des Krieges . . 29 2. Der Beveridge-Report und die Alten . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Aufbau der Alterssicherung und soziale Lage der Alten Anfang der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II .
Gerechtigkeit im Wiederaufbau – die Bundesrepublik in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 67
1. Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft . . . . . 67 2. Die Genese der Rentenreform von 1957 im Zeitraffer . . . . . . . . 79 3. Auf der Suche nach der gerechten Rente . . . . . . . . . . . . . . . 88 4. Die Norm der Gleichheit zwischen den Generationen . . . . . . . 99 III . You’ve never had it so good? Großbritannien von den 1950er bis zu den 1970er Jahren . . . . . 109
1. Die Kontinuität der Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Der große Wurf: Labours »National Superannuation« . . . . . . . 119 3. Alterssicherung im Zeichen der Reformblockade . . . . . . . . . . 129 4. Die Einführung von SERPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat – die Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und frühen 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
1. Armut und materielle Ungleichheit im Alter . . . . . . . . . . . . 155 2. Von der »Altersnot« zum »Altenproblem« – Die Anfänge der deutschen Gerontologie . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Der Ausbau der Alterssicherung bis zur Rentenreform von 1972 . . 174
8 Inhalt V.
Two Nations in Old Age – Das Vereinigte Königreich in den 1980er und 1990er Jahren . . . 197
1. Alterssicherung unter Thatcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich . . . . . . . . . . . 213 3. Die schleichende Krise der 1990er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 229 VI . Kontinuität nach dem Boom – Die Bundesrepublik bis zur deutschen Vereinigung . . . . . . . . 243
1. Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung . . . . . . . 256 3. Rentenreform am Abend des Mauerfalls . . . . . . . . . . . . . . . 280 VII . Back to Beveridge? Großbritannien seit den späten 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . 297
1. Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut . . . . . . . . . . . . 297 2. Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . 317 3. Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 . . . . . 334 VIII . Alterssicherung und Generationengerechtigkeit – Deutschland seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
1. Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland . . . 345 2. Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . 359 3. Brüche: Die Reformen der deutschen Alterssicherung nach der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Verzeichnis der Graphiken und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
Einleitung
Wir leben in einer alternden Welt. Vorangetrieben vom Absinken der Fertilität einerseits und vom Anstieg der Lebenserwartung andererseits, haben fast alle Industriegesellschaften einen Prozess der demographischen Alterung durchgemacht, der das gesamte 20. Jahrhundert umspannt hat und auch in den nächsten Jahrzehnten anhalten wird. Während 1900 etwa in Großbritannien lediglich 5 % der Bevölkerung älter als 65 Jahre waren, wuchs der Anteil der Alten bis 2000 auf 16 % an und soll 2030 22 % erreichen. Für das noch schneller alternde Deutschland wird damit gerechnet, dass die über 65jährigen zu diesem Zeitpunkt bereits 28 % der Bevölkerung stellen.1 Zugleich hat auch die Lebensdauer der älteren Menschen zugenommen. Aufgrund der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse ist die Zahl der Hochaltrigen deutlich gestiegen und wird weiter wachsen. War der Prozess der Bevölkerungsalterung zunächst auf Europa, Nordamerika und Japan beschränkt, hat er in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Regionen der Erde erfasst. Heute ist er ein globales Phänomen und schickt sich an, die Überbevölkerung als demographisches Zukunftsszenario zu verdrängen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung rücken die Alten und die Probleme der Alterssicherung zunehmend in das Zentrum des politischen und wissenschaftlichen Interesses. Sie stehen auch hier im Mittelpunkt. Die vorliegende Studie zielt auf eine Geschichte des Alters und der Alterssicherung in Großbritannien und Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Eine solche Geschichte braucht klare Orientierungspunkte; sonst verliert sie sich. In diesem Fall richtet die Untersuchung ihr Hauptaugenmerk auf das Wechselverhältnis von Strukturen sozialer Ungleichheit, Normen sozialer Gerechtigkeit und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen.2 Damit versucht sie, verschiedene Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit miteinander zu verbinden, die üblicherweise von ganz unterschiedlichen historischen Teildisziplinen: der Sozialgeschichte, der Kultur- und Ideengeschichte sowie der Politik- und Institutionengeschichte, getrennt voneinander behandelt werden. Indem die Arbeit den Blick auf soziale Unterschiede privilegiert, wirkt sie der vorherrschenden und die Gemeinsamkeiten des Alters überbetonenden Sichtweise entgegen, die die Gruppe der Alten als eine mehr oder minder homogene Rentnerschicht 1 Phillipson, Ageing, S. 12; United Nations, World Population Prospects, 2012 Revision. Vgl. Peace u. a., Ageing World; Harper, Ageing Societies, S. 1–19, 36–65. 2 Die Begriffe »Wohlfahrtsstaat« und »Sozialstaat« werden im Folgenden synonym verwendet.
10 Einleitung imaginiert. Indem sie Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt, betont sie nicht nur allgemein die Bedeutung von Wertideen in der Sozialpolitik, sondern auch die zentrale Stellung eines spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Wertbegriffs gegenüber anderen wie Sicherheit oder Solidarität. Durch die Frage nach der komplexen Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen Strukturen, ihrer Wahrnehmung und den sozialen Gerechtigkeitsnormen rücken schließlich die Institutionen des Wohlfahrtsstaats ins Zentrum des Erkenntnisinteresses, da ihnen eine Art Scharnierfunktion zukommt, die darauf beruht, dass sich in ihnen auf der einen Seite gesellschaftlich dominante Gerechtigkeitsprinzipien manifestieren und sie auf der anderen Seite das soziale Gefüge tiefgreifend mitgestalten. Indem die Studie untersucht, welche Rolle die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bei der Konstruktion von Alterssicherungssystemen gespielt haben, wie wohlfahrtsstaatliche Institutionen umgekehrt die gesellschaftlich vorherrschen den Gerechtigkeitsvorstellungen geprägt und soziale Strukturen verändert haben und welche Ungleichheiten, als ungerecht angeprangert, zum Ausgangspunkt sozialpolitischer Intervention wurden, versucht sie zugleich, aus historischer Perspektive einen Beitrag zur Erforschung jenes Problemkomplexes zu leisten, der sich bei Niklas Luhmann in klassischer Weise als »Gesellschaftsstruktur und Semantik« formuliert findet.3 Dabei verspricht die Konzentration auf die Gruppe der Alten in besonderer Weise, empirische Einblicke in die hier im Mittelpunkt stehende Wechselbeziehung von sozialen Ungleichheitsverhältnissen, Gerechtigkeitsideen und sozialstaatlichen Institutionen zu geben. Sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik Deutschland hat die Frage der Alterssicherung seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehend einen der wichtigsten Kristallisationspunkte wohlfahrtsstaatlicher Aufmerksamkeit und Tätigkeit dargestellt. Dementsprechend haben die Alten auch im Mittelpunkt eines Gutteils der Debatten über Armut, soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit gestanden. Gleichzeitig waren die Diskussionen über Renten und die soziale Lage der Alten der zentrale Ort, an dem sich Fragen distributiver Gerechtigkeit mit Problemen von Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit trafen. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zur jüngsten Vergangenheit. Damit nimmt die Arbeit – in der Darstellung ziemlich gleichgewichtig – sowohl das durch ökonomischen Boom und sozial politische Expansion gekennzeichnete »Goldene Zeitalter« (Eric Hobsbawm)4 bis zum Beginn der 1970er Jahre in den Blick als auch die Epoche der wirtschaftlichen Problemlagen und Krisen, der restriktiveren Finanzpolitik und des sozialstaatlichen Umbaus seither. Die Untersuchung setzt für Großbritannien 3 Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur; Rosa u. Corsten, Einleitung; Lessenich, Einleitung, S. 11 ff. 4 Hobsbawm, Zeitalter, S. 283.
Einleitung 11
und Deutschland zeitlich leicht versetzt ein: Im ersten Fall beginnt sie mitten im Weltkrieg, im zweiten rund zehn Jahre später in den frühen 1950er Jahren. Damit orientiert sich die Studie an dem unterschiedlichen Zeitrahmen, in dem es in beiden Ländern nach dem Krieg zu einer grundlegenden Neuregelung der Alterssicherung kam: Für das Vereinigte Königreich markieren die Arbeit der Beveridge-Kommission und die Umsetzung ihrer Vorschläge kurz nach Kriegsende den Anfang des Darstellungszeitraumes, für die Bundesrepublik die Adenauersche Rentenreform von 1957 und ihr sozialer wie politischer Vorlauf. Eine Vorverlegung des Untersuchungsbeginns auf die frühen 1940er Jahre auch für den deutschen Fall hätte dagegen aufgrund der anders gearteten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit wenig Sinn ergeben. Eine Ausdehnung der in den Blick genommenen Zeitspanne bis in die unmittelbare Gegenwart liegt nicht nur deshalb nahe, weil sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland wichtige rentenpolitische Weichenstellungen noch nach der Jahrtausendwende fielen. Vielmehr erscheint sie geradezu zwingend geboten, wenn man Zeitgeschichte im Sinne Hans Günter Hockerts’ ganz wesentlich auch als »Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen« begreift, statt einfach der an den Archivsperrfristen orientierten, die Forschungsgrenze von einer Dekade zur nächsten voranschiebenden Arbeitsweise zu folgen, die in diesem Bereich der Geschichtswissenschaft nach wie vor weit verbreitet ist.5 Gleichzeitig gelangt durch die Heranführung der Untersuchung an die Gegenwartsgrenze ein möglichst großer Abschnitt jener Epoche »nach dem Boom« ins Blickfeld, die in den letzten Jahren zunehmend als Periode grund legender Umbrüche in den Fokus der zeithistorischen Forschung geraten ist.6 Je länger aber der Beobachtungszeitraum ist, desto besser lässt sich beurteilen, in welchem Verhältnis in der Transformationsperiode seit den 1970er Jahren Kontinuität und Wandel stehen, in welche Richtung die vielfältigen Veränderungen weisen und ob sich eine Fortsetzung der Umwälzung oder Stabilisierungs tendenzen abzeichnen. Die Studie ist international vergleichend angelegt. Die heuristischen und analytischen Vorzüge des historischen Vergleichs, seine Fragen generierende und vermeintliche Selbstverständlichkeiten erschütternde Wirkung, die durch ihn erreichte Öffnung des Blicks für alternative Entwicklungen, sein Beitrag zur Klärung kausaler Zusammenhänge, aber auch die zahlreichen Schwierigkeiten und Fallen, die komparatistische Ansätze bereithalten, sind inzwischen zu bekannt, als dass sie hier noch einmal ausgeführt werden müssten.7 Der Vergleich 5 Hockerts, Zeitgeschichte, S. 124. 6 Vgl. bes. Doering-Manteuffel u. Raphael, Nach dem Boom. 7 Vgl. nur Haupt u. Kocka, Comparative History; Kocka u. Haupt, Comparison and Beyond; Haupt, Historische Komparatistik; Welskopp, Stolpersteine; Kaelble, Der historische Ver-
12 Einleitung setzt im vorliegenden Fall auf nationalstaatlicher Ebene an: Es werden die britischen Verhältnisse mit jenen in der Bundesrepublik Deutschland verglichen. Gegen eine solche Vorgehensweise lässt sich – durchaus zu Recht – einwenden, dass sie Gefahr läuft, den Nationalstaat als Analyseeinheit zu reifizieren, grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten und Beziehungen unterzubelichten und auf diesem Weg die im 19. Jahrhundert wurzelnde nationalhistorische Betrachtungsweise in ganz ähnlicher Weise zu stabilisieren, wie das die herkömmlichen Nationalgeschichten tun.8 In Erwiderung dieser Kritik ist zum einen vorzubringen, dass die Sozialpolitik im allgemeinen und die Alterssicherung im besonderen zu jenen Politikfeldern gehören, in denen der Nationalstaat sich bis heute ein hohes Maß an Autonomie erhalten hat und er daher die adäquate Bezugs einheit für einen Vergleich wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und der durch sie gestalteten gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Zum anderen schließen sich historischer Vergleich und Transfergeschichte nicht aus, sondern bereichern sich gegenseitig. Gerade bei dem hier interessierenden Thema drängt sich die Frage nach wechselseitigen Transfers, aber auch jene nach der Rolle supranationaler Institutionen wie der Weltbank oder der EU geradezu auf. Vor allem aber ist auch in Rechnung zu stellen, dass der moderne Wohlfahrtsstaat selbst im Modus des permanenten Vergleichs operiert. Diese von Beginn an angelegte Tendenz hat sich in der Umbauphase seit den 1970er Jahren noch einmal dramatisch verstärkt. Der Vergleich mit anderen Wohlfahrtsstaaten war nun nicht nur in allen Reformdebatten dauerhaft präsent. Vielmehr professionalisierte er sich gleichzeitig auch in Gestalt der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, die zu einer veritablen akademischen Großindustrie heranwuchs. In Ermangelung eigener Gesetzgebungskompetenz institutionalisierte die EU schließlich sogar die vergleichende Überwachung der nationalen Reformbemühungen in der Open Method of Coordination. Mit Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland stehen zwei Länder im Mittelpunkt, die eine Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten, aber auch deutlicher Unterschiede aufweisen, die in ihrer Gemengelage die Voraussetzung für jeden fruchtbaren Vergleich darstellen. Auf der einen Seite handelt es sich bei beiden um marktwirtschaftlich verfasste, hochentwickelte Industriestaaten. Beide Länder sind westeuropäische Demokratien mit einer langen sozialstaatlichen Tradition. Darüber hinaus sahen sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg mit wichtigen gemeinsamen Herausforderungen konfrontiert, zu denen etwa die zunehmende demographische Alterung, ökonomische Krisen und der wirtschaftliche Strukturwandel, aber auch die Erosion des male breadwinnergleich; Kaelble u. Schriewer (Hg.), Vergleich; Baldwin, Comparing; Green, Forms; Cohen, Comparative History. 8 Vgl. etwa Wagner, Didry u. Zimmermann, Einleitung, S. 19; Werner u. Zimmermann, Vergleich, S. 609–617.
Einleitung 13
Familienmodells und des Normalarbeitsverhältnisses mit ihren weitreichenden Implikationen für die Alterssicherungssysteme zählen. Auf der anderen Seite zeigen sich markante Unterschiede zwischen der deutschen und britischen Gesellschaft hinsichtlich der sozialen Lage der älteren Bevölkerung und des Ausmaßes an sozialer Ungleichheit insgesamt, im Hinblick auf die vorherrschenden gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen und die sozialpolitischen Positionen der großen Parteien. Schließlich repräsentieren das Vereinigte Königreich und die Bundesrepublik verschiedene Modelle von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Das gilt etwa, wenn man die in der international vergleichenden Forschung zu Alterssicherungssystemen häufig gebrauchte Unterscheidung zwischen auf dem Sozialversicherungsprinzip beruhenden und auf Statuserhalt zielenden BismarckSystemen einerseits und auf Armutsvermeidung abstellenden, durch eine allgemeine, für alle gleich hohe Grundrente gekennzeichneten Beveridge-Systemen andererseits heranzieht, für die Großbritannien und Deutschland namensgebend waren.9 Es gilt aber auch für die heute in den Sozial- und Politikwissenschaften fraglos einflussreichste, drei »Welten des Wohlfahrtskapitalismus« unterscheidende Typologie Gøsta Esping-Andersens, in der Großbritannien für das »liberale« Wohlfahrtsregime steht, während die Bundesrepublik dem »konservativ-korporatistischen« Typ zugerechnet wird.10 Typologien wie die von Esping-Andersen oder eine ihrer zahlreichen Weiterentwicklungen mag man mit guten Gründen als zu holzschnittartig, erweiterungsbedürftig, wichtige Dimensionen ausblendend oder mit dem Argument kritisieren, dass in der Realität ohnehin immer Mischtypen vorherrschten, denen die Klassifikationen Gewalt antäten.11 Auch das allerdings ändert wenig daran, dass gerade die Alterssicherungssysteme des deutschen und britischen Wohlfahrtsstaats auf grundsätzlich unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien aufruhen. Die Studie besitzt drei Gravitätszentren, die gleichzeitig die wichtigsten Forschungszusammenhänge markieren, in denen sie sich verortet. Im Hinblick auf ihren ersten Schwerpunkt: die Geschichte der sozialen Lage der Alten, geht sie vom doppelten Konstruktionscharakter ihres Gegenstandes aus. Zunächst einmal gilt es zu betonen, dass das, was wir heute unter »Alter« und der Gruppe der »Alten« verstehen, nichts Naturgegebenes, sondern ein Produkt der im 19. Jahrhundert beginnenden und sich dann im 20. Jahrhundert durchsetzenden »Institutionalisierung des Lebenslaufs« (Martin Kohli) ist.12 Im Laufe dieses Prozesses bildete sich ein an chronologischen Grenzen orientierter Standardlebenslauf 9 Vgl. nur Hinrichs u. Lynch, Old-Age Pensions; Hinrichs, Elephants; Bonoli, Two Worlds. 10 Vgl. Esping-Andersen, Three Worlds. 11 Zur Kritik vgl. nur Kohl, Wohlfahrtsstaat; Lessenich u. Ostner, Welten; Toft, Jenseits der Dreiweltendiskussion; O’Connor, Gender; Ferrera, ›Southern Model‹; Castles, Comparative Public Policy. Überblick über die Diskussion und alternative Typologien: Arts u. Gelissen, Models. 12 Kohli, Institutionalisierung. Vgl. ders., Der institutionalisierte Lebenslauf.
14 Einleitung heraus und gewann als gesellschaftliches Strukturprinzip zunehmend an Bedeutung. Für das höhere Alter war die Herausbildung des modernen Ruhestands die entscheidende Veränderung.13 Zwar scheint es Alter als kulturelle Kategorie immer schon gegeben zu haben, die einzelnen Personen aufgrund bestimmter Eigenschaften zugeschrieben wurde. Alter als klar abgrenzbarer Lebensabschnitt, der einen festen Teil der »Normalbiographie« darstellt, durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gekennzeichnet ist und darüber hinaus von der Mehrheit der Bevölkerung erreicht wird, ist jedoch ein historisch neuartiges Phänomen.14 Die zentrale Voraussetzung für die Entstehung des von der Erwerbsarbeit entlasteten Ruhestands und damit auch des Alters als Lebensphase im heutigen Verständnis bildete die Schaffung staatlicher Alterssicherungssysteme. Erst ihre Ausweitung auf einen immer größeren Teil der Bevölkerung und der Ausbau ihrer Sicherungsleistung auf ein Niveau, das den Zusammenhang von Arbeit und Essen wirksam entkoppelte, hat dann aber in allen westlichen Industriegesellschaften in einer bis ungefähr 1960 reichenden Langzeitentwicklung dazu geführt, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer tatsächlich mit Erreichen des Rentenalters aus dem Arbeitsprozess ausschied und in den Ruhestand überwechselte. Zeitgleich mit dieser Entstehung einer Lebensphase eigenen Rechts zwischen Arbeitsende und Tod etablierte sich die soziale und rechtliche Konvention, den Beginn des Alters auf die Zeit zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr festzulegen – eine Konvention, der sich im Großen und Ganzen auch die vorliegende Arbeit anschließt, wenn von den Alten oder Älteren die Rede ist. Doch lenkt die Betonung des Konstruktionscharakters von Alter den sozialgeschichtlichen Blick der Studie zugleich auch auf neuere Entwicklungen, die dieser »Daumenregel« tendenziell zuwiderlaufen. Hierzu gehören an erster Stelle die deutlichen Anzeichen für eine Destandardisierung des Lebenslaufs seit den 1970er Jahren. In der Retrospektive lässt sich gut erkennen, dass der institutionalisierte Lebenslauf seine größte Verbindlichkeit in den 1960er Jahren entfaltete, als das »fordistische« Produktionsmodell seine Hoch- und gleichzeitig Endphase erreichte. Seither lässt sich in verschiedener Hinsicht eine Destandardisierung der Normalerwerbsbiographie beobachten. Im Hinblick auf das fortgeschrittene Alter manifestiert sie sich vor allem in der Vorziehung des Austritts aus dem Arbeitsleben sowie in der Verlängerung und Ausdifferenzierung des Übergangs von der Erwerbstätigkeit zum Ruhestand.15 Führt dieser Trend dazu, dass die vorliegende Untersuchung die Alten nicht einfach mit den über 65jährigen gleichsetzt, sondern verschiedentlich auch die jüngere Alters13 Vgl. Conrad, Vom Greis; ders., Entstehung. 14 Vgl. Kohli, Institutionalisierung, S. 9. 15 Vgl. Kohli, Der institutionalisierte Lebenslauf, S. 528–530, 532 ff.; Scherger, Destandardisierung, S. 191–199; Wirsching, Erwerbsbiographien; Guillemard, Destandardisierung; dies., Equity, S. 84 ff.
Einleitung 15
gruppe in den Blick nimmt, die sich an der Schwelle des Übertritts in den Ruhestand befindet, richtet sie ihr Augenmerk an anderer Stelle auf die Heterogenität der Lebensphase des höheren Alters selbst. Damit trägt sie der sich angesichts der stetig ansteigenden Langlebigkeit verstärkenden Tendenz im wissenschaftlichen, aber auch publizistischen und politischen Altersdiskurs Rechnung, ein »drittes« Lebensalter der »jungen Alten« von einem »vierten« der Hochbetagten zu unterscheiden. Ebenso wie »Alter« unterliegt aber auch »soziale Ungleichheit« einem gesellschaftlichen Konstruktions- und Aushandlungsprozess. Welche Strukturen der Ungleichverteilung von Ressourcen und Lebensbedingungen Aufmerksamkeit erfahren, in welchen Kategorien soziale Ungleichheit begriffen, wie sie gemessen und wie mit ihr umgegangen wird – das variiert je nach gesellschaftlichem und historischem Kontext. Die Untersuchung versucht dem Rechnung zu tragen, indem sie die Analyse intra- und intergenerationeller sozialer Ungleichheiten in eine Rekonstruktion der zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Debatten über sie einbettet und auf diese Weise Sozial- und Wissensgeschichte eng miteinander verknüpft. Dem widerspricht nicht, dass sie sich in ihrem theoretischen Vorverständnis zugleich einem bewusst breit angelegten, mehrdimensionalen Konzept von sozialer Ungleichheit verpflichtet weiß und damit einem neueren Trend der soziologischen und ökonomischen Ungleichheits- und Armutsforschung folgt.16 Im Gegenteil: Erst die Öffnung eines traditionell häufig auf die materielle Dimension verengten Verständnisses von sozialer Ungleichheit für strukturelle Differenzen in Gesundheitszustand, Lebenserwartung, Bildung und Wohnverhältnissen, aber auch für die quer hierzu verlaufenden nicht-vertikalen Ungleichheitsachsen von Geschlecht und Alter bildet die Voraussetzung dafür, dass Facetten der gesellschaftlichen Ungleichverteilung wieder in den Blick geraten, die auch schon die Aufmerksamkeit der historischen Akteure erregten. Gleichzeitig erlaubt das hier zugrunde liegende, verschiedene Dimensionen und Determinanten einbeziehende Konzept von sozialer Ungleichheit aber ebenfalls, jene Ungleichheitsbereiche zu identifizieren, die sich von den Zeitgenossen mehr oder minder systematisch ausgeblendet fanden, und danach zu fragen, warum das der Fall war. Wenn im Folgenden trotz des im Grundsatz multidimensionalen Ansatzes dennoch immer wieder der materiellen Ungleichheitsdimension – zumeist in Gestalt der Einkommensverteilung – besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, hat das mehrere Gründe. Erstens sprechen die Beharrungskraft und fortdauernd große Bedeutung vertikaler Schichtungsstrukturen dafür, dass die Verteilung materieller Ressourcen – zumeist eng verkoppelt mit beruflichem und Bildungs-Status – in Marktgesellschaften wie der Bundesrepublik und Großbri16 Vgl. nur Grusky u. Kanbur, Introduction; Sen, Conceptualizing; Nussbaum, Poverty; Burzan, Soziale Ungleichheit; Jenkins u. Micklewright, New Directions.
16 Einleitung tannien durchgehend zu den dominanten Dimensionen sozialer Ungleichheit zählte und aufgrund der Konvertierbarkeit ökonomischen Kapitals in andere Lebenschancen gewissermaßen eine Art »Rückgrat« ihrer Sozialstruktur darstellt. Zweitens bildet die Einkommensverteilung in beiden Ländern jene Ungleichheitsdimension, für die über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die belastbarsten Daten zur Verfügung stehen. Drittens – und eng damit zusammenhängend – spielte die ökonomische Ungleichverteilung stets auch in den zeitgenössischen Debatten eine zentrale Rolle, wenn es um Fragen der sozialen Ungleichheit ging. Die sozialgeschichtliche Forschung hat sich dem Thema Alter ebenso wie jene Theorien sozialer Ungleichheit, deren Kategorien und Konzepte sie sich zu eigen gemacht hat, erst vergleichsweise spät zugewandt. Als zu einflussreich erwies sich hier das Verständnis der modernen Gesellschaft als industrielle »Arbeitsgesellschaft« mit den von ihr hervorgebrachten Formen sozialer Ungleichheit. Angesichts der Dominanz der an der Verwertung von Marktchancen orientierten Klassen- und Schichtmodelle stellten die – zu ihnen eigentümlich quer liegenden – »Versorgungsklassen« (M. Rainer Lepsius) der Rentner und Pensionäre geraume Zeit eine von Soziologen wie Sozialhistorikern gleichermaßen unbewältigte – und weitgehend ausgeblendete – Herausforderung dar.17 Das änderte sich erst in den 1980er Jahren, als auch Historiker unter dem Eindruck einer allgemeinen Besorgnis über die voranschreitende »Vergreisung« praktisch aller entwickelten Industriegesellschaften vermehrt ihr Augenmerk auf Fragen von Alter und Altern richteten. Seither haben sowohl Sozial- als auch Kulturgeschichte dazu beigetragen, unser Wissen über die Lebensformen und die soziale Lage der Alten in früherer Zeit, über historische Altersrollen, Wahrnehmungen und Bewertungen des Alters zu verbreitern und zu vertiefen.18 Das Bild von den Lebensverhältnissen der Alten in der Vergangenheit hat sich inzwischen deutlich ausdifferenziert; Stereotype wie das in den Sozialwissenschaften populäre, auf einer idealisierten Vorstellung der Vormoderne beruhende Narrativ einer zunehmenden Marginalisierung alter Menschen in der Moderne sind der Revision anheimgefallen. Im Großen und Ganzen lässt sich festhalten, dass Alter und Altern als historiographische Themen in Großbritannien mehr Aufmerksamkeit erfahren haben als in Deutschland und dass die Forschung die Zeit vor dem Beginn des 20. Jahrhundert besser ausgeleuchtet hat als jene danach. Ganz selten hat die historische Altersforschung die Schwelle des Zweiten Weltkriegs überschritten. Erhebliche Lücken klaffen nach wie vor in unserem Wissen über die sozialen Verhältnisse der Alten in Großbritannien
17 Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 179–182. 18 Forschungsüberblicke: Thane, Social Histories; Borscheid, Historische Altersforschung; Blessing, Geschichte.
Einleitung 17
nach 1945. Die Sozialgeschichte des Alters in der Bundesrepublik Deutschland muss gar als weithin ungeschrieben gelten. Den zweiten Fluchtpunkt der Studie bildet die Frage nach der Rolle gesellschaftlich wirkungsmächtiger Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Ebenso wie »Freiheit« oder »Sicherheit« zählt »Gerechtigkeit« zu den zentralen gesellschaftlichen Wertideen der Moderne, von denen Franz-Xaver Kaufmann schreibt, sie seien »wie Sterne: unerreichbar und doch richtungsweisend«.19 Mit den anderen Wertideen teilt der Gerechtigkeitsbegriff seine Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit. Angesichts dessen erscheint es angeraten, mithilfe von drei Grundannahmen zu klären, was gemeint ist, wenn hier von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist. Erstens soll soziale Gerechtigkeit im Folgenden als distributive, als Verteilungsgerechtigkeit begriffen werden; Aspekte der kommutativen, der politischen oder der korrektiven Gerechtigkeit bleiben dagegen weitgehend außen vor. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, heisst das, zielen immer auf die Frage, in welcher Weise materielle oder immaterielle Güter, Chancen oder Lasten unter den Mitgliedern einer Gesellschaft verteilt werden sollen.20 Das setzt nicht nur die Existenz eines – wenigstens latenten – Verteilungskonflikts voraus, sondern impliziert auch, dass es sich bei Gerechtigkeit im Kern um eine relationale, an den »Verhältnissen zwischen Menschen« interessierte Größe handelt,21 der darüber hinaus eine komparative Dimension eingeschrieben ist. Zweitens sind Gerechtigkeitsvorstellungen in letzter Konsequenz immer institutionen- bzw. ordnungsbezogen. Ob es um die Ausgestaltung gesellschaftlicher Verteilungsregeln selbst oder die Beurteilung konkreter sozialer Ungleichheiten geht, die das Resultat ihres Wirksamwerdens darstellen – stets bilden die gesellschaftlichen Institutionen und die in sie eingelassenen Verteilungsprinzipien den argumentativen Referenzpunkt.22 Umgekehrt kann Gerechtigkeit – um die Worte von John Rawls, des bedeutendsten Gerechtigkeitstheoretikers des 20. Jahrhunderts, zu gebrauchen – als »die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen« gelten.23 Drittens wird hier im Einklang mit neueren Entwicklungen in der theoretischen und empirischen Gerechtigkeitsforschung davon ausgegangen, dass in einer Gesellschaft nicht ein einziges Prinzip sozialer Gerechtigkeit allgemein vorherrscht, sondern dass es eine Pluralität von nebeneinander existierenden Gerechtigkeitsprinzipien
19 Kaufmann, Sicherheit: Das Leitbild, S. 74. Vgl. ders., Sozialstaat und Gerechtigkeit. 20 Vgl. Koller, Soziale Gleichheit, S. 56–60; Müller u. Wegener, Soziologie, S. 10; Liebig, Was versteht man?, S. 495 f.; Liebig u. Scheller, Gerechtigkeit, S. 302 f.; Liebig u. May, Dimensionen, S. 4. 21 Forst, Die erste Frage, S. 27. 22 Vgl. Liebig u. Scheller, Gerechtigkeit, S. 303; Koller, Soziale Gleichheit, S. 54; Becker u. Hauser, Soziale Gerechtigkeit, S. 13. 23 Rawls, Theorie, S. 19.
18 Einleitung gibt.24 Dabei unterscheiden sich die Verteilungsgrundsätze nicht nur je nach zu verteilendem Gut und sozialem Kontext zwischen verschiedenen »Sphären der Gerechtigkeit« (Michael Walzer) – wie beispielsweise der Marktwirtschaft, der Familie oder dem Sportverein. Vielmehr können auch in ein und demselben Verteilungskontext – dem Wohlfahrtsstaat etwa – in unterschiedlichen Teilbereichen differierende Gerechtigkeitsprinzipien gelten, während sie sich in anderen sogar überlagern und miteinander konkurrieren. Welche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit aber spielten inhaltlich eine Rolle, wenn es in Großbritannien und der Bundesrepublik um die soziale Lage der Alten und die Grundsätze der Alterssicherung ging? Anders formuliert und die klassische Wendung aufgreifend, nach der Gerechtigkeit »jedem das Seine« zu geben bedeutet: Was waren die Prinzipien, die jeweils in Anschlag gebracht wurden, um die Größe des jedem zustehenden Anteils zu bestimmen? Den heuristischen Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die in der Gerechtigkeitsforschung weitverbreitete Unterscheidung von drei Grundprinzipien distributiver Gerechtigkeit: Bedarfsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit und Gleichheit (need, merit, equality).25 Ausschlaggebend für eine Verteilung nach dem Bedarfs- oder Bedürftigkeitsprinzip ist der individuelle Bedarf, der je nach Lebenssituation, Alter, Familienstand etc. variieren kann. Soziale Leistungen, die auf diesem Grundsatz fußen, zielen üblicherweise auf die Sicherung eines soziokulturellen »Existenzminimums« und beruhen auf Bedürftigkeitsprüfungen. Nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gelten Ungleichheiten als gerechtfertigt, insofern sie unterschiedliche Leistungen von Individuen widerspiegeln – wobei zumeist »explizit oder implizit dem Markt die Definitionsmacht« darüber überlassen wird, was als Leistung zu gelten hat.26 Im Rahmen des Wohlfahrtsstaats findet das Leistungsprinzip im Grundsatz der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz seinen Ausdruck. Der Gleichheitsgrundsatz schließlich fordert, jedem die gleichen Güter, Lasten oder Anrechte zuzuweisen. Das lässt sich im Sinne von Ergebnisgleichheit – ob nun von Einkommen, Beiträgen oder Sozialleistungen – interpretieren; das Gleichheitspostulat kann sich aber ebenso auf von der sozialen Herkunft unabhängige Zugangschancen beziehen. In ihrer Gesamtheit scheinen die drei genannten Prinzipien den Raum möglicher Gerechtigkeitsvorstellungen, gleich ob sie sich in Meinungsumfragen, politischen oder theoretischen Debatten artikuliert finden oder als regulative Ideen sozialstaatlicher Institutionen fungieren, in weiten Teilen abzustecken – auch wenn ihr jeweiliges Gewicht in der Zeit, von Land zu Land, von einer so24 Vgl. Walzer, Sphären; Miller, Grundsätze; Honneth, Philosophie; Müller u. Wegener, Soziologie. 25 Vgl. bes. Miller, Grundsätze, aber auch Deutsch, Equity; Clasen u. van Oorschot, Changing Principles; Mikula, Gerecht; Liebig u. May, Dimensionen; Becker u. Hauser, Soziale Gerechtigkeit. 26 Döring, Anmerkungen, S. 72.
Einleitung 19
zialen Gruppe zu anderen und von einem Sektor des Wohlfahrtsstaats zum nächsten variiert.27 Gleichzeitig bildet die Trias von Gerechtigkeitsprinzipien keine abgeschlossene, sondern eine grundsätzlich offene und erweiterbare Systematik. Damit erweist sie sich als ausreichend flexibel, um einem Trend gerecht zu werden, der sich in den letzten Jahrzehnten abzeichnet und auch in der vorliegenden Arbeit verfolgt wird. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland nämlich lässt sich in dieser Zeit der Aufstieg neuer Gerechtigkeitssemantiken beobachten, die an askriptiv definierten sozialen Gruppen wie Familien, Frauen, Generationen ansetzen, insofern non-class issues thematisieren und das Koordinatensystem der vertrauten Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit sprengen, sich teilweise aber auch in verschiedener Weise mit ihnen amalgamieren.28 Empirisch werden Bedeutung und Wandel von Gerechtigkeitskonzeptionen in Großbritannien und Deutschland schwerpunktmäßig anhand von jeweils vier großen Rentenreformen und der sie begleitenden Debatten untersucht, die zumeist über mehrere Jahre andauerten und Brennpunkte der politischen Kommunikation über Alter, soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit darstellten. Für beide Länder werden zwei Reformen des Alterssicherungssystems aus der Zeit der Expansion des Wohlfahrtsstaats und zwei aus der Phase seines Um- und Rückbaus in den Blick genommen. Dabei richtet die Studie ihr Augenmerk nicht nur auf die Gerechtigkeitsprinzipien, die letztlich ihren Niederschlag in der institutionellen Matrix der beiden Rentensysteme fanden. Sie fragt auch, welche politischen Parteien, Verbände, Altenorganisationen und anderen Akteure im rentenpolitischen Diskussionsprozess welche Gerechtigkeitsvorstellungen vertraten und wie erfolgreich sie darin waren, diese – wenigstens temporär – als gesellschaftlich allgemeinverbindlich durchzusetzen. Auf der Grundlage der historischen Längsschnittbetrachtung wird sodann zu klären sein, ob sich im Hinblick auf Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien, aufs Ganze gesehen, unterschiedliche und überzeitlich stabile »Gerechtigkeitskulturen« identifizieren lassen. Was die Gerechtigkeitsfrage anbelangt, klinkt sich die Arbeit in den Kontext einer seit Jahrzehnten florierenden Forschung ein. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Zweige unterscheiden, die allerdings wenig voneinander Notiz nehmen oder miteinander kommunizieren.29 Auf der einen Seite steht die normative Gerechtigkeitstheorie, auf deren grundlegende Kategorien und Konzepte hier zurückgegriffen werden kann und die sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Regeln der gerechten Verteilung in einer Gesellschaft idealiter gelten sol27 Vgl. Kohli, Aging, S. 462. 28 Vgl. Leisering, Paradigmen; ders., Gerechtigkeitsdiskurse. 29 Vgl. Liebig u. Lengfeld, Gerechtigkeitsforschung, sowie allgemein die Beiträge zu Liebig u. Lengfeld (Hg.), Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, mit dem Versuch, erste Verbindungen zwischen den beiden Forschungszweigen herzustellen.
20 Einleitung len. Die Debatte über dieses Problem verfügt in der politischen Philosophie über eine lange Tradition und hat 1971 mit Rawls’ »Theory of Justice« einen wichtigen neuen Impuls erfahren. Auf der anderen Seite hat sich in den letzten Jahrzehnten eine in sich wiederum heterogene empirische Gerechtigkeitsforschung etabliert, die sich damit auseinandersetzt, welche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft tatsächlich existieren, wie sie zu erklären sind und inwiefern sie individuell und kollektiv handlungsleitend wirken. Neben einer Spielart von Studien, die sich mit Individuen und kleinen Gruppen im Rahmen von Verhaltensexperimenten beschäftigen und in der Sozialpsychologie sowie den Wirtschaftswissenschaften beheimatet sind, umfasst die empirische Gerechtigkeitsforschung einen zweiten breiten Strang, der den Sozial- und Politikwissenschaften zuzurechnen ist und selbst ganz unterschiedliche Untersuchungsansätze vereint:30 Besonders verbreitet ist, erstens, die Einstellungsforschung, die auf der Grundlage repräsentativ erhobener Umfragedaten – wie etwa denen des International Social Justice Project –, danach fragt, welche Vorstellungen von Gerechtigkeit in der Bevölkerung verbreitet sind und durch welche sozialen Variablen sie beeinflusst werden.31 Die Institutionenanalyse, zweitens, untersucht, welche Gerechtigkeitsprinzipien in die Baupläne bestimmter Institutionen eingelassen sind und welche Verteilungsergebnisse durch sie faktisch erzeugt werden.32 Diese beiden Forschungsansätze sind in den letzten Jahren durch einen dritten, diskursanalytischen Zugang erweitert worden, der sich mit der Verwendung und der Funktion von Gerechtigkeitssemantiken in öffentlichen Debatten beschäftigt.33 Eine Blindstelle, die die verschiedenen Varianten der in ihren Ergebnissen vielfach äußerst aufschlussreichen empirischen Gerechtigkeitsforschung teilen, ist ihre mangelnde historische Tiefenschärfe. Zumeist beschränken sich die Studien auf Momentaufnahmen oder allenfalls die Betrachtung kurzfristiger Entwicklungen. Im Gegensatz dazu stehen hier Kontinuität und Wandel von Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit über einen längeren Zeitraum im Mittelpunkt. Auf diese Weise soll versucht werden, zu den laufenden Debatten der empirischen Gerechtigkeitsforschung einen Beitrag aus historischer Perspektive zu leisten. Das letzte der drei Gravitätszentren der Studie ist der Wohlfahrtsstaat. Einrichtungen der öffentlichen Altersvorsorge gehören überall zu den ältesten nationalen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen – in Deutschland reichen ihre An30 Vgl. Kohli, Aging, S. 459 ff.; Liebig, Was versteht man?, S. 498 ff. 31 Vgl. etwa Kluegel, Maron u. Wegener (Hg.), Social Justice; Liebig u. Wegener, Primäre und sekundäre Ideologien; Schmitt u. Montada (Hg.), Gerechtigkeitserleben; Ullrich, Sozialpolitische Gerechtigkeitsprinzipien; Gerlitz u. a., Justice Perception. 32 Vgl. Möhle, Vom Wert; Rothstein, Just Institutions; Becker u. Hauser, Soziale Gerechtigkeit; Elster, Local Justice; Schmidt, Soziologische Gerechtigkeitsanalyse; Goodin u. a., Real Worlds. 33 Vgl. Leisering, Paradigmen; Schmidt, Values; Reeher, Narratives.
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fänge bis 1889, in Großbritannien bis 1908 zurück. Das Alterssicherungssystem stellt in den meisten OECD -Staaten seit langem den ausgabenintensivsten Teilbereich wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit dar; in vielen Fällen bilden die Rentenzahlungen den wichtigsten Einzelposten unter den öffentlichen Ausgaben überhaupt. Im OECD -Durchschnitt beliefen sich die Aufwendungen für die Alters- und Hinterbliebenenversorgung 2009 auf 7,8 % des Bruttoinlandsprodukts; gleichzeitig zeichneten sie für 16,6 % der öffentlichen Ausgaben verantwortlich. Wie deutlich dabei auch Wohlfahrtsstaaten mit einer langen Tradition voneinander abweichen können, zeigt die Tatsache, dass Großbritannien in beiden Fällen unter diesen Durchschnittswerten blieb (6,2 % und 12,1 %), während die Bundesrepublik Deutschland sie mit Rentenzuweisungen in Höhe von 11,3 % des BIP und von 23,4 % der aggregierten Staats- und Sozialversicherungsausgaben klar übertraf.34 Die Bedeutung des staatlichen Rentensystems erschöpft sich jedoch nicht in seiner Kostendynamik, seiner volkswirtschaftlichen Relevanz und seinem fiskalischen Gewicht. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive liegt sie vielmehr auch darin, dass die Errichtung und der Ausbau öffentlicher Alterssicherungssysteme den Ruhestand ab einer gesetzlich definierten Altersgrenze zur gesellschaftlichen Norm gemacht und damit die entscheidende Rolle bei der Formierung der Rentner als einer sozialen Gruppe gespielt haben. Zugleich und eng damit zusammenhängend avancierte der Wohlfahrtsstaat im Hinblick auf die Alten zur zentralen Versorgungs- und Verteilungsagentur. Beides zusammen hat sich – besonders im deutschen Kontext – im vorherrschenden Wahrnehmungsmuster der Alten als einer relativ homogenen Gruppe verdichtet, von dem nicht zuletzt auch Lepsius’ Subsumierung der Rentner unter dem Dach einer »Versorgungsklasse« zeugt. Gegen eine solche Sichtweise, die dem Wohlfahrtsstaat implizit eine ausschließlich nivellierende, ungleichheitsreduzierende Rolle zuschreibt, gilt es, auf sein ebenfalls vorhandenes Potential zu verweisen, bestehende Ungleichheiten zu konservieren, ja sogar neue hervorzubringen.35 Daher richtet sich das Augenmerk hier gleichermaßen auf die redistributive Wirkung und die ungleichheitserzeugende Dimension des Wohlfahrtsstaats. Die vorliegende Studie fragt danach, welche sozialen Gruppen durch die sozialpolitischen Arrangements systematisch benachteiligt und welche privilegiert wurden. Sie untersucht, welche Exklusionen im Verlauf von wohlfahrtsstaatlichen Inklusionsprozessen produziert wurden und inwiefern sie Ansatzpunkte für neue sozialpolitische Forderungen gebildet haben. Die hier gewählte Perspektive auf den Zusammenhang von Alter und Wohlfahrtsstaat ist eng und weit zugleich. Eine Engführung des Wohlfahrtsstaats34 OECD, Pensions at a Glance 2013, S. 171. Vgl. Obinger u. Wagschal, Social Expenditure, S. 339 f. 35 Vgl. in diesem Sinne auch Hockerts, Einführung, S. 11 ff.
22 Einleitung verständnisses stellt sie insofern dar, als dass hauptsächlich das Feld der Alterssicherung in den Blick genommen wird, während andere im Hinblick auf das Alter ebenfalls zentrale Bereiche sozialstaatlicher Tätigkeit – das Gesundheitssystem etwa, die Pflegeversicherung oder die sozialen Dienste – weitgehend außen vor bleiben. In bezug auf die Alterssicherung selbst dagegen wird der Begriff des Wohlfahrtsstaats bewusst weit interpretiert. Das bedeutet, dass sich das Augenmerk nicht nur auf das öffentliche Rentensystem, sondern auch auf die staatlichen Bemühungen zur Regulierung und Förderung privater und betrieblicher Formen der Altersvorsorge richtet. Das ist nicht nur unabdingbar, wenn man das britische Alterssicherungssystem mit seiner traditionell erheblichen Bedeutung der occupational pensions und seiner komplexen Gemengelage von staatlicher und privater Vorsorge angemessen verstehen will. Vielmehr gerät auf diese Weise auch ein sich im Bereich der Alterssicherung seit den 1990er Jahren abzeichnender internationaler Trend in den Fokus: Während der Wohlfahrtsstaat in zahlreichen westlichen Industriegesellschaften als Anbieter von Altersvorsorgeleistungen auf dem Rückzug zu sein und ihre Produktion zunehmend dem Markt zu überlassen scheint, lässt sich beobachten, dass er zeitgleich seine Anstrengungen zur Regulierung der neu geschaffenen »Wohlfahrtsmärkte« intensiviert und so seinen sozialpolitischen Gestaltungsanspruch prinzipiell aufrechterhält.36 Zu den Grundannahmen dieser Arbeit zählt, dass Gerechtigkeit zu den zentralen normativen Leitideen des modernen Wohlfahrtsstaats gehört. Bislang muss nicht nur der Gerechtigkeitsaspekt, sondern das normative Fundament des Sozialstaats insgesamt als unterbelichtet gelten. Die historische, sozial- und politikwissenschaftliche Forschung begreift den Wohlfahrtsstaat in erster Linie als das Produkt funktionaler Erfordernisse oder als das Ergebnis von Interessenkämpfen und institutionellen Eigendynamiken; seine normativen Grundlagen geraten erst seit kurzem und in Ansätzen in den Blick.37 Im Hinblick auf die Gerechtigkeitsfrage ist zwar vereinzelt zu Recht konstatiert worden, dass der Rekurs auf die mit ihr zusammenhängende Semantik sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland in den sozialpolitischen Debatten über den »Umbau« des Wohlfahrtsstaats seit den 1990er Jahren deutlich an Prominenz gewonnen hat; doch wurde zugleich die Relevanz der Gerechtigkeitsproblematik für die Zeit zuvor eher dementiert.38 Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Alterssicherung nicht nur 36 Vgl. etwa Leisering, Privatisierung; ders. (Hg.), New Regulatory State; Leisering u. Berner, Vom produzierenden zum regulierenden Wohlfahrtsstaat. 37 Vgl. Mau, Moral Economy; Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe; Manow, Religion; Oorschot, Opielka u. Pfau-Effinger, Culture; Pfau-Effinger, Wohlfahrtsstaatliche Politiken. 38 Vgl. Kaufmann, Sozialstaat und Gerechtigkeit, S. 39; Leisering, Paradigmen, S. 31; ders., Rückkehr.
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neuerdings, sondern über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg und ganz besonders auch in der formativen Periode des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Rolle gespielt haben – selbst wenn dabei der Gerechtigkeitsbegriff nicht immer im Vordergrund stand. Gleichzeitig wird versucht nachzuzeichnen, wie und warum sich in Großbritannien und der Bundesrepublik zwei klar divergierende Traditionen wohlfahrtsstaatlich institutionalisierter Gerechtigkeit herausgebildet haben. Im Einklang mit der neueren Institutionenforschung soll dabei methodisch davon ausgegangen werden, dass sozialstaatliche Institutionen einerseits die Perzeption, die Ansichten und Diskurse der in ihnen lebenden Menschen tiefgreifend prägen – ebenso wie die gesellschaftlich vorherrschenden Normen und Einstellungen sich andererseits umgekehrt in der Ausformung institutioneller Ordnungen niederschlagen.39 Im Hinblick auf ihre sozialpolitische Dimension profitiert die Arbeit in hohem Maße davon, dass die Beschäftigung mit dem Wohlfahrtsstaat seit vielen Jahren zu den methodisch fortgeschrittensten und am schnellsten expandierenden Feldern der historischen, vor allem aber der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung gehört. Besonders hervorzuheben ist auf der einen Seite eine facettenreiche nationale Spezialliteratur, in deren Zentrum der institutionelle Wandel und seine politischen Bedingungen stehen. Für den Bereich der Alterssicherung lässt sich dabei insgesamt feststellen, dass die bundesdeutsche Entwicklung intensiver erforscht ist als die britische und die analytische Eindringtiefe mit wachsendem zeitlichen Abstand zunimmt. Auf der anderen Seite hat sich die international vergleichende Forschung zum Wohlfahrtsstaat im allgemeinen und zur Alterssicherungsproblematik im besonderen seit den 1980er Jahren zu einem wissenschaftlichen Boom-Sektor entwickelt, dessen Ausstoß kaum noch überschaubar ist.40 Die entscheidende Bedeutung der historischen Dimension ist dabei seit Mitte der 1990er Jahre nicht zuletzt unter dem Einfluss der bahnbrechenden Beiträge Paul Piersons sogar noch deutlicher hervorgetreten. Mit Nachdruck hat Pierson darauf hingewiesen, dass die Expansion des Sozialstaats in der Nachkriegsära die politische Landschaft grundlegend verändert hat. Jeder Versuch eines Um- oder Rückbaus trifft seither auf – letzlich nur geschichtlich zu erklärende – Widerstände, die der Wohlfahrtsstaat selbst in Gestalt von Eigentumsrechten und Anwartschaften, von Interessengruppen, Wahrnehmungsfiltern und Denkmustern erst hervorgebracht hat und die die Reformoptionen nachhaltig einschränken.41 Ungeachtet dieser insgesamt erfreulichen Forschungslage lassen sich jedoch zwei Schwachstellen in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Wohlfahrts39 Vgl. etwa Rothstein, Just Institutions. 40 Vgl. nur als kleine Auswahl Kaufmann, Varianten; Schmidt, Sozialpolitik; Baldwin, Politics; Ritter, Sozialstaat; Lynch, Age; Arza u. Kohli (Hg.), Pension Reform. 41 Vgl. Pierson, New Politics; ders. (Hg.), New Politics; ders., Dismantling; ders., Politics; ders., When Effect; Hacker, Bringing, S. 145 ff.
24 Einleitung staat und Alterssicherung identifizieren. Zum einen klafft nach wie vor eine Lücke zwischen den Studien, die sich detailliert mit den institutionellen Veränderungen und dem politischen Betrieb in einzelnen Ländern auseinandersetzen, und jenen Arbeiten, die aus der Vogelperspektive vergleichend die Entwicklung einer Vielzahl von Wohlfahrtsstaaten verfolgen und dabei häufig in heroischer Weise von den Spezifika der Einzelfälle abstrahieren. Weit seltener sind dagegen Untersuchungen, die auf einer Meso-Ebene ansetzen, lediglich zwei bis vier Länder miteinander vergleichen und den wohlfahrtsstaatlichen Institutionenwandel aus dem komplexen Zusammenwirken von übergeordneten, transnationalen Faktoren und besonderen nationalen Bedingungen zu erklären versuchen. Deutlich schwerer noch wiegt zum anderen, dass die Wohlfahrtsstaatsforschung ihren Fokus ganz auf die Ebene des politischen Prozesses und der institutionellen Ordnung richtet, während sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die doch immerhin das Objekt der sozialstaatlichen Intervention bilden, weitgehend ausblendet. In der reichhaltigen Forschungsliteratur zur Rentenpolitik etwa spielen die soziale Lage der Alten und die Konsequenzen von Reformen des Alterssicherungssystems für die Betroffenen nur eine untergeordnete Rolle. Auf diese Weise werden die vielfältigen Wechselwirkungen von sozialer Struktur, Politik und Wohlfahrtsstaat mehr oder minder systematisch abgeschattet. Die Quellengrundlage der vorliegenden Studie ist vielgestaltig. Sie stützt sich auf bislang unveröffentlichtes Material aus einer Reihe von britischen und deutschen Archiven. Die archivalischen Quellen reichen von den Mitschriften der Diskussionen des Beveridge-Komitees Anfang der 1940er Jahre über die Akten der mit Rentenfragen befassten Ministerien bis zu den Verlaufsprotokollen der Sitzungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen Ende der 1980er Jahre, für die eine Aufhebung der Sperrfrist erreicht werden konnte. In ihren sozialgeschichtlichen Teilen basiert die Arbeit auf umfangreichem statistischen Datenmaterial. Dabei wurde auf die amtlichen nationalen Statistiken, international vergleichende Datensätze supranationaler Institutionen wie der OECD oder der EU, aber auch auf die mit voranschreitender Zeit immer reichhaltiger fließenden Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung zurückgegriffen. In allen Fällen wurde möglichst weitgehend versucht, den Entstehungskontext der Daten zu berücksichtigen und die ihnen zugrundeliegenden Kategorien zu historisieren. Mit gleicher methodischer Vorsicht galt es, die Resultate der repräsentativen Meinungsforschung zu behandeln, die vor allem für die letzten Jahrzehnte herangezogen wurden. Darüber hinaus stützt sich die Studie auf eine Fülle von gedruckten Quellen. Unter ihnen sind als erstes zahlreiche, in ihrer Summe das gesamte politische Spektrum abbildende Tages- und Wochenzeitungen zu nennen. Der »Spiegel«, die »Zeit«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, der »Guardian« und die
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»Times« wurden für den größten Teil des Untersuchungszeitraums, die »Süddeutsche Zeitung«, der »Independent« und die »Financial Times« für einzelne Zeitabschnitte systematisch ausgewertet. Eine wichtige Quelle bilden weiterhin die Debatten des Deutschen Bundestages und des House of Commons. Von nicht minderer Bedeutung sind die Versammlungsprotokolle und Beschlüsse, die Stellungnahmen und Verlautbarungen von Parteien, Verbänden und anderen Organisationen. Schließlich gründet sich die Arbeit auch auf die Auseinandersetzung mit dem schier endlosen zeitgenössischen Schrifttum, das sich mit den Themen Alter und Alterssicherung aus der Perspektive der Politik- und Sozialwissenschaften, der Ökonomie, der Sozialgerontologie und z. T. auch der Rechtswissenschaften beschäftigt. Die methodischen Probleme, mit denen sich die Zeitgeschichte bei der Nutzung der Forschungsergebnisse ihrer Nachbardisziplinen konfroniert sieht, sind bekannt:42 Es besteht die Gefahr, dass sich zeitliche Nähe in mangelnde epistemische Distanz transformiert und Deutungsangebote der Nachbarwissenschaften einfach weitgehend kritiklos übernommen werden. Gegensteuern lässt sich dem nur durch eine konsequente Historisierung der verwandten Texte und der Positionen, von denen sie aus verfasst wurden, sowie durch die Erzeugung von Multiperspektivität, die auf der Heranziehung nicht nur einer, sondern mehrerer Interpretationen aus verschiedenen disziplinären Kontexten beruht. Für die Struktur eines Buches stellt der komparatistische Ansatz üblicherweise eine besondere Herausforderung dar, da es eine weitere Dimension zu berücksichtigen gilt, die in die Linearität der sprachlichen Darstellung hineingepresst werden muss. Nicht zufällig sind historische Vergleiche im Kern häufig Strukturvergleiche, die ihren Gegenstand analytisch isolieren und in der Zeit weitgehend stillstellen, um ihn dann unter systematischen Gesichtspunkten zu zerlegen und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der jeweiligen nationalen Ausprägungen zu fragen. Das ist selbstverständlich völlig legitim, hat aber den Nachteil, dass Narrative zerschnitten werden und überhaupt häufig die Frage nach Kontinuität und Wandel ebenso in den Hintergrund tritt wie jene nach den Beziehungen zwischen den betrachteten Strukturdimensionen.43 Auch die etwas schwerfällige Darstellungsform, in der Vergleiche zuweilen daherkommen, rührt hierher. Das hier im Mittelpunkt stehende Thema mit seinem Fokus auf die Dynamik der Wechselwirkungen von sozialer Ungleichheit, Normen sozialer Gerechtigkeit und sozialstaatlichen Institutionen, aber auch die Tatsache, dass für den größten Teil des Untersuchungszeitraums noch kein historisches Narra42 Vgl. nur Doering-Manteuffel u. Raphael, Nach dem Boom, S. 57 ff.; Graf u. Priemel, Zeitgeschichte. 43 Vgl. in diesem Sinne auch Kocka u. Haupt, Comparison, S. 14.
26 Einleitung tiv existiert, das man als bekannt hätte voraussetzen können, sondern es dieses erst eigens zu entwickeln gilt – all das macht daher eine andere Herangehensweise erforderlich: Die Arbeit verfolgt ihr Problem in acht Kapiteln, die sich jeweils auf eines der beiden Vergleichsländer und einen Zeitabschnitt von einem bis gut zwei Jahrzehnten konzentrieren. Auf diese Weise widmet sich die Untersuchung historischen Konstellationen begrenzter Dauer, die eine Rekonstruktion des komplexen Wechselspiels der verschiedenen Ebenen im jeweiligen nationalen Fall ebenso erlauben wie sie eine Darstellungsform ermöglichen, in der Strukturen und ihre Veränderung sowie politische Ereignisse gleichermaßen ihren Platz finden.44 Darüber hinaus gestattet dieser Aufbau der Studie, den nationalen »Eigenzeiten« der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung gerecht zu werden. Gleichzeitig durchzieht die komparative Perspektive die einzelnen Kapitel – häufig explizit in Gestalt des vergleichenden Blicks auf Unterschiede oder Ähnlichkeiten im Vergleichsland, zuweilen aber auch implizit in Form der Schärfung der Fragestellung oder der Anlage des Arguments. Das Anfangskapitel des Buches beschäftigt sich mit Alter und Alterssicherung in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In seinem Zentrum steht die Arbeit der Beveridge-Kommission und die von ihr erarbeiteten Vorschläge zur Neuordnung der Alterssicherung. Zugleich geht es der Frage nach, wie sich die Umsetzung der Reformpläne direkt nach dem Krieg auf die soziale Lage der Alten auswirkte und wie diese Veränderung wahrgenommen wurde. Danach richtet sich der Blick auf die frühe Bundesrepublik und die lamentablen Lebensverhältnisse der Rentner in den 1950er Jahren (II). Vor diesem Hintergrund wird dann der Versuch unternommen, die grundlegende Rentenreform von 1957 unter dem für sie zentralen Gerechtigkeitsaspekt neu zu interpretieren. Das dritte Kapitel beginnt mit der »Wiederentdeckung« der Armut in Großbritannien in der Mitte der 1960er Jahre und rekonstruiert den ihr zugrundeliegenden Wandel des sozialwissenschaftlichen Armutsverständnisses. Es verfolgt die vergeblichen Versuche der Labour Party zur Reform der Alterssicherung und setzt sich mit den dabei leitenden normativen Vorstellungen auseinander. Warum, so wird gefragt, kam es im Vereinigten Königreich mit dem State Earnings-Related Pension Scheme (SERPS) erst 1975 zu einem Ausbau des öffentlichen Rentensystems, der in der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern schon fast zwei Jahrzehnte früher erfolgt war? Als nächstes bildet wieder die westdeutsche Entwicklung den Schwerpunkt der Darstellung (IV). Es kann gezeigt werden, dass die in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren durchaus fortbestehende materielle Benachteiligung älterer Menschen anders als in Großbritannien in der politischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Nach einem Ausflug zu den Anfängen der deutschen Sozialgerontologie widmet sich das Kapitel der expansiven Eigen44 Zur theoretischen Grundlegung vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 144–157.
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dynamik der deutschen Rentenpolitik, die einen deutlichen Leistungsausbau zur Folge hatte und ihren Höhepunkt mit der Rentenreform von 1972 erreichte. Das fünfte Kapitel schildert zunächst die deutlichen Einschnitte der Thatcher-Regierung in das staatliche Rentensystem, die für sie hauptsächlich verantwortlichen ideologischen Motive und die Bedingungen ihrer politischen Durchsetzbarkeit. Danach geht es den sozialen Konsequenzen der konservativen Regierungsjahre nach, bevor es die Sackgassensituation umreißt, auf die der Wohlfahrtsstaat und die britische Gesellschaft insgesamt in den 1990er Jahren zunehmend zusteuerten. Weit günstiger als im Vereinigten Königreich entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren die soziale Situation der Alten in der Bundesrepublik (VI). Auch hier aber stieg in dieser Zeit der Druck zur Reform des überkommenen Rentensystems kontinuierlich an. Anders als in Großbritannien stellte die deutsche Rentenreform von 1989 jedoch keine Radikalkur dar, sondern bewegte sich ganz im Rahmen des bislang geltenden institutionellen und normativen Koordinatensystems. Im Mittelpunkt des siebten Kapitels steht die gesellschaftliche und politische Entwicklung in der New Labour-Ära. Zuerst wird untersucht, wie sich die verschiedenen sozialpolitischen Maßnahmen der Blair-Regierung auf die soziale Lage der Alten auswirkten. Daran schließt sich eine Analyse der fundamentalen Krise an, in der die Zeitgenossen das britische Alterssicherungssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts wähnten. Zuletzt richtet sich der Fokus auf die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005. Mit dem achten und letzten Kapitel wechselt die Perspektive abermals und nimmt nun Deutschland seit der Vereinigung in den Blick. Zunächst wird dabei die Sozialgeschichte des Alters von 1990 bis zur Gegenwart weitergeführt. Nachdem die Modalitäten der Übertragung der westdeutschen Rentenversicherung auf das Beitrittsgebiet nachgezeichnet worden sind, geht es sodann um die Krise des Alterssicherungssystems seit Mitte der 1990er Jahre, ihre Ursachen und Interpretation. Anschließend wird der Paradigmenwechsel erörtert, den die Rentenreformen nach der Jahrtausendwende für das deutsche System der Alterssicherung bedeutet haben. Am Schluss der Arbeit steht eine Bilanz, die ihre wichtigsten Ergebnisse besonders unter dem Aspekt des Vergleichs und aus der Längsschnittperspektive noch einmal zusammenfasst.
I. Austerity Britain – Alter und Alterssicherung im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit
1.
Die soziale und politische Ausgangslage während des Krieges
Mitten im Zweiten Weltkrieg liegt die Geburtsstunde des modernen britischen Wohlfahrtsstaats. Anfang Juni 1941 setzte die Regierung eine Kommission unter dem Vorsitz von Sir William Beveridge mit dem Auftrag ein, das bisherige soziale Sicherungssystem auf den Prüfstand zu stellen und Vorschläge zu seiner Verbesserung zu erarbeiten. Am Ende der Tätigkeit des Komitees stand der sog. Beveridge-Report, der dann die Blaupause für den grundlegenden Neuaufbau des britischen Sozialstaats direkt nach dem Krieg bildete. Was brachte die führenden Politiker des Vereinigten Königreichs dazu, ausgerechnet in jener Phase des Weltkriegs, als alle Kräfte aufs Durchhalten ausgerichtet waren – noch stand sowohl der deutsche Angriff auf die Sowjetunion als auch der Kriegs eintritt der USA bevor –, daran zu gehen, das britische soziale Sicherungssystem einer grundstürzenden Erneuerung zu unterziehen? Zunächst: Eine so grundlegende Reform, wie sie dann später stattfand, hatte die Regierung ursprünglich überhaupt nicht im Sinn gehabt. Leitend bei der Einsetzung des Commitee on Social Insurance and Allied Services, so der offizielle Titel des von Beveridge geleiteten Ausschusses, war vielmehr der Gedanke einer begrenzten Aufräum- und Ordnungsaktion im Rahmen des bestehenden Sicherungssystems gewesen.1 Tatsächlich glich dieses eher einem in den vorangegangenen fünfzig Jahren durch stückweise Reformen und Erweiterungen planlos gewucherten Dschungel von Verordnungen und Regelungen als einem geordneten Ganzen. Nicht weniger als sieben verschiedene Regierungsressorts waren in irgendeiner Weise an der Verwaltung oder Auszahlung der unterschiedlichen Sozialleistungen beteiligt; hinzu kam ein flächendeckendes Netz von kommunalen committees, die für die bedürftigkeitsgeprüfte p ublic assistance zuständig waren. Die verschiedenen Segmente der sozialen Sicherung differierten in ihren Finanzierungsprinzipien, ebenso wie sie sich in der Höhe ihrer Leistungen – teilweise auch bei gleichem Leistungsgrund – unterschieden. Die Alterssicherung gab das klassische Beispiel für dieses Durcheinander 1 Vgl. nur Harris, Beveridge, S. 365 ff.; Abel-Smith, Beveridge Report, S. 13 f.
30 Austerity Britain von Zuständigkeiten und Leistungssystemen ab: Neben die 1908 eingeführten, bedürftigkeitsabhängigen und aus Steuermitteln finanzierten Renten, die vom Customs and Excise Office verwaltet wurden, war 1925 eine auf vorherigen Beitragszahlungen beruhende Rentenversicherung getreten, die in den Verantwortungsbereich des Gesundheitsministeriums fiel; die Ärmsten unter den Alten schließlich erhielten seit 1940 eine Zusatzrente, die das Assistance Board auszahlte.2 Dass am Ende des Krieges nicht die projektierte vorsichtige Umstrukturierung des bestehenden Systems, sondern die Realisierung eines Neuentwurfs stand, dass es mithin Beveridge gelingen konnte, eine mit höheren Beamten besetzte Evaluationskommission zum Geburtshelfer eines umfassenden Reformplanes umzufunktionieren, der dann in der Öffentlichkeit auf ein derart positives Echo traf, dass an seiner Realisierung kein Weg mehr vorbeizuführen schien – dafür war ein Geflecht von Bedingungen verantwortlich, die teils genereller gesellschaftlicher Natur waren, teils einzelne soziale Problemfelder betrafen. Auf einen ersten, die britische Kriegsgesellschaft prägenden allgemeinen Faktor hat bereits 1950 Richard M. Titmuss, Professor an der London School of Economics und wichtigster sozialpolitischer Experte der 1950er und 1960er Jahre, hingewiesen.3 Die deutschen Luftangriffe auf englische Städte und die Massenevakuierung zu Beginn des Krieges ließen, so arbeitete er heraus, sowohl das eklatante Ausmaß an sozialer Not als auch die Defizite des bestehenden sozialen Sicherungssystems mit aller Schärfe hervortreten. Das ohnehin pressierende Problem der Versorgung chronisch kranker – zumeist alter – Menschen erwies sich als zunehmend unlösbar, als durch Bombenschäden reduzierte Krankenhauskapazitäten auf einen gesteigerten Bettenbedarf für Kriegsverwundete trafen. Noch weit drastischer grub sich in das gesellschaftliche Gedächtnis das Erlebnis der staatlichen Evakuierung ein, die gleich in den ersten Kriegstagen 1,5 Mio. Kinder und Mütter aus den Großstädten in die ländlichen Aufnahmegebiete führte. Für die meisten Gastfamilien bedeutete die Einquartierung den ersten direkten Kontakt mit den Lebensbedingungen der städtischen Arbeiterschaft. Er schlug sich in einer wahren Flut von Berichten über verwahrloste, verlauste und häufig inkontinente Arbeiterkinder nieder, die in Lumpen gekleidet waren und denen akzeptables Schuhwerk fehlte. Auf diese Weise wurde der städtische Massenexodus, wie der »Economist« betonte, zur »wichtigsten Tatsache in der Sozialgeschichte des Krieges, da er der gesamten Nation die dunklen Flecke der Gesellschaft vor Augen führte«.4 2 Vgl. Thane, Old Age, S. 223 ff., 323 ff., 355 ff.; Walker u. Foster, Caught, S. 429 ff.; Macnicol, Politics of Retirement, S. 347 ff.; Hennock, Origin, S. 212–226. 3 Titmuss, Problems, S. 101–182, 442–452. Vgl. Fielding, Thompson u. Tiratsoo, ›England arise!‹, S. 20 ff.; Fraser, Evolution, S. 248 f. 4 Economist, 1.5.1943.
Die soziale und politische Ausgangslage während des Krieges 31
Ebenso wie der Krieg den krassen Klassencharakter der britischen Gesellschaft und die Unvollkommenheit staatlicher Sozialpolitik schonungslos offenlegte, entstand unter seiner Druckglocke – und das war der zweite soziale Reformen begünstigende Faktor – ein bisher unbekanntes und alle Schichten übergreifendes Gefühl nationaler Solidarität. Nun hat sich die britische Historiographie mit diesem Punkt wie auch mit der eng damit zusammenhängenden Frage nach der Existenz und Reichweite eines im Krieg wurzelnden welfare-state consensus eingehend auseinandergesetzt.5 Völlig zurecht ist dabei auf den Beitrag zeitgenössischer Medien und späterer Historiker bei der Konstruktion des Bildes einer geschlossenen, die sozialen Gräben überwindenden »Heimatfront« sowie auf das Ausmaß hingewiesen worden, in dem gesellschaftliche Spannungen und politische Differenzen den Weltkrieg überlebten oder sich sogar durch ihn verstärkt fanden. Auch empfiehlt es sich sicher, den einmütigen Widerstand gegen Nazi-Deutschland nicht mit gesellschaftlicher Solidarität gleichzusetzen und die Diversität der Kriegserfahrungen in regionaler, sozialer und chronologischer Hinsicht zu betonen. Und doch lassen die vielen autobiographischen Zeugnisse aus der Zeit des Krieges sowie nicht zuletzt auch die Aussagen der zahlreichen vom Beveridge-Komitee angehörten Repräsentanten verschiedenster Interessenorganisationen und gesellschaftlicher Gruppen kaum einen Zweifel daran, dass der Weltkrieg tatsächlich zeitweise die sozialen und politischen Differenzen in den Hintergrund drängte und einen breiten Konsens darüber entstehen ließ, dass die Vorkriegspolitik versagt hatte und umfangreiche soziale Reformen auf der Tagesordnung stünden.6 Das galt zumal für die Jahre von 1940 bis 1942, als Dünkirchen und die deutschen Bombenangriffe des Blitz ein von vielen geteiltes Gefühlssyndrom von existentieller Bedrohung, Opferbereitschaft und trotzigem Widerstand, von menschlicher Nähe und nationaler Einheit erzeugten. Die dritte Bedingung, die zur Schaffung eines günstigen Klimas für weit reichende soziale Reformen beitrug, war das Ausmaß staatlicher Kontrolle und Regelung, das im Weltkrieg in Großbritannien eine völlig neue Qualität erreichte. Die Verstaatlichung von Unternehmen und Versorgungsbetrieben, die Lenkung von Rohstoffen, die Mobilisierung von Arbeitskräften mithilfe von Notstandsgesetzen und weitreichende Produktionsvorgaben transformierten die britische Wirtschaft seit 1939 in vergleichsweise kurzer Zeit von einer Marktin eine zentral geleitete Kriegsökonomie.7 Gleichzeitig vollzog das Finanz ministerium, symbolisiert durch die Ernennung von John Maynard Keynes zum Sonderberater im Juli 1940, den Übergang zu einer Politik der makroöko5 Vgl. Addison, Road to 1945; Jones u. Kandiah (Hg.), Myth; Harris, Some Aspects; dies., War and Social History; Smith (Hg.), War and Social Change; Lowe, Second World War; Titmuss, Problems. 6 Vgl. National Archives (= NA), CAB 87/76–78. 7 Vgl. nur Milward, War; Howlett, War-time Economy.
32 Austerity Britain nomischen Steuerung von Konsum und Investition. Und auch im Bereich der Sozialpolitik nahm die Eindringtiefe staatlicher Intervention mit der Massenevakuierung, der Zentralisierung des Krankenhauswesens, der Schulspeisung sowie der Rationierung und Subventionierung von Nahrungsmitteln eine bislang unbekannte Dimension an. Die Halbwertzeit dieses kriegsbedingten Aufstiegs staatlicher Kontrolle und Planung erwies sich als weit größer, als das beim Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. Das lag zum einen an der Entschlossenheit der massiv angewachsenen zentralstaatlichen Bürokratie, die einmal gewonnenen Kompetenzen nach dem Krieg nicht wieder aufzugeben. Zum anderen geriet die in der britischen politischen und intellektuellen Elite tief verwurzelte Skepsis gegenüber einem starken Staat unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs erstmals nachhaltig unter Druck. Allenthalben schossen in den ersten Kriegsjahren teils staatlich eingesetzte, teils privat organisierte, teils parteilich gebundene, teils das politische Spektrum übergreifende »Wiederaufbaukomitees« (reconstruction commitees) aus dem Boden, in denen Pläne für das Nachkriegsgroßbritannien geschmiedet wurden. Bei aller Heterogenität, die diese Bewegung kennzeichnete, war ihren Teilnehmern – wie auch den zahlreichen publizierten Einzelstimmen, die von Linken wie R. H. Tawney bis zu konservativen Sozialreformern wie Quintin Hogg reichten – doch eines gemeinsam: die Überzeugung, dass der Staat eine weit stärkere Rolle bei der Lösung sozialer Probleme und der Gestaltung der Gesellschaft zu spielen habe, als das bislang der Fall gewesen war. Auf diese Weise erlangten die Befürworter weitreichender sozial- und wirtschaftspolitischer Reformen zum ersten Mal die Diskurshoheit: Planung und die Forderung nach staatlichen Eingriffen wurden zur Norm; nicht sie, sondern der Verzicht auf sie wurde begründungsbedürftig.8 Zu den gerade skizzierten, die britische Gesellschaft und Politik allgemein kennzeichnenden Rahmenbedingungen, die grundlegende soziale Reformen begünstigten, trat ein gesteigerter Problemdruck auf verschiedenen sozialpolitischen Feldern, zu denen insbesondere auch die Alterssicherung zählte. Bevor jedoch die Triebkräfte erörtert werden, die auf eine Verbesserung der sozialen Lage der Alten hinwirkten, soll zunächst Beachtung finden, von wo gerade kein Druck in diese Richtung ausging. Ein bemerkenswertes Schweigen der Quellen nämlich kennzeichnet in dieser Hinsicht die durchaus zahlreichen empirischen Armutsstudien (poverty surveys) der 1920/30er Jahre, die in Großbritannien eine bis auf die Untersuchungen von Charles Booth und Seebohm Rowntree am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehende Tradition und eine erhebliche Öffentlichkeitswirkung besaßen.9 Zwar lassen sich den zumeist mit erheblichem 8 Vgl. Harris, Society, S. 89 ff.; dies., War and Social History, 21–27; dies., Political Ideas; dies., Beveridge, S. 368 f. 9 Siehe Booth, Life and Labour; Rowntree, Poverty: A Study of Town Life. Vgl. Bales, Charles Booth’s Survey. Dieser und die folgenden Absätze beruhen auf Torp, »The Ending«, S. 158 ff.
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Aufwand und großer Akribie betriebenen Erhebungen fraglos eine Reihe von Informationen über die Lebensverhältnisse der älteren Bevölkerung entnehmen. So wird deutlich, inwieweit ein erträglicher Lebensstandard im Alter entweder von der andauernden eigenen Berufstätigkeit oder aber davon abhängig war, dass man unter einem Dach mit einem erwerbstätigen Ehepartner oder Kind wohnte.10 Auch wird nicht verschwiegen, dass soziale Not im Alter überproportional häufig Frauen traf.11 Doch kann ebensowenig ein Zweifel daran bestehen, dass alle Armuts enquêten der Zwischenkriegszeit das quantitative Ausmaß der Altersarmut mehr oder minder systematisch abschatteten. Das hatte vor allem zwei Gründe. Erstens hatten die Studien angesichts der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit im Großbritannien der 1920er und 1930er Jahre einen grundsätzlich anderen Fokus. Sie richteten ihr Augenmerk ganz auf die durch die Arbeitslosigkeit des male breadwinner verursachte Armut und fragten, wie diese sich auf seine Familie und insbesondere die Kinder auswirkte. Das hatte zur Folge, dass Alter allenfalls als Ursache für die gesamtgesellschaftliche Armut ins Blickfeld geriet, wo es dann gegenüber konkurrierenden Faktoren wie der Arbeitslosigkeit nur eine marginale Rolle spielte. Die für die soziale Lage der Alten entscheidende Quote der Altersarmut (also der Prozentsatz der Alten, die in Armut lebten) fand sich dagegen von vielen Untersuchungen noch nicht einmal errechnet oder aber – falls doch – als in ihrem Ausmaß gegenüber der Kinderarmut wenig dramatisch eingestuft.12 Verstärkt wurde diese Tendenz zur Entdramatisierung von Altersarmut noch durch die unter den Armutsforschern weitverbreitete Grundannahme, dass die Rentengesetzgebung von 1908 und 1925 die soziale Lage der über 65jährigen deutlich verbessert habe. Wenn Altersarmut überhaupt thematisiert wurde, so standen daher die Erfolge bei ihrer Bekämpfung im Mittelpunkt.13 Der zweite Grund dafür, dass die empirische Sozialforschung die Alters armut systematisch unterbelichtete, lag in der Art und Weise begründet, wie sie die Armutslinie konstruierte. Zwar existierten hier durchaus beträchtliche Unterschiede. Auf der einen Seite gab es jene, die, aufbauend auf Rowntrees erster York-Studie und Arthur Lyon Bowleys Erhebung in fünf nordenglischen Städten, die Armutsgrenze als einen eher physiologisch definierten »Minimum-Standard materiellen Wohlergehens« verstanden, der auf die »Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Obdach, Heizung etc.« abstellte – 10 Vgl. Jones, Social Survey, Bd. 3, S. 257 ff. Hierzu und zum folgenden vgl. allg. Macnicol, Politics of Retirement, S. 265–284. 11 Vgl. etwa Llewellyn Smith, New Survey, Bd. 3, S. 204. 12 Vgl. nur Ford, Work, S. 129; Jones, Social Survey, Bd. 1, S. 174 ; Tout, Standard of Living, S. 36 f.; Macnicol, Politics of Retirement, S. 273 ff.; Thane, Old Age, S. 327 ff. 13 Vgl. Jones, Social Survey, Bd. 3, S. 255–264; Bowley u. Hogg, Has Poverty Diminished?, S. 16; Macnicol, Politics of Retirement, S. 275 f.
34 Austerity Britain wenn sie sich auch durchaus darüber im Klaren waren, dass diese Festlegung »eher von den gesellschaftlichen Konventionen abhing als dass sie absolut« war.14 Auf der anderen Seite stand nicht zuletzt Rowntree selbst, der in der Zwischenkriegszeit einen mehr an einer sozio-kulturellen Armutslinie orientierten und damit weniger spartanischen Human Needs-Index entwickelte, bei dem er die neuen Ernährungsempfehlungen der British Medical Association sowie auch das rein physische Existenzminimum überschreitende Zusatzausgaben berücksichtigte.15 Trotz aller Unterschiede war beiden Ansätzen jedoch eines gemeinsam: Sie veranschlagten das Existenzminimum Älterer deutlich unter dem jüngerer Erwachsener, da sie von einer signifikanten Abnahme des Bedarfs für Nahrung, Kleidung etc. ab einem bestimmten Lebensalter ausgingen. Bowley etwa setzte den Bedarf eines über 70jährigen auf 65 % eines jüngeren Mannes fest; Caradog Jones ging in seiner Merseyside-Erhebung gar davon aus, dass Männer und Frauen ab 65 nur noch 60 % dessen benötigten, was ein über 16jähriger männlicher Erwachsener brauchte; und auch Rowntree gelangte bei seinen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass sich die Armutsgrenze für einen Rentner auf lediglich 59 % (15s 3d) derjenigen eines jüngeren Mannes (25s 10d) belief.16 Die in der empirischen Sozialforschung übliche, in der politischen Diskussion aber hochumstrittene Festsetzung von zwei so deutlich auseinanderliegenden Armutslinien für Jüngere und Ältere hatte unweigerlich zur Folge, dass sich sozialstatistisch weit weniger Rentner und Rentnerinnen in Armut befanden, als das bei einer einheitlichen Armutsgrenze der Fall gewesen wäre. Gänzlich unbeeindruckt von den Ergebnissen der Armutsforscher formierte sich jedoch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine machtvolle politische Bewegung, die auf Verbesserungen in der Alterssicherung abzielte. Am Ende der Dekade hatte sie ein solches Momentum gewonnen, dass der wichtigste Rentenexperte im Schatzamt, Frank Tribe, mit Unbehagen feststellte, dass »es gegenwärtig einen stärkeren politischen Druck zur Erhöhung der Altersrenten als zugunsten jeder anderen sozialpolitischen Verbesserung zu geben scheint«.17 Die treibende Kraft der Kampagne für eine deutliche Erhöhung der Renten in der klassischen Arena parlamentarischer Politik war die Labour Party, die sich auf diesem Feld seit der Mitte der 1930er Jahre immer schärfer profilierte. Ange14 Bowley, House Sample Analysis, S. 70; Bowley u. Hogg, Has Poverty Diminished?, S. 13. Vgl. Jones, Social Survey; Llewellyn Smith, New Survey; Ford, Work; Owen, Survey. Vgl. auch Hennock, Concepts of Poverty. 15 Rowntree, Human Needs. Vgl. auch Gazeley, Poverty in Britain, S. 90–97. 16 Bowley u. Hogg, Has Poverty Diminished?, S. 37; Jones, Social Survey, Bd. 1, S. 158; Rown tree, Poverty and Progress, S. 30. Vgl. auch Hatton u. Bailey, Seebohm Rowntree, die wohl fälschlicherweise davon ausgehen, dass Rowntree für Rentner und andere Erwachsene einen einheitlichen Nahrungsbedarf angesetzt hatte (S. 537). 17 F. N. Tribe to Sir Alan Barlow, 10.2.1939, NA , T 161/930.
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stoßen von Initiativen linker Labour-Abgeordneter, mündete die zusehends an Dynamik gewinnende parteiinterne Debatte 1937 in die vielbeachtete Veröffentlichung von »Labour’s Pension Plan« – der vom National Council of Labour entwickelten Vorschläge zur Reform der Alterssicherung.18 Wenn »Labour’s Pension Plan« auch Reminiszenzen an sozialistische Utopien wie die eines für die Zukunft anzustrebenden »Socialist Commonwealth« enthielt, hatten sich in ihm doch, besonders in der Akzeptanz des 1925 eingeführten Versicherungsprinzips, die Reformer und ökonomischen Realisten innerhalb der Partei klar durchgesetzt. Kernpunkt des vom Parteitag einstimmig befürworteten und bereits Ende 1937 im Unterhaus als – freilich erfolgloser – Antrag eingebrachten Labour-Vorschlags war eine Verdoppelung der geltenden Rentensätze auf 20 Shillings (= 1 £) für all jene, die mit 65 aus dem Arbeitsprozess ausschieden. Finanziert werden sollte diese Rentenerhöhung im wesentlichen durch Zusatzbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die letztere, wie Vertreter der Labour Party und der Gewerkschaften immer wieder betonten, eingedenk der verbesserten Leistungen gerne zu tragen bereit wären.19 Zur Begründung ihres Reformplans verwiesen die Labour-Abgeordneten zum einen auf das in ihren Augen unbestreitbar große Ausmaß an Altersarmut. Der soziale Absturz nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt, so Gordon Macdonald, verwehre den Älteren nicht nur ein Leben »in Anstand und Behaglichkeit«; vielmehr erfülle die Aussicht auf ihn auch die Jüngeren mit einer sie paralysierenden Angst (»worry and anxiety«). Zum anderen – und das traf vor allem bei den Gewerkschaften auf offene Ohren – ließen sich auch arbeitsmarktpolitische Gründe für die projektierte Rentenreform anführen. Bei einer verbesserten Alterssicherung, so das Argument, würden vermehrt ältere Arbeiter aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und endlich Platz für die arbeitslosen Jüngeren machen.20 Ende der 1930er Jahre war das Rententhema zu einer Art politischem Dauerbrenner geworden. Im Parlament wurden die Abgeordneten der Labour Party nicht müde, die unzureichende Alterssicherung zu kritisieren und damit die Chamberlain-Regierung unter Druck zu setzen.21 Hinzu kam, dass sich nun auch andere – zumeist Labour nahestehende – Organisationen im außerparlamentarischen Raum zunehmend in der Rentenfrage engagierten. Zu ihnen ge18 National Council of Labour, Labour’s Pensions Plan, Vgl. hierzu und zum Folgenden allg. Macnicol, Politics of Retirement, S. 301 ff. 19 Vgl. Gordon Macdonald, House of Commons (= HC), Bd. 329, 2103 (1.12.1937); David Quibell, HC , Bd. 329, 2107 f. (1.12.1937); Report of Proceedings at the 71st Annual Trade Unions Congress held at Bridlington, September 4th and 5th 1939, S. 166. 20 Gordon Macdonald, HC , Bd. 329, 2099 f. (1.12.1937). 21 Vgl. etwa die Debatten im HC , Bd. 332, 501–510 (23.2.1938); Bd. 341, 1793–1855 (23.11.1938); Bd. 351, 646–648 (13.9.1939); Bd. 352, 1971–2074 (1.11.1939). Siehe auch die Broschüre Labour’s Fight for the Old Folk, Nov. 1942, British Library of Political and Economic Science (= BLPES), HD 7/336.
36 Austerity Britain hörte etwa die 1935 gegründete und bis Ende 1938 bereits auf 140.000 Mitglieder angewachsene National Spinsters’ Pensions Association, die die prekäre soziale Lage älterer unverheirateter Frauen anprangerte.22 Die spinsters argumentierten, dass sie durch das geltende Rentenversicherungsprinzip strukturell benachteiligt würden, da sie in ihrer Mehrzahl aufgrund gesundheitlicher Probleme oder fehlender Erwerbsmöglichkeiten weder – wie die Männer – einen eigenen Rentenanspruch erwirtschaften könnten noch – wie verheiratete Frauen und Witwen – einen abgeleiteten Alterssicherungsanspruch besäßen. Sie forderten daher, die Altersgrenze für den Bezug der staatlichen Rente für ledige Frauen von bisher 65 auf 55 Jahre hinabzusetzen. Noch weit bedeutsamer als die Kampagne dieser Sondergruppe dürfte die Tatsache gewesen sein, dass sich der Dachverband der britischen Gewerkschaften, der Trades Union Congress (TUC) hinter die Labour-Forderungen stellte und sein politisches Gewicht zu ihren Gunsten in die Waagschale warf. Hierzu gehörten nicht nur entsprechende Resolutionen auf den Jahresversammlungen des TUC , sondern auch die Entsendung einer Delegation zum Schatzkanzler sowie eine Artikelserie im TUC -Organ »Daily Herald« – in den 1930er Jahren die meistverkaufte Tages zeitung der Welt –, welche die Notwendigkeit höherer Renten darlegte.23 Ein zusätzlicher Druck hin auf eine Reform der Alterssicherung schließlich ging in den späten 1930er Jahren von der Formierung einer selbstorganisierten Altenbewegung aus, die sich mit Fug und Recht als grassroots movement bezeichnen lässt. Die National Federation of Old Age Pensions Associations (NFOAPA), wie sie seit 1940 hieß, trat 1938 als ein Zusammenschluss lokaler Altengruppen ins Leben. Bis Mitte 1942 war die Organisation, die seit 1940 auch ein eigenes Blatt, den »Pensioner«, unterhielt, auf eine Zahl von 400 Ortsverbänden in England, Schottland und Wales mit mehr als eine Million Mitglieder angewachsen.24 Hauptziel der NFOAPA war eine deutliche Rentenerhöhung, die noch über die Labour-Vorschläge hinausging und außerdem mit der Forderung einer allgemeinen Vorverlegung der Ruhestandsgrenze auf 60 Jahre verkoppelt war. Um ihre Forderungen durchzusetzen, war die Federation entschlossen, sich der gesamten Klaviatur interessenpolitischer Instrumente zu bedienen. Zu ihnen zählten etwa Massenpetitionen an das Parlament mit in die Millionen gehenden Unterschriften, aufeinander abgestimmte Protestresolu-
22 Vgl. Thane, Old Age, S. 284 ff.; Macnicol, Politics of Retirement, S. 308–319. 23 Vgl. Report of Proceedings at the 70th Annual Trades Union Congress held at Blackpool September 5th to 9th 1938, S. 334 f.; Report of Proceedings at the 71st Annual Trade Unions Congress held at Bridlington, September 4th and 5th 1939, S. 135, 165–167. 24 Interdepartmental Committee on Social Insurance and Allied Services, Meeting 20.5.1942, NA , CAB 87/77, S. 2 (Aussage der Vertreter der NFOAPA). Vgl. zur NFOAPA insgesamt Blaikie, Emerging Political Power, S. 30–34; Macnicol, Politics of Retirement, S. 319–322.
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tionen der einzelnen Ortsvereine und Pressekampagnen.25 Besonderes Gewicht legte die NFOAPA jedoch auf die gezielte Bearbeitung der einzelnen Members of Parliament (MPs). Sie fanden sich im Vorfeld von wichtigen Entscheidungen mit Telegrammen bombardiert, wurden von den lokalen Rentnerverbänden in ihren Wahlkreisen vorgeladen und mussten damit rechnen, im »Pensioner« namentlich als »Feind der Rentner« gebrandmarkt zu werden, wenn sie sich nicht für die NFOAPA-Forderungen einsetzen.26 Angesichts der zum Teil äußerst knappen Wahlergebnisse in einzelnen Wahlkreisen und der großen Zahl älterer Wähler blieb das nicht ohne Eindruck auf viele MPs. Mit ihrer vollständigen Konzentration auf die Rentenfrage und ihrem äußerst aggressiven Kampagnenstil trug die parteilose Federation wesentlich dazu bei, dass die soziale Lage der Alten zu einem zentralen Thema der britischen Politik avancierte, das auch der Kriegsausbruch nicht hinwegzufegen vermochte. Politisch in der Frage der Alterssicherung immer mehr in die Ecke gedrängt, reagierte die Chamberlain-Regierung unter der Federführung des Schatzamts Anfang 1940 mit einem Minimalprogramm: Der Old Age and Widows’ Pensions Act reduzierte zwar das Rentenalter für versicherte Frauen und die Ehefrauen von Rentnern auf 60. Er brachte jedoch keine Erhöhung der Renten auf breiter Front. Vielmehr führte er lediglich für die ärmsten Rentner supplementary pensions, also eine Zusatzrente ein, deren Zahlung von einer vorherigen Bedürftigkeitsprüfung abhängig war. Gleichzeitig übertrug das Gesetz die Verantwortung für die neuen supplementary pensions aus organisatorischen Gründen nicht den sonst für Fürsorgeleistungen zuständigen lokalen public assistance committees, sondern dem 1934 gegründeten nationalen Unemployment Assistance Board. Hauptsächlicher Zweck der ganzen Aktion war es, die unter den Kriegslasten ohnehin ächzenden öffentlichen Kassen zu schonen. Anders als eine allgemeine Rentenerhöhung war eine gezielte Armutsbekämpfung vergleichsweise billig: Nur ca. 400.000 Rentner – lediglich 125.000 mehr als jene, die zuvor schon public assistance erhalten hatten –, so schätzte man, würden im Endeffekt die neue Zusatzrente in Anspruch nehmen.27 Die offiziellen Vorausberechnungen waren schon nach wenigen Wochen Makulatur. In erster Linie wohl, weil den supplementary pensions das mit der public assistance verbundene Stigma des alten Armenrechts zu fehlen schien, gingen beim Assistance Board in den ersten zwei Monaten nach Beginn der neuen 25 Vgl. E. Melling, Pensioners’ Progress. The Story of the Fight for the Aged People of Great Britain, BLPES , HD 7/C8; Eingabe des Coundon Grange & District Branch der NFOAPA , 31.10.1944, NA , PIN 8/64; Eingabe der Scottish Old Age Pensioners’ Association, Edinburgh and Lothians Area Council, 25.10.1944, NA , PIN 8/64. 26 Vgl. O. A. P. Delegates from Scotland, Wales & England Discuss the White Paper, in: The Pensioner, Oktober 1944; The Pensioner, April 1941. 27 Vg. Blaikie, Emerging Political Power, S. 30; Macnicol, Politics of Retirement, S. 335–342; Thane, Old Age, S. 332, 355.
38 Austerity Britain Regelung nicht die erwarteten 400.000, sondern 1.275.000 Anträge ein.28 Selbst die einer sozialkritischen Sichtweise unverdächtige »Times« erblickte in diesem Auseinanderklaffen von erwarteten und tatsächlichen Unterstützungsfällen »eine bemerkenswerte Entdeckung von verborgener Not«.29 Es manifestierte sich hier ein Zusammenhang, den Georg Simmel in seinen Betrachtungen zur Armut und zur Sozialfigur des Armen herausgearbeitet hat. »[S]oziologisch angesehen«, so Simmel, »ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung …, sondern derjenige, der Unterstützung genießt … dieser heißt der Arme.« Armut lasse sich daher nicht sui generis und absolut, »als ein quantitativ festzulegender Zustand« bestimmen; vielmehr sei sie sowohl relativ als auch gesellschaftlich konstruiert, substantialisiere sie sich als soziale Wirklichkeit erst als Produkt des Unterstützungsverhältnisses.30 Das enorme Ausmaß an Altersarmut im Großbritannien der 1930er und 1940er Jahre, so lässt sich das hier ausbuchstabieren, wurde als solches erst wahrgenommen und öffentlich skandalisiert, als ein Drittel der Rentner durch eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen faktisch zu Sozialhilfeempfängern geworden war. Völlig im Gegensatz zu der Intention der an einer kostengünstigen Pazifizierung der Rentenfront interessierten britischen Regierung hatte die Einführung der supplementary pensions die prekäre soziale Lage der Alten in grellem Licht zutage treten lassen. Eine Reform der Alterssicherung erschien nun dringender denn je.
2. Der Beveridge-Report und die Alten Das Image des Beveridge-Reports als Gründungsurkunde des modernen Wohlfahrtsstaats in Großbritannien und weit darüber hinaus sowie der von Mythen umrankte Status William Beveridges im »Pantheon«31 der Sozialpolitik haben durch die neuere Forschung eine Reihe von Kratzern hinnehmen müssen. Historiker und Historikerinnen haben die dem Beveridge-Plan inhärenten Inkonsistenzen herausgearbeitet und betont, dass einige seiner Grundprinzipien nie in die Praxis umgesetzt wurden. Gleichzeitig traten seine konservativen und liberalen Facetten gegenüber den sozialdemokratisch-redistributiven deutlicher in den Vordergrund. Eng damit zusammenhängend, wurde der revolutionäre Charakter des Beveridge-Reports relativiert und gezeigt, dass er in vielerlei Hinsicht Ideen und Vorschläge aufgriff, die bereits in den 1930er Jahren im Umlauf 28 Deacon u. Bradshaw, Reserved for the Poor, S. 37; Macnicol, Politics of Retirement, S. 341. 29 A Discovery of Need, in: The Times, 19.8.1940. 30 Simmel, Der Arme, S. 551 f. Vgl. hierzu auch Paugam, Die elementaren Formen, S. 14 f., 52–69. 31 Baldwin, Beveridge, S. 40.
Der Beveridge-Report und die Alten 39
waren.32 Zu lange, so die dabei leitende Vorstellung, sei man Beveridges Selbstdarstellung: »Ein revolutionärer Moment in der Weltgeschichte ist der Augenblick für Revolutionen, nicht für Flickschusterei«, und seiner als »Bunyanesque« bezeichneten Prosa auf den Leim gegangen.33 Das alles sind notwendige Historisierungen und berechtigte Relativierungen. Dennoch sollte darüber die zentrale Stellung des Beveridge-Plans in der Geschichte des britischen Wohlfahrtsstaats nicht in Vergessenheit geraten. Zum ersten Mal fand sich in ihm ein soziales Sicherungssystem »aus einem Guss« und mit umfassendem Anspruch konzipiert. Nach Jahren der Entbehrung und des Bangens – und darin liegt ein Gutteil seines späteren Nimbus begründet – stieß er in der britischen Bevölkerung gerade aufgrund seiner universalistischen Vision auf eine euphorische Aufnahme; »wie Manna aus dem Himmel« sei er den meisten erschienen, wie das der Labour-Politiker James Griffith später ausdrückte.34 Schließlich gilt es hervorzuheben, dass der Beveridge-Plan – bei allen Änderungen im einzelnen – tatsächlich in seinen wichtigsten Elementen nach dem Krieg von der Labour-Regierung umgesetzt wurde, er also mit Recht als blueprint für den britischen Wohlfahrtsstaat nach 1945 mit bis heute reichenden Auswirkungen zu bezeichnen ist. Für den Historiker sind der Beveridge-Report und sein Zustandekommen aber nicht nur aufgrund seiner fraglos großen Nah- und Fernwirkungen von besonderem Interesse. Vielmehr gestattet die sich über weit mehr als ein Jahr hinziehende und bestens dokumentierte Arbeit des Beveridge-Komitees auch einzigartige Einblicke in die Art und Weise, wie die handelnden Akteure die gesellschaftlichen Verhältnisse perzipierten, und in die sie leitenden Normen sozialer Gerechtigkeit. Vom TUC über die British Employers’ Confederation bis zu den Fabianern gaben praktisch alle mehr oder minder relevanten gesellschaftlichen Organisationen vor dem Komitee mündliche Stellungnahmen ab oder sandten wenigstens ein Memorandum ein. Besonders die als Verlaufsprotokolle erhaltenen und häufig durchaus kontroversen Diskussionen der Komitee-Mitglieder mit den von ihnen vernommenen »Zeugen« stellen ein erstklassiges Quellenmaterial dar, wenn es darum geht, das zeitgenössische Wahrnehmungs- und Normenspektrum in seiner ganzen Breite zu rekonstruieren. Zugleich demonstrieren die Akten des Commitee on Social Insurance and Allied Services aber auch eindrucksvoll, in welchem Ausmaß Beveridge selbst die Kommissionsarbeit dominierte und wie sehr der abschließende Be32 Siehe etwa Lowe, Prophet Dishonoured; ders., Welfare State, S. 145–147; Glennerster u. Evans, Beveridge; Cutler, Williams u. Williams, Keynes; Macnicol, Politics of Retirement; Fraser, Evolution, S. 254 ff. Vgl. aber auch Bridgen, Straitjacket. 33 Social Insurance and Allied Services (= SIAS), S. 6 (NA , PREM 89/2); Glennerster u. Evans, Beveridge, S. 69; Nicholas Timmins, When Britain Demanded Fair Shares for All, in: The Independent, 27.7.1995. 34 Griffith, Pages, S. 70.
40 Austerity Britain richt sein ureigenes, idiosynkratrisches Produkt darstellte.35 Wenn den Vorstellungen Beveridges im Folgenden teilweise besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, liegt das in dieser Sonderstellung begründet. Er bestimmte nicht nur die Agenda des Ausschusses und übernahm die Abfassung des Abschlussberichts; vielmehr zeigt sich, dass Beveridge diesen in seinen Grundgedanken in verschiedenen Memoranden bereits zu einem Zeitpunkt skizziert hatte, als erst ein Bruchteil der Anhörungen erfolgt war. Die Regierung – und hier besonders das Schatzamt – versuchte dem Alleingang Beveridges und dem Ausmaß, in dem er den Ausschuss für seine Ziele instrumentalisierte, dadurch Rechnung zu tragen, dass sie den Status der der Kommission angehörenden Beamten auf den von Beratern hinunterstufte und damit Beveridge zum alleinigen Unterzeichner des Berichts machte. Das sollte die Distanz der Regierung zu den Empfehlungen des Ausschusses signalisieren und sie – vergeblich – in ihrer politischen Bedeutung relativieren. Der Alterssicherung wurde von der Beveridge-Kommission ein zentraler Stellenwert zugewiesen. Erstens war man sich darüber einig, dass es eine »starke öffentliche Nachfrage« nach einer ausreichenden Rentenversorgung gebe.36 Zweitens sei die Rentenfrage, wie der Abschlussbericht hervorhob, aber auch aus anderen Gründen das zugleich wichtigste und am schwierigsten zu bewältigende Teilproblem des gesamten sozialen Sicherungssystems. Zum einen nämlich sei angesichts der Tatsache, dass die Alten die bei weitem größte Gruppe von Wohlfahrtsstaatsklienten darstellten, eine befriedigende Regelung der Alterssicherung schon deshalb von überragender Bedeutung, weil sonst »viele Menschen leiden würden«. Zum anderen habe die quantitative Dimension des Rentenproblems, die aufgrund der demographischen Entwicklung in den folgenden Jahrzehnten noch an Dramatik gewinne, zur Folge, dass jede auch noch so kleine Erhöhung der Altersbezüge sich insgesamt zu exorbitanten Summen aufaddiere und die Kassen des Staates erheblich belaste.37 Insbesondere drei Grundfragen waren es, vor denen die Kommission bei der Neuregelung der Alterssicherung stand. Die Art und Weise, wie sie sich mit ihnen auseinandersetzte, und die Ergebnisse, zu denen sie schließlich gelangte, lassen weitreichende Rückschlüsse auf die leitenden wohlfahrtsstaatlichen Normen und die Bedeutung anderer Faktoren zu: 1. In Frage stand zunächst einmal die grundsätzliche Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems. Der Beveridge-Plan optierte hier im Endeffekt für eine Verbindung von drei Prinzipien: Erstens hatte er einen universalistischen Zuschnitt. Alle britischen Staatsbürger, bedeutete das, – »vom Herzog bis zum 35 Vgl. auch das Urteil seiner Biographin: Harris, Beveridge, S. 404 f. 36 Committee on Social Insurance and Allied Services (= CSIAS), Meeting 11.2.1942, S. 3, NA , CAB 87/77. 37 SIAS , S. 92.
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Müllmann«, wie der »Daily Mirror« titelte38 – sollten den neuen Wohlfahrtsstaat finanziell mittragen, ebenso wie sie alle von seinen Leistungen profitierten. Zweitens war die soziale Absicherung gegen Alter, Arbeitslosigkeit und Berufsunfähigkeit – anders übrigens als das im Beveridge-Report freilich nur kursorisch behandelte Gesundheitssystem und das Kindergeld – als »klassische« Sozialversicherung und nicht als steuerfinanziertes Leistungssystem konzipiert. Drittens sollten die Beiträge ebenso wie die Leistungen prinzipiell für alle gleich hoch – »flat rate« – sein, wobei sich die Leistungen in ihrer Höhe am Existenzminimum orientieren sollten (zu dessen Bestimmung siehe unten, 2.). Zum Nimbus und zur weltweiten Wirkung der Beveridge-Vorschläge trug wesentlich bei, dass sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ihre kongeniale Interpretation und ideelle Überhöhung durch Thomas H. Marshall erfuhren. In seinem 1950 erstmals publizierten, auf Vorlesungen in Cambridge im Jahr zuvor aufbauenden Essay »Citizenship and Social Class« porträtierte der bekannte Soziologe den Wohlfahrtsstaat universalistischer Prägung als den krönenden Abschluss einer jahrhundertlangen Entfaltung des Konzepts der Staatsbürgerschaft.39 Zu den bürgerlichen Freiheitsrechten, so Marshall, seien zunächst die politischen und in der Mitte des 20. Jahrhunderts nun endlich auch die sozialen Grundrechte getreten, die den Staatsbürgerstatus in einem modernen demokratischen Staat erst komplettierten. Über diese »Vollendungstheorie« ist zeitweise in Vergessenheit geraten, dass die Grundprinzipien des Beveridge-Reports von Beginn an nur mühsam miteinander harmonierten. Ein erstes offensichtliches Problem lag in der Vereinbarkeit des Universalitätsprinzips mit dem Konzept einer Sozialversicherung, die sich aus Beitragszahlungen aufgrund von Erwerbstätigkeit speiste. Wie konnte es gelingen, jenen – nicht unerheblichen – Teil der Bevölkerung zu inkludieren, der zwar im erwerbsfähigen Alter, aber nicht erwerbstätig war bzw. die Beiträge nicht aufbringen konnte? Man behalf sich mit der Schaffung von Sonderklassen – u. a. einer für nicht erwerbstätige, verheiratete Frauen, für die man aus den Beiträgen ihrer Ehemänner einen Versicherungsanspruch ableitete –, ohne das Problem grundsätzlich lösen zu können.40 Ganze Gruppen – besonders alleinstehende Frauen ohne oder mit geringem Verdienst – blieben außen vor. Hinter diesen praktischen Schwierigkeiten stand freilich das Grundproblem, dass ein auf dem Staatsbürgerstatus beruhender Universalismus und eine sich auf Beitragszahlungen gründende Sozialversicherung auf prinzipiell unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen aufbauten. Während die sich aus ersterem ableitenden bürgerlichen und politischen Rechte ohne weitere Voraussetzungen an die Staatsbürgerschaft geknüpft waren, wa38 Daily Mirror, 2.12.1942. 39 Vgl. Marshall, Staatsbürgerrechte. 40 Vgl. SIAS , S. 10. Siehe auch Lowe, Welfare State, S. 139 ff.; Baldwin, Politics, S. 118–122; ders., Beveridge, S. 49 ff.
42 Austerity Britain ren soziale Rechte, die auf letzterer basierten, stets an Vorableistungen gebunden und wurzelten damit in einer eigentumsrechtlichen Vertrags- und Reziprozitätslogik. Kaum weniger gut vertrugen sich das Versicherungsprinzip und der Grundsatz von gleichen Beiträgen für alle. Von Anfang an stand damit das soziale Sicherungssystem unter dem Imperativ des Finanzmangels, da sich die Beiträge in ihrer Höhe an dem zu orientieren hatten, was die am schlechtesten bezahlten Arbeiter in der Lage waren aufzubringen. Das wiederum stellte die Flexibilität des gesamten Systems in Frage und setzte der Leistungshöhe a priori engste Grenzen. Lagen diese Inkonsistenzen darin begründet, dass eine alternative Ausgestaltung der verschiedenen Grundprinzipien im Horizont der Zeitgenossen nicht vorstell- oder artikulierbar gewesen wäre? Keineswegs. Das International Labour Office (ILO) etwa wies in dem von ihm eingereichten Memorandum darauf hin, dass das Versicherungsprinzip für Frauen und andere Gruppen mit prekärem Arbeitsmarktkontakt nicht funktioniere.41 Der Ökonom James Meade, damals Mitglied der Economic Section des Cabinet Office, sah in einem einheitlichen Sozialversicherungsbeitrag eine veraltete und regressiv wirkende Kopfsteuer.42 Die National Federation of Old Age Pensions Associations endlich machte sich vor der Beveridge-Kommission für eine Aufgabe des Versicherungsprinzips und für eine aus staatlichen Mitteln finanzierte einheitliche Staatsbürgerrente stark.43 Auch Alternativen zum Gleichheitskonzept bei Beiträgen und Leistungen lagen nicht außerhalb der zeitgenössischen Vorstellungswelt. Zu Beginn ihrer Arbeit hatte die Beveridge-Kommission selbst als offene Frage formuliert: »Soll sich die Höhe der Leistungen der staatlichen Sozialversicherung an den Einkommen orientieren (d. h. sollen die Leistungen einen bestimmten Prozentsatz der Löhne oder Einkommen ausmachen) oder soll sie eine einkommensunabhängige Pauschalleistung auszahlen?«44 Alternativen zur Einheitlichkeit von Beiträgen und Leistungen wurden wiederum vom ILO, das für eine Kopplung von beiden an die Löhne eintrat, und vom think tank Political and Economic Planning vorgeschlagen, der gleiche Leistungen, aber nach Einkommen gestaffelte Beiträge favorisierte.45 Wenn die oben skizzierten Grundprinzipien dennoch kaum kontrovers diskutiert wurden und daher aus der Retrospektive zuweilen fast alternativlos 41 International Labour Office Memorandum, NA , CAB 87/79: SIC(42)39. 42 Notiz James Meade, 20.2.1942, NA , T 230/101. Vgl. auch Glennerster, British Social Policy, S. 31 f.; ders. u. Evans, Beveridge, S. 59 f. 43 Vgl. CSIAS , Meeting 20.5.1942, NA , CAB 87/77; Paper 43: Memorandum of Evidence by the National Federation of Old Age Pensions Associations, in: SIAS , Appendix G, (NA , PREM 89/2). 44 Paper 1: Some Principal Questions on Social Insurance and Allied Services, in: SIAS , Appendix G, S. 1. 45 Vgl. CSIAS , Meeting 6.5.1942, NA , CAB 87/77; Abel-Smith, Beveridge-Report, S. 15.
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erscheinen mögen, lag das einerseits daran, dass sie sich alle auf tief verwurzelte Überzeugungen Beveridges zurückführen lassen, dem es in der Kommission gelang, sie als Prämissen zu etablieren, ohne eine größere Debatte zuzulassen, und andererseits daran, dass sie einen breiten Rückhalt in der britischen Gesellschaft fanden. Das galt zunächst einmal für den universalistischen Ansatz eines alle Bürger einschließenden sozialen Sicherungssystems. Er entsprach in hohem Maße dem oben (Kap. I.1) geschilderten neuen Gefühl nationaler Einheit und Solidarität, das sich unter dem Eindruck des Krieges und seiner Auswirkungen entwickelt hatte. Die Vorschläge des Beveridge-Plans verlängerten hier gewissermaßen die – zu einem Gutteil imaginäre – Gleichheitserfahrung vor den existentiellen Gefahren des Krieges in die universalisierte Absicherung der Alltagsrisiken in der Nachkriegszeit. Hinzu kam – darauf hat Peter Baldwin hingewiesen –, dass jene Gruppen von Erwerbstätigen, von denen potentiell Widerstand gegen einen Einschluss in ein universales Sicherungssystem hätte ausgehen können – Selbständige etwa oder Arbeitnehmer mit einem speziellen Status –, in Großbritannien deutlich kleiner waren als auf dem Kontinent und auch nicht über ein so ausgeprägtes Standesbewusstsein verfügten wie die französischen cadres oder die deutschen Angestellten.46 Ein zentrales Motiv für die breite Zustimmung zur Universalisierung des Wohlfahrtsstaats war schließlich die allgemeine – Beveridge einschließende – Überzeugung, dass die Regelungen des alten Poor Law untragbar geworden seien. Bislang war ein beträchtlicher Teil der Briten ohne jede Sozialversicherung gewesen; dementsprechend erhielten etwa von den 5.500.000 Alten im rentenfähigen Alter (Frauen über 60, Männer über 65) knapp zwei Millionen überhaupt keine staatliche Rente.47 Gerieten sie in soziale Not, war ihre einzige Hoffnung die public assistance, die jedoch eine Bedürftigkeitsprüfung – den berüchtigten means test – voraussetzte. Völlig zurecht sprach der Beveridge-Report von der »Stärke des öffentlichen Widerstands gegen jede Form der Bedürftigkeitsprüfung«.48 Wie ein roter Faden zieht sich die Ablehnung gegen den means test mit seinen als anachronistisch und entwürdigend empfundenen Bestimmungen durch die Stellungnahmen vor der Kommission. Der »abscheuliche Bedürftigkeitstest«,49 der einen Besuch durch einen Beamten der Armenbehörde und eine peinliche Ausforschung des Bedürftigen und seiner Familie mit sich brachte, so der allgemeine Tenor, stigmatisiere die Betroffenen und führe dazu, dass viele lieber in Not lebten, als sich ihm zu unterwerfen. Ein universales Sicherungssystem, das jedem einen bedürftigkeitsunabhängigen Anspruch auf Leistungen in Aussicht stellte, sollte all das überwinden. 46 Vgl. Baldwin, Politics, S. 118. 47 Macnicol, Politics of Retirement, S. 368. 48 SIAS , S. 12. 49 Paper 43: Memorandum of Evidence by the National Federation of Old Age Pensions Associations, SIAS , Appendix G, S. 243.
44 Austerity Britain Für das zweite Grundprinzip: den Vorzug der Sozialversicherung gegenüber einem aus Steuermitteln gespeisten System, sprach – wie bereits hellsichtige Zeitgenossen erkannten –50 in erster Linie ein ausgeprägter institutioneller Konservativismus aller Beteiligten. Das galt zunächst einmal für Beveridge selbst, der sein gesamtes berufliches Leben mit konzeptionellen und praktischen Fragen der Sozialversicherung, insbesondere der Arbeitslosenversicherung, beschäftigt gewesen war. Bereits 1924 hatte er für die Liberalen in »Insurance for All and Everything« einen ersten Entwurf für ein umfassendes Sozialversicherungssystem vorgelegt.51 Beveridge war von dem moralischen, erzieherischen und politischen Wert des im Versicherungskonzept angelegten Prinzips der Entsprechung von Beitrag und Leistung zutiefst überzeugt. In seinem Denken geriet die Beitragsleistung zur Verkörperung staatbürgerlicher Pflichterfüllung.52 »Ich glaube, es gibt ein psychisches Bedürfnis«, argumentierte er weiterhin, »etwas zu bekommen, für das man gezahlt hat«.53 Ein soziales Sicherungssystem, das den Beitrags-Leistungs-Zusammenhang auflöse, werde hingegen zwangsläufig zu einem »Tom Tiddlers’ ground«, einem »Santa Claus state«, der die Leistungsempfänger zu Passivität und Unverantwortlichkeit erziehe.54 Eine Durchsicht der zahlreichen Memoranden verschiedenster gesellschaftlicher und politischer Gruppen scheint Beveridges Auffassung von der breiten Akzeptanz des seit Jahrzehnten etablierten Sozialversicherungsmodells zu bestätigen.55 Selbst die Gewerkschaften, die lange Zeit für steuerfinanzierte Renten eingetreten waren, hatten sich in den 1930er Jahren zum Versicherungsprinzip, das in ihren Augen den Vorzug einer Stärkung der Anspruchsgrundlage besaß, bekehren lassen und argumentierten jetzt wie selbstverständlich in den Bahnen des social insurance-Paradigmas.56 Hinter dieser Fixierung auf das Sozialversicherungsprinzip stand – das galt jedenfalls für Beveridge selbst, aber nicht nur für ihn – ein Konzept von Sozialpolitik, das völlig unter dem Primat des Arbeitsmarkts stand. Als Normalfall galt ihm der dauerhaft und zu einem angemessenen Lohn beschäftigte Arbeitnehmer. Soziale Notlagen entstanden vor diesem Hintergrund durch »Unterbrechungen« des Arbeitsverhältnisses – wie Geburt, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter – und waren daher durch das Einspringen der Versichertengemein50 Notiz James Meade, 20.2.1942, NA , T 230/101; und im Grunde auch Keynes: Keynes to Meade, 8.5.1942, NA , T 230/101. 51 Beveridge, Insurance. 52 Vgl. Harris, Beveridge’s Social and Political Thought, S. 31 ff.; dies., Beveridge, S. 365 ff. 53 CSIAS , Meeting 17.6.1942, NA , CAB 87/78. 54 CSIAS , Meeting 25.2.1942, NA , CAB 87/77; CSIAS , Meeting 17.6.1942, NA , CAB 87/78. 55 Vgl. SIAS , S. 11 f.; SIAS , Appendix G. 56 Wenn sie auch eine signifikante staatliche Bezuschussung vorschlugen: Paper 3: Memorandum of Evidence by the Trades Union Congress, SIAS , Appendix G, S. 17. Vgl. Macnicol, Politics of Retirement, S. 322 ff.
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schaft zu bewältigen. Einher ging damit ein Redistributionskonzept, das nicht vertikal, sondern horizontal angelegt war, auf Umverteilung also nicht zwischen den »Klassen«, sondern zwischen »verschiedenen Altersgruppen und verschiedenen Phasen des eigenen Lebens« zielte.57 Interessanterweise stützte Beveridge seine Sichtweise auf eine eingehende Lektüre der neueren Armutsstudien – allen voran von Seebohm Rowntrees gerade (1941) erschienenem Buch, das auf eine Erhebung von 1936 zurückging. Rowntree hatte in York gegenüber seiner Untersuchung von 1899 nicht nur einen deutlichen Rückgang an »primärer« Armut festgestellt, sondern auch eine Veränderung ihrer Ursachen. Während sich 1899 noch über die Hälfte der Armutsfälle auf niedrige Löhne zurückführen ließen, waren es 1936 nur mehr 9,2 %. Die Hauptursachen von Armut waren jetzt Arbeitslosigkeit (44,5 %) und Alter (17,9 %).58 Insgesamt fünf Sechstel der Armut, errechnete Beveridge, gingen nun auf Problemlagen zurück, die im Prinzip einer Sozialversicherungslösung zugänglich waren.59 Anders als zuvor erschien Armut damit nun tatsächlich sozialpolitisch bekämpfbar zu sein. Das dritte Grundprinzip: die Einheitlichkeit von Beiträgen und Leistungen, entsprach ebenfalls einer seit langem geübten Praxis und hatte darüber hinaus den Vorteil administrativer Einfachheit. Aus der Gerechtigkeitsperspektive lud es freilich wenigstens zu zwei grundlegenden Einwänden ein. Erstens ließ sich argumentieren, dass gleich hohe Beiträge für alle ungerecht waren, da sie eine regressive Wirkung entfalteten – Geringverdiener wurden proportional weit stärker belastet als Besserverdienende. Diese Kritik wurde zwar vereinzelt vorgebracht, fand insgesamt aber eine eigentümliche geringe Resonanz gerade auch auf der politischen Linken. Weder machte sie sich der TUC , der selbst Einheitsbeiträge vorschlug, zu eigen noch die Labour Party, auf deren Jahresversammlung sich der Antrag, die staatlichen Sozialleistungen durch progressiv wirkende Steuern statt durch Beiträge zu finanzieren, nicht durchzusetzen vermochte.60 Zweitens – und dieser Punkt spielte in der Diskussion eine weit prominentere Rolle – lag ein erhebliches Ungerechtigkeitspotential darin, dass national einheitliche Leistungssätze nicht den regional äußerst unterschiedlichen Wohnungsmieten Rechnung trugen. Durchaus im Einklang mit der Idee einer am Existenzminimum orientierten Leistung schlug der von der BeveridgeKommission eigens zur Beratung des Leistungssatzes eingesetzte Unteraus-
57 CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 17, NA , CAB 87/77. Vgl. Harris, Beveridge, S. 381 ff.; dies., Beveridge’s Social and Political Thought, S. 32 f. 58 Rowntree, Poverty and Progress, S. 110. 59 The Scale of Social Insurance Benefits and the Problem of Poverty, Memo by Beveridge, 16.1.1942, BLPES , Beveridge 8/28. 60 Paper 3: Memorandum of Evidence by the Trades Union Congress, in: SIAS , Appendix G, S. 13–17; Labour Party Annual Conference Report 1943, S. 140 ff.
46 Austerity Britain schuss daher vor, Leistungsempfängern einen Pauschalbetrag zuzüglich ihrer tatsächlichen Miete zu zahlen.61 In völliger Übereinstimmung machten sich die Fabianer ebenfalls dafür stark, dass der »Einheitssatz exklusiv Miete« konzipiert werden und dass »die tatsächliche Miete des Leistungsempfängers bis zu einer Höchstgrenze gezahlt werden« sollte.62 Dass diese Position gerade bei den anderen Kommissionsmitgliedern auf heftigen Widerstand stieß und sie sich am Ende nicht durchsetzte, hatte zum einen damit zu tun, dass sie die an Gleichheitspostulat und Einfachheit ausgerichtete ursprüngliche Konzeption durchbrach und überdies den Äquivalenzgrundsatz zwischen Beiträgen und Leistungen verletzte. Zum anderen hätte die Zahlung einer variablen Mietkomponente wieder ein Element des means test eingeführt, dessen Überwindung eines der erklärten Ziele der Reform war. Die Idee einer Sozialversicherungsleistung, die jedem »als Recht« zustehe, so Beveridge, vertrage sich nicht mit der Zweckbindung eines ihrer Bestandteile – »die Freiheit zu entscheiden, wofür man Geld ausgibt, ist ein Teil der Grundfreiheit«.63 Trotz aller Einwände fand das flat ratePrinzip daher Eingang in den Abschlussbericht der Beveridge-Kommission. 2. Die zweite Kernfrage, mit der sich die Beveridge-Kommission im Hinblick auf eine Reform der Alterssicherung auseinanderzusetzen hatte, war die nach der Höhe der Renten – absolut und in Relation zu den anderen Unterstützungsleistungen. Wie oben bereits anklang, trat der Beveridge-Report mit dem Anspruch auf, für jeden ein »Subsistenzminimum« zu gewährleisten. Der leitende Gedanke, führte er aus, sei die »Angemessenheit der Leistung in Höhe und Dauer« gewesen; »die vorgeschlagene Pauschalleistung soll im Normalfall ohne zusätzliche Ressourcen ausreichen, ein Mindesteinkommen zu sichern, das das Subsistenzminimum deckt«.64 Auch aus der Retrospektive bekräftigte Beveridge noch einmal, dass das Subsistenzprinzip »das Herz und die Seele des Beveridge-Reports« gewesen sei.65 Gerechtigkeitstheoretisch stellt das Konzept des Subsistenzminimums einen Zwitter von Bedürftigkeits- und Gleichheitsprinzip dar: Es abstrahiert vom Einzelfall, an der das needs-Prinzip eigentlich ansetzt, und konstruiert einen artifiziellen, »durchschnittlichen« Verbraucher, dessen Grundbedürfnisse dann als allgemein gültig generalisiert werden. Gerade die Verbindung dieses Allgemeingültigkeitsanspruchs mit der Frage basaler Lebensbedürfnisse hat das Konzept des Existenz- bzw. Subsistenzminimums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch aufgeladen und umkämpft gemacht. Für die Weimarer Republik etwa lässt sich zeigen, dass sich das Existenzminimum zunehmend zu einem »Erwartungsbegriff« entwickelte, mithilfe 61 62 63 64 65
Vgl. Calculation of the Poverty Line, by B. S. Rowntree, 1.7.1942, BLPES , Beveridge 8/28. Paper 8: Outline of the Scheme Submitted by the Fabian Society, SIAS , Appendix G, S. 38. Beveridge an Rowntree, 18.8.1942, zit. nach Harris, Beveridge, S. 388. SIAS , S. 122. Beveridge an Lord Amulree, 21.1.1954, BLPES , Beveridge 7/6.
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dessen Missstände angeprangert und Forderungen artikuliert wurden.66 Eine ähnliche normativ-emanzipative Funktion gewann das Konzept auch in den Debatten um den Beveridge-Report – das gilt besonders für die politische Linke, die das Versprechen eines »minimum subsistence income« als staatlicherseits unhintergehbare Garantie und ersten Schritt zu mehr gesellschaftlicher Gleichheit begeistert begrüßte.67 Gleichzeitig zeigte sich aber auch – und zwar nicht zuletzt im Kommissionsbericht selbst –, dass das Konzept des Existenzminimums benutzt werden konnte, um Ansprüche zu begrenzen. Keineswegs, so hob der Beveridge-Report mit einer charakteristischen Verschiebung der Betonung auf die Komponente »Minimum« hervor, solle der Staat mehr als das zum Überleben Notwendige garantieren und auf diese Weise die Eigeninitiative, für das Alter und Zeiten des Verdienstausfalls vorzusorgen, unterminieren: »Durch die Organisation sozialer Sicherung sollte der Staat nicht Initiative, Gelegenheit und Verantwortlichkeit ersticken; wenn er ein nationales Minimum einführt, sollte er die Eigeninitiative jedes einzelnen, mehr als dieses Minimum für sich und seine Familie zu erzielen, ermöglichen und unterstützen«.68 Ebenso wie in der Weimarer Republik erwies sich der im Suffix »-minimum« angelegte Anspruch auf wissenschaftliche Kalkulierbarkeit und auf die damit verbundene »empirische Objektivierung der Lebensbedingungen«69 im Vorfeld des Beveridge-Reports als eine Chimäre. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Kommission mit Seebohm Rowntree und dem Statistiker Arthur Bowley zwei absolute Autoritäten der britischen Armutsforschung in sein Subsistence Sub-Committee berief. Zur Debatte standen sowohl die allgemeine Frage, ob ein eher sozio-kulturell oder ein auf das nackte physische Überleben ausgerichtetes Konzept von Existenzminimum zugrunde gelegt werden sollte, als auch die genaue Höhe der einzelnen Positionen. Am Ende einer sich über sechs Monate hinziehenden Diskussion gelangte man schließlich zu einer äußerst kargen, nur an den physischen Bedürfnissen von Essen, Wohnung, Kleidung und Heizung orientierten Definition von Subsistenz, deren Zustandekommen hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden soll.70 Wichtiger erscheint in diesem Kontext, dass wenig Einigkeit auch in der Frage herrschte, wie die Bedürfnisse der Alten im Vergleich zu den Jüngeren zu veranschlagen seien. Ganz der Logik der Armutsuntersuchungen der 1920er und 1930er Jahre folgend,71 ging Beveridge zunächst wie selbstverständlich davon aus, dass das Existenz66 Vgl. Torp, Konsum und Politik, S. 194 f. Zum theoretischen Hintergrund vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349–375. 67 James Griffiths, HC , Bd. 386, 1968 (18.2.1943). Vgl. auch Jackson, Equality, S. 138 f. 68 SIAS , S. 6 f. 69 Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 127. Vgl. Torp, Konsum und Politik, S. 194 ff. 70 Vgl. hierzu Veit-Wilson, Muddle; ders., Condemned to Deprivation?; ders., Unfinished Business, S. 48 ff. 71 Siehe oben, S. 34.
48 Austerity Britain minimum und damit auch der Unterstützungssatz für Rentner niedriger anzusetzen seien als für Werktätige, wenn er konstatierte: »Ich denke an all die unterschiedlichen Leute, die Schätzungen angestellt haben für das zum Lebensunterhalt notwendige Existenzminimum; und unter all den Medizinern und anderen Wissenschaftlern kenne ich niemanden, der nicht den Bedarf des Rentners … niedriger als den des Erwerbstätigen angesetzt hat.«72 Damit aber stieß er auf den energischen Widerstand besonders der Vertreter des TUC und der Altenorganisation NFOAPA . »Ich persönlich bin sehr zurückhaltend, die Ergebnisse dieser Untersuchungen angeblicher wissenschaftlicher Fachleute zu akzeptieren«, teilte ihm Hyacinth Morgan – Arzt, medizinischer Experte des TUC und Unterhausabgeordneter – mit; »ich halte sie im Großen und Ganzen für unzuverlässig und glaube, dass die Erfahrung zeigt, dass der normale alte Mensch Nahrung einer bestimmten Güte braucht, die nicht weniger kostspielig ist … Ich kenne natürlich die medizinische Fachliteratur … und soweit ich sehen kann, gibt es keinen irgendwie gearteten Beleg dafür, dass eine Person, die ein bestimmtes Alter erreicht, weniger zu essen benötigt oder seine Ernährung weniger Geld kostet«. Die Mehrausgaben, die im Alter für Gesundheit, häusliche Hilfe und spezielle Ernährung entstünden, sekundierte ein anderer Gewerkschaftler, führten dazu, dass »alte Menschen im Hinblick auf die häuslichen Ausgaben ebenso teuer sind wie junge Menschen, wenn man sie in einer anständigen Verfassung erhalten will.« Überhaupt sei der gesamte, nur am äußersten physischen Existenzminimum ausgerichtete Ansatz als menschenunwürdig zu kritisieren: »Es geht ja nicht nur darum, sie [die alten Menschen, C. T.] zu füttern wie ein Pony, bis es tot umfällt«.73 Der Streit über die Höhe existenzsichernder Renten hing engstens mit jener Problematik zusammen, die zunehmend die gesamte Regelung der Alterssicherung dominierte: der Kostenfrage. Schnell wurde klar, dass selbst die von der Kommission ins Auge gefassten Hungersätze wenigstens eine Verdopplung der bisherigen Renten zur Folge gehabt hätten. Zusammen mit der Ausdehnung des Kreises der Bezugsberechtigten auf alle Personen im Rentenalter musste das zu einer Steigerung der Ausgaben für Alterssicherung führen, die von den Beitragszahlern alleine nicht zu tragen war und einen massiven staatlichen Zuschuss erforderte. Ihre besondere Dramatik gewann diese Problematik jedoch erst durch das düstere Bild, das sich die meisten Zeitgenossen von der zukünftigen demographischen Entwicklung machten. Getragen vor allem von Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und der sich gerade wissenschaftlich etablierenden Demographie, hatte sich im Groß britannien der Zwischenkriegszeit unter dem Eindruck sinkender Geburten72 CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 12, NA , CAB 87/77. 73 CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 12, NA , CAB 87/77. Vgl. auch CSIAS , Meeting 20.5.1942, bes. S. 14, NA , CAB 87/77.
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raten ein Bevölkerungsdiskurs herausgebildet, der das Bedrohungsszenario einer schrumpfenden und vergreisenden Gesellschaft beschwor und sich in den 1930er Jahren zu einer regelrechten Panik steigerte.74 Auch der BeveridgePlan atmet noch ganz den Geist dieses demographischen Pessimismus einer rapide alternden Bevölkerung, angesichts dessen jede Rentenerhöhung Gefahr lief, sich zu einer »untragbaren finanziellen Last« für die Jüngeren auszuwachsen.75 »Es wird eine Menge alter Menschen geben«, machte etwa Beveridge klar, »und die gesamte Last, die die über 65jährigen für die Gesellschaft darstellen, wird weitaus größer sein als alles, was wir in der Vergangenheit kannten, und – um ganz offen zu sein – will ich dafür kein Geld ausgeben auf Kosten der Kinder, auf Kosten der anderen«. Es gehe darum, das Altenproblem zu lösen »ohne das Land zu ruinieren«.76 Wie weit diese Denkfigur von Alter als demographischem Ballast und des darin implizit angelegten Generationenkonflikts in den Ideenhaushalt der intellektuellen Elite des Vereinigten Königreichs eingedrungen war, zeigt auch die Stellungnahme der Fabian Society: »Die veränderte Altersstruktur schließt automatisch die extrem großzügigen Sicherungssysteme aus, für die in einigen Kreisen geworben wird«, heißt es dort ohne Nennung, aber fraglos auf die Rentenforderungen der NFOAPA bezogen; »es wäre ein fundamentaler Fehler, in der Sozialpolitik übermäßige Ressourcen an die Alten auf Kosten der Jungen umzuleiten.«77 Vor diesem Hintergrund fielen die mit immer größerem Nachdruck geäußerten Bedenken des Schatzamts, dass das in Aussicht genommene Sicherungs system eine Kostenexplosion zulasten der Steuerzahler zur Folge haben werde, auf fruchtbaren Boden. Eine Steigerung der Sozialausgaben um £ 426 Mio. jährlich, berechnete Sir George Epps, der leitende Versicherungsmathematiker des Treasury, im August 1942, würde das von Beveridge vorgeschlagene Gesamtpaket nach sich ziehen, wenn man es unverändert realisierte; mehr als die Hälfte davon wäre nicht durch Beitragszahlungen gedeckt, sondern müsse vom Schatzamt zugeschossen werden. Der bei weitem größte Teil der Zusatzausgaben, £ 308 Mio. der Bruttosumme, entstünde durch die Anhebung und Universalisierung der Altersrenten.78 Unter dem Eindruck dieser und schon früherer Prognosen sowie angesichts der beinharten Weigerung des Treasury, den Sozialversicherungszuschuss aus Steuermitteln um mehr als £ 100 Mio. zu erhöhen, begann die Demontage der projektierten Alterssicherung, die nicht nur von den Mandarinen des Schatzamts, sondern auch von Beveridge selbst sogleich als Vgl. hierzu Thane, Debate; dies., Population Politics. SIAS , S. 92. CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 13, NA , CAB 87/77. Paper 8: Outline of the Scheme Submitted by the Fabian Society, SIAS , Appendix G, S. 38 f. 78 Finance of the Proposals in the First Draft of Chairman’s Report, Memorandum von Sir George Epps, 17.8.1942, NA , CAB 87/82.
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50 Austerity Britain das Hauptproblem identifiziert wurde. Die entscheidenden Weichen wurden im Sommer 1942 in einer Reihe von Gesprächen zwischen Beveridge und dem ihm seit langem freundschaftlich verbundenen John Maynard Keynes gestellt, der als Sonderberater des Schatzamts fungierte.79 Das Ergebnis war das, was später unter der euphemistischen Bezeichnung »golden staircase« bekannt wurde: Die Altersrenten sollten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, auf über 20s pro Woche und Person, sondern lediglich auf 14s für Alleinstehende und 25s für Ehepaare steigen. Alle zwei Jahre war eine geringe Steigerung dieser Beträge vorgesehen, so dass erst am Ende einer zwanzigjährigen Übergangsperiode, 1965, die vollen »Subsistenzrenten« von 24s bzw. 40s gezahlt worden wären. Faktisch bedeutete das auf absehbare Zeit die Liquidierung des eigentlich leitenden Subsistenzgedankens für die Gruppe der Alten. Zur Begründung hielt das Konzept der auf Beitragszahlungen beruhenden Sozialversicherung her: »Dieses Prinzip, das an sich gut ist und im Einvernehmen mit der öffentlichen Meinung steht«, hieß es im Beveridge-Report ganz offen, »hat besondere Vorteile im Hinblick auf das Rentenproblem. Es legitimiert und erfordert den Aufschub der Auszahlung voller Subsistenzrenten und schafft auf diese Weise Zeit«.80 Billigend wurde dabei in Kauf genommen, dass ein Großteil der Alten auch weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen und damit dem means test unterworfen sein würde, dessen Abschaffung ja eines der zentralen Ziele der Reform war. Wenn es unter einem als unabweisbar wahrgenommenen Kostendruck darum ging, Abstriche zu machen – das war die hier vorherrschende Logik –, standen die Alten angesichts des geringeren Humankapitals und der wachsenden demographischen Last, die sie verkörperten, an vorderster Front: »Es ist gefährlich, dem Alter gegenüber in irgendeiner Weise freigebig zu sein, bevor man allen anderen wichtigen Erfordernissen wie etwa der Verhütung von Seuchen oder der angemessenen Ernährung der Jüngeren in adäquater Weise nachgekommen ist.«81 3. Das letzte Schlüsselproblem, mit dem sich die Beveridge-Kommission im Rahmen der Neuregelung der Alterssicherung zu befassen hatte, war die Frage, ob der Bezug der staatlichen Rente an die Aufgabe der Erwerbsarbeit gebunden sein sollte oder nicht. Ein starker Druck zugunsten einer solchen retirement condition ging von der Labour Party und besonders vom TUC aus. Die Gewerkschaften, zu deren Kernforderungen die – bislang nicht geltende – Bindung des Rentenbezugs an den Rückzug aus dem Arbeitsleben bereits in den 1930er Jahren gezählt hatte, führten vor allem zwei Argumente ins Feld. Erstens versprachen sie sich von der retirement condition eine Entlastung des Arbeitsmarkts. Diese Begründung stand sehr unter dem Eindruck der hohen Arbeitslosigkeit 79 Vgl. Keynes’ Berichte vom 11.8.1942, 21.8.1942, 24.8.1942, NA , T 161/1164. Vgl. hierzu die konzise Schilderung des Entscheidungsprozesses bei Macnicol, Politics of Retirement, S. 371–384. 80 SIAS , S. 93. 81 Ebd., S. 92.
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während der Weltwirtschaftskrise mit ihren zerstörerischen materiellen, aber auch psychosozialen Auswirkungen: »Wir wissen, wie sich Arbeitslosigkeit auf die ganz jungen Menschen auswirkt«, führte ein Gewerkschaftsvertreter aus, »und wir wissen, was sie mit sich bringt: sie bringt Apathie und Gleichgültigkeit, und sie führt zu einem Zustand, in dem sie sich an die Arbeitslosigkeit gewöhnen und zu einer Belastung für sich selbst und die Gesellschaft werden«.82 Eine Verkopplung ausreichend hoher Renten mit der Bedingung des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben, das war der hier leitende Gedanke, sollte dazu führen, dass die über 65jährigen am Arbeitsmarkt Platz für die sonst arbeitslosen Jüngeren machten. Zweitens sollte die neue Regelung einer bislang geübten Praxis des Lohndumping einen Riegel vorschieben. Bisher – das war eine immer wieder gehörte Klage – hatten Unternehmer vielfach jenen Arbeitnehmern, die ab 65 eine Rente von 10s erhielten, den Lohn um einen entsprechenden Betrag gekürzt. Die Rentenzahlung hatte damit nicht nur »schlechte Unternehmer einfach auf Staatskosten subventioniert«, sondern auch zur Entstehung einer Klasse von alten, nach wie vor auf ihre Arbeit angewiesenen Niedriglohnarbeitern geführt, welche die gesamte Lohnstruktur sowie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften empfindlich unterminierte.83 Auch diesem Zustand sollte durch die retirement condition ein Ende bereitet werden. Anders als die Gewerkschaften bezogen die meisten anderen Organisationen im Hinblick auf die Frage der Abhängigkeit des Rentenbezugs von der Aufgabe der Erwerbsarbeit keine klare und entschiedene Position. Die Repräsentanten der British Employers’ Confederation etwa, die ohnehin am liebsten die gesamte Diskussion über eine Reform der sozialen Sicherung auf die Zeit nach dem Krieg verschoben hätten, wollten sich nicht recht festlegen und machten ihre Position von der Situation am Nachkriegsarbeitsmarkt abhängig.84 Die National Labour Organisation sah in der retirement condition zwar einerseits grundsätzlich eine wenig wünschenswerte Regelung, die geeignet sei, »das Ideal der Würde der Arbeit« zu untergraben, hielt sie aber andererseits für »wahrscheinlich zweckmäßig«, solange »die Gesellschaft auf ihrer gegenwärtigen Grundlage organisiert ist und der Drang nach Profit die Triebfeder der Produktion bleibt«.85 Die NFOAPA endlich zeigte sich in der Frage der Bindung des Rentenbezugs an die Aufgabe der Erwerbsarbeit gespalten und positionierte sich nicht eindeutig. Für ihre Vertreter stand im Vordergrund, dass alle Berufsgruppen – also auch Beamte und Armeeangehörige – in gleicher Weise behan82 CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 14, NA , CAB 87/77. Vgl. auch CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 2 f., NA , CAB 87/77. 83 CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 14, NA , CAB 87/77. Vgl. auch CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 3, NA , CAB 87/77. 84 Vgl. CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 30 ff., NA , CAB 87/77. 85 Paper 10: Memorandum of Evidence by the National Labour Organisation, SIAS , Appendix G, S. 46.
52 Austerity Britain delt wurden.86 Der moderne Ruhestand als eine vom Arbeitsleben getrennte Lebensphase, so lässt sich diese Indifferenz bzw. Unentschiedenheit wohl interpretieren, hatte sich im Horizont der Zeitgenossen noch nicht als feste Größe etabliert. Auch das nachdrückliche Eintreten der Gewerkschaften für die retirement condition verdankte sich in erster Linie arbeitsmarktpolitischen Motiven; die Vorstellung vom Alter als Zeit der wohlverdienten Muße war hier lediglich das ex negativo sich ergebende Resultat. Zugleich zeigt der erhebliche Raum, den die Debatte über die retirement condition in der Beveridge-Kommission einnahm, ein weiteres Mal, wie sehr die Frage der Alterssicherung vom Arbeitsmarkt aus gedacht wurde und in welchem Ausmaß sie damit einer maskulinen Perspektive unterlag. Erwerbstätig im Rentenalter (Männer: 65+, Frauen: 60+) und damit potentiell von der retirement condition betroffen waren ganz überwiegend Männer – das lassen die vorhandenen, ansonsten disparaten statistischen Angaben klar erkennen.87 Im Vergleich dazu blieb das quantitativ und sozial weit größere Problem der – in der Retrospektive ins Auge springenden – Feminisierung von Altersarmut in der zeitgenössischen Diskussion völlig unterbelichtet.88 Im Gegensatz zu seiner überzeugungstarken Haltung bei den meisten anderen Grundsatzproblemen war die retirement condition für Beveridge selbst keine Glaubensfrage. Zunächst stand er ihr ablehnend gegenüber. »Menschen zur Aufgabe der Arbeit zu zwingen, wenn sie arbeiten können und wenn ihr Arbeitgeber sie beschäftigen will« – das erschien ihm nicht nur unökonomisch, sondern widersprach auch seinen liberalen Überzeugungen sowie, selbst 62 Jahre alt und keineswegs ruhestandsaffin, nicht zuletzt seiner eigenen Lebensauffassung.89 Hinzu kam, dass der Verzicht auf eine Ruhestandsbedingung eigentlich in der logischen Konsequenz des von Beveridge hochgehaltenen Sozialversicherungsprinzips lag: Die Rente ab einem bestimmten Alter war die vertraglich zugesicherte Gegenleistung, auf die der Beitragszahler durch seine Beiträge ein Anrecht ohne weitere Vorbedingung erworben hatte. Schließlich galt die Einhaltung der retirement condition in Regierungskreisen als außerordentlich schwer und aufwendig zu kontrollieren; »endlose Schwierigkeiten« hatte noch Anfang 1940 ein Vertreter des Schatzamts im Unterhaus für den Fall prophezeit, dass eine solche Regelung eingeführt würde.90 Dass sich Beveridge im Endeffekt über diese Bedenken hinwegsetzte und die retirement condition Eingang in den Abschlussbericht fand, lag darin begründet, dass er in ihr mehr und mehr ein geeignetes Instrument zur Kosten 86 87 88 89 90
CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 6 f., CAB 87/77.
Rowntree, Old People, S. 85 f.; Jones, Survey, Bd. 3, S. 258. Vgl. auch Macnicol, Politics of Retirement, S. 361 f. CSIAS , Meeting 14.1.1942, S. 14, NA , CAB 87/77. Vgl. Harris, Roots, S. 31. John Colville, HC , Bd. 357, 1305 (20.2.1940). Vgl. hierzu auch Macnicol, Politics of Retirement, S. 360 f.
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senkung erblickte. Eine allgemeine Altersrente ab 60 bzw. 65, argumentierte er nun, würde eine »unvertretbare und schädliche Belastung für alle Bürger unterhalb dieses Alters« bedeuten. Da eine generelle Anhebung der Altersgrenzen politisch extrem unpopulär gewesen wäre und daher ausschied, sollte stattdessen eine Entlastung der Rentenkassen dadurch erreicht werden, dass möglichst viele Arbeitnehmer ihren Ruhestand und Rentenbezug aus eigenem Antrieb möglichst lange hinausschoben. Die ganze Konzeption der Alterssicherung müsse folglich darauf eingerichtet sein, »jeden, der nach Erreichen des Rentenalters weiterarbeiten kann, zu ermutigen, weiterzuarbeiten und den Ruhestand sowie die Inanspruchnahme der Rente aufzuschieben«.91 Der positive Anreiz, der hierfür gesetzt wurde, war eine leichte Erhöhung der späteren Rente für jedes zusätzliche Arbeitsjahr; der negative – das blieb allerdings unausgesprochen – der extrem niedrig angesetzte Rentensatz, der die Weiterarbeit zu einer ökonomisch äußerst vorteilhaften Alternative machte. Die Zahlung der Rente als »Geburtstagsgeschenk«, also automatisch ab einem bestimmten Alter und unabhängig vom Erwerbsstatus, sei dagegen geeignet, eine frühzeitige Arbeitsaufgabe zu beschleunigen, und daher nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus demographischen Gründen abzulehnen.92 Die Funktion der retirement condition hatte sich mithin unter den Händen Beveridges in paradoxer Weise in ihr Gegenteil verkehrt: Aus einem von den Gewerkschaften stets in enger Bedingtheit mit ausreichend hohen Renten geforderten Werkzeug zur Förderung eines frühen allgemeinen Ruhestands war ein Instrument zu seiner Hinausschiebung geworden, das seinerseits Niedrigrenten als Anreizfaktor legitimierte. Da der Arbeitsmarkt jedoch – anders als das Beveridges Argumentation suggerierte – nicht angebots-, sondern nachfrageorientiert strukturiert war, die Entscheidung über die Weiterbeschäftigung eines älteren Arbeitnehmers also im Zweifel gar nicht bei ihm selbst, sondern beim Arbeitgeber lag, konnte eine Realisierung der Kommissionsvorschläge für die Alten im Normalfall nur auf eines hinauslaufen: das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben bei Erreichen der Altersgrenze und mit einer Rente, die deutlich unter dem Existenzminimum lag. Eine Perpetuierung der Altersarmut schien damit vorprogrammiert.
91 SIAS , S. 96. 92 The Problem of Age, Memorandum by the Chairman, 20.4.1942, NA , CAB 87/82. Vgl. auch SIAS , S. 96.
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3. Aufbau der Alterssicherung und soziale Lage der Alten Anfang der 1950er Jahre Es war ein Riesenerfolg. Bereits in der Nacht, bevor der Beveridge-Report veröffentlicht wurde, am 1. Dezember 1942, standen jene, die ihn erwerben wollten, vor His Majesty’s Stationary Office (HMSO), dem königlichen britischen Staatsverlag, Schlange. Innerhalb nur weniger Stunden waren die ersten 60.000 Exemplare ausverkauft. Mit allen seinen Auflagen, die auch eine wohlfeile Kurzversion einschlossen, erreichte der Beveridge-Report am Ende einen Absatz von enormen 630.000 Stück. Bis zum Denning-Report über die ProfumoAffäre, so will es die HMSO -Legende, hat sich keine staatsoffizielle Publikation auch nur annähernd so gut verkauft.93 Das Presseecho war einhellig und euphorisch: Die konservative »Times« erblickte im Beveridge-Report »ein bedeutsames Dokument, das einen tiefgreifenden und unmittelbaren Einfluss auf die Richtung des gesellschaftlichen Wandels in Britannien ausüben sollte und muss«. Das »›grand design‹« seiner Vorschläge schlage die Menschen in seinen Bann und habe »neue Standards für das, was im gesellschaftlichen Wiederaufbau möglich ist«, gesetzt.94 Für den »Manchester Guardian« war der BeveridgePlan schlicht »a big fine thing«.95 Und selbst der kommunistische »Daily Worker« sah in ihm einen »mutigen Versuch …, einige der schlimmsten Übel der gegenwärtigen Gesellschaft zu lindern«.96 Ganz sicher sind bei einer Bewertung dieser Reaktion die besonderen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen die veröffentlichte Meinung im Großbritannien der Kriegsjahre operierte: Zu diesen zählte nicht nur die massive und dauerhafte Propagandakampagne der Regierung, sondern auch die weitreichende Zensur, denen sich alle Massenmedien durch das Ministry of Information unterworfen sahen.97 Dennoch lassen die Breite, Intensität und der eindeutige Tenor der Resonanz, die der Beveridge-Report erfuhr, kaum einen Zweifel daran, dass Beveridge mit seiner messianischen Rhetorik, seinem Bild von den »five giants on the road« (»Want, Disease, Ignorance, Squalor and Idleness« [Armut, Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang]), die es zu besiegen gelte, und seinem wiederholten Appell an die »national unity« genau ins Mark der in der britischen Gesellschaft vorherrschenden Stimmung traf, die – zwei Wochen nach dem ersten Schlachtensieg des Krieges bei 93 Vgl. Timmins, Five Giants, S. 23; Macnicol, Politics of Retirement, S. 386; Kynaston, Austerity Britain, S. 21. 94 Freedom from Want, in: The Times, 2.12.1942; Can We Afford It?, in: The Times, 5.12.1942. 95 The Beveridge Overture, in: Manchester Guardian, 2.12.1942. 96 Zit. nach Great Britain: Rare & Refreshing Beveridge!, in: Time, 14.12.1942. 97 Vgl. nur Taylor, British Propaganda, S. 151–191.
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El Alamein – von einer Mischung aus Solidarität, Opferbereitschaft, Aufbruchsstimmung und dem festen Willen geprägt war, nach dem Krieg nicht zur Vorkriegsordnung zurückzukehren, sondern eine bessere und gerechtere Welt, ein »New Jerusalem«, zu schaffen.98 Das findet sich auch durch eine repräsentative Meinungsumfrage bestätigt, die das British Institute of Public Opinion (Gallup) zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Beveridge-Reports anstellte. Sein Bekanntheitsgrad und das Ausmaß an Zustimmung, das er erhielt, waren atemberaubend: 95 % der Befragten hatten bereits vom BeveridgeReport gehört, 88 % wollten seine Vorschläge realisiert sehen. Dabei reichte die Zustimmung weit über die Gruppe jener hinaus, die glaubten, selbst von einer Reform der sozialen Sicherungssysteme zu profitieren. Für die meisten, so folgerten die Meinungsforscher, wäre in diesem Fall nicht ihr Eigeninteresse ausschlaggebend gewesen; vielmehr hätten sie sich »der Frage von dem Blickwinkel des öffentlichen Wohls [aus] genähert«. Gleichzeitig existierte eine weitverbreitete Skepsis hinsichtlich der tatsächlichen Umsetzung des Beveridge-Plans; nur gut die Hälfte der Befragten glaubte, dass die Regierung hierzu im Endeffekt bereit wäre.99 Nicht nur an der »Heimatfront« jedoch fungierte der Beveridge-Report als Identifikationsobjekt und wirkungsvolle Propagandawaffe. Auch international und ganz besonders in den Vereinigten Staaten erregte er erhebliches Aufsehen. »Es besteht kein Zweifel, dass der Bericht aufs Ganze gesehen einen der wirkungsvollsten Beiträge der britischen Propaganda für US -Zwecke dargestellt hat«, fasste Viscount Halifax, der britische Botschafter in Washington, die amerikanische Reaktion zusammen. »Die erste allgemeine Reaktion auf den Bericht war eine der Bewunderung«, schilderte ein von ihm übersandtes Memorandum das politische Klima in den USA – Bewunderung für ein Land, das mitten in einem Kampf um Leben und Tod die Kraft und den Mut aufbringe, in dieser Art und Weise eine positive Vision für die Zeit nach dem Krieg zu entwerfen. Eng damit verbunden, gehe eine veränderte und deutlich vorteilhaftere Bewertung der Briten und ihrer politischen Führung einher, die bislang vorwiegend als reaktionär, imperialistisch und »undemokratisch« wahrgenommen worden wären. Angesichts dessen werde das weitere politische Schicksal des Beveridge-Plans von der amerikanischen Öffentlichkeit mit Argusaugen verfolgt werden. Jedes Anzeichen seiner Ablehnung würde einen schweren Image schaden bedeuten und die Ansicht bestärken, »die Briten [seien] reaktionär und sogar scheinheilig – da, so würden sie [die Amerikaner, C. T.] sagen, es offen-
98 SIAS , S. 6, 172. 99 The Beveridge Report and the Public. What Britain thinks of The Beverdige Report as shown by a Gallup Poll by The British Institute of Public Opinion, S. 4, 10, NA , PREM 4/89/2.
56 Austerity Britain sichtlich nie wirklich die Absicht gegeben habe, die Maßnahmen des Berichts umzusetzen.«100 Das enorme Ausmaß an Zustimmung, dass der Beveridge-Plan insgesamt diesseits und jenseits des Atlantiks erfuhr, galt freilich keineswegs in gleicher Weise für alle seine Vorschläge. Gerade die projektierte Alterssicherung war es, die Kritik auf sich zog. Das machten bereits die Ergebnisse der erwähnten Meinungsumfrage deutlich. Auf der einen Seite dokumentierten sie die schlechthin zentrale Bedeutung, welche die Rentenfrage für die meisten Befragten einnahm: »Millionen werden von der Angst vor Altersarmut verfolgt«. Auf der anderen Seite ließen sie klar erkennen, dass die Mehrheit Beveridges »golden staircase« und die damit verbundene Begrenzung der Altersrenten auf anfänglich 14s dezidiert ablehnte. 67 % der Befragten votierten für einen Rentensatz von mindestens 20s wöchentlich von Beginn an.101 Wie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Forderung einer Rente von mindestens 30s pro Woche kaum anders zu erwarten, fiel die Kritik, die die National Federation of Old Age Pensions Associations am Beveridge-Report übte, noch deutlich schärfer aus. Im Namen der NFOAPA protestierte ihr Generalsekretär, H. W. Tyrell, »nachdrücklich« gegen die von Beveridge vorgeschlagenen Rentensätze. Sie seien »völlig unzureichend, um die Bedürfnisse jener zu decken, die auf die Rente angewiesen« seien.102 In die gleiche Kerbe hieb auch der »Pensioner«, das offizielle Organ der NFOAPA, der angesichts des Rentenniveaus und der langen Wartezeit, die bis zum Erreichen der vollen »Subsistenzrenten« vorgesehen war, urteilte, es sei »offensichtlich keine neue Welt, auf die wir zusteuern, sondern nur eine zusammengeflickte alte«. Der Beveridge-Report, fasste er resigniert zusammen, »hält für die Rentner von heute nichts bereit«.103 Beide Faktoren – das stupende Ausmaß nationaler und internationaler Prominenz des Beveridge-Reports und die deutliche Kritik an seinen Vorschlägen zur Alterssicherung – spiegeln sich in der Geschichte seiner Umsetzung wider. Zum einen ließ die Popularität des Beveridge-Plans, die sein Autor durch zahllose Reden, Rundfunkauftritte und Artikel noch nach Kräften förderte, der britischen Regierung über kurz oder lang kaum eine andere Wahl, als seine Realisierung ins Werk zu setzen. Zunächst freilich gingen in Whitehall die Gegner einer grundlegenden Sozialreform in Stellung: Zu ihnen gehörte das Schatzamt, das zum wiederholten Mal auf die unklare Finanzsituation nach dem Krieg, 100 War Cabinet, Reactions in the United States to the Beveridge Report, 10.2.1943, NA , CAB 66/34/9. 101 The Beveridge Report and the Public. What Britain thinks of The Beverdige Report as shown by a Gallup Poll by The British Institute of Public Opinion, S. 6 (Zitat), 12 (Zahlenangabe), NA , PREM 4/89/2. 102 Schreiben von H. W. Tyrell, 24.12.1942, NA , PIN 8/70. 103 The Pensioner, Januar und Februar 1943, zit. nach Macnicol, Politics of Retirement, S. 388.
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die hohen Kosten einer Umsetzung des Beveridge-Plans und konkurrierende Ansprüche beim Wiederaufbau hinwies.104 Zu ihnen zählte ein Gutteil der konservativen Minister und Abgeordneten, der bei der Armutsbekämpfung an dem »bewährten« System gezielter Unterstützung aufgrund von Bedürftigkeitsprüfungen festhalten wollte. Zu ihnen gesellte sich schließlich auch die unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts zur Überprüfung seiner Empfehlungen eingesetzte Kommission, die unter dem Vorsitz von Sir Thomas Phillips, der alles andere als ein Beveridge-Anhänger war, sowohl das Subsistenzprinzip ablehnte als auch verschiedene andere Kernpunkte des Reports kritisierte. Angesichts der sich formierenden Opposition glaubte Winston Churchill, der selbst der Ansicht war, dass die Kriegführung den vollständigen Primat gegenüber Planungen für die Nachkriegszeit zu beanspruchen habe, und der davor warnte, »die Menschen mit falschen Hoffnungen und windigen Visionen von Utopia und Eldorado zu täuschen«,105 zuerst, auf Zeit spielen zu können. Man möge alle nötigen Vorkehrungen für die gesetzliche Umsetzung der Sozialreformen treffen, ordnete er an; alles weitere aber müsse dem nach dem Krieg neu zu wählenden Parlament vorbehalten bleiben, dem man nicht vorgreifen könne.106 Schon nach wenigen Wochen war diese Strategie Makulatur. Unter dem Eindruck einer stürmischen Unterhausdebatte über den Beveridge-Report, von sechs Nachwahlen, bei denen die Tories Verluste hinnehmen mussten, und von Stimmungsberichten, die von einer mit der zögerlichen Haltung der Regierung unzufriedenen »enttäuschten Mehrheit«107 sprachen und um die Kriegsmoral fürchten ließen, bekannte sich Churchill bereits am 21. März 1943 in einer Rundfunkanspruche zu einem umfassenden Sozialversicherungssystem »von der Wiege bis zur Bahre«. Die Gesetzgebungsmaschinerie setzte sich in Gang und produzierte 1944 eine wahre Flut von White Papers, die sich mit den verschiedenen Dimensionen des neuen Wohlfahrtsstaats befassten und in den Folgejahren in Gesetze mündeten. Während der Education Act und der Family Allowance Act noch von der Kriegskoalition verabschiedet wurden, oblag es der unmittelbar nach dem Krieg ins Amt gewählten Labour Party, für deren Erdrutschsieg ihr Eintreten für den Beveridge-Plan eine wesentliche Rolle gespielt hatte, den National Health Service (NHS) ins Leben zu rufen und – ganz auf der Linie der Beschlüsse der Vorgängerregierung – das Sozialversicherungs system (National Insurance Act, 1946) zu etablieren. Den Schlussstein bildete 104 Vgl. The Financial Aspects of the Social Security Plan, Memorandum by the Chancellor of the Exchequer, 11.1.1943, NA , PREM 4/89/1; The Social Security Plan, Memorandum prepared in the Treasury, 1.1.1943, NA , PREM 4/89/1; und bereits Memorandum by Kingsley Wood, 17.11.1942, NA , PREM 4/89/2. 105 Promises about Post-War Conditions, Note by the Prime Minister, 12.1.1943, CAB 66/33/18. 106 Vgl. Beveridge Report, Note by the Prime Minister, 15.2.1943, NA , CAB 66/34/15. 107 Home Intelligence Weekly Report No. 125, 16.–23.2.1943, NA , INF 1/292.
58 Austerity Britain der National Assistance Act von 1948, der offiziell das Poor Law aufhob und die bedürftigkeitsabhängige Grundsicherung landesweit neu organisierte.108 Zum anderen hatte die kritische Aufnahme der Empfehlungen Beveridges zur Gestaltung der Alterssicherung zur Folge, dass hier bei der gesetzlichen Umsetzung die am weitesten gehenden Veränderungen vorgenommen wurden. Am wichtigsten war, erstens, dass der »golden staircase«: die Erreichung des vollen Rentenniveaus erst nach einer Übergangszeit von zwanzig Jahren, demontiert wurde. Das war nicht etwa die Handschrift der neuen LabourRegierung nach dem Krieg, sondern war im Grunde schon ausgemacht, nachdem sich Anfang 1943 das Committee on Reconstruction Priorities, ein Gremium der wichtigsten Minister, mit der Sache befasst hatte. Die von Beveridge vorgeschlagene Transitionsperiode und das niedrige Renteneinstiegsniveau, befanden die Spitzenpolitiker schlicht, »wären für die öffentliche Meinung nicht akzeptabel«.109 Diese Einschätzung bestätigte sich wenige Tage später in der Debatte über den Beveridge-Plan im House of Commons, wo insbesondere die Labour-Abgeordneten gegen die zwanzigjährige Wartefrist Sturm liefen. Robert Morrison (Tottenham North) etwa berichtete von der »vorherrschenden Meinung, dass die heutigen Rentner weitgehend übersehen worden seien. Dieses Gefühl überwiegt, nicht nur unter den alten Menschen selbst, sondern auch unter anderen. … In meinem Teil der Welt nennen sie [die Alten, C. T.] sich selbst – und die meisten Leute stimmen ihnen darin zu – das vergessene Volk.« Bezugnehmend auf die neuesten Meinungsumfragen, stellte er fest, dass »die Lage der Altersrentner zur Zeit zu den ungelösten Fragen« zähle. Die überwältigende Mehrheit der Wähler, so Morrison, fordere »sofort bessere Renten für die gegenwärtigen Altersrentner.«110 Implizit gegen das von Beveridge und anderen zur Verteidigung der Übergangsperiode vorgebrachte Argument gewandt, dass in einer Sozialversicherung die langjährige Beitragsleistung der Rente vorauszugehen habe, sekundierte Thomas Sexton (Barnard Castle), »dass wir diesen alten Menschen nicht etwas im Gegenzug für nichts geben. Diese alten Menschen haben in vielen Arbeitsjahren ihren Beitrag zum Staat geleistet, und wir sollten das würdigen, indem wir ihnen eine vernünftige Rente geben.«111 Eine ausreichende Rente als Belohnung für den Dienst am Vaterland – das ist die Argumentationsfigur, die sich in der Debatte in der ein oder anderen Weise immer wieder 108 Vgl. zum Vorangehenden insgesamt Addison, Road to 1945, S. 220 ff.; Timmins, Five Giants, S. 9–62; Macnicol, Politics of Retirement, S. 390–399; Fraser, Evolution, S. 260 ff.; Jefferys, Churchill Coalition, S. 118 ff.; Hennessy, Never Again, S. 123–131; Harris, Beveridge, S. 417 ff.; Barnett, Audit of War, S. 29 ff. 109 Interim Report of the Committee on Reconstruction Priorities, 11.2.1943, NA , CAB 66/34/8. Vgl. auch Conclusions of a Meeting of the War Cabinet, 12.2.1943, NA , CAB 65/33/28. 110 Robert Morrison, HC , Bd. 386, 1687 f. (16.2.1943). 111 Thomas Sexton, HC , Bd. 386, 1915 (17.2.1943).
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findet112 und die anzeigt, dass der Staatsbürgerstatus oder die Menschenwürde als Anspruchsgrundlagen allein offensichtlich als zu schwach empfunden wurden und ein – sei es auch äußerst abstraktes – Element der Reziprozität hinzutreten musste. Die zweite Modifikation, die der Beveridge-Plan im Bereich der Alters sicherung bei seiner gesetzlichen Umsetzung erfuhr, betraf die Festlegung der Rentenhöhe. Das White Paper von 1944 sah 20s wöchentlich für einzelne Personen und 35s für Ehepaare vor – das lag über dem von Beveridge vorgeschlagenen Anfangssatz, aber unter den anderen Ersatzleistungen, bspw. für Arbeitslosigkeit (24s bzw. 40s). Der von der Labour-Regierung verabschiedete National Insurance Act von 1946 stellte hier Gleichheit her und hob die Leistungssätze in allen Fällen inflationsbedingt auf 26s bzw. 42s an. Weit wichtiger als die – nicht grundstürzenden – Abweichungen vom Beveridge-Report bei den konkreten Rentensätzen war der Wandel in der Art und Weise, wie sie legitimiert wurden. Von Beginn an gab die Regierung das von Beveridge so hochgehaltene Subsistenzprinzip preis. Die Möglichkeiten, die ihm implizite Fiktion der wissenschaftlich objektiven Festlegung eines Existenzminimums zu nutzen, um Ansprüche zu begrenzen, erschienen gering gegenüber den Gefahren, die ihm als »Erwartungsbegriff« innewohnten.113 Zur Begründung der Aufgabe des Subsistenzkonzepts hielt abermals das Sozialversicherungsprinzip her. Die individuell äußerst unterschiedlichen existenziellen Bedürfnisse könnten auf der Grundlage einer Sozialversicherung mit gleichen Beiträgen und Leistungen nicht befriedigt werden, führte der designierte Minister of Social Insurance, Sir William Jowitt, 1944 in Verteidigung des White Papers aus. Das Ziel des Regierungsprogramms sei nicht die Sicherung des Existenzminimums, sondern »den Unbillen des Lebens die scharfen Kanten zu nehmen«; es strebe ein »System der Sozialversicherung«, nicht ein »System der sozialen Sicherheit« an.114 Von dieser Linie wich auch die Labour-Regierung nach dem Krieg nicht grundsätzlich ab. Man habe sich bemüht, »den wichtigen Leistungen eine breite Subsistenzgrundlage im Rahmen eines auf Beiträgen beruhenden Sozialversicherungssystems zu geben«, erklärte der Labour-Minister James Griffith verschwommen 1946 bei der Vorlage des Gesetzes.115 Eine explizite Rückkehr zum Subsistenzkonzept als Leitprinzip jedoch blieb aus. Wie wirkte sich die Einführung des neuen Rentensystems auf die materielle Situation der Alten in Großbritannien aus? Zunächst einmal ist festzuhalten, 112 Vgl. etwa die Argumentation der NFOAPA , CSIAS , Meeting 20.5.1942, S. 10, CAB 87/77: [T]he pension should be granted as of right, as an award for services rendered. We think that after thirty or forty years’ service to the country they [the old people, C. T.] deserve sufficient by way of a pension to maintain them in complete security in their old age.« 113 Vgl. oben, Kap. I.2. 114 Sir William Jowitt, HC , Bd. 404, 984 (2.11.1944). 115 James Griffith, HC , Bd. 418, 1742 (6.2.1946).
60 Austerity Britain dass der National Insurance Act von 1946 für all jene, die bislang aus der Rentenversicherung 10s wöchentlich erhalten hatten, die Rente auf das Zweieinhalbfache anhob. Auch jene, die bislang überhaupt nicht rentenversichert waren, kamen in den Genuss der neuen Alterssicherung, mussten sich jedoch zuvor durch eine Beitragszeit von zehn Jahren qualifizieren.116 Zugleich gilt es aber zu betonen, dass die 1946 erstmals gezahlten Renten noch immer auf einem so niedrigen Niveau angesiedelt waren, dass sie, um einen auch nur einigermaßen akzeptablen Lebensstandard zu gewährleisten, der Ergänzung durch Ersparnisse, familiäre Zuwendungen etc. bedurften. Es ist diese Dichotomie einer deutlichen Verbesserung gegenüber den bisherigen Verhältnissen einerseits und der Permanenz von materieller Knappheit andererseits, vor dem die beiden Entwicklungen zu sehen sind, die die Folgejahre bestimmten: Erstens geriet die Rente unter den Druck der Nachkriegsinflation, die von 1946 bis 1955 jahresdurchschnittlich 6,38 % betrug, zwischenzeitlich (1951 und 1952) aber Werte von über 9 % erreichte. Nachdem die Renten anfangs erst nach einer Fünfjahresperiode der Preisentwicklung angepasst worden waren und daher zeitweise – von 1946 bis 1950 immerhin um 17 % – tatsächlich real an Wert verloren hatten, hielten zwar die Rentenerhöhungen über das Nachkriegsjahrzehnt insgesamt hinweg – das muss gegenüber der vorherrschenden Forschungsmeinung festgestellt werden –117 faktisch mit der Inflation Schritt. Doch war das nicht der vorherrschende Eindruck, der sich im Wahrnehmungshorizont der meisten Zeitgenossen festsetzte. Dafür war teils verantwortlich, dass die Entwicklung der Renten (nominaler Zuwachs 1946–1955: 54 %) dauerhaft hinter jener der Löhne (91 %) zurückblieb und die Rentner daher einem Prozess relativer Deprivation ausgesetzt waren.118 Teils lässt es sich darauf zurückführen, dass ein allgemein anerkannter Lebenshaltungsindex noch nicht fest etabliert war, der zeitgenössische Erfahrungshaushalt vielmehr tief von der gezielten Manipulation des offiziellen Preisindexes durch die Regierung während des Zweiten Weltkriegs geprägt war.119 Das hatte zur Folge, dass sich Forderungen nach höheren Leistungssätzen im Nachkriegsjahrzehnt mit der Diskussion über die Frage amalgamierten, ob der staatliche Lebenshaltungsindex korrekt die Teuerung bestimmter Güter abbildete, und die Preisstatistik selbst mithin tief im Bereich des Politischen angesiedelt war.120 116 Vgl. Robson, National Insurance Act, S. 177. Die folgenden Absätze nach Torp, »The Ending«, S. 165 ff. 117 Vgl. etwa Thane, Old Age, 371. 118 Alle Zahlenangaben sind eigene Berechnungen auf der Grundlage von Lawrence H. Officer, What Were the UK Earnings and Prices Then? (http://www.measuringworth.com/ ukearncpi). 119 Vgl. Gazeley, Poverty, S. 130–134; Seers, Cost of Living; Feinstein, National Income. 120 Vgl. etwa den Bericht über den Besuch einer Delegation aus MPs und Vertretern verschiedener Old Age Penisoners Associations beim National Assistance Board, 30.3.1949, NA , PIN 46/20.
Alterssicherung und soziale Lage der Alten Anfang der 1950er Jahre 61
Zweitens erlebten die späten 1940er und die 1950er Jahre ein deutliches Anwachsen des Kreises jener, die die bedürftigkeitsgeprüfte National Assistance erhielten – das gilt nicht nur für die Alten, aber es gilt in besonderer Weise für sie. Alleine von 1948, als das neue Sozialhilfesystem vom Stapel lief, bis 1951 stieg die Anzahl der durch National Assistance unterstützten Rentnerhaushalte von 638.000 auf 969.000 an – mit steigender Tendenz. 1954 lag der Anteil der Alten, die Sozialhilfe bezogen, bereits bei 27 %.121 Der signifikante Zuwachs an Sozialhilfefällen lag zum einen sicherlich darin begründet, dass die Reformen mit ihrer expliziten Verabschiedung des Poor Law diesen Bereich sozialer Sicherung entstigmatisiert hatten. Zum anderen verweist er noch einmal auf das in jeder Hinsicht ungenügende Niveau der neuen staatlichen Alterssicherung. Dass diese gar nicht die Aufgabe habe, alleine ein menschenwürdiges Auskommen zu gewährleisten, wurde immer mehr zur politisch allseits geteilten Auffassung. »Die Labour-Regierung hat niemals die Auffassung vertreten, dass die staatliche Grundrente dort, wo sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht, das einzige Einkommen darstellen solle«, heißt es etwa in einer Handreichung der Labour Party für die Wahlen von 1950. »Hinter dem Rentensystem steht die Fürsorge, die zusätzliche materielle Hilfe auf Grundlage eines Rechtsanspruchs und nicht als Wohltätigkeit gewährt.«122 Deutlicher ließ sich der Abschied vom Subsistenzgedanken als regulativer Idee der Alterssicherung, der nicht nur für Beveridge, sondern auch für Labour eine so zentrale Rolle gespielt hatte, kaum formulieren. Die Aufgabe der Existenzsicherung und damit der Armutsbekämpfung fiel nun zunehmend wieder – ganz in der Tradition des gerade abgeschafften Poor Law – der auf means tests beruhenden Sozialhilfe zu, die überflüssig zu machen eigentlich eines der Hauptziele der Sozialreform gewesen war. Interessanterweise waren es weniger diese Entwicklungen, die das sozialpolitische Klima der frühen 1950er Jahre bestimmten, als die aufsehenerregenden Ergebnisse einer Sozialerhebung, die der inzwischen 80jährige Rowntree 1950 zusammen mit seinem Mitarbeiter G. R. Lavers durchgeführt hatte und im Jahr darauf veröffentlichte. Die Studie stellte – nach 1899 und 1936 – die dritte in einer Reihe von Untersuchungen in York dar, in denen Rowntree nach dem Ausmaß und den Gründen von Armut fragte. Die Schlüsse, zu denen R owntree und Lavers gelangten, waren in der Tat sensationell: Der Anteil der Bevölkerung, der in Armut (im Sinne eines physischen Existenzminimums) lebte, war dramatisch zurückgegangen. Waren 1936 noch 31,1 % der zur working-class population zu rechnenden Personen unter die Armutsgrenze gefallen, waren es 1950 gerade noch 2,77 % der Einzelpersonen bzw. 4,64 % der Haushalte. Auch die Armutsursachen hatten sich gewandelt. Von den wenigen verbliebenen Armuts121 Lowe, Welfare State, S. 157; Shenfield, Social Policies, S. 101. 122 Campaign Notes, General Election, 1950, No. 1, Edited by the Labour Party Research Department, BLPES , Shore 3/16.
62 Austerity Britain fällen ließ sich der Löwenanteil (68,1 %) auf Altersarmut zurückführen, während 1936 Arbeitslosigkeit und geringe Löhne die wichtigsten Ursachen gewesen waren. Auch im Hinblick auf die Altersarmut aber fand die Studie beruhigende Worte: Wäre zum Zeitpunkt der Erhebung (1950) bereits die für 1951 angekündigte Rentenerhöhung in Kraft gewesen, hätte das die noch bestehende Altersarmut schlagartig um 86 % reduziert und das Gesamtarmutsniveau noch einmal auf 1,95 % der Haushalte halbiert. Die Berechnungen zeigten, fassten die Autoren zusammen, »wie zufriedenstellend die Erhöhung der Altersrenten auf das reagier[t]en, was 1950 die bei weitem wichtigste verbleibende Armutsur sache war«. Überhaupt, das war ein weiteres zentrales Ergebnis der Studie, war es der Wohlfahrtsstaat, der für die stupende Armutsverminderung verantwortlich war: Mehr als zwei Drittel des Rückgangs an Armut glaubten Rowntree und Lavers als Effekte verschiedener wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen identifizieren zu können.123 Dass die dritte York-Studie sowohl den Rückgang der Armut als auch den Einfluss des Wohlfahrtsstaats quantitativ deutlich überschätzte, ist inzwischen von Wirtschaftshistorikern überzeugend herausgearbeitet worden. Das war nicht das Resultat einer bewussten Datenmanipulation, sondern des Zusammenspiels einer Reihe von methodischen Fehlern.124 Von all dem wussten die Zeitgenossen nichts. Rowntree galt auf seinem Gebiet als eine unumstrittene Kapazität; seine Studie schien auch der in den Folgejahren langsam einsetzenden akademischen Kritik mühelos standzuhalten. Die immense Aufmerksamkeit, welche den Ergebnissen Rowntrees zuteil wurde, spiegelt sich nicht zuletzt in dem intensiven Presseecho wider, das sie erfuhren und von dem Schlagzeilen wie »The ending of poverty« (»Daily Herald«) oder »Poverty is almost down and out« (»Manchester Guardian«) zeugten.125 Wie tiefgreifend sie in den 1950er Jahren die Beurteilung der sozialen Lage in Großbritannien beeinflussten, zeigt vielleicht am besten der Umstand, dass es – ganz im Gegensatz zur Popularität des Genres in der Vorkriegszeit – nach der York-Studie für über ein Jahrzehnt keine Untersuchung mehr gab, die sich mit Armutsfragen auseinandersetzte. Das letzte Wort schien gesprochen zu sein. Auf die sozialwissenschafliche Beschäftigung mit dem Alter und den Alten wirkten sich die Resultate Rowntrees und der Erwartungsüberschuss, den sie im 123 Eigene Berechnungen nach Rowntree u. Lavers, Poverty, S. 30–36. Zitat: ebd., S. 36. Vgl. insges. ebd., S. 37–45. Die Angaben zum Gewicht der einzelnen Armutsursachen für 1936 zwischen ebd., S. 35, und Rowntree, Poverty and Progress, S. 110, divergieren zum Teil erheblich. Ein Grund für die Abweichungen wird weder angegeben noch lässt er sich erschließen. 124 Vgl. Hatton u. Bailey, Seebohm Rowntree; Atkinson, Maynard u. Trinder, National Assistance; Atkinson u. a., Poverty in York; Gazeley, Poverty in Britain, S. 168–173. 125 Daily Herald, 2.10.1951; Manchester Guardian, 13.10.1951. Vgl. auch The Times, 15.10.1951.
Alterssicherung und soziale Lage der Alten Anfang der 1950er Jahre 63
Hinblick auf die Leistungen des gerade etablierten Wohlfahrtsstaats bestärkten, in zweifacher Weise aus. Auf der einen Seite führten sie zu einer Intensivierung der Auseinandersetzung mit den Alten als der anscheinend letzten verbliebenen sozialen Problemgruppe. Hatten in den 1920er und 1930er Jahren Arbeits losigkeit und Armut im Zentrum des Interesses der empirischen Sozialforschung gestanden, waren es in den ausgehenden 1940er und den 1950er Jahren die Alten. Nicht weniger als 33 empirische Erhebungen zu den Lebensverhältnissen älterer Menschen in verschiedenen Städten und Regionen Großbritanniens zählte der damals gerade am Anfang seiner langen Karriere stehende Soziologe Peter Townsend in einem Überblicksartikel von 1959 für den Zeitraum von 1945 bis 1957.126 Auf der anderen Seite verschob sich der Fokus der sozialwissenschaftlichen Erhebungen grundlegend: Weg von Fragen der materiellen Armut, die naturgemäß im Vordergrund der Armutsstudien der vorangegangenen Jahrzehnte gestanden, aber auch noch bei der Untersuchung der Nuffield Foundation von 1945/46 eine zentrale Rolle gespielt hatte,127 jetzt aber als mehr oder minder überwunden galt. Hin zu den Lebensumständen älterer Menschen jenseits der Einkommensdimension – von ihren Wohnverhältnissen über ihre Einstellung zum Ruhestand bis zu ihren familiären Beziehungen. Die Ergebnisse der Studien waren geeignet, das bislang vorherrschende Bild einer zunehmenden gesellschaftlichen Marginalisierung der Alten, ihrer Hilfsbedürftigkeit und Passivität zu revidieren. Mehr als alles andere verwiesen die empirischen Erhebungen auf die intensive familiäre Einbindung der alten Menschen in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit. »Die ausgedehnte Drei-Generationen-Familie … bildet die normale Umgebung für alte Leute«, fasste eine Studie zum Familienleben der Alten in Bethnal Green (East London) diesen Sachverhalt zusammen.128 85 % der Alten, die Kinder hatten, wohnten entweder mit einem von ihnen zusammen oder in einem Umkreis von höchstens einer Meile; 78 % sahen wenigstens eines ihrer Kinder täglich, weitere 19 % mindestens einmal pro Woche, zumeist häufiger.129 Gleichzeitig betonten die Untersuchungen die Reziprozität in den Austauschbeziehungen zwischen den Generationen: Weit davon entfernt, passive Empfänger von Geldzuwendungen und Pflege zu sein, leisteten die Alten selbst wichtige Beiträge zur Führung des Haushalts und im Rahmen der Kinderbetreuung. Einher mit dieser Neuausrichtung des Blickwinkels ging der Bedeutungs verlust der sozio-ökonomischen Dimension. Unterschiedliche Lebensbedin126 Vgl. Townsend, Social Surveys, S. 583–585. 127 Vgl. Nuffield Foundation, Old People. 128 Townsend, Family Life, S. 205. Vgl. auch Sheldon, Social Medicine; Young u. Willmott, Family; National Corporation for the Care of Old People, Ninth Annual Report; Marsh, Elderly People. 129 Townsend, Family Life, S. 31, 37.
64 Austerity Britain gungen fanden sich in den meisten Fällen beschrieben, ohne dass sie zu den »klassischen« Strukturen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Vermögen, Beruf oder Bildung in Beziehung gesetzt und auf Regelmäßigkeiten der Verteilung hin überprüft worden wären. Das bedeutet nicht, dass die meisten Studien unkritisch dem Status quo gehuldigt und darauf verzichtet hätten, soziale Problemfelder zu markieren. Doch schienen diese den meisten Sozialforschern weitgehend quer zu den vertrauten Dimensionen sozialer Ungleichheit zu liegen. Paradigmatisch hierfür war, in welcher Weise Townsend – die Resultate zahlreicher Arbeiten zusammenfassend – jene drei Problemgruppen unter den Alten beschrieb, »whose needs are great«, und wie dabei »poor« bzw. »poorest« seinen zuvor dominanten sozio-ökonomischen Bedeutungsinhalt verlor: Die Not unter den alten Menschen, so Townsend, sei am größten, erstens, bei den »poorest physically«, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung an Bett oder Wohnung gebunden seien; zweitens bei den »poorest socially«, den sozial »Isolierten« – zumeist unverheiratet und kinderlos –, die über keine regelmäßigen sozialen Kontakte verfügten; und drittens bei den »poorest occupationally« – fast ausschließlich Männer –, die den Abschied aus dem Arbeitsleben und die neue Situation des Ruhestands als schwere Belastung empfänden.130 Zugleich deutete sich in dieser Aufzählung bereits die Verfasstheit der sich gerade etablierenden Alterssoziologie als einer an bestimmten Praxisdimensionen und konkreten Schwierigkeiten orientierten angewandten Soziologie an, als die sie sich in den nächsten Jahrzehnten primär entwickelte.131 Einen ganz anderen Einfluss als auf die empirische Sozialforschung hatte der Leistungsausweis, den Rowntree und Lavers dem gerade ins Leben getretenen britischen Wohlfahrtsstaat ausstellten, auf die sozialpolitische Debatte über Alterssicherung. Bisher hatte sie nahezu vollständig unter dem Primat der Armutsvermeidung gestanden. Fragen der sozialen Ungleichheit im Alter hatten demgegenüber praktisch keine Rolle gespielt. Das sollte sich nun ändern. Angesichts des »Endes der Armut« und vor dem Hintergrund eines enormen Zuwachses von Systemen der betrieblichen Alterssicherung, die – nimmt man den öffentlichen und privaten Sektor zusammen – 1936 erst 13 %, 1956 aber bereits 33 % der Werktätigen erfassten,132 begann nun insbesondere eine Gruppe von der Labour Party nahestehenden Intellektuellen um Richard Titmuss die wachsende soziale Kluft anzuprangern, die sich in Zukunft zwischen den ausschließlich auf das staatliche System angewiesenen Rentnern und jenen auftun würde, die über eine betriebliche Zusatzrente verfügten. Ausgehend von einer Analyse des komplexen Geflechts der steuerlich massiv begünstigten privaten bzw. betrieblichen Alterssicherungssysteme, kritisierte Titmuss in einem vielbeachte130 Townsend, Social Surveys, S. 587–590. 131 Vgl. Kohli, Altern, S. 231 f. 132 Hannah, Inventing Retirement, S. 67.
Alterssicherung und soziale Lage der Alten Anfang der 1950er Jahre 65
ten Artikel in der »Times« Ende 1953 die zunehmende Aufspaltung der Gesell schaft »in zwei Kategorien von Rentnern«, die nicht dazu angetan wäre, die »Klassenschranken in Großbritannien« abzumildern. Im Gegenteil: Deutlich lasse sich bereits das Auseinanderdriften von »two nations in old age« erkennen – das Problem »einer größeren sozialen Ungleichheit nach Abschluss des Arbeitslebens als zuvor.« Zwangsläufig werfe diese Entwicklung die Frage von »social justice« – ein in der Debatte über die Alterssicherung zuvor eher marginaler Begriff – auf.133 Damit klang ein Thema an, das die Argumentation der britischen Linken in den nächsten Jahren zunehmend bestimmte. Nachdem die Altersarmut wenigstens in ihrer schärfsten Form als besiegt galt, traten nun die als ungerecht empfundenen sozialen Unterschiede innerhalb der Gruppe der Alten in den Vordergrund.
133 Richard Titmuss, The Age of Pensions, II – Superannuation and Social Policy, in: The Times, 30.12.1953; vgl. ders., The Age of Pensions, I – Public Service Provision for Retirement, in: The Times, 29.12.1953.
II. Gerechtigkeit im Wiederaufbau – die Bundesrepublik in den 1950er Jahren
1.
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft
»›Schon wieder teurer‹«, seufzt der alte Mann und hält dem Straßenbahnschaffner seine letzten zehn Pfennig hin. »Er wolle gerade seine Rente holen«, erklärt er der neben ihm sitzenden Frau, »und wenn es nicht so regnete, wäre er natürlich zu Fuß gelaufen. Aber das hielte der Mantel nicht mehr aus, und der müsse es noch lange machen. Denn einen neuen könne er sich von seiner Rente nicht kaufen«. »Über 30 Jahre«, fährt er fort, habe er gearbeitet und regelmäßig seine Beiträge gezahlt. Ganze 72 Mark Rente bekäme er dafür. Und davon solle er mit seiner Frau einen ganzen Monat leben«, wo er doch alleine 30 Mark für die Miete zahle und »alles von Tag zu Tag teurer würde … Den ganzen Jammer seines kümmerlichen Daseins redet sich der Alte vom Herzen. Und die Frau neben ihm hört geduldig zu. Eine Antwort oder Trost auf seine Anklage weiß sie auch nicht. Dafür weiß sie umso besser um die Sorgen und Nöte dieses Mannes. Aus eigener Erfahrung. Als Witwe mit zwei Kindern … bekommt sie kaum mehr als der Rentner.«1 Wie in einem Brennglas bündelt sich in dieser kleinen – ob nun erfundenen, ausgemalten oder tatsächlich beobachteten – Geschichte, die sich Anfang 1955 in einem »Sozialrentner – auf der Schattenseite des Lebens« betitelten Artikel in der Frankfurter Rundschau findet, die gesellschaftlich vorherrschende Wahrnehmung der sozialen Lage der Alten in der frühen Bundesrepublik. Alter wird vornehmlich mit Armut assoziiert. Davon zeugen etwa zu Beginn der 1950er Jahre die zahlreichen Bundestagsdebatten über Rentenerhöhungen, in denen besonders die Abgeordneten der sozialdemokratischen Opposition die »Hungerrenten« anprangerten, die viele Rentenempfänger in eine so verzweifelte Situation stürzten, »dass bei einem großen Teil Selbstmordgedanken« aufträten.2 Die meisten Alten, das ist der dominante Tenor, dem auch von den Abgeordneten der Regierungsparteien nicht widersprochen wurde, befänden sich in »Not und … Elend«; die niedrigen Rentensätze böten »schon seit lan1 Sozialrentner – auf der Schattenseite des Lebens, in: Frankfurter Rundschau, 27.3.1955. 2 Freidhof (SPD), Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte (= BT) 1/122, S. 4658 f. (1.3.1951). Der Verbindung von materieller Not im Alter und hoher Selbstmordrate auch bereits bei Fischer (SPD), BT 1/91, S. 3401 (13.10.1950).
68 Gerechtigkeit im Wiederaufbau gem keine Existenzmöglichkeit mehr«.3 Ganz in die gleiche Richtung gehen die Ergebnisse einer 1955 vom Frankfurter Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Ludwig von Friedeburg durchgeführten repräsentativen Umfrage zu »Altersbild und Altersvorsorge der Arbeiter und Angestellten«: 75 % der befragten (ausschließlich männlichen) Arbeitnehmer erklärten, die wirtschaftliche Lage der Rentner sei »schlecht« oder sogar »sehr schlecht«. »Materielle Not« wurde am häufigsten als wichtigstes Problem im Alter genannt. Auch für die insgesamt negativen Erwartungen im Hinblick auf das eigene Alter war die düstere Beurteilung der ökonomischen Lage das zentrale Motiv – »Rente langt nicht, materielle Not wird sein« war eine typische Begründung. Und auch der in der Eingangsgeschichte prominente Verweis auf die »steigenden Preise« fand sich trotz vergleichsweise moderater Inflationsraten (von ca. 2 % im Jahresmittel 1951/1955) vielfach in den Kommentaren der Befragten.4 Gleichzeitig dokumentiert die Straßenbahnszene, dass Armut in den frühen 1950er Jahren keine stigmatisierte und marginalisierte, sondern eine offen thematisierte und breite Bevölkerungsschichten erfassende Armut war – dafür stehen die Auskunftsfreudigkeit des alten Mannes einerseits und die sozial ebenfalls prekäre Situation der Witwe mit ihren beiden Kindern andererseits. Auch wenn über ihr Ausmaß keine verlässlichen statistischen Daten vorliegen, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Armut – auch wenn man sie auf der Grundlage eines absoluten Existenzminimums definiert – in den ersten Jahren der Bundesrepublik ein Massenphänomen darstellte. Dafür waren natürlich in erster Linie der Weltkrieg und seine Folgen verantwortlich. Zu den hiervon besonders hart Betroffenen innerhalb der einheimischen Bevölkerung gehörten vor allem zwei Großgruppen, die durch die Ubiquität von Armut und Elend gekennzeichnet waren und als solche gefährliche soziale Sprengsätze für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft darstellten: erstens die 4,1 Mio. Kriegsopfer, die der Krieg zu Invaliden, Witwen und Waisen gemacht hatte; zweitens die riesige Gruppe jener, die durch Krieg und Vertreibung ihre materielle Existenz vollständig oder zu einem Gutteil verloren hatten – die 3,4 Mio. Ausgebombten und ihre Familien, die knapp 8 Mio. Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten (Stand 1950), die Flüchtlinge aus der SBZ/DDR , deren Zahl sich bereits 1950 auf 1,5 Mio. belief und deren Strom bis 1961 nicht abriss, die Evakuierten und schließlich die Sparer, die durch die Währungsreform von 1948 den Großteil ihres Geldvermögens eingebüßt hatten.5 Dass sich das in diesen multiplen Pro3 Korspeter (SPD), BT 1/122, S. 4653 (1.3.1951). 4 V. Friedeburg u. Weitz, Altersbild, S. 26, 21, 17 f., 25. Inflationsraten: Mitchell, International Historical Statistics. Europe, S. 963. 5 Zahlen: Hockerts, Integration, S. 25 ff.; Köllmann, Bevölkerungsentwicklung, S. 66 ff. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 257 ff.; Holtmann, Flüchtlinge; Leisering, Zwischen Verdrängung, S. 491; Buhr u. a., Armutspolitik, S. 506 ff.; Heidemeyer,
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft 69
blemlagen angelegte soziale Spannungspotential nicht in einer politischen Radikalisierung der verschiedenen Opfergruppen entlud, die das politische System der jungen Bundesrepublik nachhaltig hätte unterminieren können, lag zum einen sicherlich an dem 1950 mit dem Koreaboom abrupt einsetzenden rapiden und dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung, der vielen der Depossedierten Arbeit und Verdienst brachte. Zum anderen ist auf den Erfolg der bundesdeutschen Sozialpolitik zu verweisen, die in den Anfangsjahren ganz unter dem Primat der Kriegsfolgenbewältigung stand. Zu ihren wichtigsten Maßnahmen zählte die Kriegsopferversorgung, für die die entscheidende Weichenstellung bereits 1950 mit der Verabschiedung des Bundesversorgungsgesetzes erfolgte, sowie der Lastenausgleich seit 1952, der die Vertriebenen und Kriegssachgeschädigten für einen Teil ihrer Vermögensverluste entschädigte und ihre materielle Notlage durch Unterstützungsleistungen linderte. Hinzu trat ein großangelegtes Förderprogramm für den sozialen Wohnungsbau, das bis 1956 zum Neubau von ca. 2 Mio. Wohnungen führte und auf diese Weise die dramatische Kluft zwischen Angebot und Nachfrage am Markt für Wohnraum verringerte.6 Je weiter nun das deutsche »Wirtschaftswunder« in erstaunlich kurzer Zeit die materielle Lage breiter Bevölkerungsschichten verbesserte und die Armuts population reduzierte, desto mehr rückte als verbleibende soziale Problemgruppe ein dritter Personenkreis in den Fokus der politischen Akteure und publizistischen Öffentlichkeit, der sich massiv mit den beiden anderen Großgruppen überschnitt, aber nicht in ihnen aufging: die Empfänger der weithin als defizitär angesehenen staatlichen Renten und anderen Sozialleistungen, zu denen u. a. die Arbeitslosen, Fürsorgeempfänger, vor allem aber die Rentner der Invaliden- und Angestelltenversicherung zählten. Da über ihre tatsächliche materielle Lage selbst »die primitivsten statistischen Unterlagen«7 fehlten und noch nicht einmal ihre Zahl bekannt war, veranlasste die Bundesregierung 1953 eine großangelegte Untersuchung über »Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger«, die das Statistische Bundesamt noch im gleichen Jahr in Angriff nahm und bis 1955 abschloss.8 Die Enquête, die als repräsentative Stichprobe alle Empfänger von Sozialleistungen in der Bundesrepublik und West-Berlin erfasste, deren Familiennamen mit einem »L« begann Flucht; Ackermann, Flüchtling; Schulz, Rahmenbedingungen, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 (= GSD), Bd. 3, S. 34 ff.; Rudloff, Im Schatten, S. 364–374. 6 Vgl. Rüfner u. Goschler, Ausgleich, in: GSD, Bd. 3, S. 691–704, 723–755; Wiegand, Lastenausgleich; Hughes, Shouldering; Abelshauser, Lastenausgleich; Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 3, S. 32–41; Hockerts, Integration, S. 31 ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 258 ff.; Wagner-Kyora, Wohnungspolitik, in: GSD, Bd. 3; Schulz, Wohnungspolitik. 7 Wo 10 Mrd. Sozialleistungen bleiben, in: Der Tag, 9.1.1955. 8 Ergebnisse: Statistisches Bundesamt (Hg.), Die sozialen Verhältnisse, H. 1 u. 2; Deneffe, Sozialleistungen; ders., Die wirtschaftlichen Verhältnisse. Vgl. hierzu allg. auch Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 201–215.
70 Gerechtigkeit im Wiederaufbau (ca. 4,5 %), wurde in zwei Teilen durchgeführt. Die erste Erhebungswelle, die auf den Meldungen der verschiedenen Sozialleistungsträger basierte, widmete sich der detaillierten Analyse der Sozialleistungen und fragte nach der Struktur der Leistungsfälle und -empfänger. Hier zeigte sich unter anderem, dass den insgesamt 13,84 Mio. Unterstützungsfällen 10,31 Mio. Empfänger gegenüberstanden, mehr als 3 Mio. Empfänger also mehr als eine Sozialleistung bezogen. Rechnete man die durch Familienzuschläge indirekt unterstützten Personen hinzu, ergab sich, dass ca. ein Viertel der Bundesbürger irgendeine Form von staatlicher Transferzahlung bezog. Unter den Alten (ab 65 Jahre) lag dieser Anteil bei ca. 74 % (3,25 Mio. von 4,42 Mio.).9 Der zweite Schritt der L-Erhebung richtete sein Augenmerk auf die Seite der Sozialleistungsempfänger selbst und untersuchte ihre soziale Situation auf der Grundlage von ca. 62.000 mündlichen Interviews.10 Aus sozialgeschichtlicher Perspektive stellen die Ergebnisse dieses Teils der Enquête zweifellos die wichtigste statistisch repräsentative Quelle der frühen Bundesrepublik im Hinblick auf die soziale Lage der Alten sowie der staatlichen Unterstützungsempfänger insgesamt dar. Auch unter den Zeitgenossen fand ihre Veröffentlichung breite Beachtung, galt die L-Erhebung doch als wichtige Informationsgrundlage für die projektierte Sozialreform.11 Es ist wichtig zu begreifen, dass damit das zeitgenössische ebenso wie das heutige Wissen über die Lebensverhältnisse der Alten in den 1950er Jahren in zweifacher Weise präformiert war: Zum einen war es ein staatlich erzeugtes Wissen – gewonnen im Auftrag der Bundesregierung, erarbeitet durch staatliche Institutionen und in einem klaren politischen Verwendungszusammenhang stehend. Das verhielt sich völlig anders als in Großbritannien, wo zur gleichen Zeit zahlreiche Studien zur Lage der Alten entstanden, die auf die Initiative einzelner Sozialforscher oder von Stiftungen wie der Nuffield Foundation zurückgingen. Zum anderen – und eng damit zusammenhängend – nahm man in Deutschland die soziale Situation der Alten durch die Brille der Berechtigungskategorien der sozialen Sicherung wahr, treten sie uns in ihrer Eigenschaft als »Sozialrentner« gegenüber. Auch das ist anders als im Vereinigten Königreich, wo die Alten als Gruppe sui generis im Mittelpunkt der Untersuchungen standen. In der frühen Bundesrepublik dagegen, wo die Alterssoziologie noch ganz 9 Statistisches Bundesamt (Hg.), Die sozialen Verhältnisse, H. 1, S. 36 f., 44; Achinger u. a., Neuordnung, S. 44*. Die Zahlen für die Alten beziehen sich bei den Sozialleistungsempfängern auf September 1953, bei der Bevölkerungszahl auf September 1950. 10 Deneffe, Die wirtschaftlichen Verhältnisse, S. 502. 11 Vgl. nur: Fast vierzehn Millionen Rentenfälle, in: FAZ , 6.1.1955; Wo 10 Mrd. Sozialleistungen bleiben, in: Der Tag, 9.1.1955; DGB , Landesbezirk NRW an Ernst Schellenberg, 2.1.1957, Archiv der sozialen Demokratie (= AdsD), SPD BT-Fraktion, 2. WP, 94; DGB , Landesbezirk NRW, Ergebnisse einer Erhebung über die wirtschaftlichen Verhältnisse in Sozialrentnerfamilien, 17.12.1956, AdsD, SPD BT-Fraktion, 2. WP, 94; Storch, BT 2/30, S. 1407 (21.5.1954).
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft 71
in den Kinderschuhen steckte, war der Blick auf die Alten von Beginn an umfassend sozialpolitisch vorgeformt. Das bedeutete zugleich, dass ihre Armut fast zwangsläufig als das Produkt defizitärer sozialstaatlicher Leistungen perzipiert wurde. Tab. 1: Haushaltungen der Rentner- und Unterstützungsempfänger mit Haushaltsvorständen über 65 Jahre im Bundesgebiet 1955
insgesamt
Renten u. Unterstützungen
Sonstiges Ein kommen
insgesamt
Alleinst. Frauen
668,4
110,0
90,1
868,5
4
104
22
130
Alleinst. Männer
190,4
31,4
37,2
258,9
20
120
30
170
Alleinst. Ehepaare
500,6
119,2
202,6
822,4
41
150
50
241
Ehepaare nur mit Kindern unter 18 J.
16,8
10,0
15,2
42,0
98
167
52
317
Sonstige Ehepaare mit Angehörigen
40,9
36,5
242,9
320,4
307
158
60
526
Elternteile nur mit Kindern unter 18 J.
6,9
3,2
4,3
14,4
73
155
25
253
Sonstige Elternteile mit Angehörigen
62,7
32,4
230,5
325,6
238
135
40
413
Sonstige Haushaltungen
48,3
12,8
30,5
91,6
70
179
79
327
1536,6
355,5
851,6
2743,8
Insgesamt
Erwerbs einkommen
unter 50 %
Durchschnittliches Monats einkommen der versch. Haus haltstypen in DM
50–75 %
Anzahl der Haushalte (in 1000) mit einem Anteil von Renten und Unterstützungen am Gesamteinkommen von
mehr als 75 %
Haushaltstyp
Quelle: Eigene Berechnungen nach Deneffe, Die wirtschaftlichen Verhältnisse, S. 505; Statistisches Bundesamt (Hg.), Die sozialen Verhältnisse, H. 2, S. 52 f., 83.
Was waren die Ergebnisse der L-Erhebung? Insgesamt, so stellte sich heraus, gab es in der Bundesrepublik 2,7 Mio. Haushalte, die staatliche Renten und Unterstützungsleistungen bezogen und einen über 65jährigen Haushaltsvorstand hatten – das war ein gutes Drittel der 7,65 Mio. Haushaltungen mit Transfer-
72 Gerechtigkeit im Wiederaufbau empfängern und ein Sechstel aller deutschen Haushalte (16,1 Mio.).12 Dass dabei ein Gutteil jener Alten, die keine Rente bezogen, sondern etwa Beamte im Ruhestand, Altenteiler oder aber nach wie vor selbständig erwerbstätig waren, durch den besonderen Fokus der Untersuchung außerhalb der Betrachtung blieben, muss nicht noch einmal eigens betont werden. Interessant ist nun, dass die L-Studie die Altenhaushalte detailliert nach Haushaltstypen aufschlüsselte (vgl. Tabelle 1). Als die am häufigsten vertretene Lebensform erwies sich mit 42 % der Einpersonenhaushalt. Dabei überstieg jedoch die Anzahl der alleinstehenden Frauen die der Männer um mehr als das Dreifache (868.500 gegenüber 258.900). Alleine Altwerden, heißt das, war auch schon in den 1950er Jahren in erster Linie eine weibliche Erfahrung – was, wie ein schneller Blick auf ähnliche Verhältniszahlen in den USA lehrt, nicht primär auf die Auswirkungen der Weltkriege, sondern auf die höhere Lebenserwartung von Frauen zurückzuführen ist.13 Den zweithäufigsten Haushaltstyp stellten mit 30 % die alleinlebenden Ehepaare; mit weitem Abstand (jeweils ca. 12 %) gefolgt von Eltern bzw. Vätern oder Müttern mit erwachsenen Kindern. Die Statistiker errechneten ebenfalls den Grad der Abhängigkeit der verschiedenen Haushaltstypen von den staatlichen Transferleistungen. Dabei trat deutlich hervor, dass die alleine lebenden Alten »zum ganz überwiegenden Teil«, nämlich zu 89,6 % bei den Frauen und zu 85,7 % bei den Männern, »echte Rentnerhaushaltungen« bildeten, Haushalte also, »deren Einkommen ausschließlich oder überwiegend aus öffentlichen Renten oder Unterstützungen stammte«.14 Insgesamt lebten von den Haushaltungen mit einem Haushaltsvorstand von 65 Jahren und darüber 69,0 % überwiegend von Renten und anderen Unterstützungsleistungen, wobei diese bei 56,0 % der Befragten mehr als 75 % und bei 13,0 % einen Anteil zwischen 50 und 75 % des Familieneinkommens ausmachten. Über diesem Gesamtdurchschnitt lagen auch die alleinlebenden Ehepaare, die zu 75,4 % überwiegend von staatlichen Leistungen abhängig waren, während die Familien mit erwachsenen Kindern ihr Haushaltseinkommen vorwiegend durch den Arbeitsmarkt bezogen. Die Berechnungen ließen klar erkennen, dass die alleine oder als Ehepaar lebenden Altersrentner jene Gruppe darstellten, die in ihrer Lebensführung weit mehr auf ausreichende sozialstaatliche Leistungen angewiesen waren als die meisten anderen Unterstützungsempfänger. Einen ähnlichen Grad an Abhängigkeit von Transferleistungen verzeichneten sonst nur noch alleinstehende Frauen zwischen 40 und 65 Jahren (81,1 %) sowie alleinerziehende Elternteile von minderjährigen Kindern (68,1 %).15 12 Deneffe, Die wirtschaftlichen Verhältnisse, S. 503. 13 Vgl. Achinger u. a., Neuordnung, S. 100. Zu den Ursachen: Höpflinger, Frauen im Alter. 14 Deneffe, Die wirtschaftlichen Verhältnisse, S. 503. Zahlen: Tab. 1. 15 Meine Berechnungen nach Statistisches Bundesamt (Hg.), Die sozialen Verhältnisse, H. 2, S. 39.
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft 73
Graphik 1: Ehepaar-Haushalte (in 1000) mit Renten und Unterstützungen und über 65jährigen Haushaltsvorständen 1955 in der Bundesrepublik nach Monatseinkommen, Anteil der Transferzahlungen am Gesamteinkommen 300
250
200
150
100
50
50 –1 00 10 0– 15 0 15 0– 20 0 20 0– 25 0 25 0– 30 0 30 0– 35 0 35 0– 40 0 40 0– 45 0 45 0– 50 0 50 0– 60 0 60 0– 70 0 70 u. 0 D m M eh r
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Quelle: Eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt Hg., Die sozialen Verhältnisse, H. 2, S. 84 f. (Gesamteinkommen je Haushaltung und Monat. Die dunkel schraffierten Flächen geben den Anteil der Renten und Unterstützungen am Gesamteinkommen in der jeweiligen Einkommensklasse wieder).
Es überrascht wenig, dass gerade die in besonderer Weise von den staatlichen Transferleistungen abhängigen Rentnerhaushalte im Hinblick auf die Gliederung der Gesamteinkommen in den unteren Einkommensklassen zu finden sind. Darauf verweisen bereits die monatlichen Durchschnittseinkommen der Alleinstehenden und Ehepaare in Tabelle 1. Auch diese Werte, die bereits auf die besonders prekäre soziale Situation der über 65jährigen alleinlebenden Frauen verweisen, unterzeichnen jedoch noch die materielle Armut der meisten Rentnerhaushalte. Das liegt daran, dass sich die Erwerbs- und sonstigen Einkommen auf vergleichsweise wenige Rentnerhaushalte konzentrieren, in denen die staatlichen Transferzahlungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen und die den Durchschnitt nach oben »verzerren«. Graphik 1 gibt diesen Sachverhalt für die Gruppe der alleinlebenden Ehepaare mit über 65jährigem Haushaltsvorstand wieder. Während das monatliche Durchschnittseinkommen hier bei 241 DM lag, konzentrierten sich die meisten Einkommensfälle zwischen 100 und 200 DM, handelte es sich also um eine deutlich asymmetrische, linkssteile Einkommensverteilung.
74 Gerechtigkeit im Wiederaufbau In der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse hoben die Autoren der L-Studie, die sich ja nicht nur mit den Altersrentnern, sondern mit allen Renten- und Unterstützungsempfängern in der Bundesrepublik befasst hatte, die Heterogenität in der sozialen Situation der von ihnen untersuchten Haushalte hervor. Zugleich identifizierten sie »einige große Gruppen von Haushaltungen …, welche in besonderem Maße der Sozialpolitik überantwortet und von ihr abhängig« waren. Bei ihnen handelte es sich »um Haushaltungen alter Leute oder alleinstehender Elternteile mit kleinen Kindern« – ein letztes Mal sei hier auf die Repräsentativität der eingangs wiedergegebenen Zeitungsgeschichte über den alten Mann und die Witwe mit zwei Kindern verwiesen. Der Grund für den hohen Grad an Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen und für die materiell prekäre Situation dieses Personenkreises war – wie es die Statistiker etwas verquast ausdrückten – »vor allem in der biologischen und sozialen Struktur dieser Haushaltstypen« zu suchen.16 Kurz: mangelnder Zugang zum Arbeitsmarkt infolge von Alter oder Mutterstatus. Die Ergebnisse der vom Statistischen Bundesamt verantworteten Erhebung fanden sich bestätigt durch eine unveröffentlichte Studie, die der Deutsche Gewerkschaftsbund 1954 über die materiellen Verhältnisse von 849 Sozialrentnerfamilien durchgeführt hatte. Auch nach der DGB -Erhebung, die lediglich Mehr-Personen-Haushalte und keine Alleinlebenden erfasste, waren die befragten Familien der zu drei Viertel über 65jährigen Sozialrentner in ihrer Lebensführung ganz überwiegend (zu 77,1 %) auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Genau wie nach der L-Enquête lagen auch nach Angaben des DGB die Einkommen der bei weitem meisten Familien, zumal der Paarhaushalte, unter 200 DM monatlich. Was das für den alltäglichen Lebensvollzug bedeutete, verdeutlichten die DGB -Statistiker, indem sie sich nicht nur der Einnahmen-, sondern auch der Ausgabenseite zuwandten. 50,1 % des Haushaltseinkommens, ermittelten sie, gaben die Rentnerfamilien in der Einkommensgruppe bis 150 DM für Miete (26,0 %), Heizung und Licht (18,9 %) und andere ständige feste Ausgaben (5,2 %) aus, wobei »die Kleinstwohnung bis zu zwei Zimmern einschließlich Küche« die »typische Rentnerfamilien-Wohnung« darstellte. Von der anderen Hälfte des Einkommens waren alle übrigen Ausgaben inklusive Kleidung und Ernährung zu bestreiten.17 Das Bild von der sozialen Situation der Alten in den 1950er Jahren wird ergänzt durch einige wenige Lokalstudien. Zu ihnen zählt insbesondere eine 1955 in Westberlin durchgeführte Pilotstudie auf dem Gebiet der Armutsforschung, 16 Ebd., S. 43 f. 17 DGB , Landesbezirk NRW, Ergebnisse einer Erhebung über die wirtschaftlichen Verhältnisse in Sozialrentnerfamilien, 17.12.1956, AdsD, SPD BT-Fraktion, 2. WP, 94 (ebenfalls in: Bundesarchiv [= BArch] B 149/397). Die Erhebung war ursprünglich Teil einer größeren, im Mai/Juni 1954 durchgeführten Befragung von ca. 3500 Familien (nicht nur Sozialrentnern) in Nordrhein-Westfalen gewesen.
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft 75
die ein Sample von 852 Haushaltungen erfasste. Die methodisch ausgesprochen reflektierte und sich explizit auf die York-Studien Seebohm Rowntrees beziehende Untersuchung arbeitete als »objektive« Armutsgrenze mit einem in Anlehnung an die Verbrauchsausgaben der »unteren Verbrauchergruppe« konstruierten »sozialen Existenzminimum« von 180 DM monatlich für ein alleinlebendes Rentnerehepaar.18 Gemessen an dieser Schwelle und an analog berechneten Richtwerten für die anderen Haushaltstypen, lebten ca. 22 % aller Haushaltungen in Westberlin in materieller Armut, von jenen mit einem mindestens 65jährigen Haushaltungsvorstand dagegen 32 %.19 Die Leiterin der Studie gelangte zu dem Schluss, dass »[v]or allem die altersmäßig bedingte Erwerbsunfähigkeit« in einer Zeit, »da individuelle Vorsorge durch Zeitereignisse zerstört wurde, viele Familien und alleinstehende Menschen in wirtschaftliche Schwierigkeiten« brachte. Auch sie identifizierte schnell die – in ihrer Mehrzahl weiblichen – Ein-Personen-Haushalte und hier wiederum besonders die »Ein-Renten-Personen« als die »eigentliche Armutsschicht«.20 Um »das komplexe Problem der Armut nicht lediglich quantitativ zu erfassen«, schloss die Westberliner Enquête mit einer Reihe von durch Haushaltsbesuche und »Intensivinterviews« in einer Art »dichter Beschreibung« erschlossenen »Lebenslagebildern« der Armut. Nicht zufällig sind unter diesen als »besonders charakteristische Fälle« titulierten Armutspanoramen die Alten prominent vertreten; darunter beispielsweise ein Rentnerehepaar, das seit den Luftangriffen von 1944 in einer »Art Behelfsheim« wohnte, sich fast ausschließlich von Brot ernährte, nur noch über verschlissene Kleidung verfügte und als »Folge der ungesunden Wohnverhältnisse« an Rheuma litt. »Der Haushalt«, fasste der Berichterstatter seine Beobachtungen zusammen, mache »einen elenden Eindruck, die Not [sei] so offensichtlich, dass die Klagen und die Mutlosigkeit« der Alten »begreiflich« seien.21 Um eine weitere bedeutsame Facette wurde das Spektrum sozialer Lebenslagen im Alter durch eine Ende 1956 abgeschlossene Studie zu den »Altersproblemen des selbständigen großstädtischen Mittelstandes« in Frankfurt a. M. erweitert. Der Fokus richtete sich hier mit den Selbständigen explizit auf eine Gruppe von Alten, die zu einem guten Teil nicht von der L-Enquête erfasst worden waren, da sie »in ihrem Berufsleben nicht in einer Arbeitnehmerposition gewesen« waren, »nicht im Rahmen der Sozialversicherung für ihr Alter vorgesorgt und durch zwei Weltkriege und deren wirtschaftliche Auswirkungen (Inflation, Depression, Kriegssachschaden, Währungsreform) ihre eigene, durch Selbsthilfe erworbene Altersversorgung ganz oder teilweise verloren« hatten.22 18 19 20 21 22
Münke, Armut, S. 40 f. Eigene Berechnungen nach ebd., S. 57, 60. Ebd., S. 71 (Hervorh. im Original), 68. Ebd., 84 ff. Lenhartz, Altersprobleme, S. V.
76 Gerechtigkeit im Wiederaufbau Die daher am Ausgang der Untersuchung stehende Erwartung, Angehörige des Handwerks, der freien Berufe und des Einzelhandels weit überproportional unter jenen Alten zu finden, die von der staatlichen Fürsorge lebten, fand sich jedoch enttäuscht. Zur Überraschung der Bearbeiterin der Studie gab es in Frankfurt ganze 44 Fürsorgefälle von alten Menschen, die aus dem selbständigen Mittelstand stammten und keine sonstigen Unterstützungsansprüche besaßen. Alle anderen blieben für das städtische Armenwesen unsichtbar, »weil sie trotz zweier Inflationen und des Verlustes von Sachwerten und Vermögen und trotz wirtschaftlicher Zwangslage doch immer noch nicht in eine solche Notlage geraten [waren], dass sie dazu gezwungen [gewesen] wären, sich an die öffentliche oder private Fürsorge zu wenden.« Als Gründe hierfür finden sich neben dem starken Stigma der Armenfürsorge zum einen finanzielle Hilfe im Familienverband sowie die Tatsache angeführt, dass Teile des Sachvermögens und angesparten Kapitals offensichtlich Krieg und Geldentwertungen unbeschadet überstanden hätten. Wichtiger noch war – zum anderen –, dass viele Ärzte, Rechtsanwälte, Handwerker und Kaufleute weit über ihr 65. Lebensjahr hinaus berufstätig blieben und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Selbständigen waren daher unter den über 65 Jahre alten Erwerbspersonen mit einem Anteil von 50 % deutlich überrepräsentiert. Überhaupt schien die soziale Situation der Selbständigen in besonderer Weise auf den »enge[n] Zusammenhang zwischen der produktiven« – und das hieß hier: beruflichen und vorwiegend männlichen – »Tätigkeit und der Existenzberechtigung in der heutigen Gesellschaft« zu verweisen. Das brachte es nicht nur mit sich, dass der »soziale Abstiegsprozess … in erster Linie zum Schicksal der Witwen und ledigen Frauen geworden« war. Es führte im Hinblick auf die nicht mehr erwerbstätigen Alten – ungeachtet der wenigen Fürsorgeempfänger unter ihnen – auch zu einem generalisierenden und düsteren Urteil: »Unproduktives Alter bedeutet Not, bedeutet Ausgeschlossensein von der Gesellschaft, bedeutet abgesunkenes gesellschaftliches Ansehen.«23 Bereits das letzte Zitat verweist darauf, dass »Altersnot« von der zeitgenössischen Soziologie der 1950er Jahre nicht einfach mit materieller Armut gleichgesetzt, sondern in einem weiteren Sinne verstanden wurde. Davon zeugt auch schon Sepp Groths 1954 erschienene und auf Feldstudien im Frankfurter Nord end beruhende Arbeit »Das Alter im Aufbruch des Daseins« – die erste empirische sozialwissenschaftliche Untersuchung zu den Lebensverhältnissen alter Menschen in Deutschland. Groths Studie nimmt ihren Ausgang von der Diagnose, »dass um die Mitte des 20. Jahrhunderts ganz plötzlich ein Fragen und Forschen um das Alter und den alten Menschen einsetzte, wie es noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit der Fall war« und wertet diese Entwicklung als Ausweis dafür, »wie sehr das Alter in unserer Gegenwart zum Pro23 Zitate: ebd., S. 153 f., 161.
Die »Altersnot« in der deutschen Nachkriegsgesellschaft 77
blem geworden ist«.24 Dabei stand der Autor deutlich unter dem Eindruck des schwungvollen Aufbruchs, den Gerontologie und Alterssoziologie international, ganz besonders aber in Großbritannien und den USA, erlebten und der sich in der Gründung von gerontologischen Gesellschaften und Zeitschriften, der ersten »National Conference on Aging« in Washington 1950 und dem ersten Welt-Gerontologenkongress in Lüttich im selben Jahr wiederspiegelte. Der Aufschwung der Altersforschung war für Groth aber lediglich der Ausdruck einer beispiellosen, alle entwickelten Industriegesellschaften im 20. Jahrhundert erfassenden demographischen Entwicklung: der dauerhaften Zunahme des Anteils der Alten an der Bevölkerung, der darauf beruhte, dass zunehmend nicht nur wenige, sondern die meisten Menschen ein höheres Lebensalter erreichten. Für die Bundesrepublik erregten in diesem Kontext die Ergebnisse der Volkszählung von 1950 erhebliche Aufmerksamkeit. Sie zeigten, dass die Altersquote, also der Anteil der mindestens 65jährigen, auf 9,3 % angewachsen war und sich damit seit 1900 (4,8 %) mehr als verdoppelt hatte. Mit dieser, eben nicht nur in Deutschland, sondern in allen Industrieländern in ähnlicher Form zu beobachtenden Entwicklung, so Groth, trat »zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine in ihrem Dasein einfach neue Daseinsschicht, nämlich die sich voll besetzende Generationsgruppe des Alters … ins Leben, das heißt in das gesellschaftliche Dasein«.25 Der Kern der »Altersfrage« lag daher nicht allein in der materiellen Unterversorgung der sich erstmals als »vollbesetzte« Altersgruppe konstituierenden Alten begründet, sondern ebenso in ihrem noch unzureichend bestimmten Platz im Gefüge der Gesellschaft, »im Fehlen des gesellschaftlichen Gewandes und des Lebensortes für das Alter«. Besonders in der Großstadt trat das in aller Deutlichkeit hervor. Hier bedeutete Alter – und das war der tiefere Gehalt des Grothschen Konzepts von »Altersnot« – »Dasein ›ohne Funktion’, und das heißt: Dasein ohne Sinn«.26 Es war Helmut Schelsky – darauf hat auch schon Gerd Göckenjahn hin gewiesen –,27 der diese in der zeitgenössischen Soziologie vorherrschende Sicht des Alters am Ende der 1950er Jahre in prägnanter Weise verdichtete. S chelsky, dessen Altersanalyse wesentlich auf den Ergebnissen seines Mitarbeiters Rudolf Tartler aufbaute,28 ging aus von der Diagnose eines »konstitutionellen, d. h. in der allgemeinen Verfassung der Gesellschaft begründeten, Altersnotstand[es] in unserer Zeit«. Die Referenzfolie hierfür bildete das, was er als »anthro pologisch-soziologische Grundformel des Alters«, als das unabhängig von Zeit und Ort geltende »Grundbedürfnis jedes Alters« postulierte: das »Bedürfnis 24 Groth, Alter, S. 7 f. 25 Ebd., S. 48. Vgl. hierzu u. zu Groth allg. Göckenjahn, Alter, S. 362 ff., ders., Zur Wandlung, S. 127 ff. 26 Groth, Alter, S. 49, 53. 27 Vgl. Göckenjahn, Zur Wandlung, S. 134 f.; ders., Alter, S. 376 ff. 28 Vgl. Tartler, Alter.
78 Gerechtigkeit im Wiederaufbau nach Lebenskontinuität bei teilweiser Funktionsentlastung«.29 Die Strukturen der modernen Industriegesellschaft schienen diesem Grundrezept für ein »gelungenes« Altern diametral zuwiderzulaufen. Erstens nämlich war der »soziale Altersstatus« hier gerade nicht durch das langsame Ausklingen der bisherigen Tätigkeit gekennzeichnet, sondern begann im Gegenteil – jedenfalls für die Majorität der Erwerbstätigen – mit dem plötzlichen und vollständigen Ausscheiden aus dem Berufsleben. Dieser »abrupte und umfassende Abbruch der Berufstätigkeit« aber zerstörte »sehr gewichtige habituelle und institutionelle Stützen des alltäglichen Verhaltens« und unterbrach »eine lange Lebenskontinuität«, ja er bedeutete für viele einen »umfassende[n] Umweltentzug« und »das Verlieren des Lebenshaltes«.30 Zweitens – und eng damit zusammenhängend – war Alter in der Moderne eben nicht gleichbedeutend mit »teilweiser Funk tionsentlastung«, sondern mit vollständigem Funktionsverlust. Das galt für den Bereich der Erwerbstätigkeit; es galt aber auch für jenen der familiären Beziehungen. Hier konfrontierte Schelsky seine Gegenwart mit dem letztlich ahistorischen Konstrukt der Drei-Generationenfamilie der »altständischen, vorwiegend agrarisch-handwerklichen Gesellschaftsverfassung« und gelangte zu dem Schluss, dass besonders die Alten durch die Auslagerung von Produktions-, Haushalts- und Erziehungsleistungen aus dem Familienverband »maximal ihre alten Funktionen in der Familie« eingebüßt hätten.31 Das Alter als Status der Funktionslosigkeit – das ist die vom amerikanischen Strukturfunktionalismus tiefgreifend beeinflusste Kernthese jenes Altersbildes, das in der deutschen ebenso wie der internationalen Soziologie – man denke nur an Richard Titmuss’ Diktum vom Alter als »funktionslosem Interregnum« zwischen Arbeit und Tod –32 in den 1950er Jahren breite Zustimmung erfuhr. Bei Schelsky lagerte sich hieran noch die These der »Generationsnivellierung« an, die wiederum als Teilaspekt seines überaus einflussreichen Konzepts der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« verstanden werden sollte.33 Wenn bestimmte Triebkräfte – das ist der dabei leitende Gedanke –, die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Produktionsweise etwa oder die Pädagogisierung der Kindererziehung in der Familie, dazu führten, dass Altersfunktionen und -rollen verlorengingen, die auf einem Erfahrungsvorsprung des Alters, auf »Altersweisheit«, beruhten, so war damit zugleich eine Nivellierung der »Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten« der unterschiedlichen Generationen verbunden. Die sich in den Lebens- und Verhaltensweisen der Alten abzeichnende 29 30 31 32 33
Schelsky, Auf der Suche, S. 221. Ebd., S. 222 f. Ebd., S. 210, 212. Richard Titmuss, The Age of Pensions, in: The Times, 29.12.1953. Zur »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« vgl. nur Schelsky, Auf der Suche, S. 326–332; ders., Wandlungen; Nolte, Ordnung, S. 330 ff.; Braun, Helmut Schelskys Konzept; Schildt, »Massengesellschaft«; Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft.
Die Genese der Rentenreform von 1957 im Zeitraffer 79
»bewusste Generationsnivellierung zum mittleren Lebensalter«, ihre neue »Jugendlichkeit«, war für Schelsky vor diesem Hintergrund nichts anderes als »die natürliche Kompensation des Verlustes in allgemeiner Altersüberlegenheit und Altersautorität«.34 In der Art und Weise, wie die zeitgenössische Sozialwissenschaft die »Altersnot« konzipierte, waren zwei Aporien angelegt, mit der sich insbesondere auch jede Sozialpolitik konfrontiert sah, die das Problem angehen wollte. Erstens war das sozialwissenschaftliche Bild der Alten als Gruppe tendenziell in sich widersprüchlich. Auf der einen Seite nämlich betonten alle Untersuchungen nachdrücklich das hohe Maß an Unterschiedlichkeit und Heterogenität, das die materielle Lage der Alten und ihre übrigen Lebensumstände charakterisierte. Auf der anderen Seite jedoch entfaltete der soziologische Blick eine homogenisierende Wirkung, da von Rollen- und Funktionsverlust im Prinzip alle Alten in ähnlicher Weise betroffen waren. Zweitens führte das weite Verständnis von »Altersnot«, das die Soziologie entwickelte, zu einem Dilemma, wenn es darum ging, Strategien zu ihrer Behebung ins Auge zu fassen. Zwar waren sich wiederum alle über das große Ausmaß an Altersarmut und darüber einig, dass soziale Sicherheit im Alter zu den vordringlichen sozialpolitischen Zielen zu zählen habe. Doch konnte die verbesserte soziale Absicherung des Alters stets nur die eine, die materielle Dimension der »Altersnot« bekämpfen. Das »eigentliche« Problem, wie es der Soziologe Friedrich Pollock 1958 formulierte, dass nämlich die Alten »keine nützliche Funktion mehr ausüb[t]en« und »auf ein bloßes Rentnerdasein reduziert« wurden, war damit dagegen noch nicht gelöst.35 Ganz im Gegenteil: Durch eine Verbesserung und Generalisierung der Alterssicherung lief die Sozialpolitik sogar Gefahr, das vollständige und übergangslose Ausscheiden aus dem Berufsleben noch stärker zur gesellschaftlichen Norm werden zu lassen als zuvor und so das mit ihm verbundene Problem des »Funktionsverlusts« und »Sich-überflüssig Fühlens« noch zu verschärfen.
2. Die Genese der Rentenreform von 1957 im Zeitraffer Die Rentenreform von 1957 markierte eine »Epochenzäsur«36 nicht nur in der Geschichte der Alterssicherung, sondern des deutschen Sozialstaats überhaupt. Sie war es vor allem deshalb, weil sie zwei grundlegend neue Ordnungsprinzipien etablierte, welche das Gesicht der deutschen Rentenversicherung seither bestimmten und sich tiefgreifend auf die soziale Lage der Alten auswirkten. Erstens sollte die Rente hinfort nicht länger lediglich einen »Zuschuss« zum 34 Schelsky, Auf der Suche, S. 218 f. Vgl. Tartler, Alter, S. 53 ff. 35 Pollock, Altwerden, S. 126. 36 Hockerts, Der deutsche Sozialstaat, S. 71.
80 Gerechtigkeit im Wiederaufbau Lebensunterhalt darstellen bzw. ein allenfalls kärgliches Auskommen in Armut ermöglichen, sondern »Lohnersatzfunktion« erhalten, also ein Einkommen garantieren, das sich in seiner Höhe an den bisherigen Bezügen orientierte und eine Fortführung der bislang gewohnten Lebenshaltung erlaubte. Damit ging 1957 eine deutliche Erhöhung der laufenden Renten um durchschnittlich ca. 60 % einher. Zweitens wurden die Renten »dynamisiert«, d. h. in ihrer Höhe laufend an das Wachstum der Löhne angepasst. Beide Prinzipien verbanden sich zu der das deutsche Alterssicherungssystem seitdem beherrschenden Vorstellung der »Lebensstandardsicherung«, nach der der einzelne Arbeitnehmer seinen im Arbeitsleben erreichten sozialen Status auch im Alter beibehalten sollte. Einen Paradigmenwechsel stellte die Rentenreform von 1957 aber auch noch in anderer Hinsicht dar. Zunächst einmal bedeutete sie auf der Finanzierungsseite die Abkehr vom bisher vorherrschenden Konzept der Kapital deckung und den weitgehenden Übergang zum Umlageverfahren. Gleichzeitig hob sie zwar die organisatorische Trennung in Arbeiter- und Angestelltenversicherung nicht auf, glich aber ihr Leistungsrecht fast vollständig einander an und trug auf diese Weise dazu bei, die traditionell bestehende Kluft zwischen beiden Arbeitnehmerkategorien zu reduzieren. Der politische Entscheidungsprozess, an deren Ende die Rentenreform von 1957 stand, ist bereits von der bisherigen Forschung, namentlich insbesondere von Hans Günter Hockerts, aber auch von Winfried Schmähl, in so mustergültiger und detaillierter Weise rekonstruiert und analysiert worden, dass es vermessen wäre, hier noch grundlegend Neues zutage fördern zu wollen.37 Wir können uns daher im Folgenden darauf beschränken, die wichtigsten Stationen auf dem Weg zur Neuregelung der deutschen Alterssicherung nachzuzeichnen, um auf dieser Grundlage dann ausführlicher auf die wohlfahrtsstaatlichen Normen einzugehen, an denen sich die Reform orientierte. Ansätze zu einer grundsätzlichen Neugestaltung der deutschen Alterssicherung lassen sich bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückverfolgen. Nachdem die westlichen Besatzungsmächte ihren halbherzigen Versuch, eine am Beveridge-Modell orientierte »Volksversicherung« einzuführen, angesichts der sich formierenden deutschen Gegenkräfte und des heraufziehenden Ost-WestKonflikts alsbald aufgegeben hatten,38 blieb es freilich zunächst bei einer Reihe von fallweisen und unsystematischen Rentenerhöhungen – wie etwa denen durch das Sozialversicherungsanpassungsgesetz von 1949, durch das Rentenzulagengesetz von 1951 oder das Renten-Mehrbetrags-Gesetz von 1954. Je wei37 Vgl. nur Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen; ders., Sozialpolitische Reformbestrebungen; ders., Sicherung im Alter; ders., Der deutsche Sozialstaat; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 3; ders., Soziale Sicherung; ders., Alterssicherungspolitik; ders., Dynamisierung; ders., Einführung der Dynamischen Rente. 38 Vgl. hierzu Hockerts, Der deutsche Sozialstaat, S. 43 ff.; ders., Sozialpolitische Entscheidungen, S. 21–85.
Die Genese der Rentenreform von 1957 im Zeitraffer 81
ter jedoch die Zeit voranschritt und je mehr die Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen, welche die Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik in der ersten Legislaturperiode noch vollständig dominiert hatte, in den Hintergrund trat, desto deutlicher zeigten sich das Regelungschaos und die Undurchsichtigkeit, welche die zahlreichen improvisatorischen Lösungen und ad-hoc-Maßnahmen auf sozialpolitischem Gebiet hatten entstehen lassen. Nicht zu Unrecht war von einem sogar für Fachleute undurchschaubaren »Sozialrechtsdschungel« und von dem »heillose[n] Wirrwarr« von Anspruchsgrundlagen und z. T. widersprüchlichen gesetzlichen Regelungen die Rede.39 Angesichts dessen – da war man sich von den wissenschaftlichen Experten über die Sozialverwaltung bis hin zu allen politischen Parteien einig – war eine grundsätzliche Neuordnung der sozialen Leistungen dringend erforderlich. Gleichzeitig bestand ein weitgehender Konsens auch dahingehend, dass die Rentenleistungen für all jene, die über keine andere Einkommensquelle verfügten – und das traf insbesondere auf die meisten Alten zu –, deutlich zu niedrig angesetzt waren. »Das Los der Rentner«, formulierte der Gewerkschaftssekretär Arthur Killat dieses weitverbreitete Urteil zugespitzt, werde »nicht nur von diesen selbst beklagt und als unerträglich empfunden, sondern erfüll[e] jeden Arbeiter und Angestellten … mit einer fast panischen Furcht vor dem Rentenalter«.40 Was die Durchsetzung einer Reform des sozialen Sicherungssystems im allgemeinen und der Alterssicherung im Besonderen in der politischen Arena betrifft, gilt es zunächst das vollständige Fehlen einer organisierten Vertretung der Alten, wie sie in Großbritannien mit der rege Aktivitäten entfaltenden National Federation of Old Age Pensions Associations bestand, festzuhalten. In der Bundesrepublik dagegen ging die Initiative von der SPD aus, deren Bundestagsfraktion Anfang 1952 die Einsetzung einer »Sozialen Studienkommission« beantragte, die an das Vorbild der Beveridge-Kommission angelehnt war und die Neuordnung der deutschen Sozialpolitik vorbereiten helfen sollte. Mit diesem – an den Stimmen der Regierungsparteien gescheiterten – Vorstoß setzte zugleich eine breite politische und wissenschaftliche Diskussion über eine umfassende Sozialreform ein, die sich erst im Laufe der Zeit auf die Neuordnung der Alterssicherung verengte. Die SPD zog bereits in den Wahlkampf von 1953 mit dem Entwurf eines »Sozialen Gesamtplanes«. Wenn dieser auch durchaus Einflüsse des Beveridge-Plans erkennen lässt, galt dessen »Übertragung« doch den führenden Sozialdemokraten, wie Ludwig Preller explizit feststellte, aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Traditionen als »nicht möglich«.41 Das zeigte sich insbesondere auch an den – noch sehr rudi39 Die Quelle 5. 1954, S. 511; Mackenroth, Reform, S. 39. 40 Killat, Problematik, S. 90. 41 Das englische Sicherungssystem, S. 103. Zur Rezeption des Beveridge-Plans durch die deutsche Sozialdemokratie vgl. auch Auerbach, Beveridgeplan.
82 Gerechtigkeit im Wiederaufbau mentären – Vorschlägen zur Alterssicherung. Im Gegensatz zu den britischen flat-rate benefits optierte die SPD hier für eine Kombination aus einer durch Steuermittel finanzierten »Grundrente«, die »jedem Alten und jedem dauernd Erwerbsunfähigen« zustehen sollte, und einer abgestuften »Zusatzrente auf Grund von eigener Beitragszahlung«.42 Auch auf Seiten der Regierung wurde der sozialpolitische Reformdruck zunehmend als unabweisbar empfunden. Dementsprechend fand die Ankündigung einer »umfassenden Sozialreform« als eine der vordringlichen innenpolitischen Aufgaben Eingang in die Regierungserklärung vom 20. Oktober 1953.43 Und in der Tat lassen nicht nur die wiederholten Bekräftigungen aus den Reihen der Regierung, sondern auch die von ihr entfalteten Aktivitäten keinen Zweifel daran, dass eine »die Neukodifizierung des gesamten Sozialrechts« implizierende »Sozialreform an Haupt und Gliedern« das war, was die Bundesregierung und in Sonderheit der Bundeskanzler selbst zunächst anstrebten.44 Davon zeugten etwa die Etablierung eines »Beirats für die Neuordnung der sozialen Leistungen« im März 1953, der sich aus Sozialwissenschaftlern und Sozialexperten der verschiedenen Parteien und Verbände rekrutierte und dem seit 1954 drei Arbeitsausschüsse – darunter einer für Grundsatzfragen – beigegeben wurden, sowie die 1955 beschlossene Gründung eines Ministerausschusses für Sozialreform – des sog. Sozialkabinetts –, eines interministeriellen Ausschusses und eines beim Bundesministerium für Arbeit (BMA) angesiedelten Generalsekretariats für die Sozialreform, das mit Kurt Jantz einen ebenso reformfreudigen wie durchsetzungsfähigen Leiter erhielt, der in den Folgejahren eine Schlüsselposition innehatte.45 Davon zeugte aber ebenso die breite, auf eine sozialpolitische Gesamtkonzeption zielende Anlage der von der Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten – der von Walter Bogs 1954 vorgelegten und ein Jahr später publizierten Studie »Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform« etwa oder der von Konrad Adenauer persönlich initiierten »Rothenfelser Denkschrift«, welche die vier Professoren Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer im Frühjahr 1955 im Geist der katholischen Soziallehre erarbeiteten.46
42 Grundlagen des sozialen Gesamtplanes, S. 5. Vgl. Auerbach, »Modell«, S. 110; Preller, Reform. 43 BT 2/3, S. 13 (20.10.1953). 44 Zitate: Beschluß in der 28. Kabinettssitzung am 6.4.1954, Kabinettsprotokolle 1954, S. 154; Vermerk des Referats 7 des BKA , 16.12.1953, BArch, B 136/766. 45 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Arbeitsausschusses für Grundsatzfragen am 3.6.1954, BArch, B 149/414; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 242 ff.; ders., Der deutsche Sozialstaat, S. 72; Einleitung, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozialreform, S. 15–48; Jantz, Rentendynamik. 46 Vgl. Bogs, Grundfragen; Neundörfer u. a., Neuordnung.
Die Genese der Rentenreform von 1957 im Zeitraffer 83
Dass aus der »großen Sozialreform« schließlich doch nichts wurde und sich die Reformbemühungen seit Ende 1955 zunehmend auf die Neuordnung der Alterssicherung beschränkten, lag zum einen daran, dass die Regierung angesichts wiederholter Vorstöße der Opposition mehr und mehr unter den Druck geriet, bis zur Bundestagswahl 1957 konkrete und vorzeigbare Ergebnisse zu produzieren. Zum anderen fand sich der Fortgang der Planungen innerhalb der Regierung durch einen Dauerkonflikt erschwert, bei dem sich Ressortkonkurrenz und grundlegende konzeptionelle Differenzen überlagerten. Auf der einen Seite stand hier der Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU), der nachdrücklich eine grundlegende Sozialreform mit dem Hauptziel anmahnte, alle aus Steuermitteln finanzierten sozialen Leistungen nach dem Prinzip der Bedürftigkeit umzustrukturieren. Anstelle der bisherigen Politik, »erst Leistungsverbesserungen bei einzelnen Sozialsparten« vorzunehmen »und sich dann zur Angleichung aller Sozialleistungen an die präjudiziell geschaffene Höhe genötigt« zu sehen, »ohne der Deckungsfrage« die nötige Bedeutung beizumessen,47 sollte auf der Grundlage von Bedürftigkeitsprüfungen nur »dem wirklich Bedürftigen unter den Sozialleistungsempfängern« geholfen und damit zugleich das Wachstum des Sozialetats gebremst werden.48 Genau gegen eine solche, an Fürsorgedanken und Bedürftigkeitsprinzip orientierte Reform des deutschen Sozialstaats wandte sich das Bundesministerium für Arbeit unter der Ägide von Anton Storch (CDU). Die Strategie des BMA zielte demgegenüber gerade auf den Ausbau der Sozialversicherungselemente und die Stärkung des Rechtsanspruchs auf Sozialleistungen. Gleichzeitig favorisierte es keine großangelegte Sozialreform, sondern ein schrittweises Vorgehen, wobei die Verbesserung der Alterssicherung unbedingte Priorität haben sollte. Dass die verfahrene Situation, in welche die Regierungsplanungen für die großangelegte Sozialreform geraten waren, schließlich ihre Auflösung in der Engführung auf eine Reform der Rentenversicherung hin fand, wurde auch dadurch befördert, dass für diesen Bereich mit dem »Schreiber-Plan« ein neues und konstruktives Konzept in das Blickfeld der politischen Entscheidungsträger geriet. Adenauer selbst war auf die von Oswald v. Nell-Breuning positiv besprochene Broschüre »Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft« des Volkswirtschaftlers und Geschäftsführers des Bundes Katholischer Unternehmer Wilfrid Schreiber aufmerksam geworden und gab ihm im Dezember 1955 die Gelegenheit, seine Vorschläge dem Sozialkabinett vorzustellen.49 Schreiber brach radikal mit der bis dahin vorherrschenden Idee des Kapitaldeckungsverfahrens und schlug ein reines Umlageverfahren vor. Nicht die gesetzlich 47 BMF an Adenauer, 13.10.1953, BArch, B 149/392. 48 Vermerk vom 13.10.1953, BArch, B 126/10939. 49 Schreiber, Existenzsicherheit. Vgl. die Besprechung v. Nell-Breunings: Sicherung der Existenz, in: Rheinischer Merkur, 26.8.1955.
84 Gerechtigkeit im Wiederaufbau erzwungene »Vermögensakkumulation« sollte die Grundlage der Rentenversicherung bilden, sondern der »Solidarvertrag zwischen 2 Generationen«:50 »Die arbeitstätigen Versicherten leisten jährlich … einen Beitrag zur Rentenversicherung in Höhe von b % ihres Arbeitseinkommens. Das gesamte Beitragsaufkommen wird in derselben … Periode an die im Rentenalter stehenden Versicherten verteilt«.51 Zugleich sollte sich die individuelle Rente nicht wie bisher an den während des Erwerbslebens gezahlten nominalen Rentenbeiträgen bemessen, was zwangsläufig zu einem Zurückbleiben des Rentenniveaus hinter der Lohn- und Preisentwicklung und zur relativen Deprivation der Rentner führen musste. Vielmehr sah Schreibers Vorschlag vor, dem einzelnen jährlich »Renten-Anspruchspunkte« gutzuschreiben, die die relative Höhe seiner Beiträge gegenüber den anderen Versicherten widerspiegelten, bis zum Renteneintritt aufaddiert wurden und deren aktueller Geldwert sich schließlich jährlich neu aus dem allgemeinem Beitragsaufkommen und der Summe der Anspruchspunkte aller Versicherten errechnete. Auf diese Weise ließe sich nicht nur erreichen, dass der »Rentenanspruch jedes Versicherten … seinen Beitragsleistungen vollkommen proportional« war, sondern gleichzeitig auch gewährleisten, dass »die Absolut-Höhe der Renten … der allgemeinen Wohlstandsentwicklung, gemessen z. B. am Lohn-Niveau, auf dem Fuße« folgte.52 Die Wirkung, die der »Schreiber-Plan« entfaltete, ging weniger davon aus, dass er radikal neue Ideen entwickelte, als davon, dass er in der Diskussion der vorangegangenen Jahren an verschiedenen Stellen anzutreffende Gedanken und Vorschläge aufnahm, sie zu einem konsistenten Konzept verdichtete und dieses in prägnanter Sprache vortrug. Auch ist festzuhalten, dass er in wesentlichen Punkten von der schließlich umgesetzten gesetzlichen Regelung abwich: Das galt etwa für Schreibers Pochen auf eine reine Beitragsfinanzierung und seine Ablehnung jedes staatlichen Zuschusses zur Rentenversicherung, vor allem aber auch für seine Entscheidung, den Beitragssatz als konstante und die Rentenhöhe als abhängige Größe zu betrachten, was bei einem Anwachsen des Anteils der Alten an der Bevölkerung notwendigerweise – und beabsichtigt – eine Verschlechterung der Renten-Lohn-Relation implizierte. Angesichts dessen wäre es verfehlt, die Rentenreform von 1957 als »Sieg eines Außenseiters 50 Entwurf von Wilfrid Schreiber für seinen Vortrag vor dem Ministerausschuß für die Sozialreform am 13.12.1955, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozial reform, S. 268–279, hier: S. 274. 51 Wilfrid Schreiber, Zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherungen. Memorandum zur Ergänzung des Referats vor dem Ministerausschuß für Sozialreform am 13.12.1955, vorgelegt am 31.12.1955, S. 6, BArch, B 149/116801. 52 Entwurf von Wilfrid Schreiber für seinen Vortrag vor dem Ministerausschuß für die Sozialreform am 13.12.1955, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozial reform, S. 268–279, hier: S. 273. Zum Vorgehenden vgl. auch Hockerts, Adenauer, S. 19 ff.; ders., Sozialpolitische Entscheidungsprozesse, S. 310 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 3, S. 400 ff.
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über die Bürokratie« zu beschreiben. Die Bedeutung des »Schreiber-Plans« lag vielmehr eher darin, dass er eine »Bresche« schlug, in die das Generalsekretariat unter Kurt Jantz dann mit eigenen Plänen hineinstoßen konnte.53 Nachdem Adenauer sich an der Jahreswende 1955/1956 in zentralen Punkten wie etwa der Aufwertung von früher geleisteten Beiträgen zur Rentenversicherung, der Kopplung der Renten an die Lohnentwicklung und dem Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfungen festgelegt hatte, konnte im Arbeitsministerium ein entsprechender Gesetzentwurf erarbeitet werden, der schließlich im Mai 1956 nach einigem Hin und Her das Kabinett passierte. Dabei war es der SPD abermals gelungen, die Regierung vor sich her zu treiben. Schon einen Monat zuvor nämlich hatten die Sozialdemokraten unter Federführung von Ernst Schellenberg einen eigenen, wohlausgearbeiteten Rentenreformentwurf im Bundestag eingebracht, der in seinen Kernpunkten mit dem Regierungskonzept weitreichende Ähnlichkeiten aufwies, die von den engen Kontakten zwischen BMA und SPD sowie zwischen den Sozialpolitikern der beiden großen Parteien zeugten.54 Die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe und ihre parlamentarische Beratung wurden von massiven Kontroversen sowohl innerhalb der Regierung als auch in der politischen Öffentlichkeit flankiert, die zeigten, dass es gegenüber dem neuen Prinzip der »Dynamisierung« noch eine breite Fundamentalopposition gab. Im Kabinett wandten sich nach wie vor besonders Finanzminister Schäffer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gegen die aus dem BMA kommenden Vorschläge. Gleichzeitig machten die Verbände der Banken, Arbeitgeber und Versicherungen mobil. Die Hauptargumente, welche die Gegner der dynamischen Rente ins Feld führten, lassen sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen: Erstens sahen sie in der Kopplung der Renten- an die Lohnentwicklung eine Gefahr für die Stabilität der Währung. Habe bislang »der große Block der Rentenempfänger gegenüber allen die Kaufkraft des Geldes gefährdenden Tendenzen ein retardierendes Element« gebildet, müsse in Zukunft das Gegenteil der Fall sein, wenn die Interessen von Rentnern und Lohnempfängern bei Tarifauseinandersetzungen übereinstimmten. Die »von der Lohnseite her in Bewegung gebrachte Lohn- und Preisspirale« würde dann »in eine sich selbst beschleunigende und kaum aufzuhaltende inflatorische Bewegung« münden.55 53 Hockerts, Der deutsche Sozialstaat, S. 75. 54 Gesetzentwürfe: BT Drs. 2/2314 (SPD), BT Drs. 2/2437 (Regierung). Vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 352 ff.; ders., Adenauer, S. 22 ff.; ders., Der deutsche Sozialstaat, S. 75 ff.; Einleitung, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozial reform, S. 34 f.; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 3, S. 410 ff. 55 Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dem BMA übersandt am 15.2.1956, S. 1 f., BArch, B 149/396. Vgl. Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung an Mitglieder des BT, 16.8.1956, S. 10, BArch, B 149/398. Hierzu und zum folgenden vgl. Abelshauser, Erhard, S. 387 ff.; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 377–387.
86 Gerechtigkeit im Wiederaufbau Zweitens untergrabe die dynamische Rente die private Kapitalbildung und damit die Finanzierung der für die wirtschaftliche Entwicklung unabdingbaren Investitionen, da »der Anreiz zur persönlichen Eigenvorsorge … in dem Maße herabgemindert« werde, »in dem dem einzelnen die Vorsorge für die Sicherung seines Lebensabends durch staatliche Versorgungseinrichtungen abgenommen« werde.56 Drittens schließlich hegten die Kritiker Zweifel an den den Reformplänen zugrundeliegenden Vorausberechnungen, da diese »auf überholten Wahrscheinlichkeitsstatistiken hinsichtlich der Lebenserwartung und der Rentendauer« beruhten.57 Gerade angesichts der zunehmenden Alterung der Bevölkerung würden sich die in Aussicht gestellten Rentenleistungen als auf die Dauer nicht finanzierbar erweisen. Auch im Bundestag und ebenfalls in der CDU/CSU-Fraktion selbst traf der Regierungsentwurf auf erheblichen Widerstand. In zähen Verhandlungen sowohl im Regierungslager als auch im Sozialpolitischen Ausschuss des Bundestages schälte sich schließlich ein Kompromiss heraus, der auf der Abänderung der Gesetzesvorlage besonders in zwei Punkten beruhte: Zum einen setzte man den Witwenanteil an der Rente des verstorbenen Mannes von 50 auf 60 % herauf. Zum anderen wurde die sowohl im BMA- als auch im SPD -Entwurf vorgesehene automatische Kopplung der Renten an die Bewegung der Löhne in mehrfacher Weise abgeschwächt: dadurch, dass die Anpassung Jahr für Jahr erneut einen Gesetzgebungsakt des Parlaments erforderte, dass mit dem neu konstituierten »Sozialbeirat« ein Expertengremium als beratende Instanz zwischengeschaltet wurde und dass außer der Lohnentwicklung auch noch andere gesamtwirtschaftliche Daten Berücksichtigung finden sollten. In der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1957 passierte das Reformpaket schließlich den Bundestag – nach der als »Rentenschlacht« bekannt gewordenen, bis dato längsten Parlamentsdebatte der jungen Republik und mit der breiten Mehrheit der Abgeordneten von CDU/CSU, FVP und SPD, in der sich bereits die »Große Koalition« abzeichnete, welche die deutsche Politik auf dem Gebiet der Alterssicherung in den Folgejahrzehnten charakterisierte.58 Der Siegeszug der »dynamischen Rente« trotz aller widerstrebenden Kräfte lässt sich angemessen nur erklären, wenn man die immense Popularität berücksichtigt, mit der die nach außen dringenden Pläne zu ihrer Realisierung in der Bevölkerung begrüßt wurden. Eine im Herbst 1956 vom Arbeitsministerium beim EMNID -Institut in Auftrag gegebene repräsentative Erhebung etwa zeigte nicht nur eine »verhältnismäßig große Informiertheit« hinsichtlich 56 Stellungnahme und Vorschläge der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Rentengestaltung, übersandt am 10.9.1956, BArch, B 149/396. 57 Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung an Mitglieder des BT, 16.8.1956, S. 7, BArch, B 149/398. Vgl. Heubeck, Gutachten. 58 Zum Vorangehenden vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 399–421; Schmähl, Sozialbeirat.
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der Rentenreform »in allen soziologischen Gruppen«, sondern ergab auch eine überwältigende Mehrheit für die Anhebung der Altersrenten und ihre laufende Anpassung an das wirtschaftliche Wachstum bzw. die Löhne.59 Die CDU-Sozialausschüsse und die Zeitungen berichteten bereits Mitte 1956 von den massiven Steigerungen, welche die Renten nach den Plänen des BMA erfahren sollten, und von den euphorischen Reaktionen, die diese Nachricht bei den Rentnern auslöste.60 Aufgrund einer Umfrage kurz nach der Verabschiedung der Reform schließlich urteilte das Institut für Demoskopie Allensbach, dass bisher »kein Beispiel dafür bekannt [sei], dass irgendein Gesetz, eine Institution oder sogar Verfassung und Symbole des Staates eine auch nur annähernd so positive Resonanz gehabt haben wie die Rentenreform«.61 Ein zentrales Problem für die Gegner der projektierten Neuordnung lag angesichts dieses überwältigend positiven Echos, das die Reform – von den Gewerkschaften, der SPD und Teilen der CDU/ CSU nach Kräften gefördert – in weiten Bevölkerungsteilen erfuhr, darin, dass es offensichtlich weder möglich war, die weitverbreitete Notlage der Altersrentner zu leugnen, noch legitim erschien, das Reformziel, die Alten besserzustellen und sie am wachsenden Wohlstand zu beteiligen, öffentlich zu bestreiten. Auch die Arbeitgeber fühlten sich daher verpflichtet, an den Anfang ihrer Generalkritik das Lippenbekenntnis zu stellen, »die Rentner an einer volkswirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung teilnehmen« lassen zu wollen und »grundsätzlich die soziale Zielsetzung der vorliegenden Gesetzentwürfe« zu bejahen.62 Was ihnen ebenso wie den anderen Reformkritikern vollständig fehlte, war eine positive und für breite Kreise attraktive Konkurrenzvision. Dem Bundeskanzler war die propagandistische Überlegenheit der von ihm energisch vorangetriebenen Rentenreform frühzeitig bewusst. Er bezog sie in sein wahltaktisches Kalkül mit ein, nutzte sie zur »propagandistischen Absicherung der Wehrgesetze«63 und verdankte ihr zu einem guten Teil seinen überragenden Wahlsieg bei der Bundestagswahl im September 1957.
59 EMNID, Einstellung, S. I, 7, 11. 60 Vgl. etwa Christliche-Demokratische Arbeitnehmerschaft, Kreissozialausschuß Essen an K. Jantz, 9.6.1956, BArch, B 149/397; Wie hoch werden künftig die Renten sein, in: Ruhr-Nachrichten, 9./10.6.1956; Die große Freude des 70jährigen, in: Essener Stadtnachrichten, 6.6.1956. 61 Institut für Demoskopie Allensbach, Zur Entstehungsgeschichte, S. 60. Vgl. auch Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958–1964, S. 417. 62 Stellungnahme und Vorschläge der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber verbände zur Rentengestaltung, übersandt am 10.9.1956, BArch, B 149/396. 63 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 416.
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3. Auf der Suche nach der gerechten Rente Welches waren die Normen, die in der Debatte um die Reform der Alterssicherung die zentrale Rolle spielten und für die politischen Akteure handlungsleitend waren?64 Ein prominenter Kandidat ist hier fraglos die »Wertidee« (Kaufmann) der »sozialen Sicherheit« – schon deshalb, weil ihr englisches Synonym »social security« ausgehend vom Sozialprogramm Franklin Delano Roosevelts eine beispiellose internationale Karriere machte, die dem Begriff 1948 eine Schlüsselstellung in der »Allgemeinen Menschenrechtserklärung« eintrug und ihn weltweit zur Leitkategorie der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg werden ließ.65 Und tatsächlich nahmen die Norm der »sozialen Sicherheit« bzw. ihre institutionelle Umsetzung »soziale Sicherung«, die sich im Deutschen, nicht aber im Englischen unterscheiden lassen, zusammen mit ihren semantischen Spielarten auch in der westdeutschen Diskussion der 1950er Jahre eine herausragende Stellung ein. Bereits im »Sozialen Gesamtplan«, den die SPD für den Wahlkampf von 1953 entworfen hatte, fand sich als Eingangsforderung das Motto »Soziale Sicherung tut not!«; der Passus, der sich mit den Alten und Erwerbsunfähigen auseinandersetzte, stand unter der Überschrift »Die wirtschaftliche Existenz wird gesichert«.66 »An die Stelle des Begriffs der Schutzbedürftigkeit ist der des allgemeinen Sicherungsbedürfnisses getreten«, dem die Sozialpolitik Rechnung zu tragen habe, resümierte die vom DGB eingesetzte und 1954/1955 tagende »Soziale Studienkommission aus unabhängigen Gutachtern« in ihrer Stellungnahme zur Neuordnung der Rentenversicherung.67 Auch für den Bonner Privatdozenten Wilfrid Schreiber bildete das »inbrünstige Verlangen des heutigen Menschen nach Existenzsicherheit« den Ausgangspunkt seiner später einflussreichen Vorschläge zur Reform der deutschen Rentenversicherung, die ihrerseits wiederum auf die Herstellung von »Sicherheit im Alter« zielten.68 In jenem Flugblatt des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung schließlich, mit dem sich Adenauer am Tag der Erstauszahlung der neuen Renten im April 1957 höchst werbewirksam »An alle Rentnerinnen und Rentner« wandte, hieß es zur Motivation der Bundesregierung: »Wir haben es immer für unsere Verpflichtung gehalten, soziale Sicherheit zu schaffen und das Alter von der Not zu befreien«. Der erste der dem Flugblatt beigegebenen »10 Leitsätze« lautete konsequenterweise: »Die Rentenreform 64 Kapitel II.3 u. II.4 beruhen im wesentlichen auf meinem Artikel Torp, Adenauerian Pensions Reform. 65 Vgl. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem; ders., Sicherheit: Das Leitbild; Hockerts, Einführung, S. 10 f.; ders., Vom Problemlöser, S. 4 ff. 66 Grundlagen des sozialen Gesamtplanes, S. 3, 5. 67 Die Soziale Studienkommission, S. 35. 68 Schreiber, Existenzsicherheit, S. 5, 23.
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in der Bundesrepublik bringt Sicherheit für die Wechselfälle des Lebens und gewährt einen Lebensabend frei von Not und Sorge«.69 Dass dies exakt einem in weiten Teilen der Bevölkerung verbreiteten Bedürfnis entsprach, bestätigte am Ende der 1950er Jahre Helmut Schelsky, wenn er aus der Perspektive des soziologischen Beobachters urteilte, dass alle empirischen Untersuchungen zeigten, »dass das in materieller Vorsorge gesicherte Alter ein entscheidendes Lebensund Arbeitsziel fast aller erwachsenen Berufstätigen« darstellte. Nicht ohne mit unverhohlenem Sarkasmus diese »idyllisch verschönte Vorstellung des ›ge sicherten und beschaulichen Alters‹« zu geißeln, die nichts anderes als die kleinbürgerliche Version »spezifisch hochbürgerliche[r] Verhaltensnormen« sei, kam er zu dem Schluss: »›Sicherheit im Alter‹ ist als eine der wenigen noch wirk samen sozialen Utopien in unserer Gesellschaft anzusehen.«70 Die neuere Forschung ist dieser Interpretation der Zeitgenossen weitgehend gefolgt, indem sie das »Sicherheitsstreben« der 1950er Jahre betont und die Rentenreform von 1957 als sein zentrales sozialpolitisches Ergebnis beschrieben hat.71 Die Adenauersche Rentenreform sei »in einem großen Umfang als Armutspolitik aufzufassen«, so der dominante Tenor unter Sozialwissenschaftlern und Historikern.72 Sie habe sich an dem Ziel orientiert, für alle Arbeitnehmer soziale Sicherheit im Alter durch existenzsichernde Renten zu schaffen, und insofern den Versuch dargestellt, »den Zirkel von Alter und Armut grundsätzlich und auf Dauer zu durchbrechen«.73 All das ist zutreffend und verdient, hervorgehoben zu werden. Jedoch: Dem Streben nach sozialer Sicherheit im Alter lässt sich auch auf andere Weise, etwa durch die Einführung einer für alle gleichen Einheitsrente wie im zeitgenössischen Großbritannien oder Schweden – bei allen Unterschieden im Einzelnen – nachkommen. Armut im Alter lässt sich auch anders bekämpfen – durch bedürftigkeitsgeprüfte staatliche Leistungen beispielsweise, die hierfür auf den ersten Blick besser geeignet zu sein scheinen als eine Einkommenslagen perpetuierende Sozialversicherung. Vor allem aber wirft die Betonung des Strebens nach sozialer Sicherheit nur Licht auf einen Teil der bei der Rentenreform von 1957 leitenden sozialpolitischen Normen. Mindestens ebenso wichtig nämlich war als normatives Leitbild in den Diskussionen über die Neuordnung der Alterssicherung ein anderer gesellschaftlicher Wertbegriff: »Gerechtigkeit«. Ebenso wie »Sicherheit« ist »Gerechtigkeit« im sozialpolitischen Kontext der 1950er Jahre im Prinzip ein All-Parteienbegriff – häufig gebraucht, zugleich relativ bedeutungsoffen und mit Appellqualität. So forderte etwa Arthur Killat als DGB -Vertreter und damit 69 GSD, Bd. 3, CD -ROM , Dokument 3/186. Entwurf für das Flugblatt: BArch, B 145/1027. 70 Schelsky, Auf der Suche, S. 224 f. 71 Vgl. etwa Conze, Die Suche, S. 15 f., 177 ff.; Braun, Das Streben, S. 293 ff.; Spicka, Selling, S. 205–255. 72 Göckenjahn, Zur Wandlung, S. 132. Vgl. ders., Alter, S. 373. 73 Hockerts, Integration, S. 38. Vgl. Buhr u. a., Armutspolitik, S. 508 f.
90 Gerechtigkeit im Wiederaufbau eher auf der linken Seite des politischen Meinungsspektrums stehend in einem Artikel »Gedanken zur Rentenreform« von 1950, dass »man den Mut haben sollte, die Versicherungsleistungen nach neuen und gerechten Methoden festzusetzen«.74 Ganz ähnlich machte sich die SPD -Bundestagsabgeordnete Clara Döhring 1953 das in »vielen Briefen« von Wählerinnen und Wählern zum Ausdruck gebrachte Verlangen zu eigen, »dass die Renten endlich in gerechterer Weise geregelt werden« sollten.75 Und doch ergibt die Durchsicht der Quellen den Befund, dass die Gerechtigkeitssemantik im Vorfeld der Rentenreform von 1957 noch größere Popularität auf der Regierungsseite und hier wiederum ganz besonders im Bundesarbeitsministerium genoss. Paradigmatisch war hier eine Rundfunkansprache des Arbeitsministers Anton Storch, mit der dieser im September 1954 in der Öffentlichkeit das Renten-Mehrertrags-Gesetz verteidigte, das vom Kabinett gerade nach schweren internen Auseinandersetzungen verabschiedet worden war und als Vorläufer der Rentenreform gelten kann. Er habe, so Storch über die ihn bei der Gesetzesvorlage leitende Motivation, sich »in [s]einem Ministerium mit [s]einen engsten Mitarbeitern« über die Rentenleistungen »seit mehr als einem Jahr die stärksten Gedanken gemacht und gefragt, warum wir noch nicht zu einer Ordnung gelangt sind, die vom Standpunkt des Einzelnen aus gesehen als sozialgerecht angesprochen werden kann«.76 Noch deutlicher formulierte Storch bzw. das ihm zuarbeitende Generalsekretariat in einem Aufsatzentwurf von 1956, dass die »Schaffung der gerechten Rente« »innerhalb des Gesamtbereiches der Sozialreform« jenes Problem gewesen sei, dessen »Lösung am vordringlichsten« war.77 Ganz auf dieser Linie konstatierte das bereits oben erwähnte, die Erstauszahlung der neuen Renten im April 1957 begleitende Flugblatt apodiktisch: »Die Ungerechtigkeiten der bisherigen Renten sind nun beseitigt«. »Wir glauben und wir wünschen«, hieß es an die Rentnerinnen und Rentner gerichtet weiter, »dass auch Sie diese Lösung [die Neufestsetzung der Renten, C. T.] für die einzig gerechte halten werden.«78 Die allfällige Prominenz der Gerechtigkeitssemantik in den Debatten über die Rentenreform von 1957 ist an sich ein bemerkenswerter Befund – gerade wenn man ihn mit ihrem fast vollständigen Fehlen im Kontext des BeveridgePlans kontrastiert. Was aber genau war gemeint, wenn in der frühen Bundes 74 Zit. nach Repgen (Hg.), Dynamische Rente, S. 63. 75 BT 1/270, S. 13342 (11.6.1953). 76 Entwurf der Rundfunkansprache, gehalten am 24.9.1954, S. 3, BArch, B 149/3963. Vgl. 44. Kabinettssitzung am 14.9.1954, Kabinettsprotokolle 1954, S. 384–386 (auch hier fehlt nicht der Hinweis, »dass dieser Gesetzentwurf aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit … eingebracht werden müsse«), sowie: Rentengesetz soll vor das Kabinett, in: Handelsblatt, 6.9.1954. 77 »Auf neuen Wegen zur sozialen Sicherheit« von Bundesminister Anton Storch, Aufsatz für die Sozialpolitischen Mitteilungen Nr. 1 (1957), o. D., BArch, B 149/393. 78 GSD, Bd. 3, CD -ROM , Dokument 3/186. Entwurf für das Flugblatt: BArch, B 145/1027.
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republik von der sozial gerechten Rente die Rede war? Überraschenderweise lässt sich das ziemlich exakt bestimmen, und es besteht unter den historischen Akteuren – ob sie nun Politiker, Ministerialbürokraten oder wissenschaftliche Experten waren – auch eine weitgehende Einigkeit darüber. Gerechtigkeit der Alterssicherung implizierte zum einen – darum geht es im nächsten Unterkapitel – ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Altersgruppen. Gerechtigkeit bedeutete zum anderen – und das steht hier im Mittelpunkt – die Orientierung des Rentensystems am Leistungs- bzw. Äquivalenzprinzip. In klassischer Weise findet dieser Zusammenhang seinen Ausdruck in den »Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen«, welche im Frühjahr 1955 im Bundesarbeitsministerium erarbeitet worden waren: »Es gibt daher auch keine sozial gerechtere Bemessung der Rente als diejenige, dass man die Rente nach dem Durchschnittsverdienst des Arbeitslebens errechnet, wie sie in der Beitragsleistung ihren sozialversicherungsrechtlichen Niederschlag gefunden hat. Die individuelle Lebensleistung spiegelt sich sodann in einer individuellen Altersrente wider.«79 Ganz in diesem Sinne hieß es in den »Leitsätzen« der Regierung zur Rentenreform: »Die neue Rente ist gerecht, weil sie in jedem Einzelfall individuell bemessen wird.«80 Davon, dass es sich – jedenfalls in Bezug auf das Alterssicherungssystem – bei der Gleichsetzung von Äquivalenzprinzip und sozialer Gerechtigkeit nicht um die Auffassung einer konservativen Minderheit handelte, sondern sie dem vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens entsprach, zeugt zum einen das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage von 1956, nach der sich eine übergroße Mehrheit von 63 % der Befragten für eine »beitragsgerechte Rente« aussprachen, während nur 35 % für eine Einheitsrente votierten.81 Vielleicht sogar noch eindrucksvoller wird, zum anderen, die Dominanz dieses spezifischen Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit im Rentensystem dadurch dokumentiert, dass ihm selbst die Kritiker des »Grundsatz[es] der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung … im strengsten Sinne«,82 wie er von Schreiber und dem Generalsekretariat vertreten wurde, nicht zu entkommen vermochten. Herbert Liebing, der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, etwa gab im »Arbeitsausschuss für Fragen der Rentenversicherung«, den der »Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen« eingesetzt hatte, zu bedenken, dass 79 Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen, Kabinettsvorlage des Bundesministers für Arbeit, 7.4.1955, BArch, B 136/1379. Entwurf: BArch, B 149/393. Im gleichen Sinne: 19. Sitzung des Arbeitsausschusses für Fragen der Rentenversicherung, 13.10.1955, S. 6, BArch, B 149/423. 80 GSD, Bd. 3, CD -ROM , Dokument 3/186. Entwurf für das Flugblatt: BArch, B 145/1027. 81 EMNID, Einstellung, S. 9. 82 Wilfrid Schreiber, Zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherungen. Memorandum zur Ergänzung des Referats vor dem Ministerausschuß für Sozialreform am 13.12.1955, vorgelegt am 31.12.1955, S. 4, BArch, B 149/116801.
92 Gerechtigkeit im Wiederaufbau »[d]ie Bemessung der Rente ausschließlich nach den Beiträgen (reine Beitragsrente) … zwar extrem ›gerecht‹ [sei], weil jeder das Seine erhielte, aber … in dieser Form doch den sozialen Gedanken eines solidarischen Ausgleichs unter den Versicherten vermissen« lasse und daher »extrem unsozial« sein könne.83 Und auch Ludwig Preller, der dem Sozialpolitischen Ausschuss der SPD vorstand, setzte implizit »Gerechtigkeit« und »Äquivalenzprinzip« gleich, wenn er bereits 1952 räsonierte, es »dürfte das wahrscheinlich Unumgängliche und auch Gerechtere sein«, die von den Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt noch vorgeschlagene Basisrente um eine sich nach dem bisherigen Arbeitsverdienst und der Beitragsdauer staffelnde Zusatzrente zu ergänzen.84 In der Debatte über die bundesdeutsche Rentenreform, heißt das, stand »Gerechtigkeit« geradezu in einem offenen Gegensatz zu »Gleichheit« und selbst zu »sozialem Ausgleich«. Welchen diskursiven Nachteil dies für alle Gegner einer streng beitragsorientierten Rente bedeutete, mag man kaum ermessen. Was waren die Gründe für diese klare Vorherrschaft des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit in der deutschen Alterssicherung, die umso deutlicher hervortritt, wenn man sie vor der Folie der Dominanz des Gleichheitsprinzips im britischen Fall betrachtet? Die historische Forschung verweist in diesem Kontext vorzugsweise auf die Tradition der deutschen Sozialversicherung, an die man als einen der wenigen durch Nationalsozialismus und Shoah nicht diskreditierten Überlieferungsbestände der nationalen Geschichte auf der Suche nach positiven Kontinuitätslinien bewusst angeknüpft habe.85 »[D]ie deutsche Sozialversicherung«, drückte diesen Zusammenhang der ehemalige hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) 1954 reichlich pathetisch, aber durchaus repräsentativ aus, habe »in den trübsten Tagen nach dem Zusammenbruch nationalistischen Wahnsinns den einzigen inneren Halt der Menschen unserer Bundesrepublik in nationaler Zusammengehörigkeit« geboten und gehöre »zu den Juwelen deutscher Tatkraft«.86 Tatsächlich war die Differenzierung der Beiträge und Leistungen nach Lohnklassen und damit das Äquivalenzprinzip in der deutschen Sozialversicherung seit ihrem Beginn verankert.87 Ver stärkend, so lässt sich ergänzen, wirkte sich dabei aus, dass in der deutschen Sozialstaatstradition die Trennung von Sozialversicherung, Versorgung und Fürsorge tief verwurzelt war. Während die Sozialversicherung und ganz besonders die Rentenversicherung – trotz ebenfalls vorhandener Element des sozialen 83 Sitzung des Arbeitsausschusses für Fragen der Rentenversicherung, 24.9.1954, S. 4, BArch, B 149/422. Zu Liebing vgl. Ruland, Geschichte, S. 9 f. 84 Preller, Reform, S. 23. 85 Vgl. nur Kott, L’État social; Hockerts, Vom Problemlöser, S. 7 ff.; Ritter, Sozialstaat, S. 160; Conrad, Alterssicherung. 86 Niederschrift über die außerordentliche Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger in Bad Nauheim, S. 3, 5.3.1954, BArch, B 149/393. 87 Vgl. nur Conrad, Vom Greis, S. 250–255; Hennock, Origin, S. 193–196.
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Ausgleichs – im wesentlichen als »zweckmäßige Solidarveranstaltung unter eigenständigen, selbstverantwortlichen Menschen« nach dem »Grundsatz der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung« begriffen wurde,88 bezeichnete »Versorgung« steuerfinanzierte und häufig pauschalierte staatliche Leistungen, welche vor allem dem Ausgleich der durch Kriege und andere Krisenereignisse entstandenen Schäden (Kriegsopferversorgung) dienten; die Fürsorge hingegen bezeichnete die als Residualkategorie begriffene staatliche Hilfe im Falle von individuellen »Notständen«,89 die sich in der Höhe am Existenzminimum orientierte und auf Bedürftigkeitsprüfungen basierte. Von entscheidender Bedeutung war nun, dass sowohl die Regierungsparteien als auch die für die Sozialreform zuständigen Ministerialbürokraten im Arbeitsministerium die Grenzen zwischen den drei Sicherungsformen scharf markiert und die Alterssicherung ebenso wie die Absicherung der anderen Standardrisiken ausschließlich nach dem Versicherungsprinzip konstruiert sehen wollten. Die Rentenversicherung, so der Tenor, sei »von allen Elementen der Versorgung und der Fürsorge zu bereinigen«.90 Damit wurde zugleich das in der Sozialversicherung vorherrschende Leistungsprinzip klar als sozialstaatlicher Königsweg von den Gerechtigkeitsprinzipien der anderen Sicherungsformen abgegrenzt – eine Dichotomie, die noch dadurch verstärkt wurde, dass die Sozialversicherung als »Selbsthilfe«, Fürsorge und Versorgung dagegen als »Staatshilfe« galten.91 Das leitende Prinzip des deutschen sozialen Sicherungssystems, fasste Kurt Jantz, der Leiter des Generalsekretariats für die Sozialreform, diese Sichtweise 1956 zusammen, habe »das Prinzip der Versicherung mit seinem ausgeprägten individuellen unbedingten Rechtsanspruch« zu sein. Nur so könnten die sozial »nivellierende[n] Tendenzen der Versorgung und die Kontrolle der Fürsorge« mit ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung vermieden werden. Die »Respektierung der Freiheit des Menschen«, so Jantz, verbiete es insbesondere, wesentliche Teile des Sozialstaats am Bedürftigkeitsprinzip der Fürsorge auszurichten, da sie zu einer »kontrollierte[n] Individualität« führe, der er die »garantierte Individualität« der Sozialversicherung entgegensetzte: Während »[i]ndividuelle Leistung innerhalb der Versicherung« heiße, »dass der Versicherte eine mit unbedingtem Rechtsanspruch ausgestattete, nicht schabloni88 Wilfrid Schreiber, Zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherungen. Memorandum zur Ergänzung des Referats vor dem Ministerausschuß für Sozialreform am 13.12.1955, vorgelegt am 31.12.1955, S. 4, BArch, B 149/116801. Ebenso: Nell-Breuning, Solidarität, S. 358 f. 89 Vorlage des Interministeriellen Ausschusses für die 3. Sitzung am 7. Oktober 1955, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozialreform, S. 234–238, hier: S. 238. 90 Wilfrid Schreiber, Zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherungen. Memorandum zur Ergänzung des Referats vor dem Ministerausschuß für Sozialreform am 13.12.1955, vorgelegt am 31.12.1955, S. 4, BArch, B 149/116801. 91 Vgl. Bogs, Grundfragen, S. 20.
94 Gerechtigkeit im Wiederaufbau sierte Leistung« erhalte, bedeute »Individualität innerhalb der Fürsorge, dass der Berechtigte einer individuellen Kontrolle unterworfen wird, ob er im Einzelfalle einer bestimmten … Leistung bedarf«.92 Angesichts dieser Perhorreszierung des Fürsorgedankens als Grundlage der sozialen Sicherung, die sowohl den ganz überwiegenden Teil der CDU als auch der SPD kennzeichnete, hatten die im Bundesfinanzministerium ebenso wie zeitweise von der konservativen Presse ventilierten Pläne, die Alterssicherung nach dem Prinzip der Bedürftigkeit umzubauen, von vornherein keine ernsthafte Chance auf Realisierung.93 Die Tradition der deutschen Sozialversicherung und ihre scharfe Abgrenzung von Fürsorge und Versorgung erklären einiges, bei weitem aber nicht alles. Vor allem vermag das in ihnen angelegte Kontinuitätsargument gerade nicht, einen wesentlichen Bruch in der Konstruktion der deutschen Alterssicherung zu plausibilisieren. Er tritt zutage, wenn man – ohne zu sehr in die technischen Einzelheiten einzutauchen – die Berechnung der individuellen Altersrenten vor und nach der Rentenreform miteinander vergleicht. Bislang hatte sich die Rente in der gesetzlichen Rentenversicherung aus einem einkommensunabhängigen Grundbetrag, der in der Arbeiter- bzw. Invalidenversicherung geringer war als in der Angestelltenversicherung, und einem von Lohnhöhe und Beitragsdauer abhängigen Steigerungsbetrag zusammengesetzt. Die nivellierende Wirkung des Grundbetrages hatte sich durch einen Teil der Rentenerhöhungen nach dem Zweiten Weltkrieg, namentlich durch das Sozialversicherungs-Anpassungs gesetz von 1949, das Teuerungszulagengesetz von 1951 und das GrundbetragsErhöhungsgesetz von 1952, noch verstärkt, da in diesen Fällen alle Renten um die gleichen Pauschalbeträge aufgestockt worden waren. Auch im Vorfeld der Rentenreform von 1957 fand der Grundbetrag zunächst überzeugte Verteidiger. »Bei Erörterung der verschiedenen Funktionen des Grundbetrages (Mindestrente, sozialer Ausgleich, zusätzliche Leistung des Staates)«, ließ sich etwa die 1954 und 1955 tagende »Soziale Studienkommission beim DGB« vernehmen, wurden »die Vorschläge abgelehnt, die auf eine Beseitigung des Grundbetrages und die Einführung einer reinen Beitragsrente hinauslaufen«.94 Und auch der beim BMA tagende »Arbeitsausschuss für Grundsatzfragen« fasste im Mai 1955 den Beschluss, dass die neue Rentenformel »einen Grundbetrag aus öffentlichen Mitteln enthalten und einen nach Grund und Höhe von Beitragsleistungen abhängigen Steigerungsbeitrag vorsehen« solle.95 In der schließlich von der Bundesregierung vorgelegten und vom Parlament verabschiedeten Rentenformel jedoch tauchte der Grundbetrag nicht mehr auf. Die Höhe der individuellen Versichertenrente hing nun – außer von der für alle 92 93 94 95
Jantz, Soziale Neuordnung, S. 2 (BArch, B 149/116801). Vgl. oben, Kap. II.2; Schewe an BKA , 19.9.1956, BArch, B 149/401. Die Soziale Studienkommission, S. 36; Stellungnahme zur Neuordnung, S. 46. 15. Sitzung des Arbeitsausschusses für Grundsatzfragen, 9./10.5.1955, BArch, B 149/414.
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gleichen allgemeinen Bemessungsgrundlage – von der Versicherungszeit und der durchschnittlichen während des Erwerbslebens erreichten relativen Lohnposition ab, errechnete sich also faktisch ausschließlich in Abhängigkeit vom alten Steigerungsbetrag. Damit hatte sich eine Konzeption durchgesetzt, die sich bis auf das von Jantz in Auftrag gegebene Bogs-Gutachten von 1954 zurückverfolgen lässt, das »eine verstärkte Abhängigkeit von Beitragshöhe und Beitragsdauer einerseits und Rentenhöhe andererseits« anstrebte und dies durch eine »allein aus Steigerungsbeträgen bestehen[de]« Rente ohne Grundbetrag erreichen wollte.96 In die gleiche Kerbe hatte auch Schreiber in seinem Vortrag vor dem Sozialkabinett Ende 1955 geschlagen, wenn er forderte, dass »[d]er Rentenanspruch jedes Versicherten … seinen Beitragsleistungen vollkommen proportional sein« müsse, und er die Rentenversicherung als »unbedingt reform bedürftig« geißelte, da sie in Gestalt des nicht mehr zeitgemäßen Grundbetrags »noch auf dem Gedanken einer Neuverteilung der Einkommen zugunsten der Einkommensschwachen und zulasten der Einkommensstarken« beruhte.97 Innerhalb der Regierung waren es dann insbesondere Jantz und Adenauer selbst, die sich für eine die »Arbeitsleistung des Lebens« möglichst rein abbildende »Leistungsrente« und gegen Elemente eines sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung einsetzten.98 Am Ende des politischen Entscheidungsprozesses stand mithin eine neue Rentenformel, welche die Rentenungleichheitsspanne deutlich erhöhte. Forcierte soziale Ungleichheit im Alter trat an die Stelle der zuvor weitverbreiteten »Altersnot«. Die Renten derjenigen, die früher überdurchschnittlich gut verdient hatten, erlebten eine zum Teil dramatische Steigerung: abhängig von den individuellen Steigerungsbeiträgen, dem Rentenbeginn und dem Geburtsjahr beispielsweise von 158 auf 349 DM, von 118 auf 295 DM oder von 167 auf 373 DM, wie die Zeitungen berichteten.99 Diejenigen dagegen, die schon im Erwerbs leben nur einen geringen Verdienst erreicht hatten, und zumal die Frauen, hätten sich ohne die geplante Besitzstandsklausel nach der neuen Rentenformel sogar auf Abschläge bei ihren Kleinstrenten einstellen müssen. In einem Gutachten für das Bundesfinanzministerium errechnete der Versicherungs mathematiker Georg Heubeck 1956, dass nach dem Regierungsentwurf »in der 96 Bogs, Grundfragen, S. 116. 97 6. Sitzung des Ministerausschusses für die Sozialreform, 13.12.1955, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozialreform, S. 128 f. 98 Zitat: Jantz, Die Beschlüsse, S. 217. Vgl. die Marginalie Adenauers »Ich habe Bedenken« zu der Frage, ob »innerhalb der Rente ein gewisser sozialer Ausgleich geschaffen werden sollte«, Kanzlervorlage, 27.12.1955, BArch, B 136/1359; sowie 7. Sitzung des Ministerausschusses für die Sozialreform, 18.1.1956, in: Kabinettsprotokolle, Ministerausschuß für die Sozialreform, S. 146. Zum Vorangehenden vgl. insgesamt Hensen, Verfahrenstechnik; Köhler, Entwicklungslinien, S. 85 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 3, S. 411 ff. 99 Die große Freude des 70jährigen, in: Essener Stadtnachrichten, 6.6.1956.
96 Gerechtigkeit im Wiederaufbau Invalidenversicherung 8 v. H. der Männerrenten, 63 v. H. der Frauenrenten und 10 v. H. der Witwenrenten, sowie in der Angestelltenversicherung 20 v. H. der Männerrenten, 50 v.H. der Frauenrenten und 10 v. H. der Witwenrenten« und damit ein Gutteil der Niedrigstrenten um keinen Pfenning steigen würden.100 Der »sozialpolitische Effekt« der geplanten Rentenreform, resümierte »Der Spiegel«, sei »in vielen Fällen gleich Null«, da Heubeck gezeigt habe, »dass 1,4 Millionen Rentner überhaupt keinen Nutzen von der Reform [hätten] und nur durch die sogenannte Besitzstandsklausel des Reform-Entwurfs vor einer Verschlechterung bewahrt bleiben würden«.101 Buchstäblich erst in letzter Minute – das Rentenversicherungsgesetz war im Bundestag bereits in erster Lesung beraten worden – drängte der von diesen Berichten und ihrer potentiell höchst unpopulären Wirkung alarmierte Adenauer darauf, dass auch die kleinen Renten wenigstens um einen Mindestbetrag erhöht werden sollten.102 Auch nach dieser schließlich gesetzlich fixierten »Notlösung« einer Mindeststeigerung von 21 DM bei Normal- und 14 DM bei Hinterbliebenenrenten galt jedoch, wie »Die Zeit« feststellte: »Die neue Rentenformel hebt die Renten umso wirkungsvoller an, je höher sie ohnehin bereits sind. Der Höchstverdienende schneidet bei dieser ›sozialen‹ Reform am besten ab.«103 Dass das von den Befürwortern der neuen Ordnung der Rentenungleichheit zu ihrer Verteidigung immer wieder angeführte Argument der »Beitrags gerechtigkeit« letztlich auf einer Fiktion beruhte und daher zu ihrer Legitimation im Grunde wenig geeignet war, ist nicht nur von den grundlegenden zeitgenössischen Kritikern der Rentenreform hervorgehoben worden.104 Auch Wilfrid Schreiber und damit einer ihrer wichtigsten geistigen Väter selbst diagnostizierte ein paar Jahre später nüchtern, dass die »des Öfteren mit Stolz« vertretene Behauptung, dass »das heutige Rentensystem … vollauf das Äquivalenzprinzip« respektiere, allenfalls für Versicherte zutreffe, »die erst 1957 oder später« in die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) eingetreten wären und damit erst Jahrzehnte später zu Rentenempfängern würden. »Alle älteren Mitglieder der GRV« würden »so behandelt, als ob sie lebenslang 14 % ihre Bruttolohnes als GRV-Beiträge eingezahlt hätten, was natürlich nicht entfernt zutr[äfe]«, da sich der Beitragssatz seit Bestehen der Rentenversicherung »nur langsam von ursprünglich 2 ½ auf 14 % erhöht« habe. »Man könnte also sagen«, fasste Schreiber zusammen: »der Gesetzgeber von 1957 hat allen GRV-Versicherten, die schon 1956 versichert waren, Ansprüche zuerkannt, Rente nachgeworfen, die nicht entfernt durch frühere Beitragsleistungen begründet waren.« Echte 100 »Beitragsgerecht« mit Löchern und Fußangeln, in: Die Zeit, 15.8.1957. 101 Dynamik oder Dynamit?, in: Der Spiegel, 31.10.1956, S. 16. 102 Vgl. 157. Kabinettssitzung am 17.10.1956, Kabinettsprotokolle 1956, S. 645 ff. 103 Die neue Rentenformel ist eine Fehlkonstruktion, in: Die Zeit, 20.12.1956. 104 Vgl. etwa ebd., sowie »Beitragsgerecht« mit Löchern und Fußangeln, in: Die Zeit, 15.8.1957.
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Beitragsgerechtigkeit zu gewährleisten, so der Volkswirtschaftler weiter, hätte bedeutet, nicht – wie in der Rentenformel geschehen – »die Bruttoeinkommen, sondern die tatsächlich gezahlten Beiträge zugrunde« zu legen. Das jedoch hätte dazu geführt, dass es »1957 kein einheitliches Rentenniveau gegeben« hätte, sondern »die Renten der älteren Versicherten … unter sonst gleichen Umständen niedriger ausgefallen [wären] als die der jüngeren.«105 Wenn das Argument der Beitragsgerechtigkeit eine auch für die Zeitgenossen leicht zu entlarvende Chimäre darstellte – was war dann das zentrale Motiv, das die politischen Akteure – und die Unterschiede zwischen CDU und SPD waren hier, wie erläutert, eher gradueller Natur – dazu trieb, ein Alterssicherungssystem zu etablieren, das ein bislang unbekanntes Ausmaß sozialstaatlich produzierter sozialer Ungleichheit im Alter schuf? Diese Frage stellt sich umso nachdrücklicher, wenn man die Bundesrepublik mit Großbritannien kontrastiert, wo das Gleichheitspostulat in der Alterssicherung fest verankert war und jeder Versuch, daran zu rütteln, auf massive Widerstände traf. Die tentative Antwort lautet, dass es den Verantwortlichen weniger darum ging, gezielte Armutspolitik zu betreiben – die seit der L-Erhebung besser bekannte tatsächliche soziale Situation der Alten spielte in der Rentendebatte nur eine Nebenrolle –, als darum, ein normativ fundiertes gesellschaftliches Ordnungskonzept in die Realität umzusetzen. Das war es, was Kurt Jantz meinte, wenn er konstatierte, dass sich »alle Bemühungen um eine Sozialreform … als die Bemühungen um die beste Gesellschaftsordnung« verstehen ließen.106 Und das war es, was die zeitgenössischen Kritiker der Rentenreform wie die FAZ -Leitartiklerin Heddy Neumeister im Sinn hatten, wenn sie monierten, dass weder SPD noch CDU in erster Linie darauf abzielten, »Notlagen zu beseitigen«, sondern darauf, »ein neues – angeblich gerechteres – System einzuführen«.107 Der Ordnungsentwurf der Rentenreformer hatte eine vorwärts- und ein rückwärtsgerichtete Dimension. Nach vorne gewandt, ging es um die institutionelle Umsetzung eines Rentensystems, das den im Erwerbsleben erreichten und mit großer Selbstverständlichkeit als das Resultat eigener Arbeitsleistung interpretierten sozialen Status möglichst rein und unverfälscht in die Phase des Ruhestands überführte und perpetuierte. »Die Leistungsrente«, hieß es in großer Offenheit, solle bewirken, »dass der Fleißige eine hohe Rente, der andere eine entsprechend niedrigere Rente erhält«.108 Eine wichtige Referenzgruppe waren 105 Wilfrid Schreiber, Ergänzung und Straffung des Gefüges der sozialen Leistungen als permanente Aufgabe. Vortrag vor der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V., 17.10.1966, BArch, B 136/9024. 106 Jantz, Soziale Neuordnung, S. 1. 107 Vortrag Heddy Neumeisters im Westdeutschen Rundfunk, zustimmend zitiert von: »Beitragsgerecht« mit Löchern und Fußangeln, in: Die Zeit, 15.8.1957. Vgl. auch Heddy Neumeister, Die Kleinsten beißen die Hunde, in: FAZ , 13.9.1956. 108 Schewe an BKA , 19.9.1956, BArch, B 149/401.
98 Gerechtigkeit im Wiederaufbau für die Verfechter dieses Leistungsprinzips stets die Beamten gewesen, die mit einer Pension in Höhe von 75 % ihres letzten Gehalts und damit sauber stratifiziert in den Ruhestand entlassen wurden.109 Doch erwies sich die beamtenrechtliche Regelung schnell als für die allgemeine Rentenversicherung ungeeignet, da sich das Beamtengehalt i. d. R. kontinuierlich im Lebensverlauf steigerte, während die anderen Erwerbseinkommen zumeist stärkeren Schwankungen unterworfen waren und sie ihren Zenit häufig viel früher erreichten. Die das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit konsequent weiterführende Lösung bestand dann darin, das gesamte Arbeitsleben in die Rentenberechnung einzubeziehen und die durchschnittliche Lohnposition des einzelnen Arbeitnehmers zu ermitteln. »So wie Lohn und Gehalt die Gegenleistung für Arbeit« darstellten, so sollte auf diese Weise »die Arbeit [des] ganzen Lebens in der Rente ihre Anerkennung finden«.110 Vollständig verständlich werden das geradezu obsessive Streben nach der »gerechten Rentenformel« und die Bereitschaft, ein System wohlfahrtsstaatlich hergestellter sozialer Ungleichheit im Alter nicht nur für zukünftige Generationen, sondern ex post zu implementieren, jedoch erst, wenn man beides vor dem historischen Hintergrund der Erosion überkommener sozialer Hierarchien durch zwei Weltkriege und zwei Inflationen sieht. Die Kriege mit ihren Zerstörungen und Sachwertverlusten, vielleicht mehr aber noch die Hyperinflation von 1923 und die Währungsreform von 1948 hatten zu tiefgreifenden Besitzumschichtungen, vor allem aber auch zur Entwertung gewaltiger Vermögen in Form von Sparguthaben und Wertpapieren geführt und so – das war mit Blick auf ihre unmittelbare Vergangenheit jedenfalls der Eindruck der Zeitgenossen – »das Eigentum (= Vermögen) als schichtenbildendes und -sicherndes Element entwertet«.111 In besonderer Weise wirkte sich das auf die soziale Lage der Altersrentner und -rentnerinnen aus, da sie über kein Erwerbseinkommen mehr verfügten und angesichts der zwar gestaffelten, aber insgesamt niedrigen gesetzlichen Renten ganz auf Sparrücklagen angewiesen waren, wenn sie ihr bisheriges Lebensniveau auch nur einigermaßen halten wollten. Dass die »Vorsorge des Einzelnen, des Privaten, weithin zunichte gemacht« worden war,112 musste hier wiederum mehr als überall sonst von den bürgerlichen Schichten
109 Vgl. etwa Deutscher Rentnerbund, Bundesgruppen Wiesbaden u. Mainz an BKA u. a., 10.10.1956, BArch, B 149/397; Freie Soziale Union an BMA , 23.3.1956, BArch, B 149/398; Verband der Sozialrentner, Landesverband Rheinland-Pfalz, 24.2.1956, BArch, B 149/398; 19. Sitzung des Arbeitsausschusses für Fragen der Rentenversicherung am 13.10.1955, BArch, B 149/423; Verband höherer Angestellter des öffentlichen Dienstes e. V. an den BT, 29.10.1957, BArch, B 149/399. 110 GSD, Bd. 3, CD -ROM , Dokument 3/186. 111 Gedanken zur Neuordnung der sozialen Rentenversicherung, April 1955, B 149/7007. 112 Stingl (CDU), BT 2/45, S. 2198 (24.9.1954).
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als manifeste Bedrohung des im Erwerbsleben erreichten sozialen Status empfunden werden. Angesichts dessen muss die Rentenreform von 1957 wesentlich auch als der Versuch verstanden werden, die soziale Hierarchie im Alter wiederherzustellen, die in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Unordnung geraten war. Das wird insbesondere auch vor der Folie der Entwicklung der Alterssicherung in Großbritannien deutlich, wo die Erfahrung einer doppelten Entwertung der Eigenvorsorge für das Alter fehlte. In Deutschland hingegen, da schien man sich im politischen Spektrum von links bis rechts weithin einig zu sein, oblag es nun dem Staat, unter den Alten eine den Ungleichheiten des Erwerbslebens Rechnung tragende und damit »gerechte« Ordnung zu rekonstruieren – das entsprach auch ganz der oben herauspräparierten zeitgenössischen Wahrnehmung, welche die soziale Lage der Alten ohnehin primär als das Ergebnis defizitärer sozialstaatlicher Leistungen begriff. »Wir versuchen«, formulierte Bundesarbeitsminister Storch das die Regierung auf dem Gebiet der Alterssicherung leitende Ziel bereits 1954 vor dem Bundestag, »die Dinge, die uns zwei Weltkriege und die beiden Geldentwertungen oktroyiert haben, in eine gerechtere Ordnung zu bringen«.113 Nicht zufällig gewann dabei das von den Beteiligten als grundlegende Innovation gefeierte »als-ob-Prinzip« eine zentrale Bedeutung,114 das Altrentner und ältere Beitragszahler sowie seit dem Fremdrenten- und Auslandsrentenneuregelungsgesetz von 1960 auch Vertriebene und Flüchtlinge so stellte, als ob sie ihr Arbeitsleben lang Beiträge zur Renten versicherung zu den aktuellen Sätzen entrichtet hätten. Die Schaffung einer Ordnung sozialer Ungleichheit, in der jeder Alte den Platz einnehmen sollte, den er im Erwerbsleben erreicht hatte, und die die Folgen von Kriegen und Inflationen weitestmöglich ungeschehen machen sollte – das war es, worum es bei der Großen Rentenreform von 1957 um mehr als alles andere ging.
4. Die Norm der Gleichheit zwischen den Generationen Mit dem Prinzip prononcierter sozialer Ungleichheit innerhalb der Alten population verband die Rentenreform von 1957 eine starke Norm der Gleichheit zwischen den Altersgruppen. Erst beides zusammen machte für ihre Verfechter ein »gerechtes« Alterssicherungssystem aus. Erklärtes Ziel war es, »das Auseinanderfallen von Verdienenden und Nicht-Erwerbstätigen zu beseitigen und für die Zukunft zu verhindern«.115 Der Rentner sollte, wie Kurt Jantz in 113 Storch (CDU), BT 2/45, S. 2209 (24.9.1954). 114 Vgl. Josef Stingl, in: Repgen (Hg.), Dynamische Rente, S. 48 f.; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 4, S. 318 ff. 115 »Auf neuen Wegen zur sozialen Sicherheit« von Bundesminister Anton Storch, Aufsatz für die Sozialpolitischen Mitteilungen Nr. 1 (1957), o. D., BArch, B 149/393.
100 Gerechtigkeit im Wiederaufbau vielen Variationen immer wieder zum Ausdruck brachte, »psychologisch nicht mehr dem Fürsorgeempfänger vergleichbar sein, sondern in die Nachbarschaft des Lohnempfängers gerückt werden«.116 Das geschah durch die bereits oben (Kap. II.2) geschilderte »Dynamisierung« der Rente, die im Grunde eine doppelte Operation darstellte: Zum einen wurden bei der Erstberechnung der Rente die früheren Beitragsleistungen des Versicherten auf das aktuelle Lohn- und Beitragsniveau hochgerechnet, so dass ein über sein gesamtes Arbeitsleben hinweg stets durchschnittlich verdienender Versicherter nach 40 Versicherungsjahren eine Rente in Höhe von ca. 60 % des aktuellen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts erhielt.117 Zum anderen wurde die Rente auch während der Rentenlaufzeit jährlich »halbautomatisch«, d. h. durch einen jedes Jahr erneut anzustoßenden Gesetzgebungsprozess, mit einem gewissen time lag an die Entwicklung der Löhne und Gehälter angepasst. Die Dynamisierung der Rentenleistungen ist zu Recht schon von den Zeitgenossen als ein »Markstein in der sozialpolitischen Entwicklung« gewürdigt worden.118 Tatsächlich stellte die explizite und feste Kopplung der Altersrenten an die Lohnentwicklung, die von beiden großen Parteien – ungeachtet zahlreicher Differenzen im einzelnen – konsensual getragen wurde, einen grundlegenden Bruch nicht nur in der deutschen, sondern in der Alterssicherungspolitik allgemein dar. Aus normativer Perspektive ging es um nicht weniger als »um einen neuen Wertmaßstab für die Einordnung nicht mehr erwerbsfähiger Menschen in das soziale Ganze, um eine neue Norm für die Verteilung des Sozialprodukts zwischen den Generationen«.119 Handlungsleitend war dabei das Prinzip, dass »Arbeitnehmer … und Rentner, Produzierende und … aus dem Produktionsprozess Ausgeschiedene … von gleicher sozialer Qualität« waren: »Der Aktive hat keinen gesellschaftlichen höheren Rang als der berechtigterweise Ina ktive«.120 Zwar war der Gedanke einer automatischen oder semi-automatischen Anpassung der Renten an das aktuelle Lohnniveau kein Alleinstellungsmerkmal der bundesdeutschen Rentenreformdebatte, sondern fand sich auch in anderen europäischen Ländern diskutiert und umgesetzt. Darauf wiesen einzelne Experten immer wieder hin, und die Entwicklungen im Ausland 116 Zit. nach: Zum derzeitigen Stand der Reform der Rentenversicherung, Referat des DAG Landesverbandsleiters Max Ehrhardt, 12.5.1956, S. 8 f., BArch, B 149/397. Vgl. Der Rentner Nachbar des Lohnempfängers, in: FAZ , 11.4.1956. 117 Das entsprach 60 % der der Lohnentwicklung mit einer Zeitverzögerung folgenden »allgemeinen Beitragsbemessungsgrundlage« und galt für die späten 1950er Jahre. Von 1960 bis 1966 sackte dann die Relation von Eck-Zugangsrenten zu durchnittlichem Nettoarbeitsentgelt aufgrund hoher Lohnsteigerungsraten vorübergehend unter die 60 %-Marke. Vgl. Schmähl, Rentenniveau, S. 40. 118 Neues Rentenversicherungsgesetz in Westdeutschland, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.1.1957. 119 Durchbruch einer Konzeption, S. 25. 120 Jantz, Rentendynamik, S. 114.
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wurden von den deutschen Politikern und Ministerialbürokraten aufmerksam verfolgt.121 Doch waren auch jene europäischen Länder, in denen in den 1950er Jahren eine Indexbindung der Renten existierte, insofern weit von dem Standard, den die »dynamischen Rente« in der Bundesrepublik setzte, entfernt, als sie entweder – wie in den Niederlanden oder Frankreich – ein deutlich niedrigeres Rentenniveau aufwiesen oder – wie in Schweden oder Luxemburg – die Renten nicht an die Lohnentwicklung, sondern nur an einen Lebenshaltungsindex koppelten. In der Tat bedeutete die Einführung der »dynamischen Rente« – und das ist auch im Ausland so wahrgenommen worden – daher einen »spektakuläre[n] Schritt in sozialpolitisches Neuland«.122 Wie lässt sich diese fundamentale Neuorientierung im Verhältnis zwischen Alt und Jung, zwischen den im Arbeitsleben Stehenden und den aus dem Produktionsprozess Ausgeschiedenen erklären? Was waren die politischen Motive für die sozialstaatliche Etablierung der neuen intergenerationellen Gleichheitsnorm? Auch hier trifft man im Kern auf Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Zunächst einmal ging es um die Leitidee einer Teilhabe der Alten am wachsenden Sozialprodukt und damit um partizipatorische Gerechtigkeit. Das war ein Gedanke, dem bereits Adenauer 1953 in seiner Regierungserklärung Ausdruck verlieh, als er feststellte, dass am »wirtschaftlichen Aufstieg in der Bundesrepublik« bislang »nicht alle Bevölkerungskreise gleichmäßig teilgenommen« hätten und es »bisher in erster Linie die im Arbeitsprozess Tätigen« gewesen seien, »die sichtbaren Nutzen aus den Erfolgen der sozialen Marktwirtschaft zogen«, um dann zu betonen, dass es »das besondere Anliegen der Bundesregierung« sein müsse, dies zu ändern und »die wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden, Waisen und Hinterbliebenen« zu verbessern.123 In der Sozialreformdebatte seither war die Teilhabesemantik omnipräsent. In einer für das Sozialkabinett bestimmten Vorlage des Generalsekretariats beispielsweise findet sich ausgeführt, dass »[v]on der Neuordnung der sozialen Sicherung … verlangt« werde, dass sie auch die Altersrentner und anderen Empfänger sozialstaatlicher Leistungen »an dem Wachsen des Sozialprodukts beteilig[e]«.124 In der gleichen Weise konnte Arbeitsminister Storch vor dem Bundestag 1956 als das Ergebnis einer »die breite Öffentlichkeit bewegenden Diskussion« den weithin akzeptier121 Vgl. nur Dobbernack, Maßnahmen zur Kaufkraftsicherung; Liefmann-Keil, Wirtschaftliches Wachstum; Niemann, Alterssicherung; Auerbach, Durchbruch; 4. Sitzung des Arbeitsausschusses für Fragen der Rentenversicherung, 21.7.1954, S. 8 ff., BArch, B 149/422, sowie die »Aufstellung über die Berücksichtigung von Geldwertschwankungen in der Sozialversicherung«, ebd. 122 Neues Rentenversicherungsgesetz in Westdeutschland, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.1.1957. 123 BT 2/3, S. 13 (20.10.1953). 124 Gesellschaftliche Tatbestände und ihre Bedeutung für die Sozialreform, 28.9.1955, S. 8, BArch, B 149/392.
102 Gerechtigkeit im Wiederaufbau ten Grundsatz festhalten, dass »auch die Rentner an der Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes teilhaben sollen«.125 Und im Informationsblatt eines lokalen CDU-Sozialausschusses stand unter den Zielen der Rentenreform an erster Stelle: »Alle Menschen, insbesondere auch die Rentner, sollen an der steigenden Entwicklung des Sozialprodukts Anteil haben«.126 Den Hintergrund für diese allgemein geteilte Forderung nach Teilhabegerechtigkeit bildete die Wahrnehmung der Alten als eine potentiell gesellschaftlich und politisch gefährliche Großgruppe. Die Angst, »dass ein Zurückbleiben der Sozialleistungsempfänger auf einem zu niedrigen Lebensniveau zu sozialen Spannungen führen« könne, durchzieht die regierungsinternen Diskussionen; besonders gelte das »für die Leistungen an alte Personen«.127 Gefährlich waren die Alten aber nicht nur aufgrund der unter ihnen weit verbreiteten materiellen Mangellage. Gefährlich erschienen sie auch deshalb, weil ihnen nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben die Funktion und der feste Platz in der bundesdeutschen Arbeitsgesellschaft fehlte, weil sie mangels ausreichender Einbindung in das neue Gemeinwesen als zu pazifizierendes Unruhepotential galten. »Eine soziale Befriedung der nicht unbeachtlichen Bevölkerungsgruppe der Rentner kann nur erreicht werden«, heißt es etwa in einer Vorlage des Inter ministeriellen Ausschusses für die Sozialreform, »wenn sich das Verhältnis der Durchschnittsrenten zu den heutigen Durchnittslöhnen entscheidend verbessert«. Und weiter: »Die Anpassung der Renten und Gehälter der Gegenwart ist Voraussetzung für die Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft durch die aus dem Produktionsprozess ausgeschiedenen Personen«.128 Gesellschaftliche Integration der aufgrund ihrer Außenstellung als Bedrohung für die Akzeptanz der neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung wahrgenommenen Alten durch sozialstaatlich vermittelte Teilhabe am ökonomischen Wachstum – darauf lief es hinaus. Mit diesem Integrationsziel eng verbunden war das zweite zentrale politische Motiv bei der Durchsetzung der »dynamischen Rente«. Die Altersrentner – und wie üblich dachte man hier ganz vom männlichen Vollerwerbstätigen aus – sollten nämlich nicht als homogene und unstratifizierte Masse in die Gesellschaft integriert werden, sondern an jenem Platz in der sozialen Hierarchie, der ihnen aufgrund ihrer im Berufsleben erreichten Stellung zukam. Doch wäre die im vorangehenden Kapitel geschilderte Schaffung der so sorgsam erdachten und am Prinzip der »Leistungsgerechtigkeit« orientierten Ordnung der Ungleich125 BT 2/143, S. 7571 (4.5.1956). 126 Höhere Renten – Soziale Sicherheit, Sozialausschuß der CDU Kreispartei Essen, o. D. (Juni/Juli 1956), BArch, B 149/395. Vgl. auch Stellungnahme zur Neuordnung, S. 47. 127 Gesellschaftliche Tatbestände und ihre Bedeutung für die Sozialreform, 28.9.1955, S. 8, BArch, B 149/392. 128 Die Gestaltung der Alterssicherung für die in der sozialen Rentenversicherung pflichtversicherten Personen, 2.12.1955, S. 9, BArch, B 149/392.
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heit im Rentenalter umsonst gewesen, wenn man sie nicht gleichzeitig mit einer Kopplung an die Entwicklung der Löhne versehen hätte. Innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit wären die Löhne und Gehälter der im Arbeitsprozess Stehenden abermals davongaloppiert, so dass die Altersrentner erneut gegenüber den Berufstätigen in ihren Konsummöglichkeiten abgerutscht wären, Neurentner wiederum stets besser gestellt gewesen wären als Altrentner und sich die gerade prononcierte Ungleichheitsspanne im Alter in Relation zur gesamtgesellschaftlichen Einkommensspreizung wieder vermindert hätte. Insofern stellte die Dynamisierung der Renten das notwendige Korrelat einer Alterssicherungspolitik mit dem Ziel des Statuserhalts dar, konnte die dauerhafte Stabilisierung der gerade realisierten Ordnung sozialer Ungleichheit nur gelingen, wenn die verschiedenen Altersgruppen in gleicher Weise an der wirtschaftlichen Entwicklung partizipierten. In paradigmatischer Weise drückte das Dieter Schewe, einer der jungen Beamten im Generalsekretariat und Mitarchitekt der neuen Rentenformel, aus: »Die Rente soll die im Laufe des Lebens erbrachte Arbeitsleistung … in gerechter Weise widerspiegeln. Ein solches gerechtes Verhältnis der Rente zu den Einkommen der übrigen Bevölkerung setzt voraus, dass die Rente sich im Einklang mit den Wandlungen der wirtschaftlichen Größen verändert«.129 Noch deutlicher wurde einmal mehr der Arbeitsminister, wenn er – wieder ganz auf den male breadwinner bezogen – vor dem Bundestag ausführte, es sei das erklärte Ziel der Rentenreform sicherzustellen, »dass jeder Rentenbezieher am Aufstieg seines Standes oder seines Berufes teilnimmt und zwar nach Maßgabe seiner individuellen Position im Sozialgefüge, die er sich und den seinen während der Dauer seines Arbeitslebens erarbeitet hat«. »Die Sicherstellung des einmal erworbenen Lebensstandards« sei kein »Akt der Barmherzigkeit«, sondern – abermals die dominante Semantik bemühend – ein »Akt der Gerechtigkeit« und »der Ausdruck einer von den Umständen begründeten Solidarität zwischen den Generationen«. Auf diese Weise war nicht nur der »Riss, der sich in unserer Gesellschaft zwischen den Verdienenden und den nicht mehr Verdienenden abzuzeichnen droht, zum Verschwinden zu bringen«, sondern auch den Prinzipien sozialer Stratifizierung, an denen sich die Rentenreform orientierte, überzeitliche Geltung zu verschaffen.130 Die Realisierung der mit der Rentenreform verbundenen Zielvorstellungen und damit auch die Umsetzung der intergenerationellen Gleichheitsnorm lassen sich angemessen freilich nur dann nachvollziehen, wenn man außer der politischen Motivationslage auch die notwendigen Rahmenbedingungen für 129 Die Rentenformel der halbautomatischen Punkt-mal-Zeitrente, Bonn, [Sommer 1955], GSD, Bd. 3, CD -ROM , Dokument 3/154. 130 Zitate: BT 2/154, S. 8336 f. (27.6.1956). Vgl. auch den Auszug aus einer Rede Adenauers auf einer Kundgebung der CDU Baden-Württemberg in Stuttgart zur Landtagswahl am 3.2.1956, BArch, B 149/392, wonach »die Rentenempfänger an dem Aufstieg des Standes teilnehmen [sollten], aus dem sie stammen«.
104 Gerechtigkeit im Wiederaufbau den Bruch in der Alterssicherungspolitik berücksichtigt, von denen hier die zwei wichtigsten hervorgehoben werden sollen. Die erste conditio sine qua non der Rentenreform von 1957 – das mag trivial erscheinen, kann aber gerade im Kontrast zur Neuordnung der britischen Alterssicherung in den 1940er Jahren gar nicht genug betont werden – war die vorzügliche wirtschaftliche Ausgangsposition, in der sich die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre befand. Eine Rentenreform, die allein in ihrem ersten Geltungsjahr die Ausgaben der Rentenversicherung um 76 % von 7,4 Mrd. auf 13 Mrd. DM steigerte, war überhaupt nur denk- und finanzierbar vor dem Hintergrund einer ökonomischen Entwicklung, die im Zeitraum von 1950 bis 1957 durch eine jahresdurchschnittliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 8,6 % sowie durch ein Absacken der Arbeitslosenquote von 11 auf 3,7 % gekennzeichnet war.131 Tatsächlich ist ein größerer Unterschied an wirtschaftlichem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont als jener zwischen der Bundesrepublik in den Blütejahren ihres »Wirtschaftswunders« und dem unter den Kriegslasten ächzenden Großbritannien zur Zeit der Entstehung und Umsetzung des Beveridge-Plans in den 1940er Jahren nur schwer vorstellbar. Getragen vom Wachstumsboom der Vorjahre standen die Staatsfinanzen der jungen Bundesrepublik Mitte der 1950er Jahre glänzend da; die Gesetzliche Rentenversicherung verzeichnete 1955, nimmt man den Arbeiter- und Angestelltenzweig zusammen, einen Einnahmeüberschuss von über 3 Mrd. DM.132 Auf der einen Seite leistete das innerhalb der Parteien, Gewerkschaften und Verbände Forderungen Vorschub, nun endlich auch die bisher zu kurz gekommenen Altersrentner am neu gewonnenen Wohlstand teilhaben zu lassen. Die Alten müssten mit ansehen, so eine in vielen Variationen geäußerte Kritik, »dass das deutsche Wirtschaftswunder sich nur auf eine Seite schlägt, dass … die Millionäre im Bundesland wie die Krokusse im Frühling blühen«, während die Durchschnittsrenten zur gleichen Zeit nur 30 % (Arbeiter) bzw. 36 % (Angestellten) der durchschnittlichen Nettoeinkommen erreichten; dieses Ungleichgewicht sei dringend zu beseitigen und den Rentnern die »volle Beteiligung an dem Sozialprodukt« zuzugestehen, »für das sie in jahrzehntelanger Tätigkeit die Voraussetzungen miterarbeitet« hätten.133 Auf der anderen Seite versetzte die exzellente Verfassung der Wirtschaft, des Staatshaushalts und der Rentenkassen die Regierung gleichzeitig aber auch in die Lage, das Rentenproblem – wie 131 Zahlen: Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, S. 418; Bontrup, Volkswirtschaftslehre, S. 595; Schulz, Rahmenbedingungen, in: GSD, Bd. 3, S. 41. 132 Rehfeld, 100 Jahre Rentenversicherung, S. 1151. 133 Zitate: Frei-Soziale Union an BMA , 23.3.1956, BArch, B 149/398; Entwurf des DGB -Landesbezirks Niedersachsen für ein gewerkschaftliches Aktionsprogramm, 21.6.1954, in: Der Deutsche Gewerkschaftsbund 1949 bis 1956, Dok. 72, S. 587. Zahlen: Die Gestaltung der Alterssicherung für die in der sozialen Rentenversicherung pflichtversicherten Personen, 2.12.1955, S. 9, BArch, B 149/392.
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Adenauer es vor dem Kabinett formulierte – »großzügig« zu lösen. Angesichts der Tatsache, so der Kanzler, dass man gerade Steuerermäßigungen in einer Höhe von 3 Mrd. DM beschlossen habe und »für die Aufrüstung jährlich viele Milliarden« ausgebe, den »Millionen von Rentnern« dagegen bislang »nur Brocken zugeworfen« habe, sei es finanzierbar und »gerecht, wenn man die alten Leute an der Hebung des allgemeinen Lebensstandards teilnehmen lasse«.134 Die zweite unabdingbare Voraussetzung für die massive Erhöhung der Renten und ihre Ankopplung an die Lohnentwicklung war der Wandel der unter Politikern und Sozialstaatsexperten vorherrschenden Auffassung darüber, wie die Alterssicherung zu finanzieren sei. Die Diskussion über die richtige Finanzierungskonzeption war in Deutschland so alt wie die Rentenversicherung selbst.135 Besonders unter Ministerialbürokraten und Experten galt dabei tra ditionell das Anwartschaftsdeckungsverfahren, bei dem aus den inviduellen Beiträgen das Deckungskapital angespart und am Kapitalmarkt angelegt wird, als das weithin unumstrittene Dogma. Als Kapitaldeckungsverfahren war es in etwas entschärfter Form am Ende des 19. Jahrhunderts auch als Finanzierungsmodus der Gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt worden. Das Umlageverfahren, bei dem die eingezahlten Beiträge unmittelbar zur Finanzierung der Rentenleistungen herangezogen und keine Rücklagen gebildet werden, hatte demgegenüber den Geschmack des Unseriösen – semantisch lagerte sich hieran in der Debatte des späten 19. Jahrhunderts der gesamte Gegensatz von bürgerlicher Rationalität und Disziplin versus proletarischem Leichtsinn, von Sparen und Konsumverzicht versus hemmungslosem Konsum an.136 Am Glauben an die prinzipielle Überlegenheit des Anwartschaftsdeckungsverfahrens als Finanzierungsgrundlage der Alterssicherung vermochte eigentümlicherweise noch nicht einmal die Inflation Anfang der 1920er Jahre etwas zu ändern, obwohl in ihr das gesamte Vermögen der Rentenversicherung verloren- und man faktisch zum Umlageverfahren übergegangen war. Stets blieb die Rückkehr zur Kapitaldeckung das angestrebte und schließlich im Zuge der den nationalsozialistischen Machtantritt überdauernden Sanierungspolitik der »konservativen Stabilisierung« (Martin Geyer) auch realisierte Ziel.137 Die Rentenreform von 1957 bedeutete dann jedoch den endgültigen Abschied von der Kapitaldeckung und führte mit dem Abschnittdeckungsverfahren ein modifiziertes Umlageverfahren ein. Als für diese Umorientierung ausgesprochen einflussreicher ideologischer Wegbereiter wird stets auf den Kieler Soziologen und Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth verwiesen, der 1952 in einem vielbeachteten Vortrag vor dem Verein für Socialpolitik die 134 157. Kabinettssitzung am 17.10.1956, Kabinettsprotokolle 1956, S. 643. 135 Vgl. etwa Manow, Kapitaldeckung; ders., Individuelle Zeit; Schmähl, Vermögensansammlung; ders., Vom »geheimräthlichen Wechselbalg«. 136 Vgl. Manow, Individuelle Zeit, S. 196. 137 Vgl. Geyer, Soziale Rechte; ders., Reichsknappschaft.
106 Gerechtigkeit im Wiederaufbau seither immer wieder als zentrale theoretische Grundlegung des Umlageverfahrens zitierte Aussage formulierte: »Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss.«138 Dafür, dass dieser auch als »Mackenroth-These« bezeichneter Satz in der frühen Bundesrepublik rasch zu einem »Axiom der Sozialpolitik«139 avancierte und dem Übergang vom Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren die Weihen der ökonomischen Theorie verleihen konnte, lassen sich vor allem zwei Gründe anführen: Zum einen hatte sich das zum größten Teil in Reichsanleihen angelegte Vermögen der Rentenversicherung im Zweiten Weltkrieg abermals in Luft aufgelöst, war das Kapitaldeckungsverfahren also nun schon zum zweiten Mal in einem Vierteljahrhundert diskreditiert. Zum anderen knüpfte Mackenroth bei der Formulierung seines Theorems dogmenhistorisch an eine den Zeitgenossen vertraute Denktradition an, die er freilich wohlweislich im Dunkeln ließ, da sie in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichte. So hatte etwa Theodor Bühler, wissenschaftlicher Generalreferent im Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront (DAF), bereits 1939/40 und damit über ein Jahrzehnt vor der Mackenroth-These in einer ihr zum Verwechseln ähnlichen Weise ausgeführt, dass »[d]ie Versorgung der alten und arbeitsunfähigen Volksgenossen … volkswirtschaftlich auf eine ganz klare und einfache Formel hinaus[laufe]: Alles, was die Alten und Arbeitsunfähigen verbrauchen, muss aus dem laufenden Produktionsertrag der Schaffenden abgezweigt werden«.140 Die Argumentation des dem Nationalsozialismus selbst nahestehenden Mackenroth fiel daher auf den fruchtbaren Boden eines Expertendiskurses, der bereits durch die im Umkreis der DAF entwickelte positive Begründung des Umlageverfahrens vorbereitet war – das hat ihre schnelle Akzeptanz erleichtert und gilt ungeachtet der tiefen Kluft, welche die in rassenbiologischen und sozialhygienischen Ideen wurzelnden sozialpolitischen Konzepte des NS vom Sozialstaat der Bundesrepublik trennt.141 Erst der Bruch mit dem Kapitaldeckungs- und die Übernahme des Um lageverfahrens machten aber den Weg frei für die hier vorgestellte normative Neuorientierung der deutschen Alterssicherung. Ja, mehr noch: Erst durch die Aufgabe des am Vorbild privater Versicherungen ausgerichteten Kapitalansammlungsmodells mit seinem rechenhaften Zusammenhang nominaler Beiträge und Leistungen wurden Umfang und Verteilung des aus dem »Volkseinkommen der laufenden Periode« für die Alten zu entnehmenden »Sozialaufwandes« überhaupt zu Fragen, die einer Diskussion über Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit zugänglich waren und ihrer bedurften, deren Entschei138 Mackenroth, Reform, S. 41 (Hervorh. i. O.). 139 Rürup, Reform, S. 547. 140 Bühler, Deutsche Sozialwirtschaft, S. 151. Vgl. Schmähl, Über den Satz, S. 161 ff.; Manow, Individuelle Zeit, S. 202 ff.; Hockerts, Der deutsche Sozialstaat, S. 10. 141 Vgl. hierzu nur Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik, S. 98–109.
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dung aber gerade deshalb gleichzeitig auf belastbaren normativen Begründungen beruhen musste. Während die starke intergenerationelle Gleichheitsnorm ihr normatives Fundament durch den »Generationenvertrag« bzw. die »Solidarität zwischen den Generationen« erhielt, stützten der immer wieder angerufene Versicherungsgedanke und das mit ihm assoziierte Prinzip der BeitragsLeistungs-Äquivalenz die ebenfalls ausgeprägte Norm der intragenerationellen Ungleichheit – zu einer Zeit, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, als die deutsche Rentenversicherung weniger einer klassischen Versicherung glich als jemals zuvor in ihrer Geschichte.
III. You’ve never had it so good? Großbritannien von den 1950er bis zu den 1970er Jahren
1.
Die Kontinuität der Altersarmut
Ende 1965, so will es die in einschlägigen Werken vielfach reproduzierte Erzählung, wurde in Großbritannien die Armut »wiederentdeckt«.1 Nur zwei Tage vor dem Weihnachtsfest und mit einer entsprechend großen Öffentlichkeitswirkung legten die Sozialwissenschaftler Brian Abel-Smith und Peter Townsend, beide intellektuell an der London School of Economics beheimatet,2 ihre Untersuchung »The Poor and the Poorest« vor. Fast 18 % der Haushalte bzw. 14,2 % der Menschen, berechneten sie, lebten im Vereinigten Königreich 1960 in Armut. Aber nicht nur das: Die Anzahl der Armen, stellten die beiden Professoren fest, hatte im Verlauf der 1950er Jahre überdies dramatisch zugenommen – von 4 auf 7,5 Mio., unter denen 3 Mio. Alte und 2,25 Mio. Kinder die Hauptbetroffenen waren.3 Anderthalb Jahrzehnte, nachdem Seebohm Rowntree in seiner vielbeachteten Armutsstudie »Poverty and the Welfare State« autoritativ das Ende der Armut ausgerufen und die Wirksamkeit des neugeschaffenen Wohlfahrtsstaats gepriesen hatte (vgl. Kap. I.3), war damit die Armutsfrage ins Zentrum der britischen Innenpolitik zurückgekehrt. Wie lässt sich diese regelrechte Armutsexplosion in einer Phase relativer ökonomischer Prosperität erklären? Die Antwort auf diese Frage verweist mehr als alles andere auf das definitorische Verständnis von Armut sowie das Verfahren ihrer statistischen Berechnung. Zum einen nämlich erweist sich aus der Retrospektive, dass Rowntree das Ausgangsniveau an Armut zu Beginn der 1950er Jahre, auch an seinen eigenen Maßstäben gemessen, infolge einer Reihe von methodischen Fehlern und Ungenauigkeiten deutlich zu gering veranschlagt
1 Siehe nur Lowe, Welfare State, S. 147 f.; ders., Rediscovery; Gazeley, Poverty in Britain, S. 178 ff.; Deacon u. Bradshaw, Reserved for the Poor, S. 61; Banting, Poverty, S. 68–73. Vgl. aber auch Veit-Wilson, National Assistance Board. Die folgenden Seiten sind teilweise identisch mit Torp, »The Ending«, S. 170 ff. 2 Abel-Smith war Professor of Social Administration an der LSE , Peter Townsend von dort 1963 als Professor of Sociology an die University of Essex gewechselt. Beide waren enge Mitarbeiter von Richard Titmuss. 3 Zahlen: Abel-Smith u. Townsend, Poor, S. 57 f., 65.
110 You’ve never had it so good? hatte.4 Zum anderen und noch weit wichtiger lag die enorme Zunahme der Armutspopulation darin begründet, dass Abel-Smith und Townsend Armut neu definierten. Während Rowntree von einer am Existenzminimum orientierten »absoluten« Armutslinie ausgegangen war, legten die beiden Sozialwissenschaftler nun erstmals explizit und konsequent eine »relative« Definition von Armut zugrunde. »Arm« war für sie nun nicht länger nur derjenige, dem die Mittel zur Bestreitung seiner basalen Lebensbedürfnisse (Essen, Wohnung, Kleidung, Heizung) fehlten, sondern jeder, dessen Einkommen sich auf weniger als das 1,4fache des geltenden Sozialhilfesatzes (zzgl. Miete) belief. Da sich die Sätze der staatlichen Fürsorgeleistungen in den 1950er Jahren mehr oder minder im Gleichschritt mit den Löhnen entwickelt hatten,5 war Armut damit – ganz im Sinne des heute in der industrialisierten Welt vorherrschenden Verständnisses – als relative Deprivation im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen definiert. Die neue Fassung des Armutsbegriffs war keineswegs unumstritten, sie hatte sich aber unter den britischen Sozialwissenschaftlern im Laufe der 1950er und 1960er Jahre sukzessive weithin durchgesetzt. »Armut muss in relativer Weise gemessen werden«, hieß es etwa apodiktisch in einem Armutsbericht des British Social Science Research Council von 1968. Zur Erklärung fügte er an: »Menschen sind ›arm‹, weil sie der Chancen, der Annehmlichkeiten und der Selbstachtung beraubt sind, die in der Gesellschaft, zu der sie gehören, als normal erachtet werden. Es ist daher der sich ständig verändernde durchschnittliche Lebensstandard dieser Gesellschaft, der den Ausgangspunkt für die Bemessung ihrer Armut bildet, und die Armen sind jene, die hinreichend weit unter diesem Durchschnittsstandard leben.«6 Zur Verteidigung ihres Ansatzes konnten die Verfechter einer »relativen« Armutsdefinition zusätzlich darauf verweisen, dass auch die »absolute« Armutsgrenze keine fixe, zeit- und gesellschaftsunabhängige Größe darstellte. Vielmehr hatte auch die »klassische« Armutsforschung der sozialen Konstruktion dessen, was als lebensnotwendiger Bedarf angesehen wurde, immer wieder durch die Heraufsetzung des Existenzminimums Rechnung tragen müssen, so dass etwa Rowntrees »absolute« Armutslinie von 1950 in ihrem Realwert jene von 1899 um 75 % übertraf.7 Angesichts dessen lag das Aufsehen, das die Studie von Abel-Smith und Townsend erregte, nicht darin begründet, dass die beiden Autoren grundsätzlich neue empirische Daten vorgelegt hätten – sie werteten mit den Family Expenditure Surveys von 1953/54 und 1960 zwei bereits bekannte Datensätze aus, 4 Vgl. Hatton u. Bailey, Seebohm Rowntree; Atkinson, Maynard u. Trinder, National Assistance; Atkinson u. a., Poverty in York; Gazeley, Poverty in Britain, S. 168–173. 5 Vgl. Abel-Smith u. Townsend, Poor, S. 17–20. 6 Social Science Research Council, Research on Poverty, S. 5. 7 Vgl. zum Vorangehenden Marshall, Changing Ideas; Bull, Rediscovery; Lowe, Welfare State, S. 148 f.; Townsend, Poverty in the United Kingdom, S. 31–39.
Die Kontinuität der Altersarmut 111
die zu anderen Zwecken vom Arbeitsministerium veröffentlicht worden waren.8 Die viele Zeitgenossen schockierende Innovation der Untersuchung bestand vielmehr darin, dass sie explizit die Konsequenzen aus dem veränderten Verständnis von Armut in einer Wachstumsgesellschaft zog, Armut dementsprechend als krasse soziale Benachteiligung, als gesellschaftlich inakzeptable Unterprivilegierung neu konstruierte und vor diesem Hintergrund zu zeigen vermochte, dass die Gruppe der »relativ« Armen in den 1950er Jahren nicht ab-, sondern sogar deutlich zugenommen hatte. Wenn die beiden Sozialwissenschaftler auch selbst methodische Zweifel an der Vergleichbarkeit der Daten für die beiden Stichjahre anmeldeten und einräumten, dass ihre Studie das Ausmaß der Zunahme an Armut überzeichnete, falsifizierten ihre Ergebnisse doch überzeugend zwei leitende Grundannahmen der britischen Nachkriegspolitik: dass die Einführung des Wohlfahrtsstaats die Armut »besiegt« und dass sich die soziale Ungleichheit aufs Ganze gesehen vermindert habe.9 Ungeachtet der Tatsache, dass die genaue Definition von »relativer« Armut ebenso umstritten blieb wie die Frage, ob sie nach dem Weltkrieg wirklich angestiegen war, fand sich die These von der Armutskontinuität im neuen Wohlfahrtsstaat in den Folgejahren durch eine Reihe von Untersuchungen bestätigt. So konstatierten zwar etwa G. C. Fiegehen, P. S. Lansley und A. D. Smith in einer Studie, die sich mit der Entwicklung von 1953 bis 1973 befasste, ein fast vollständiges Verschwinden der »absoluten« Armut. Gleichzeitig verzeichneten sie jedoch die Persistenz eines erheblichen Potentials an »relativer« Deprivation. Das Nettoeinkommen des zehnten Einkommensperzentils der Haushalte, stellten sie fest, hatte sich von 1953/54 bis 1973 sogar von 53 % auf 46,8 % des Medianeinkommens verschlechtert; die ärmsten 10 % der Haushalte, bedeutete das, hatten sogar noch weniger erhalten. Insgesamt kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich der Lebensstandard der Armen in Relation zum Rest der Bevölkerung von Anfang der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre kaum verändert habe; die substantielle Zunahme ihrer Realeinkommen in dieser Zeit müsse daher als das Resultat der Anhebung des allgemeinen Lebensstandards und nicht als das Produkt vermehrter gesellschaftlicher Gleichheit gedeutet werden.10 So sehr die »Wiederentdeckung« der Armut Mitte der 1960er Jahre die politische Öffentlichkeit schockierte, so wenig konnte sie im Grunde jene Experten und Politiker überraschen, die sich mit den Lebensverhältnissen der Alten beschäftigten. Nach einer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs währenden Pause nämlich hatte sich die sozialwissenschaftliche Forschung am Ausgang der 1950er Jahre wieder verstärkt der Untersuchung der materiellen Situation 8 Abel-Smith u. Townsend, Poor, S. 13–15. 9 Vgl. ebd., S. 9. Für die These vom Rückgang sozialer Ungleichheit siehe Cartter, Redistribution of Income; Lydall, Long-Term Trend. 10 Fiegehen, Landsley u. Smith, Poverty, S. 28 f. Vgl. auch Townsend, Poverty in the United Kingdom; Gough u. Stark, Low Incomes.
112 You’ve never had it so good? älterer Menschen zugewandt. Bereits Anfang 1962 legten Dorothy Cole und J. E. G. Utting von der Universität Cambridge einen Zwischenbericht über die Ergebnisse vor, die sie im Rahmen einer von der Nuffield Foundation finanzierten Feldstudie gewonnen hatten.11 Die Grundlage bildeten 400 Interviews, die sie 1959/1960 in unterschiedlichen Regionen Großbritanniens von London über Seaton Valley bis Glasgow geführt hatten. Das Bild, das diese Pionierstudie von der sozialen Lage der Alten zeichnete, fand sich durch weitere Untersuchungen bestätigt – unter ihnen besonders auch eine weit größer angelegte, auf einem repräsentativen Sample beruhende Erhebung von 1962.12 Das Ausmaß an materieller Armut im Alter, das die sozialwissenschaftlichen Studien offenbarten, war nichts weniger als dramatisch. Der Median des wöchentlichen Bruttoeinkommens der über 65jährigen, errechneten Peter Townsend und Dorothy Wedderburn (vormals Cole) auf der Basis von fast 5000 Befragungen, lag 1962 für alleinstehende Frauen bei £ 3 14 s., für alleinstehende Männer bei £ 4 11s. und für Ehepaare bei £ 7 10s. Der Median der Löhne erwachsener männlicher Arbeiter belief sich dagegen – zum Vergleich – auf mehr als £ 15. Selbst wenn man die Steuerabzüge berücksichtigte, übertrafen die Einkommen der Ein- und Zweipersonenhaushalte mit einem Haushaltsvorstand unter 65 Jahren jene vergleichbarer Haushalte mit einem Vorstand von über 65 Jahren im Median noch um mehr als das Doppelte. Einen weiteren Vergleichsmaßstab lieferte der – in Großbritannien ausgesprochen niedrig angesetzte – Fürsorgesatz. Ziemlich genau die Hälfte der alleinstehenden Frauen verfügte über ein Einkommen, das auf der Höhe oder unterhalb des Sozialhilfeniveaus (inkl. Wohngeld) lag. Das Gleiche galt für ein Viertel der alleinstehenden Männer; ein weiteres knappes Viertel von ihnen erreichte ein Einkommen, das den Fürsorgerichtsatz um nicht mehr als 20 % überstieg. Und auch bei den Ehepaaren waren 24 % unterhalb der Sozialhilfeschwelle und weitere 18 % nur leicht oberhalb angesiedelt. Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass Frauen – hierzu unten mehr – unter den über 65jährigen deutlich überrepräsentiert waren, ergibt sich, dass ca. 2,5 Mio. Altenhaushalte bzw. 3,1 Mio. alte Menschen über ein Einkommen von weniger als 120 % des Sozialhilfesatzes verfügten. Mehr als die Hälfte (51,0 %) der Altenhaushalte bzw. 48,2 % der in ihnen lebenden Personen, bedeutete das, lebten unterhalb einer Armutsschwelle, die noch knapper bemessen war, als jene, die später Abel-Smith und Townsend bei ihrer »Wieder entdeckung« der Armut zugrunde legten.13 Aus welchen Quellen speisten sich die Einkommen der Alten? Das zu wissen war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil gerade konservative Politiker immer 11 Cole u. Utting, Economic Circumstances. 12 Vgl. Townsend u. Wedderburn, The Aged. 13 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 86–90. Vgl. Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 47 ff.; Tunstall, Old, S. 199–201.
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wieder behaupteten, die betriebliche und private Altersvorsorge trage wesentlich dazu bei, die materielle Situation breiter Schichten deutlich zu verbessern. Die empirischen Ergebnisse rückten hier die Perspektiven zurecht. Für 7 von 10 alten Menschen bildeten staatliche Transferleistungen die wichtigste einzelne Einkommensquelle. 37 % der Altenhaushalte waren gar ausschließlich auf die staatliche Rente oder andere öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen; weitere 15 % verfügten über ein äußerst geringes nicht-staatliches Zusatzeinkommen von maximal £ 1 wöchentlich.14 80 % der über 65jährigen – das war der Erfolg des neuen Wohlfahrtsstaats – erhielten eine staatliche Rente. Dass ihre Höhe freilich nicht ausreichte, auch nur den dürftigsten Lebensunterhalt zu bestreiten, ließ sich schon daran ablesen, dass selbst ihr Maximalbetrag nach voller Beitragsdauer kontinuierlich nur wenige Shilling über dem Regelsatz der Sozialhilfe lag und von letzterer zuzüglich des üblicherweise gewährten Mietzuschusses regelmäßig übertroffen wurde. 25 % der Alten waren daher in ihrem Lebensvollzug auf die erst nach Bedürftigkeitsprüfung gewährte National Assistance angewiesen. Weitere 12 %, schätzten die Befrager, waren fürsorge berechtigt, machten diesen Anspruch aber nicht geltend. Zum Teil lag das daran, dass die Alten nicht ausreichend über die gesetzlichen Bestimmungen informiert waren. Noch weit wichtiger schien den Interviewern jedoch die negative »Aura, die der Fürsorge anhaftet«, zu sein, welche viele Alte trotz durchaus anerkannter Bemühungen der staatlichen Stellen, den Sozialhilfebezug zu entstigmatisieren, um jeden Preis vermeiden wollten.15 Unter den nicht-staatlichen Einkommen der Alten hatten – wider Erwarten – nicht die Betriebsrenten quantitativ das größte Gewicht. Von den Frauen erhielten ohnehin nur 11 % diese Art von Zusatzversorgung im Alter. Unter den Männern waren Betriebsrenten mit ca. 40 % zwar deutlich weiter verbreitet. Doch waren die Beträge, die den meisten Rentnern ausgezahlt wurden, ausgesprochen gering – für die Hälfte von ihnen war es lediglich ein kärgliches Zubrot von bis zu £ 2 die Woche. Ganz andere Summen konnten dagegen erzielt werden, wenn die Alten auch jenseits der 65 teilweise oder voll berufstätig blieben. Über Einkommen aus Erwerbsarbeit verfügten in diesem Alter immerhin noch 34 % der Ehepaare, 21 % der alleinstehenden Männer, aber nur 10 % der Frauen, für die das Rentenalter bei 60 lag. Bei Vollerwerbstätigkeit – das traf ungefähr auf die Hälfte dieser Gruppe zu – konnte das Wocheneinkommen der Männer leicht zwischen £ 10 und £ 15 liegen. Das war zwar wenig im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen, machte die Erwerbstätigen über 65 aber in ihrer Altersreferenzgruppe materiell zu kleinen Königen. Nicht der Bezug einer betrieblichen oder privaten Altersrente markierte daher die 14 Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 96 f. 15 Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 98. Für die Zahlen ebd., S. 62 f., 98. Vgl. Tunstall, Old, S. 201–204; Richardson, Age, S. 85 f.
114 You’ve never had it so good? wichtigste Scheidelinie zwischen der Mehrheit der Alten, die ein Dasein unter der Armutslinie oder nur knapp darüber fristete, und jenen, die ein vergleichsweise auskömmliches Leben führten, sondern die Fähigkeit und Möglichkeit zur Fortführung der Erwerbstätigkeit im Rentenalter. »Es wäre keine Übertreibung zu sagen«, resümierten die Autoren einer Studie, »dass es unter den über 65jährigen zwei Klassen mit einer erheblich differierenden Einkommenserfahrung gibt – jene, die weiterarbeiten können und dies auch tun, und jene, die nicht weiter erwerbstätig sein können oder es nicht sind. Diese Unterscheidung ist für Frauen, die fast alle in die zweite Kategorie fallen, weniger von Bedeutung, aber sie ist wichtig für Männer und Ehepaare.«16 Am besten standen, das überrascht nicht, jene Alten da, die Einkommen aus mehreren nicht-staatlichen Quellen, also aus Erwerbsarbeit, Betriebsrenten oder Vermögen, akkumulieren konnten: Im obersten Einkommensquartil der über 65jährigen war eine solche Häufung von Einkommenschancen verbreitet, während im untersten Quartil klar die Abhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen dominierte.17 Wenn auch ein Vergleich der britischen Verhältnisse mit der Einkommenssituation der alten Menschen in der Bundesrepublik vor der Rentenreform von 1957 dadurch erschwert wird, dass die L-Erhebung in Deutschland von 1955 andere statistische Kategorien verwendete und insbesondere die Gruppe der alleinstehenden Alten von Beginn an in verschiedene Haushaltsformen (alleinlebend, mit erwachsenem Kind etc.) aufspaltete, lassen sich doch zwei Ähnlichkeiten festhalten: Zum einen war in beiden Ländern die übergroße Mehrheit der Alten in ihrer Existenz ganz überwiegend von den Zahlungen der staatlichen bzw. gesetzlichen Rentenversicherung abhängig und lebte bestenfalls in materiell prekären Verhältnissen. Zum anderen war es in Deutschland ebenso wie im Vereinigten Königreich mehr als alles andere das Einkommen aus Erwerbs arbeit im Alter, das für die alten Menschen den Unterschied zwischen Armut und einer relativ gesicherten Existenz ausmachte.18 Anders als für die Bundesrepublik sind wir für Großbritannien auch über die Vermögenssituation der Alten in den 1950er und 1960er Jahren gut informiert. Stellt man in Rechnung, dass die Vermögen der Älteren zu einem guten Teil auf über den Lebenslauf akkumulierten Einkommensüberschüssen beruhen, verwundert es nicht, dass die Vermögenskonzentration im Alter die Einkommensungleichheit noch übertraf. 29,9 % der Altenhaushalte besaßen 1959/1960 überhaupt kein Vermögen, weitere 30,3 % lediglich Kleinstersparnisse von bis zu £ 250.19 Auf der anderen Seite der Vermögenspyramide jedoch vereinigten 16 17 18 19
Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 99. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. oben, Kap. II.1. Vermögen wird hier exklusive des selbstgenutzten Wohnungs- und Hauseigentums verstanden. Siehe Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 66. Für die Zahlen ebd., S. 67. Vgl. Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 90–94.
Die Kontinuität der Altersarmut 115
jene 11,6 %, die mehr als £ 2500 besaßen, stolze 84 % der Gesamtvermögen. Erwartungsgemäß korrelierten laufende Einkommen und Vermögen der Alten hochgradig positiv: Die übergroße Mehrheit der alten Menschen, die in relativer Einkommensarmut lebten, verfügten nur über geringste oder überhaupt keine Rücklagen. In der privilegierten Gruppe jener, die ein wöchentliches Einkommen von mehr als £ 10 (1959/1960) hatten, waren dagegen lediglich 11 % ohne Ersparnisse, während das durchschnittliche persönliche Vermögen bei über £ 9000 lag. Auch von den befragten Alten selbst wurde diese krasse Ungleichverteilung der Vermögen in erster Linie als Resultat lebenslang hochgradig differenter Verdienstchancen und Ausgabenbelastungen begriffen: »Geringe Löhne und die Kosten, eine Familie aufzuziehen,« waren die Gründe, die am häufigsten dafür genannt wurden, dass man keine Rücklagen für das Alter habe bilden können.20 Zwei sich überschneidende Gruppen waren es, die alle Erhebungen übereinstimmend als materiell extrem unterprivilegiert identifizierten. Ihre Kennzeichen waren, wie ein Bericht pointiert formulierte, »sex and age«.21 Die erste und bei weitem größte Problemgruppe waren – eine weitere Parallele zur frühen Bundesrepublik – die ledigen oder verwitweten alten Frauen. 2,5 Mio. gab es von ihnen Anfang der 1960er Jahre in Großbritannien, was knapp 40 % der Altenpopulation insgesamt entsprach. Etwas weniger als die Hälfte der alleinstehenden Frauen lebten auch allein, die anderen in Gemeinschaft insbesondere mit erwachsenen Kindern oder Geschwistern. Die Einkommenssituation der Ledigen und Witwen war lamentabel: 66 % von ihnen bezogen weniger als den 1,2fachen Satz der Sozialhilfe (inkl. Mietzuschuß); unter den Altenhaushalten, welche am Tropf der staatlichen Fürsorge hingen, waren sie mit 80 % gegenüber alleinstehenden Männern und Ehepaaren deutlich überrepräsentiert. Die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen besaß keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt, keine betrieblichen Renten und keine sonstigen Rücklagen. Kurzum: Es bestand eine »Kluft zwischen der Einkommensposition der Frauen und derjenigen des Rests der Altersgruppe im Rentenalter«.22 Die zweite soziale Problemgruppe waren die Alten unter den Alten. Generell ließ sich feststellen: »Alte Menschen – Männer, Frauen und Ehepaare gleichermaßen – tendieren dazu, über umso geringere Einkommen zu verfügen, je älter sie sind.«23 Das wöchentliche Gesamteinkommen der Alten nahm mit voranschreitendem Alter zunehmend ab; in besonderer Schärfe galt das für alleinstehende Männer, bei denen das Einkommen der 70–74jährigen im Median um 28 % unter jenem der 65–69jährigen und das der über 75jährigen noch ein20 Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 72. 21 Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 124. 22 Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 57. Für die Zahlenangaben vgl. ebd., S. 53, sowie Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 111, 87. 23 Ebd., S. 77. Für die Zahlen ebd., S. 105.
116 You’ve never had it so good? mal um 10 % unter dem der 70–74jährigen lag. Dieser soziale Abstieg im Alter ließ sich in erster Linie darauf zurückführen, dass die Erwerbstätigkeitsquote mit zunehmendem Alter fiel: Von den ledigen oder verwitweten Männern etwa waren in der Altersgruppe von 65 bis 69 immerhin noch 40 % voll oder teilweise berufstätig; bei den über 75jährigen war dieser Anteil auf 9 % gesunken. Hinzu kam, dass die Inflation frühere Ersparnisse und Betriebsrenten mit voranschreitender Zeit immer mehr entwertete. Am prekärsten war die Lage für jene, die das Risiko der Hochaltrigkeit mit jenem des Geschlechts auf sich vereinigten: Alleinstehende Frauen über 75 konnten in der britischen Gesellschaft geradezu als Symbolfiguren materieller Armut gelten.24 Zu den vertikalen traten markante horizontale Ungleichheiten. So stellte sich etwa in der 1959/1960 durchgeführten Untersuchung von Cole und Utting, die auf sechs Lokalerhebungen in verschiedenen Teilen des Landes beruhte, heraus, dass die soziale Situation der Alten von Region zu Region trotz der national einheitlichen Regelungen des neuen Wohlfahrtsstaates massiv differierte. Während beispielsweise in Glasgow (Schottland) und Leicester (Mittelengland) mehr als ein Drittel der Alten Sozialhilfe erhielten, waren es in Salisbury (Südengland) lediglich 20 % und im Hexham Rural District (Nordengland) gar nur 11 %. Das schottische Glasgow präsentierte sich in jeder Hinsicht als das Altenarmenhaus Großbritanniens. Fast 60 % der über 65jährigen waren hier fast ausschließlich von staatlichen Transferzahlungen abhängig; im bürgerlichen Londoner Vorort Wimbledon dagegen waren es nur 35,9 %. Gleichzeitig lag das Wocheneinkommen von 72,6 % der Alten in Glasgow unterhalb der Schwelle von £ 4 10s. Im Gegensatz dazu verzeichneten lediglich 33,4 % der alten Menschen in Wimbledon ein derart niedriges Einkommen, und selbst im armen Londoner Stadtteil East Ham waren es nur 53,5 %.25 Fast ebenso aufschlussreich wie die detaillierten Informationen, welche die Sozialstudien über die Alten in Großbritannien lieferten, sind die Bereiche, zu denen sie keine oder nur eingeschränkte Aussagen machten. Das gilt zunächst einmal für die ethnische Dimension sozialer Ungleichheit im Alter, die heute eine wichtige Rolle spielt. In den 1950er und 1960er Jahren jedoch stellte Ethnizität im Hinblick auf die Alten in der britischen Gesellschaft noch keine relevante Kategorie dar. Eine nennenswerte nicht-weiße Immigration setzte erst nach 1950 aus den Commonwealth-Staaten ein – in erster Linie von den WestIndies sowie aus Indien und Pakistan. Da es sich hierbei um eine klassische Arbeitseinwanderung handelte, waren junge Frauen und vor allem Männer gegenüber dem britischen Bevölkerungsprofil deutlich überrepräsentiert; Menschen im Rentenalter mit einem entsprechenden Migrationshintergrund bildeten folg-
24 Vgl. etwa Hudson, Help the Aged, S. 108. 25 Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 60 f.
Die Kontinuität der Altersarmut 117
lich im Vereinigten Königreich zu dieser Zeit eine verschwindende Minorität.26 Deutlich schwerer als das Fehlen der ethnischen Dimension lässt sich ein anderes »Nichtwissen« in den empirischen Untersuchungen zur sozialen Lage der Alten erklären: Praktisch nichts nämlich findet sich zum Beruf, zur Einkommensgruppe, zur Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit der alten Menschen vor dem Rentenalter. Die Frage, welchen sozialen Gruppen es gelang, einen materiell vergleichsweise sorgenfreien Lebensabend zu genießen, aber auch jene danach, wie sich der zumeist scharfe Einkommensabsturz im Rentenalter auf den zuvor erlangten sozialen Status der alten Menschen auswirkte, blieben vollständig im Dunkeln. Drei weitere Aspekte sozialer Ungleichheit fanden sich in den Altenstudien um 1960 zwar untersucht, doch stehen sie in der zeitgenössischen Betrachtung weithin unverbunden neben den hier entfalteten Strukturen materieller Ungleichheit. Das gilt, erstens, für die Ebene der gesellschaftlichen Einbindung alter Menschen, die insbesondere unter den Stichworten »social isolation« im Sinne einer geringen Anzahl wöchentlicher Sozialkontakte und »loneliness« im Sinne subjektiver Einsamkeit thematisiert wurde.27 In den Interviews, welche die Sozialwissenschaftler auswerteten, gab es im Grunde zahlreiche und deutliche Hinweise auf einen engen Konnex von Einkommensarmut und sozialer Exklusion. Ein 80jähriger ehemaliger Vorarbeiter in der Textilindustrie aus Oldham beispielsweise gab zu Protokoll, dass er früher regelmäßig einen »working men’s club« besucht habe, nun schon aber lange nicht mehr dort gewesen sei. Zur Begründung führte er an, dass »Du Geld brauchst, wo immer Du hingehst … Man würde mich willkommen heißen; die Leute würden mich zu Drinks einladen. Aber wie würdest Du Dich fühlen, wenn Du sie nicht umgekehrt auch einladen könntest?«.28 Auch den zeitgenössischen Altersforschern entging nicht, dass soziale Isolation und materielle Benachteiligung positiv miteinander korrelierten; doch wird ihr kausaler Zusammenhang nirgendwo systematisch entwickelt. Ganz im Vordergrund der Erklärung von sozialer Isolation und Vereinsamung alter Menschen standen dagegen der Mangel an familiären Beziehungen und der individuell unterschiedliche Umgang mit der veränderten persönlichen Situation im Alter.29 Die zweite Dimension sozialer Ungleichheit, die zwar Beachtung fand, aber nicht mit der sonstigen sozio-ökonomischen Position verknüpft wurde, war die Wohnqualität. Ebenso wie in den Untersuchungen in der frühen Bundes republik traten auch bei den Interviews in Großbritannien die vielfach elenden Wohnverhältnisse der Alten krass zutage. Über die eindrücklichen Schilde26 Vgl. Peach u. a., Immigration; Townsend, Poverty in the United Kingdom, S. 580. 27 Vgl. etwa Townsend, Family Life, S. 166. 28 Tunstall, Old, S. 26 f. 29 Vgl. Townsend, Family Life, S. 166 ff.; Tunstall, Old, S. 199 ff.; Sheldon, Social Medicine.
118 You’ve never had it so good? rungen hinaus, welche die Befrager von der miserablen Wohnsituation gaben, die sie bei ihren Interviews häufig antrafen, verfügen wir sogar in begrenztem Umfang über statistische Daten über den Wohnstandard der britischen Alten am Anfang der 1960er Jahre. So zeigte sich, dass lediglich gut die Hälfte der alten Leute 1962 ein eigenes Bad, eine Küche und eine Toilette innerhalb der Wohnung besaßen. 15,5 % der Alten verfügten nur über zwei, 22,0 % über eines und 6,1 % gar über keines dieser bereits damals üblichen basalen Ausstattungsmerkmale.30 Inwieweit aber die Wohnsituation der alten Menschen einen Spiegel ihrer materiellen Position darstellte oder eine in einem gewissen Ausmaß eigenständige Determinante sozialer Ungleichheit bildete, wird von den zeitgenössischen Altenstudien ebenso abgeschattet wie die Frage, inwiefern es eine Kontinuität der Wohnverhältnisse trotz des mit der Verrentung fast immer einhergehenden Einkommensabfalls gab. Ähnliches trifft, drittens, auf die Ausführungen zum Gesundheitszustand der Alten zu. Auch hier gilt, dass die Morbiditätsproblematik in fast allen Studien an prominenter Stelle präsent war. Weder fehlte die Dimension der Selbstwahrnehmung, der Art und Weise also, in der die Betroffenen ihren eigenen Gesundheitszustand beurteilten, noch jene der quantitativen Erfassung klinisch diagnostizierter Krankheiten und Einschränkungen.31 Doch wurden die dabei gewonnenen Ergebnisse nicht oder allenfalls sehr kursorisch zu Strukturen sozio-ökonomischer Ungleichheit in Beziehung gesetzt. Das ist umso erstaunlicher, als britischen Medizinern und Sozialwissenschaftlern Anfang der 1960er Jahre die Frage, in welcher Weise sich der soziale Status auf Morbidität und Mortalität auswirkte, durchaus nicht fremd war. Davon zeugt eine ganze Reihe von Untersuchungen zur sozialen Bedingtheit von Säuglings- und Kindersterblichkeit, zur Beziehung von Klassenzugehörigkeit und Mortalität – hier gehen die Daten der offiziellen britischen Statistik bis 1851 zurück! – sowie zur Konzentration verschiedener Krankheiten wie etwa von Schizophrenie, Magenkrebs oder koronaren Herzerkrankungen in bestimmten Gesellschaftsschichten.32 Eigentümlicherweise blieb diese Perspektive im Hinblick auf die Alten jedoch weitgehend unterbelichtet. Wenn hier eine Binnendifferenzierung vorgenommen wurde, dann bildeten Geschlecht und Alter (über oder unter 75 bzw. 80) die relevanten Kategorien; fast nie aber wurden Morbiditätsrisiken mit Klassenzugehörigkeit oder Einkommensungleichheit in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Im Vordergrund stand mithin ganz die Aufmerksamkeit für die altersgruppenspezifischen Krankheiten, für das, was die demographisch 30 Townsend u. Wedderburn, The Aged, S. 65. 31 Vgl. etwa Cole u. Utting, Economic Circumstances, S. 37–41; Richardson, Age, S. 10–18. 32 Vgl. bspw. Titmuss, Birth; Morris, Occupational Mortality; ders., Uses of Epidemiology; Health and Social Class, in: The Lancet, 7.2.1959, S. 303–305; Townsend, Poverty in the United Kingdom, S. 170–174; Brown, Note. Hierzu vgl. Oakley, Making Medicine Social; Porter, Calculating Health.
Der große Wurf: Labours »National Superannuation« 119
stetig anwachsende Gruppe der Alten von den Jüngeren unterschied. Dass eine solche Perspektive ihrerseits dazu beitrug, die Alten als eine mehr oder weniger einheitliche Großgruppe zu konstruieren und einem homogenisierenden Altersbild Vorschub zu leisten, bedarf kaum der weiteren Ausführung.
2. Der große Wurf: Labours »National Superannuation« Wenn es um die Genese des linken Konzepts zur Reform der Alterssicherung geht, das die britische Debatte von den späten 1950er bis in die 1970er Jahre bestimmte, kann die Bedeutung der akademischen Experten kaum überschätzt werden. Zwar hatten wissenschaftliche Expertise und namentlich die Vorschläge Wilfrid Schreibers auch im Vorfeld der Reform der deutschen Rentenversicherung von 1957 eine Rolle gespielt. Doch hatten hier die Initiative und die Vorgabe der konzeptionellen Marschrichtung durchgehend bei Politik und Ministerialbürokratie gelegen. In Großbritannien dagegen war es eine kleine Gruppe fabianischer Intellektueller, von der nicht nur der entscheidende Impuls zur Entwicklung einer Reformperspektive ausging, sondern die auch federführend an der Ausarbeitung eines konkreten Planes zur Neuordnung der Alterssicherung beteiligt war. Ein Jahrzehnt vor der mit ihren Namen verbundenen »Wiederentdeckung der Armut« waren es abermals Brian Abel-Smith und Peter Townsend, die im März 1955 mit ihrer in der Fabian Research Series erscheinenden Schrift »New Pensions for the Old« den wichtigsten Anstoß zur Neuorientierung der politischen Linken auf dem Feld der Rentenpolitik gaben.33 Den entscheidenden Durchbruch erlangten ihre Ideen, als sich in der Labour Party noch im selben Jahr Richard Crossman, ebenfalls ein Fabianer, die Vorschläge der beiden damals noch nicht einmal dreißigjährigen Sozialwissenschaftler zu eigen machte.34 Durch eine mitreißende Rede auf dem Parteitag 1955 brachte er die Labour Party und ihr National Executive Committee dazu, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die den Auftrag erhielt, einen konkreten Reformplan auszuarbeiten. Außer Crossman selbst und einer Reihe von prominenten Labour-Politikern gehörten dieser Study Group on Security and Old Age auch Abel-Smith und Townsend sowie Richard Titmuss an, der so etwas wie der Spiritus Rector der beiden war und das bestehende Alterssicherungssystems bereits Ende 1953 scharf kritisiert hatte.35 Innerhalb der Arbeitsgruppe stellten die drei Fachleute die treibende Kraft bei der Ausarbeitung des Reformkonzepts dar; »sie haben für die gesamte Dynamik gesorgt«, bekannte 33 Vgl. Abel-Smith u. Townsend, New Pensions. In die gleiche Richtung, aber nur wenig beachtet, war auch bereits 1953 Abel-Smith, Reform of Social Security, gegangen. 34 Vgl. Thornton, Richard Crossman and the Welfare State, S. 39–56; Ellis, Pensions, S. 5 ff.; Crossman, Politics of Pensions. 35 Vgl. oben, S. 65.
120 You’ve never had it so good? Crossman in seinen Tagebüchern.36 Schon im Frühjahr 1957 war die Kommission in der Lage, mit ihrer Denkschrift »National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age« einen detaillierten Gegenentwurf zum bestehenden Alterssicherungssystem vorzulegen, den die sich zu diesem Zeitpunkt in der Opposition befindende Labour Party dann auf ihrem Parteitag noch im gleichen Jahr zur offiziellen Parteilinie erhob. In der Legitimationsrhetorik, welche die Reformer zur Begründung ihres Vorhabens gebrauchten, – das gilt von den ersten Konzepten über die Sitzungen der Arbeitsgruppe bis zur abschließenden Denkschrift – nahm die soziale Gerechtigkeit den zentralen Platz ein. Die Alterssicherungsproblematik, heißt es an prominenter Stelle im Bericht der Study Group, sei »fundamentally a problem of social justice«. Das Hauptziel der Reform liege darin, »ein größeres Ausmaß an sozialer Gerechtigkeit unter den Alten zu erreichen«.37 Hinter der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit stand die – von den Reformern immer wieder im Anklagestil vorgetragene – Diagnose von den »›Two Nations‹ in Old Age«, die sich semantisch bewusst in eine Tradition stellte, die sich bis zu Benjamin Disraelis 1845 erschienener und die soziale Lage der Industriearbeiterschaft anprangernder Novelle »Sybil, or The Two Nations« zurückverfolgen lässt.38 Die »zwei Nationen im Alter«, damit war auf der einen Seite die nicht-privilegierte Majorität jener gemeint, die ihren Lebensunterhalt vollständig oder weitestgehend von der kargen staatlichen Pauschalrente bestreiten mussten oder sogar auf die National Assistance angewiesen waren. Ihnen gegenüber stand auf der anderen Seite eine privilegierte Minorität der Alten, die über occupational pensions, also betriebliche Zusatzrenten, verfügte, welche ihr einen sorgenfreien Lebensabend mit einer Rente von bis zu zwei Dritteln des letzten Gehalts ermöglichten: die Angestellten und eine Minderheit der Arbeiter, vornehmlich in der öffentlichen Verwaltung und verstaatlichten Betrieben. Dass diese Dichotomie die sozialen Ungleichheitsstrukturen innerhalb der Gruppe der Alten nur verzerrt wiedergab, war den Reformern zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Erst die empirischen Studien um 1960 ließen zutage treten, dass eine solche Sichtweise die tatsächliche Höhe der bereits laufenden Zahlungen aus Betriebsrenten deutlich überschätzte und dass es nach wie vor in erster Linie die eigene Erwerbstätigkeit im Rentenalter war, welche die materiell bessergestellten Alten von der breiten Mehrheit unterschied (vgl. Kap. III.1). Insofern richtete sich der 36 Morgan (Hg.), Backbench Diaries, S. 584, Eintrag 3.5.1957. 37 Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. 1, v, BLPES , Titmuss 1/10. 38 National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 13 ff., BLPES , HD 7/C 133; Abel-Smith u. Townsend, New Pensions, S. 6; Richard Titmuss, The Age of Pen sions, II – Superannuation and Social Policy, in: The Times, 30.12.1953; Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. 1, BLPES , Titmuss 1/10. Vgl. Disraeli, Sybil.
Der große Wurf: Labours »National Superannuation« 121
Gerechtigkeitsappell der linken Kritiker Mitte der 1950er Jahre mit der Zweiklassengesellschaft von Staats- und occupational pensions-Rentnern weniger gegen ein bereits existierendes Phänomen als gegen ein Stück antizipierter Zukunft. Dabei lag in den Augen der Reformbefürworter eine besondere Ungerechtigkeit darin, dass der Staat die betriebliche Alterssicherung der privilegierten Minderheit auch noch massiv durch Steuererleichterungen subventionierte. £ 100 Mio., rechneten sie vor, seien dem Fiskus auf diese Weise 1954 an Steuern entgangen, während sich der staatliche Zuschuss zur allgemeinen Grundrente im gleichen Zeitraum lediglich auf £ 70 Mio. belaufen habe.39 Weit davon entfernt, im Sinne eines sozialen Ausgleichs zu wirken, fungiere der Wohlfahrtsstaat daher faktisch als Ungleichheitsproduzent, der die Kluft zwischen den »privilegierten und nicht privilegierten Rentnern« sogar noch vergrößere.40 Die explizite Hauptstoßrichtung der projektierten Rentenreform war mithin die Verminderung sozialer Ungleichheit – und nicht die Bekämpfung der Altersarmut. »Wir sind zu dem Ergebnis gekommen«, resümierte die Study Group, »dass der Hauptgrund für einen Wandel in der Notwendigkeit liegt, die Ungleichheit im Alter zu verringern.«41 Dass die Ungleichheit und nicht die Armut im Vordergrund stand, hatte wesentlich damit zu tun, dass sich das Armutsverständnis in Großbritannien zu dieser Zeit noch in einer Phase der Neuorientierung befand. Zum einen galt die Armut in ihrem klassischen, am Existenzminimum ausgerichteten Sinn seit der 1951 veröffentlichten York-Erhebung von Rowntree und Lavers als überwunden.42 Daran vermochte auch der Hinweis darauf, dass anderthalb Millionen Alte National Assistance erhielten,43 nichts zu ändern, da es sich hierbei nach einem weithin geteilten Verständnis um durch die Sozialhilfe wirksam bekämpfte Armut handelte. Zum anderen war das Konzept der relativen Armut, das sich im Laufe der 1960er Jahre zunehmend durchsetzte, noch nicht so weit entwickelt und verbreitet, als dass es als scharfe Waffe im Kampf um eine Verbesserung der Alterssicherung hätte fungieren können. Die Unsicherheit im Hinblick darauf, wie Armut in zeitgemäßer Weise zu definieren sei, spiegelte sich auch darin wieder, dass man einerseits das Konzept des Existenzminimums als Grundlage nicht preisgab, sondern an ihm festhielt, es andererseits aber als »verbunden mit den Vorkriegsbedingungen chronischer Arbeitslosigkeit« kritisierte und es daher neu füllte. Die neue Definition des Existenzminimums bzw. von »subsistence«, der die Labour39 National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 15, BLPES , HD 7/C 133. 40 Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. i, BLPES , Titmuss 1/10. 41 Ebd., S. 11. 42 Vgl. oben, S. 61 f. 43 Vgl. National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 7, BLPES , HD 7/C 133.
122 You’ve never had it so good? Arbeitsgruppe anhing, orientierte sich nun nicht mehr am – wie auch immer verstandenen – Grundbedarf, sondern zielte auf die »Erhaltung des im Arbeitsleben erreichten Lebensstandards im Ruhestand«. »Relative Armut« wurde zu diesem Zeitpunkt mithin noch diffus im Sinne des mit der Verrentung verbundenen »Abfalls des Lebensstandards« verstanden und noch nicht – wie wenige Jahre später – als Einkommensunterprivilegierung im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen.44 Mit dem erklärten Ziel, mehr »pension justice for the old« zu erreichen,45 strebte der Labour-Plan eine grundlegende Neuordnung der britischen Alterssicherung an. Die wichtigsten Änderungsvorschläge lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen: 1. Im National Superannuation-System – das war eine Annäherung an das deutsche Modell – sollten sowohl die Beiträge als auch die Rentenleistungen abhängig von der Einkommenshöhe sein. Das bedeutete einen klaren Bruch mit den für alle gleichen Pauschalbeiträgen und -renten des Beveridge-Systems. Hinter dieser Entscheidung stand die Einsicht, dass das Pauschalprinzip in der Alterssicherung eine Sackgasse darstellte, an deren Ende »das direkte Gegenteil sozialer Gerechtigkeit« wartete. Gleich zwei sozial unheilvolle Effekte waren untrennbar mit dem flat rate-Grundsatz verbunden: Erstens stellte der einkommensunabhängige Pauschalbeitrag eine regressive »Kopfsteuer« dar, »die die Ärmsten am meisten trifft«. Zweitens waren Rentenerhöhungen dadurch enge Grenzen gesetzt, dass sich die korrespondierenden Beitragssteigerungen stets an dem zu orientieren hatten, was die am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmer zu leisten in der Lage waren. Es erschien ausgeschlossen, auf diese Weise irgendwann einmal zu Rentensätzen zu gelangen, die für eine Mehrheit der Alten auch nur einigermaßen auskömmlich gewesen wären. Der Status quo, fasste die Labour-Schrift von 1957 zusammen, reiche nicht über ein »Konzept gleicher Anteile in Armut« hinaus, das für den Durchschnittsrentner bei Renteneintritt einen Verlust von 75 % seines bisherigen Einkommens bedeute.46 Das National Superannuation-Modell dagegen zielte auf »half pay on retirement«, also auf eine Lohnersatzrate von ca. 50 % für einen mittleren Verdiener.47 Gleichzeitig unterlegten die Reformer den damit verbundenen Übergang von Pauschal- zu einkommensgestaffelten Renten mit einer modernistischen Entwicklungslogik: »Einkommensbezogene Renten entsprechen den gesellschaftlichen Erforder44 Zitate: Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. i, 1, BLPES , Titmuss 1/10. 45 Study Group on Security and Old Age: The Future Development of Pensions and Super annuation, by Professor R. M. Titmuss, Juni 1956, Titmuss 1/10. 46 Zitate: National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 9, 17, BLPES , HD 7/C 133. 47 Study Group on Security and Old Age, Minutes 25.9.1956, BLPES , Titmuss 1/10; National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 21, BLPES , HD 7/C 133.
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nissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso, wie das für die Einheitsrente in der ersten Hälfte gegolten hat.«48 2. Anders als die deutsche Rentenreform von 1957 enthielt der Alterssicherungsplan der britischen Linken starke redistributive Elemente. Diese Seite fand sich in den Verlautbarungen der Labour Party mit besonderem Nachdruck betont. »Zu unseren sozialistischen Zielen«, hieß es dort etwa, »gehört es, die krasse Ungleichheit in der gegenwärtigen Gesellschaft zu verringern, und National Superannuation würde eine wichtig Rolle bei der Erreichung dieses Zieles spielen«.49 Redistributiv war das Labour-Konzept, erstens, indem es die Rentenungleichheitsspanne nach oben und unten begrenzte. Auf der einen Seite sollte niemand eine Rente erhalten, die mehr als das anderthalbfache der industriellen Durchschnittslöhne betrug; auf der anderen Seite war eine Mindestrente vorgesehen, die jeder erhalten sollte, der 40 Jahre Beiträge geleistet hatte, auch wenn deren Höhe ihn rein versicherungsmathematisch dazu eigentlich nicht qualifizierte.50 Zweitens beabsichtigten die Reformer, einen Teil der erhöhten Beiträge, die – wie bisher – von den Arbeitnehmern und Arbeitsgebern mit einem Zuschuss des Exchequer aufgebracht werden sollten, dazu zu verwenden, die Pauschalrente für die Altrentner um 50 % aufzustocken, so dass diese dann bei ca. 25 % der Durchschnittseinkommen gelegen hätte. Die Anhebung der flat rate benefits, die als Mindestrente im neuen System weiterlebten, zielte darauf ab, die soziale Lage der Alten in der sich über Jahrzehnte erstreckenden Übergangszeit zu verbessern, in der die Ansprüche aus National Superannuation langsam »reiften«. Anders als zur gleichen Zeit in Deutschland war also nicht daran gedacht, die Altrentner sofort per Umlageverfahren in das neue differenzierte Alterssicherungssystem zu integrieren. Um einen solchen Schritt zu gehen, orientierte man sich zum einen zu sehr am Vorbild der occupational pensions mit ihrem auf dem Ansparen von Beiträgen basierenden Kapitaldeckungsverfahren. Zum anderen wäre es als eine flagrante Ungerechtigkeit erschienen, wenn Menschen, die ihr Leben lang die für alle gleichen Pauschalbeiträge entrichtet hatten, im Alter eine nach ihrem früheren Erwerbseinkommen gestaffelte Rente erhalten hätten.51 3. Auch die britische Altersrente sollte »dynamisch« werden. Sowohl der Begriff der Dynamik als auch das zugrundeliegende Konzept stellten in diesem 48 Ebd., S. 17. 49 Ebd., S. 24. 50 Vgl. Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. 12, BLPES , Titmuss 1/10; National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 24 f., 64, BLPES , HD 7/C 133; Aide Memoire for the Discussion with T. U. C. Representatives of Our Policy Statement on Security and Old Age, o. D. (1956/57), BLPES , Titmuss 1/10. 51 Vgl. National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 35, BLPES , HD 7/C 133.
124 You’ve never had it so good? Fall direkte Importe aus der Bundesrepublik dar, wo die Reform der Alters sicherung zur gleichen Zeit schon konkrete gesetzgeberische Züge annahm. Titmuss und Abel-Smith waren im Sommer 1956 eigens nach Bonn gereist, um sich von deutschen Renten-Experten über die Einzelheiten und den Stand der Reform informieren zu lassen.52 Ebenso wie im deutschen Fall sollten auch nach dem Labour-Vorschlag die über das Arbeitsleben hinweg geleisteten Beiträge bei der Erstfestsetzung der Rente rückwirkend gemäß der Entwicklung der Durchschnittseinkommen aufgewertet werden. Abweichend von der bundesrepublikanischen Regelung jedoch war für die Renten nach Renteneintritt keine Ankopplung an die Löhne mehr, sondern nur noch ein Inflationsausgleich beabsichtigt – sie sollten »›inflation proof‹« werden.53 Gerade was die Dynamisierung der Rentenleistungen anging, bewegte sich der Labour-Vorschlag freilich mehr im Bereich der Absichtserklärung als des bis in seine Einzelheiten durchkalkulierten Plans. Wenn irgendwo, so traf hier das Urteil R ichard Crossmans zu, dass das National Superannuation-Schema auch in seiner der Öffentlichkeit schließlich vorgestellten Fassung allenfalls »three-quarters-baked« war.54 4. Die Stellung der Frau in der Rentenversicherung sollte neu geregelt werden. Bislang hatten verheiratete Frauen einen abgeleiteten Anspruch aus den Beitragszahlungen ihres Mannes, der sich darin niederschlug, dass Ehepaare eine höhere Rente als Einzelpersonen erhielten. Wenn sie selbst berufstätig waren und Beiträge leisteten, konnten diese Frauen dennoch keinen vollen eigenen Renten-, sondern nur noch einen verhältnismäßig geringen Zusatzanspruch erwerben. Alternativ konnten sie ganz aus der staatlichen Rentenversicherung ausscheiden, was der überwiegende Teil der erwerbstätigen und verheirateten Frauen angesichts des geringen Zusatznutzens, den ihre Beiträge erbracht hätten, tatsächlich auch taten. Das sollte sich nach dem neuen Rentenkonzept der Labour Party nun ändern. Frauen sollten in der Rentenversicherung prinzipiell den Männern gleichgestellt werden – das galt sowohl für die Anspruchsrechte als auch für die Beitragsverpflichtungen. Ob das auch die Anhebung des Rentenalters für Frauen von 60 auf 65 implizierte, blieb bis zum Schluss umstritten. Während Titmuss, Townsend und Abel-Smith klar hierfür plädierten, fürchtete das National Executive Committee der Labour Party den Protest von Gewerkschaften und Wählern und behandelte die Frage dilatorisch. In der Summe hätte die Realisierung des Labour-Rentenkonzepts einen Schritt in die Richtung der rechtlichen und institutionellen Gleichstellung der Frau bedeutet. Gleichzeitig musste die Einführung von earnings-related pensions aufgrund der gerin52 Vgl. etwa Discussions with Dr. Auerbach and Professor Liefmann-Keil, August 1956, BLPES , Titmuss 1/9; Discussion with Dr. Henson of the German Ministry of Labour in Bonn, o. D. (1956), BLPES , Titmuss 1/9; Ellis, Pensions, S. 8. 53 Vgl. National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 25–28, 70–73, BLPES , HD 7/C 133. 54 Morgan (Hg.), Backbench Diaries, S. 584, Eintrag 3.5.1957.
Der große Wurf: Labours »National Superannuation« 125
geren Einkommen und der unterbrochenen Erwerbskarrieren von Frauen aber die materiellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Alter gegenüber dem bestehenden flat-rate-System noch stärker akzentuieren als zuvor.55 5. Ein besonders schwieriges Problem stellte die Neuausgestaltung des Verhältnisses der projektierten staatlichen Altersversorgung zu den betrieblichen bzw. privaten Versicherungen dar. Hatten sie zuvor in einer komplementären Beziehung zueinander gestanden, bedeutete National Superannuation den Übergang zu einer Situation direkter Konkurrenz. Der Labour-Plan sah prinzipiell die Möglichkeit des Ausstiegs, des contracting out, aus dem gesetzlichen System vor, band diese Option jedoch an die Bedingung, dass statt dessen eine staatlicherseits akkreditierte private Versicherung vorhanden war. Die Auflagen für das staatliche Gütesiegel waren hoch: Zunächst einmal sollten die Beitrags- und Leistungsbedingungen des privaten Versicherungsschemas im Vergleich zum öffentlichen System nicht schlechter abschneiden – was angesichts des Inflationsschutzes der staatlichen Rente alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Sodann sollten auch die privaten Rentenansprüche »transferierbar« sein, durften sie also nicht – wie bisher üblich – ersatzlos verfallen, wenn man den Arbeitsplatz wechselte. Schließlich durfte der Arbeitgeber die Mitgliedschaft im betrieblichen Sicherungssystem nicht zur Beschäftigungsvoraussetzung machen, sondern musste dem Arbeitnehmer die Wahl zwischen diesem und der staatlichen Alterssicherung lassen. Fast alle der bestehenden occupational pensions hätten diese Bedingungen nicht erfüllt; die private Versicherungswirtschaft wäre einem harten Verdrängungswettbewerb durch das öffentliche System ausgesetzt gewesen. Das war auch durchaus so intendiert – nicht zufällig betonte Richard Titmuss in den Diskussionen der Arbeitsgruppe »die Notwendigkeit, die Macht der privaten Versicherungswirtschaft zu brechen«.56 Kaum war der Labour-Plan bekannt, gaben daher an der Börse die Versicherungs aktien deutlich nach.57 Gerade in seiner Amalgamierung verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien erweist sich das National Superannuation-Konzept als überaus aufschlussreich. Auf der einen Seite stellte der Labour-Plan in der britischen Politik das erste Alterssicherungsmodell dar, das auf dem Gedanken der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz und damit der Idee der Leistungsgerechtigkeit aufbaute. Auf der ande55 Zu diesem Absatz vgl. Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. 33–40, BLPES , Titmuss 1/10; National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 37, 43–46, 65 f., 75 f., BLPES , HD 7/C 133; Thane, Old Age, S. 374 f.; Ellis, Pensions, S. 8 f.; Kuller, Ungleichheit, S. 67 ff. 56 Study Group on Security and Old Age, Minutes 4.7.1956, S. 3, BLPES , Titmuss 1/10. 57 Vgl. Hannah, Inventing Retirement, S. 56. Zum Absatz insgesamt: Fawcett, Beveridge Strait-jacket, S. 32 f.; dies., Privatisation, S. 157 f.; Thornton, Richard Crossman and the Welfare State, S. 66–71; National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 40 ff., BLPES , HD 7/C 133.
126 You’ve never had it so good? ren Seite schatteten die Schöpfer und Verteidiger des Reformkonzepts in ihren Begründungen gerade diesen Aspekt in fast schon schizophrener Weise konsequent ab und legitimierten es hauptsächlich mit seiner redistributiven Wirkung – damit, dass es die Kluft zwischen den »two nations in old age« zu verringern helfen werde. Ein größerer Unterschied als jener zur zeitgleichen Rentenreformdiskussion in der Bundesrepublik ist kaum denkbar. Während Labour ganz die Umverteilungskomponente des beitragsorientierten Reformprojekts in den Vordergrund schob, war es in Westdeutschland das eine erhebliche Ungleichheitsspanne eröffnende Prinzip der Leistungsgerechtigkeit selbst, das im sozialpolitischen Diskurs als hauptsächliche Legitimationsquelle des neuen Alterssicherungssystem angeführt wurde und auch in der Bevölkerung einen entsprechenden Zuspruch fand.58 Anders, als das parteiübergreifend in der Bundesrepublik der Fall war, bedeutete »social justice« im Bereich der öffentlichen Alterssicherung für die Reformer auf der Linken in Großbritannien gerade nicht Leistungsgerechtigkeit im Sinne der Proportionalität von Renten und Beiträgen, sondern zielte im Gegenteil auf sozialen Ausgleich und die Verringerung des Abstandes zwischen Arm und Reich. Die Einführung eines »leistungsorientierten« Rentensystems hatte in der Labour-Argumentation ganz wesentlich die Funktion, hierfür die notwendigen Mittel zu generieren. Man wird sicher nicht fehlgehen, wenn man in der expliziten Betonung des redistributiven Elements des projektierten Alterssicherungssystems zum Teil eine Konzession an die Labour-Linke sieht. Von dieser Seite war in der Study Group deutlicher Widerstand gegen die Einführung einer Rente gekommen, die sich in ihrer Höhe an dem bisherigen Arbeitseinkommen orientierte. So hatte etwa W. H. Clough Mitte 1956 zu Protokoll gegeben, dass »sich die gestaffelten Leistungen nicht im Einklang mit den besten Prinzipien des Sozialismus befinden«. Gestaffelte Renten, welche die Einkommensunterschiede des Arbeitslebens reproduzierten, hatte er ausgeführt, widersprächen den ihn leitenden sozialistischen Idealen, da »der Sozialismus für Einkommensgleichheit« kämpfe und das auch für »das Alter« gelte. Die eher brüske Entgegnung Richard Crossmans, »dass die [sozialistische] Bewegung nicht an die Gleichheit der Löhne glaube und … dass es sich daher um keine Prinzipienfrage« handele, dürfte auf der Linken weniger Widerhall gefunden haben als die vermittelnde Haltung von Richard Titmuss, der erklärte, »dass wir, obwohl wir Unterschiede im Arbeitsleben akzeptieren müssen, diese im Alter abbauen können«.59 Die Einführung einer starken redistributiven Komponente und ihre nachdrückliche Hervorhebung hatten angesichts dessen stets auch den Zweck, die innerpartei58 Vgl. oben, Kap. II.3. 59 Zitate: Study Group on Security and Old Age, Minutes 4.7.1956, S. 1 f., BLPES , Titmuss 1/10. Vgl. auch Thornton, Richard Crossman and the Welfare State, S. 64 f.; ders., Richard Crossman, the Civil Service, S. 70 f.
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lichen Kritiker davon zu überzeugen, dass National Superannuation nicht nur »good economics«, sondern ebenso »good socialist ethics« sei, und den Plan auf diese Weise für eine möglichst große Mehrheit der Labour-Mitglieder akzeptabel zu machen.60 Doch wäre es falsch, in der Unterstreichung des sozialen Ausgleichsgedankens nur eine taktische Volte zur Pazifizierung der innerparteilichen Widersacher zu sehen. Vielmehr entsprach die Betonung der Gleichheitsidee durchaus der ideologischen Neuorientierung, welche die Labour Party insgesamt in den 1950er Jahren durchmachte. Kurz gesagt, ging es für die britische Linke angesichts der bereits erreichten wohlfahrtsstaatlichen Erfolge, von dauerhaftem Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, der sich am Horizont abzeichnenden »Wohlstandsgesellschaft« sowie von Niederlagen bei den Unterhauswahlen von 1951 und 1955 darum, sich programmatisch neu auszurichten und auf diese Weise wieder für eine Wählerschaft attraktiv zu machen, die Labour vornehmlich als die in der unmittelbaren Nachkriegszeit stehengebliebene Partei der Verstaatlichung, der Rationierung und der Knappheit wahrnahm. Im Zentrum des Versuchs, der Partei ein neues ideologisches Profil zu verleihen, stand die Gleichheitsidee. Unter der Führung von Hugh Gaitskell setzte die Labour Party eine Study Group on Equality ein, die ihre Ergebnisse 1956 unter dem Titel »Towards Equality: Labour’s Policy for Social Justice« veröffentlichte.61 Gaitskell selbst notierte hierzu in sein Tagebuch, dass der Gleichheitsgedanke »für Sozialisten wichtiger ist als alles andere. Wenn Du nicht an die Idee der Gleichheit glaubst, dann, denke ich, ist es sehr schwer, ein echter Sozialist zu sein«.62 Auch zuvor hatte die Gleichheitsidee auf der politischen Linken eine prominente Rolle gespielt, doch ging es den ideologischen Neuerern um eine wichtige Akzentverschiebung: Während die Forderung nach mehr Gleichheit in den 1930er und 1940er Jahren ganz wesentlich mit ökonomischen Effizienz argumenten begründet worden war und sie fast untrennbar mit dem Verstaatlichungspostulat verbunden schien, sollte nun die Idee sozialer Gleichheit als Wert an sich und damit ein stärker ethisch inspirierter, weniger auf Fragen des Produktionseigentums fixierter Sozialismus im Vordergrund stehen.63 Der wichtigste revisionistische Vordenker war fraglos Anthony Crosland, dessen bis heute einflussreiche Schrift »The Future of Socialism« 1956 erschien.64 Crosland unternahm den Versuch, den britischen Sozialismus mit der aufkommenden Konsumgesellschaft auszusöhnen, und verwurzelte seine For60 National Superannuation: Labour’s Policy for Security in Old Age, S. 30, BLPES , HD 7/C 133. 61 Towards Equality. 62 Williams (Hg.), Diary of Hugh Gaitskell 1945–1956, S. 542, Eintrag 14.7.1956. 63 Vgl. nur Jackson, Equality, S. 151 ff.; ders., Revisionism Reconsidered; Ellis, Total Abstinence. 64 Crosland, Future.
128 You’ve never had it so good? derung nach mehr Gleichheit in einem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das in vielerlei Hinsicht den später von John Rawls in seiner »Theorie der Gerechtigkeit« entwickelten Grundsätzen nahesteht.65 Wie die anderen britischen Labour-Revisionisten favorisierte auch Crosland keine vollständige materielle Gleichheit im strengen Sinne. Gleichzeitig bedeutete Gleichheit für ihn aber – und hier stand er ganz in der Tradition R. H. Tawneys66 – mehr als nur reine Chancengleichheit, vertrat er also keine strikt meritokratische Position, sondern hielt ein gewisses Maß von »equality of outcome« für unverzichtbar. Das zog dann zwangsläufig die Frage nach sich, welches Ausmaß von Ungleichheit noch als legitim anzusehen sei. Die abstrakte Antwort der Revisionisten hierauf bestand darin, dass sie jene sozialen Unterschiede als akzeptabel erklärten, welche in der modernen Industriegesellschaft als Anreizstruktur unverzichtbar waren, um Leistungsbereitschaft und Produktivität zu gewährleisten. »Sozialisten erkennen«, führte die Labour-Arbeitsgruppe aus, »die Berechtigung von Einkommensunterschieden an, allerdings nicht im Sinne der Anerkennung einer Wertdifferenz, sondern aus der praktischen Erwägung, den Menschen Anreize zu setzen, qualifiziertere und verantwortungsvollere, oder auch schwerere und weniger angenehme Tätigkeiten in der Gesellschaft auszuüben«.67 Das schloss explizit die Legitimität eines in Grenzen ungleichen, am früheren Erwerbseinkommen orientierten Alterssicherungssystems ein.68 Dass durch seine Einführung trotzdem ein Mehr an »echter« anstelle der alten »formalen« Gleichheit der flat-rate benefits realisiert werden sollte, beruhte dabei sogar nur teilweise auf seiner redistributiven Komponente. Ebenso wie auf dem Feld der Konsums – und hier waren sich Crossman und Crosland, die ansonsten häufig in ihren Ansichten differierten, einig – lag im Bereich der Alters sicherung der vielleicht noch wichtigere Gewinn an Gleichheit in der Universalisierung von Privilegien, die vormals nur einem kleinen Teil der Gesellschaft zugänglich gewesen waren. »Die Umwandlung ökonomischer Privilegien« – in diesem Fall einer den bisherigen Lebensstandard sichernden betrieblichen Rentenversicherung, über die bislang nur eine Minderheit verfügt hatte – »in Bürgerrechte« – das war es, worauf National Superannuation und die sich unter den Bedingungen wirtschaftlichen Wohlstands neu formierende Labour-Ideologie insgesamt abzielten.69 65 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit. 66 Vgl. Tawney, Equality. 67 Study Group on Equality, Preliminary Memorandum on Equality, March 1956, S. 4, Bodleian Libraries, British Labour Party Research Department Memoranda and Information Papers, 1941–1979, Part 1: Research Department Memoranda, July 1941-December 1961. 68 Vgl. etwa Crosland, Future, S. 114 f. 69 Crossman, Politics of Pensions, S. 10. Vgl. Crosland, Future, S. 238–242. Zu diesem Absatz insgesamt vgl. Jackson, Equality, S. 151–182; Ellis, Total Abstinence; Hickson, Continuing Relevance; Plant, Democratic Socialism.
Alterssicherung im Zeichen der Reformblockade 129
3. Alterssicherung im Zeichen der Reformblockade Das Projekt der Labour Party, die Alterssicherung entsprechend dem National Superannuation-Plan grundlegend umzugestalten, scheiterte Ende der 1950er Jahre an den britischen Wählern. Es stellte sich heraus, dass National Superannuation nicht jener »wundervolle Wahlstimmenbringer« war, für den Crossman es gehalten hatte;70 bei den Unterhauswahlen von 1959 unterlag Labour den Tories noch deutlicher als bereits 1955. Anstelle einer umfassenden Reform der Rentenversicherung begnügte sich die konservative Regierung mit einer Minimallösung: Sie ließen die als Pauschalrente gezahlte Basic State Pension unangetastet und pfropften ihr mit der 1959 verabschiedeten und 1961 eingeführten State Graduated Pension eine Zusatzrente mit einkommensproportionalen Beiträgen auf. Auch die Rentenerträge des Boyd-Carpenter-Schemas, wie die State Graduated Pension nach dem verantwortlichen Minister of Pensions and National Insurance genannt wurde, waren in ihrer Höhe gemäß dem zur Beitragsbemessung herangezogenen Einkommen gestaffelt. Doch waren sie ohnehin ausgesprochen niedrig angesetzt und mussten zudem mangels einer »Dynamisierung« der Leistungen absehbar durch Inflation und Lohnentwicklung bald auf die Größe einer quantité négligiable schrumpfen, so dass die neue Staffelrente unter dem Aspekt einer verbesserten Versorgung für zukünftige Altengenerationen eher einem »›political gimmick‹« als einem ernsthaften »›pension scheme‹« ähnelte.71 Die Einführung der State Graduated Pension verdankte sich einer doppelten Drucksituation, in die die Macmillan-Regierung am Ausgang der 1950er Jahre geraten war. Auf der einen Seite musste sie noch vor den Wahlen von 1959 den Rentenreformplänen der Labour Party eine eigene Initiative entgegensetzen. Auf der anderen Seite geriet der National Insurance Fund, also die staatliche Rentenversicherung, zusehends in eine finanzielle Schieflage. Das lag teils an den Rentenerhöhungen der vorangegangenen Jahre, vor allem aber daran, dass nach der 1946 beschlossenen Regelung 1958 zum ersten Mal auch jene Rentner Anspruch auf die volle Basic State Pension erhielten, die keine volle Beitragszeit aufweisen konnten, sondern lediglich zehn Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hatten. Das hatte zur Folge, dass der National Insurance Fund 1958/59 erstmalig ein Defizit aufwies, das sich darüber hinaus nach den Berechnungen des Schatzamts bis 1966 auf £ 250 Mio. jährlich ausweiten würde.72 Angesichts dessen avancierte die finanzielle Gesundung der Rentenversicherung, deren Defizite 70 Morgan (Hg.), Backbench Diaries, S. 581, Eintrag 29.3.1957. 71 T. E. J. Holland von der Norwich Union Insurance, 1.3.1960, East Anglia Daily Times, zit. nach Hannah, Inventing Retirement, S. 58. 72 Vgl. A Supplementary Pensions Scheme: The Treasury View. Memorandum by the Financial Secretary to the Treasury, 8.3.1957, NA , CAB 134/2246.
130 You’ve never had it so good? der Treasury aus Steuermitteln auszugleichen hatte, schnell zum Hauptziel der konservativen Reformaktion. Das ging so weit, dass der Schatzkanzler selbst gegen einen Entwurf für das den Gesetzgebungsprozess einleitende White P aper einwenden zu müssen glaubte, dass es zwar richtig sei zu betonen, »dass es ein wesentliches Ziel der Rentenvorlage sei, mehr Geld einzusammeln«, dieser Punkt in der Begründung aber so sehr im Vordergrund stehe, dass die Reform für den »allgemeinen Leser« wenig attraktiv erscheinen könnte.73 In den Regierungsberatungen, welche der Einführung der neuen Staffelrente vorausgingen, spielten die soziale Situation der Alten und die Frage, wie sie in naher oder ferner Zukunft zu verbessern sei, nicht die geringste Rolle.74 Der einzige Punkt, der sich in den Debatten der Ministerialbürokraten und konservativen Politiker neben dem Motiv, durch den Übergang zu einkommensproportionalen Zusatzbeiträgen die Finanzen der Rentenversicherung zu sanieren, als vordringliches Ziel zu etablieren vermochte, war der weitere Ausbau der in den vorangegangenen Jahren bereits machtvoll vorangeschrittenen betrieblichen Alterssicherung. »Für uns alle«, ließen sich etwa der Schatzkanzler und der Sozialversicherungsminister in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zu verschiedenen Reformvorschlägen vernehmen, »spielen die kurz- und langfristigen Auswirkungen der verschiedenen Rentensysteme auf die Entwicklung der privatwirtschaftlichen betrieblichen Alterssicherung eine entscheidende Rolle«.75 Konsequenterweise zählte es dann auch das im Oktober 1958 veröffentlichte White Paper »Provision for Old Age« zu den zentralen Reformanliegen der Regierung, »eine optimale Entwicklung der Betriebsrentensysteme zu gewährleisten und zu unterstützen«.76 Dieser Absicht wurde der Gesetzgeber gerecht, indem er das neue Zusatzrentensystem mit einer großzügigen Ausstiegsklausel (contracting out) versah: Arbeitgeber konnten für ihre Arbeitnehmer entscheiden, aus dem neuen Staffelrentenschema auszuscheren, wenn sie es durch eine Betriebsrente substituierten, die in ihren Leistungen der State Graduated Pension mindestens gleichkam. Angesichts des damit verbundenen Beitragsnachlasses im staatlichen System war das für die Arbeitgeber ein kräftiger Impuls, sich einem Betriebsrentenschema anzuschließen. Aber auch für viele Arbeitnehmer war das contracting out vorteilhaft, weil sie auf diese Weise den miserablen Leistungsbedingungen der staatlichen Zusatzrente entkamen. Unmittelbare Folge dieser durch das Boyd-Carpenter-Schema geschaffenen Anreizstruktur war ein Boom auf dem Feld der betrieblichen Rentenversicherungen: 73 Cabinet Pensions. The Draft White Paper. Memorandum by the Chancellor of the Exchequer, 10.9.1958, NA , CAB 130/144. 74 Vgl. die Protokolle der Kabinettssitzungen zur State Graduated Pension: NA , CAB 130/144. 75 Cabinet Pensions. Joint Memorandum by the Chancellor of the Exchequer and the Minister of Pensions and National Insurance, 10.2.1958, NA , CAB 130/144. 76 Provision for Old Age, S. 12.
Alterssicherung im Zeichen der Reformblockade 131
Innerhalb nur eines Jahrzehnts nach 1959 wuchs der Grad der Abdeckung durch occupational pensions von einem Drittel auf fast die Hälfte der britischen Arbeitnehmerschaft an.77 Zwischen 1960 und der Mitte der 1970er Jahre beherrschten gescheiterte Reformversuche in der britischen Alterssicherung das Bild. Als Labour 1964 nach einer dreizehnjährigen Oppositionsperiode wieder an die Macht kam, machte sich die neue Regierung sogleich daran, ihr Wahlversprechen einer mehr als 18prozentigen Erhöhung der Basic State Pension umzusetzen. Mit der Vorbereitung der ebenfalls beabsichtigten grundlegenden Reform der Renten versicherung ließ man sich dagegen viel Zeit. Erst nachdem der zunächst in anderen Regierungsämtern tätige Richard Crossman seit 1967 wieder zunehmend Einfluss auf den sozialpolitischen Entscheidungsprozess gewonnen und dann 1968 die Leitung des neugegründeten Departments of Health and Social Security (DHSS) übernommen hatte, gelang es der Regierung unter Harold Wilson, die sich bereits im dritten Jahr ihrer zweiten, 1966 begonnenen Amtszeit befand, ihre Pläne zur Neuordnung der Alterssicherung in einem White Paper zu verdichten.78 Die Vorschläge dieses Anfang 1969 veröffentlichten Dokuments, das in Großbritannien üblicherweise den Gesetzgebungsprozess vorbereitet, indem es zur Reaktion der interessierten Öffentlichkeit einlädt, basierten in vielem auf Labours Reformkonzept von 1957. Doch gab es auch eine Reihe von wichtigen Unterschieden. Hierzu gehörte etwa, dass das Crossman Scheme, wie es nun nach dem federführenden Minister genannt wurde, anders als zuvor beabsichtigt, den vollen Übergang zu einkommensbezogenen Renten ohne pauschalen Sockelsatz propagierte. Gleichzeitig war ihm freilich nach wie vor eine redistributive Komponente eingeschrieben, indem es bis zu einer bestimmten Einkommensschwelle eine höhere Lohnersatzrate vorsah als darüber. Noch deutlich wichtiger als diese letztlich vielfach eher technischen Differenzen war der Wandel in der Haltung gegenüber occupational pensions und der privaten Versicherungsindustrie. Hatte die Labour-Reformschrift von 1957 sich hier durchaus kampfbereit gegeben und auf eine Verdrängung der Betriebsrenten durch das neue staatliche System gezielt, standen die Zeichen nun ganz in Richtung öffentlich-privater Partnerschaft. »Dass das staatliche Rentensystem die betriebliche Alterssicherung ersetzen soll, steht nicht zur Debatte. Im Gegenteil wird sein Zuschnitt ausreichend Platz für ihren weiteren Ausbau lassen«, ließ sich nun im White Paper lesen.79 Eine den Interessen der Versicherungswirtschaft weit entgegenkommende Regelung für den Teilausstieg aus der staatlichen Rentenversicherung trug der veränderten Haltung Rechnung: 77 Hannah, Inventing Retirement, S. 59. Vgl. zum Vorangehenden insgesamt Fawcett, Privatisation, S. 154 ff.; Ellis, Pensions, S. 13–20; Pemberton, Politics and Pensions, S. 49 ff.; ders., dass., in: History and Policy 2006; Walker u. Foster, Caught, S. 432. 78 National Superannuation. 79 Ebd., S. 38.
132 You’ve never had it so good? Unternehmen sollten mit ihren Arbeitnehmern partiell das öffentliche System verlassen können und dafür einen Beitragsnachlass erhalten, auch wenn das ersatzweise vorgesehene Betriebsrentenschema über keinen Inflationsschutz verfügte. Anders, als das ursprünglich vorgesehen war, sollte dann der National Insurance Fund aus seinen Mitteln die »Dynamisierung« dieser Betriebsrenten gewährleisten und damit ein zentrales Risiko übernehmen.80 Das solcherart modifizierte National Superannuation-Schema wurde freilich nie Gesetz. Es befand sich noch im parlamentarischen Verfahren, als die Tories die Unterhauswahlen von 1970 gewannen und die Reformvorlage sofort kassierten.81 Ein ganz ähnliches Schicksal ereilte die Rentenreform, welche die 1970 ins Amt gelangte konservative Regierung unter Edward Heath 1973 durchgesetzt hatte und 1975 in Kraft treten sollte. Die unter der Ägide des neuen Secretary of State for Social Services, Sir Keith Joseph, entwickelte Neuregelung der britischen Alterssicherung sah ein Zweisäulenmodell vor, das zum einen auf dem Erhalt der pauschalen und äußerst niedrigen Basic State Pension beruhte, die jetzt aber durch einkommensproportionale Beiträge finanziert werden sollte. Hierzu trat zum anderen eine Zusatzversorgung, die in der Regel als occupational pension ausgestaltet sein sollte. Nur dort, wo die Abdeckung durch betriebliche Renten Lücken aufwies, sollte, gewissermaßen als Rückfallposition, ein State Reserve Scheme die Absicherung übernehmen. In Analogie zu den occupational pensions basierte dieses Reserveschema auf einem durch die Beiträge gespeisten Kapitalfonds, der autonome Anlageentscheidungen treffen konnte und von dessen Rendite die späteren Renten der Versicherten abhingen, der hingegen – anders als das Crossman-Schema – keinen Inflationsschutz garantierte.82 Im Gegensatz zum Reformversuch der vorangegangenen Labour-Regierung, der von der Vorrangigkeit des öffentlichen Alterssicherungssystems ausgegangen war, billigte der Plan der Tories dem Markt den Primat gegenüber dem Staat zu. Das staatliche Reserveschema, hieß es im White Paper »Strategy for Pensions« von 1971, dürfe keineswegs zu großzügig angelegt sein, da »es in keiner Weise in Wettbewerb mit den betrieblichen Rentensystemen treten oder einen Ersatz für ihren Ausbau bilden soll«.83 Um die Attraktivität des staatlichen Systems zu senken, war daher auch vorgesehen, dass Arbeitnehmer ihre Beiträge zum State Reserve Scheme im Gegensatz zu jenen zu einem occupational pension scheme steuerlich nicht absetzen konnten. Hinter all dem stand bereits die erst unter Thatcher voll zum Durchbruch gelangende ideologische Neuorientierung der Tories, an der Joseph als Vordenker wesentlich beteiligt war: 80 Vgl. National Superannuation: Terms for Partial Contracting-out. 81 Vgl. zu diesem Absatz allg. Thornton, Richard Crossman and the Welfare State, S. 109– 168; ders., Case of Confusion; Fawcett, Privatisation, S. 158 f.; Hannah, Inventing Retirement, S. 59 f.; Ellis, Pensions, S. 21–36. 82 Vgl. Strategy for Pensions; Ellis, Pensions, S. 37–45. 83 Strategy for Pensions, S. 9.
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Der Markt erhielt unbedingten Vorrang vor staatlichen Lösungen; die Gesellschaft war nicht mehr als die Ansammlung eigenverantwortlich handelnder individueller Marktakteure. Soziale Sicherung, führte das White Paper hierzu aus, liege nicht »in der ausschließlichen Verantwortlichkeit der Regierung. Sowohl jeder einzelne als auch die Arbeitgeber sind wesentlich daran beteiligt. Pläne für die Zukunft der sozialen Sicherung sind Pläne für die Art von Menschen, die wir sein wollen, und für die Art von Gesellschaft, in der wir leben wollen.«84 Noch aber war die Zeit hierfür nicht reif – die Reform ging mit der konservativen Regierung in den Wahlen von 1974 unter, die wieder die Labour Party ans Ruder brachten. Angesichts der zahlreichen Anläufe zur Neuregelung der britischen Alters sicherung und vor dem Hintergrund der umfangreichen Reformen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen europäischen Ländern stellt sich die zentrale Frage, warum nach der Implementierung des Beveridge-Plans – sieht man einmal von der fiskalisch motivierten, in ihren sozialpolitischen Auswirkungen aber im Grunde völlig unerheblichen Einführung der State Gra duated Pension von 1959 ab – im Vereinigten Königreich über fast drei Jahrzehnte keine grundlegende Reform der Alterssicherung gelang, welche die evidenten Mängel des bestehenden Systems beseitigt hätte. Der in diesem Kontext naheliegende Hinweis auf die im Vergleich zur Bundesrepublik schlechtere ökonomische Entwicklung, die einen geringeren finanziellen Spielraum eröffnet habe, vermag nicht wirklich zu überzeugen. Zwar ist es richtig, dass Großbritannien in den Nachkriegsdekaden niedrigere wirtschaftliche Wachstumsraten als andere europäische Staaten aufwies und dass dies seit den späten 1950er Jahren zum Aufstieg eines Declinism-Diskurses führte, der den insbesondere ökonomischen Niedergang des Landes beschwor.85 Doch handelte es sich hierbei eben nur um einen relativen Niedergang bei positiven Wachstumsraten, die Großbritannien – und das macht die Ambivalenz seines »golden age« aus – gleichzeitig einen nie zuvor erreichten Wohlstand bescherten. Es war dieses, heute zunehmend auch von Historikern beachtete Hineinwachsen in eine »Affluent Society«,86 die den Premierminister Macmillan 1957 in Bedford zu seinem berühmt gewordenen Ausspruch »most of our people have never had it so good« veranlasste.87 Gegen eine primär ökonomische Erklärung spricht darüber hinaus auch, dass Labour eine weitreichende Reform schließlich Mitte der 1970er Jahre zu einem Zeitpunkt durchsetzte, als die wirtschaftliche Lage sich 84 Zit. nach Pat Healy, Most Employees Will Pay Twice to Get Two Pensions, in: The Times, 15.9.1971. 85 Vgl. Tomlinson, Economic ›Decline‹; ders., Thrice Denied; ders., ›Inventing Decline‹; ders., Politics of Decline; ders., Decline of Empire; Pemberton, Relative Decline. 86 Vgl. insbes. den Sammelband Black u. Pemberton (Hg.), Affluent Society. 87 20.7.1957, zit. nach Horne, Macmillan, S. 64.
134 You’ve never had it so good? nicht verbessert, sondern verschlechtert hatte und der Niedergangsdiskurs noch einmal an Dynamik gewann. Der Erklärungsbedarf wird umso dringender, wenn man bedenkt, dass der alarmistische Bevölkerungsdiskurs der Zwischenkriegszeit, unter dessen Einfluss Beveridge und seine Zeitgenossen in der Gründungsphase des britischen Wohlfahrtsstaats ganz gestanden hatten, angesichts des Babybooms zwischen 1955 und 1965 deutlich abebbte. Während noch der Bericht des Phillips Committees von 1954 über die »Economic and Financial Problems of the Provision for Old Age« das Bild einer schnell vergreisenden Bevölkerung zeichnete und wiederholt an die »Last des Alters« gemahnte,88 wichen die »früheren und alarmistischen Schätzungen der zukünftigen demographischen Entwicklung« unter dem Eindruck steigender Geburtenraten zeitweise optimistischeren Prognosen.89 Warum, ist abermals zu fragen, war in dieser Situation ein Reformprojekt wie »National Superannuation«, das in vielem der bundesdeutschen »Dynamischen Rente« von 1957 ähnelte und im gleichen Jahr von Labour unterbreitet wurde, politisch nicht durchzusetzen? Eine Erklärung, die bei einzelnen politischen Entscheidungen ansetzt, hat insbesondere auf vier eng miteinander verbundene Faktoren zu rekurrieren: 1. Einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung von Reformblockaden liefert das ursprünglich aus der ökonomischen Theorie stammende, inzwischen aber auch weit darüber hinaus und besonders in der Politikwissenschaft verbreitete Modell der Pfadabhängigkeit.90 Unter bestimmten Bedingungen – das ist der dabei leitende Gedanke – erzeugen politische oder ökonomische Entscheidungen positive Feedback-Schleifen, in deren Verlauf ein Fortschreiten auf dem einmal gewählten Weg immer wahrscheinlicher wird und dem Wechsel zu einer vormals möglichen Alternative immer größere Hindernisse entgegenstehen. Eine entscheidende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang institutionellen Arrangements mit ihren Konsequenzen insbesondere für die Herausbildung und Organisation von Interessen sowie für die Wahrnehmung von Problemen und alternativen Handlungsoptionen zu. Der Bereich der Alterssicherung kann in vielfacher Hinsicht als der locus classicus einer pfadabhängigen Entwicklungslogik gelten. Das liegt ganz wesentlich daran, dass in modernen kapitalistischen Volkswirtschaften nirgendwo sonst in einem solchen Umfang politisch begründete property rights geschaffen werden wie hier.91 Auch die Geschichte der staatlichen Rentenversicherung in Großbritannien in den drei Nachkriegs88 Report of the Committee on the Economic and Financial Problems of the Provision for Old Age, S. 33. Vgl. auch etwa ebd., S. 77 ff. 89 B. Abel-Smith, The Cost of the Support of the Aged. Vortrag auf dem 4. Kongress der International Association of Gerontology in Meran, 15.–19.7.1957, BLPES , Abel-Smith 14/7. 90 Vgl. nur Arthur, Increasing Returns; Paul, Path Dependence; Pierson, Politics, insbes. S. 17–53; Mahoney, Path Dependence. 91 Vgl. Myles u. Pierson, Comparative Political Economy, S. 305 f.
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jahrzehnten verweist deutlich auf ein lock-in, also ein »Einrasten« des direkt nach dem Weltkrieg geschaffenen Systems, das die Politikwissenschaftlerin Helen Fawcett dazu veranlasst hat, von einem »Beveridge Strait-jacket« zu sprechen.92 Zwar trat hier nach vergleichsweise kurzer Zeit offen zutage, dass auf der Grundlage eines Versicherungsschemas mit für alle Versicherten gleich hohen Beiträgen und Renten »keine substantielle Leistungsverbesserung möglich ist, ohne den am schlechtesten bezahlten Arbeitern eine erdrückende Last aufzulegen«.93 Angesichts der beharrlichen und erfolgreichen Weigerung des Treasury, seinen Anteil an der Finanzierung der Alterssicherung auszuweiten,94 war es dementsprechend auch klar, dass man im Rahmen des bestehenden Systems niemals zu einigermaßen auskömmlichen Renten gelangen konnte und dass ein Gutteil der Alten stets auf die bedürftigkeitsgeprüfte National Assistance angewiesen sein würde. Doch bedeutete die Einsicht in dieses im Beveridge-System angelegte Dilemma noch lange nicht, dass man in der Lage oder bereit gewesen wäre, die einmal getroffene institutionelle Wahl zu revidieren und auf eine andere, aussichtsreichere Form der Alterssicherung umzuschwenken. Dem stand zunächst einmal die Interessenlage der Altrentner und all jener entgegen, für die die Verrentung in den nächsten Jahren anstand. Die bundesdeutsche Rentenreform hatte diese Gruppe durch eine Reihe von Hilfs konstruktionen in das neue System überführt. Den Ansatzpunkt hierfür hatte das auch zuvor bestehende Prinzip von nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beiträgen dargestellt, auch wenn allen Fachleuten klar war, dass die »Beitragsgerechtigkeit«, die nun die unterschiedlich hohen Renten legitimierte, im Grunde auf vollständig fiktiven Beitragsbiographien beruhte (vgl. Kap. II.3). In Großbritannien bestand diese Möglichkeit aufgrund der hier verankerten Tradition von flat-rate contributions nicht. Die Einführung eines einkommensbezogenen Rentensystems, wie es etwa Labours National Superannuation darstellte, zielte daher in erster Linie auf die Generationen zukünftiger Rentner, die noch einen Gutteil ihres Erwerbslebenslaufs vor sich hatten. Eine Integration der Altrentner in ein solches neues Schema war dagegen nicht möglich, da die Auszahlung von unterschiedlich hohen, am früheren Erwerbseinkommen orientierten Renten vor dem Hintergrund der früher entrichteten Pauschalbeiträge als krasse Ungerechtigkeit erschienen wäre und daher auch nie in Betracht gezogen wurde. Angesichts dessen operierte die britische Politik auf dem Gebiet der Alters sicherung stets vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Zeithorizonte. Auf der einen Seite legte ihnen das antizipierte Interesse zukünftiger Genera92 Fawcett, Beveridge Strait-jacket. 93 Report of the Study Group on Security and Old Age. Provision for Old Age, Januar 1957, S. i, BLPES , Titmuss 1/10. 94 Vgl. hierzu Bridgen, Straitjacket.
136 You’ve never had it so good? tionen eine grundlegende Rentenreform nahe, deren positive Effekte aber erst in Jahrzehnten zum Tragen kommen würden. Auf der anderen Seite bildete in der Gegenwart die Forderung nach einer Erhöhung der Basic State Pension, die den existierenden Rentnern zugute kam, einen konstanten Faktor in der britischen Politik. Da die Alten ein beständig anwachsendes Wählerreservoir darstellten, erhielt dabei häufig die darüber hinaus leichter zu bewerkstelligende Anhebung der Pauschalrente den Vorrang. Paradigmatisch zeigte sich das 1964 bei der Heraufsetzung der flat-rate benefits durch die neue Labour-Regierung, die einen Großteil der politischen Energien auf dem Sektor der Alterssicherung absorbierte und maßgeblich dazu beitrug, die Vorlage eines ausgearbeiteten Vorschlags für eine umfassende Reform bis 1969 zu verzögern.95 2. Eine wichtige Rolle als bremsende Kraft im Prozess der Alterssicherungsreform – und auch das lässt sich als Aspekt einer pfadabhängigen Entwicklung deuten – spielten die britischen Gewerkschaften. Die teils ambivalente, teils reservierte und teils offen ablehnende Haltung des Trades Union Congress und verschiedener Einzelgewerkschaften gegenüber Labours National Super annuation-Plan und seinen Nachfolgern – und sie bildeten die einzigen zugleich politisch konkreten und umfassenden Alternativen zum existierenden System in den drei Nachkriegsdekaden – sind breit dokumentiert.96 Der retardierende Einfluss der britischen Gewerkschaften steht in deutlichem Kontrast zur Position der Arbeitnehmerorganisationen in anderen europäischen Ländern, wo diese die Ausweitung und Neuordnung der Alterssicherung entweder – wie in der Bundesrepublik – lebhaft begrüßten oder – wie etwa in den Niederlanden – aktiv vorantrieben. Für die Labour Party stellte die Haltung der Gewerkschaften ein besonderes Problem dar, da letztere durch die tief in der Gründungsgeschichte der Partei verankerte und bis 1993 währende Praxis des block vote die große Mehrheit der Stimmen in den wichtigsten Gremien – fünf Sechstel auf dem Parteitag, zwei Drittel im National Executive Committee – kontrollierten.97 Angesichts dessen blieb der Parteiführung überhaupt nicht anderes übrig, als die Wünsche der Gewerkschaftsvertreter umfassend zu berücksichtigen. Was aber waren die Gründe dafür, dass sich die britischen Gewerkschaften so zurückhaltend bis abweisend gegenüber der von den Labour-Vordenkern projektierten Rentenreform verhielten? Teils sich überlagernd, waren es im Grunde zwei verschiedene Motivationskomplexe, auf die sich die Opposition auf Gewerkschaftsseite zurückführen lässt. Auf der einen Seite standen jene, die an der noch auf die Zeit vor Beveridge zurückgehenden Tradition der 95 Vgl. Crossman, Diaries, Bd. 1, S. 276 f., Eintrag 17.7.1965. 96 Vgl. Oude Nijhuis, Rethinking; ders., Revisiting; ders., Labor Divided, bes. 68–80; Baldwin, Politics, S. 232 ff.; Pemberton, What Matters. 97 Vgl. Lowe, Welfare State, S. 91; Quinn, Block Voting.
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Einheitlichkeit von Beiträgen und Leistungen festhielten und sich daher gegen jede Form eines einkommensbezogenen Rentensystems wandten. Die institutionelle Prägung durch das Gleichheitsprinzip, das sich – wenigstens oberflächlich – gut in den ideologischen Haushalt der Arbeiterbewegung einpasste, hatte bereits in den ersten Sitzungen der Labour-internen Arbeitsgruppe zur Reform der Alterssicherung dazu geführt, dass der Gewerkschaftsvertreter C. R. Dale das gesamte Projekt einer einkommensorientierten Rente grundsätzlich in Frage stellte, indem er betonte, dass »der T. U. C. General Council nicht der Auffassung zustimmen könne, dass die ursprüngliche Basis des Rentensystems, namentlich eine Einheitsrente in Höhe eines angemessenen Existenzminimums, aufgegeben werden könne.«98 Erst nach längerer Zeit und mühsamer Überzeugungsarbeit setzte sich auch bei führenden Gewerkschaftsvertretern die Auffassung durch, dass die Pauschalsätze des überkommenen Systems eine Sackgasse darstellten. Der TUC sei »bereit, sich vom Prinzip des Einheitssatzes zu verabschieden aufgrund der harten Tatsachen, mit denen wir konfrontiert sind«, konnte dementsprechend der Vorsitzende seines Social Insurance Committee, Sir Alfred Roberts, auf der Labour-Parteikonferenz 1957 erklären und dem Reformvorschlag seine – wenn auch eher lauwarme – Zustimmung erteilen.99 Das bedeutete nun allerdings keineswegs, dass die Befürworter des Pauschalprinzips vollständig das Feld geräumt hätten. Noch Anfang der 1970er Jahre propagierte die Transport & General Workers’ Union, die zu diesem Zeitpunkt mit mehr als 1,5 Mio. Mitgliedern größte britische Gewerkschaft,100 unter der Führung ihres Generalsekretärs Jack Jones eine substantielle Anhebung der bestehenden Einheitsrente und ihre Kopplung an die allgemeine Lohnentwicklung. Gleichzeitig lehnte Jones die Aufgabe des Gleichheitsprinzips und die Einführung einer Rente nach dem Grundsatz der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz als zutiefst ungerecht ab: »Vor dem Hintergrund der massiven Spreizung der Einkommen in diesem Land würde ein solches System nur die Ungleichheit in die Alterssicherung hineinverlängern – es kann niemals gerechtfertigt werden, dass ein Arbeiter, weil er den größten Teil seines Arbeitslebens schlecht bezahlt wurde, später auch noch eine schlecht Rente erhalten soll.«101 Auf der anderen Seite war es aber ebenso die deutlich ausgeprägte redistributive Komponente von National Superannuation, die in Gewerkschaftskreisen Kritik auf sich zog. In diesem Fall freilich waren es weniger ideologische Überzeugungen als handfeste ökonomische Interessen, die die Gegner motivierten und deren Artikulation durch die spezifische Organisationsstruktur des briti98 Study Group on Security and Old Age, Minutes 4.7.1956, S. 2, BLPES , Titmuss 1/10. 99 Labour Party, Report of the 56th Annual Conference, S. 115. 100 Vgl. Mason u. Bain, Determinants, S. 335; http://www.unitetheunion.org/about_us/ history/history_of_the_tg/the_history_of_the_tg.aspx. 101 »What About the Pensioners?« By Jack Jones, General Secretary Transport & General Workers’ Union. A T. G. W. U. Pamphlet, o. D. (1973), BLPES , HD 7, A 30.
138 You’ve never had it so good? schen Gewerkschaftswesens befördert wurde. Im Gegensatz nämlich zu den zumeist vertikal nach Branchen organisierten und stärker zentralisierten Gewerkschaften in Kontinentaleuropa, in denen Argumente der Solidarität zwischen besser- und schlechterverdienenden Arbeitern eine größere Rolle spielten, zeigten die Gewerkschaften der Facharbeiter und besserverdienenden Angestellten im hochgradig partikularistischen und horizontal strukturierten britischen System wenig Neigung, Sozialversicherungen als Umverteilungsmaschinen zugunsten der ungelernten und schlechtbezahlten Arbeiter zu nutzen.102 Überdies erblickten sie in einem als Pflichtversicherung konzipierten National Super annuation-Schema eine existentielle Bedrohung für die occupational pensions, über die die meisten von ihnen, nicht aber die Mehrheit der schlechter gestellten Arbeiter, verfügten, und damit für ihre eigene Alterssicherung mit dem in ihr bereits angesammelten Kapital. Eine besondere Bedeutung im Kampf gegen die von Labour projektierte Rentenreform kam aufgrund ihrer hohen Mitgliederzahl der NALGO, der National and Local Government Officers’ Associa tion, zu, in der vor allem die white collar workers des öffentlichen Dienstes in Städten und Gemeinden organisiert waren. Als Reaktion auf das unter Crossmans Ägide entstandene White Paper von 1969 etwa trat die NALGO, damals mit ca. 400.000 Mitgliedern die viertgrößte Gewerkschaft Großbritanniens, mit einer ausführlichen Stellungnahme hervor, in der sie zu dem Schluss kam, »dass die Vorschläge der Regierung dazu führen können, dass die Alterssicherung des öffentlichen Dienstes ernsthaft Schaden nimmt, ohne dass sie durch entsprechende, geschweige denn bessere Leistungen ersetzt wird«.103 Gleichzeitig wandte sich Walter Anderson, der Generalsekretär von NALGO, energisch gegen die »dem staatlichen System eingeschriebene Umverteilung der Einkommen«.104 Die kontinuierliche Opposition der Gewerkschaften der privilegierten Angestellten und Facharbeiter gegen die Reformpläne der Labour Party führten innerhalb des TUC zu immer wieder aufflammenden Konflikten mit den Verbänden der schlechtergestellten Arbeitnehmer, unter denen Betriebsrenten wenig verbreitet waren. Die zum Teil heftigen Kontroversen hatten zur Folge, dass der Dachverband in der Rentenfrage zeitweise wie gelähmt erschien. Zugleich schlug sich die Suche nach verbandsinternen Kompromissen darin nieder, dass der TUC wiederholt auf die Entschärfung der Labour-Reformpläne im Sinne einer Reduktion ihrer Umverteilungswirkungen und möglichst großzügiger contracting out-Möglichkeiten drang.105 102 Vgl. Oude Nijhuis, Rethinking; ders., Revisiting; ders., Labor Divided. 103 National and Local Government Officers’ Association, National Superannuation, S. 2. Vgl. auch Crossman, Diaries, Bd. 3, S. 638, Eintrag 10.9.1969. 104 Walter Anderson, Why NALGO Opposes the Pension Plan, in: Tribune Magazine, 14.11.1969. 105 Vgl. hierzu eingehend Oude Nijhuis, Rethinking; ders., Revisiting; ders., Labor Divided.
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3. Das Wachstum der occuptional pensions und mit ihnen der privaten Ver sicherungswirtschaft bildet einen weiteren zentralen Faktor, wenn es um die Erklärung des Reformstillstands in der britischen Alterssicherung geht. Gleichzeitig bildet es zusammen mit seinen Auswirkungen einen weiteren Beleg für positive Feedback-Effekte einmal getroffener Entscheidungen, die das Rückgrat jeder pfadabhängigen Entwicklung darstellen. Die Betriebsrentenbewegung war in den 1950er Jahren in das Vakuum hineingestoßen, welches das BeveridgeSystem in der Absicherung für das Alter – denkt man jedenfalls an seinen geistigen Vater – durchaus absichtlich gelassen hatte. Parallel zur Verbreitung der occupational pensions hatte sich die private Versicherungsindustrie in Groß britannien zu einem erstrangigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Zugleich verfügten die Versicherer mit der Life Offices’ Association (LOA) über eine bestens organisierte Interessenvertretung mit einem äußerst effektiven Lobbying-Apparat. Als die Labour Party 1957 mit ihren Plänen für ein National Superannuation-Schema hervortrat, lancierte die LOA umgehend eine großangelegte Medienkampagne, die darauf abzielte, die Reformvorschläge zu diskreditieren. Ein zentraler Vorwurf war dabei – und hier griff man eine Kritik auf, die auch von Premier Macmillan und anderen Konservativen vorgebracht wurde –, dass der im Labour-Plan vorgesehene Investmentfonds, in dem die Beiträge akkumuliert werden sollten, nichts anderes als ein getarntes Instrument zur Verstaatlichung der britischen Wirtschaft »durch die Hintertür« sei.106 Wie weit diese Behauptung tatsächlich den Intentionen der Labour-Parteiführung entsprach, ist schwer zu rekonstruieren. Auf dem Parteitag 1957 wurden zwar sowohl der Rentenreformplan als auch die Programmschrift »Industry and Society« diskutiert, die eine Verstaatlichung im Prinzip verteidigte, doch gab es keine expliziten Verbindungen zwischen beiden.107 Das Problem war freilich, dass eine solche Verknüpfung angesichts Labours Haltung in der Verstaatlichungsfrage und des Fehlens konkreter Aussagen über die Investitionsausrichtung des Alterssicherungsfonds nahelag. Die von der Versicherungswirtschaft wesentlich mitinitiierte Kampagne mit dem Ziel, »nationalization« und »National Super annuation« assoziativ zu verketten, war daher erfolgreich. Indem es ihr gelang, das negative Image des ersten – laut einer Gallup-Umfrage von 1957 befürworteten nur noch 18 % der Briten eine weitere Verstaatlichung – auf das zweite zu projizieren, trug die Versicherungsindustrie auf diese Weise nicht nur zur Diskreditierung des Rentenreformprojekts bei, sondern ebenso zur Niederlage der Labour Party bei den Unterhauswahlen von 1959.108 106 Restrictive Practices »Out of Date,« Says Mr. Macmillan, in: The Times, 3.6.1957. Hierzu und zur LOA-Kampagne insgesamt: Pemberton, What Matters, S. 47. 107 Labour Party, Industry. Vgl. Morgan (Hg.), Backbench Diaries, S. 605; Baldwin, Politics, S. 237; Pemberton, Failure, S. 1436. 108 Gallup (Hg.), Gallup, Bd. 1, S. 413. Vgl. Pemberton, Failure; ders., What Matters.
140 You’ve never had it so good? Das intensive Lobbying der Interessenverbände der Versicherungswirtschaft war aber nur die eine Dimension der positiven Feedback-Schleife, die durch das Beveridge-System und den von ihm geschaffenen Raum für occupational pensions angestoßen worden war. Ihre andere Komponente war das neuartige Interessenaggregat, das durch die immense Ausweitung der in privatrechtlichen Rentenversicherungsverträgen gebundenen Eigentumsrechte auf der Seite der Arbeitnehmer entstanden war. Bereits 1956 gab es in Großbritannien 8 Mio. occupational pensions. Infolge der durch das Boyd-Carpenter-Schema von 1959/61 in Gang gesetzten Dynamik stieg diese Zahl bis 1967 auf 12,2 Mio. an. Fast das gesamte Wachstum – von 4,3 auf 8,1 Mio. – ging dabei auf das Konto der Privatwirtschaft und damit auch der Versicherungsindustrie, während die Anzahl der Mitglieder von Zusatzrentensystemen des öffentlichen Dienstes einigermaßen stabil bei ca. 4 Mio. blieb.109 Ungefähr die Hälfte der britischen Arbeitnehmer, bedeutete das, hätte Mitte der 1960er Jahre einen Teil ihrer Alterssicherung verlieren können, wenn Labour sein Rentenreformprogramm ohne Ausstiegsklausel durchgesetzt hätte und in der Folge viele private Schemata mangels nachwachsender Mitglieder zugrunde gegangen wären. Diese Gefahr bot nicht nur den Ansatzpunkt für eine »cross-class alliance«110 zwischen den Interessenverbänden der Versicherungswirtschaft und den Gewerkschaften gegen die Einführung eines einkommensbezogenen Rentensystems. Sie beschäftigte zunehmend auch die um ihre Wahlchancen fürchtende Labour-Spitze und führte zur Entwicklung der beschriebenen, eher partnerschaftlichen Haltung gegenüber der Versicherungsbranche. »Falls wir keine speziellen Regelungen für die Betreiber der privatwirtschaftlichen Rentensysteme getroffen hätten«, beschrieb Crossman die Situation Ende der 1960er Jahre, »hätten sie ihren Mitgliedern gesagt, dass die böse Labour-Regierung sie ihrer Renten beraubt hätte. Das war politisch tatsächlich sehr, sehr gefährlich«.111 Der bereits erreichte Bestand an occupational pensions, lässt sich das zusammenfassen, bildete selbst einen Faktor, dem jede Reform Rechnung tragen musste und der einen grundlegenden Systemwechsel in der Alterssicherung immer unwahrscheinlicher machte. 4. Schließlich trat ein Umstand hinzu, der nicht im Sinne einer sich selbst verstärkenden Dynamik auf dem einmal eingeschlagenen Pfad wirkte, sondern diesen von außen stabilisierte. Er wird besonders deutlich, wenn man die Situation in Großbritannien mit jener in der Bundesrepublik vergleicht, wo sich die beiden großen Parteien spätestens seit der Mitte der 1950er Jahre sowohl über die Notwendigkeit als auch über die Grundprinzipien einer umfassenden Rentenreform weithin einig waren (vgl. Kap. II). Auch für das Vereinigte Königreich 109 Hannah, Inventing Retirement, S. 145. 110 Pemberton, Failure. 111 Crossman, Politics of Pensions, S. 20.
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ist die Existenz eines post-war consensus zwischen Konservativen und L abour Party behauptet worden, der, aus der nationalen Solidaritätserfahrung im Weltkrieg hervorgegangen, die parteiübergreifende Akzeptanz des Wohlfahrtsstaats, einer gemischten Wirtschaftsordnung und einer keynesianischen Wirtschaftspolitik umfasst habe und letztlich erst seit der Mitte der 1970er Jahre durch die neoliberale Neuausrichtung der Tories sein Ende gefunden habe.112 Sollte ein solcher Konsens tatsächlich existiert haben, war es, jedenfalls was den Bereich der Alterssicherung anbelangt, ein auf die Erhaltung des Bestehenden ausgerichteter negativer Minimalkonsens, der darauf beruhte, dass auch die Tories aus Angst vor massiven Wahlstimmenverlusten nicht wagten, das mit dem National Insurance Act von 1946 Erreichte infragezustellen. Was dagegen die Ausgestaltung einer »guten« Altersversorgung und damit ein positives Reformprogramm anging, lagen die Vorstellungen von Labour und Konservativen meilenweit auseinander. Das zeigte sich nicht nur am Mangel gemeinsamer Initiativen, sondern auch daran, dass die gerade ins Amt gelangte dritte WilsonRegierung 1974 die konservative Reform des Vorjahres ebenso sofort annullierte, wie das die Heath-Regierung mit der Labour-Reformvorlage von 1969 getan hatte. Labours bereits geschildertes Programm, durch die Einführung eines großangelegten staatlichen Alterssicherungssystems mit Einkommensbezug nicht nur zukünftigen Rentnergenerationen die Sicherung ihres einmal erreichten Lebensstandards zu ermöglichen, sondern zugleich auch ein Mehr an sozialem Ausgleich zu erreichen, war den Tories Anathema. Das galt sowohl für das Vordringen staatlicher Gestaltungsmacht, das dem Labour-Vorschlag eingeschrieben war, als auch für das Gleichheitsideal, das hinter seiner redistributiven Komponente stand. Zwar lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass es problematisch ist, dem politischen Wertekanon der britischen Linken eine klar konturierte konservative »Ideologie« entgegenzusetzen, da die Heterogenität verschiedener Strömungen in den Reihen der Tories groß war und sie ohnehin eher einer pragmatischen Vorgehensweise zuneigten als ihr Handeln an programmatischen Entwürfen zu orientieren.113 Doch lässt sich fraglos eine Reihe von »Grunddispositionen« oder Ideen herauspräparieren, welche – im Sinne Michael Freedens114 – den Kern der konservativen Ideologie nach dem Zweiten Weltkrieg – und darüber hinaus – ausmachten und als solche den unterschiedlichen Schattierungen des Konservatismus gemeinsam waren. Zu diesen Kernideen gehörten, neben anderen, der Glaube an individuelle Freiheit und Selbstverantwortung sowie die Überzeugung vom Wert des Privateigentums und von 112 Vgl. nur Dutton, British Politics; Addison, Road to 1945; Kavanagh u. Morris, Consensus Politics. Kritik: Jones u. Kandiah (Hg.), Myth; Pimlott, Myth. Vgl. auch Fraser, Postwar Consensus; Butler, End. 113 Vgl. Page, Conservative Party; ders., Clear Blue Water; Charmley, History. 114 Vgl. Freeden, Ideologies.
142 You’ve never had it so good? der Überlegenheit marktwirtschaftlicher gegenüber staatlichen Lösungen.115 Auf diese Grundüberzeugungen lassen sich, bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen, alle konservativen Stellungnahmen zur Alterssicherung ebenso wie die von den Tories entwickelten Reformvorschläge zurückführen. Gleichzeitig offenbart ihre Analyse, wie tief die Kluft zwischen den Konservativen und Labour in der Rentenfrage sowohl in der sozialpolitischen Praxis als auch im ideologischen Kern war. Das gilt auch und gerade für die Haltung der One Nation Group, einer informellen Gruppe von progressiven Tories im Unterhaus, die nach dem Zweiten Weltkrieg die ideologische Modernisierung ihrer Partei betrieb und der für die 1950er und 1960er Jahre ein zunehmend beherrschender Einfluss innerhalb des britischen Konservatismus zugeschrieben wird.116 In ihrem 1950 publizierten »Gründungsmanifest« »One Nation. A Tory Approach to Social Problems«, das in seinem Titel auf die mythologisierte Gestalt Disraelis und seine Verurteilung des Auseinanderfallens der britischen Gesellschaft in Arm und Reich Bezug nahm und beanspruchte, eine eigenständige konservative sozialpolitische Agenda zu formulieren, erklärten die Autoren emphatisch: »Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Konservativen und Sozialisten in Fragen der Sozialpolitik. Sozialisten würden jedem die gleichen Leistungen zukommen lassen, ob er der Hilfe bedarf oder nicht, und egal, ob das Land sich das leisten kann oder nicht. Wir glauben, dass wir zuerst jenen helfen müssen, die bedürftig sind. Sozialisten glauben, dass der Staat einen Durchschnittsstandard bereitstellen soll. Wir glauben, dass er einen Mindeststandard sichern soll, den zu überflügeln die Menschen frei sein sollten, soweit ihr Fleiß, ihre Sparsamkeit, ihre Fähigkeit oder ihre Begabung sie trägt.«117 Damit waren zwei eng miteinander verbundene Bestandteile benannt, die die sozialpolitische Linie der Tories im allgemeinen ebenso charakterisierten wie ihre Position in der Frage der Alterssicherung im Besonderen. Erstens waren sich praktisch alle Konservativen – auch jene, die den Wohlfahrtsstaat grundsätzlich bejahten – darin einig, dass der Staat lediglich eine knapp bemessene Mindestversorgung gewährleisten sollte – das galt für die Alten, aber auch für alle anderen Transferempfänger. Die Befürchtung, dass der Staat andernfalls die Eigenverantwortung und den familiären Zusammenhalt unterminieren könnte, war ein in diesem Kontext häufig gebrauchtes Argument.118 115 Vgl. Page, Conservative Party, S. 119; Araki, Ideas. 116 Vgl. Walsha, One Nation Group: A Tory Approach; ders., One Nation Group and One Nation Conservatism; Seawright, One Nation; Bridgen, One Nation Idea; Bochel, One Nation Conservatism. 117 One Nation, S. 9. 118 So etwa im Wahlprogramm der Konservativen von 1964: »In organising social security the State ought not to stifle personal and family responsibilty« (http://www.politics resources.net/area/uk/man/con64.htm).
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Mit der Betonung eines auf die Grundversorgung beschränkten Sozialstaatsverständnisses einher ging bei den Konservativen – und hier spielte die ansteigende finanzielle Belastung durch die Altersrenten eine nicht zu unterschätzende Rolle – eine im Zeitverlauf zunehmende Zustimmung zum Bedürftigkeitsprinzip. Mit großer Deutlichkeit trat diese Position bereits in einer 1952 veröffentlichten Schrift von zwei Mitgliedern der One Nation Group, Ian Macleod und Enoch Powell, hervor. Die entscheidende Frage, führten die beiden Autoren aus, sei nicht »›Soll eine bestimmte wohlfahrtsstaatliche Leistung mit einem Bedürftigkeitstest verbunden sein?‹«, sondern vielmehr »›Warum soll überhaupt eine Leistung ohne eine Überprüfung der Bedürftigkeit zur Verfügung gestellt werden?‹«. In den Folgejahren war es insbesondere das 1955 gegründete Institute of Economic Affairs, der späterhin einflussreichste neoliberale think tank in Großbritannien, das die Idee einer Umstellung des universalen auf einen selektiven Wohlfahrtsstaat, in dem lediglich jene, die aus eigener Kraft nicht dazu in der Lage waren und sich einem Bedürftigkeitstest unterwarfen, Sozialleistungen erhalten sollten, unter den Konservativen popularisierte.119 Ironischerweise gab ausgerechnet die »Wiederentdeckung« der Armut durch Abel-Smith und Townsend, die mit 1965 darüber hinaus auch noch in die Zeit einer von Labour geführten Regierung fiel, dem Konzept der Konzentration auf eine gezielte Armutsbekämpfung einen neuen Schub, da sie die Defizite des bestehenden Systems scharf zutage treten ließ. Dennoch muss festgestellt werden, dass sich die Hinwendung der Konservativen zum Bedürftigkeitsprinzip in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht in konkreten politischen Maßnahmen niederschlug und erst unter der Regierung Heath (1970–1974) erste Ansätze hierzu erkennbar sind.120 Die zunehmende diskursive Prominenz der Idee des targeting in den Kreisen der Tories und darüber hinaus bildete aber den unverzichtbaren Nährboden für spätere Entwicklungen. Die positive Kehrseite der begrenzten Rolle des Staates in der Altersvorsorge bildete für die Konservativen, zweitens, der dadurch eröffnete Möglichkeitsraum für eine eigenverantwortliche und individuell unterschiedliche Absicherung des einzelnen durch occupational pensions und weitere private Zusatzrenten. Die Förderung der betrieblichen und privaten Alterssicherung durchzieht alle konservativen Maßnahmen und Reformversuche seit den frühen 1950er Jahren – von der steuerlichen Vorzugsbehandlung der Beiträge zu occupational pensions bis zur Erleichterung des Ausstiegs aus dem staatlichen Rentensystem. Auch die programmatischen Stellungnahmen der Tories feierten kontinuierlich die individuelle Absicherung über die vom Finanzsektor angebotenen Renten119 Vgl. Deacon u. Bradshaw, Reserved for the Poor, S. 56 ff., die die Gründung des Institute of Economic Affairs fälschlicherweise auf 1957 datieren. 120 Vgl. Bochel, One Nation Conservatism; Deacon u. Bradshaw, Reserved for the Poor, S. 51–97.
144 You’ve never had it so good? versicherungen als die einzige mit den konservativen Idealen der Freiheit, des Marktes und der Eigenverantwortung übereinstimmende Form der Altersvorsorge. »Wir glauben, dass jeder die Gelegenheit haben sollte, eine am früheren Einkommen orientierte Rente zu erlangen«, heißt es beispielsweise im konservativen Wahlprogramm von 1970, »aber im Gegensatz zur Labour Party ist es unsere Auffassung, dass dies für die große Mehrheit der Menschen durch die Ausweitung und die Verbesserung von betrieblichen Rentensystemen erreicht werden kann und sollte«.121 Die klare Privilegierung privatwirtschaftlicher Lösungen durch die Tories hatte zur Folge, dass es für den Bereich der staatlichen Alterssicherung seit der Mitte der 1950er Jahre zu einer paradoxen Verkehrung der eigentlich von den beiden großen Parteien favorisierten und scharf konfligierenden Gerechtigkeitsprinzipien kam. Während Labour nolens volens für die Einführung eines einkommensbezogenen und damit im Grundsatz leistungsgerechten Systems optierte, um auf diese Weise ein ausreichendes Beitragsvolumen zu generieren, das dann auf redistributivem Wege die Herstellung von mehr materieller Gleichheit unter den Alten ermöglichen sollte, hielten die Konservativen, ebenfalls eher à contrecœur, möglichst weitgehend am Gleichheitsprinzip des Beveridge-Systems fest, da erst die damit verbundenen Niedrig renten den von ihnen gewünschten Entfaltungsraum für das Leistungsprinzip im Bereich der privaten Altersvorsorge eröffnete.
4. Die Einführung von SERPS Schließlich kam die Reform doch. Nachdem die Unterhauswahlen im Februar 1974 zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg (und zum letzten Mal bis 2010) ein hung parliament, also keine klaren Mehrheitsverhältnisse, ergeben hatten und die neue Labour-Minderheitsregierung ihre Arbeit aufgenommen hatte, war die frischgebackene Secretary of State for Social Services, Barbara Castle, fest entschlossen, nicht den Fehler der letzten Labour-Regierung zu wiederholen, die Neuordnung der Alterssicherung auf die lange Bank zu schieben. Mit tatkräftiger Unterstützung insbesondere von Brian O’Malley, ihres Ministers of State, und von Brian Abel-Smith, der genau wie schon zuvor bei Crossman als einflussreicher Berater fungierte,122 gelang es ihr, bereits vor den Neuwahlen im Oktober 1974 im White Paper »Better Pensions« die Reformpläne der Regierung darzulegen. Da die Labour Party aus den Wahlen mit einer hauchdünnen Mehrheit von drei Stimmen hervorging, konnte Castle ihre Arbeit weiterführen und dem Unterhaus im Februar 1975 den Gesetzentwurf zur Renten121 Conservative Party General Election Manifesto 1970 (http://www.politicsresources.net/ area/uk/man/con70.htm). 122 Peter Townsend, Obituary: Professor Brian Abel-Smith, in: The Independent, 9.4.1996.
Die Einführung von SERPS 145
reform unterbreiten. Überraschenderweise zeichnete sich im Parlament schon bald ab, dass die konservative Opposition bereit war, den »tiefgreifenden und das Land durchziehenden Streit über den besten Weg zur Reform unseres Rentensystems« einstweilen beizulegen und zu einer weitgehend konsensualen Lösung zu gelangen.123 Nach zwei gescheiterten Reformversuchen waren die meisten Abgeordneten des Dauerkonflikts um die Alterssicherung müde und ließen die Bereitschaft erkennen, eine langjährige Blockadesituation zu überwinden, die dazu führte, ein von allen Seiten als unzulänglich erkanntes System zu perpetuierten. »Dies ist die dritte große Rentenreformvorlage in den letzten sechs Jahren«, bekannte etwa der Konservative Paul Dean, »und viele von uns … hoffen, dass aller guten Dinge drei sind. … Wir können einfach so nicht weitermachen. Während eine Besetzung von Politikern ein Rentensystem entwirft und ihre Nachfolger es abwracken, sind es die Rentner, die die Hauptleid tragenden sind.«124 Noch wichtiger als der Erschöpfungszustand bei vielen Parlamentariern dürfte gewesen sein, dass die Regierung von Beginn an die Interessenverbände auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite konsultiert hatte und sich am Ende ihrer grundlegenden Zustimmung sicher sein konnte.125 Auch den Interessen der Versicherungsindustrie – hierzu gleich noch mehr – kam der Gesetzentwurf in entscheidenden Punkten entgegen. Von ähnlicher Bedeutung wie diese Konzessionen war für die Versicherungswirtschaft, dass eine prinzipiell von beiden großen Parteien getragene Reform der Alterssicherung endlich jene Stabi lität der Rahmenbedingungen zu schaffen versprach, die sie für eine gedeihliche Geschäftsentwicklung dringend benötigte. Die Interessen des Versicherungssektors und der Arbeitgeber, bekannte Norman Fowler, später Sozialminister im Kabinett Thatcher, seien ausschlaggebend für die kompromissbereite Haltung der Tories. Einhellig verträten Versicherer und die Confederation of British Industry (CBI) die Ansicht, dass man ein Stadium erreicht habe, »wo wir nicht schon wieder einen Plan geopfert sehen wollen«.126 »Wir haben im Parlament nicht dagegen gestimmt«, berichtete er später in einem Interview; »ich glaube, die Versicherungsindustrie hätte sich die Haare ausgerauft, wenn wir das getan hätten«.127 Das Gesetz zur Einführung des State Earnings-Related Pension Scheme (SERPS) trat im August 1975 in Kraft. Nach einer Vorbereitungszeit von knapp drei Jahren nahm das neue System im April 1978 den Betrieb auf. In Übernahme einer Regelung des von den Konservativen verabschiedeten und von Labour so123 Barbara Castle, HC , Bd. 888, 1486 (18.3.1975). 124 Paul Dean, HC , Bd. 888, 1529 f. (18.3.1975). 125 Vgl. Barbara Castle, HC , Bd. 888, 1487 (18.3.1975); Brian O’Malley, HC , Bd. 888, 1571 f. (18.3.1975). 126 Norman Fowler, HC , Bd. 888, 1513 (18.3.1975). 127 Zit. nach Timmins, Five Giants, S. 350. Vgl. auch Ellis, Pensions, S. 46–56.
146 You’ve never had it so good? fort demontierten Joseph-Schemas, bedeutete SERPS auf der Finanzierungsseite den vollständigen Übergang zu einkommensproportionalen Beiträgen, von denen die Arbeitgeber den deutlich größeren Anteil zu entrichten hatten.128 Auf der Leistungsseite – hier stand SERPS ganz in der Tradition der National Super annuation-Pläne – orientierte sich das neue Rentensystem einerseits an Beitrags- und Einkommenshöhe, trug aber andererseits klar redistributive Züge. Konkret bedeutete das, dass man an der bisherigen Basic State Pension festhielt und ihr nun die Funktion einer Mindestrente zuwies. Darüber hinaus sollte jeder Versicherte mit einem wöchentlichen Einkommen zwischen £ 11,60 und £ 81,20 (Wert 1975) als Gegenleistung für seine Beiträge eine Zusatzrente in Höhe von 25 % seines Gehalts erzielen. Diese Konstruktion hatte zur Folge, dass die aus beiden Komponenten bestehende Gesamtrente mit steigendem Einkommen eine sinkende Lohnersatzrate aufwies: Während eine unterdurchschnittlich verdienende alleinstehende Person mit einem Einkommen von wöchentlich £ 30 später eine Rente in Höhe von 54 % ihres Bruttoeinkommens erhalten sollte (£ 16,20), belief sich die Ersatzrate bei jemandem, der £ 81,20 verdient hatte, lediglich auf 36 % (£ 29).129 Völlig zu Recht sah das White Paper von 1974 hierin »einen Umverteilungseffekt des Systems zugunsten der Geringverdiener«.130 Zugunsten der minderprivilegierten Arbeitnehmer mit unterbrochenen Erwerbslebensläufen oder im Zeitverlauf stark schwankenden Einkommen wirkte sich zudem die Regelung aus, derzufolge lediglich die 20 Jahre mit dem höchsten Einkommen zur Berechnung der Zusatzrentenkomponente herangezogen werden sollten. Die 20-Jahres-Regelung kam ebenfalls Frauen zugute, die zeitweise aus dem Beruf ausschieden, um Kinder aufzuziehen oder sich der Pflege von Angehörigen zu widmen. Überhaupt tat die Labour-Regierung viel, um die Schlechterstellung von Frauen in der Alterssicherung zu vermindern. Im Einklang mit dem Internationalen Jahr der Frau 1975, erklärte Barbara Castle in einer Broschüre zur Rentenreform emphatisch, habe man »die Behandlung von Frauen als zweitklassige Staatsbürger mit drittklassigen Sozialleistungen« auf gesetzgeberischem Wege beendet.131 Prinzipiell wurden Frauen im neuen System den Männern gleichgestellt, konnten aber weiterhin nicht mit 65, sondern mit 60 in 128 Better Pensions. Fully Protected Against Inflation. Proposals for a New Pensions Scheme, Cmd. 5713, London 1974, S. 4, 9 f., NA , PIN 35/453/1. 129 Pensions: Britain’s Great Step Forward. An Easy-to-read Summary of the Main Points of the Pension Scheme in the Social Security Pensions Act 1975, o. D. (1975), S. 7, NA , PIN 35/453/1. 130 Better Pensions. Fully Protected Against Inflation. Proposals for a New Pensions Scheme, Cmd. 5713, London 1974, S. 3, NA , PIN 35/453/1. 131 Pensions: Britain’s Great Step Forward. An Easy-to-read Summary of the Main Points of the Pension Scheme in the Social Security Pensions Act 1975, o. D. (1975), NA , PIN 35/453/1.
Die Einführung von SERPS 147
Rente gehen – als Ausgleich für die niedrigeren Löhne, die sie ihr Leben lang erhalten hätten, und für die Ausbeutung, die ihnen widerfahren sei, wie Castle im Unterhaus ausführte.132 Vorteilhaft für Frauen – sowohl im Verhältnis zu früheren Labour-Vorschlägen als auch im internationalen Vergleich – war schließlich auch, dass Witwen nicht einen Teil, sondern die volle Rente ihres verstorbenen Ehemanns erhielten.133 Eine der wichtigsten Neuerungen von SERPS lag in der automatischen »Dynamisierung« der Rentenleistungen. Waren Rentenerhöhungen zuvor von Fall zu Fall vom Parlament verabschiedet worden, wurde jetzt die Grundrente gesetzlich an die Entwicklung der Durchschnittslöhne gekoppelt. Auch die Beiträge zur Zusatzrente wurden bis zum Renteneintritt dem Wachstum der Löhne entsprechend aufgewertet; für die Zeit danach galt dann nur noch ein automatischer Inflationsausgleich. Anders als in der Bundesrepublik, aber ebenso, wie das alle bisherigen Reformpläne in Großbritannien vorgesehen hatten, sollte SERPS schrittweise das bisherige System ablösen, da die Ansprüche auf die einkommensabhängige Zusatzrente sich erst langsam aufbauten. Die erste volle Rente aus dem State Earnings-Related Pension Scheme sollte dementsprechend erst 1998 ausgezahlt werden. Bei allen Innovationen, die SERPS brachte, trug es doch gleichzeitig auch – und das war eine Grundbedingung seiner Durchsetzung – an entscheidenden Punkten der Pfadabhängigkeit in der britischen Alterssicherung Rechnung. Dazu zählte zunächst einmal die Tatsache, dass es das bisherige System nicht vollständig substituierte, sondern die Pauschalrente beibehielt und ihr die einkommensabhängige Rente als zusätzliche Lage beifügte. Zugleich berücksichtigte die Labour-Regierung die Interessen der Altrentner, die bei den bevorstehenden Neuwahlen im Herbst 1974 eine wichtige Wählergruppe darstellten, indem sie noch vor dem Urnengang die Basic State Pension signifikant anhob.134 Die Erhöhung um fast 30 %, die um mehr als das Doppelte über einem reinen Inflationsausgleich lag, hatte zur Folge, dass die britische Pauschalrente, gemessen an den Durchschnittslöhnen, 1974 mit 23,6 % den höchsten Stand der Nachkriegszeit erreichte – auch wenn das im internationalen Vergleich immer noch bitter wenig war.135 132 Barbara Castle, HC , Bd. 888, 1494 (18.3.1975). 133 Diese Bestimmung galt für Witwen über 50 Jahre und altersunabhängig für Witwen mit Kindern. Vgl. Pensions: Britain’s Great Step Forward. An Easy-to-read Summary of the Main Points of the Pension Scheme in the Social Security Pensions Act 1975, o. D. (1975), S. 12, NA , PIN 35/453/1. 134 Bei der Anhebung der Rente von £ 7,75 auf £ 10 für Alleinstehende und von £ 12,50 auf £ 16 für Ehepaare handelte es sich um die Einlösung eines Wahlversprechens der Labour Party. Vgl. National Superannuation. Memorandum by the Secretary of State for Social Services, 26.7.1974, NA , CAB 129/178/9. 135 Vgl. Ellis, Pensions, S. 59.
148 You’ve never had it so good? Der zweite Punkt, in dem die Labour-Regierung weitreichende Konzessionen an den Pfad machte, den die britische Alterssicherung nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlagen hatte, betraf die occupational pensions. Die Hoffnung, die die Initiatoren von National Superannuation in den 1950er Jahren gehegt hatten, dass ein großzügiges staatliches Rentensystem allmählich die privaten Anbieter vom Markt verdrängen würde, war im Folgejahrzehnt – das zeigte Crossmans Gesetzesvorlage von 1969 deutlich – einer kompromissbereiten Haltung gewichen. Zu verbreitet waren inzwischen die occupational pensions, zu groß der Einfluss der Versicherungsindustrie, als dass man hätte daran denken können, das Rad noch einmal grundsätzlich zurückzudrehen. Diese Einsicht war auch bei der Einführung von SERPS leitend. »Partnerschaft mit betrieblichen Rentensystemen« war nun das Motto.136 Ein partieller Ausstieg aus dem öffentlichen System blieb nach wie vor möglich, wenn die Betriebsrente in ihren Leistungen der staatlichen Zusatzrente bei Renteneintritt mindestens gleichkam. Bei der Erfüllung von darüber hinausgehenden Bedingungen, die sich aus einer Anpassung an SERPS ergeben hätten, kam der Staat dagegen der Versicherungswirtschaft weit entgegen. Das galt zum einen besonders für den Inflationsschutz nach Rentenbeginn, den nicht die Versicherungen zu leisten hatten, sondern der Staat garantierte. Zum anderen traf es auf die neue und verbesserte Witwenversorgung zu, welche die occupational pensions nur zur Hälfte zu gewährleisten hatten und die dann für die Betroffenen aus öffentlichen Mitteln auf SERPS Höhe aufgestockt wurde. In beiden Fällen griff nun der Staat bzw. der National Insurance Fund der Versicherungswirtschaft unter die Arme, indem er einen Gutteil des Sicherungsrisikos übernahm. Fragt man an dieser Stelle noch einmal, warum ausgerechnet in der Mitte der 1970er Jahre eine Rentenreform gelang, die seit zwei Jahrzehnten auf der politischen Agenda stand, gilt es außer auf die spezifische, dem überkommenen Regime der britischen Alterssicherung Rechnung tragende Konstruktion der Neugestaltung und auf die eingangs des Kapitels geschilderten politischen Rahmenbedingungen insbesondere auf zwei weitere Faktoren zu verweisen. Der erste war institutioneller Natur. Im Zuge einer in den frühen 1960er Jahren beginnenden grundlegenden Umstrukturierung des britischen Regierungsapparates war 1968 beschlossen worden, das Gesundheitsministerium und das Ministry of Pensions and National Insurance zum Department of Health and Social Security zu vereinen. Dieses neue, erst Anfang der 1970er Jahre Form gewinnende »Superministerium« verlieh nun der ihm vorstehenden Secretary of State, Barbara Castle, eine Prominenz und Machtposition am Kabinettstisch, 136 Better Pensions. Fully Protected Against Inflation. Proposals for a New Pensions Scheme, Cmd. 5713, London 1974, S. 14, NA , PIN 35/453/1; Pensions: Britain’s Great Step Forward. An Easy-to-read Summary of the Main Points of the Pension Scheme in the Social Security Pensions Act 1975, o. D. (1975), S. 13, NA , PIN 35/453/1.
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welche die früheren Minister für Soziales nie besessen hatten und die sie nutzen konnte, um die Reform der Alterssicherung mit Nachdruck voranzutreiben.137 Der zweite Faktor, der für die Durchsetzung der Rentenreform eine wichtige Rolle spielte, waren die problematischen sozialen Auswirkungen des Beveridge-Systems, die immer deutlicher zutage traten. Die Forschungsliteratur zur Pfadabhängigkeit politischer Entwicklungen hat sich bislang ganz überwiegend auf positive Feedback-Effekte und damit auf die Erklärung der Stabilität einmal etablierter Regime konzentriert. In den Hintergrund gerieten darüber die häufig ebenfalls anzutreffenden negativen Feedbacks,138 die, wenn sie nicht gar einem Regimewechsel Vorschub leisten, wie im vorliegenden Fall dazu beitragen können, neben dem bisherigen Pfad – hier: der Pauschalrente – neue, zusätzliche Wege – hier: eine einkommensabhängige und vergleichsweise großzügige staatliche Zusatzrente – zu eröffnen. Das negative Feedback des direkt nach dem Weltkrieg eingerichteten Alterssicherungssystems in Form der Kontinuität einer massiven Altersarmut zeichnete sich in Großbritannien vor der Folie einer insgesamt prosperierenden Nachkriegsgesellschaft immer klarer ab und war seit den frühen 1960er Jahren auch durch sozialwissenschaftliche Daten zu belegen (vgl. Kap. III.1). Noch einmal verstärkt ins Licht der politischen Öffentlichkeit rückte die soziale Situation der alten Menschen dann durch die »Wiederentdeckung« der Armut im Jahre 1965, die ebenfalls die Alten als eine der Hauptbetroffenengruppen identifizierte. Dass sich an diesen Verhältnissen nicht nur bis zur Mitte der 1970er Jahre nichts geändert hatte, sondern sie auch zunehmend als untragbar empfunden wurden, zeigte nicht zuletzt das White Paper von 1974, das als Ausweis für die Funktionsunfähigkeit des überkommenen Systems an erster Stelle anführte, dass zwei Millionen bzw. 25 % der Alten – und damit auf den Prozentpunkt ebensoviele wie anderthalb Jahrzehnte zuvor – Sozialhilfe bezögen und eine geschätzte weitere Million unterstützungsberechtigt sei, ohne hiervon Gebrauch zu machen.139 Dabei war es interessanterweise – wie schon am Vorabend des Beveridge-Reports – wiederum vor allem der Verbreitungsgrad des Unterstützungsverhältnisses – abermals ganz im Sinne von Simmels Armutsbegriff –, der als gesellschaftlich inakzeptabel präsentiert wurde, und nicht die materielle Unterprivilegierung der Alten an sich.140 Dass die schwierige soziale Situation der Alten dauerhaft auf der politischen Agenda blieb, lässt sich freilich vollends nur erklären, wenn man den erneuten Schub an Selbstmobilisierung und Organisationsausbau berücksichtigt, den die Altenbewegung in Großbritannien in den 1960er und 1970er Jahren erlebte. 137 Vgl. Pratt, Gray Agendas, S. 124 f.; Clarke, Number, S. 169 ff. 138 Vgl. Weaver, Paths. 139 Vgl. Better Pensions. Fully Protected Against Inflation. Proposals for a New Pensions Scheme, Cmd. 5713, London 1974, S. 1, NA , PIN 35/453/1; oben, Kap. III .1. 140 Vgl. oben, Kap. I.1; Simmel, Der Arme.
150 You’ve never had it so good? Die Ende der 1930er Jahre gegründete National Federation of Old Age Pensions Associations hatte schon im Vorfeld des Beveridge-Reports eine wichtige Rolle als Sprachrohr der Alten gespielt. Auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verlieh die NFOAPA ihrem wichtigsten Ziel: der Erhöhung der Basic State Pension, kontinuierlich durch Pressekampagnen, die »Bearbeitung« von MPs und durch Delegationen, die seit 1968 mindestens einmal pro Jahr von den zuständigen Ministern empfangen wurden, Nachdruck.141 Die politische Durchschlagskraft der NFOAPA-Forderungen erhöhte sich deutlich, als Anfang der 1970er Jahre auch die Gewerkschaften auf den gleichen Kurs einschwenkten und die Sache der Rentner zu der ihren machten. Mit der zunehmenden Berücksichtigung und Unterstützung der Rentnerinteressen, die 1979 in der Gründung der National Pensioners Convention, eines gewerkschaftsnahen nationalen Rentnerverbandes kulminierten, versuchte der TUC sich seinerseits an die Spitze einer Entwicklung zu setzen, die vermehrt Züge einer Mobilisierung der Alten »von unten« aufwies. Ein Indiz hierfür war etwa die British Pensioners Trade Union Action Association, zu der sich 1973 eine Reihe von Rentneraktivisten zusammenfand, um ihren Forderungen innerhalb der Gewerkschaften und darüber hinaus mehr Gehör zu verschaffen.142 Auch Protestdemonstrationen aufgebrachter Rentner zeugten von der ansteigenden Mobilisierungsbereitschaft an der Basis. Besonderes Aufsehen erregte eine Versammlung von ca. 18.000 Alten, die im November 1972 aus dem ganzen Land zusammengekommen waren, um für eine 50 %ige Anhebung der Renten zu demonstrieren und die Abgeordneten ihrer Wahlkreise zur Rede zur stellen. »Zorn und Chaos« habe vor den Toren des Unterhauses geherrscht, berichtete die »Times«, als die Rentner zunächst auf einem von den Gewerkschaften unterstützten Protestmarsch durch London gezogen seien und dann in einer fünfstündigen Aktion darauf bestanden hätten, in kleinen Gruppen von ihren Parlamentariern empfangen zu werden.143 Mindestens ebenso wichtig dafür, dass die miserable Einkommenssituation älterer Menschen nicht aus dem Blick geriet, sondern sogar noch an politischer Virulenz gewann, waren mit Help the Aged und Age Concern jene Altenorganisationen, die sich – anders als die NFOAPA und die mit dem TUC verschwisterten Verbände – eigentlich nicht ausschließlich auf die Höhe der Renten konzentrierten, sondern von einem facettenreichen Altersbild ausgingen, das die Vielfalt der Bedürfnisse im Alter – von der medizinischen Versorgung über die 141 Vgl. nur Brief for the Meeting Between Secretary of State and the National Federation of Old Age Pensions Associations on 28 October 1975 at 2.30 PM , NA , PIN 46/134; Note of the Financial Secretary’s Meeting with the National Federation of Old Age Pensions Associations, 28 October 1975, NA , PIN 46/134. 142 Vgl. Pratt, Gray Agendas, S. 137 ff. 143 Anger and Chaos Outside the House As Retirement Pensioners Mass to Demand £ 10 a Week, in: The Times, 23.11.1972.
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Pflege bis zur Wohnsituation – betonte. Für beide Verbände lässt sich eine verstärkte Hinwendung zur Rentenfrage in den frühen 1970er Jahren feststellen. Parallel dazu verlief eine generelle Neuausrichtung der Interessenverbände hin auf einen intensiveren politischen Aktivismus und den forcierten Appell an die Öffentlichkeit.144 »Auf die Dauer«, erklärte David Hobman, der langjährige Direktor von Age Concern, diese Entwicklung hin zu politischen pressure groups, »sind es die Alten selbst, die ihre politischen Muskeln spielen lassen und die aus eigenem Recht angehört werden müssen«, ohne auf wohlmeinende Sprecher aus der Politik oder den Gewerkschaften angewiesen zu sein.145 Help the Aged, 1961 mit dem Ziel gegründet, Spenden zur Verbesserung der Lebenssituation alter Menschen nicht nur in Großbritannien, sondern auch in der »Dritten Welt« einzuwerben, und Anfang der 1970er Jahre bereits zu einer Fundraising-Organisation mit mehreren hundert Mitarbeitern angewachsen, erregte in seiner Kampagne für höhere Renten besondere Aufmerksamkeit mit der 1973 veröffentlichten Streitschrift »Pensions: A Challenge to the Nation«. Die derzeitigen Renten, hieß es hier, gewährten »einem Ruheständler eher ein Dahinvegetieren als ein Leben«. Ebenso wie Arbeitslöhne sollten Altersrenten nicht als »Almosen, um Armut und Elend einzudämmen«, begriffen werden, sondern als verdiente Einkommen, die es den Alten ermöglichen sollten, ihren bisherigen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Explizit nahm die Broschüre Bezug auf die Situation in anderen europäischen Ländern: »Wir müssen uns entscheiden, ob wir wirklich angemessen für unsere Ruheständler sorgen oder ob wir uns damit zufrieden geben wollen, so weit hinter unseren Nachbarn auf dem Kontinent hinterherzuhinken.«146 Schon vorher, am Ende der 1960er Jahre, hatte Help the Aged in einer großangelegten Anzeigenkampagne, die auf die Einwerbung von Spenden für Altenwohnheime und -tagesstätten abzielte, auf die elenden materiellen Lebensverhältnisse der Alten aufmerksam gemacht. Fotographien alter Frauen, versehen mit fett gesetzten Bildunterschriften wie »Why doesn’t someone put her out of the misery?«, »She’s absolutely perishing with cold« oder »Imprisoned by Old Age«, sollten das Mitleid der Leser erregen und ihre Spendenbereitschaft erhöhen. »Alone, on meagre incomes, in tiny attics, or damp basements, quite without hope« – das war das Bild, das Help the Aged von der Lebenslage alter Menschen in Großbritannien vermittelte.147 Auch für Age Concern, 1971 durch Umbenennung des National Old People’s Welfare Council entstanden,148 besaß die Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation der Alten ein hohes Maß an Dringlichkeit. Die Leitidee, verdeutlichte das vom Verband 1975 publizierte und vielbeachtete »Manifesto on 144 Vgl. auch Pratt, Gray Agendas, S. 133. 145 Hobman, Aging, S. 16. 146 Die Zitate nach Hudson, Help the Aged, S. 110, 112. 147 Zitate: The Times, 1.2.1969; 8.3.1969; 7.6.1969. Vgl. auch ebd., 9.8.1966; 4.7.1967; 22.3.1969. 148 Age Concern, NCCOP u. Help the Aged, Three Organisations.
152 You’ve never had it so good? the Place of the Retired and the Elderly in Modern Society«, habe dabei der Gedanke der Statusgleichheit zwischen den Generationen zu bilden, der seinerseits wiederum sowohl mit der staatsbürgerlichen Gleichheit als auch den Verdiensten der Älteren in der Vergangenheit begründet wurde. Für den Bereich der Renten bedeutete das, dass diese so bemessen zu sein hätten, dass sie nicht nur die basalen Bedürfnisse befriedigten, sondern darüber hinaus auch ausreichen müssten, »um etwas Wahlfreiheit und eine anerkannte gesellschaftliche Stellung zu gewährleisten«. Zu verurteilen sei dagegen eine Alterssicherung, die – wie sie es in Großbritannien zu einem guten Teil tat – auf der Armutsbekämpfung durch Sozialhilfe beruhte, da sich die »alten Menschen« durch die hiermit verbundenen und »Einzelheiten ihres persönlichen Lebens offenlegenden« Bedürftigkeitsprüfungen häufig »gedemütigt fühlten«.149 Ein Hauptinstrument im Kampf der Altenorganisation für höhere Renten war der Bericht zur Einkommenslage älterer Menschen, den Age Concern in mehrjährigem Abstand aktualisiert vorlegte. Bei der Lektüre des Berichts von 1974 treten aus der Perspektive des heutigen Beobachters zwei Punkte klar hervor: Erstens wird das Ausmaß offenkundig, in dem die federführende Autorin, Patricia Hewitt, ihre Argumentation auf sozialwissenschaftliche Kategorien und Statistiken stützte. Die Daten entstammten durchweg den neuesten nationalen Erhebungen, ihre Analyse trägt eine professionelle Handschrift. So verwies der Bericht etwa auf ein Dilemma der neuen Labour-Regierung, das in der Konstruktion eines am Fürsorgesatz orientierten Armutsbegriffs wurzelte: Die wenige Monate zuvor erfolgte Erhöhung der Sozialhilfe im Gleichschritt mit den Renten habe zwar einerseits den realen Lebensstandard der Alten klar verbessert, sich statistisch aber nicht in einer Verringerung der Armutsquote niedergeschlagen.150 Zugleich dokumentierte die Age Concern-Schrift, dass sich an der sozialen Position der Alten – sowohl innerhalb der von ihnen gebildeten Gruppe als auch im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung – seit den späten 1940er Jahren im Grunde kaum etwas geändert hatte: Während ungefähr ein Drittel von ihnen in einigermaßen gesicherten materiellen Verhältnissen lebte, bewegte sich der Rest und damit eine Mehrheit von zwei Dritteln auch Anfang der 1970er Jahre noch unter oder nur wenig oberhalb der Armutsgrenze. Nach wie vor waren es dieselben Gruppen, die ein besonders hohes Armutsrisiko aufwiesen: die ganz Alten und vor allem die Frauen. »Tatsächlich handelt es sich bei der Altersarmut in diesem Land«, stellte Age Concern resigniert fest, »ganz überwiegend um eine Armut von Frauen«.151 Der zweite Punkt, der den Bericht kennzeichnete, war – bei Age Concern ebenso wie bei Help the Aged – die 149 Age Concern England, Manifesto on the Place of the Retired and the Elderly in Modern Society, o. D. (1975), S. 5, NA , PIN 90/56. Vgl. ebd., S. 3. 150 Vgl. Age Concern on Pensioner Incomes, Dezember 1974, S. 10, NA , PIN 90/56. 151 Age Concern on Pensioner Incomes, Dezember 1974, S. 12, NA , PIN 90/56.
Die Einführung von SERPS 153
zunehmende Hinwendung zu einer europäischen Vergleichsperspektive. Das reflektierte nicht zuletzt den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft 1973. Systematisch fand sich die Altersversorgung in Großbritannien unter verschiedenen Gesichtspunkten mit jener in vier anderen EG -Mitgliedstaaten, namentlich der Bundesrepublik, den Niederlanden, Frankreich und Italien, sowie in Schweden konfrontiert. Das Ergebnis war vernichtend: »Gleich welchen Vergleichsmaßstab man wählt«, fasste Age Concern zusammen, »das Vereinigte Königreich schneidet nicht gut ab.«152 Großbritannien und Italien bildeten die europäischen Schlusslichter in der Alterssicherung; der Abstand nach oben zu den anderen Ländern war dramatisch groß. Wie reagierten die Interessenverbände der Alten auf die von Labour vor den beiden Wahlen 1974 angekündigten und dann teils noch im selben Jahr, teils 1975 umgesetzten Änderungen in der Alterssicherung? Wie kaum anders zu erwarten, traf die deutliche Anhebung der Basic State Pension auf breite Zu stimmung. Dasselbe galt für die gleichzeitig verkündete Kopplung der Renten an die Entwicklung der Durchschnittslöhne, die einer langjährigen Forderung aller Altenorganisationen entsprach. Die Einführung von SERPS und damit die eigentliche Reform des Rentensystems dagegen sahen sich einer geschlossenen Ablehnungsfront der Altenverbände gegenüber. »Dieses Rentenschema [SERPS , C. T.] tut nichts für die acht Millionen Rentner von heute«, protestierte etwa die NFOAPA, die ebenso wie der Gewerkschaftsführer Jack Jones statt dessen eine Anhebung der Einheitsrente auf ein Drittel der Durchschnittslöhne für Alleinstehende und auf die Hälfte für Verheiratete forderte.153 Auf genau derselben Linie lag der Vorwurf von Age Concern, dass es nicht angehe, »die 9 Millionen Menschen im Rentenalter außen vor zu lassen und ebenso die 1–1 ½ Millionen, die ihre Rente beantragen werden, bevor die neuen Rentenleistungen überhaupt gezahlt werden.«154 Es war jedoch nicht nur die Interessenlage der nicht in das neue Rentensystem integrierten Altrentner, welche die Fundamentalopposition der Alten motivierte. Vielmehr beruhte der einhellige Widerstand aller Altenverbände mindestens ebensosehr auf einem abweichenden normativen Verständnis davon, wie eine gerechte staatliche Alterssicherung auszusehen habe. Paradigmatisch formulierte das Age Concern in einem Brandbrief an alle Abgeordneten während des Reformgesetzgebungsprozesses: »Wir wenden uns massiv gegen den Grundsatz, einer Person, die ihr ganzes Leben lang reich war, 152 Age Concern on Pensioner Incomes, Dezember 1974, S. 16, NA , PIN 90/56. 153 NFOAPA an Barbara Castle, 12.6.1975, PIN 46/134. Vgl. »What About the Pensioners?« By Jack Jones, General Secretary Transport & General Workers’ Union. A T. G. W. U. Pamphlet, o. D. (1973), BLPES , HD 7, A 30; Brief for the Meeting between the Secretary of State and the NFOAPA on 28 October 1975, NA , PIN 46/134; NFOAPA an James Dempsey, o. D. (1976), NA , PIN 87/95. 154 Age Concern England to Members of Parliament Attending the Report Stage of the Social Security Pensions Bill on 11th June 1975, 10.6.1975, NA , PIN 90/56.
154 You’ve never had it so good? eine höhere Rente zu zahlen, als einer Person, die lebenslang arm war.«155 So tief hatte sich das durch die Beveridge-Reform institutionell zementierte Gleichheitsprinzip in den genetischen Code der staatlichen Alterssicherung in Großbritannien eingegraben, dass den Verbänden der Rentenempfänger jedes Rütteln daran als mit ihren Gerechtigkeitsvorstellungen grundsätzlich unvereinbar erschien. Stellt man diese Position in den Kontext der Verwerfungen in Labour Party und Gewerkschaften, wo um eine Verbindung von Leistungs- und Gleichheitsprinzip gerungen wurde, sowie der verstärkten Hinwendung vieler Konservativer zum Bedürftigkeitsprinzip und kontrastiert diese Situation mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik, tritt ein abgrundtiefer Gegensatz zutage: Während in Deutschland die Dominanz des Leistungsprinzips als allgemeiner Grundsatz der Rentenversicherung weithin unangefochten war, präsentierte sich das normative Fundament der öffentlichen Alterssicherung in Großbritannien als zutiefst fragmentiert und umstritten. Für die Stabilität des Mitte der 1970er Jahre gerade reformierten Rentensystems und die mit ihm verbundenen Hoffnungen auf eine langfristige Beseitigung der Altersarmut verhieß das nichts Gutes.
155 Age Concern England to Members of Parliament Attending the Report Stage of the Social Security Pensions Bill on 11th June 1975, 10.6.1975, NA , PIN 90/56. Vgl. etwa auch »What About the Pensioners?« By Jack Jones, General Secretary Transport & General Workers’ Union. A T. G. W. U. Pamphlet, o. D. (1973), BLPES , HD 7, A 30.
IV. Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat – die Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und frühen 1970er Jahren
1.
Armut und materielle Ungleichheit im Alter
Zur gleichen Zeit – im Advent des Jahres 1965 –, als Brian Abel-Smith und P eter Townsend in Großbritannien mit den Ergebnissen ihrer Armutsstudie Auf sehen erregten,1 lenkte auch in Westdeutschland der »Spiegel« den Blick der politischen Öffentlichkeit auf die Armen der Gesellschaft. Der Tenor der Darstellung hätte freilich unterschiedlicher nicht sein können. Während die beiden britischen Sozialwissenschaftler keinen Zweifel daran ließen, dass sie das von ihnen festgestellte Ausmaß an Armut für einen unerträglichen Skandal hielten, herrschte beim »Spiegel« eher ein munterer, mokanter Ton vor. »Sie gelten als Notleidende«, hieß es gleich zu Beginn der Reportage über die Armen, »aber sie haben das Nötigste. Sie brauchen Hunger und Kälte nicht zu fürchten, und nicht die Gefahr, sich in der Not von ihren Fernsehtruhen oder Kraftfahrzeugen trennen zu müssen. Denn die Armut in der Bundesrepublik hat ein gepflegtes Gesicht.« Die Sozialämter »erfreu[t]en die Unterstützten mit Karten für Schauspiel und Operette« und kämen »notfalls bis nahe an die Luxusgrenze für die Wohnungsmiete der Bedürftigen« auf. Sie machten geradezu Jagd auf potentielle Klienten. »Gelegentlich doch immer wieder einmal einen« von ihnen »zu entdecken und ihm die Annehmlichkeiten der jüngeren Gesetzgebung auf zunötigen«, erfülle »die Sozialfürsorger von 1965 mit der Genugtuung, die den Polizisten nach erfolgreicher Fahndung erwärmt.«2 Materielle Armut, wie sie in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre noch allenthalben anzutreffen gewesen war, galt in den 1960er Jahren weithin als überwunden. Verantwortlich dafür zeichneten Reallohnsteigerungen, Vollbeschäftigung und der Ausbau des Sozialstaats – namentlich in Gestalt der Rentenreform von 1957 und des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) von 1961. Das war nicht nur die einhellige Meinung in der politischen Publizistik und unter den wichtigen sozialpolitischen Akteuren, sondern auch in den Sozial 1 Vgl. oben, S. 109. 2 Das Prestige muss gewahrt werden. SPIEGEL -Report über die Armut in Deutschland, in: Der Spiegel, 8.12.1965, S. 81–96, Zitate: S. 81, 84, 88. Vgl. auch Peter Brügge, »Unsere Armen haben das nicht nötig!« Elend im Wunderland, in: Der Spiegel, 20.12.1961, S. 40–47.
156 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat wissenschaften. Stellvertretend für viele stellte etwa der Soziologe Heinz Strang 1970 fest, dass »die gesellschaftliche Armut einem kontinuierlichen Schrumpfungsprozess unterworfen« sei, »so dass ihr in der Gesellschaft des fortgeschrittenen Industrialismus eine nur noch marginale, beinahe zufällige und weitgehend unstrukturierte Position verblieben« sei.3 Armut, so die vorherrschende Auffassung, war nicht länger das Kennzeichen bestimmter Gruppen oder Schichten – und das schloss die Alten ein –, sondern durch individuelle Lebensumstände wie Krankheit oder Behinderung verursachtes Einzelschicksal. »Das Versorgungsproblem der breitesten Schichten konnte gelöst werden«, diagnostizierte Alfred Müller-Armack bereits 1960: »In dieser klassenlosen Gesellschaft ist nicht mehr Stand und Klasse das Problem, sondern der einzelne.«4 Dem entsprach auch die Überzeugung des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Fürsorgerechts durch das BSHG, das ebenfalls die Not des Einzelnen mit ihren individuell höchst unterschiedlichen Ursachen ins Zentrum der fürsorge rischen Betreuung rückte und zu ihrer Bekämpfung das innovative Instrument der »Hilfe in besonderen Lebenslagen« bereithielt.5 Die Altersarmut, die noch Mitte der 1950er Jahre als der letzte große ver bliebene soziale Brandherd gegolten hatte, sahen die – noch ganz von einem »absoluten« Armutsverständnis geprägten – Zeitgenossen in den 1960ern als sozialpolitisch erfolgreich bekämpft an. Wenn alte Menschen sozial hilfsbedürftig waren, so hatte das nicht primär materielle Gründe. Sie zeigten sich »nicht von Hunger geplagt, sondern von dem Mangel an Zuwendung.« Sie waren gekennzeichnet durch eine »Armut, deren Schrecken viel eher der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung und Tuchfühlung [war] als die Kälte des Winters oder ein leerer Magen. Denn Not reimt sich nicht mehr auf Brot.«6 An diesem Bild eines weitgehenden Verschwindens der Altersarmut änderte sich im Grunde auch nichts, als um 1970 in der politischen Öffentlichkeit die Diskussion über benachteiligte »Randgruppen« zunehmend gegenüber dem individualisierten Armutsverständnis an Boden gewann. Kennzeichnend für die »Randgruppen« der Gesellschaft waren weniger materielle Defizite als soziale Marginalisierung und Stigmatisierung. Abermals war es der »Spiegel«, der dieser Thematik 1970/1971 durch eine sechsteilige Artikel-Serie eine breite öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte. Ins Visier nahmen die ausführlichen Reportagen nacheinander die »Obdachlosen«, die »Gastarbeiter«, die »Vorbestraften«, die »Arbeitnehme 3 Strang, Erscheinungsformen, S. 36. Vgl. auch Lidy, Definition, S. 170; Hauser u. Neumann, Armut, S. 238 f.; Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, in: GSD, Bd. 5, S. 595–598; Buhr u. a., Armutspolitik, S. 512 ff.; Leisering, Zwischen Verdrängung, S. 491 ff. 4 Müller-Armack, Wirtschaftsordnung, S. 270 f. 5 Vgl. Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, in: GSD, Bd. 4; ders., Sozialhilfe, in: GSD, Bd. 5; Föcking, Fürsorge. 6 Das Prestige muss gewahrt werden. SPIEGEL -Report über die Armut in Deutschland, in: Der Spiegel, 8.12.1965, S. 96.
Armut und materielle Ungleichheit im Alter 157
rinnen«, die »Behinderten« und die »Geisteskranken«; einen Bericht über die soziale Lage der Alten gab es nicht.7 Es ist aufschlussreich, die unter den Zeitgenossen vorherrschende Auffassung mit einer Rekonstruktion der Altersarmut in ihrem quantitativen Umfang zu konfrontieren, wie sie sich aus der Perspektive des heute gebräuchlichen Armutsbegriffs ergibt. Grundlage bilden dabei die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes, die seit 1962/63 in etwa fünfjährigem Abstand bei ca. 45.000 Haushalten erhoben werden und inzwischen in anonymisierter Form auch der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen. Ausdrücklich sei betont, dass in die Konstruktion von Armutsquoten eine Vielfalt von analytischen Setzungen und normativen Vorentscheidungen eingeht. Das betrifft zunächst einmal den Vorgang der Datenerhebung selbst. In die EVS etwa fanden sich bis 1988 nur Haushalte mit deutschem Haushaltvorstand einbezogen; zudem enthält die Stichprobe keine Personen, die in Einrichtungen (Kasernen, Altersheimen etc.) leben oder die ohne festen Wohnsitz sind.8 Ungleich wichtiger noch ist sodann das der Erhebung zugrunde liegende Messkonzept. Die bei der Messung von materieller Armut heute am weitesten verbreitete Maßzahl ist das sog. Netto äquivalenzeinkommen. Den Ausgangspunkt für seine Errechnung bildet das Nettoeinkommen eines Haushalts, das dann durch die gewichtete Zahl der Mitglieder des Haushalts dividiert wird. Dabei kann die Gewichtung nach verschiedenen Äquivalenzskalen erfolgen, die in jeweils unterschiedlicher Weise die Synergieeffekte des haushaltlichen Zusammenlebens veranschlagen. Ausschlaggebend war hier die sog. »alte« OECD -Skala, die dem Haushaltsvorstand ein Gewicht von 1,0, weiteren Personen ab 14 Jahre den Faktor 0,7 und jüngeren Haushaltsmitgliedern den Faktor 0,5 zuordnet.9 Von schlechthin zentraler Bedeutung ist schließlich die Definition von Armut. Nach wie vor gibt es kein Armutskonzept, dass allgemeine Gültigkeit beanspruchen könnte. Für die wirtschaftlich hochentwickelten Gesellschaften des Westens hat sich inzwischen weithin ein »relativer« Armutsbegriff durchgesetzt, der materielle Armut im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitts- oder Medianeinkommen definiert. Üblicherweise werden dabei verschiedene Armutsgrenzen 7 Der Spiegel, 28.9.1970; 19.10.1970; 23.11.1970; 25.1.1971; 22.3.1971; 26.7.1971. 8 Zu Erhebungsinhalten und Methodik der EVS vgl. Becker u. Hauser, Anatomie, S. 71–81; Hauser u. Becker, Zur Dynamik, S. 92 f.; Becker u. a., A Comparison; Becker, Entwicklung von Einkommensverteilung, S. 44 f. 9 Das bedeutet etwa, dass sich das Nettoäquivalenzeinkommen der Mitglieder einer vierköpfigen Familie mit Kindern im Alter von 9 und 16 Jahren ergibt, indem man das gesamte Nettoeinkommen des Haushalts durch 2,9 dividiert. Die sog. »neue« OECD -Skala veranschlagt die Synergien des Zusammenlebens höher und gewichtet den Einkommenshauptbezieher mit 1,0, Personen ab 14 Jahre mit 0,5 und jüngere Kinder bzw. Jugendliche mit 0,3.
158 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat unterschieden: Eine häufig gebrauchte Marke zur Definition von relativer Armut liegt bei 50 % des Durchschnitts-Nettoäquivalenzeinkommens (jeder mit einem Einkommen unter dieser Grenze gilt als arm); darüber hinaus wird oft noch eine Grenze für »strenge« Armut (40 %-Grenze) und für »milde« Armut bzw. »Armutsgefährdung« (60 %-Grenze) festgelegt. Tab. 2: Armutsquoten bei verschiedenen Armutsgrenzen (in % des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens) in der Bundesrepublik Deutschland, 1962/63–1983 (in %) Armutsgrenze 40 %
1973
1978
1983
4,1
2,0
1,7
1,8
2,9
9,8
4,8
4,6
3,8
4,3
Männer
–
3,2
4,0
3,3
3,2
Frauen
–
6,0
5,1
4,1
5,1
10,6
7,1
6,5
6,5
7,7
19,6
12,5
13,3
10,7
12,0
Männer
–
8,9
11,5
9,1
8,9
Frauen
–
15,3
14,6
11,8
14,0
20,9
17,1
16,1
16,0
16,9
31,6
22,7
24,7
21,7
23,8
Männer
–
18,5
22,4
18,8
19,4
Frauen
–
25,8
26,6
23,7
26,7
Ges.
Ges. Bev. über 65
60 %
1969
Ges. Bev. über 65
50 %
1962/63
Ges.
Ges. Bev. über 65
Ges.
Quelle: Becker, Entwicklung von Einkommensverteilung, S. 56, Tab. 5 (Grundlage: EVS , durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen, alte OECD -Skala).
Wendet man diese Armutsdefinition auf die bundesdeutschen Einkommensverhältnisse der 1960er und 1970er Jahre an, zeigt sich, dass von einem Verschwinden der Altersarmut für diese Zeit noch kaum gesprochen werden kann (Tab. 2). Besonders Anfang der 1960er Jahre – also bereits einige Jahre nach der Rentenreform von 1957 – erreichte die Armutsquote (50 %-Grenze) unter den Alten mit fast einem Fünftel noch eine beträchtliche Höhe und überstieg damit die allgemeine gesellschaftliche Armutsrate um fast das Doppelte. Bei der »strengen« relativen Armut übertraf der Anteil der Alten den der Gesamtbevölkerung sogar um das Zweieinhalbfache. Für die westdeutsche Gesellschaft als Ganzes lässt sich ein deutlicher Rückgang der Armutsquoten in den 1960er
Armut und materielle Ungleichheit im Alter 159
Jahren verzeichnen; in den 1970ern blieben die Armutsraten auf niedrigem Niveau stabil, bevor sie Anfang der 1980er wieder leicht nach oben zogen. Auch unter den über 65jährigen nahm die Armut im Verlauf der 1960er Jahre deutlich ab; dieser Rückgang hielt darüber hinaus in den 1970ern auch dann noch an, als die gesamtgesellschaftliche Armutsquote stagnierte. Dennoch übertrafen die Armutsquoten unter den Alten (40 und 50 %-Grenze) die allgemeinen Raten auch im Verlauf der 1970er Jahre noch ungefähr um das Doppelte – wenn auch auf deutlich geringerem Gesamtniveau und mit sinkendem Abstand. Besonders betroffen von materieller Armut unter den Alten waren durchweg die Frauen – vor allem die vielen Witwen und Alleinstehenden. Ein weiteres Mal zeigte sich hier – ebenso wie schon im Deutschland der 1950er Jahre und im zeitgenössischen Großbritannien –, dass Armut im Alter ganz überwiegend weiblich konnotiert war. Angesichts dieser Befunde von der Warte eines heutigen Verständnisses von Einkommensarmut aus stellt sich die Frage, warum das Problem materieller Armut im Alter in den 1960er und frühen 1970er Jahren nicht stärkere Beachtung fand. Lag es daran, dass – wie das ein FAZ -Artikel von 1967 zum Ausdruck brachte – man »[ü]ber die Einkommensverhältnisse der Alten … so gut wie nichts« wusste?10 Zugegeben, es gab wenig statistisches Material, das sich gezielt mit der materiellen Situation der Alten befasste. Anders als in Großbritannien, wo zur gleichen Zeit eine Reihe von unabhängigen sozialwissenschaftlichen Studien zur sozio-ökonomischen Lage der Alten entstand, war man in Deutschland fast vollständig auf die allgemeinen Daten der amtlichen Sozialund Sozialleistungsstatistik angewiesen, aus denen dann die relevanten Informationen mühsam herausdestilliert werden mussten. Doch erweist sich die Datenlage gerade für die Zeit seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durchaus nicht als so katastrophal, dass von einer breiten Zone des »Nichtwissens« der Zeitgenossen ausgegangen werden müsste. Einigen Aufschluss über die materielle Situation der Alten etwa gab die 1972 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Schrift »Die älteren Mitbürger und ihre Lebensverhältnisse«, die die relevanten Daten aus verschiedenen Sach gebieten der amtlichen Statistik zusammenfasste und insbesondere auf den Ergebnissen des Mikrozensus von 1971 beruhte. Es zeigte sich, dass sich die Grenze von 65 Jahren inzwischen als Übergang vom Erwerbsleben in die Phase des Ruhestands und Rentenbezugs fest etabliert hatte: Während von den 60–65jährigen Männern noch 71 % ihren überwiegenden Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit bezogen, traf das nur noch auf 12 % der über 65jährigen zu. 87 % der Männer jenseits der 65 lebten überwiegend oder ausschließlich von Renten
10 Heddy Neumeister, Nicht jeder möchte »Oma« heißen. Nivellierte und individuelle Wohlfahrt für das Alter, in: FAZ , 24.1.1967.
160 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat Graphik 2: Verteilung der 25–65jährigen und der über 65jährigen nach Nettoeinkommensgruppen, Westdeutschland, 1971 (in %) % 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
–150
150–300
300–600 25-65
600–800
800–1200
Männer über 65
1200–1800
1800–
Frauen über 65
DM
Quelle: Eigene Berechnungen nach St BA , Die älteren Mitbürger, S. 52, Tab. V. 3. Ergebnisse des Mikrozensus 1971. Wohnbevölkerung im Alter von 25 und mehr Jahren, ohne Soldaten, ohne Selbständige in der Landwirtschaft, ohne mithelfende Familienangehörige. Nur Personen mit eigener Einkommensquelle.
oder Pensionen.11 Die Einkommensverhältnisse der Älteren unterschieden sich grundlegend von jenen der Jüngeren im Erwerbsalter. Graphik 2 fasst die Verteilung der Einkommensbezieher unterschiedlichen Alters auf die verschiedenen Nettoeinkommensgruppen graphisch zusammen. Klar dokumentiert die weiter rechts liegende Kurve der 25–65jährigen die deutlich bessere Einkommenslage der Jüngeren. Von den 25–65jährigen Männern bezogen 76 % ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 800 DM, während nur 33 % der über 65 Jahre alten Männer in dieser Einkommensgruppe lagen. Noch deutlich niedrigere Einkommen als die alten Männer aber erzielten die über 65jährigen Frauen. 78 % von ihnen erhielten weniger als 600 DM, 31 % sogar weniger als 300 DM im Monat – Zahlen, deren Bedeutung erst ermessen werden kann, wenn man sie etwa zur monatlichen Nettolohn- und gehaltssumme je durchschnittlichem Arbeitnehmer im gleichen Jahr in Relation setzt, die bei 978 DM lag.12 Freilich wäre es verfehlt – und hier wird die begrenzte Aussagefähigkeit der nicht 11 St BA , Die älteren Mitbürger, S. 11, 51. 12 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 52; Sensch, Ausgewählte Zeitreihen, Tab. F.1b.
Armut und materielle Ungleichheit im Alter 161
auf das gewichtete Haushalts-, sondern das Individualeinkommen abstellenden Daten deutlich –, davon auszugehen, dass alle Frauen mit Niedrigrenten in bitterster Armut gelebt hätten. Viele von ihnen wohnten in einem Haushalt mit anderen zusammen und entkamen auf diese Weise der materiellen Not. Doch änderte auch das nichts daran, dass die informierten Zeitgenossen insgesamt bereits zu dem klaren Ergebnis gelangten, dass sich ein »nicht unbeträchtlicher[r] Teil unter den Älteren … am Rande des Existenzminimums bewegt[e]« und dass hiervon ganz überwiegend die »älteren, alleinstehenden Frauen«, die meisten von ihnen Witwen, betroffen waren.13 Zusätzliche Informationen zur materiellen Lage der Alten lieferten Analysen zur Einkommensschichtung verschiedener sozialer Gruppen in der Bundes republik Deutschland. So verfolgte etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Anfang der 1970er Jahre die Entwicklung der monatlichen Nettoeinkommen von 1950 bis 1970 für Selbständigen-, Angestellten-, Arbeiterund Rentnerhaushalte.14 Zwar gilt es dabei zu beachten, dass die Gruppe der Rentner nicht mit der der Altersrentner identisch war, sondern auch die Bezieher anderer Rentenarten umfasste. Doch hatte die Mehrzahl der Rentnerhaushalte einen Haushaltsvorstand, der die 65 überschritten hatte, so dass die Ergebnisse der Untersuchung durchaus Rückschlüsse auf die Einkommenssituation der Altenhaushalte zulassen. Mit großer Klarheit trat in der Studie des DIW die Schlechterstellung der Rentner im Vergleich zu den anderen Gruppen hervor: Das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Rentner lag 1970 bei 911 DM, das der Arbeiter bei 1519 DM, das der Angestellten bei 1842 DM und das der Selbständigen sogar bei 3267 DM. Darüber hinaus zeigte sich, dass sich das Verhältnis der verschiedenen Haushaltseinkommen zueinander von 1950 bis 1970 nicht grundsätzlich geändert hatte: Die Rentnerhaushalte lagen über den gesamten Zeitraum hinweg einigermaßen kontinuierlich bei 50 % der Haushaltseinkommen der Angestellten und ungefähr bei 60 % jener der Arbeiter. Noch deutlicher als bei den Durchschnittseinkommen trat die Stellung der meisten Rentner am Fuße der Einkommenspyramide bei den anderen Mittelwerten zutage: Der Median der Haushaltseinkommen der Rentner betrug 1970 lediglich 669 DM, während die Arbeiter auf 1321 DM und die Angestellten auf 1498 DM kamen; beim Modalwert (häufigster Wert) war das Verhältnis 477 DM (Rentner) zu 1082 DM (Arbeiter) und 1087 DM (Angestellte). Gleichzeitig errechnete das DIW, dass das Einkommensgefälle innerhalb der Gruppe der Rentnerhaushalte – wenn auch bei abnehmender Tendenz – von 1950 bis 1970 kontinuierlich 13 Tews, Soziologie des Alterns, S. 32; vgl. ebd., S. 192 f. Vgl. auch die Ergebnisse von Blume, Möglichkeiten, S. 35–41, sowie Die Lebenslage älterer Menschen, S. 96 ff. 14 Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1970, in: DIW Wochenbericht Nr. 34/1973. Hier auch alle weiteren Zahlen. Vgl. auch Die Schichtung der Sozialeinkommen in der Bundesrepublik, in: DIW Wochenbericht Nr. 41/1957.
162 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat größer gewesen war als in allen anderen Einkommensgruppen; gleich, welches Konzentrationsmaß man zugrunde legte, stets waren die Einkommen unter den Rentnern ungleicher verteilt gewesen als unter den Arbeitern, Angestellten und Selbständigen.15 Das war teils ein Ergebnis der Rentenungleichheitsspanne der Gesetzlichen Rentenversicherung, teils das Resultat der Einbeziehung von Pensionären, Beamtenwitwen und Privatrentnern, die alle über ein relativ hohes Alterseinkommen verfügten. Vor diesem Hintergrund kann nicht primär das Fehlen einschlägiger Daten dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Zeitgenossen in der Altersarmut kein pressierendes soziales Problem sahen. Entscheidend waren vielmehr drei Faktoren: Zunächst einmal standen Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik unter dem Eindruck der enormen materiellen Verbesserung, welche die Adenauersche Rentenreform für die Alten bedeutet hatte. Das betraf zum einen die beispiellose Rentenanhebung, welche 1957 sofort wirksam geworden war, zum anderen aber auch die Steigerung seither, die auf der neuen Dynamisierung der Altersrenten beruhte. Durch die Kopplung der Rentenentwicklung an die Löhne waren die Alten am Wohlstandsgewinn des »Wirtschaftswunders« beteiligt worden – das konnten nicht nur die Rentner unmittelbar an ihrem Geldbeutel verfolgen, sondern auch alle anderen anlässlich der jährlich im Bundestag stattfindenden Beschlüsse zur Rentenanpassung und anhand der statistischen Kennzahlen. Von 1957 bis 1972 waren die Renten im Jahresdurchschnitt um 7,1 % gewachsen und damit weit schneller als die Preise, die – abhängig davon, ob man einen Einzelhandels- oder Lebenshaltungsindex zugrunde legt – um 2–3 % jahresdurchschnittlich gestiegen waren.16 Zwar hatten sich die Bruttolöhne im gleichen Zeitraum noch etwas rascher – um 8,2 % pro Jahr – erhöht; doch führten die gleichzeitig gestiegenen Lohnabzüge dazu, dass »[u]nter dem Nettoaspekt« nicht davon gesprochen werden konnte, »dass die Entwicklung der Renten seit der Reform im Jahr 1957 nennenswert hinter den Löhnen zurückgeblieben« waren.17 Angesichts dieser staunenerregenden, auch lebensweltlich omnipräsenten materiellen Zugewinne, an denen die Alten ebenso beteiligt waren wie die anderen Generationen, galt die Altersarmut weithin als ein Problem der Vergangenheit. Die Wahrnehmung der Einkommenssituation der Alten in der Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren zeigt frappierende 15 So betrug etwa der Gini-Koeffizient für die Rentnerhaushalte 1970 0,359, während er für die Haushalte der Arbeiter bei 0,289, die der Angestellten bei 0,331 und die der Selbständigen bei 0,328 lag. Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1970, in: DIW Wochenbericht Nr. 34/1973. 16 Berié, Entwicklung von Löhnen, S. 212; DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 216. Preissteigerungsberechnung nach https://www.destatis.de/DE/ Publikationen/Thematisch/Preise/Verbraucherpreise/VerbraucherpreisindexLangeReihen PDF_5611103.pdf?__blob=publicationFile. 17 Berié, Entwicklung von Löhnen, S. 212.
Armut und materielle Ungleichheit im Alter 163
Parallelen zur vorherrschenden Sichtweise in Großbritannien ein Jahrzehnt früher. Sowohl die Beveridge-Reformen kurz nach dem Krieg als auch die deutsche Rentenreform scheinen einen »Honeymoon«-Effekt ausgelöst zu haben – eine Art Anfangseuphorie, in der man das »Ende der Armut« schon erreicht oder zum Greifen nahe wähnte.18 Der zweite Grund dafür, dass die sozio-ökonomische Lage der Alten in Deutschland anders als in Großbritannien nicht in erster Linie mit Armut assoziiert wurde, ist in der inhaltlichen Aufladung des Armutsbegriffs selbst zu suchen. Im Vereinigten Königreich war die Neubestimmung des wissenschaftlich und gesellschaftlich vorherrschenden Verständnisses von Armut die Voraussetzung für ihre Skandalisierung Mitte der 1960er Jahre gewesen. Seit den späten 1950ern war es einer Gruppe von jungen sozialwissenschaftlichen Experten, deren Spiritus Rector Richard Titmuss an der London School of Economics war, zunehmend gelungen, sowohl in der akademischen als auch in der politischen Debatte ein »relatives« Armutskonzept durchsetzen, das die bislang dominierende »absolute« Definition mehr und mehr verdrängte.19 Erst dieser Perspektivwechsel hatte den Weg für die »Wiederentdeckung« der Armut freigemacht, von der besonders die Alten und die Kinder betroffen waren. In der Bundes republik dagegen fehlten nicht nur die lange Tradition und der politische Impetus einer starken Armutsforschung, die den Blick auf solche sozialen Problem lagen gelenkt hätte. Es gab in den Sozialwissenschaften auch keine Strömung, die sich mit aller Entschiedenheit dafür einsetzte, einer »relativen« Konzeption von Armut den Vorzug zu geben. Zwar lässt sich verfolgen, dass Konzepte »relativer« materieller Armut zu Beginn der 1970er Jahre auch Eingang in die deutschen Sozialwissenschaften fanden. Doch wurden die neuen, aus der angelsächsischen Forschung stammenden und am Durchschnittseinkommen orientierten »relativen« Armutsindikatoren hier stets nur als mögliche Alternativen zur Messung von Armut genannt.20 Vorherrschend blieben dagegen in den Sozialwissenschaften wie in der politischen Öffentlichkeit zwei Definitionen von Armut, die beide nicht geeignet waren, Altersarmut zum Thema zu machen. Erstens nämlich war nach wie vor ein »absolutes«, auf das physische Existenzminimum rekurrierendes Armutsverständnis weit verbreitet. Die lebensweltliche Erfahrung »absoluter« Armut in den 1940er und 1950er Jahren war für viele Westdeutsche noch zu lebendig, als dass sie in den 1960er Jahren ihre Plausibilität als Maßstab verloren hätte. Gleichzeitig zog die »Dritte Welt« zunehmend Aufmerksamkeit auf sich – und mit ihr Berichte wie etwa das »Tagebuch der Armut« der Favela-Bewohnerin 18 Vgl. oben, Kap. I.3. 19 Vgl. hierzu Torp, »The Ending of Poverty«. 20 Vgl. etwa Glatzer u. Krupp, Soziale Indikatoren, S. 219 ff.; Young, Münstermann u. Schacht, Armut 1975, S. 4 ff.
164 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat Carolina Maria de Jesus, das seit 1962 in deutscher Übersetzung vorlag.21 Auch das verstärkte noch einmal ein durch nackte physische Not geprägtes Armutsbild und ließ die Situation der meisten Alten in der Bundesrepublik in einem weicheren Licht erscheinen. Die zweite Armutsdefinition, die in den 1960er Jahren dominierte, orientierte sich an den gesetzlichen Bestimmungen und der Statistik der Sozialhilfe. Gerade wenn man dabei nicht von der schwer zu ermittelnden Anzahl der potentiell Sozialhilfeberechtigten, sondern von den tatsächlichen Sozialhilfefällen ausging, nahm sich die Einkommenssituation der Alten als wenig dramatisch aus: Lediglich 2,7 % der über 65jährigen – 1,6 % der Männer und 3,5 % der Frauen – bezogen 1970 die »Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt«; und selbst wenn man die zweite fürsorgerische Schiene der »Hilfe in besonderen Lebens lagen« hinzunahm, stieg die Sozialhilfequote auf nicht mehr als 5,6 % der Alten.22 Der dritte Faktor, der dazu beitrug, die Einkommenslage der Alten in Westdeutschland zu entdramatisieren, war der zunehmend an Bedeutung gewinnende Blick auf andere Länder. Gerade Großbritannien fungierte dabei in der deutschen publizistischen Öffentlichkeit immer wieder als Negativfolie. Wie gut sich die deutsche Altersversorgung im Vergleich zur britischen darstellte, rechnete etwa die »Zeit« auf der Grundlage einer Studie der europäischen Kommission kurz vor dem EWG -Beitritt des Vereinigten Königreichs vor: Während ein »durchschnittlich verdienender Bergarbeiter« nach 30 Versicherungsjahren »in der Bundesrepublik 89 Prozent« seines bisherigen Lohnes erhalte, müsse er in Großbritannien mit mageren 45 Prozent auskommen.23 Überhaupt – das war auch der Tenor in der »Frankfurter Allgemeinen« – erwies sich der britische Wohlfahrtsstaat, gerade wenn man ihn mit seinem bundesdeutschen Pendant kontrastierte, als »in höchstem Maße unwirksam und unbefriedigend«. »Die wirklich harte Tatsache«, informierte der Großbritannien-Korrespondent der FAZ seine Leser 1970, »mit der das Land zweifellos nicht fertig geworden ist, deren Druck sich sogar noch von Monat zu Monat verstärkt«, sei »die Massen armut«. Betroffen seien von ihr in erster Linie große Familien und die Alten. Von letzteren, wusste der Journalist mit Bezugnahme auf ein »Weißbuch der Labour-Regierung aus dem Jahre 1969« zu berichten, seien etwa »zwei Millionen …, fast jeder dritte, auf öffentliche Unterstützung«, also Sozialhilfe, angewiesen; die Dunkelziffer der Anspruchsberechtigten sei noch weit höher.24 21 De Jesus, Tagebuch der Armut. Vgl. auch Schäfers, Zum öffentlichen Stellenwert, S. 112 f.; Süß, Armut; Hein, Die Westdeutschen. 22 Eigene Berechnungen nach St BA , Die älteren Mitbürger, S. 30, Tab. II.1, u. S. 62, Tab. V.14. Die Berechnungen der Promillezahlen in Tab. V.14 sind nicht nachzuvollziehen. Zum Sozialhilfebezug vgl. auch Hauser u. Semrau, Zur Entwicklung, mit weitgehend übereinstimmenden Berechnungen (für 1969); Löber, Sozialhilfe. 23 Keine Chancen für Ideologen, in: Die Zeit, 10.11.1972. 24 Am Rande der Armutslinie. Der Fehlschlag einer zu breit gestreuten Sozialpolitik, in: FAZ , 3.10.1970.
Von der »Altersnot« zum »Altenproblem« 165
Im Lichte derartiger Verhältnisse im westlichen Ausland – die Leistungen der Alterssicherung in den sozialistischen Staaten inklusive der DDR waren um 1970 schon lange keine relevante Referenzgröße mehr25 – bot die vergleichsweise vorteilhafte materielle Lage der westdeutschen Rentner wenig Ansatzpunkte für einen Diskurs über Altersarmut.
2. Von der »Altersnot« zum »Altenproblem« – Die Anfänge der deutschen Gerontologie Im Glauben an die erfolgreiche Zurückdrängung der Altersarmut unterschieden sich die 1960er von den 1950er Jahren, in der Wahrnehmung der Alten als Problemgruppe taten sie es nicht. Bereits das Konstrukt der »Altersnot«, das die Wahrnehmung der älteren Menschen in den 1950er Jahren beherrscht hatte, hatte über die ökonomische Mangellage hinaus auf die Schwierigkeiten des »Funktionsverlustes« im Alter verwiesen.26 Im Folgejahrzehnt nun trat der materielle Aspekt mehr und mehr zugunsten einer wachsenden Aufmerksamkeit für die »sozialen und psychologischen Probleme des Alterns« zurück.27 Eine wichtige Rolle für diese sich auf breiter gesellschaftlicher Front durchsetzende Verschiebung des Blicks auf das Alter und die Alten ebenso wie für die wachsende Prominenz des »Altenproblems« spielte die bundesdeutsche Gerontologie, die als interdisziplinärer Forschungszweig unter Einschluss der Medizin, der Psychologie und der Soziologie in den 1960er Jahren in die Phase ihrer institutionellen Etablierung eintrat. Mit einiger Verspätung einem allgemeinen Trend in der westlichen Welt folgend, muss die Expansion der gerontologischen Forschung in der Bundesrepublik, ebenso wie anderswo auch, als Reaktion auf zwei miteinander verbundene Prozesse des gesellschaftlichen Wandels begriffen werden. Zum einen war das die demographische Langzeitentwicklung der Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung, zum anderen die Entstehung des Alters als sozialer Kategorie. Traditionell war Alter primär ein individuelles, eng mit dem Verlust persönlicher Fähigkeiten verbundenes Phänomen gewesen. Erst mit der »Institutionalisierung des Lebenslaufs« – der Herausbildung eines dreigeteilten Lebenslaufmodells (Kindheit/Jugend, »aktive« Zeit der Erwerbstätigkeit, Alter) als grundlegendem, am chronologischen Lebensalter orientierten gesellschaftlichem Strukturprinzip – wurde Alter zu einer eigenständigen sozialen Figuration.28 In diesem Prozess kam der Entstehung und dem Ausbau der staatlichen Alterssicherungssysteme eine entscheidende 25 26 27 28
Vgl. Die Renten in der Zone bleiben niedrig, in: FAZ , 25.1.1968. Vgl. oben, Kap. II.1. Vorwort, in: Thomae u. Lehr (Hg.), Altern, S. V. Kohli, Institutionalisierung. Vgl. ders., Der institutionalisierte Lebenslauf.
166 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat Bedeutung zu, da sie die Entkopplung von Alter und Erwerbsarbeit ermöglichten und zunehmend ab einem gesetzlich festgelegten Rentenalter auch erzwangen. In Westdeutschland fiel die Etablierung der Gerontologie in den 1960er und frühen 1970er Jahren mit der Hochphase der Standardisierung des Lebenslaufs und damit mit jener Zeit zusammen, in der ihr Studienobjekt als chronologisch abgegrenzte soziale Gruppe so klar hervortrat wie niemals zuvor.29 Nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen des Alters und des Alterns in Deutschland – und hier unterschied sich der Westen nicht vom Osten – zunächst so gut wie vollständig auf medizinisch-biologische Ansätze. Als sich dann seit dem Ausgang der 1950er Jahre auch die soziologisch und die psychologisch ausgerichtete gerontologische Forschung in der Bundesrepublik intensivierte, geschah das – wie das für die Sozial- und Verhaltenswissenschaften insgesamt galt – unter massivem Einfluss des amerikanischen Vorbilds. In den USA hatte die Gerontologie schon seit den späten 1930er Jahren wesentliche Schritte in Richtung einer interdisziplinären Wissenschaft unter Einschluss der Alternspsychologie und -soziologie gemacht – die Geriatrie war auch hier früher entstanden – und entsprechende institutionelle Strukturen ausgebildet: 1939 war mit »Problems of Aging« das erste einflussreiche Handbuch der Alternsforschung erschienen, das das gerontologische Wissen aus den verschiedenen Forschungsfeldern bündelte (dabei freilich noch stark medizinisch-biologisch geprägt blieb);30 1945 entstand die Gerontological Society als disziplinenübergreifende Fachgesellschaft für Alternsforschung, ein Jahr später das nach wie vor Maßstäbe setzende »Journal of Gerontology«; in die 1950er Jahre fielen dann die Gründung von wichtigen gerontologischen Forschungszentren und die ersten großangelegten empirischen Längsschnittstudien.31 In der Bundesrepublik, wo die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie 1967 erfolgte, waren wichtige Figuren der Alternsforschung wie etwa das Ehepaar Paul B. und Margret M. Baltes durch lange Auslands aufenthalte eng mit der amerikanischen Gerontologie verbunden. Noch wichtiger war, dass sich die westdeutsche sozialwissenschaftliche und psychologische Gerontologie von Beginn an bereitwillig dem Einfluss der amerikanischen Forschungsliteratur öffnete. Als Hans Thomae und Ursula Lehr, zwei weitere Pioniere der deutschen Gerontologie, die seit 1965 mit der »Bonner Längsschnittstudie über das Altern« (BOLSA) die erste größere gerontologische Untersuchung in Deutschland initiierten, Ende der 1960er Jahre eine Sammlung von »repräsentativen« Fachbeiträgen zum Thema Altern vorstellten, in der sich Texte deutscher Alternsforscher etwa gleichgewichtig mit solchen amerika 29 Vgl. hierzu auch Guilemard, Destandardisierung; Backes, Alter(n), S. 69 ff., 285 f. 30 Cowdry (Hg.), Problems of Ageing. Vgl. hierzu Park, Edmund Vincent Cowdry. 31 Vgl. nur Achenbaum, Crossing Frontiers; Wahl u. Heyl, Gerontologie, S. 91–94, 98–106.
Von der »Altersnot« zum »Altenproblem« 167
nischer Provenienz mischten, gaben sie im »Vorwort« unumwunden zu: »Hätte sich dieser ›Reader‹ das Ziel gesetzt, eine Art von ›Moment-Aufnahme‹ der Forschungen zur sozialen Gerontologie im Jahre 1967 zu vermitteln, dann wäre es unumgänglich gewesen, für die Übersetzungen aus dem Englischen etwa 90 % des Umfanges zu reservieren.«32 Aus den USA importierte die bundesdeutsche Gerontologie ihre zentralen Begriffe, Modelle und Forschungsansätze. Von hier, ebenso aber aus der britischen Alternsforschung kam die Tendenz, zunächst die materiellen Bedingungen des Alterns, dann zunehmend aber auch die Lebensverhältnisse älterer Menschen jenseits dessen, ihre Wohnsituation, ihr subjektives Wohlbefinden, ihre gesellschaftliche Integration, in den Blick zu nehmen. Und auch die erste und bis heute wichtigste Kontroverse der Sozialgerontologie – jene zwischen den Vertretern der Disengagement- und der Aktivitätsthese –, in der es darum ging, ob entweder der allmähliche Rückzug aus den Rollenfigurationen der Erwerbsphase oder aber die möglichst kontinuierliche Fortführung bisheriger Aufgaben und Beziehungen auf dem bislang gewohnten Aktivitätsniveau das richtige Rezept für ein »erfolgreiches« Altern darstellte, übernahm die deutsche Alternsforschung in den 1960er Jahren aus den Vereinigten Staaten.33 Ebenfalls in enger Anlehnung an die amerikanische Gerontologie entwickelte sich die deutsche Alternsforschung – das gleiche trifft für ihr etwas früher den Kinderschuhen entwachsendes britisches Pendant zu – als eine extrem anwendungsbezogene, quantitativ orientierte Wissenschaft.34 Sowohl Alterns soziologie als auch -psychologie fassten ihren Gegenstand in erster Linie als »soziales Problem« auf. Bemühungen um die Entwicklung einer eigenständigen theoretischen Reflexionsebene waren selten. Vorherrschend blieb die Orientierung an den verschiedenen Praxisdimensionen des Alterns und des Alters, in denen es konkrete Schwierigkeiten zu analysieren und zu überwinden galt. Aber nicht nur der Einfluss aus den USA wirkte auf einen starken Praxisbezug der deutschen Gerontologie hin. Hinzu kam in der Bundesrepublik eine große Nähe zu den Akteuren und Problemdefinitionen der staatlichen Sozialpolitik. Exemplarisch hierfür steht die Arbeit von Otto Blume, Direktor des von ihm begründeten Instituts für Selbsthilfe und Sozialforschung (heute: Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik) in Köln, der in Deutschland zu den ersten gehörte, die die Lebensverhältnisse alter Menschen mit den Methoden der empirischen Sozialforschung untersuchten. Nachdem Blume bereits 1962 die Ergebnisse einer vom Kölner Sozialdezernenten in Auftrag gegebenen 32 Vorwort, in: Thomae u. Lehr (Hg.), Altern, S. VI . 33 Vgl. zu diesem Absatz Höpflinger, Gerontologie; Wahl u. Heyl, Gerontologie, S. 94–116; Backes, Alter(n), S. 69 ff.; Karl, Gerontologie; v. Kondratowitz, Sozialgerontologie; Wahl, Verhaltens- und sozialwissenschaftliche Gerontologie. 34 Vgl. Bengston, Rice u. Johnson, Are Theories of Aging Important?, S. 8 ff.; van Dyk u. Lessenich, »Junge Alte«, S. 14; Kohli, Altern, S. 231 f.
168 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat Studie über »Lebenslage, Verhaltensweisen und Erwartungen älterer Menschen« vorgelegt hatte,35 folgte 1968 eine Untersuchung zu den »Möglichkeiten und Grenzen der Altenhilfe«, die in enger Zusammenarbeit mit den Leitern verschiedener Sozialämter und dem Bundesarbeitsministerium entstand. In aller Deutlichkeit trat hier die Art und Weise hervor, in der sich die empirische Sozialforschung ihrem Untersuchungsgegenstand näherte: »In dem Thema ›Alte Menschen‹«, formulierte Blume, »haben wir in unseren Tagen ein praktisches Problem von großer, die Öffentlichkeit immer intensiver interessierender Bedeutung vor uns.« Der empirischen Sozialforschung kam in diesem Kontext die Rolle einer Hilfswissenschaft der Sozialpolitik zu; »›[l]etztes Ziel der Sozialforschung‹«, zitierte Blume mit René König eine ihrer Leitfiguren in der deutschen Nachkriegszeit,36 »›wird aber die praktische Anwendung ihrer Ergebnisse sein‹«. Konkret bedeutete das, die soziale Lage der Alten von Beginn an durch die sozialpolitische Brille der Bedürftigkeitsdefinitionen des Bundessozialhilfegesetzes zu sehen und mit diesem vom Defizit-Bild einer »prinzipiell … für alle älteren Menschen« geltenden Hilfsbedürftigkeit auszugehen: »Wir unter suchen«, führte Blume aus, »in Anlehnung an das Bundessozialhilfegesetz die einzelnen typischen Merkmale der Lebenslage alter Leute … und versuchen zu zeigen, ob sich aus ihnen das Bild im ganzen unbefriedigender Lebenslagen ergibt, so dass sie … Anspruch auf geeignete Hilfen haben«.37 Welche Ergebnisse zeitigte die noch junge sozial- und psychogerontologische Forschung in der Bundesrepublik für die hier im Mittelpunkt stehende Frage nach sozialen Ungleichheiten im Alter? Hervorzuheben sind insbesondere drei Themenfelder. Das gilt zuerst einmal für jenen Problemkomplex, auf den sich die internationale soziologische und psychologische Alternsforschung mehr als auf irgendeinen anderen konzentrierte: den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand und den Umgang älterer Menschen mit dem damit verbundenen Rollen- und Funktionsverlust. Wenn es um dieses Kernthema der frühen Gerontologie ging – mit dem übrigens ein rein männlich konnotiertes Problem ungeachtet der klaren Dominanz von Frauen unter den Alten eine zentrale Position beanspruchte –, waren alarmierende Schlagworte wie »Pensionierungstod« oder »Pensionierungsschock« zumeist nicht weit.38 Fallschilderungen aus der psychotherapeutischen Praxis machten die Runde wie jene des Hamburger Mediziners Alfred Jores, nach der ein hoher Beamter nach der Pensionierung zunächst eine Zeitlang seinen bisherigen Arbeitsalltag in seinem häuslichen Büro simulierte und an seiner Tür ein Schild mit der Aufschrift »Parteien 35 Blume, Alte Menschen, S. 13. 36 Zur Rolle René Königs für die empirische Sozialforschung in der Bundesrepublik vgl. nur Gerhard, Soziologie, S. 219 ff.; Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹, S. 91 ff., 193 ff. 37 Zitate: Blume, Möglichkeiten, S. 1, 8, 4. 38 Vgl. etwa Rentner. Kraft durch Arbeit, in: Der Spiegel, 21.3.1966.
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verkehr nur von 11 bis 13 ½ Uhr« anbrachte, bevor er schließlich an einer schweren Depression erkrankte.39 Gegenüber solchen Einzelfällen kamen die empirischen Untersuchungen der Alternsforschung zu weit nüchterneren und differenzierteren Ergebnissen. Als entscheidend für die Beurteilung der Verrentung bzw. Pensionierung erwies sich zunächst einmal das Lebensalter der Befragten: Eine insgesamt positive Erwartungshaltung gegenüber dem Ruhestand hatten die 50–55jährigen, von denen 89 % das ideale Rentenalter sogar vor das 65. Lebensjahr datierten; eine große Zufriedenheit mit dem Status des Rentnerdaseins ließ sich darüber hinaus bei den 70–75jährigen feststellen, die schon einige Jahre aus dem Erwerbsprozess ausgeschieden waren. Deutlich negativer dagegen war die Einstellung der 60–65jährigen, die kurz vor der Verrentung standen; am unzufriedensten waren jene, die erst wenige Wochen oder Monate zuvor in Rente gegangen waren. Während die positive Haltung gegenüber dem Rentnerdasein bei den 50–55- und 70–75jährigen weitgehend unabhängig von ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit war, traf das Gegenteil auf die Gruppe der Befragten in den 60ern zu. Bei ihnen war die günstige Beurteilung des Übergangs in den Ruhestand weit stärker unter jenen verbreitet, die über einen höheren sozialen Status verfügten und zufrieden auf ihr bisheriges Berufsleben zurückblickten.40 Auf die anhaltende Bedeutung sozialer Schichtungsmerkmale im Alter verwies auch die bereits erwähnte Studie Otto Blumes von 1968, die sich ausführlich mit der Frage auseinandersetzte, mit welchen Aktivitäten die alten Leute nach der Verrentung ihre Zeit verbrachten. Es stellte sich heraus, dass nicht nur der Besuch kultureller Veranstaltungen und die Ausübung von Hobbies, sondern ebenso die Häufigkeit von Verwandtenbesuchen, die Aufrechterhaltung freundschaftlicher Kontakte und die Mitgliedschaft in Vereinen in hohem Maße mit dem Einkommen, der früheren beruflichen Position, vor allem aber mit dem Bildungsniveau der Alten korrelierte. Auch zwischen dem »Gefühl der Einsamkeit« im Alter und der früheren Schulbildung war ein »enger Zusammenhang« zu konstatieren, waren doch unter »100 ehemaligen Volksschülern … viermal so viele Einsame als [sic!] unter 100 Akademikern anzutreffen«. Vor diesem Hintergrund kamen Blume und andere zu dem Schluss, dass eine wirksame Bekämpfung der häufig beklagten »Leere« im Alter weit vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben anzusetzen habe, da in diesem Alter bereits alle wichtigen Interessen und Verhaltensweisen weithin festgelegt waren. »[D]ie Einführung des 9. oder 10. Schuljahres oder andere pädagogische Maßnahmen«, resümierte Blume, stellten »wahrscheinlich eine wirksamere Altershilfe« dar »als Altenclubs oder ähnliche Einrichtungen, die erst nach dem
39 Vgl. Bleuel, Alten Menschen, S. 78. 40 Lehr u. Dreher, Psychologische Probleme, S. 353 ff., 363.
170 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat 65. Lebensjahr angeboten werden«.41 Darin deutete sich bereits die frühe Aufmerksamkeit der Alternsforschung für die in den folgenden Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewinnende Lebenslaufperspektive an, die mit Nachdruck auf die zentrale Rolle früherer Lebensphasen für die individuellen Lebensumstände im Alter verweist. Die Wohnverhältnisse der Alten waren das zweite Thema der Alterns forschung, das einen unmittelbaren Bezug zu Fragen der sozialen Ungleichheit hatte. Entgegen einem in der Bundesrepublik offenbar weitverbreiteten Klischee war lediglich eine kleine Minderheit von 3–4 % der alten Menschen in Altenoder Pflegeheimen untergebracht.42 Bei der übergroßen Mehrheit der Alten, die entweder in ihrem Eigentum oder zur Miete wohnten, überlagerten sich interund intra-altersgruppenspezifische Ungleichheiten. Verglich man zunächst die Haushalte mit Haushaltsvorständen von über und unter 65 Jahren, zeigte sich, dass die Alten überproportional häufig in Häusern wohnten, die vor dem Zweiten und häufig sogar vor dem Ersten Weltkrieg errichtet worden waren, während die Jüngeren bei den Neubauten überrepräsentiert waren.43 Dem korrespondierte die schlechtere Ausstattung der von älteren Menschen bewohnten Wohnungen. So ergab etwa die Gebäude- und Wohnungszählung von 1968, dass von den Haushalten mit einem Haushaltsvorstand von 65 Jahren und mehr lediglich 54 % über ein eigenes Bad und WC verfügten, während das bei den Haushalten mit einem jüngeren Haushaltsvorstand immerhin auf 71 % zutraf.44 Auch standen den älteren Mietern und Eigentümern im Durchschnitt weniger Wohnräume zur Verfügung als vergleichbar großen Haushalten Jüngerer. Trotz der qualitativ schlechteren Wohnbedingungen der älteren Bevölkerung gab es unter dieser allerdings keine weit verbreitete Unzufriedenheit. Nur eine kleine Minderheit von 5 % der Alten gab an, mit der eigenen Wohnsituation nicht ein verstanden zu sein.45 Noch wichtiger als die Unterschiede in den Wohnverhältnissen zwischen den Altersgruppen waren jene innerhalb der Gruppe der Alten. Wie kaum anders zu erwarten, waren Wohnungsgröße und -ausstattung eng an den früheren Beruf ihrer Bewohner und deren Einkommen gekoppelt. Eine repräsentative Erhebung, die unter den über 65jährigen 1972 in West-Berlin durchgeführt wurde, ergab beispielsweise, dass 48 % der Freiberufler und 32 % der früheren Selbständigen und Beamten bzw. deren Witwen über eine Wohnung mit mindestens drei Zimmern und Küche verfügten, während das nur für 12 % der ehemaligen Arbeiter und ihrer Witwen zutraf. 40 % der ehemaligen Arbeiter, aber 41 Zitate: Blume, Möglichkeiten, S. 84, 137. 42 Vgl. etwa Heddy Neumeister, Nicht jeder möchte »Oma« heißen. Nivellierte und individuelle Wohlfahrt für das Alter, in: FAZ , 24.1.1967; Tews, Soziologie des Alterns, S. 30. 43 Vgl. Deininger, Statistische Ergebnisse, S. 191 ff. 44 Eigene Berechnungen nach St BA , Die älteren Mitbürger, S. 64. 45 Boetticher, Geront ’73, S. 47. Vgl. auch Die Lebenslage älterer Menschen, S.175 f.
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lediglich 8 % der früheren Beamten besaßen kein eigenes Bad.46 Wie in jeder anderen Beziehung, standen die alleinstehenden Frauen auch im Hinblick auf ihre Wohnsituation unter den Alten besonders schlecht dar. Gleichzeitig offenbarte eine vom Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegebene empirische Untersuchung zu den Lebensverhältnissen älterer Menschen in ländlichen Gebieten ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. Anders, als dass gängige Vorstellungen von der idyllischen Situation der Alten auf dem Land nahelegten, zeigte die Studie, dass diese ihren Lebensabend vielfach unter miserablen Bedingungen fristeten. Das galt insbesondere auch für ihre Wohnsituation. Die Erhebung ließ keinen Zweifel daran, dass »[d]as flache Land … den alten Menschen unbequemere und primitivere Wohnverhältnisse als die Großstadt« bot. Noch schlimmer als in den anderen Regionen waren die Verhältnisse, welche die Alternsforscher in fränkischen Dörfern antrafen: Hier verfügten »31 Prozent der über 65jährigen Personen« – fast ausnahmslos Frauen – »über keinen einzigen eigenen Raum«, mussten sie also »sogar das Schlafzimmer mit Kindern oder Enkeln teilen«.47 In den deutschen Großstädten musste lediglich eine verschwindende Minderheit von 1 % der Alten unter diesen Umständen leben. Gesundheit und Krankheit im Alter bildeten das dritte Themenfeld der Alternsforschung, das potentiell mit Fragen der sozialen Ungleichheit eng verbunden war. Die schlechthin zentrale Stellung der Morbiditätsproblematik zeigte sich nicht nur an der dominierenden Position, welche die Geriatrie innerhalb des jungen interdisziplinären Forschungsfeldes Gerontologie innehatte. Sie offenbarte sich auch darin, dass 90 % der über 65jährigen bei einer empirischen Erhebung angaben, dass die »Hauptschwierigkeit des Alters in dem sich stetig verschlechternden Gesundheitszustand« liege.48 Vor diesem Hintergrund lehnte die Gerontologie einerseits dezidiert Begriffe wie »Altersschwäche« oder »Alterskrankheiten« zur Kennzeichnung des Krankheitsbildes älterer Menschen ab, da sie hinter ihnen die semantische Gleichsetzung von Alter und Krankheit sah. Andererseits kam sie nicht umhin festzustellen, dass chronische Erkrankungen und Multimorbidität wichtige Charakteristika des Alters waren.49 So litten etwa Anfang der 1970er Jahre 65 % der alten West-Berliner nach eigenen Angaben an mindestens einer chronischen Krankheit, wobei Erkrankungen des Herzens und der Gelenke mit Abstand am häufigsten genannt wurden.50 Eingehendere Analysen des Gesundheitszustandes der älteren Bevölkerung scheiterten zunächst in erster Linie am Mangel zuverlässiger Daten. Ein Hauptproblem bestand hier darin, dass die empirische Sozialforschung zwar 46 Kuhlmeyer, Dokumentation, S. 26, 28. Vgl. Blume, Möglichkeiten, S. 56–61. 47 Blume, Zur Situation, S. 86, 85. Vgl. Kuhlmeyer, Dokumentation, S. 27; Blume, Möglichkeiten, S. 56 ff.; ders., Zur Situation, S. 85. 48 Blume, Subjektiver Gesundheitszustand, S. 114. 49 Vgl. Die Lebenslage älterer Menschen, S. 216; Schubert u. Störmer (Hg.), Multimorbidität. 50 Kuhlmeyer, Dokumentation, S. 71 f.
172 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat im Rahmen von Erhebungen den subjektiven Gesundheitszustand der Alten erfragen konnte, aber mangels klinischer Paralleluntersuchungen kaum Anhaltspunkte dafür hatte, ob sich dieser mit der Beurteilung durch den medizinischen Experten deckte.51 Den Beleg für eine statistisch signifikante Kongruenz zwischen subjektiver und ärztlicher Beurteilung des Gesundheitszustandes lieferte erst Ende der 1960er Jahre eine vom Beirat Altenhilfe in Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Studie, die an der Universitätsklinik Münster unter Beteiligung von Medizinern, Sozialwissenschaftlern und Psychologen stattfand.52 Als ganz besonders dürftig erwies sich die Datenlage im Hinblick auf den Zusammenhang von Gesundheit und sozialem Status. Auch hier leistete die Münsteraner Altersstudie Pionierarbeit. Insgesamt deuteten ihre Resultate auf eine »verhältnismäßig starke Abhängigkeit zwischen Gesundheitszustand und Einkommen« hin.53 Das bestätigte die Ergebnisse einer vorangegangenen Befragung Otto Blumes, nach der Bezieher von Einkommen über DM 600 nur zu 31 % unter einer chronischen Krankheit litten, während das bei 47 % der Befragten mit einem Einkommen von unter DM 300 der Fall war.54 In die gleiche Richtung wiesen auch die Daten einer Forschungsgruppe für Gerontologie an der Universität Gießen vom Anfang der 1970er Jahre, die zeigten, dass sich der Anteil der Alten, der sich selbst eine gute Gesundheit attestierte, von der untersten bis zur höchsten Einkommensstufe von 13 auf 31 % anstieg.55 Wie allerdings die positive Korrelation von sozialem Status und Gesundheit im Alter zu erklären war, durch welche Wirkungsmechanismen also die Trias von Einkommen, Bildung und Beruf kausal mit gesundheitlichen Ungleichheiten verknüpft war, welche Rolle dabei berufsbedingte Belastungen während des Erwerbslebens, unvorteilhafte Wohnverhältnisse und psychosoziale Belastungen spielten – das blieb so gut wie vollständig im Dunkeln. Auch im Hinblick auf den Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit, individuellem Lebensstil – also Ernährung, sportlicher Betätigung, Alkohol- und Tabakkonsum – und Gesundheitszustand im Alter beschränkte sich die Alternsforschung einstweilen auf Wirkungsvermutungen, die den Hintergrund bildungsbürgerlicher Verhaltensideale kaum verleugnen konnten.56
51 Vgl. etwa Blume, Subjektiver Gesundheitszustand; Kuhlmeyer, Dokumentation, S. 66 ff.; Boetticher, Geront ’73, S. 10 ff. 52 Vgl. Blume, Subjektiver Gesundheitszustand; Oberwittler u. Drebes, Erste Ergebnisse; Schmitz-Scherzer, Berghoff u. Rudinger, Erste Ergebnisse; Kuhlmeyer, Dokumentation, S. 66 53 Blume, Subjektiver Gesundheitszustand, S. 117 (Hervorheb. i. O.). Vgl. Die Lebenslage älterer Menschen, S. 219; Lehr, Soziale Gerontologie, S. 56. 54 Blume, Möglichkeiten, S. 45. 55 Geront ’73, S. 27. 56 Vgl. etwa Die Lebenslage älterer Menschen, S. 219 f.; Geront ’73, S. 28 ff.
Von der »Altersnot« zum »Altenproblem« 173
Obwohl die deutsche Gerontologie im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Skandinavien auch Anfang der 1970er Jahre noch einen geringen Grad der Institutionalisierung an den Universitäten aufwies, war der Einfluss ihrer Forschungsergebnisse und ihres Altersbildes doch ganz unübersehbar. Davon zeugten nicht zuletzt zahlreiche Artikel über gerontologische Themen in den bedeutenden Tageszeitungen und Wochenzeitschriften – von Berichten über Gerontologie-Kongresse über die Auseinandersetzung mit den Fragen und Kontroversen der Alternsforschung bis hin zu detaillierten Reportagen über die Resultate neuerer Studien wie jenen von Thomae, Lehr und Blume.57 Gleichzeitig trafen die Gerontologen mit ihrem Wissensangebot auf eine für sozialwissenschaftliches Wissen überaus aufgeschlossene Politik. Das zeigte sich nicht nur an einer Reihe von Untersuchungen, die auf kommunaler Ebene in enger Zusammenarbeit mit Sozialämtern entstanden oder von Landes- und Bundesministerien in Auftrag gegeben worden waren, sondern auch an einer Institution wie dem 1973 gegründeten, vom Bund und vom Land Berlin gemeinsam finanzierten Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA), das explizit mit den Zielen der Politikberatung, der Vermittlung von gerontologischer Forschung und Praxis der Altenhilfe sowie der Aufklärung der Öffentlichkeit über das »vielschichtige Problem« des Alterns und des Alters aus der Taufe gehoben worden war.58 Dabei blieb das Altersbild, das von der Gerontologie ausstrahlte, von einer tiefen Ambivalenz geprägt, die bereits das Konzept der »Altersnot« der 1950er Jahre gekennzeichnet hatte: Auf der einen Seite nämlich war es ein zentrales Anliegen der Gerontologie, die Vorstellung von den Alten als einer einheitlichen sozialen Gruppe zu dekonstruieren und die Heterogenität der Lebenslagen im Alter zu betonen. Indem sie ihr Untersuchungsobjekt abgrenzte und die Alten als »Problemgruppe« konzipierte, leistete die Alternsforschung auf der anderen Seite jedoch selbst einer weiteren Homogenisierung des Altersbildes im Sinne eines durch gemeinsame Merkmale gekennzeichneten Rentnerstandes Vorschub.
57 Vgl. nur Alltagssünden und Altersplagen, in: FAZ , 10.9.1963; Prof. Dr. René Schubert: Fragen und Ziele der Alternsforschung, in: FAZ , 19.1.1968; Heddy Neumeister, Alter ohne Langeweile, in: FAZ , 14.11.1968; Den alten Menschen einen gesicherten Platz. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie, in: FAZ , 21.6.1971; Alte – Elend im Dorf, in: Der Spiegel, 11.11.1968; Alte. Um einen längeren Tag, in: Der Spiegel, 22.12.1969; Alter – Soziales Schicksal, in: Der Spiegel, 1.4.1974. 58 Schreiben des Berliner Senators für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Klaus Bodin, an das Bayerische Staatsministerium des Innern, Berlin, 1.8.1968, GSD, Bd. 5, CD -ROM , Dokument Nr. 5/28. Vgl. hierzu auch Münch, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: GSD, Bd. 5, S. 701 f.
174 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat
3. Der Ausbau der Alterssicherung bis zur Rentenreform von 1972 Angesichts der Tatsache, dass die Altersarmut durch die Rentenreform von 1957 als weitgehend besiegt galt und das in den 1960er Jahren diskutierte »Alten problem« in erster Linie auf Schwierigkeiten des Alterns jenseits der materiellen Dimension abhob, erscheint es in gewisser Weise paradox, dass auch in der zweiten Hälfte des bundesdeutschen »Wirtschaftswunders« das Feld der Rentenversicherung die bei weitem wichtigste und am meisten Aufmerksamkeit beanspruchende sozialpolitische Arena blieb, in der über die Alten und das Alter gestritten wurde. Doch ist Sozialpolitik in hohem Maße strukturkonservativ und tendiert dazu, neue Problemimpulse zunächst auf den eingefahrenen Gleisen und mit den bewährten Instrumenten zu verarbeiten. Noch wichtiger aber war wohl, dass der westdeutsche Wohlfahrtsstaat – und das gilt in besonderem Maße für die Alterssicherung – in den 1960er Jahren eine bislang unbekannte Eigendynamik entwickelte, die auf seine weithin ungebremste Expansion hinwirkte. Niklas Luhmann hat hierfür die zutreffende Bezeichnung des »mit Selbstantrieb ausgestatteten, automobilen Wohlfahrtsstaates« gefunden.59 Zwar erscheint die Vorstellung des durch selbstinduzierte Dauerexpansion gekennzeichneten Wohlfahrtsstaats aus heutiger Perspektive verkürzt und einer Historisierung zugänglich. Doch ändert das nichts daran, dass Luhmanns – an der Wende zu den 1980er Jahren unter dem Eindruck von jahrzehntelangem Wohlfahrtsstaatsausbau und aktueller Krisensituation entstandene – Analyse der wohlfahrtsstaatlichen Expansionsdynamik für die Bundesrepublik in der Boomperiode bis zur Mitte der 1970er Jahre in hohem Maße Geltung beanspruchen kann. Als Motor der sich selbst vorantreibenden Ausbaudynamik des Wohlfahrtsstaats identifizierte Luhmann das Prinzip der Kompensation. Ausgehend von dem Ziel, die Folgen der industriekapitalistischen Entwicklung zu lindern und die Nachteile der unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen wenigstens partiell auszugleichen, tendiert das kompensatorische Prinzip zur Universalisierung. Stets lassen sich neue Nachteile entdecken, die mit wohlfahrtsstaatlichen Mitteln auszugleichen sind; zudem wird der Kompensationsprozess reflexiv, da die sozialpolitische Intervention selbst Ungerechtigkeiten hervorbringt, die dann wiederum der »Kompensationsfolgeschäden-Kompensation« (Odo Marquard) durch weitere sozialstaatliche Maßnahmen bedürfen.60 Gleichzeitig und eng damit zusammenhängend entfaltet der Wohlfahrtsstaat eine Inklusionsdynamik, die auf der Einbeziehung stets neuer Aspekte in
59 Luhmann, Politische Theorie, S. 13. 60 Marquard, Art. Kompensation, S. 917. Vgl. Luhmann, Politische Theorie, S. 8.
Der Ausbau der Alterssicherung bis zur Rentenreform von 1972 175
den Bereich politischer Gewährleistung und dem grundsätzlichen Versprechen auf Vollinklusion der gesamten Bevölkerung beruht.61 Die Geschichte des weiteren Ausbaus der deutschen Alterssicherung nach ihrer grundlegenden Neuordnung von 1957 kann als Paradebeispiel für die »Automobilität« des Wohlfahrtsstaats gelten. Den Höhepunkt und zugleich den Abschluss dieser Expansionsphase bildete die umfassende Rentenreform von 1972. Bevor kurz auf die politischen Rahmenbedingungen der zweiten großen Nachkriegsreform der Rentenversicherung eingegangen wird, soll zunächst die teils 1972, teils bereits zuvor durchgesetzte strukturelle Expansion der Alterssicherung in ihren wichtigsten drei Dimensionen nachgezeichnet werden. 1. Ursprünglich als reine Arbeitnehmerveranstaltung konzipiert, verzeichnete die staatlich organisierte Alterssicherung in der Bundesrepublik seit 1957 die schrittweise erfolgende Ausweitung ihres Versichertenkreises. Die Ink lusion eines immer größeren Teils der selbständigen Mittelschichten in die öffentliche Alterssicherung lässt sich in seinen Stationen schnell skizzieren: Den Anfang machte das »Gesetz über die Altershilfe für Landwirte« vom Juli 1957, das alle landwirtschaftlichen Unternehmer erfasste, deren Betrieb einen bestimmten Einheitswert erreichte. Das sowohl von allen Parteien als auch von den agrarischen Interessenverbänden befürwortete Altersgeld für Landwirte hatte ein klare agrarpolitische Stoßrichtung, die darin zum Ausdruck kam, dass sein Bezug an die Hofübergabe gekoppelt war, und war ursprünglich als niedrige Pauschalrente konzipiert. In den Folgejahren jedoch wurden die Sätze der Altershilfe mehrfach deutlich angehoben, bevor ihre Leistungen 1973 in Annäherung an die Regelungen der GRV dynamisiert und nach Beitragsjahren gestaffelt wurden.62 Die zweite große Gruppe der Selbständigen, die Handwerker, waren bereits 1938 in die Gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert worden; es bestand für sie jedoch die Möglichkeit, sich durch den Abschluss einer privaten Lebensversicherung von der Versicherungspflicht zu befreien. Das Handwerkerversicherungsgesetz von 1960, das die Alterssicherung der Handwerker neu regelte, beseitigte diese Wahlfreiheit und führte damit die Integration dieser Selbständigengruppe in die GRV konsequent weiter. Gleichzeitig kam das Gesetz den Forderungen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks weit entgegen, indem es die Versicherungspflicht auf 18 Jahre Beitragszeit begrenzte und eine freiwillige Weiterversicherung danach ermöglichte.63 Die Rentenreform 1972 brachte dann die Öffnung der GRV für alle übrigen Selbständigen – vor 61 Vgl. ebd., S. 23–29. 62 Vgl. Hilpert, Wohlfahrtsstaat, S. 155–160; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 4, S. 359–362; ders., dass., in: GSD, Bd. 5, S. 476; Schewe u. Zöllner, Das Gesetz über die Altershilfe für Landwirte. 63 Vgl. Frerich u. Frey, Handbuch, Bd. 1, S. 302 f.; ebd., Bd. 3, S. 49 f.; Hilpert, Wohlfahrtsstaat, S. 160–167; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 4, S. 355–358; Schewe, Entwicklung der Handwerkerversorgung.
176 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat allem für die bislang noch nicht beitrittsberechtigten Freiberufler. Die Selbständigen erhielten die Wahl zwischen zwei Beitrittsoptionen: Sie konnten entweder der GRV als freiwillige Mitglieder beitreten oder das ihnen neu eröffnete Anrecht auf Pflichtmitgliedschaft wahrnehmen, womit erhebliche Vorteile wie etwa die Anrechnung von Ausfall- und Ersatzzeiten verbunden waren. Die Attraktivität des Pflichtbeitritts wurde noch dadurch gesteigert, dass man gleichzeitig eine verkürzte Halbdeckung und überaus günstige Bedingungen für die Nachentrichtung von Beiträgen einführte.64 Ebenfalls in Richtung einer Ausweitung des Versichertenkreises wirkte die von der Großen Koalition 1967 beschlossene Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte.65 Mit diesem Schritt fand nun auch die letzte Gruppe der abhängig Beschäftigten ihren Weg in das staatlich organisierte Alterssicherungssystem. Sieht man von der Sonderstellung der Beamten ab, umfasste die GRV seither alle Arbeitnehmer ungeachtet ihres Berufs und Einkommens. Schließlich eröffnete die Rentenreform 1972 allen bislang noch nicht von der GRV erfassten Personen die Möglichkeit einer freiwilligen Mitgliedschaft sowie der Nachentrichtung von Beiträgen bis 1956 zurück. Hauptzielgruppe waren dabei die ca. sieben Millionen nicht erwerbstätigen Hausfrauen. Faktisch jedoch kam der Aufbau einer eigenen freiwilligen Alterssicherung im Rahmen der GRV nur für jene Minderheit unter ihnen in Frage, die über die notwendigen finanziellen Mittel zur Beitragsleistung und vor allem -nachentrichtung verfügten. In ihrem tatsächlichen Effekt – das zeigte auch die begrenzte Zahl der freiwilligen Beitritte in den Folgejahren – wirkte daher auch die generelle Öffnung der GRV in erster Linie auf den Einschluss eines wachsenden Teils der bundesdeutschen Mittelschichten in die öffentliche Alterssicherung hin – ganz ebenso, wie das für die anderen Inklusionsmaßnahmen galt.66 Fragt man nach den Triebkräften für die Aufrechterhaltung der Inklusionsdynamik auch nach den bereits im Kontext der Reform von 1957 anvisierten Lösungen für die Landwirte und Handwerker, stößt man unweigerlich auf den »Volksversicherungsplan« der SPD von 1965. Bereits vom Parteitag 1964 dazu autorisiert, legte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Ernst Schellenberg im Folgejahr ein ausgearbeitetes Konzept vor, das die Umwandlung der bestehenden Rentenversicherung in eine »Volksversicherung« vorsah und als »Wahl64 Vgl. Hermann, Rentenreform 1972; ders., Entwicklungslinien; Hilpert, Wohlfahrtsstaat, S. 168–174. 65 Es gab allerdings eine zeitlich begrenzte Möglichkeit zur Befreiung von der Versicherungspflicht für über 50jährige Angestellte. Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 420; Gegen die Versicherungspflicht, in: FAZ , 25.7.1968. Siehe außerdem: Heute Beschluss über Versicherungspflicht aller Angestellten, in: FAZ , 8.12.1967; Aufhebung der Versicherungs-Pflichtgrenze beschlossen, in: FAZ , 9.12.1967. 66 Vgl. Hilpert, Wohlfahrtsstaat, S. 172, 183 f.; Hermann, Rentenreform 1972, S. 2 f.; ders., Entwicklungslinien, S. 119; BT Drs. 7/4951, S. 16 f.
Der Ausbau der Alterssicherung bis zur Rentenreform von 1972 177
kampfknüller« für die bevorstehenden Bundestagswahlen gedacht war.67 Die »Volksversicherung« stellte, wie im SOPADE-Rednerdienst nachzulesen war, die »Antwort der Sozialdemokraten auf die unüberhörbare Forderung der modernen Gesellschaft nach sozialer Sicherheit« dar und trug der Tatsache Rechnung, dass »[b]ei uns … heute weniger Bürger im Alter sozial gesichert [waren] als in anderen großen Industrienationen«.68 Die SPD schlug daher die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Arbeiter und Angestellten sowie die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung für alle Selbständigen vor, erteilte aber gleichzeitig – und das war entscheidend – allen Vorstößen in Richtung einer aus Steuermitteln finanzierten und für alle gleichen Grundrente, wie sie die FDP propagierte, eine scharfe Absage.69 Mit Bedacht, stellte Schellenberg in einem Interview mit dem »Spiegel« fest, habe man sich für die Bezeichnung »Volksversicherung« und gegen »Volksrente« entschieden.70 Die Sozialdemokraten zielten nicht darauf, das bestehende Alterssicherungssystem grundlegend zu verändern, sondern durch den Einschluss neuer Gruppen »den Grundsatz der Lebensstandardrente systematisch weiter[zuentwickeln]«.71 Das schloss das Bekenntnis zum Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz und die explizite Ablehnung jeder »Nivellierung« in der Alterssicherung ein; selbst die organisatorische Eigenständigkeit der knappschaftlichen sowie der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte sollte erhalten bleiben.72 Nachdrückliche Unterstützung erhielt das Drängen der SPD auf Öffnung der Rentenversicherung für weitere Personenkreise durch die 1964 eingesetzte »Sozialenquête-Kommission«, die 1966 ihren Abschlussbericht vorlegte. In aller Klarheit explizierte das mit der Darstellung des Gesamtzusammenhangs der Sozialen Sicherung beauftragte Expertengremium zunächst das Prinzip, das der Sozialversicherung in der Bundesrepublik zugrunde lag: »Nicht die Sicherung vor Notlagen durch die Garantie des konventionellen Existenzminimums, sondern die Aufrechterhaltung des von den Individuen in der Zeit ihrer beruflichen Aktivität erreichten Status ist ihre wichtigste Grundlage.« Gleichzeitig sprach 67 Samtpfötchen, in: FAZ , 27.11.1964. Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 4, S. 362 ff. 68 Die Volksversicherung, in: SOPADE -Rednerdienst 2/65, S. 6, BArch, B 136/9022. 69 Zu den FDP-Plänen vgl. nur: Neue soziale Reformen?, in: Frankfurter Rundschau, 23.4.1963; Der Sozialplan der FDP, in: FAZ , 17.7.1963; Die Volksrente, in: Frankfurter Neue Presse, 4.7.1963; Stellungnahme Behrendt, 25.11.1964, BArch, B 136/9022. 70 Pension für jeden Bürger? SPIEGEL -Gespräch mit dem SPD -Bundestagsabgeordneten Professor Dr. Ernst Schellenberg, in: Der Spiegel, 12.5.1965. 71 Die Volksversicherung, in: SOPADE -Rednerdienst 2/65, S. 10, BArch, B 136/9022. 72 Ja zur Volksversicherung. Prof. Ernst Schellenberg im Gespräch mit Fritz Stallberg, in: Vorwärts, 16.6.1965. Vgl. Bartholomäi, Volksversicherungsplan; Pension für jeden Bürger? SPIEGEL -Gespräch mit dem SPD -Bundestagsabgeordneten Professor Dr. Ernst Schellenberg, in: Der Spiegel, 12.5.1965; Stellungnahme Friedmann, 30.4.1965, BArch, B 136/9022.
178 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat sich die Sozialenquête-Kommission dafür aus, »sämtliche Bevölkerungskreise nach den Regeln der gültigen gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig zu machen«.73 Das ging sogar noch deutlich über die Vorschläge der SPD hinaus, da auch die Nicht-Erwerbstätigen einbezogen werden sollten und für die neu hinzutretenden Versicherten Versicherungspflicht anstelle von freiwilliger Mitgliedschaft vorgesehen war. Auch die Regierung Ehrhard und die CDU signalisierten bereits frühzeitig ihre Bereitschaft, die Selbständigen und Freiberufler auf der Grundlage einer zeitlich begrenzten Versicherungspflicht in die GRV zu integrieren. Noch vor den Bundestagswahlen im September 1965 und in Reaktion auf den von der SPD vorgelegten »Volksversicherungsplan« erklärte Theodor Blank, der Minister für Arbeit und Sozialordnung, dass in der nächsten Legislaturperiode »die Öffnung der Rentenversicherung für die selbständig Erwerbstätigen geregelt werden« müsse.74 Kurzum: Schon bald – und das galt a fortiori für die Große und die sozial-liberale Koalition – ging es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie einer Ausdehnung des Versichertenkreises der GRV.75 Die rasche Durchsetzung der Idee einer Öffnung der Rentenversicherung für neue gesellschaftliche Gruppen, die das bundesdeutsche Alterssicherungssystem im Hinblick auf seinen Abdeckungsgrad näher an Großbritannien oder Schweden heranführte, ist freilich nur verständlich, wenn man die deutlich ausgeprägte Nachfrage nach staatlicher Sicherung auf Seiten der Betroffenen berücksichtigt. Es zeigte sich, dass die 1957 grundlegend reformierte Gesetzliche Rentenversicherung mit ihrem insgesamt hohen Renteniveau, dem ihr zugrunde liegenden Leistungsprinzip und der dynamischen Kopplung der Rente an die Lohnentwicklung in den Mittelschichten eine erhebliche Attraktivität entfaltete. Als paradigmatisch darf das Urteil des von Verbänden und Unternehmen der Privatwirtschaft getragenen Deutschen Industrieinstituts gelten, das in seinem »Unternehmerbrief« 1966 feststellte, dass sich »[g]egenüber früher, wo die Selbstvorsorge im Vordergrund stand und die Selbständigen es weit von sich wiesen, einem staatlichen Sicherungssystem beizutreten, … ein fast völliger Umschwung im Verhalten der Selbständigen vollzogen« habe. Die private Vorsorge sei »durch die große Depression der 30er Jahre, durch die zwei Weltkriege und durch Währungsschnitte ›suspekt‹ geworden«. Die GRV dagegen übe »in ihrer heutigen Form … auf die Selbständigen eine starke Anziehungskraft aus. Aus der seinerzeit verachteten Pflicht« sei »inzwischen ein 73 Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Ziff. 388, 537. Zur »SozialenquêteKommission« vgl. Kaufmann, Gemeinsame Fragen, S. 292–296; Schewe, Sozialenquête. 74 Erklärung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Theodor Blank, vor der Presse am 16.7.1965, in: Richter (Hg.), Sozialreform, B III4. Vgl. auch bereits die Erklärung Blanks am 11.5.1965, Sozialpolitische Informationen, 13.5.1965, BArch, B 136/9022. 75 Vgl. Schewe, Zehn Thesen, S. 30.
Der Ausbau der Alterssicherung bis zur Rentenreform von 1972 179
begehrtes Recht geworden«.76 Die CDU-geführte Bundesregierung versuchte diesem Einstellungswandel in ihren ureigensten Wählerschichten Rechnung zu tragen, wenn sie konzedierte, dass die »Vorzüge der Rentenversicherung … nicht einem Teil der Bevölkerung vorenthalten werden« könnten. »Die Furcht, im Alter nicht mit dem Lebensstandard der Allgemeinheit Schritt halten zu können«, ließe sich nur dadurch bekämpfen, dass »die Selbständigen von der allgemeinen Sicherung nicht ausgeschlossen« würden.77 Eng damit zusammen hing ein Funktionswandel, den die Rentenversicherung gerade in den Augen eines Teils der ökonomisch Bessergestellten erfuhr. Die »Chancen, die der Gesetzgeber eröffnet« habe, fasste der Vorstandsvorsitzende des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger 1973 zusammen, hätten dazu geführt, »die Rentenversicherung unter dem Gesichtspunkt einer möglichst günstigen Vermögensanlage zu sehen«. So würden etwa niedrig verzinsliche Bankkredite aufgenommen, um »in den Genuss der besseren Rendite aus der Rentenversicherung zu kommen«.78 Die Neubewertung der Alterssicherung als rentables Anlageobjekt ließ sich in aller Deutlichkeit auch in der bürgerlichen Presse ablesen. Die »Frankfurter Allgemeine« etwa veröffentlichte Ende 1972 eine Serie von 16 (!) Artikeln mit praktischen Ratschlägen, wie die neuen Bestimmungen der gerade verabschiedeten Rentenreform finanziell in optimaler Weise zu nützen seien.79 Auch die »Zeit« ließ ihre Leser nicht im Regen stehen: Im Dezember 1975, kurz bevor die Frist zur Nachentrichtung von Beiträgen ablief, brachte sie unter dem Titel »Nachzahlen und im Alter kassieren« ein Interview mit dem renommierten Rentenberater Klaus Luserke. »Die Nachentrichtung«, erläuterte dieser, erbringe »Renditen von 15 bis 17 Prozent der eingezahlten Beiträge«. Vor allem Akademiker, »die meist sehr gut verdienen und deshalb hohe Ausfallsbeiträge angerechnet« bekämen, könnten durch die Anrechnung von Ausbildungs- und Ersatzzeiten sogar »Renditen von 25 bis über tausend Prozent« erreichen.80 2. Ein weiterer wichtiger Schritt zum Ausbau des bestehenden Alterssicherungssystems, der sich in den 1960er Jahren abgezeichnet hatte und dann 1972 realisiert wurde, war die Einführung der »Rente nach Mindesteinkommen«. An ihrer Wiege stand eine sehr spezifische, für den deutschen Sozialstaat be76 Umstrittene Alterssicherung der Selbständigen, in: Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts, 3.3.1966, BArch, B 136/9022. 77 Erklärung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Theodor Blank, vor der Presse am 16.7.1965, in: Richter (Hg.), Sozialreform, B III4. 78 Niederschrift über die ordentliche Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger v. 14./15.3.1973, S. 9. Zit. nach Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 473. 79 Vgl. FAZ , 10.10.1972; 11.10.1972; 12.10.1972; 17.10.1972; 18.10.1972; 25.10.1972; 26.10.1972; 2.11.1972; 3.11.1972; 6.11.1972; 8.11.1972; 11.11.1972; 14.11.1972; 21.11.1972; 29.11.1972; 13.12.1972. 80 Nachzahlen und im Alter kassieren, in: Die Zeit, 5.12.1975.
180 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat zeichnende Wahrnehmung eines sozialen Problems: Es ging um die prekäre sozio-ökonomische Lage jener »Klein-« oder »Kleinstrentner«, die zwar über viele Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt, aber dennoch nur geringe Rentenansprüche erworben hatten, da ihre Löhne und dementsprechend auch ihre GRV-Beiträge sehr niedrig gewesen waren. Anstatt die in den einschlägigen Statistiken deutlich zutage tretende minderprivilegierte Einkommensposition eines guten Teils der Alten insgesamt zum Ausgangspunkt zu machen, blendete die im sozialpolitischen Entscheidungsprozess zum Tragen kommende Problemdefinition von Beginn an die Vielfalt der hierfür verantwortlichen Ursachen aus und konzentrierte sich auf die Gruppe der schlecht bezahlten GRV-Versicherten, die bei dem Verzicht auf Mindestsicherungselemente in der Rentenreform von 1957 das Nachsehen gehabt hatten. »Kleinstrentner« statt »Altersarmut«, Ungerechtigkeiten innerhalb des Systems der Alterssicherung statt soziales Problem als Ansatzpunkt – so lässt sich diese Engführung des sozialpolitischen Blicks umschreiben. Bei jenen Versicherten, die trotz langjähriger Beitragsleistungen nur »Kleinrenten« erhielten oder in Zukunft erhalten würden, handelte es sich – das war allen politischen Akteuren bewusst – vor allem um Frauen. Zu ihnen traten Arbeiter aus Niedriglohnsektoren wie der Tabak- und der Textilindustrie sowie aus wirtschaftlich schwachen Regionen mit einem traditionell geringen Lohn niveau.81 Wenn in der sozialpolitischen Debatte die soziale Notlage der »Kleinstrentner« zur Sprache kam, geschah das interessanterweise zumeist nicht in einer Semantik des Mangels und der Armut. Ganz im Vordergrund stand vielmehr – und auch das spricht noch einmal für eine primär für Ungerechtigkeiten innerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Systems sensible Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit – der Fürsorge- bzw. Sozialhilfesatz als zentrale Referenzgröße. Schon 1958 beklagte die SPD -Abgeordnete Lisa Korspeter im Bundestag, dass es ein »unmöglicher Zustand« sei, »dass Menschen nach einem Arbeitsleben und langjähriger, wenn auch ihrem Einkommen entsprechend leider niedriger Beitragszahlung … auf die Unterstützung der Fürsorge angewiesen bleiben« müssten.82 Vierzehn Jahre später, 1972, echote der CDU-Sozialexperte Thomas Ruf an gleicher Stelle, dass »[d]as System der leistungsbezogenen Alterssicherung … nur dann von Bestand sein« könne, »wenn die Leistungen nach einem erfüllten Versicherungsleben sich deutlich von dem abheben, was andere ohne Vorleistungen aus der Sozialhilfe erhalten«.83 Eine nach dem Beitragsprinzip erreichte Altersrente hatte sich positiv von einer auf dem Prinzip der Bedürftigkeit auf81 Vgl. Pappai, Rente nach Mindesteinkommen, S. 147. 82 Korspeter (SPD), BT 3/11, S. 482 (13.2.1958). 83 Ruf (CDU), BT 6/191, S. 11206 (14.6.1972). Vgl. auch Katzer (CDU), BT 6/191, S. 11213 (14.6.1972); Geisenhofer (CSU), BT 6/146, S. 8367 (22.10.1971); Redebeitrag Dietrich Rollmanns (CDU Hamburg) auf dem 18. CDU-Bundesparteitag in Düsseldorf, 25.–27. Januar 1971, S. 353.
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gebauten Fürsorgeleistung abzuheben – alles andere wurde von einer überwältigenden Mehrheit des deutschen Parlaments als sozial ungerecht empfunden. Eine andere Kritik am Rentensystem, die im Hinblick auf die »Kleinstrentner« eigentlich nahegelegen hätte, fand sich dagegen nur spät und vereinzelt: Erst als die Auseinandersetzungen um die Rentenreform 1972 ihrem Höhepunkt entgegenstrebten, monierte Schellenberg, dass jede neue Rentenerhöhung »die Schere zwischen den niedrigen und den hohen Renten« weiter vergrößere.84 Bemerkenswert war daran weniger die Kritik an sich als vielmehr die Tatsache, dass sie politisch marginal und ohne größeren Nachhall blieb – das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der britischen Debatte, in der sich jeder Vorschlag, das Gleichheitsprinzip der Basic State Pension zugunsten der Einführung von einkommensbezogenen Ungleichheitselementen in der staatlichen Altersrente zu lockern, dem massiven Vorwurf sozialer Ungerechtigkeit ausgesetzt sah. Als aufschlussreich erweist sich zunächst einmal, welche Lösungen für das »Kleinrentner«-Problem zwar zur Debatte standen, aber nicht zum Zuge kamen. Keine ernsthafte Chance auf Umsetzung hatte, erstens, die von der FDP in den 1960er Jahren wiederholt vorgeschlagene Einführung einer steuerfinanzierten und für alle gleichen Staatsbürger- oder »Volksrente«, auf der eine teils verpflichtende, teils freiwillige Eigenvorsorge für das Alter aufbauen sollte. Der nicht zuletzt am britischen Beispiel orientierte FDP-Plan widersprach nicht nur dem in beiden großen Parteien und der Bevölkerung tief verwurzelten Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz; er nahm sich angesichts der finanziellen Zusatzbelastung, die der Systemwechsel zu einer steuerfinanzierten Staatsbürgerrente in einem Übergangszeitraum aufgrund der bereits erworbenen Rentenansprüche bedeutet hätte, auch als »wenig wirklichkeitsnah« aus.85 Keine Aussicht auf Realisierung hatte, zweitens, das Konzept einer »staatlichen Mindestrente« im Rahmen der GRV, zu dem sich die SPD noch im Godesberger Programm von 1959 bekannt, von dem sie sich aber mit dem »Volksversicherungsplan« von 1965 abgewendet hatte.86 Zu sehr haftete der »Mindestrente« das Odium der »›Gleichmacherei‹« an.87 Über ihre »nivellierende Tendenz« hinaus galt sie unter Sozialpolitikern schlicht als »systemwidrig«, da sie »am Be84 Streit um die Rentenpolitik hält an. Keine Erhöhung zu einem früheren Termin, in: FAZ , 22.6.1972. Vgl. Die Renten-Fänger von Bonn, in: Die Zeit, 18.8.1972; AdsD, SPD BT-Fraktion, 6. WP, 116, 23.6.1972. 85 Sozialreform auf grüner Wiese, in: Die Zeit, 5.4.1963. Vgl. Der Sozialplan der FDP, in: FAZ , 17.7.1963; Die Volksrente, in: Frankfurter Neue Presse, 4.7.1963; Stellungnahme Behrendt, 25.11.1964, BArch, B 136/9022; Ostrop, Eggers u. Köhler, Neugestaltung der Alterssicherung; Keine Ruhe an der Rentenfront. Auseinandersetzung mit dem FDP-Plan zur sozialen Alterssicherung, in: Welt der Arbeit, 8.8.1969; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 434–437. 86 Godesberger Programm, S. 13; Die Volksversicherung, in: Richter (Hg.), Sozialreform, G II16. 87 Bartholomäi, Volksversicherungsplan, S. 161.
182 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat darf orientiert« war, jede »Bedarfsprüfung« aber dem Prinzip der »Versiche rung« zuwiderlief.88 Drittens schließlich kam auch der 1972 zeitweise von Ernst Schellenberg vorgeschlagene Sockelbetrag nicht zum Zuge, mit dem jede Rente pauschal um 20 DM aufgestockt worden wäre. Ebenso wie die Mindestrente traf ihn der Vorwurf, ein »Fremdkörper« in einem auf der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen aufbauenden System zu sein; gleichzeitig verlieh der Deutsche Gewerkschaftsbund seiner Befürchtung Ausdruck, dass »von der Zwanzig-Mark-Zulage vornehmlich jene Rentner profitieren« würden, »die nur kurze Zeit Beiträge gezahlt und neben der Kleinrente noch andere Einkünfte« hatten.89 Die »Rente nach Mindesteinkommen«, für die 1971/1972 sowohl die Regierungskoalition als auch die CDU/CSU eigene, in den Einzelheiten abweichende Anträge vorlegten, stellte zwar ebenfalls ein Mindestsicherungselement dar, beruhte aber auf anderen Grundsätzen als eine allgemeine Mindestrente. Für die »Rente nach Mindesteinkommen« qualifizierten sich nur jene GRV-Versicherten, die langjährige Beitragszeiten vorzuweisen hatten. War die Zugangsvoraussetzung erfüllt, wurde bei der Rentenberechnung die Entgeltposition des Ver sicherten für die Jahre vor 1973 auf 75 % des Durchschnittsentgelts angehoben, er also so gestellt, als ob er in dieser Zeit drei Viertel des durchschnittlichen Verdienstes erzielt und entsprechende Beiträge geleistet hätte.90 Die SPD hatte das Konzept einer »Rente nach Mindesteinkommen« bereits Mitte der 1960er Jahre in ihrem »Volksversicherungsplan« als Mittel zur Lösung des »Kleinstrentner«-Problems favorisiert. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Vorschlag jedoch auf den energischen Widerstand der CDU-geführten Regierung getroffen, nach deren Auffassung die durch die Anhebung der »Kleinrenten« implizierte »rückwirkende Korrektur« niedriger Löhne aus »grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen« war.91 In den Folgejahren und insbesondere nach dem Regierungsverlust 1969 vollzogen CDU und CSU in dieser Frage jedoch einen scharfen Richtungswechsel, so dass 1971 ihr Vorschlag zur Einführung einer »Rente nach Mindesteinkommen« jenen der SPD an Großzügigkeit noch übertraf und nun die Sozialdemokraten ihrerseits monierten, »dass die CDU-Regelung für die Kleinstrentner dazu führen werde, dass mit einem Beitrag von 45 Mark derselbe 88 Blank an Höcherl, 28.3.1961, BArch, B 149/116837. 89 Die Renten-Fänger von Bonn, in: Die Zeit, 18.8.1972. 90 Im einzelnen sah der Regierungsentwurf als Zugangsvoraussetzung eine Beitragszeit von 35 Jahren inkl. Zeiten freiwilliger Versicherung und Ausfallzeiten, der CDU/CSU-Entwurf und das Rentenreformgesetz 1972 25 Jahre ohne Zeiten freiwilliger Versicherung und Ausfallzeiten vor. Die persönliche Bemessungsgrundlage sollte nach dem Willen von SPD/FDP auf 70 %, nach dem CDU/CSU-Entwurf auf 85 % des Durchschnittsverdienstes gesteigert werden. Vgl. BT Drs. 6/2585; BT Drs. 6/2916; Pappai, Rente nach Mindesteinkommen; Steffen, Niedriglohn und Rente. 91 BT Drs. 5/909, S. 134.
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Rentenanspruch erworben werde wie mit einem Beitrag von 187 Mark« und damit »das System der Beitragsgerechtigkeit über Bord geworfen« werde.92 Die vom Gesetzgeber 1972 beschlossene Regelung, die einen Kompromiss zwischen den Entwürfen der Regierungskoalition und der CDU/CSU darstellte, führte dazu, dass im ersten Jahr ihrer Geltung, 1973, 1,25 Mio. Renten, das waren 12 % aller Renten, angehoben wurden. Dabei kam das neue Gesetz in vier von fünf Fällen Frauen zugute. Im Extremfall konnte der Erhöhungsbeitrag 150 % der bisherigen Rente ausmachen; im Durchschnitt lag er bei rund 76 DM monatlich.93 Obwohl die »Rente nach Mindesteinkommen« das deutsche Alterssicherungssystem nach unten abfederte, ging es bei ihr nicht in erster Linie um die Bekämpfung von Altersarmut. Zu diesem Zweck wäre eine Mindestrente – ob nun als Staatsbürgerrente oder bedürftigkeitsgeprüfte Leistung ausgestaltet – das probate Mittel gewesen, da diese auch jenen 1,446 Mio. Rentnerinnen und 450.000 Rentnern zugute gekommen wäre, die weniger als die für die »Rente nach Mindesteinkommen« nötigen 25 Versicherungspflichtjahre vorweisen konnten.94 Eine Mindestrente aber lehnten alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik ab, da sie als unvereinbar mit dem Prinzip der »Leistungsrente« galt. Die »Rente nach Mindesteinkommen« dagegen war wenigstens insofern systemkonform, als sie langjährige Arbeits- und Beitragszeiten zur Leistungsvoraussetzung machte und damit das Prinzip, »dass der Fleißige eine hohe Rente, der andere eine entsprechend niedrigere Rente erhält« im Grundsatz aufrechterhielt.95 Ihre Einführung zielte wesentlich darauf ab, den verloren gegangenen sozialen Abstand der kleinen Rentner zu den Sozialhilfeempfängern wiederherzustellen. Damit stand sie in der Tradition der Rentenreform von 1957, in der ebenfalls die Umsetzung bestimmter Vorstellungen von einer gerechten Ordnung sozialer Ungleichheit ein zentrales Handlungsmotiv dargestellt hatte. Da an der sozialen Gerechtigkeit des Leistungsprinzips in der Rentenversicherung kein Zweifel bestand, es im Falle der »Kleinstrentner« aufgrund ihrer früheren Kummerlöhne aber dennoch zu als ungerecht wahrgenommenen Effekten führte, machte man sich – auch das entsprach einer vertrauten Praxis – einfach daran, die Vergangenheit zu ändern: Nachdem man das Problem der Niedriglöhne in der Gegenwart für überwunden hielt, beabsichtige man mit der »Rente nach Mindesteinkommen« nunmehr, wie Arbeitsminister Walter Arendt in voller Übereinstimmung mit der Opposition erklärte, »tatsächliche Lohndiskriminierungen und ungerechtfertigte Lohnunterschiede … für die Vergangenheit [zu] korrigieren«.96 92 93 94 95 96
Parteien über Hilfe für Kleinrentner uneins, in: FAZ , 23.10.1971. BT Drs. 7/2046, S. 3, 11 f.; Pappai, Rente nach Mindesteinkommen, S. 147. Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, S. 172. Schewe an BKA , 19.9.1956, BArch, B 149/401. Arendt, Rentenreformprogramm, S. 3. Vgl. auch Killat (SPD), BT 6/197, S. 11599 (20.9.1972).
184 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat 3. Zu den zentralen Maßnahmen des strukturellen Ausbaus der deutschen Rentenversicherung gehörte schließlich auch die Einführung der flexiblen Altersgrenze. Seit 1916 galt im Regelfall 65 als starre Grenze für den Beginn der Altersrente, von der im Laufe der Zeit lediglich Arbeitslose und Frauen unter bestimmten Voraussetzungen ausgenommen worden waren.97 Die Rentenreform 1972 gestaltete den Übertritt in den Ruhestand flexibler: Versicherte mit einer Versicherungszeit von mindestens 35 Jahren (inkl. Ersatz- und Ausfallzeiten) konnten künftig bereits nach Vollendung des 63. Lebensjahres Altersrente beantragen. Die Rentenhöhe erfuhr in diesem Fall lediglich eine »formelbedingte« Verminderung aufgrund der geringeren Beitragszeit; sog. »versicherungsmathematische« Abschläge, welche die längere Rentenlaufzeit berücksichtigt hätten, waren dagegen nicht vorgesehen. Das Rentenreformgesetz von 1972 enthielt keine Hinzuverdienstgrenze, erlaubte also uneingeschränkt die Weiterarbeit parallel zum Rentenbezug; diese von der CDU/CSU durchgesetzte Regelung wurde allerdings von der wiedergewählten Regierungskoalition unmittelbar nach den Neuwahlen Ende 1972 im Sinne einer Beschränkung der Zuverdienstmöglichkeiten revidiert. Auch wer trotz Erfüllung der Voraussetzungen auf das vorgezogene Ruhegeld verzichtete, konnte von der Neuregelung massiv profitieren: Bis zum vollendeten 67. Lebensjahr erhöhte sich seine Rente nicht nur »formelbedingt« durch die zusätzlich geleisteten Beiträge; vielmehr fanden hier auch »versicherungsmathematische« Zuschläge Berücksichtigung, die das Ruhegeld weiter steigerten.98 Faktisch genutzt wurde die flexible Altersgrenze allerdings so gut wie ausschließlich im Sinne einer Vorziehung des Ruhestands. Als die Bundesregierung 1974 dem Bundestag einen Bericht über die Auswirkungen des Renten reformgesetzes im ersten Jahr seiner Geltung vorlegte, zeigte sich, dass 1973 bereits ca. 215.000 Anträge auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebens jahrs eingegangen waren. Anträge auf Hinausschiebung der Altersrente jenseits der 65 gab es gerade einmal zwei.99 In den ersten Jahren der Geltung der neuen Regelung machten ca. 70 % der Anspruchsberechtigten von ihrem Recht Gebrauch, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.100 Dem erklärten Ziel der Reformer, einen »allmähliche[n] Übergang von der Arbeit zum Ruhestand«101 – etwa 97 Ein vorzeitiges Altersruhegeld ab dem 60. Lebensjahr wurde Dauerarbeitslosen und langjährig erwerbstätigen Frauen gewährt. Vgl. Hermann, Rentenreform 1972, S. 4; Hockerts, Nutzen, S. 906. 98 Zum Vorangehenden vgl. Die Rentenreform, in: FAZ , 28.9.1972; Zehn Punkte zu der Frage der versicherungsmathematischen Abschläge bei der flexiblen Altersgrenze, Vermerk des BMA , 7.9.1971, BArch 136/15065; Hermann, Rentenreform 1972; ders., Entwicklungslinien; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 451–457. 99 BT Drs. 7/2046, S. 6. 100 BT Drs. 7/4951, S. 16. 101 So etwa Bundesminister Walter Arendt in seiner Rede zur Einbringung des Renten reformprogramms im BT am 16.12.1971: Arendt, Rentenreformprogramm, S. 3.
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durch die Ausdehnung von Teilzeitarbeit – zu erleichtern, ist die Einführung der flexiblen Altersgrenze nie gerecht geworden. Wohl aber wirkte sie auf eine erdrutschartige Absenkung des allgemeinen Rentenalters hin. Das demonstrieren alle zur Verfügung stehenden Indikatoren – und zwar bereits für die kurze Zeit, bevor die Flexibilisierung der Altersgrenze in der ökonomischen Krisenphase seit Mitte der 1970er Jahre als Instrument zur Entlastung des Arbeitsmarkts genutzt wurde und damit der Trend zur Vorverlegung des Ruhestands noch einmal zusätzlich an Fahrt gewann: So hatte der Anteil einer Alterskohorte von Männern, der erst mit 65 in Rente ging, für den Geburtsjahrgang 1908, der diese Grenze 1973 erreichte, noch 49,67 % betragen, sank dann aber über 1909 = 32,65 % und 1910 = 27,96 % binnen kürzester Zeit dramatisch ab, bevor er mit dem Jahrgang 1917 = 16,15 % einen Minimalwert erreichte. Hatte das durchschnittliche Zugangsalter zur Rente wegen Alters (also exklusive der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit) für die 1908 geborenen Männer noch 64,8 betragen, lag es bereits für den Jahrgang 1913 nur noch bei 63,6.102 Wer verstehen will, warum sich die faktische Vorverlegung des Rentenzugangsalters in einer Situation durchsetzen konnte, in der Vollbeschäftigung herrschte – die Arbeitslosenquote in den Jahren vor 1972 lag bei unter 1 % – und in der die politisch Verantwortlichen daher bewusst damit rechnen mussten, »dass die vorzeitig ausscheidenden Erwerbstätigen durch ein Mehr an ausländischen Arbeitnehmern zu substituieren sind«, kommt nicht umhin, zwei Faktoren in Betracht zu ziehen.103 Der erste war der erhebliche Druck, den der DGB in der Frage der flexiblen Altersgrenze auf die SPD -geführte Bundesregierung entfaltete. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte die Forderung nach schrittweiser »Herabsetzung der Altersgrenze von 65 auf 60 Jahre«, die sich an eher nachgeordneter Stelle bereits in seinem Aktionsprogramm von 1965 findet, im Wahlkampf 1969 an die Spitze seiner sozialpolitischen Prioritätenliste gesetzt.104 Die Flexibilisierung der Altersgrenze habe, führte der Bundesvorstand des DGB in seinem Geschäftsbericht aus, seit 1969 »Vorrang vor allen anderen sozialpolitischen Zielen erhalten«.105 Ins gleiche Horn stieß die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), die in ihrem »Dringlichkeitsprogramm« für den 1969 neugewählten Bundestag ebenfalls forderte, die »Altersgrenze von 65 Jahren für den Bezug des Altersruhegeldes … systematisch herabzusetzen«.106 Die 102 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 110 f. 103 Vermerk für die Sitzung des Kabinettsausschusses für Soziales und Gesundheit am 14. Oktober 1971, 13.10.1971, BArch, B 136/15065. 104 Vgl. DGB – Vorstellungen zur Herabsetzung der Altersgrenze, 18.9.1969, in: Richter (Hg.), Sozialreform, H I1v (Zitat); Erklärung des DGB an die neue Bundesregierung, 22.10.1969, in: ebd., H I1w; Neues DGB -Aktionsprogramm (1965), in: ebd., H I1s. 105 DGB , Geschäftsbericht des Bundesvorstandes 1969 bis 1971, S. 117. 106 Politik für die Angestellten. DAG -Dringlichkeitprogramm für den 6. Deutschen Bundestag, in: Richter (Hg.), Sozialreform H II10.
186 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat SPD sah sich gegenüber den Gewerkschaften in der Frage der flexiblen Altersgrenze nicht zuletzt deshalb unter besonderem Zugzwang, weil sie mit der FDP einen neuen Koalitionspartner besaß, der sich gegenüber einer anderen gewerkschaftlichen Kernforderung, der Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung, kategorisch ablehnend verhielt und jede Initiative in diese Richtung zu blockieren versprach. Ein deutliches Zeichen der Bereitschaft, den Gewerkschaften dafür an anderer Stelle entgegenkommen zu wollen, war die Besetzung der Spitze des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, bei der sich Ernst Schellenberg, unbestritten der führende Sozialexperte der SPD, zu seiner Enttäuschung übergangen fand. An seiner Stelle fiel die Wahl auf den sozialpolitisch eher unerfahrenen Vorsitzenden der IG Bergbau und Energie, Walter Arendt, der dem Ziel der Flexibilisierung der Altersgrenze als neuer Minister sogleich höchste Priorität einräumte.107 Der zweite Faktor, der die Einführung der flexiblen Altersgrenze begünstigte, war ihre hohe Popularität in der Wahlbevölkerung. Im Zeitalter der repräsentativen Meinungsforschung ließ sich diese sogar beziffern: Im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums führte das Institut für angewandte Sozialforschung (Infas) 1970 zwei Umfragen durch, deren Ergebnisse die sozial-liberale Koalition in ihrem Entschluss zur Flexibilisierung des Rentenalters bestärkten und dazu beitrugen, dass sich auch die CDU/CSU in die gleiche Richtung bewegte.108 Nur noch 27 % der Versicherten, so stellte sich heraus, hielten die geltende Altersgrenze von 65 Jahren für richtig; 61 % dagegen lehnten sie ab – unter den 55–64jährigen Befragten waren es sogar 66 %. 67 % der Versicherten und stolze 87 % der älteren Befragten befürworteten die Einführung einer flexiblen Altersgrenze. Sie motivierten ihre Entscheidung überwiegend mit der »nachlassenden Leistungsfähigkeit älterer Menschen« und interpretierten die Flexibilisierung dementsprechend »meist in der alleinigen Richtung einer Senkung der bestehenden Altersgrenze«, während die »Möglichkeit der Flexibilität auch nach oben … nicht attraktiv« erschien oder »sogar überwiegend abgelehnt« wurde.109 Gleichzeitig zeigte sich, dass die Mehrheit der Befürworter einer Vorverlegung des Rentenalters dafür keine nennenswerten Abstriche an der Höhe ihrer Rente akzeptieren wollte, dass sie allerdings bereit war, moderate Beitragserhöhungen in Kauf zu nehmen, um die Flexibilisierung der Altersgrenze zu finanzieren.110 Vor diesem Hintergrund wird die Unwiderstehlichkeit begreifbar, welche die Flexibilisierung der Altersgrenze für die beiden großen Parteien als Programm107 Vgl. Hockerts, Nutzen, S. 906 f. 108 Siehe Betr. Auswertung Meinungsumfrage »Infas« zur flexiblen Altersgrenze, 22.6.1971, BArch 136/1505. Vgl. auch Infratest Politik Barometer, Februar/März 1971, BArch 136/1505. 109 Zitate: Schenke, Einführung, S. 21; Betr. Auswertung Meinungsumfrage »Infas« zur flexiblen Altersgrenze, 22.6.1971, S. 6, BArch 136/1505. 110 Vgl. Schenke, Einführung. Hier auch alle Zahlen.
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punkt in Zeiten eines scheinbar grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums besaß. Darüber hinaus eignete sie sich vorzüglich als innersystemisches sozialpolitisches Kompensationsobjekt – gegenüber den Arbeitnehmern in der GRV, welche die großzügigen Beitrittskonditionen für Selbständige und andere Gruppen mitzufinanzieren hatten; gegenüber den Männern, die fast ausschließlich von der Herabsetzung des Rentenalters profitierten, nachdem die Frauen die Hauptnutznießer der »Rente nach Mindesteinkommen« gewesen waren; gegenüber den noch »im Arbeitsleben stehenden Versicherten« als Ausgleich für jene Verbesserungen, die ausschließlich den Rentnern zugute kamen, wie das etwa für die von der sozial-liberalen Koalition Ende 1969 beschlossene Abschaffung des Rentnerbeitrags zur Krankenversicherung und die gleichzeitige Rückerstattung der Beiträge für die Jahre 1968 und 1969 galt.111 Doch war die Flexibilisierung der Altersgrenze mehr als bloße Klientelpolitik oder ein wohlfeiles Kompensationsobjekt. Für die SPD und die Gewerkschaften stellte sie zugleich einen wesentlichen »Beitrag zur Humanisierung des Arbeitslebens« dar, die zu dieser Zeit neben der Aktiven Gesellschaftspolitik und dem Streben nach mehr Lebensqualität zu den drei großen sozialpolitischen Leitideen der Sozialdemokraten gehörte.112 »Die Einführung der flexiblen Altersgrenze«, führte etwa Walter Arendt aus, ziele darauf ab, »den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu humanisieren«. Den älteren Arbeitnehmern, »die sich den täglichen Anforderungen des Erwerbslebens nicht mehr gewachsen« fühlten, werde »erspart, erst ihre Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nachweisen zu müssen«. An die Stelle der zum Erhalt einer entsprechenden Rente »notwendigen medizinischen Untersuchungen zur Festellung der Invalidität«, die von den Betroffenen häufig »als belastend und diskriminierend empfunden« werde, trete der erweiterte »Entscheidungsspielraum und das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Arbeitnehmers«, der nun den Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Arbeitsleben »selbst bestimmen« könne.113 Die Spuren der in der Bundesrepublik noch jungen Gerontologie ließen sich dabei in der Argumentation kaum übersehen: Von der Problematik des »Pensionstods« über die große individuelle Varianz des Alternsprozesses bis zur wachsenden Attraktivität des Ruhestands griff man bereitwillig alles auf, was die Forderung nach einer Flexibilisierung der Altersgrenze stützen konnte. Gleichzeitig zeigt sich die hochgradig selektive Aufnahme der gerontologischen Forschungs 111 Arendt, Flexible Altersgrenze, S. 284. Vgl. Informationsbroschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Abschaffung der Selbstbeteiligung der Rentner an ihrer Krankenversicherung, Bonn, Jahresende 1969, GSD, Bd. 5, CD -ROM , Dokument Nr. 5/42. 112 Zitat: Arendt, Flexible Altersgrenze, S. 284. Vgl. Süß, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 5, bes. S. 205–221. 113 Zitate: Arendt, Rentenreformprogramm, S. 2; ders., Fortschrittlicher Ausbau, S. 261. Vgl. ders., Flexible Altersgrenze, S. 287.
188 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat ergebnisse. So fand sich das Insistieren der Alternsforschung darauf, dass der Prozess des Alterns nicht notwendigerweise mit einem Verlust an Leistungsfähigkeit einhergehe, ebenso weitgehend ausgeblendet wie die einer Herabsetzung des Rentenalters zuwiderlaufende Aktivitätsthese, nach der die Aufrechterhaltung der Aktivität auf dem gewohnten Niveau das beste Rezept für ein »erfolgreiches« Altern darstellte. Die Rentenreform 1972, die den Klimax der Expansion des bundesdeutschen Alterssicherungssystems markiert, zeichnete wesentlich für die Explosion der GRV-Ausgaben in den Folgejahren verantwortlich: Nach ihrem Inkrafttreten stiegen die jährlichen Ausgaben der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten innerhalb der zwei Jahre von 1972 bis 1974 um 37 %, bis 1975 gar um 69 %.114 Bemerkenswerterweise entfiel dabei nur die Hälfte der reformbedingten Mehrausgaben auf den oben skizzierten und in verschiedene Richtungen weisenden strukturellen Ausbau der Alterssicherung. Die andere Hälfte wurde von der um ein halbes Jahr vorgezogenen Rentenanpassung verschlungen, die ebenfalls im Reformpaket enthalten war und dazu führte, dass alle Renten zum 1. Juli 1972 um 9,5 % erhöht wurden, nachdem sie bereits am 1. Januar des gleichen Jahres um 6,3 % gestiegen waren.115 Versucht man das Zustandekommen der in ihren »kolossalen Dimensionen« bereits von den Zeitgenossen gegeißelten Rentenreform von 1972 zu erklären,116 stößt man über allgemeine zeittypische Voraussetzungen wie den von langjährigen Wachstumserfahrungen geprägten Machbarkeitsoptimismus hinaus auf zwei spezifische Rahmenbedingungen, die der Rentenpolitik am Anfang der 1970er Jahre ihren Stempel aufdrückten. Die erste war die besondere innenpolitische und parlamentarische Konstellation, in der die Rentenreform den Gesetzgebungsprozess durchlief. Die ohnehin knappe Mehrheit im Bundestag, welche die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt bei den Wahlen 1969 erhalten hatte, zerbröselte in den Folgejahren in den Auseinandersetzungen um die Ostverträge durch Parteiübertritte von der SPD und FDP zur CDU/CSU. Zwar scheiterte im April 1972 das von Rainer Barzel betriebene konstruktive Misstrauensvotum, doch hinterließ es im Parlament eine Pattsituation, die auf Seiten der Regierung im Frühsommer den Entschluss reifen ließ, noch im Herbst desselben Jahres Neuwahlen abzuhalten. Die zweite Lesung des Rentenreformgesetzes am 20. September 1972 begann direkt, nachdem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage gestellt hatte, um den Weg für den vorgezogenen Urnengang freizumachen; seine Verabschiedung erfolgte einen Tag später und damit inner114 Eigene Berechnungen nach BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 162, Tab. 127; S. 165, Tab. 130. 115 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 216. Vgl. Waldmann, Finanzierung; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 410 ff. 116 Das größte Wahlgeschenk aller Zeiten, in: Die Zeit, 29.9.1972.
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halb der 48-Stunden-Frist, die das Grundgesetz als Mindestintervall zwischen der Vertrauensfrage und der Abstimmung über sie vorschreibt. Angesichts dessen standen die Vorbereitungen für die Rentenreform und die Auseinandersetzung darüber bereits ganz im Zeichen des bevorstehenden Wahlkampfs. Für beide Seiten ging es darum, auf diesem stimmensensiblen Feld bei den Wählern »möglichst viele Punkte zu sammeln«.117 Die zweite wichtige Rahmenbedingung, die die Genese der Rentenreform 1972 entscheidend prägte, war die staunenerregende prognostische Ausweitung des Finanzierungsspielraums, der scheinbar für Leistungsverbesserungen der Rentenversicherung in der Zukunft zur Verfügung stand. Die explosionsartige Zunahme des antizipierten Möglichkeitsraums für den Ausbau der gesetzlichen Alterssicherung war – ironischerweise – eine Konsequenz der erst 1969 mit dem Ziel höherer sozialstaatlicher Planungsrationalität eingeführten 15-JahresVorausberechnungen für den Finanzhaushalt der GRV und ihrer Methodik. Während der Rentenanpassungsbericht 1970 für die Finanzlage der Rentenversicherung im Jahre 1985 noch einen vergleichsweise bescheidenen Überschuss von 6,6 Mrd. DM über die erforderliche Mindestrücklage hinaus ausgewiesen hatte, wuchs das prognostizierte Rücklagevermögen danach schnell ins Astronomische: Bereits im März 1971 ergaben die – rechnerisch tadellosen – Vorausberechnungen für 15 Jahre später einen disponiblen Überschuss von 105 Mrd. DM, im März 1972 war es gar die gewaltige Summe von 148 Mrd. DM. Der Grund hierfür lag einfach darin, dass die Ausgangsbasis, von der die Vorausberechnung ausging und in die vor allem die Lohnentwicklung und der Beschäftigungsstand als relevante Größen eingingen, mit wachsendem Abstand von der kurzen Rezession 1966/67 immer weiter anstieg. Im Grunde wurde auf diese Weise die ökonomische Schlaraffenlandsituation um 1970 mit Voll beschäftigung und formidablen Lohnzuwachsraten weithin ungebrochen in die Zukunft projiziert.118 Ebenso wie anderen vorausschauenden Zeitgenossen war Helmut Schmidt, seit dem Rücktritt Karl Schillers neuer »Superminister« für Finanzen und Wirtschaft, die Problematik eines solchen Zukunftsbildes zwar durchaus bewusst, wenn er auf dem außerordentlichen SPD -Parteitag im Oktober 1972 ausführte: »Wenn da etwa wieder einmal jemand eine Rezession herbeiführen sollte, wenn wir dann wegen Arbeitslosigkeit keine Versicherungsbeiträge zur Rentenversicherung mehr zahlen sollten, sondern Arbeitslosenunterstützung, dann könnte die ganze Rentenreform nicht funktionieren, und es würden dann auch die Renten nicht so ausgezahlt und finanziert werden können«. Doch war 117 Wenn das nur gutgeht, in: FAZ , 22.9.1972. Zu diesem Absatz vgl. Hockerts, Nutzen; ders., Rahmenbedingungen, in: GSD, Bd. 5, S. 73 ff.; Conze, Die Suche, S. 400; Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 247 ff; Rentenvorschläge der CDU zuletzt von allen Parteien gebilligt, in: FAZ , 22.9.1972. 118 Vgl. Schmähl, Vorausberechnungen; ders., Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 449 f.
190 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat das Vertrauen in die eigene Fähigkeit zum Krisenmanagement und in die Planbarkeit der zukünftigen Entwicklung nach der scheinbar glänzenden Bewährungsprobe der Globalsteuerung im Konjunkturtief 1966/67 zu übermächtig, als dass man ein solches Zukunftsszenario zulassen konnte. Die Finanzierbarkeit der Rentenanhebung und der flexiblen Altersgrenze, so Schmidt weiter, beruhe eben darauf, »dass in den nächsten 10, in den nächsten 20 Jahren sozialdemokratische Vollbeschäftigungspolitik betrieben wird … Aber so wird es ja auch kommen.«119 Von den beiden angesichts der prächtigen Prognosen für die Rentenversicherung prinzipiell denkbaren Alternativen – der Verteilung der Überschüsse durch neue Leistungen und ihrem Abschmelzen durch Beitragsreduktion – besaß Anfang der 1970er Jahre lediglich die erste ernsthafte politische Realisierungschancen. Tatsächlich nahm sich der Vorschlag der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die für 1973 vorgesehene Erhöhung der Rentenbeiträge auf 18 % bis auf weiteres auszusetzen, in der damaligen Situation eigentümlich »exotisch« aus, fand keine Beachtung und wurde auch bald von den Arbeitgebern selbst als »politisch unrealistisch« eingestuft.120 Zu tief hatte sich in der langanhaltenden Prosperität der Nachkriegszeit bereits das »Denken in der Dimension des Zuwächse-Verteilens« als »zerebraler Reflex« in die sozialpolitische Handlungslogik eingegraben.121 Zugleich lässt die Debatte über die finanzielle Zukunft der Rentenversicherung erkennen, dass für die Zeitgenossen das Problem der demographischen Alterung noch keine Rolle spielte. Zwar hatte man unlängst die sukzessive Anhebung des bis 1967 geltenden Rentenversicherungsbeitrags von 14 % auf 18 % ab 1973 gerade auch im Hinblick auf den bevorstehenden »Rentenberg« beschlossen. Doch sah man darin ein temporäres, durch das stürmische demographische Wachstum vor dem Ersten Weltkrieg bedingtes Phänomen und wähnte den »Gipfel« des »Rentenbergs« Ende der 1970er Jahre überschritten. Auch in dem am Ende des Millenniums zu erwartenden abermaligen Anstieg des Altenanteils erblickte man weniger einen Schritt zur »Vergreisung« der Bevölkerung als vielmehr zur »Normalisierung unseres Altersaufbaus« im Sinne einer Rückkehr zu »traditionellen Relationen« nach einer »Zeit der ›Überjüngung‹«.122 119 Außerordentlicher Parteitag der SPD in Dortmund, 12.–13.1972, S. 38. 120 Hockerts, Nutzen, S. 918; Arbeitgeber mögen Mini, in: Die Zeit, 3.3.1972. Vgl. Gegen Erhöhung der Rentenbeiträge, in: FAZ , 17.8.1971; Arbeitgeber empfehlen höheres RentenNiveau, in: FAZ , 24.2.1972. 121 Hockerts, Nutzen, S. 919. 122 Nach sieben fetten Rentenjahren, in: Die Zeit, 20.3.1964. Vgl. Der harte Kern der Rentenreform, in: Die Zeit, 22.6.1962; Pension für jeden Bürger? SPIEGEL -Gespräch mit dem SPD -Bundestagsabgeordneten Professor Dr. Ernst Schellenberg, in: Der Spiegel, 12.5.1965; Renten, in: Der Spiegel, 30.1.1967; Renten: Vor Wohltätern wird gewarnt, in: Der Spiegel, 9.8.1976; Im Baby-Tal?, in: FAZ , 26.6.1971.
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Vor dem Hintergrund einer scharfen Parteienkonkurrenz und der Anti zipation vermeintlich immer weiter anwachsender Kassenbestände entfachte die Rentenfrage im Bundestag einen beispiellosen Überbietungswettbewerb von Regierung und Opposition, der hier lediglich in seinen Grundzügen umrissen werden soll.123 1971 standen sich im Parlament zwei alternative Entwürfe zur Ausweitung der Alterssicherung gegenüber: Die Unionsparteien wollten die Öffnung für Selbständige, im Mittelpunkt ihres Vorschlages stand aber eine substantielle und allgemeine Anhebung des Rentenniveaus. Inhaltlich begründet wurde diese mit dem rentenformelbedingten relativen Zurückfallen der Renten gegenüber den Bruttolöhnen infolge der ökonomischen Entwicklung der Vorjahre, technisch umgesetzt werden sollte sie als Vorziehung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr, die – ein weiteres Kompensationsargument – als Ausgleich für die 1958 unterbliebene Rentenanpassung ausgegeben wurde. Priorität im Programm der Regierungskoalition hatte die Einführung der flexiblen Altersgrenze. Hinzu traten die »Rente nach Mindesteinkommen«, die Öffnung der Rentenversicherung, die Einführung eines »Babyjahres« für rentenversicherte Frauen und der Versorgungsausgleich bei Ehescheidungen. Kennzeichnend für die Dynamik der Folgezeit war, dass Opposition und Regierung im Kampf um die Wählergunst die besonders attraktiven Bestandteile des Programms der Gegenseite an Bord nahmen und damit ihre Vorschläge immer weiter ausbauten: Eingedenk der Ermahnung Schellenbergs, »[m]an müsse der Opposition, die sich für die … vorgezogene Rentenanpassung stark mach[e] – was notabene zehn Millionen Rentnern Vorteile bringe –«, etwas entgegensetzen,124 propagierte die sozial-liberale Koalition am Ende ebenfalls eine saftige Rentenerhöhung, während die CDU/CSU nun auch die Flexibilisierung der Altersgrenze und eine Aufbesserung der »Kleinrenten« durchsetzen wollte. Zum Schluss – auch das war ein ganz außerordentlicher Vorgang in der Geschichte des Parlaments – fand nicht der Entwurf der Regierung, sondern der Vorschlag der Opposition seinen Weg ins Gesetzbuch, da letztere im Bundestag durch das Fernbleiben Schillers eine Ein-Stimmen-Mehrheit besaß. In der dritten Lesung, in der beide Seiten in erster Linie über das Urheberrecht an der Rentenreform stritten, wurde der Gesetzentwurf schließlich einstimmig mit einer Enthaltung angenommen. Das verabschiedete Reformgesetz kumulierte im Grunde alle Erweiterungsmaßnahmen, die in den vorangegangenen Monaten von Regierung oder Opposition vorgeschlagen worden waren – mit 123 Für eine detaillierte und scharfsinnige Darstellung der politischen Abläufe vgl. H ockerts, Nutzen, jetzt wieder abgedruckt in: ders., Der deutsche Sozialstaat, S. 150–180. 124 AdsD, SPD BT-Fraktion, 6. WP, 116, 23.6.1972. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Schellenberg freilich noch, dies ließe sich mit der Einführung eines Rentengrundbetrags von 20 DM bewerkstelligen. Zur Attraktivität der von der CDU/CSU projektierten Rentenerhöhung vgl. auch bereits Herbert Wehner, AdsD, SPD BT-Fraktion, 6. WP, 65, 15.6.1971.
192 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat einer, wiederum bezeichnenden Ausnahme: Das »Babyjahr« fiel in der zweiten Lesung der Stimmenmehrheit der CDU/CSU zum Opfer. Insgesamt, kommentierte bereits die »Zeit« kritisch das Geschehen, hätten beide Seiten »daran mitgewirkt, dass der Wähler des Herbstes 1972« ein »Wahlgeschenk der Superlative« vor sich sehe – Folge »des Wettlaufs der Parteien, bei dem sich die Forderungen immer weiter hochschaukelten«. Die Rentenreform 1972 bringe »die stärksten Veränderungen seit 1957, die höchsten Kosten, die größten Fortschritte in der sozialen Absicherung und« – infolge der kumulativen Logik und der Eile in der Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens – »die größten sachlichen Ungereimtheiten«.125 Das historische Urteil über die Geschichte des bundesdeutschen Alterssicherungssystems in der Phase seines schnellsten Aufwuchses vermag in hohem Maße vom vergleichenden Blick auf sein britisches Pendant zu profitieren. Ungeachtet durchaus vorhandener Konvergenzprozesse, wie sie sich etwa in der zunehmenden Annäherung der GRV an eine Staatsbürgerversicherung durch die Öffnung für immer neue gesellschaftliche Gruppen zeigen, lässt die britische Kontrastfolie vor allem die Unterschiede scharf hervortreten. Deutlich zeichnet sich vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Großbritannien das weite Ausmaß an politischem Konsens ab, das in der Bundesrepublik herrschte, wenn es um den Ausbau des Wohlfahrtsstaates ging. Mochten andere Politikfelder, wie etwa die Ostpolitik, auch hochgradig ideologisch aufgeladen und kontrovers besetzt sein – in der Sozialpolitik im allgemeinen und in der Politik der Alterssicherung im besonderen gab es in Westdeutschland seit spätestens Mitte der 1950er Jahre eine Art großer Koalition. Zwar konnte man sich im Parlament und darüber hinaus erbittert über Prioritätssetzungen und Reformgeschwindigkeit streiten, doch blieb die grundlegende wohlfahrtsstaatliche Expansionsorientierung ebenso unumstritten wie das Votum über alle wichtigen Reformen am Ende einstimmig ausfiel. Lässt sich ein größerer Gegensatz denken als jener zwischen der Überbietungskonkurrenz in der Rentenreform 1972 und der Leidenschaft, mit der Labour und die Konservativen bis tief in die 1970er Jahre hinein nach einem Regierungswechsel jeweils gegenseitig die gerade auf den Weg gebrachten Reformen demolierten? Gleichzeitig sowohl Voraussetzung als auch Folge des hohen Grades an politischem Konsens auf dem Feld der Alterssicherung war das Ausmaß, in 125 Was die Reform der Rentenversicherung bringt, in: Die Zeit, 29.9.1972. Vgl. zum Vorangehenden insgesamt Hockerts, Nutzen; Hermann, Rentenreform 1972; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 5, S. 442–468; Katzer, Erhöhung; BT 6/197, S. 11578–11651 (20.9.1972); BT 6/198, S. 11701–11713 (21.9.1972); Schillers Rache verdreht die Bonner Welt, in: FAZ 22.9.1972; Rentenreform. Endspurt im Parlament, in: Die Zeit 22.9.1972; Rentenvorschläge der CDU zuletzt von allen Parteien gebilligt, in: FAZ , 22.9.1972; Renten. Egal, was die machen, in: Der Spiegel, 21.8.1972.
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dem die bundesdeutsche Rentenpolitik den Mittelschichten zugute kam. Das 1957 eingeführte, auf dem Grundsatz der Lebensstandardsicherung beruhende Rentensystem begünstigte ganz besonders die vollerwerbstätigen, pflichtversicherten Facharbeiter und Angestellten der mittleren und höheren Einkommensklassen, da ihre privilegierte sozio-ökonomische Position im Alter mit jeder – beitragsproportionalen – Rentenerhöhung reproduziert wurde und sich dabei der absolute Abstand zu jenen Rentnern, die früher schlecht verdient hatten, stetig vergrößerte. In den anderthalb Jahrzehnten nach 1957 verstärkte sich die Mittelschichtorientierung der deutschen Alterssicherungspolitik sogar noch.126 Davon zeugt die Ausweitung der Anrechnung von Ausfallzeiten – etwa für Schul- und Hochschulausbildung – ebenso wie die Öffnung der GRV für Selbständige und die auf die besserverdienenden Schichten zugeschnittene Möglichkeit, durch Beitragsnachentrichtung lukrative Hausfrauenrenten aufzubauen. Im Gegensatz dazu blieb die britische Alterssicherungspolitik in den 1960er und 1970er Jahren zum überwiegenden Teil auf das Ziel der Armutsbekämpfung ausgerichtet. Die Mittelschichten hingegen sahen sich zur Ab sicherung ihres Lebensstandards im Alter auf Betriebsrenten und private Vorsorge, im Kern also auf marktwirtschaftliche Lösungen, verwiesen. Je länger sich dieses Arrangement verfestigte, desto weniger Interesse hatten sie an einer Ausweitung der staatlichen Alterssicherung, die ihre bereits erworbenen Ansprüche zu unterminieren und sie selbst in erster Linie als Netto-Zahler zu integrieren drohte. Ausgehend von dieser grundlegend verschiedenen Orientierung der staatlichen Alterssicherung in Großbritannien und Westdeutschland, kann der sozialhistorische Fußabdruck, den sie in beiden Ländern hinterließ, auf den ersten Blick nur paradox anmuten: Die Bekämpfung der Altersarmut nämlich gelang mit der Bundesrepublik Deutschland gerade in jenem Alterssicherungssystem weit besser, das nicht vordringlich auf sie ausgerichtet war. Während in Großbritannien zwei Drittel der Alten unter- oder kurz oberhalb der sozio-kulturellen Armutsschwelle lebten, war die Altersarmut in der Bundesrepublik bereits in den 1960ern ein weit weniger verbreitetes Phänomen und nahm darüber hinaus im Laufe der 1970er Jahre noch einmal deutlich ab. Der Grund hierfür lag darin, dass das staatliche Alterssicherungssystem in Deutschland durch die weitgehende Berücksichtigung der Interessen der Mittelschichten im Vergleich zu Großbritannien ein weit höheres Finanzvolumen generieren konnte, das es ermöglichte, die Altersarmut durch das insgesamt höhere Rentenniveau und mittels nur weniger Elemente des sozialen Ausgleichs einigermaßen effektiv und gewissermaßen nebenbei zu bekämpfen. Angesichts dessen erscheint dann auch die Rentenreform von 1972 in einem weniger negativen Licht, da wenigs-
126 Vgl. ganz in diesem Sinne Hilpert, Wohlfahrtsstaat, S. 182 ff.
194 Altern im »automobilen« Wohlfahrtsstaat tens Teile der hier über dem Wahlvolk ausgeschütteten sozialpolitischen Wohltaten – etwa die »Rente nach Mindesteinkommen« – faktisch einen wichtigen Beitrag zur weiteren Absenkung des Armutsrisikos im Alter leisteten. Die breite Zone des politischen Konsenses in der bundesdeutschen Alters sicherung erstreckte sich insbesondere auch auf das ihr zugrunde liegende Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Ungeachtet der in Richtung einer Staatsbürgerrente weisenden irrlichternden Vorschläge der FDP Anfang der 1960er Jahre stand der Grundsatz des Statuserhalts in der Rentenversicherung nach 1957 in der politischen Arena nie wieder ernsthaft zur Debatte. Auch das tritt in aller Deutlichkeit hervor im Vergleich zu Großbritannien, wo die Frage, wie eine sozial gerechte staatliche Alterssicherung auszusehen habe, in den Nachkriegsjahrzehnten nicht nur zwischen den beiden großen Parteien und den wichtigen Interessenorganisationen, sondern zum Teil auch in ihnen selbst zutiefst umstritten blieb.127 In der Bundesrepublik Deutschland dagegen, in der die Gerechtigkeitsfrage im Vorfeld der Rentenreform von 1957 eine schlechthin zentrale Rolle gespielt hatte,128 traf die konsequente Institutionalisierung von einkommensproportionaler Rente und Leistungsprinzip auf eine so große Akzeptanz, dass danach alle Grundsatzdiskussionen verstummten. Die zuvor ubiquitäre Gerechtigkeitssemantik zog sich vom Feld der Alterssicherungspolitik zurück und wanderte in jene Politikbereiche aus, in denen in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre leidenschaftlich über den gerechten Zugang zu Gütern und Chancen gestritten wurde – vor allem ist hier an die Bildungspolitik und die Frage der Vermögensverteilung zu denken. Das bedeutete nun freilich nicht, dass in der deutschen Rentenpolitik Gerechtigkeitsfragen vollkommen von der Tagesordnung verschwunden wären. Doch rührten sie nicht an den sakrosankten Grundprinzipien der Rentenversicherung, sondern betrafen die Behandlung einzelner Gruppen innerhalb des geltenden Systems. Konnte man die Selbständigen von den Vorteilen der staatlichen Alterssicherung ausschließen, die die pflichtversicherten Arbeiter und Angestellten genossen? Musste nicht bei geringer Beitragsdauer ein »weitgehender sozialer Ausgleich … durch Berücksichtigung von Zeiten des Wehrdienstes, der Kriegsgefangenschaft, der Arbeitslosigkeit«, aber auch »der Krankheit, der Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildung geschaffen« werden?129 War es nicht nur gerecht, das Altersgeld für Landwirte, die Kriegsopferrenten und überhaupt »alle sozialen Einkommensleistungen« in der gleichen Weise an die Steigerung der Löhne zu koppeln, wie das seit 1957 für die Altersrente galt, und ihren Empfängern damit »eine volle Teilhabe an der allgemeinen Einkommens-
127 Vgl. oben, Kap. III . 128 Vgl. oben, insbes. Kap. II.3. 129 Stellungnahme zum Rentenprogramm der SPD, o. D. (Mai 1961), BArch, B 149/116837.
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entwicklung der aktiv Tätigen zu sichern«?130 Immer häufiger traf dabei die Sozialpolitik auf eine von ihr selbst gestaltete soziale Wirklichkeit und sah sich aufgerufen, Ungleichheiten auszugleichen, die sie selbst hervorgebracht hatte und die jetzt von den vermeintlich Benachteiligten als Ungerechtigkeiten angeprangert wurden. Da jede kompensatorische Maßnahme ihrerseits potentiell neue Ungerechtigkeiten produzierte, war dem Wohlfahrtsstaat damit eine expansive Eigendynamik eingeschrieben, die aus sich selbst heraus eine Grenze nicht kannte.
130 SPD -Regierungsprogramm 1976, in: Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1975–1977, S. 528; Geiger (SPD), BT 7/74, S. 4695 (18.1.1974). Vgl. etwa auch eindrucksvoller Außerordentlicher VdK-Verbandstag in Bonn, in: VdK Informationsdienst, 22.6.1969, BArch 136/9030.
V. Two Nations in Old Age – Das Vereinigte Königreich in den 1980er und 1990er Jahren
1.
Alterssicherung unter Thatcher
In der fast drei Jahrzehnte andauernden ökonomischen Boomphase der Nachkriegszeit war es in ganz Westeuropa zu einem beispiellosen Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung gekommen. Das galt in besonderer Weise für die Bundesrepublik Deutschland, in abgeschwächtem Ausmaß aber auch für Großbritannien, wo auf dem Gebiet der Altersvorsorge nach langen Auseinandersetzungen noch 1975 die Einführung des staatlichen Zusatzsicherungssystems SERPS beschlossen worden war.1 Am Ende der 1970er Jahre jedoch hatte sich die Situation grundlegend geändert. Angesichts sinkender wirtschaftlicher Wachstumsraten, steigender Arbeitslosenzahlen und expandierender Haushaltsdefizite standen allenthalben die Restrukturierung und der Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auf der Tagesordnung. Für die Regierung Thatcher, die 1979 ihr Amt antrat, war die Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaats nicht nur ein notwendiges, durch die besonders schwierige wirtschaftliche Lage Großbritanniens bedingtes Übel, sondern zugleich ein Projekt, das der tiefen ideologischen Überzeugung ihrer führenden Vertreter entsprach. Auch die britischen Konservativen jedoch mussten bald erkennen, dass die Rückführung sozialstaatlicher Leistungen politisch weit schwerer durchzusetzen war als ihre Ausweitung: Im letzten Amtsjahr Thatchers, 1990, lagen die Sozialausgaben mit 13,1 % des Bruttosozialprodukts nicht unter, sondern leicht über ihrem Ausgangswert von 1980 (12,7 %); unter John Major stiegen sie bis 1995 sogar auf 17,0 % des BSP an.2 Der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Pierson kam bereits in seiner bahnbrechenden Studie »Dismantling the Welfare State« in den frühen 1990er Jahren zu dem Schluss, dass eine auf den Rückbau des Wohlfahrtsstaats zielende Politik unter völlig anderen Bedingungen operiert als in der Phase seines Aufwuchses und dass dementsprechend auch jene theoretischen Ansätze, die zur 1 Vgl. oben, Kap. III .4. 2 Webb, Social Security, S. 572. Vgl. in der Tendenz ebenso, aber mit einem breiteren Verständnis des Begriffs »Sozialausgaben«: Le Grand, State of Welfare, S. 339, sowie die Daten der OECD -Datenbank: http://stats.oecd.org/Index.aspx.
198 Two Nations in Old Age Erklärung der sozialpolitischen Expansion herangezogen werden, deutliche Erklärungsdefizite aufweisen, wenn es um die Analyse von Politik in Zeiten des welfare retrenchment geht.3 Der zentrale Unterschied zwischen einer Politik des Wohlfahrtsstaatsaus- und jener des -rückbaus besteht darin, dass letztere nicht auf eine tabula rasa trifft, sondern in einem durch den Sozialstaat selbst vorgeformten Terrain operiert. Auch Regierungen, die prinzipiell zu tiefgreifenden Einschnitten ins soziale Netz bereit sind, sehen sich mit von ihnen nicht ignorierbaren Leistungsanrechten konfrontiert, welche die Beitragszahler über Jahrzehnte erworben haben, von ihnen als Eigentumsrechte interpretiert werden und auf die sie ihre Erwartungen aufgebaut haben – die Rentenversicherung bildet hier den klassischen Beispielfall. Gleichzeitig treffen Kürzungen auf den Widerstand von teilweise organisierten Interessengruppen, die sich nicht in den für kapitalistische Marktwirtschaften typischen Konflikten herausgebildet haben, sondern das genuine Ergebnis sozialpolitischer Programme sind und für die der deutsche Soziologe Claus Offe den zutreffenden Begriff policy takers geprägt hat.4 Über die verschiedenen Gruppen von Leistungsempfängern hinaus gehören zu ihnen auch die Erbringer von sozialen Dienstleistungen wie etwa Ärzte, Pflegekräfte und Sozialarbeiter. Die Widerstandsfähigkeit einmal etablierter sozialstaatlicher Strukturen wird darüber hinaus noch dadurch gesteigert, dass Einsparungen klar abgrenzbare Gruppen spürbar treffen und damit einen guten Ausgangspunkt für die Organisation der geschädigten Interessen darstellen, während ihr Nutzen in der Zukunft anfällt und breit streut. Schließlich gilt es als empirisch hinreichend abgesicherte Erkenntnis der Behavioral Economics, dass Verluste generell bei den von ihnen Betroffenen intensivere Reaktionen auslösen als entsprechende Gewinne (Verlustaversion).5 All diese Faktoren machen den Um- und Rückbau von Wohlfahrtsstaaten zu einem überaus mühsamen Geschäft, bei dem es für Politiker anders als in der Expansionsperiode nicht mehr um credit claiming, also um die wählerwirksame Reklamierung von sozialpolitischen Ausbauerfolgen, sondern in erster Linie um blame avoidance geht. Vor dem Hintergrund dieser auch theoretisch zu begründenden Unwahrscheinlichkeit eines scharfen sozialpolitischen Rückbaukurses, die zumal für wohlfahrtsstaatliche Programme mit einem breiten Klientenkreis wie die Alterssicherung oder die Gesundheitsversorgung angenommen werden darf, erscheint es um so bemerkenswerter, dass der Thatcher-Regierung gerade auf dem Gebiet der Rente deutliche Einschnitte gelangen, welche die oben angeführte Entwicklung der aggregierten Sozialausgaben eher abschattet denn hervor 3 Pierson, Dismantling. Vgl. ders., New Politics; ders. (Hg.)., New Politics; Levy, Welfare Retrenchment. 4 Vgl. Offe, Attribution; ders., Disorganzied Capitalism. 5 Vgl. Tversky u. Kahneman, Framing; Kahneman, Schnelles Denken, S. 347 ff.; Pierson, Dismantling, S. 18 f.
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treten lässt. Im Folgenden soll den Gründen dafür, dass die Tories mit ihren weitreichenden Reformen durchdrangen, ebenso nachgegangen werden wie den Interessen und normativen Wertvorstellungen, die im Reformprozess eine Rolle spielten. Die Eingriffe in die Alterssicherung unter Margaret Thatcher erfolgten im wesentlichen in zwei Schritten. Bereits kurz nach ihrem Amtsantritt holten die Konservativen zum ersten Schlag aus, der langfristig ausgesprochen weitreichende Folgen zeitigte: Seit ihrer Einführung im Jahre 1948 hatte die Basic State Pension – wenn auch mit einigen Schwankungen und ohne dass hierfür eine gesetzliche Grundlage bestanden hätte – im großen und ganzen mit dem Wachstum der Durchschnittslöhne Schritt gehalten. 1974 hatte dann die LabourRegierung per Gesetz festgeschrieben, dass die für alle Versicherten gleich hohe Grundrente der Entwicklung der Löhne bzw. Preise folgen sollte, wobei jeweils die höhere Wachstumsrate von beiden ausschlaggebend sein sollte. Faktisch bedeutete das eine Koppelung der Basic State Pension an die Durchschnittslöhne, da diese auf die Dauer schneller stiegen als die Preise. Die Tories revidierten diese Regelung und legten fest, dass die Rente ab 1980 nunmehr nur noch im Gleichschritt mit den Preisen wachsen sollte. Die Reduzierung der Rentenanhebungen auf einen reinen Inflationsausgleich hatte zur Folge, dass sich die Alten zunehmend von der allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstandssteigerung abgekoppelt fanden. Wäre der earnings link in Kraft geblieben, errechnete der »Guardian« gegen Ende der konservativen Ära 1996, hätte die Staatsrente für eine einzelne Person bei £ 80 wöchentlich und nicht, wie es tatsächlich der Fall war, bei £ 61,15 gestanden; für ein Ehepaar hätte sie sich auf £ 128,65 statt auf £ 97,75 belaufen.6 Im Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen verlor die Basic State Pension immer mehr an Boden: Hatte sie 1981 noch 23,7 % des durchschnittlichen Bruttolohns betragen (single pension), war dieser Anteil bis 1991 auf 18,3 % und bis 1997 gar auf 17,0 % gefallen.7 Den Einbußen der Rentnerinnen und Rentner stand eine erhebliche und darüber hinaus steigende jährliche Ersparnis im Staatshaushalt gegenüber, die bis zum Haushaltsjahr 1996/1997 auf stolze £ 5,2 Mrd. per annum angewachsen war, die zusätzlich hätten verauslagt werden müssen, wäre die Ankoppelung der Renten an die Löhne noch in Kraft gewesen.8 Der Übergang von der Lohn- zur Preisindexierung der Basic State Pension war rein fiskalisch motiviert. Da die Regierung Thatcher die Konsolidierung des Haushalts anstrebte und zugleich die Steuern insbesondere für die oberen 6 Owning Up to Pensions Fraud, in: Guardian, 5.8.1996. 7 Written Answers, HC , Bd. 455, 1180W (24.1.2007). Vgl. auch Effect on New Pensions Scheme of Breaking Link Between the Basic Pension Rate and the Level of Earnings, June 1979, NA , PIN 46/443; Vincent, Patterson u. Wale, Politics, S. 86; Hills, Future of Welfare, S. 51; Fawcett, Privatisation, S. 166. 8 Written Answers, HC , Bd. 282, 575W ( 24.7.1996).
200 Two Nations in Old Age Einkommensgruppen deutlich senkte, musste sie auf der Ausgabenseite drastisch sparen. Der einfachste und schnellste Weg, ein erhebliches Kürzungsvolumen zu generieren, lag darin, Sozialleistungen auf breiter Front nicht in der zuvor beabsichtigten Weise zu erhöhen oder sie ganz einzufrieren. Das traf nicht nur die Alten, sondern ebenso die Arbeitslosen, die Kranken und Familien mit Kindern. Im Hinblick auf die Renten hatte Patrick Jenkin bereits einen Monat nach seinem Amtsantritt als Secretary of State for Social Services, im Juni 1979, vor dem Unterhaus verlauten lassen, dass die geltende Praxis ihrer doppelten Anbindung an Löhne und Preise »auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten« sei, da sie der arbeitenden Bevölkerung eine »immer schwerere Last« aufbürde.9 Die deutliche Schlechterstellung der Alten im Vergleich zur werktätigen Bevölkerung, die von der Änderung der Rentenindexierung für die Zukunft zu erwarten war, nahmen die konservativen Entscheidungsträger sehenden Auges in Kauf. Wiederholt und in aller Deutlichkeit hatten die Ministerialbürokraten des Sozialministeriums in internen Vermerken die langfristigen Konsequenzen einer Abkopplung der Renten von den Löhnen aufgezeigt. Auch die Sozialversicherungsmathematiker vom Government Actuary’s Department hatten sich für die Beibehaltung der Lohnbindung der Renten ausgesprochen und es als für sie selbst »peinlich« beschrieben, wenn sie zukünftig Langfristprognosen zu erstellen hätten, welche das Zurückbleiben der staatlichen Grundrente gegenüber den Erwerbseinkommen zeigten. Bei Zugrundelegung der üblichen Annahmen und einem Prognosezeitraum von vierzig Jahren müssten sie dann nämlich zu dem Ergebnis kommen, dass der Wert der staatlichen Pauschalrente im Verhältnis zu den Löhnen »auf weniger als ein Drittel ihres heutigen Wertes fallen würde«.10 Wie kaum anders zu erwarten, traf die Absicht der Konservativen, die Renten von den Löhnen abzukoppeln, zwar auf die Opposition der Labour Party, der Gewerkschaften und der Altenorganisationen.11 Bemerkenswert war aber eigentlich, wie gering der politische Widerstand war, der einer Maßnahme mit so weitreichenden Folgen entgegenschlug, wie problemlos sie den Weg ins Gesetzbuch fand und wie schnell sich danach die Proteste legten. Verantwortlich dafür war sicherlich, erstens, dass es sich bei der Umstellung der Renten 9 Patrick Jenkin, HC , Bd. 968, 439 (13.6.1979). 10 C. M. Stuart an J. H. Ward, Consequences of Elimination of Earnings Link for Basic Pensions, 8.6.1979, NA , PIN 46/443. Vgl. B. J. Ellis an J. H. Ward, Breaking the Link Between Basic Pension and Earnings, 19.6.1979, NA , PIN 46/443; Wider Effects on New Pensions Scheme of Breaking the Link Between the Basic Pension Rate and the Level of Earnings, o. D. (May/June 1979), NA , PIN 46/443. Zum Absatz insgesamt vgl. Timmins, Five Giants, S. 375 ff.; Lowe, Welfare State, S. 342 ff.; Glennerster, British Social Policy, S. 180 ff.; Thurley, Pension Uprating, S. 4 ff. 11 Vgl. etwa Prentice Threat to Guillotine Pensions Debate, in: Guardian, 28.11.1979; Pension Rise ›Too Great a Burden‹, in: Guardian, 26.1.1980; Minister Accused of Being Political Judas, in: The Times, 21.12.1979.
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indexierung von den Löhnen auf die Inflationsrate um eine inkrementale Veränderung handelte, die erst in der ferneren Zukunft gravierende und in ihrer Höhe schwer abschätzbare Folgen zeitigte. Die kurzfristigen Auswirkungen waren gering; einmal beschlossen, erbrachte der Wechsel der Indexierung jährlich wachsende Einsparbeträge, ohne dass hierfür noch eigens politische Entscheidungen herbeigeführt werden mussten. Zweitens konnte sich die Regierung die Inflationserfahrungen der Vorjahre zunutze machen, indem sie immer wieder herausstrich, dass der Realwert der Rente durch die neue Anpassungsregel erhalten bleibe und dass »die Garantie, die wirklich zähle, diejenige gegen die steigenden Preise« sei.12 Dass sie mit dieser Argumentation durchdringen konnte, lag – drittens – an einem Faktor, der sich erst vor der Kontrastfolie des Vergleichs mit der Bundesrepublik abzeichnet. Wenn in Westdeutschland überhaupt über eine Änderung der Bezugsgröße für die Dynamisierung der Renten diskutiert wurde, ging es allenfalls um einen Übergang von den Bruttozu den Nettolöhnen13 – und auch das war politisch bis tief in die 1980er Jahre nicht durchsetzbar. Die Lohnanbindung der Renten durch einen Inflationsausgleich zu ersetzen stellte in Westdeutschland dagegen auch in der Phase knapper Rentenfinanzen niemals eine auch nur ernsthaft erwogene Alternative dar. In der Bundesrepublik war mithin die Verkopplung von Lohn- und Rentenbewegung und die darin enthaltene Norm der Gleichheit zwischen den Generationen14 seit der Weichenstellung von 1957 weit tiefer im gesellschaftsübergreifenden Basiskonsens verankert als in Großbritannien, wo das Prinzip der Lohndynamik nie im Zentrum einer breiten politischen Debatte gestanden hatte, es erst in den 1970er Jahren gesetzlich festgeschrieben worden war und dementsprechend leicht wenige Jahre später von den Konservativen wieder ausgehebelt werden konnte. Der deutsch-britische Vergleich erhellt viertens, dass auf Beitrags-Leistungs-Äquivalenz und Lebensstandardsicherung ausgerichtete Alterssicherungssysteme wie jenes der Bundesrepublik auch deshalb einen besseren Schutz gegen eine Abkopplung der Renten von den Löhnen bieten, weil damit auf die Dauer ihre Leistungsstruktur verzerrt und das Ziel des Status erhalts im Alter in Frage gestellt würde. Insofern war in die deutsche Alterssicherung eine systemische Konservierung des Renten-Lohn-Nexus eingelassen, die im britischen Pauschalrentensystem der Basic State Pension fehlte und fehlt. Der Social Security Act von 1986 stellte den zweiten grundlegenden Eingriff in die Alterssicherung unter Thatcher dar. Die Neuregelung der Rentenindexie rung in ihrer ersten Amtsperiode hatte wenig sozialpolitischen Gestaltungswillen erkennen lassen – es war ausschließlich um Ausgabenkürzung nach der 12 Patrick Jenkin, HC , Bd. 968, 439 (13.6.1979). 13 Vgl. etwa Werden die Renten zu teuer?, in: Die Zeit, 10.2.1967; Wer zahlt für die Alten?, in: Die Zeit, 31.3.1967; Ein ausgemachter Volksbetrug?, in: Die Zeit, 16.2.1968; Renten – das neue Loch, in: Die Zeit, 26.8.1977. 14 Vgl. oben, Kap. II.4.
202 Two Nations in Old Age »Rasenmähermethode« gegangen; Haushaltskonsolidierung und Inflationsbekämpfung hatten ganz im Vordergrund der Regierungspolitik gestanden. Das änderte sich nach der Wiederwahl Thatchers 1983, die der konservativen Regierung die größte parlamentarische Mehrheit seit dem Labour-Sieg von 1945 einbrachte. Nun sollte der Wohlfahrtsstaat als Ganzes auf den Prüfstand; Strukturreformen standen auf dem Programm. Zu ihrer Vorbereitung setzte Norman Fowler, seit 1981 Secretary of State for Social Services, kurz nach der Wahl gleich vier Kommissionen ein, die die verschiedenen Bereiche der sozialen Sicherung einer grundlegenden Überprüfung unterziehen sollten – »die am weitesten gehende Bestandsaufnahme des sozialen Sicherungssystems seit dem BeverdigeReport vor 40 Jahren«, wie er selbst dieses Unterfangen bezeichnete.15 Als erste, am größten angelegte und wichtigste Untersuchung leitete Fowler unter eigenem Vorsitz im November 1983 die »Inquiry into Provision for Retirement« ein. Unter explizitem Einschluss aller drei Säulen der Alterssicherung zielte sie darauf, »die zukünftige Entwicklung, die Angemessenheit und die Kosten der staatlichen, betrieblichen und privaten Alterssicherung im Vereinigten Königreich inklusive der Übertragbarkeit von Rentenansprüchen zu analysieren«.16 Die umfassende Evaluation des britischen Sozialversicherungssystems sollte den Boden für strukturelle Reformen bereiten, für die Fowler 1985 mit dem Green Paper »Reform of Social Security« seine Vorschläge vorlegte. Bereits die einleitende Diagnose des Green Paper ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Um es offen auszudrücken, hat das britische soziale Sicherungssystem seine Orientierung verloren«.17 Zu teuer, zu kompliziert, zu ineffizient und zu unflexibel – das war das konservative Verdikt im Hinblick auf den britischen Wohlfahrsstaat. Das meiste Explosionspotential enthielt das Green Paper auf dem Gebiet der Alterssicherung. Die Regierungsvorschläge liefen auf die vollständige Abschaffung des erst wenige Jahre zuvor, 1978, vom Stapel gelaufenen Zusatzrentensystems SERPS hinaus – und das, obwohl seine Einführung 1975 auch mit den Stimmen der Konservativen beschlossen worden war und obwohl sich die Premierministerin noch im Vorfeld der Wahlen von 1983 öffentlich von Plänen distanziert hatte, die Existenz von SERPS anzugreifen.18 Wie in derartigen Fällen 15 Norman Fowler, HC , Bd. 57, 653 (2.4.1984). Vgl. Social Security Set Up, in: Glasgow Herald, 3.4.1984. 16 Reform of Social Security, Bd. 3, Cmd. 9519, S. 130. Zur Arbeit der Kommission vgl. NA , BN 147/1–2; Fowler Launches Inquiry into State and Occupational Schemes, in: Guardian, 24.11.1983; Fowler, Ministers Decide, S. 206 ff; DHSS , Social Security Advisory Committee, Minutes of a Meeting, 18.1.1984, NA , BN 69/7. 17 Reform of Social Security, Bd. 1, Cmd. 9517, S. 1. 18 Vgl. Michael Meacher, HC , Bd. 80, 39 (3.6.1985); Kinnock calls Thatcher ›Twister‹ in Clash over State Scheme, in: The Times, 1.5.1985; Pierson, Dismantling, S. 60. Auch im Wahlprogramm der Konservativen war die Absicht, SERPS abzuschaffen, nicht zur Sprache gekommen. Vgl. http://www.politicsresources.net/area/uk/man/con83.htm.
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üblich, sah das Green Paper vor, dass bereits in SERPS erworbenen Anrechten durch spätere Rentenzahlungen Rechnung getragen werden sollte. Auch sollte das Zusatzrentensystem für alle Männer über 50 und für Frauen über 45 (aufgrund ihres um fünf Jahre geringeren Rentenalters) so wie bisher weiterlaufen. Für alle Jüngeren jedoch strebte die Regierung die Einstellung von SERPS an – wobei für Männer zwischen 40 und 49 sowie für Frauen zwischen 35 und 44 Übergangsregelungen vorgesehen waren.19 An die Stelle der einkommens abhängigen staatlichen Rente sollte für alle Arbeitnehmer – nicht, wie ursprünglich von Thatcher und Fowler beabsichtigt, auch für die Selbständigen20 – die verpflichtende Versicherung in einem betrieblichen Altersversorgungssystem oder durch eine private Altersversicherung (personal pension) treten. Den minimalen, gemeinsam von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erbringenden Beitragssatz zur betrieblichen bzw. privaten Altersversicherung setzte das Green Paper auf 4 % der Gehaltssumme fest. Das lag weit unter jenen 15 %, welche die Mitte der 1980er Jahre bereits betrieblich oder privat versicherten Arbeitnehmer durchschnittlich als Beitragssatz zahlten; und es würde, wie das Institute for Fiscal Studies in einer Stellungnahme sofort vorrechnete, in der Zukunft zu weit geringeren Rentenleistungen führen, als SERPS sie versprach. Das, so die dem Reformvorhaben grundsätzlich positiv gegenüberstehenden Gutachter des Wirtschaftsinstituts, könne freilich keinen überraschen, da die Leistungsauf der Beitragshöhe beruhe und schließlich »ein wesentlicher Grund für die Abschaffung von SERPS seine untragbaren Kosten war«.21 Dass die Abschaffung von SERPS und die anderen Vorschläge des sich immer wieder auf William Beveridge berufenden Green Paper auf den scharfen Widerstand der Labour Party, des Trades Union Congress und der britischen poverty lobby treffen würden und Thatcher sich im Unterhaus als »pensions snatcher« bezeichnen lassen musste, war kaum anders zu erwarten gewesen.22 Dass sich jedoch auch die Verbände der Unternehmer und der Versicherungsindustrie, die üblicherweise fest im Lager der konservativen Regierung standen, gegen die Reformpläne aussprachen, war für die Initiatoren der Gesetzesinitiative ein Schlag. Die Arbeitgeber – das British Institute of Management ebenso wie die Confederation of British Industry – wandten sich aus Kostengründen gegen die Regierungsvorschläge. Steigende Kosten für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer waren deshalb zu erwarten, weil die beabsichtigte Umstellung von 19 Vgl. Reform of Social Security, Bd. 2, Cmd. 9518, S. 5. Zum Green Paper insgesamt vgl. Davis, Dilnot u. Kay, Social Security Green Paper. 20 Vgl. Lawson, View, S. 587 ff.; Fowler, Ministers Decide, S. 211 ff. 21 IFS Commentary, Abolishing SERPS: The Figures, o. D. (1985), NA , JB 4/49. 22 Michael Meacher, HC , Bd. 80, 40 (3.6.1985). Vgl. Why the Giant of Want Will Continue to Stalk the Land, in: Guardian, 12.7.1985; Campaign Against the Fowler Reform, in: Guardian, 4.9.1985; The Pension Revolution is a Minefield and Fowler Must Watch Where He Treads, in: Guardian, 19.10.1985; Schulze u. Moran, United Kingdom, S. 71 ff.
204 Two Nations in Old Age SERPS auf eine betrieblich bzw. privat organisierte Altersvorsorge faktisch den Übergang der Alterssicherung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren bedeutete, bei dem die Beitragszahler über eine lange Transformationsperiode hinweg die laufenden Rentenanwartschaften der Älteren bedienen und zugleich einen Kapitalstock für die eigene zukünftige Rente ansparen mussten. Diese Doppelbelastung musste die Gesamtaufwendungen zur Alterssicherung, welche die Arbeitgeber und Arbeitnehmer anteilig zahlten, zwangsläufig anwachsen lassen. Für die Arbeitgeberseite veranschlagte die CBI die jährlichen Mehrkosten auf immerhin £ 3 Mrd.23 Aber auch die Versicherungsindustrie war über die projektierte Abschaffung von SERPS nicht glücklich. Zum einen waren die Versicherer besorgt, dass durch Fowlers Reform der 1975 nach Jahrzehnten der Auseinandersetzungen endlich erreichte parteiübergreifende Kompromiss in der Alterssicherung wieder aufgekündigt werden sollte. Für die Versicherungsbranche stellte die Stabilität der Rahmenbedingungen die wichtigste Geschäftsgrundlage dar. Was sollte Labour davon abhalten, die konservativen Reformen nach einem Wahlsieg wieder rückgängig zu machen? Die Grundlage der Alterssicherung drohte abermals zum parteipolitischen Spielball zu werden. Zum anderen waren viele Versicherungsunternehmen nur mäßig an den neuen Kunden interessiert, die ihnen durch eine Abschaffung von SERPS zugeflossen wären. Da die meisten Besserverdienenden ohnehin das staatliche System verlassen hatten und occupational pensions besaßen, waren es nun vielfach schlecht verdienende Arbeitnehmer mit z. T. unterbrochenen Erwerbsverläufen, die das Ende von SERPS an den Strand der Versicherungsindustrie gespült hätte. Die für diese Klientel in Frage kommenden Rentenversicherungspolicen mit Kleinstbeiträgen galten in der Branche als wenig lukrativ, ihre Verwaltung als bürokratischer Alptraum. Darüber hinaus mussten sie aufgrund der vergleichsweise hohen Transaktionskosten der privaten Versicherer zu MiniRenten führen, die weit unter den SERPS -Renten gelegen und den Unmut der Versicherten vorprogrammiert hätten.24 Zu der fast einhelligen Ablehnung, die der Initiative zur Abschaffung von SERPS von seiten der verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen entgegenschlug, gesellte sich schließlich auch der Widerstand des Schatzkanzlers Nigel Lawson. Ebenso wie die Arbeitgeber und die Versicherungsindustrie verteidigte Lawson das staatliche Zusatzrentensystem nicht aus
23 Pensions Move May Push Up NI Rates, in: Financial Times, 13.5.1985. Die »Financial Times« veranschlagte die Mehrkosten mit £ 1,5–2 Mrd. geringer. Vgl. Business Steps Up Defence of Serps, in: Guardian, 14.9.1985; Pierson, Dismantling, S. 61 f. 24 Vgl. Pension Funds Body Split on Serps Plans, in: Financial Times, 31.7.1985; Serps Abolition Plan Opposed, in: Financial Times, 12.9.1985; Why Few Wish to Join the Fowler Bandwagon, in: Financial Times, 20.9.1985; Mr Fowler in the Eye of the Storm, in: Financial Times, 21.9.1985; Business Steps Up Defence of Serps, in: Guardian, 14.9.1985.
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Prinzip – persönlich hielt er SERPS für eine finanzielle »doomsday m achine«,25 die nie hätte errichtet werden dürfen –, sondern weil die von Fowler vorgeschlagene Lösung den handfesten Interessen des Treasury zuwiderlief. Der Konflikt zwischen DHSS und Schatzamt, der bereits die Publikation des Green Paper verzögerte hatte, beruhte erstens darauf, dass der Staat als Arbeitgeber genau wie private Unternehmen kurz- und mittelfristig die zusätzlichen Kosten zu tragen gehabt hätte, die durch den Übergang von einem umlage- zu einem kapitaldeckungsfinanzierten Altersversorgungssystem verursacht wurden. Zweitens – und noch weit wichtiger – drohte die vorgesehene Versicherungspflicht in einem betrieblichen oder privaten Rentenschema, die anstelle von SERPS geplant war, zu massiven Steuerausfällen zu führen, da die Beiträge zu derartigen Formen der Altersvorsorge steuerlich begünstigt waren.26 Insgesamt lief die von Fowler mit Thatchers Rückendeckung betriebene Rentenreform daher in den Augen Lawsons Gefahr, die Haushaltslage in der unmittelbaren Zukunft deutlich zu verschlechtern und den Spielraum für die noch im Wahlkampf angekündigten weiteren Steuersenkungen zu verringern. Die Tory-Regierung reagierte auf die scharfe interne und externe Kritik, indem sie die vollständige Abschaffung von SERPS ad acta legte. Statt dessen zielte das White Paper, das im Dezember 1985 veröffentlicht und dann weitgehend unverändert gesetzlich im Social Security Act von 1986 umgesetzt wurde, darauf, die Leistungsseite von SERPS gründlich zu demontieren. Erstens sollte der einkommensabhängige Anteil der gesetzlichen Rente in Zukunft nicht mehr aufgrund der zwanzig Jahre mit dem besten Verdienst, sondern auf der Basis des gesamten Erwerbslebens einschließlich von Perioden mit geringem Verdienst berechnet werden. Zweitens fand sich die SERPS -Rente, die sich bislang auf 25 % des dynamisierten Durchschnittsverdienstes belaufen hatte, auf 20 % desselben reduziert. Drittens wurde die Witwen- bzw. Witwerrente, die nach der bisherigen Regelung 100 % der Rente des verstorbenen Versicherten betragen hatte, auf die Hälfte gekürzt. In der Summe bedeuteten diese – nach einer Übergangsperiode in Kraft tretenden – Änderungen für jene rd. 11 Millionen Briten, die SERPS -Versicherte waren, einen signifikanten Einschnitt auf der Seite der Leistungen, während sie die langfristigen Kosten der einkommensabhängigen Alterssicherungskomponente ziemlich genau halbierten.27
25 Lawson, View, S. 588. 26 Vgl. Cabinet to Re-think Pension Cut, in: Observer, 5.5.1985; Thatcher Calls in Fowler and Lawson in Effort to Repair Pensions Rift, in: The Times, 30.4.1985; Lawson, View, S. 587 ff.; Pierson, Dismantling, S. 62; Fry, Politics, S. 125 f. 27 Vgl. Fowler Backs Down Over Benefit Reform, in: Guardian, 6.12.1985; Serps to Be Run Down Despite Reprieve, in: Guardian, 17.12.1985; Serps Lives, a Little Emaciated, in: Guardian, 17.12.1985; Blake, Pension Schemes, S. 90–92; Schulze u. Moran, United Kingdom, S. 73; Bozio, Crawford u. Tetlow, History of State Pensions, S. 34 ff.
206 Two Nations in Old Age Gleichzeitig machte sich die Thatcher-Regierung daran, den Bereich der betrieblichen und privaten Alterssicherung neu zu strukturieren. Bislang hatte die einzige Möglichkeit, aus dem einkommensabhängigen Zweig der gesetzlichen Rentenversicherung auszusteigen, darin bestanden, Mitglied in einem jener Betriebsrentensysteme zu werden, die viele Arbeitgeber für ihre Betriebsangehörigen organisiert hatten – ungefähr 11 Millionen, ähnlich viele, wie im staatlichen System verblieben waren, besaßen eine solche occupational pension. Betriebsrenten waren üblicherweise sog. defined benefit schemes, d. h. sie legten einen Rentenanspruch fest, der in irgendeiner Weise in Relation zur Höhe des Verdienstes am Ende oder in den letzten Jahren des Erwerbslebens stand. Das sollte sich nun ändern. Der Social Security Act dehnte die Möglichkeiten zum Ausstieg aus dem staatlichen System beträchtlich aus, indem er als alternative Alterssicherung nun auch betriebliche und private Versicherungen akzeptierte, die nach dem defined contribution-Prinzip funktionierten, also lediglich einen bestimmten Beitrag festlegten, in ihrer Leistung aber nicht an den vorherigen Verdienst gekoppelt, sondern vom Anlageerfolg abhängig waren. Das veränderte nicht nur die Bedingungen für neue betriebliche Alterssicherungssysteme und eröffnete den Versicherten neue Wahlmöglichkeiten, es stieß zugleich für die Versicherungsindustrie auch die Tür zu einem riesigen Absatzmarkt für personal pensions, also private Versicherungsverträge, auf, die nun als Altersvorsorge an die Stelle von SERPS oder occupational pensions treten konnten. Um die Verbreitung der personal pensions möglichst nachhaltig zu fördern, arbeitete die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche. Während die Demontage der SERPS Leistungen die staatliche Alterssicherungsalternative unattraktiver machte, schuf man erhebliche finanzielle Anreize zum Abschluss einer privaten Rentenversicherung: Über die steuerliche Begünstigung der Versicherungsprämien und die beim contracting out übliche Reduzierung des Sozialversicherungsbeitrags hinaus wurde all jenen, die einen neuen Vertrag über eine personal pension abschlossen, für eine Zeit von fünf Jahren ein zusätzlicher Beitragsrabatt von 2 % in der National Insurance eingeräumt. Der Erfolg dieser finanziellen Stimuli übertraf die Erwartungen der Regierung bei weitem: Von 1988 bis 1993 wechselten mehr als 5,5 Mio. Arbeiter und Angestellte von SERPS oder einem betrieblichen Altersversorgungssystem zu einem personal pension scheme – vielfach, wie sich später herausstellte, nicht zu ihrem Vorteil (vgl. Kap. V.3).28 Worin lag die Motivation der Thatcher-Regierung dafür, den auf dem Gebiet der Alterssicherung gerade erst Mitte der 1970er Jahre mühsam erreichten Kompromiss wieder grundsätzlich in Frage zu stellen? Zunächst einmal ist es bemer28 Für die Zahlen: Whitehouse, Pension Reform, S. 18, 23; Blake, United Kingdom, S. 320. Zum Absatz allgemein vgl. More Choice for Those with Money to Invest, in: Guardian, 17.12.1985; It’s Pensions for the Independents, in: Guardian, 17.12.1985; Life Companies Lose Their Hold on Pensions, in: Financial Times, 18.12.1985; Leisering, Varietes, S. 244 f.; Blake, Pension Schemes, S. 185 ff.; Marschallek, Back to the State?, S. 106 f.
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kenswert, welche Beweggründe für die Initiative der Konservativen gerade nicht ausschlaggebend waren: Keine besondere Rolle spielte in den Vorüberlegungen zur Rentenreform die soziale Lage der Alten – weder im Sinne eines aus der Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen erwachsenen Antriebs noch im Sinne einer für die Zukunft anzustrebenden gesellschaftlichen Zielvorstellung. Ebenfalls ging es nicht um die Konsolidierung des Staatshaushalts, die ansonsten in den Thatcher-Jahren als flankierende Maßnahme der monetaristischen Geldpolitik eine hohe Priorität genoss: Auf kurze Frist und auch in den beiden bevorstehenden Jahrzehnten erbrachten die Leistungskürzungen bei SERPS keine nennenswerten Einsparungen, während die steuerlichen Anreize für das contracting out auf der Einnahmenseite negativ zu Buche schlugen, so dass der öffentliche Haushalt durch die Reformen zunächst einmal sogar eher be- als entlastet wurde. Ganz im Vordergrund der Argumentation, die das Green Paper von 1985 zugunsten der Abschaffung von SERPS anführte, stand dagegen die demographische Entwicklung. Im Mittelpunkt stand die zunehmende Bevölkerungsalterung, die sich aus dem Zusammenspiel von wachsender Lebenserwartung und sinkender Fertilität ergab. Während zu erwarten sei, dass die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner von 1985 bis 2035 deutlich – von 9,3 auf 13,2 Mio. – ansteigen würde, sei damit zu rechnen, dass die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler in diesem Zeitraum bei ca. 22 Mio. mehr oder minder stagniere. Auf diese Weise verschlechtere sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern im Laufe von fünfzig Jahren von 2,3 auf 1,6.29 Die wachsende Belastung durch die Versorgung der Alten, die diese Verschiebung zwischen den Altersgruppen für die im Erwerbsleben Stehenden ohnehin bedeute, so das Green Paper weiter, würde dramatisch dadurch gesteigert, dass die sich langsam aufbauenden SERPS -Ansprüche nach der Jahrtausendwende zu massiv expandierenden Rentenzahlungen führen müssten. Seien die Kosten von SERPS für 2005/06 auf lediglich £ 5,3 Mrd. (in Preisen von 1984/85) zu veranschlagen, sei bis 2033/34 mit einem Anstieg auf £ 23,1 Mrd. zu rechnen.30 Bei diesen Voraussagen bezog sich die Regierung auf Zahlen des Government Actuary’s Department, sie stützte sich zugleich aber auch auf Prognosen verschiedener think tanks, die in die gleiche Richtung wiesen. So war das Institute for Fiscal Studies bereits 1981 zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beiträge zu SERPS angesichts der demographischen Entwicklung sich ab ca. 2010 drastisch erhöhen würden.31 John Ermisch vom Policy Studies Institute hatte wenig später prognostiziert, dass die Beiträge zur 29 Reform of Social Security, Bd. 2, Cmd. 9518, S. 4, Tab. 1.2. 30 Reform of Social Security, Bd. 3, Cmd. 9519, S. 36, Tab. 2.10. 31 Vgl. Hemming u. Kay, Costs. Der 1982 publizierte Text beruht auf einem Working Paper von 1981. Vgl. hierzu auch How to Contribute to Chaos, in: Guardian, 21.10.1981; Guardian Article on Pensions, Stellungnahme des Economic Advisor’s Office, 22.10.1981, NA , JB 4/49.
208 Two Nations in Old Age Rentenversicherung zwischen 2006 und 2033 um 60 % steigen müssten, um den Ruhestand der dann das Rentenalter erreichenden Baby-Boomer zu finanzieren. Vor dem Hintergrund dieser Aussichten von der langfristigen Unhaltbarkeit von SERPS überzeugt, kam er zu dem Schluss, dass »welche Maßnahmen auch immer beschlossen würden, dies geschehen sollte, bevor die großzügigen Leistungen des gegenwärtigen Systems sich in den Erwartungen der Menschen hinsichtlich ihres Ruhestandseinkommens festgesetzt hätten«.32 Ganz im Sinne dieser demographischen Begründung hatte auch Margaret Thatcher in einem Interview mit der »New York Times« im Januar 1984 gegen SERPS argumentiert. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der stetig anwachsenden Rentenansprüche, erklärte sie ihrem Gesprächspartner, stelle das staatliche Zusatzrentensystem nichts anderes als eine »social security time bomb« dar, die es schnellstmöglich zu entschärfen gelte.33 Aus heutiger Sicht erscheint eine solche Argumentation, die Einschnitte in die Alterssicherung mit der wachsenden finanziellen Last einer alternden Bevölkerung begründet, so vertraut, dass man Gefahr läuft, ihr eine selbstverständliche Plausibilität auch für die Zeitgenossen zu unterstellen. Doch waren die demographischen Bedrohungsszenarien einer »vergreisenden« Bevölkerung in den frühen 1980er Jahren noch nicht gesellschaftliches Allgemeingut. Noch beschränkte sich die Diskussion hierüber auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Demographen, Sozialexperten und konservativen Politikern. Erst seit Ende der 1980er Jahre trat der Alterungsdiskurs seinen Siegeszug in der breiten politischen Öffentlichkeit an. Erst jetzt erregten auch internationale Organisationen wie die OECD und die Weltbank durch einschlägige Studien zu den Konsequenzen des demographischen Alterungsprozesses Aufsehen. Anders als Beveridge, der seine Vorschläge zur Altersversorgung unter dem Eindruck und eher am Ende der seit den 1920er Jahren virulenten Bevölkerungspanik formulierte (vgl. Kap. I.2), agierte die Thatcher-Regierung hinsichtlich des demographischen Begründungsmusters daher als Diskurs-Pionier. Was aber brachte die britischen Konservativen dazu, mit der demographischen Nachhaltigkeit von SERPS ein Problem auf die politische Tagesordnung zu setzen, das angesichts der erst nach der Jahrtausendwende zu erwartenden negativen Auswirkungen wenig dringlich erschien, bei dem mit massivem Widerstand zu rechnen war und dessen projektierte Lösung kurzfristig – und das bedeutete: in den bevorstehenden Legislaturperioden – keine Einsparungen, sondern Mehrausgaben für den Staatshaushalt bedeutete? Die Antwort hierauf verweist auf jenen ideologischen Motivationskomplex, der den eigentlichen Kern der konservativen Gegnerschaft gegenüber SERPS bildete und der den Wahrnehmungshorizont absteckte, vor dem die prognostizierten Auswir32 Ermisch, Political Economy, S. 307. Vgl. ebd., S. 204 ff. 33 Interview mit Johnny Apple am 20.1.1984, in: New York Times, 22.1.1984.
Alterssicherung unter Thatcher 209
kungen der zukünftigen demographischen Entwicklung erst ihre scharf umrissene Kontur als zentrales und dringend der Lösung bedürftiges politisches Problem erhalten konnten. Was die Abschaffung bzw. Demontage von SERPS anging, waren die Thatche rites vor allem und in letzter Konsequenz Überzeugungstäter. Hinter ihrer Ablehnung des staatlichen Zusatzrentensystems stand eine Ideologie, deren Eckpunkte die Ideen der individuellen Freiheit, der Eigenverantwortlichkeit und des Privateigentums sowie ein dezidierter Marktliberalismus bildeten. Das waren Versatzstücke, die zwar im Prinzip alle Spielarten des britischen Konser vatismus nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichneten, sie fanden sich in der ideologischen Neuorientierung der Tories seit 1975 unter der Vordenkerschaft von Keith Joseph und im theoretischen Rückgriff auf Friedrich August v. Hayek aber in Richtung eines Amalgams neoliberaler ökonomischer Überzeugungen mit tief im 19. Jahrhundert wurzelnden Ideen des klassischen Liberalismus radikalisiert.34 SERPS verkörperte dieser Sichtweise zufolge jenen überdimensionierten Versorgungsstaat, der von Labour, aber auch von fehlgeleiteten konservativen Regierungen nach 1945 im Zeichen des post-war consensus immer weiter ausgebaut worden war.35 Die Wohlfahrtsstaatskritik des Thatcherismus enthielt dabei eine zutiefst moralische Dimension: Der Sozialstaat, so der Vorwurf, züchte eine »Kultur der Abhängigkeit« (»dependency culture«) heran, welche die immer wieder propagierten »viktorianischen Werte« wie Selbstdisziplin und Eigeninitiative systematisch untergrabe.36 Angesichts dessen kam es für die Konservativen unter allen Umständen darauf an, die Einflusssphäre des Staates zurückzudrängen, »[to] roll … back the frontiers of the State«.37 Das System der betrieblichen und privaten Altersvorsorge, das nach den ursprünglichen Plänen der Thatcher-Regierung die staatliche Zusatzrente vollständig ersetzen sollte, entsprach dagegen in jeder Hinsicht dem Credo der Neokonservativen. Das galt insbesondere für die neuen personal pensions, also die rein privaten Alterssicherungsverträge, an denen das Herz Fowlers und Thatchers ganz besonders hing. Mit dieser zusätzlichen Alternative einer vollständig individualisierten Alterssicherung sollte die Wahlfreiheit der Konsumenten gestärkt werden, die im Freiheitsbegriff Thatchers und ihrer Anhänger eine schlechthin zentrale Rolle einnahm.38 Gleichzeitig versprachen die personal 34 Vgl. hierzu nur Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 95 ff.; Green, Thatcher, S. 26 ff. 35 Zur Bedeutung des post-war consensus als Gegenbild, von dem sich der Thatcherismus absetzte, vgl. Green, Ideologies of Conservatism, S. 214–239. 36 Vgl. etwa Thatcher, Downing Street Years, S. 627. 37 Margaret Thatcher, Speech to Conservative Party Conference, 10.10.1986, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD. 38 Vgl. etwa Margaret Thatcher, Speech Launching »Free Enterprise Week«, 1.7.1975, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD; Reform of Social Security, Bd. 1, Cmd. 9517, S. 26; Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 97 f.; Araki, Ideas, S. 610.
210 Two Nations in Old Age pensions in hohem Maße die individuelle Verantwortung des Einzelnen für seine Altersversorgung zu fördern, da er nicht nur über die Höhe der Beiträge entschied, sondern auch die Anlageentscheidung selbst traf und damit das Investmentrisiko übernahm.39 Die projektierte Reform beschränkte den Staat auf die Gewährleistung der zum Lebensunterhalt kaum ausreichenden Basic State Pension; jede darüber hinausgehende Altersversorgung sollte auf der Anlage von Kapital am Finanzmarkt beruhen. Schließlich sollte die Neuordnung der Alterssicherung die gesellschaftliche Bedeutung des Privateigentums stärken und stand damit in einer Reihe mit den großen Privatisierungsprogrammen, denen die Konservativen nach 1979 den Wohnungssektor und die staatlichen Unternehmen unterwarfen. Die weitere Verbreitung von individuellen, kapitalgedeckten Rentenanwartschaften, die an die Stelle der als moralisch inferior und weniger sicher beschriebenen Anrechte auf staatliche Renten treten sollten, entsprach ganz dem Streben nach einer »zunehmenden Verbreitung von Eigentum an Haus- und Grundbesitz, an Vermögenspapieren, an Ersparnissen«, die zu den erklärten Hauptzielen des Thatcherismus gehörte.40 Dahinter stand die größere Zielvorstellung einer property owning democracy, einer Demokratie von freien, verantwortlichen und unabhängigen Eigentümern, die im konservativen Ideenhaushalt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurzelte, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem von Anthony Eden popularisiert worden war und zu den Leitmotiven des britischen Nachkriegskonservatismus gehörte.41 Wie die übrige Sozial- und Wirtschaftspolitik der britischen »Neuen Rechten« waren auch ihre Reformanstrengungen auf dem Gebiet der Alterssicherung untrennbar mit einem bestimmten Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit verbunden. Unlängst, Mitte der 1970er Jahre, hatte der wichtigste Ideengeber des Thatcherismus, v. Hayek, seine einflussreiche Parforce-Attacke gegen das Konzept der »sozialen Gerechtigkeit« geritten. In einer Marktwirtschaft und »Gesellschaft freier Menschen«, so v. Hayek, sei »der Ausdruck ›soziale Gerechtigkeit‹ völlig sinn- und inhaltslos«, da der von ihm strikt auf individuelles und intentionales Handeln bezogene Begriff der Gerechtigkeit auf »die Ergebnisse eines spontanen Prozesses«, wie ihn die marktwirtschaftliche Ordnung darstelle, schlichtweg »nicht anwendbar« sei. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit sei eine »unredliche Überredungs39 Für den Zusammenhang von choice und responsibility vgl. Margaret Thatcher, Interview for Woman Magazine and BBC Radio London, 18.2.1987, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD. 40 Margaret Thatcher, Interview with Sir Robin Day, BBC 1, 8.6.1987, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD. Für Thatchers Überzeugung von der Überlegenheit privater gegenüber staatlicher Absicherung vgl. bereits Margaret Thatcher, Speech to Dartford Conservatives (Association AGM), 31.3.1949, in: ebd. Vgl. auch Green, Thatcher, S. 26 ff. 41 Vgl. Margaret Thatcher, Interview with Sir Robin Day, BBC 1, 8.6.1987, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD; Green, Thatcher, S. 42; Araki, Ideas, S. 608 ff.
Alterssicherung unter Thatcher 211
formel« und wurzele in Neid oder partikularen Interessen, eine Einigung auf allgemein gültige Gerechtigkeitsprinzipien sei nicht möglich und jeder Versuch, »ein vorgestelltes Schema einer wünschenswerten Verteilung zu realisieren«, führe unweigerlich »näher und näher an ein totalitäres System« heran und untergrabe die Funktionsfähigkeit des Marktes und die Grundlagen der freien Gesellschaft überhaupt.42 Ganz auf dieser Linie eines Verdikts über alle Versuche, mittels wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen – und hierzu zählten auch die redistributiven Elemente von SERPS –, lag auch die offensive Verteidigung der sozialen Ungleichheit, zu der Keith Joseph, der Chefideologe der »Neuen Rechten«, Ende der 1970er Jahre ansetzte. Der Egalitarismus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der britischen Politik Bahn gebrochen habe, argumentierten Joseph und Jonathan Sumption in ihrer Kampfschrift »Equality«, gründe in »auf Neid beruhenden Ressentiments« bringe zwangsläufig das ungehemmte Wuchern staatlicher Bürokratien mit sich und lähme das wirtschaftliche Wachstum.43 In der britischen Gesellschaft der Gegenwart gab es nach Josephs Auffassung nicht zu viel, sondern zu wenig soziale Ungleichheit – ohne sie gab es in einer Marktwirtschaft keine funktionierende Anreizstruktur und damit auch keine wirtschaftliche Dynamik, deren Früchte über den trickle-down-Effekt letztlich auch den unteren Schichten zugute kommen würden.44 Die Thatcherites betrachteten soziale Ungleichheit – und das schloss auch massive Unterschiede in der Altersvorsorge ein – nicht als Problem, sondern feierten sie als Ausdruck individueller Freiheit und Anstrengung. »Wir sind alle ungleich«, ließ sich Thatcher selbst zum Thema »Gleichheit« vernehmen. »Niemand, dem Himmel sei dank, ist irgendjemand anderem gleich, wie sehr auch immer die Sozialisten etwas anderes behaupten mögen. Wir glauben, dass jeder das Recht hat, ungleich zu sein«.45 Warum, bleibt zu fragen, gelang es der Thatcher-Regierung Mitte der 1980er Jahre, auf dem Gebiet der Alterssicherung mit derart weitreichenden Reformen durchzudringen, die zur gleichen Zeit anderswo entweder – wie in den Vereinigten Staaten unter Reagan – an heftigem politischen Widerstand scheiterten oder – wie in der Bundesrepublik – noch nicht einmal in den Bereich des politisch Möglichen rückten? Insbesondere vier Faktoren verdienen hervor gehoben zu werden. Erstens war SERPS ein erst kürzlich eingeführtes, im Aufbau begriffenes Rentenschema, aus dem noch keine Rentenleistungen flossen, während es sich in den USA und Deutschland um »reife« Systeme handelte, aus 42 Zitate: v. Hayek, Recht, S. 247, 248, 219. Vgl. auch ders., Weg; ders., Verfassung. 43 Joseph u. Sumption, Equality, S. 123. 44 Vgl. ebd.; Denham u. Garnett, Keith Joseph, S. 313, 329–334. 45 Margaret Thatcher, Speech to Conservative Party Conference, 10.10.1975, in: Thatcher, Complete Public Statements, CD. Vgl. zu diesem Absatz auch Hickson, Thatcherism; ders., Inequality, S. 187–190; Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 100.
212 Two Nations in Old Age denen schon seit langer Zeit Renten gezahlt wurden, die sich in ihrer Höhe am früheren Erwerbseinkommen orientierten. Die massiven Leistungskürzungen, die Thatcher für SERPS durchsetzte, wurden mithin erst in der mehr oder minder fernen Zukunft wirksam, während vergleichbare Einschnitte in Amerika oder Deutschland den kollektiven Aufschrei von Millionen von ihnen unmittelbar betroffener Rentner und Rentnerinnen ausgelöst hätten. Auch das Problem der finanziellen Doppelbelastung beim Übergang von einem umlage- auf ein kapitaldeckungsfinanziertes Rentensystem stellte sich im Fall eines »reifen« Systems mit über Jahrzehnten angewachsenen Rentenansprüchen in ganz anderer Schärfe als in Großbritannien. Zweitens traf die Reform der Alterssicherung im Vereinigten Königreich auf eine fragmentierte Interessenlage: Aufgrund der contracting out-Möglichkeiten war nur noch ein Teil der Arbeitnehmer Mitglied in SERPS und damit von den Leistungskürzungen negativ betroffen, wohingegen die Social Security in den USA und die Gesetzliche Rentenversicherung in der Bundesrepublik flächendeckende Systeme mit einer entsprechend breiteren Interessenbasis darstellten. Drittens konnte die weitreichende Privatisierung der Alterssicherung, die durch die konservative Reformgesetzgebung der 1980er Jahre erreicht wurde, in Großbritannien auf einem hochentwickelten Versicherungssektor aufbauen und an eine in anderen Staaten unbekannte Tradition des Ausstiegs aus der einkommensabhängigen Komponente der staatlichen Rentenversicherung anschließen (vgl. Kap. III.3). Das sicherte nicht nur ein ausreichendes Angebot an privatwirtschaftlichen Alterssicherungsprodukten, sondern ließ die Maßnahmen der Thatcher-Regierung auch als ein Fortschreiten auf vertrauten Bahnen erscheinen, obwohl doch unterhalb der Oberfläche die grundlegende Veränderung der Anreizstruktur einem radikalen Wandel in Richtung einer Entstaat lichung der Altersvorsorge Vorschub leistete.46 Viertens schließlich – und das zeigt vor allem der Vergleich mit der westdeutschen Situation eindrucksvoll – wurden die einschneidenden Eingriffe in das bestehende Alterssicherungssystem unter Thatcher auch dadurch erleichtert, dass ihm ein solides normatives Fundament in Politik und Gesellschaft fehlte. Während seit der Rentenreform von 1957 in der Bundesrepublik Leistungsprinzip und Lebensstandardsicherung als Grundsätze der Rentenversicherung weithin unbestritten und gesellschaftlich tief verankert waren, hatte es in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang Konflikte über die Grundprinzipien einer adäquaten Alterssicherung gegeben. Auch SERPS hatte nur einen mühsamen politischen Kompromiss und nicht einen parteiübergreifenden Wertekonsens markiert, der geeignet gewesen wäre, dem entschlossenen politischen Willen der »Neuen Rechten« eine starke Gegenkraft entgegenzusetzen. 46 Vgl. zu diesem und dem vorangehenden Punkt auch Pierson, Dismantling, S. 71.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 213
2. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich Das Ausmaß, in dem die soziale Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Großbritannien anwuchs, war atemberaubend. Will man die Veränderung in der sozialen Lage der Älteren in angemessener Weise beschreiben und einordnen, kommt man nicht umhin, das vor dem Hintergrund dieser allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Konzentrieren wir uns mit der Bewegung der Einkommen zunächst auf das materielle Rückgrat dieses Prozesses, so lässt sich die signifikante Zunahme an sozialer Ungleichheit mithilfe einer Reihe von Indikatoren belegen. Als instruktiv erweist sich etwa ein Blick auf die Realeinkommensentwicklung für die verschiedenen gesellschaftlichen Einkommensgruppen (Graphik 3). Deutlich zeigt sich, dass jenes Fünftel der britischen Bevölkerung, das über die niedrigsten Nettoäquivalenzeinkommen verfügte (Quintil 1), über den gesamten Zeitraum von 1979 bis 1997, in dem die Konservativen die Regierung stellten, auch den geringsten jahresdurchschnittlichen Realeinkommenszuwachs verzeichnen konnte. Je weiter man sich dagegen von einem zum nächsten Quintil nach oben bewegte, desto höher waren auch die Einkommenswachstumsraten. Noch ausgeprägter war diese Entwicklung, die auf eine zunehmende Verschärfung der materiellen Ungleichheit hinauslief, wenn man nicht den gesamten Zeitabschnitt, sondern lediglich die Regierungszeit Margaret Thatchers ins Auge fasst: Von 1979 bis 1990 wuchs das Einkommen des ohnehin schon reichsten Fünftels der Bevölkerung neunmal so schnell an wie jenes des ärmsten Einkommensquintils. Das hatte eine deutliche Verschiebung der Anteile am gesellschaftlichen Gesamteinkommen zugunsten der Bezieher hoher Einkommen zur Folge: Während das ärmste Quintil 1979 noch 10 % der Einkommen auf sich vereinigen konnte, waren es 1990/91 nur noch 7,4 %; parallel dazu dehnte das reichste Fünftel der Bevölkerung seinen Einkommensanteil von 34,8 % auf 41 % aus.47 Damit drehte sich ein Trend um, der die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet hatte. In dieser Zeit hatte gerade das unterste Einkommensdezil überdurchschnittlich vom Wachstum der Realeinkommen profitiert, während das oberste Zehntel – und hier wiederum insbesondere die Top-Einkommensbezieher (1 %) – etwas an Boden verloren hatten.48 Nun machten die besonders intensiv in den 1980er Jahren wirkenden gesellschaftlichen Zentrifugalkräfte die Ergebnisse des über Dekaden andauernden Angleichungsprozesses wieder zunichte. 47 Eigene Berechnungen nach Hills, Inequality, S. 23, Tab. 2.5. Grundlage sind Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen before housing costs (BHC). 48 Vgl. Atkinson u. Salverda, Top Incomes; Atkinson, Distribution, S. 361 ff.; Hills, Inequality, S. 20–28; Goodman u. Webb, For Richer.
214 Two Nations in Old Age Graphik 3: Durchschnittliches Realeinkommenswachstum pro Jahr nach Einkommensquintilen, Großbritannien 1979–1996/97 4 3,5 3 2,5 1979–1996/97 1979–1990
2 1,5 1 0,5 0
1
2
3
4
5
Quintil
Quelle: Joyce u. a., Poverty, IFS Commentary C116, S. 23, Tab. 3.1.
Ein weiteres Ungleichheitsmaß, das sich in den Sozialwissenschaften einiger Beliebtheit erfreut, ist der sog. Gini-Koeffizient. Der Gini-Koeffizient nimmt Werte zwischen 0 und 1 an, wobei Null eine vollkommene Gleichverteilung bedeuten würde und ein jeweils höherer Wert auf eine größere Ungleichheit der Einkommen hinweist. Graphik 4 zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Ungleichheit in Großbritannien nach 1979 zugenommen hat. Abermals wird auch deutlich, dass die Verschärfung der sozialen Ungleichheit in erster Linie ein Phänomen der 1980er Jahre war: Der Gini-Koeffizient für alle britischen Haushalte nahm von 1979 bis 1990 um stolze 34 % zu und bewegte sich danach bis zum Ende der konservativen Regierungszeit im wesentlichen auf dem einmal gewonnenen hohen Niveau. Diese Entwicklung katapultierte das Vereinigte Königreich im internationalen Vergleich binnen eines Jahrzehnts in die Spitzengruppe der Ungleichheitshierarchie. Zwar sind grenzübergreifende Vergleiche von Kennzahlen für soziale Ungleichheit aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Datengrundlagen notorisch schwierig, doch steht mit der Luxembourg Income Study (LIS) für die Zeit seit den 1980er Jahren für eine Reihe von Ländern ein Datensatz zur Verfügung, der auf dem Versuch beruht, die verschiedenen nationalen Daten nach einheitlichen methodischen Grundsätzen zu transformieren und damit vergleichbar zu machen. Beim Vergleich mit 14 weiteren fortge-
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 215
Graphik 4: Einkommensungleichheit in Großbritannien (Gini-Koeffizient), 1977–1997 0,4 0,35 0,3 0,25 0,2 0,15 0,1 0,05
96
97
19
95
19
94
19
93
19
92
19
91
19
90
Nicht-Rentner-Haushalte
19
89
19
88
19
87
19
86
19
85
19
84
Rentner-Hauhalte
19
83
19
82
19
81
19
80
19
79
19
78
19
19
19
77
0 Alle Haushalte
Quelle: Office for National Statistics (Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen, neue OECD Skala).
schrittenen Industrieländern lassen die LIS -Daten deutlich erkennen, dass der Anstieg der Einkommensungleichheit in den 1980er und 1990er Jahren zwar einen allgemeinen Trend darstellte, dass sich jedoch in Großbritannien die Schere zwischen Arm und Reich schneller öffnete als in allen anderen Staaten. Während das Vereinigte Königreich 1979 noch mit einem Gini-Koeffizienten von 0,267 im internationalen Mittelfeld rangierte, eine etwas höhere Ungleichheit als die Bundesrepublik aufwies (0,244), aber in dieser Hinsicht zum Beispiel von Frankreich übertroffen wurde (0,293), hatte Großbritannien Mitte der 1990er Jahre (Gini: 0,344) beide Länder weit hinter sich gelassen (BRD: 0,27, Frankreich: 0,288) und fand sich im Ausmaß der vorherrschenden Einkommensungleichheit nur noch von Spanien (0,353) und den Vereinigten Staaten (0,372) übertroffen.49 49 LIS Dataset, Key Figures as of 12 June 2012 (http://www.lisdatacenter.org/). Bei den 14 Vergleichsländern handelt es sich um Australien, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, Spanien, USA . Die Daten beziehen sich für UK auf 1979 und 1995, für die BRD auf 1981 und 1994, für Frankreich auf 1979 und 1994, für Spanien auf 1995 und für die USA auf 1997.
216 Two Nations in Old Age Die Frage nach den Ursachen für den enormen Zuwachs an materieller Ungleich heit soll hier nur kurz angerissen werden. Viel ist über sie diskutiert worden; noch immer ist das Gewicht der einzelnen Faktoren umstritten. Sicher wäre es falsch, die Ungleichheitszunahme alleine der konservativen Regierung in Großbritannien und ihrem politischen Kurs anzulasten – dagegen spricht schon, dass die Einkommensungleichheit in den meisten OECD -Ländern in den 1980er und 1990er Jahren angewachsen ist. Eine zentrale Rolle spielte im Vereinigten Königreich ebenso wie anderswo die zunehmende Auffächerung der am Arbeitsmarkt erzielten Erwerbseinkommen, die auf die wachsende Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitskräften infolge des technologischen Wandels zurückzuführen ist. Auch scheint die ökonomische Globalisierung der letzten Jahrzehnte zum Ungleichheitswachstum beigetragen zu haben, da sie unqualifizierte Tätigkeiten immer mehr aus den hochentwickelten Industrieländern hinausverlagerte, auf diese Weise die Verhandlungsposition schlecht ausgebildeter Arbeitnehmer im Verteilungskampf schwächte und ihre Löhne niedrig hielt. Das Ausmaß jedoch, in dem sich diese durch die Kräfte des Marktes bewirkte Spreizung der Arbeitseinkommen auch tatsächlich in einem Ausein anderdriften der verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen niederschlug, hing sehr wohl von politischen Richtungsentscheidungen ab – auch hier ist der internationale Vergleich erhellend, der dokumentiert, dass die Ungleichheit in vielen Ländern in den 1980er und 1990er Jahren nur moderat anstieg, in einigen sogar zurückging, während Großbritannien und die USA eine regelrechte Explosion erlebten. Im Vereinigten Königreich trug vor allem die Regierung Thatcher gleich doppelt dazu bei, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiter aufriss. Auf der einen Seite hatte die Entscheidung, die meisten Lohnersatzleistungen – wie etwas die Basic State Pension oder das Arbeitslosengeld – in ihrem Wachstum nicht länger an den Lohn-, sondern den Preisanstieg zu koppeln, zur Folge, dass diese immer weiter gegenüber den Erwerbseinkommen zurückfielen. Auf der anderen Seite führte der Umbau des Steuersystems zugunsten der Besserverdienenden und zulasten der unteren und mittleren Einkommensklassen dazu, dass die Steuern zunehmend weniger einen dämpfenden Effekt auf die am Markt entstandene Ungleichheit ausübten. Hätten etwa die steuerlichen Bedingungen von 1978/79 auch 1992/93 noch gegolten, wären die verfügbaren Einkommen des reichsten Dezils um 10 % niedriger, jene des ärmsten Zehntels dagegen um 20 % höher ausgefallen.50
50 Hills, Inequality, S. 93. Zum Absatz insgesamt vgl. Alderson u. Nielsen, Globalization; Machin, Changing Nature; Pavcnik, Globalization; Hills, Income, Bd. 2, S. 38–63; Goodman, Johnson u. Webb, Inequality, S. 205–227; Atkinson u. Voitchovsky, Distribution; Atkinson, Income Inequality; Clark u. Leicester, Inequality.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 217
Wie Graphik 4 zeigt, war die Ungleichverteilung unter den Rentnerhaus halten weniger ausgeprägt als in der übrigen Gesellschaft.51 Doch dokumentiert die Graphik ebenfalls, dass auch die Gruppe der Alten seit den frühen 1980er Jahren einen signifikanten Zuwachs an materieller Ungleichheit zu verzeichnen hatte, der mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vergleichbar war. Mehr noch: Die Zunahme der Ungleichheit unter den Rentnerhaushalten stellte eine eigenständige Ursache für den die gesamte britische Gesellschaft erfassenden Trend dar, die verstärkend neben die im vorangegangenen Absatz genannten Faktoren trat. Wie lässt sich erklären, dass die Ungleichheit auch in einem Segment der Bevölkerung anstieg, das weitgehend von der Bewegung der Markteinkommen abgeschnitten war? Die Antwort hierauf verweist zurück auf die hellsichtige Prognose von Richard Titmuss, der bereits 1953 für die Zukunft eine soziale Spaltung in »two nations in old age« vorausgesehen und sich dabei auf den Unterschied zwischen jenen Alten bezogen hatte, die über eine betriebliche Alterssicherung verfügten, und jenen, die ausschließlich auf die staatliche Rente angewiesen waren.52 Tatsächlich schlug sich die sprunghafte Zunahme der betrieblichen Alterssicherungssysteme in den 1950er und 1960er Jahren drei Jahrzehnte später in einem massiven Wachstum der Rentenleistungen aus dieser Quelle nieder, deren Gesamtvolumen Ende der 1990er Jahre fast die Summe aller staatlichen Rentenzahlungen (inkl. Zusatzrenten) erreichte (Graphik 5). Erhielten 1979 lediglich 43 % der Rentner Zahlungen aus einem occupational pension scheme, waren es 1996/97 bereits 65 %. Auch die Höhe der auf den einzelnen Rentner entfallenen Auszahlbeträge aus den Betriebskassen nahm in diesem Zeitraum erheblich zu: inflationsbereinigt um 86 % im Durchschnitt und sogar um 126 % im Median.53 Im Ergebnis führte das – zusammen mit den seit Mitte der 1980er Jahre ebenfalls beträchtlich ansteigenden Erträgen aus anderen Kapitalinvestments, die einigen Rentnerhaushalten zuflossen (Graphik 5) – von 1979 bis 1997/98 im Durchschnitt zu einer deutlichen An hebung der realen Einkommen der britischen Rentner um 80 %.54 Freilich kam dieses Wachstum der Realeinkommen – und hier liegt die Erklärung für die zunehmende soziale Polarisierung innerhalb der Gruppe der Alten – den britischen Rentnern in sehr unterschiedlichem Ausmaß zugute. So 51 Der Begriff Rentner orientiert sich am gesetzlichen Rentenalter, also zu dieser Zeit 65 für Männer, 60 für Frauen. Als Rentnerhaushalt gilt ein Haushalt, in dem mehr als 50 % des Einkommens von seinen als Rentnern geltenden Mitgliedern bezogen werden. Zu den definitorischen Details vgl. Office for National Statistics (= ONS), Pension Trends, Chapter 13, 29.9.2010, S. 13–2. 52 Richard Titmuss, The Age of Pensions, II – Superannuation and Social Policy, in: The Times, 30.12.1953. Vgl. oben, Kap. I.3. 53 Department of Social Security, Pensioners’ Incomes Series 1997/8, S. 42 f. Vgl. Hancock u. Weir, More Ways, S. 12–18. 54 Eigene Berechnungen nach ONS , Pension Trends, Chapter 13, 29.9.2010, S. 13–3.
218 Two Nations in Old Age Graphik 5: Einkommensquellen der britischen Rentnerhaushalte, 1977–1997 (Durchschnittsbruttoeinkommen [BHC] pro Haushalt, in £ pro Jahr in Preisen von 2008/09) 6.000
5.000
4.000
3.000
2.000
1.000
Arbeitseinkommen
staatl. Unterstützungleistungen
betriebl. o. private Alterssicherung
97
96
19
95
19
94
19
93
19
92
19
91
19
90
19
89
19
88
19
87
19
86
19
85
19
84
19
83
19
82
19
81
19
80
19
79
19
78
19
19
19
77
0 Einkommen aus Kapitalinvestment
staatl. Renten
Quelle: Office for National Statistics
vermehrte sich das Medianeinkommen des obersten Rentner-Dezils alleine von 1979 bis 1989 um stolze 49,3 %, während für die beiden untersten Zehntel gerade einmal Zuwächse von 7,6 % bzw. 2,3 % zu Buche schlugen.55 Der relativ hohe statistische Anteil der Rentner mit Bezügen aus occupational pensions und anderen Kapitalanlagen verdeckt hier leicht, dass die Spanne der Einkommen aus diesen Quellen enorm war, so dass eine schmale Schicht über eine fürstliche Absicherung für das Alter verfügte, während auch 1997/98 noch 71 % der Rentnerhaushalte ganz oder überwiegend auf staatliche Renten- oder Unterstützungsleistungen angewiesen waren.56 Insbesondere drei Kriterien waren es dabei, welche die Chancen auf ein auskömmliches Einkommen im Alter erhöhten oder verschlechterten: Überproportional hohe Einkommen im Alter besaßen im Durchschnitt, erstens, Ehepaare im Vergleich zu alleinstehenden Rentnern. Unter den Alleinstehenden wiederum waren, zweitens, die Männer deutlich besser gestellt als die Frauen. Drittens war das Einkommen der Rentner im Durchschnitt 55 Hancock u. Weir, More Ways, S. 6. 56 Department of Social Security, Pensioners’ Incomes Series 1997/8, S. 33.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 219
umso höher, je jünger sie waren bzw. je kürzer die Verrentung zurücklag. Darin spiegelte sich zum einen die Tatsache wider, dass der Wert der occupational pensions zumeist bis zum Ruhestand an die Einkommens-, danach aber nur noch an die Preisentwicklung angepasst wurde, vor allem aber ein Kohorteneffekt, von dem viele jüngere Rentner profitierten, die in den Nachkriegsjahrzehnten eine vergleichsweise gute private Alterssicherung hatten aufbauen können. Die bei weitem schlechtesten Einkommenschancen im Alter besaßen vor diesem Hintergrund – das war in Großbritannien immer so gewesen und das war auch überall sonst so – alleinstehende Frauen über 75.57 Tab. 3: Verteilung der britischen Rentner auf die verschiedenen Nettoeinkommensquintile, 1979–1995/96 Quintil 1
Quintil 2
Quintil 3
Quintil 4
Quintil 5
1979
46 %
22 %
13 %
9 %
10 %
1995/96
19 %
33 %
19 %
16 %
13 %
Quelle: Department of Social Security, Pensioners’ Income Series 1997/98, S. 70, Tab. A15. Einkommen AHC , Berechnungsgrundlage: HBAI .
Wie wirkte sich die Entwicklung der 1980er und 1990er Jahre auf die Stellung der Rentner in der gesamtgesellschaftlichen Einkommenshierarchie aus? Tabelle 3 zeigt, wie sich die Verteilung der in den britischen Rentnerhaushalten lebenden Personen auf die verschiedenen Einkommensquintile von 1979 bis 1995/96 veränderte. Auf der einen Seite lässt sich deutlich erkennen, dass die Älteren ihre gesellschaftliche Einkommensposition, aufs Ganze gesehen, verbessern konnten. Während 1979 noch fast die Hälfte der Rentner im untersten Einkommensfünftel anzutreffen waren, lag ihr Anteil 1995/96 nur mehr in Höhe des gesellschaftlichen Durchschnitts. Gleichzeitig stieg ihre Quote in allen anderen Quintilen. Auf der anderen Seite blieben die Alten in der unteren Hälfte der Einkommenshierarchie klar überrepräsentiert. Gegenüber der gesellschaftlichen Mitte war die Verteilung ihrer Einkommen nach links verschoben – mit einer besonders hohen Konzentration im zweiten Quintil. Von den über 75jährigen entfielen Mitte der 1990er Jahre gar 62 % auf die drei Dezile der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen.58 Richtet man den Blick auf den unteren Rand der Gesellschaft und legt ein am Medianeinkommen orientiertes relatives Armutskonzept zugrunde, erlaubt 57 Vgl. ebd., S. 21–31; Hancock u. Weir, More Ways, S. 6–12; Johnson u. Stears, Pensioner Income Inequality, S. 89 ff. 58 Hills, Income, Bd. 2, S. 12.
220 Two Nations in Old Age Graphik 6: Quoten relativer Armut in Großbritannien (in %), 1961–1997 45 40 35 30 25 20 15 10 5
19 6 19 1 62 19 6 19 3 6 19 4 6 19 5 6 19 6 6 19 7 68 19 6 19 9 7 19 0 7 19 1 7 19 2 7 19 3 74 19 7 19 5 7 19 6 7 19 7 7 19 8 7 19 9 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 8 19 4 8 19 5 86 19 8 19 7 88 19 8 19 9 9 19 0 9 19 1 9 19 2 9 19 3 94 19 9 19 5 9 19 6 97
0 GB, 50 %
GB, 60 %
Rentner, 50 %
Rentner, 60 %
Prozentsatz aller Haushalte (GB) bzw. der Rentnerhaushalte, die ein Einkommen unterhalb der x %-Marke des Median-Nettoäquivalenzeinkommens aufweisen. Alle Angaben after housing costs (AHC). Quelle: IFS Commentary 124, Spreadsheet.
eine Rekonstruktion der Armutsquoten vom Beginn der 1960er bis zum Ende der 1990er Jahre (Graphik 6) eine Reihe von Beobachtungen: Erstens zeigt sich, dass die Rentnerarmut ebenso wie die gesamtgesellschaftliche Armutsrate seit Beginn der 1980er Jahre merklich zunahm, nachdem sie zuvor über lange Zeit hinweg eine fallende Tendenz aufgewiesen hatte. Zweitens lag das heute am weitesten verbreitete Armutsmaß: die 60 %-Grenze des Median-Nettoäquivalenzeinkommens, für die Rentnerhaushalte fast über den gesamten Betrachtungszeitraum z. T. deutlich über der allgemeinen britischen Armutsquote. Ein etwas anderes Bild ergibt sich, drittens, für die ein gesteigertes Maß relativer Armut anzeigende 50 %-Marke: Bis in die 1970er Jahre hinein waren die Rentner auch in diesem Armutssegment überrepräsentiert gewesen, während ihre Armutsraten danach in vielen Jahren den gesellschaftlichen Durchschnittswert unterschritten. Darin spiegelt sich wider, dass die Alten den Platz am untersten Saum der Gesellschaft an neue Gruppen: besonders an Arbeitslose, alleinerziehende Eltern mit ihren Kindern und Zuwanderer, allen voran aus Pakistan und Bangladesch, abtraten, ohne jedoch eine weite Distanz zu den unteren Einkommensregionen zu erreichen. Viertens schließlich wiesen die relativen Ar-
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 221
mutsraten für die Rentner weit größere Ausschläge aus als jene für die britische Gesellschaft insgesamt. Das lag zum einen daran, dass viele Ältere sich mit ihrem Einkommen in einem verhältnismäßig schmalen Korridor um die hier herangezogenen Armutsgrenzen bewegten. Angesichts dessen konnten bereits leichte Verschiebungen der Grenzen relativer Armut infolge einer Veränderung des Medianeinkommens einen signifikanten Fall oder Anstieg der Armutsquote nach sich ziehen. Zum anderen reagierten die Rentnerarmutsraten über die gesamten vierzig Jahre nach 1960 hinweg sensibel auf konjunkturelle Bewegungen – und zwar nach einem streng prozyklischen Muster. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass die zumeist an die Bewegung der Preise gekoppelten Haupteinkommen der Alten – staatliche und private Renten – weniger stark mit dem Wirtschaftszyklus fluktuieren als die Einkommen von Arbeitnehmern und Selbständigen. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und rasch steigender Einkommen blieben daher die Rentner regelmäßig hinter der allgemeinen Wohlstandsentwicklung zurück – die rapide ansteigende Rate relativer Armut in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bietet hier ein gutes Beispiel –, während sie in Phasen des Abschwungs zumeist, wie etwa die sinkende Armutsquote in der tiefen Rezession der frühen 1980er Jahre zeigt, Boden gutmachen konnten.59 Die vorangehend geschilderte Entwicklung eines Anstiegs der materiellen Ungleichheit sowie drastisch anwachsender Raten relativer Armut war auch den Zeitgenossen in ihren wesentlichen Merkmalen bekannt. Den die wichtigsten Rohdaten über die Einkommensentwicklung der britischen Haushalte enthaltenden Family Expenditure Survey gab es seit den 1950er Jahren. Auf ihm basierten auch die beiden wichtigsten Datenreihen der offiziellen Armutsstatistik: die Low Income Families-Statistik, die eine am Sozialhilfesatz orientierte Armutsdefinition zugrunde legte und bis auf die frühen 1970er Jahre zurückgeht, und der seit 1988 im zweijährigen Abstand erscheinende Bericht Households Below Average Income, der den Anteil von Personen unterhalb verschiedener Prozentsätze des nationalen Durchschnittseinkommens berechnete.60 Mehr als alle Statistiken trug die Fernsehdokumentation »Breadline Britain« dazu bei, die Armut in Großbritannien ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Ihre Grundlage bildete eine von einem Marktforschungsinstitut 1983 erstmals durchgeführte repräsentative Erhebung, die methodisch auf dem von Peter Townsend entwickelten Konzept der relativen Deprivation aufbaute.61 Angesichts der überwältigenden Indizienlast konnte es daher am Ende der 1980er Jahre aus so59 Vgl. Goodman, Myck u. Shephard, Sharing, S. 22 ff. 60 Vgl. Giles u. Webb, Poverty Statistics, S. 10 ff.; Piachaud u. Webb, Changes, S. 32; Goodman, Johnson u. Webb, Inequality, S. 228 ff. 61 Vgl. Mack u. Lansley, Poor Britain, S. 7–11; Hills, The Last Quarter Century, S. 128 f.; http://www.poverty.ac.uk/content/PSE -past-results.
222 Two Nations in Old Age zialwissenschaftlicher Sicht keinen Zweifel daran geben, dass »sowohl Armut als auch Einkommensungleichheit über das letzte Jahrzehnt hinweg in einem sich beschleunigenden Tempo zugenommen haben«.62 Hinzu kam, dass sich der Blick von Sozialexperten und Journalisten nun mehr und mehr auch auf die Verhältnisse in anderen entwickelten Industrieländern richtete, für die zunehmend verlässlichere vergleichende Daten vorlagen.63 Hier zeigte sich, dass Großbritannien nicht nur im Hinblick auf die Ungleichverteilung der Einkommen, sondern auch hinsichtlich der relativen Armut zusammen mit den Vereinigten Staaten einen herausgehobenen Platz einnahm: 1991 lebten im Vereinigten Königreich 22,8 % der Bevölkerung unterhalb einer Schwelle von 60 % des Median einkommens (USA 1991: 24,0 %). Im ganzen zur westlichen Welt gehörenden Europa lagen die Quoten relativer Armut niedriger: am tiefsten in Belgien (1992: 10,4 %), dicht gefolgt von Finnland (1991: 10,7 %) und der Bundesrepublik (1989: 11,8 %). Nicht viel besser sah es bei der Altersarmut aus. Zwar lagen hier die Quoten überall durchweg deutlich höher als bei der gesamtgesellschaftlichen Armut, doch nahm Großbritannien mit einer Armutsrate von 43,6 % (1991) im europäischen Vergleich einen einsamen Spitzenplatz ein. In Westdeutschland belief sich der Anteil der Alten in relativer Armut (1989: 21,6 %) noch nicht einmal auf die Hälfte der britischen Vergleichszahl, was wiederum noch von der Schweiz (1992: 19,0 %), den Niederlanden (1990: 19,4 %) und Schweden (1992: 19,8 %) unterboten wurde.64 An die materielle Ungleichverteilung der Einkommen – und noch krasser: der Vermögen – lagerten sich die anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit an. Das galt insbesondere auch für die sozial bedingten Ungleichheiten hinsichtlich von Gesundheit und Lebenserwartung, die im Großbritannien der 1980er und 1990er Jahre erhebliches Aufsehen erregten. Für die Gruppe der Alten lässt sich dabei eine Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung konstatieren, die sich ähnlich auch im Hinblick auf die Ungleichheit der Ein kommen abzeichnete. Hier machte die zuvor weitverbreitete Gleichsetzung von Alter und materieller Armut, die ihren realen Hintergrund darin besaß, dass Alter in den Nachkriegsjahrzehnten die wichtigste Armutsursache darstellte und sich zugleich die große Mehrheit der Alten in den untersten Einkommensgruppen bewegte, mehr und mehr einem Bild Platz, das dem rasanten gesellschaftlichen Wandel seit den 1970er Jahren Rechnung trug: Zwar gab es nun immer noch viele arme Alte, doch waren bei weitem nicht mehr alle Alten arm, sondern zunehmend auch in den oberen Einkommensquintilen vertreten. Gleichzeitig waren nun andere Gruppen – wie etwa die Arbeitslosen oder Alleinerziehende mit ihren Kindern – ebenfalls in großer Zahl und z. T. noch 62 Taylor-Gooby, Social Change, S. 90. 63 Vgl. etwa Hills, Income, Bd. 2, S. 64–73; O’Higgins u. Jenkins, Poverty in the EC . 64 LIS Dataset, Key Figures as of 12 June 2012 (http://www.lisdatacenter.org/).
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 223
schärfer von Armut betroffen als die Alten, nahm man die steigenden Raten relativer Armut unter den Rentnerinnen und Rentnern also lediglich als Teil einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklung wahr. In durchaus vergleichbarer Weise veränderte sich auch die Perspektive auf Mortalität und Morbidität der Alten: Auch hier war der Wandel der Altenwahrnehmung in den 1980er und 1990er Jahren von Enthomogenisierung und der zunehmenden Tendenz geprägt, über altersspezifische Krankheiten hinaus den allgemeinen, alle Altersgruppen erfassenden Trend wachsender Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Ganz auf dieser Linie lag auch, dass die beiden großen Berichte der konservativen Regierungszeit nach 1979, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Ungleichheit lenkten: der »Black Report« von 1980 und der »Whitehead Report« von 1987, sich nicht speziell mit den Alten befassten, sondern auf die britische Gesellschaft als Ganzes bezogen.65 Die Berichte, die beide nicht auf eigenen neuen Erhebungen beruhten, sondern die vorhandenen disparaten Forschungsergebnisse zum Thema Gesundheit und Ungleichheit verdichten sollten, teilten eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Beide hatten einen offiziellen Status, da sie von staatlicher Seite in Auftrag gegeben worden waren: der »Black Report« 1977 noch von der alten Labour-Regierung, der »Whitehead Report« vom Health Education Council, der formal vom Gesundheitsministerium unabhängig war und kurz darauf aufgelöst wurde. Beide Berichte prangerten die Persistenz sozialer Ungleichheit vor den Risiken von Krankheit und Tod in der britischen Gesellschaft an. Mehr noch: Sie wiesen mit reichem statistischen Material nach, dass die Ungleichheit der Chancen auf Gesundheit und ein längeres Leben seit dem Zweiten Weltkrieg nicht ab-, sondern zugenommen hatte – und das von der Geburt bis ins Alter. In Großbritannien galt das schon deshalb als ein besonderer Skandal, weil der 1948 ins Leben gerufene NHS als für alle zugänglicher nationaler Gesundheitsdienst mit dem impliziten Versprechen verbunden war, derartige Ungleichheiten zu verringern oder gar zu beseitigen. Beide Berichte erfuhren einen mehr als frostigen Empfang durch die Regierung Thatcher, die sowohl den Grundtenor der Studien als auch ihre Empfehlungen energisch ablehnte. Im Falle des »Black Reports« tat das Department of Health and Social Security alles dafür, »die Wirkung des Berichts auf ein Mindestmaß zu reduzieren«66 – angefangen von einer verschwindend ge ringen Anzahl an verfügbaren Kopien des Berichts bis zum Verzicht auf seine öffentliche Vorstellung. Bei der Freigabe des »Whitehead Reports« sieben Jahre 65 Der »Black Report« hatte sich sogar weitgehend auf die britische Bevölkerung bis 65 Jahre konzentriert, der »Whitehead Report« hatte dann vermehrt auch Studien zu Mortalität und Morbidität der über 65jährigen herangezogen. Vgl. Inequalities in Health, S. 15, 262. Zum Konzept der »Health Inequalities« und zur Entstehung des »Black Reports« vgl. jetzt Pleinen, »Health Inequalities«. 66 Unwanted Legacy from Mr Jenkin’s Predecessor, in: The Lancet, 6.9.1980, S. 545.
224 Two Nations in Old Age später wurde die ursprünglich anberaumte Pressekonferenz – man vermutete: auf Druck des Gesundheitsministeriums – eine Stunde vor Beginn ersatzlos abgesagt. Beide Berichte schließlich trafen gerade wegen des Versuchs der Regierung, ihre Ergebnisse unter den Teppich zu kehren, auf ein außergewöhnliches Medieninteresse und ein lange nachhallendes Echo in der britischen Öffentlichkeit.67 Das Ausmaß an sozial bedingter Ungleichheit angesichts von Krankheit und Tod, das die beiden Berichte aufdeckten und das nachfolgende Studien immer wieder bestätigten, war in der Tat bemerkenswert. Das galt zunächst einmal für Differenzen in der Mortalität. Zwar war die Lebenserwartung im Laufe des 20. Jahrhunderts und auch seit dem Zweiten Weltkrieg in allen Schichten der britischen Gesellschaft deutlich gestiegen. Doch hatten sich die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Klassen in der gleichen Zeit nicht verringert, sondern vergrößert. Graphik 7 dokumentiert diese Entwicklung für die Zeit von 1972 bis zum Ende der konservativen Ära Ende der 1990er Jahre, wobei sie sich in der sozio-ökonomischen Klassifizierung an den social classes des Registrar General orientiert, die in Großbritannien eine lange Tradition besitzt und auf die nach wie vor am häufigsten zurückgegriffen wird, für die es aber in Deutschland kein ähnlich verbreitetes Äquivalent gibt. Bei der Maßzahl »Lebenserwartung bei Geburt« handelt es sich um eine fiktive Größe, die angibt, wie lange Neugeborene durchschnittlich zu leben hätten, wenn die bei ihrer Geburt geltenden altersspezifischen Sterblichkeitsraten über ihr ganzes Leben hinweg konstant blieben – sie sagt also weniger über die tatsächliche Lebenserwartung eines Menschen aus als über die Mortalitätsverhältnisse im Basisjahr. Deutlich dokumentiert die Graphik, dass der Anstieg der Lebenserwartung, den die Männer in England und Wales im Vierteljahrhundert seit 1972 im Durchschnitt zu verzeichnen hatten, von einer kontinuierlichen Ausweitung der diesbezüglichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten begleitet war. Während die Lebenserwartung der professionals der Klasse I 1972–76 noch 5,4 Jahre über derjenigen ungelernter Arbeiter lag, war diese Differenz bis 1992–96 auf 9,4 Jahre angewachsen. Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man die statistisch noch zu erwartenden Lebensjahre im Alter von 65 in den Blick nimmt. Anfang der 1970er Jahre konnte ein 65jähriger Mann der Klasse I noch mit durchschnittlich 14 weiteren Jahren rechnen, was 2,4 Jahre über dem entsprechenden Wert für die Klasse V lag. Mitte der 1990er Jahre hatte sich die weitere Lebenserwartung für die professionals auf 17 Jahre erhöht, während jene der ungelernten Arbeiter lediglich um ein Jahr auf 12,6 Jahre gestiegen war.68 67 Vgl. Inequalities in Health, S. 3–9. 68 Zahlen: ONS , Trends in Life Expectancy by Social Class, 1972–2005. Vgl. Donkin, Goldblatt u. Lynch, Inequalities; Hattersley, Trends; Bartley, Health Inequality, S. 3; Inequalities in Health, S. 43 ff., 230 f.; Fox, Goldblatt u. Jones, Social Class Mortality Differentials.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 225
Graphik 7: Lebenserwartung bei Geburt nach sozialen Klassen (in Jahren), Männer, England und Wales, 1972–1996 80 78 76 74 72 70 68 66 64 62 60
1972–76
1977–81 I
II
1982–86 IIIN
IIIM
1987–91 IV
1992-96
V
Unterscheidung der social classes nach den Kategorien des Registrar General: I: Professional; II: Managerial & technical/intermediate; IIIN: Skilled non-manual; IIIM: Skilled manual; IV: Partly skilled; V: Unskilled Quelle: Office for National Statistics, Trends in Life Expectancy by Social Class, 1972–2005 (hier auch die entsprechenden Konfidenzintervalle).
Obwohl die Zuordnung von Frauen zu den in der offiziellen Statistik gebräuchlichen Berufs- und Statusklassen weit problematischer als bei Männern ist, lassen sich auch bei ihnen soziale Unterschiede in der Lebenserwartung festmachen – wenn diese auch weniger ausgeprägt ausfallen als beim anderen Geschlecht. Wie in allen anderen Industriegesellschaften lebten und leben Frauen in England und Wales im Durchschnitt deutlich länger als Männer: 1972–76 hatte die Differenz sechs Jahre (75,3 zu 69,3) betragen; bis 1992–96 hatte sie sich auf 5,4 Jahre (79,3 zu 73,9) leicht verkürzt. Innerhalb der Gruppe der Frauen lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Angehörige der Klasse I Anfang der 1970er Jahre bei 79,0, für die Klasse V bei 74,2 Jahren. Die sozial bedingten Unterschiede in der Lebenserwartung nahmen in den Folgejahrzehnten noch zu: Aufs Ganze gesehen, gewannen die sozial besser gestellten Frauen mehr Jahre hinzu als jene, die sich in den unteren Regionen der gesellschaftlichen Hierarchie befanden (Tab. 4). Ein Schwerpunkt in diesem Prozess scheint dabei ins-
226 Two Nations in Old Age besondere jenseits des 65. Lebensjahres gelegen zu haben: Während die weitere Lebenserwartung für 65jährige Frauen der Klasse I von 1972–76 bis 1992–96 immerhin von durchschnittlich 19,1 auf 21,1 Jahre anstieg, konnten Frauen der Klasse V im gleichen Zeitraum überhaupt keinen Zugewinn verzeichnen.69 Tab. 4: Veränderung der Lebenserwartung von Frauen nach sozialen Klassen (in Jahren), England und Wales, 1972–76 bis 1992–96 Social Class
1972–1976 bis 1992–1996 bei Geburt
mit 65
I
4,8
2,0
II
4,3
2,5
IIIN
2,4
1,3
IIIM
4
1,7
IV
2,9
0,5
V
3,3
0,0
Quelle: Eigene Berechnungen nach Office for National Statistics, Trends in Life Expectancy by Social Class, 1972–2005 (hier auch die entsprechenden Konfidenzintervalle). Für die Definition der social classes siehe Graphik 7.
Was für die Mortalität galt, traf auch auf die Morbidität zu. Auch hier zeigte sich eine klare Abhängigkeit vom sozio-ökonomischen Status – und das z. T. bis ins höchste Alter. »Im vorgerückten Alter«, konstatierte bereits der »Whitehead Report«, »tritt ein bemerkenswertes Phänomen zutage – die Gesundheit verschlechtert sich schneller bei denen, die sozial benachteiligt sind … bei den über 60jährigen und über 70jährigen ließ sich der größte Unterschied in der psychosozialen Gesundheit feststellen«. Überdies habe sich die Kluft zwischen oberen und unteren Schichten im Laufe der Zeit noch vergrößert: »Der Unterschied zwischen den Krankheitsraten der manuell und der nicht-manuell Erwerbstätigen hat sich vergrößert …, besonders unter den über 65jährigen«.70 Unabhängig davon, ob man Daten zur Häufigkeit der am weitesten verbreiteten chronischen Erkrankungen oder Erhebungen zugrunde legte, die nach der Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes fragten – das Ergebnis war immer das gleiche: Wer arm 69 Zahlen: ONS , Trends in Life Expectancy by Social Class, 1972–2005. Für das Problem der Zuordnung von Frauen zu den Kategorien des Registrar General vgl. Bartley, Health In equality, S. 143 ff.; Smith u. Harding, Mortality. 70 Inequalities in Health, S. 238, 276.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich 227
und schlecht ausgebildet war, war im Alter im Durchschnitt häufiger und länger krank. Multivariate Regressionsanalysen, die sich mit der Altersgruppe zwischen 65 und 85 befassten und auf den Ergebnissen aus verschiedenen Erhebungswellen des Health Survey for England in den 1990er Jahren beruhten, dokumentierten wiederholt eine enge Beziehung von materieller Armut und schlechter Gesundheit im Alter. Das schloss sowohl physische als auch psychische Erkrankungen ein.71 Eine andere Studie, die sich mit dem Zusammenhang von sozioökonomischem Status und schwerwiegenden Altersgebrechen bzw. Pflegebedürftigkeit auseinandersetzte, kam zu dem Ergebnis, dass 65–69jährige Männer und Frauen aus den privilegierten Schichten im Durchschnitt nicht nur ein längeres Leben, sondern auch mehr Jahre bei guter Gesundheit vor sich hatten als Angehörige der manuell arbeitenden Klassen. Die Männer der Klassen I und II konnten darüber hinaus auch mit einer kürzeren Periode der Pflegebedürftigkeit am Ende ihres Lebens rechnen als jene der Klassen III bis V.72 Von Beginn an stellten die Gesundheitsforscher ihre Resultate in einen größeren europäischen Kontext. Zwar stand der internationale Vergleich vor erheblichen methodischen Hindernissen, doch deutete vieles darauf hin, dass sich Strukturen sozialer Ungleichheit auch anderswo in unterschiedlichen Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken widerspiegelten, ohne dass schon klar erkennbar gewesen wäre, welche Position dabei Großbritannien im Verhältnis zu anderen Ländern einnahm.73 Über die Ursachen für die großen sozialen Unterschiede im Hinblick auf Morbidität und Mortalität wird bis heute kontrovers diskutiert. Sowohl der »Black Report« als auch der »Whitehead Report« sahen in erster Linie den mehr oder minder direkten Einfluss sozio-ökonomischer Lebensbedingungen am Werk: die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von Armut, schlechten Arbeitsbedingungen, miserablen Wohnverhältnissen.74 Die regierenden Konservativen dagegen wollten von derartigen negativen Konsequenzen sozialer Ungleichheit nichts wissen und machten schichtspezifische Lebensstile und Gesundheitsorientierungen für die Differenzen verantwortlich. Tabak- und extensiver Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung – all das sei in den unteren Schichten weit häufiger verbreitet als in den oberen Rängen der Gesellschaft und bringe steigende Gesundheitsrisiken mit sich. »Es ist eine Frage des Lebensstils, der Erziehung und der persönlichen Verantwortung«, resümierte ein Abgeordneter im britischen Unterhaus das konservative Credo.75 71 Vgl. etwa Grundy u. Slogett, Health Inequalities; Grundy u. Holt, Health Inequalities. 72 Vgl. Melzer u. a., Socioeconomic Status. 73 Vgl. Inequalities in Health, S. 82–103, 287–310; Huisman, Kunst u. Mackenbach, Socio economic Inequalities in Morbidity; Huisman u. a., Socioeconomic Inequalities in Mortality; Mackenbach u. a., Socioeconomic Inequalities. 74 Vgl. Inequalities in Health, S. 125 f., 326–336. Siehe auch Pantazis u. Gordon, Poverty. 75 Roy Galley, HC , Bd. 114, 69 (6.4.1987). Vgl. auch die Ausführungen des ehemaligen Unterstaatssekretärs Ray Whitney, HC , Bd. 114, 52–55 (6.4.1987).
228 Two Nations in Old Age Diese Argumentation lag ganz auf der Linie der zunehmenden Moralisierung, die den sozialpolitischen Diskurs unter Thatcher prägte. Hierzu gehörte die Renaissance der Unterscheidung zwischen den »würdigen« und den »unwürdigen« Armen ebenso wie die aus den USA kommende Vorstellung einer »underclass«, in der sich Kriminalität, Drogenkonsum und moralische Verwahrlosung konzentrierten.76 Nun war es freilich nicht so, dass Gesundheitsrisiken fördernde Verhaltensweisen von den Forschern, die sich mit dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Morbidität bzw. Mortalität befassten, nicht als Erklärungsfaktoren in Betracht gezogen worden wären. Doch hatte sich bei einer Reihe von Studien, die den Einfluss von Risikofaktoren wie Rauchen etc. statistisch kontrollierten, herausgestellt, dass auf sie maximal ein Viertel bis ein Drittel der zu beobachtenden health inequalities zurückzuführen waren.77 Hinzu kam, dass – wie die Kritiker der Lebensstil-Erklärung betonten – »Rauch- und Essgewohnheiten … weit davon entfernt sind, ausschließlich auf individuellem Wahlverhalten zu beruhen«, sondern dass sie vielmehr selbst in systematischer Weise mit schichtspezifischen Lebensbedingungen verkoppelt waren.78 Ein Ansatz zur Erklärung des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und gesundheitlicher Differenz, der in den letzten beiden Jahrzehnten zu nehmend an Prominenz gewonnen hat: der sog. life course-Ansatz, steckte in den 1980er Jahren noch in den Anfängen und wurde erst im Laufe der 1990er theoretisch ausgearbeitet. Ereignisse und Lebensbedingungen seit der frühen Kindheit, so der inzwischen durch eine Reihe von Längsschnittstudien empirisch untermauerte Grundgedanke, beeinflussen nachhaltig den Gesundheitszustand im späteren Leben. Für den Nexus von sozialer Ungleichheit und Gesundheit im Alter ist dabei von besonderer Bedeutung, dass sich soziale Benachteiligungen über den Lebenslauf hinweg akkumulieren. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum soziale Unterschiede in Mortalität und Morbidität bis ins hohe Alter erhalten bleiben oder sich sogar noch vergrößern. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Beziehung von Alter und Gesundheit bzw. Krankheit brachte das Vordringen des life course-Ansatzes in den 1980er und 1990er Jahren gleichzeitig eine wichtige Perspektiven-Verschiebung mit sich: Hatte zuvor die Gruppe der Alten mit den für sie typischen Krankheiten im Mittelpunkt gestanden (vgl. Kap. III.1), richtete sich der Fokus nun zunehmend auf den Prozess des Alterns, auf die Veränderung des Gesundheitszustandes im Laufe des Lebens und auf die differenzierend wirkenden Effekte, die dabei von sozio-ökonomischen Faktoren ausgingen.79 76 Vgl. hierzu auch Fink, Welfare, S. 274 ff.; Harrison, Finding, S. 175 ff. 77 Vgl. Inequalities in Health, S. 323–326. Ein prominentes Beispiel war hier die sog. Whitehall-Studie. Vgl. Marmot, Shipley u. Rose, Inequalities in Death. 78 Townsend, Individual or Social Responsibility, S. 382 f. Vgl. Inequalities in Health, S. 336. 79 Vgl. Ferraro, Health; Ross u. Wu, Education; Bartley, Health Inequality, S. 103–115; Mann, Wadsworth u. Colley, Accumulation.
Die schleichende Krise der 1990er Jahre 229
3. Die schleichende Krise der 1990er Jahre Anfang der 1990er Jahre ließ der fundamentale politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungsprozess, der die Thatcher-Jahre gekennzeichnet hatte, in seiner Dynamik nach. Gleichzeitig, vor allem seit der Rezession zu Beginn des Jahrzehnts, die die Arbeitslosenrate 1993 auf 10,7 % anschwellen ließ, kippte die Stimmung im Land. Vieles, was an sozialpolitischen Veränderungen und gesellschaftlichen Entwicklungen von der Mehrheit der Bevölkerung zuvor mehr oder minder bereitwillig hingenommen worden war, da sie vom wirtschaftlichen Aufschwung der vorangegangenen Jahre profitiert und viele der Thatcher-Reformen im Prinzip bejaht hatte, erschien nun zunehmend weniger akzeptabel. Immer mehr setzte sich um die Mitte des Jahrzehnts in der politischen und publizistischen Öffentlichkeit, aber auch bei Meinungsumfragen die Wahrnehmung durch, dass der Wohlfahrtsstaat und die britische Gesellschaft insgesamt auf eine Sackgasse zusteuerten. Im Hinblick auf Alter und Alterssicherung waren es insbesondere vier Entwicklungen, die zusammenwirkten, um den Eindruck einer Dilemmasituation entstehen zu lassen. 1. Es verdichteten sich die Anzeichen dafür, dass die drastische Zunahme sozialer Ungleichheit und relativer Armut eine Grenze erreicht hatte, die von wachsenden Kreisen als problematisch angesehen wurde – das bezog sich auf die Kluft zwischen Arm und Reich in der britischen Gesellschaft insgesamt; die ansteigende Ungleichheit unter den Alten war nur ein Teil davon. Für die sozialwissenschaftlichen Experten – das ist oben (Kap. V.2) schon dargelegt worden – stand spätestens seit Ende der 1980er Jahre unumstritten fest, dass die sozialen Unterschiede in Großbritannien im vorangegangenen Jahrzehnt dramatisch zugenommen hatten. Eine Art Bilanz mit großer Öffentlichkeitswirkung stellte in diesem Zusammenhang die großangelegte Studie zu »Income and Wealth« dar, welche die angesehene Joseph Rowntree Foundation 1993 in Auftrag gegeben hatte und deren Ergebnisse zwei Jahre später erhebliches Aufsehen erregten.80 In der veröffentlichten Meinung nahm die kritische Bericht erstattung über die wachsende soziale Ungleichheit Anfang der 1990er Jahre ebenfalls zu. Die Steuerpolitik der Tories, resümierte etwa der »Guardian« 1993, habe zu einer der »grundlegendsten Umwälzungen seit dem Zweiten Weltkrieg« geführt, zu einem solchen Anstieg an materieller Ungleichheit nämlich, dass »die Kluft zwischen den Spitzenverdienern und jenen mit den niedrigsten Einkommen jetzt größer ist als jemals seit Beginn der Aufzeichnungen vor mehr als 100 Jahren«. Besonders schlimm sei es, dass diese »Ungleichheiten nicht beim
80 Vgl. Hills, Income, 2 Bde. Vgl. HC , Bd. 254, 802–902 (14.2.1995); House of Lords (=HL), Bd. 561, 791–794 (16.2.1995); HL , Bd. 561, 1485–1556 (1.3.1995).
230 Two Nations in Old Age Einkommen aufhören, sondern jeden Aspekt des Lebens tangieren«.81 Auch der »Independent« zog 1996 anlässlich der Veröffentlichung des »Human Development Reports« der UN eine vernichtende Bilanz: »Großbritannien ist jetzt das Land mit der größten Ungleichheit in der westlichen Welt … Die Kluft zwischen Reich und Arm ist so groß wie in Nigeria«. Während Thatcher noch ein Mehr an Ungleichheit als erstrebenswerte Errungenschaft dargestellt habe, so die liberale Tageszeitung weiter, habe sich unter Politikern und Ökonomen international inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass ihre negativen gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Folgen deutlich überwögen. Miserabel sei im Vergleich zur westlichen Welt vor allem die Situation der 20 % ärmsten Briten, da sie über ein Durchschnittseinkommen verfügten, das »32 Prozent niedriger lag als das ihrer Referenzgruppe in den Vereinigten Staaten und 44 Prozent geringer war als der Vergleichswert in den Niederlanden«.82 Tab. 5: Meinungsumfragen zu Fragen sozialer Ungleichheit in Großbritannien, 1983–1999 1983
1987
1990 1993
1995
1999
About income levels generally in Britain today. Would you say that the gap between those with high incomes and those with low incomes is too large, about right or too small? Too large (%)
74,43 80,73 82,2
86,77 89,58 84,01
How much do you agree or disagree that … government should redistribute income from the better-off to those who are less well off? Agree strongly + agree (%)
45,87 50,05 45,22 48,19 36,84
About the government choosing between these three options. Which do you think it should choose? Reduce taxes and spend less on health, education and social benefits OR keep taxes and spending on these services at the same level as now OR increase taxes and spend more on health, education and social benefits Increase tax and spend more (%)
33,27 51,01 55,55 64,52 61,38 58,38
Quelle: British Social Attitudes Survey 81 Will It Be Tax-Man or Axe Man, in: Guardian, 11.9.1993. 82 UK Most Unequal Country in the West, in: Independent, 21.7.1996. Vgl. auch Poorest Families 14 % Worse Off, in: Independent, 1.7.1993; Poverty Gap Growing in Affluent Cities: One in Four Children in Oxford Now Suffers Deprivation, in: Independent, 5.9.1994; What Causes Crime?, in: Independent, 4.6.1995.
Die schleichende Krise der 1990er Jahre 231
In die gleiche Richtung einer schwindenden Akzeptanz der gesellschaftlichen Polarisierung zwischen Arm und Reich deuten auch die repräsentativen Meinungsumfragen, die seit den 1980er Jahren einen immer breiter werdenden Datenstrom lieferten. Tabelle 5 führt die Ergebnisse des seit 1983 veranstalteten British Social Attitudes Survey zu Fragen auf, die sich um soziale Ungleichheit und den Wohlfahrtsstaat drehen. Deutlich zeigen die Antworten auf die erste Frage, dass bereits Anfang der 1980er Jahre eine überwiegende Mehrheit der Briten der Auffassung war, dass die Einkommensunterschiede zu hoch waren, und dass sich dieser Anteil bis Mitte der 1990er Jahre auf ca. 90 % vergrößerte, bevor er nach dem Ende der konservativen Ära wieder leicht absank. Nun ist insofern Vorsicht bei der Interpretation dieses Resultates geboten, als aus der Umfrageforschung bekannt ist, dass sich zwar viele Menschen besorgt über das Ausmaß von sozialer Ungleichheit und Armut äußern, ihre Zustimmung aber deutlich abnimmt, wenn es um redistributive Maßnahmen oder um Steuern zur Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen, kurz: um die Kosten der Verbesserung des bek lagten Zustands, geht.83 Die These von einer wachsenden und nachdrücklichen Ablehnung der ansteigenden sozialen Ungleichheit wird daher durch die weiteren in Tabelle 5 dokumentierten Umfrageergebnisse gestützt. So erreichte der Anteil der befragten Briten, die redistributive Maßnahmen des Staates befürworteten, Anfang der 1990er Jahre (1990, 1994) Höchstwerte von über 50 %, wohingegen der Prozentsatz jener, die sich offen dagegen aussprachen, im Minimum auf 25 % (1994) sank (Rest unentschieden).84 Gleichzeitig stieg die öffentliche Unterstützung für den Wohlfahrtsstaat und Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung signifikant an – und zwar auch dann, wenn dafür höhere Steuern in Aussicht gestellt wurden. Fast zwei Drittel der Befragten – und zwar, wie sich herausstellte, mehr oder minder unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit – sprachen sich in der Spitze dafür aus, die Steuern zu erhöhen, um damit einen Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zu finanzieren.85 2. Die Unzufriedenheit mit dem staatlichen Alterssicherungssystem nahm zu. Bei einer Umfrage von Eurobarometer, dem zum Zwecke der vergleichenden Selbstbeobachtung in den 1970er Jahren entstandenen Meinungsforschungs programm der Europäischen Kommission, gaben 1992 fast 70 % der Briten an, dass das Hauptproblem im Alter der Mangel an finanziellen Mitteln sei – das war ein höherer Prozentsatz als überall sonst in der Europäischen Gemeinschaft bis auf Portugal; in Westdeutschland lag der entsprechende Anteil noch nicht einmal bei 40 %. Wurden nur die Älteren befragt, stuften 51 % im Vereinig83 Vgl. etwa Martin u. Taylor-Gooby, Fairness, S. 3 f. 84 British Attitudes Survey 1994: Agree strongly: 13,29 %; agree: 38,29 %; neither: 23,00 %; disagree: 22,92 %; disagree strongly: 2,50 %. 85 Vgl. auch Gordon u. Pantazis, The Public’s Perception, S. 86 ff.; Taylor-Gooby, Attachment, S. 30 ff.; Curtice, Back in Contention, S. 178.
232 Two Nations in Old Age ten Königreich die Altersbezüge als unzureichend ein; in Westdeutschland taten das lediglich 22,6 %, was in der Europäischen Gemeinschaft wiederum nur von Luxemburg unterboten wurde.86 Angesichts der Tatsache, dass die Basic State Pension seit Beginn der 1980er Jahre nicht mehr an die Lohn-, sondern an die Preisbewegung gekoppelt war und sie dementsprechend immer mehr gegenüber den Löhnen an Boden verloren hatte, konnte das lamentable britische Umfrageergebnis wenig überraschen. Da die staatliche Pauschalrente für die Mehrheit der Rentner in Großbritannien nach wie vor den einzigen oder bei weitem wichtigsten Einnahmeposten darstellte, machte sich ihr relativer Wertverlust für die meisten Alten überaus deutlich bemerkbar. »Arme Rentner sind zunehmend der liebevollen Gnade bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen überlassen«, kommentierte 1994 der »Independent« die Folgen dieser Entwicklung.87 Tatsächlich bezogen im gleichen Jahr 1,75 Millionen der über 60jährigen – 15 % dieser Altersgruppe – Sozialhilfe und noch weit mehr ältere Menschen andere bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen wie Housing Benefit oder Council Tax Benefit.88 Hinzu kam jene Million von Rentnern, die nach der Schätzung von Age Concern Anrecht auf means-tested benefits gehabt hätten, diese jedoch aus Unwissenheit oder Scham nicht in Anspruch nahmen.89 Erst wenn man die Verhältnisse in Großbritannien mit der Situation in der Bundesrepublik vergleicht, wird deutlich, wie groß die Rolle war, die bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen nach wie vor in der britischen Altersversorgung spielten: Im gerade wiedervereinigten Deutschland lag der Anteil der über 65jährigen Frauen, die Sozialhilfe erhielten, bei gerade einmal 1,4 %; bei den Männer waren es sogar nur 0,9 % (beide Angaben für 1994).90 Die herausgehobene Bedeutung des Bedürftigkeitsprinzips im britischen Wohlfahrtsstaat, die während der konservativen Ära – vor allem im Bereich der Unterstützung von Arbeitslosen – noch einmal dramatisch zunahm, befand sich freilich im vollkommenen Einklang mit der Überzeugung der »Neuen Rechten«. Einige Tories wollten sogar am liebsten alle universalen Elemente des Wohlfahrtsstaats zugunsten von Unterstützungsleistungen abschaffen, die ausschließlich auf der Grundlage von Bedürftigkeitstests gewährt werden sollten. Sie führten an, dass »die vollständige Abschaffung universeller Leistungen eine erhebliche Summe an Geld freisetzen würde, das für Menschen verwendet werden könnte, die es am 86 Age and Attitudes, S. 16. 87 An Uncomfortable Retirement: The State Pension is under Fire from all Sides, Including Labour, in: Independent, 14.3.1994. 88 Eigene Berechnungen nach ONS , Pension Trends, Chapter 5, Figure 5.8 (http://www.ons. gov.uk/ons/rel/pensions/pension-trends/chapter-5--state-pensions--2011-edition-/index. html); United Nations, World Population Prospects: The 2010 Revision (http://esa.un. org/unpd/wpp/index.htm). Vgl. Johnson u. Falkingham, Ageing, S. 54. 89 Unclaimed Cash, in: Independent, 1.10.1994. 90 Lebenslagen in Deutschland, S. 134, Anhangtabelle II 12.
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dringendsten brauchen. Außerdem könnte auf diese Weise noch eine deutliche Absenkung der Sozialausgaben insgesamt erreicht werden.«91 Das Projekt einer vollständigen Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats nach dem Bedürftigkeitsprinzip, das auch die Basic State Pension eingeschlossen hätte, stand jedoch im Gegensatz zum erklärten Willen einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit, die sich bei Umfragen im Hinblick auf die staatliche Rente klar für das ihnen vertraute flat rate-System aussprach.92 Gleichzeitig äußerten die meisten Briten – seit 1985 stets mehr als drei Viertel von ihnen – die Ansicht, dass die Regierung »mehr« oder »sehr viel mehr« für die Altersversorgung ausgeben sollte.93 Trotz der großen Rolle, welche die private bzw. betriebliche Alterssicherung in Großbritannien spielte, war es der Staat, den ca. 98 % der Bevölkerung dafür verantwortlich hielten, einen »angemessenen Lebensstandard für die Alten« zu sichern – und dieser Verantwortung wurde er nach der Meinung von immer mehr Menschen nur unzureichend gerecht.94 3. Die private Alterssicherung, auf deren Stärkung alle konservativen Reformbemühungen ausgerichtet gewesen waren, geriet in erheblichen Misskredit. Vor allem zwei handfeste Skandale waren es, die die Gefahren einer Privatisierung der Altersvorsorge deutlich vor Augen führten. Bei dem einen, dem seit Dezember 1993 zutage tretenden Misselling Scandal, handelte es sich um eine direkte Konsequenz der konservativen Rentenreform von 1986, die die Möglichkeit geschaffen hatte, SERPS oder ein Betriebsrentensystem zugunsten einer rein privaten Rentenversicherung, der personal pension, zu verlassen und hierfür finanzielle Anreize geschaffen hatte (vgl. oben, Kap. V.1). Es stellte sich heraus, dass für 90 % jener 500.000 Beschäftigten, die von einem occupational zu einem personal pension scheme gewechselt hatten, dieser Schritt zu ihrem eigenen Nachteil gewesen war. Von den großangelegten Werbefeldzügen der Versicherungsunternehmen sowie der Regierung beeinflusst und von den aggressiven Verkaufstaktiken der Versicherungsvertreter dazu gedrängt, hatten viele Arbeitnehmer gute Betriebsrentensysteme mit lukrativen, an der Einkommenshöhe orientierten Renten gegen private Rentenversicherungsverträge eingetauscht, zu denen der Arbeitgeber keine Beiträge leistete und die bis zu 25 % an Verwaltungskosten verschlangen. Als besonders krasses Beispiel ging der Fall eines Bergarbeiters durch die Presse, der fünf Jahre vor seinem Ruhestand dazu 91 No Turning Back Group of Conservative MPs, 1993, zit. nach Hills, Future of Welfare, S. 41. 92 Vgl. CASEbrief 14, December 1999: Social Security, Redistribution and Public Opinion (http://sticerd.lse.ac.uk/dps/case/cb/CASEbrief14.pdf). Vgl. auch Hills u. Lelkes, Social Security. 93 British Attitudes Survey. 56,6 % erklärten sich sogar bereit, dafür höhere Steuern in Kauf zu nehmen. Vgl. Age and Attitudes, S. 20. 94 British Attitudes Survey. Summe aus den Antworten »Definitely Should Be« und »Probably Should Be«. Dabei schwanken die Werte für »Definitely Should Be« im Zeitraum 1985–1996 zwischen 71,11 % (1996) und 80,69 % (1986). Vgl. Taylor-Gooby, Commitment.
234 Two Nations in Old Age überredet worden war, aus seiner betrieblichen Altersversorgung auszuscheiden und statt dessen eine private Altersversicherung abzuschließen, und dessen Rentenansprüche sich durch diesen Wechsel von £ 1.791 auf £ 734 verringerten. Der Misselling Scandal, der zu den »größten Politik-Debakeln der jüngsten britischen Geschichte« gezählt werden darf, wurzelte letztlich im tiefen Glauben der Thatcher-Regierung an die Überlegenheit unregulierter Märkte, der sie im Vorfeld alle Warnungen hinsichtlich zu großer Intransparenz, falscher Anreizstrukturen und mangelnder Akteursrationalität in den Wind schlagen ließ.95 Die Welle öffentlicher Empörung, die die Falschberatung von Hunderttausenden nach sich zog, führte im Endeffekt dazu, dass die Versicherungsindustrie sich gezwungen sah, Entschädigungsleistungen in Höhe von 13,5 Mrd. Pfund zu zahlen.96 Schon vor dem Misselling Scandal hatte 1991 der Maxwell-Skandal in Großbritannien nachhaltig das Vertrauen in die betriebliche Alterssicherung erschüttert. Im November dieses Jahres war der tschechisch-britische Medienmogul Robert Maxwell vor den Kanaren ertrunken neben seiner Yacht treibend gefunden worden. Binnen kurzem stellte sich nicht nur heraus, dass das Firmenimperium des schillernden Magnaten bankrott war, sondern auch, dass er £ 450 Millionen aus den hauseigenen Pensionsfonds veruntreut hatte. Durch komplizierte Finanztransaktionen und mit erheblicher krimineller Energie hatte Maxwell das Geld benutzt, um den Aktienkurs eigener Unternehmen durch Anteilskäufe zu stützen und der akut drohenden Insolvenz zu entgehen. Die Leidtragenden waren 32.000 Mitglieder der verschiedenen Maxwell-Pensionsfonds, die einen Gutteil ihrer betrieblichen Rentenansprüche verloren. Der Maxwell-Skandal, der zu den größten britischen Wirtschaftsskandalen überhaupt gehört, hatte nicht nur ein jahrelanges gerichtliches Nachspiel, sondern bildete auch den Ausgangspunkt für eine stärkere gesetzliche Regulierung des Bereichs der betrieblichen Alterssicherung. Fatalerweise beschleunigte er ebenfalls den Exodus aus soliden firmeneigenen Pensionsfonds, deren Mitglieder ihre Einlagen nicht sicher wähnten und statt dessen den Anbietern der für sie weniger günstigen personal pensions in die Arme liefen.97 95 Jacobs. u. Teles, Perils, S. 167. Vgl. ebd., S. 171–180. 96 Vgl. zu diesem Absatz insgesamt: Blake, Pension Schemes, S. 219, 311; Jacobs u. Teles, Perils; The Great Pensions Scandal. When You Get to Their Age, You May Not Have Enough to Live On, in: Independent, 22.5.1994; Pension Scandal Hits Three Million, in: Guardian, 21.12.1993; Mis-selling Bill Tops £ 13bn. Pensions Scandal is Likely to Become Britain’s Costliest Financial Blunder, in: Guardian, 2.12.2000; State Has Betrayed Pensions Promise, in: Guardian, 13.12.1993. 97 Vgl. Blake, Pension Schemes, S. 340–357; Taylor-Gooby, Larsen u. Kananen, Market Means, S. 584; Marier, Pension Politics, S. 162 f.; Styles u. Taylor, Maxwell; Taylor-Gooby, Limits; The Great Pensions Scandal. When You Get to Their Age, You May Not Have Enough to Live On, in: Independent, 22.5.1994; How to Account for Maxwell Scandal, in: New York Times, 10.12.1991.
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4. Die Sorge um die demographische Alterung und ihre Konsequenzen stieß auf wachsende Resonanz und verfestigte sich zu einem weithin akzeptierten Wahrnehmungsfilter. Noch Mitte der 1980er Jahre – das ist oben bereits dargelegt worden –98 hatte die demographische Argumentation, welche die Thatcher-Regierung für die Demontage von SERPS vorbrachte, nicht im politischen Mainstream gelegen, sondern der Auffassung eines überschaubaren Zirkels von sozialpolitischen Experten und Demographen entsprochen. Das änderte sich in den Folgejahren in rasanter Geschwindigkeit. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte sich das Szenario einer fortschreitenden »Vergreisung« der Gesellschaft in der Berichterstattung aller Zeitungen als allgemein anerkanntes Wissen fest etabliert. Im Vordergrund standen dabei ganz die negativen Auswirkungen der demographischen Alterung – und hier wiederum vor allem jene für den Wohlfahrtsstaat. Durchaus repräsentativ fasste 1995 der »Guardian« unter dem Titel »A Grey Burden That Makes the Men in Suits Shudder« den Stand der Diskussion über die Konsequenzen des demographischen Wandels zusammen: »Wie wir alle wissen, wird dieser Trend überall in der entwickelten Welt den bestehenden staatlichen Renten- und Gesundheitssystemen das Genick brechen. Eine Katastrophe bedroht die öffentliche Gesundheit, das Versicherungswesen, die Beschäftigungslage, den Wohnungsbau, die Industrie und sogar die Politik selbst – so zentral sind Renten- und Krankenversicherung in unseren Gesellschaften«.99 Bis in die 1980er Jahre hinein für die Bevölkerungsexplosion in der »Dritten Welt« reserviert, avancierte »demographische Zeitbombe« (»demographic time bomb«) zur wichtigsten Methapher für den nun ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückenden Prozess der Bevölkerungsalterung in den Industrieländern. »An der Wende zum neuen Millenium wird die sogenannte demographische Zeitbombe über Schottland explodiert sein«, beschwor beispielsweise der Glasgower »Herald« seine Version der demographischen Apokalypse: »Wenn … der gegenwärtige Trend anhält, könnten die Kosten einer alternden Bevölkerung, die von einer jüngeren und kleineren Erwerbsbevölkerung getragen werden müssen, zu einem wachsenden Konflikt zwischen Jung und Alt führen«.100 Die wachsende Angst vor den Folgen des demographischen Wandels war nicht auf Großbritannien beschränkt, sondern ein transnationales Phänomen. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Zusammenhang große internationale Organisationen wie die OECD, die Weltbank und die Europäische Gemeinschaft, 98 Vgl. oben, Kap. V.1. 99 A Grey Burden That Makes the Men in Suits Shudder, in: Guardian, 11.1.1995. 100 Countdown to Disaster, in: Herald, 14.12.1993. Vgl. – nur als kleine Auswahl – Personal Finance: Apocalypse Now for Personal Pensions, in: Observer, 18.7.1993; Grey Timebomb at the Heart of the Western Welfare State, in: Guardian, 27.1.1996; The Elderly Need Our Concern Now; As Britain Gets Older, the Growing Crisis That We Ignore at Our Peril, in: Mail on Sunday, 14.11.1993.
236 Two Nations in Old Age die mit alarmierenden Berichten zu den Auswirkungen der demographischen Alterung hervortraten. Bereits 1988 hatte etwa die OECD gleich in zwei Studien auf die sozialpolitischen Implikationen der demographischen Alterung hin gewiesen.101 Die Weltbank wiederum warnte 1994 in ihrem vielbeachteten Bericht »Averting the Old Age Crisis« davor, dass »die öffentlichen Ausgaben für Renten in den nächsten fünfzig Jahren in die Höhe schnellen werden, falls der Trend anhält«.102 Gleichzeitig fand in Großbritannien auch die in den Vereinigten Staaten geführten Debatte über Generationengerechtigkeit Beachtung, die insbesondere von der 1985 gegründeten Organisation Americans for Generational Equity (AGE) aggressiv vorangetrieben wurde.103 Zwar fehlte es in der britischen Öffentlichkeit durchaus nicht an entdramatisierenden Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die demographische Situation im Vereinigten Königreich günstiger als in den meisten anderen westlichen Industrieländern war und dass sich überdies die zukünftigen Kosten des staatlichen Rentensystems, zumal nach den Einschnitten der Thatcher-Ära, in einem vergleichsweise begrenzten Rahmen hielten.104 Doch dominierte seit den frühen 1990er Jahren insgesamt das Leitbild einer zunehmenden Bedrohung durch die wachsenden fiskalischen Lasten, die der gesellschaftliche Alterungsprozess im Bereich der Alterssicherung und Gesundheitsversorgung mit sich brachte. Damit eng verbunden war die ab und an aufblitzende Gedankenfigur eines Konflikts zwischen den Generationen, der in Zukunft an Schärfe gewinnen würde – ein Szenario, das der »Guardian« auf die Frage zuspitzte: »Wird der Dritte Weltkrieg ein Krieg zwischen den Generationen und nicht zwischen Staaten sein?«.105 Die Überlagerung der gerade geschilderten vier Entwicklungen ließ die eingangs erwähnte Sackgassensituation der 1990er Jahre entstehen: Die Unzufriedenheit mit der wachsenden sozialen Ungleichheit und den unzureichenden staatlichen Rentenleistungen nahm zu; die Privatisierung der Alterssicherung, die den Kern der konservativen Rentenreform dargestellt hatte, war durch Skandale nachhaltig diskreditiert; die sich in demographischen Prognosen abzeichnende »Vergreisung« der Gesellschaft und ihre Folgen für den Wohlfahrtsstaat legten Kürzungen auf dem Gebiet der öffentlichen Alterssicherung nahe, was jedoch in diametralem Gegensatz zu dem von weiten Teilen der Bevölkerung gewünschten Ausbau der staatlichen Rentenleistungen stand. Die regierenden 101 OECD, Ageing Populations; OECD, Reforming Public Pensions. 102 World Bank, Averting, S. 7. 103 Vgl. Means to an End of State Pensions?, in: Guardian, 21.11.1988; A Throng at Twilight, in: Guardian, 6.12.1988. Vgl. auch Quadagno, Generational Equity. 104 Vgl. Research Defuses Time-bomb View of the Welfare State, in: Guardian, 9.11.1993; We Can Pay, But What about the Cost?, in: Observer, 12.5.1996. 105 Questions of Growing Grey in Prosperity, in: Guardian, 27.3.1990. Vgl. zum Voran gehenden auch Mullan, Imaginary Time Bomb, S. 145–194; Vincent, Patterson u. Wale, Politics, S. 16–27; Ginn u. Arber, Politics, S. 158.
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Konservativen unter John Major reagierten in dieser schwierigen Lage in zweifacher Weise: Auf der einen Seite begannen sie angesichts des krassen Versagens marktwirtschaftlicher Selbstregulierung, das in den Skandalen zutage getreten war, den Sektor betrieblicher und privater Alterssicherung einer verstärkten staatlichen Regulierung zu unterwerfen. Der Pensions Act von 1995 schuf nicht nur eine neue Aufsichtsbehörde mit weitreichenden Vollmachten, sondern enthielt auch Bestimmungen über die Mindestrücklagen von Pensionsfonds und die Entschädigung ihrer Mitglieder im Falle von Insolvenz oder Betrug.106 Auf der anderen Seite führten die Tories im Bereich der staatlichen Alters sicherung ihre Politik der Kürzungen und der Privatisierung weitgehend un beirrt fort. Konfrontiert mit einem wachsenden Haushaltsdefizit und einem rezessionsbedingten Anstieg der Sozialausgaben auf ein bisher nicht erreichtes Niveau,107 kündigte der neue zweite Mann im Schatzamt, Michael Portillo, 1993 im Unterhaus »eine gründliche Überprüfung« der Staatsausgaben an, wobei der Sozialetat in der ersten Reihe stehen sollte. Die Regierung, so Portillo, sei auf der Suche nach Teilen des Wohlfahrtsstaats, in denen »eine bessere Ziel genauigkeit erreicht werden kann« oder aus denen der Staat »sich ganz zurückziehen kann«.108 Für den Bereich der staatlichen Altersversorgung bedeutete das weitere weitreichende Einschnitte. Zunächst einmal hob der Pensions Act von 1995 das Rentenalter von Frauen von 60 auf 65 an und stellte sie damit den Männern gleich. Das war ein Entschluss, mit dem die Regierung einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 1990 nachkam, der aber zugleich ein beträchtliches Sparpotential für die Zukunft generierte. Darüber hinaus machten sich die Konservativen daran, SERPS weiter zu demontieren. Durch eine technische Änderung des Berechnungsmodus wurden die Leistungen der erwerbsbezo genen Zusatzrente abermals reduziert, so dass sie sich am Ende nur noch auf ein Drittel der 1975 ursprünglich vorgesehenen Höhe beliefen.109 Es blieb den letzten Tagen der Regierung Major vorbehalten, den unter Thatcher eingeschlagenen Reformpfad bis an sein radikales Ende zu führen. Anfang März 1997, in der Hochphase des Wahlkampfs, in dem die Konservativen hoffnungslos hinten lagen, kündigten der Premierminister und sein Sozialversicherungsminister Peter Lilley an, die staatliche Pauschalrente (Basic State Pension), 106 Pensions Act 1995: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1995/26/contents/enacted. Vgl. hierzu Blake, Pension Schemes, S. 103–116, 310; Davis, Private Pensions, S. 24 ff.; Marschallek, Back to the State?, S. 107 f.; Jacobs u. Teles, Perils, S. 175 ff. 107 Vgl. Crawford, Emmerson u. Tetlow, Survey of Public Spending, S. 18. 108 Michael Portillo, HC , Bd. 218, 683W (8.2.1993). Vgl. Welfare State Facing Total Review: Portillo Says Nothing Ruled Out as Four Departments Told to Re-justify Their Spending, in: Independent, 9.2.1993; Timmins, Five Giants, S. 493, 513 f. 109 Vgl. Pensions Act 1995: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1995/26/contents/enacted; Blake, Pension Schemes, S. 361 f.; Clasen, Reforming, S. 124 f.; Timmins, Five Giants, S. 515 f.; Bozio, Crawford u. Tetlow, History, S. 36 f.
238 Two Nations in Old Age eine der »heiligen Kühe« des britischen Wohlfahrtsstaats,110 auf lange Sicht privatisieren zu wollen. Der Plan sah den sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden vollständigen Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren vor.111 Ein staatliches Rentensystem sollte es dann nicht mehr geben, nur noch Millionen von privaten Alterssicherungsverträgen. Angesichts der anhaltend hohen Popularität, welche die staatliche Organisation der Altersvorsorge für sich beanspruchen konnte, schwante auch den wirtschaftsliberalen Blättern, die den konservativen Vorschlag als »Tabubruch« und als »mutiger als jeder andere Plan jeder anderen politischen Mainstream-Partei in der industriellen Welt« feierten, dass sich die konservative Initiative letztlich als verzweifelter »Akt des politischen Selbstmords« erweisen könnte.112 In der Opposition erkannte die Führung der Labour Party die politische Chance, die für sie in der sich verstärkenden Krisenstimmung der 1990er Jahre lag. Nach der überraschend verloren gegangenen Wahl von 1992 setzte der neue Parteivorsitzende, John Smith, eine »Commission on Social Justice« aus Labour nahestehenden Experten ein, die bewusst als Gegenstück zu der genau fünfzig Jahre zuvor tagenden Beveridge-Kommission konzipiert war und die Aufgabe hatte, ausgehend von einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, Perspektiven für eine zukünftige Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats zu entwickeln. Die Gerechtigkeitskommission erstattete ihren Abschlussbericht im Herbst 1994 – wenige Monate, nachdem Smith überraschend verstorben war und sich Tony Blair im Juli 1994 auf dem Parteitag als Vorsitzender durchgesetzt hatte. Ausgehend von theoretischen Überlegungen zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit, konstatierte die Kommission, wenig überraschend, eine klaffende »Justice Gap« in der britischen Gesellschaft, die sich in wachsender Ungleichheit und Armut, in skandalösen sozialen Unterschieden im Hinblick auf Bildung und Gesundheit sowie in hohen Kriminalitätsraten niederschlug.113 Die Arbeit der Kommission zielte ganz wesentlich darauf, gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse den Begriff der sozialen Gerechtigkeit zu etablieren und ihn für Labour zu reklamieren. Damit schlug die Partei einen Ton an, der bis zum großen Wahltriumph von 1997 bruchlos fortklang. Im Wahlkampf spielte die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Das kam nicht zuletzt schon darin zum Ausdruck, dass 110 Who Needs a State Pension?, in: Economist, 8.3.1997. 111 Vgl. etwa Tories Take on the Pension Timebomb. Personal Fund for All in Major’s Big Idea to Lift a £ 40bn Burden, in: Daily Mail, 6.3.1997; Lilley the Radical Guesses 40 Years Ahead. The Pensions Revolution, in: Independent, 6.3.1997; State Retirement Plan, in: Financial Times, 6.3.1997; Tomorrow’s Pensioners, in: Economist, 8.3.1997; Paying the Bill from a Privatised Pot, in: Financial Times, 8.3.1997. 112 State Retirement Plan, in: Financial Times, 6.3.1997; Who Needs a State Pension, in: Economist, 8.3.1997. 113 The Justice Gap; Social Justice, S. 2, 27–57.
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»social justice« im Wahlprogramm der Labour Party einen prominenten Platz einnahm – weit mehr, als dass 1992 und bei jeder der Wahlen in den 1980er Jahren der Fall gewesen war. New Labour, so ließ es sich kurz und bündig im »Labour Party Manifesto« nachlesen, sei »about social justice and a fair deal«.114 Parallel zur Positionierung des Gerechtigkeitsbegriffs im Zentrum der eigenen politischen Programmatik bemühte sich die Labour Party, eine möglichst weite Distanz zwischen sich und jede Form der Redistributionsrhetorik zu bringen. Auch diese Tendenz zeichnete sich bereits deutlich in den Empfehlungen der »Commission on Social Justice« ab. Die Kommission stellte drei politische Strategien für die Zukunft Großbritanniens einander gegenüber: jene der »Deregulators« – das waren die kaltherzigen Neoliberalen der »Neuen Rechten«, jene der »Levellers« – der »Gleichmacher«, die dem Umverteilungsideal der alten Linken anhingen, und jene der »Investors« – der geläuterten Linken, die marktwirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit nicht als Gegensatz begriffen, sondern harmonisch miteinander zu verbinden versprachen. Während die »Levellers« soziale Gerechtigkeit vor allem durch »die Umverteilung von Vermögen und Einkommen … über das Sozialsystem« erreichen wollten, setzten die »Investors« darauf, »die Möglichkeiten zu vergrößern und auf dem Weltmarkt zu konkurrieren«.115 Die ideologische Selbsterfindung von New Labour führte dann in den Folgejahren diese Gegensatzbildung konsequent weiter: Mit Verve distanzierten sich die Labour-Modernisierer, allen voran Tony Blair und Gordon Brown, von allem, was den Geruch materieller Umverteilung, von »equality of outcome«, also Ergebnisgleichheit, und überhaupt von »tax and spend«, jener mit Old Labour identifizierten Mentalität hoher Steuern und Staatsausgaben, an sich trug. An die Stelle des »klassischen«, redistributionslastigen Gleichheitsgedankens, der für die Labour Party in der Nachkriegszeit stets eine wichtigere Rolle als für die deutsche Sozialdemokratie gespielt hatte, setzten sie insbesondere zwei Konzepte, mit deren Hilfe ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit erreicht werden sollte: zum einen »equality of opportunity«, Chancengleichheit, die sie als »aktives« Pendant der auf staatlichen Transferleistungen beruhenden und daher als »passiv« abqualifizierten »equality of outcome« entgegensetzten; zum anderen »social inclusion« – mit einem klaren Schwergewicht auf Erwerbsarbeit und Bildung als den zentralen Inklusions mechanismen, die es staatlicherseits zu fördern galt.116 114 New Labour Because Britain Deserves Better (http://www.politicsresources.net/area/uk/ man/lab97.htm). Vgl. die Wahlprogramme für 1983, 1987 und 1992 (http://www.politics resources.net/area/uk/man.htm). 115 Zitate: Social Justice, S. 96. Vgl. ebd., S. 94–115; New Welfare Plan to Turn Clock Forward, in: Guardian, 25.10.1994; Thorpe, History, S. 240; Fielding, Labour Party, S. 184 f. 116 Vgl. hierzu Brown, Tough Decisions; Mandelson, Labour’s Next Steps; Lister, From Equality, S. 215–221; Fielding, Labour Party, S. 179–187; Plant, Crosland; Hickson, Equality, S. 127–133.
240 Two Nations in Old Age Was aber bedeutete diese ideologische Neuorientierung der Labour Party für ihre konkrete Haltung gegenüber dem britischen Wohlfahrtsstaat im allgemeinen und zu Fragen der Alterssicherung im besonderen? Gerade im Bereich der Altersvorsorge waren die Neuordnungsvorschläge außerordentlich vage und unbeständig: Hatte sich die »Commission on Social Justice« noch für eine Rentenversicherungs- und steuerliche Transferleistungen integrierende Mindestrente, eine »pension guarantee«, ausgesprochen, verwarfen die LabourStrategen diese Pläne schon bald als zu kostenträchtig.117 Im Wahlprogramm war schließlich nur noch die Rede davon, dass Labour in der Alterssicherung eine »Partnerschaft von öffentlicher und privater Vorsorge« anstrebe und die »Wahlfreiheit in der Alterssicherung« fördern wolle – wie das genau geschehen sollte, blieb weitgehend im Dunkeln.118 Einigermaßen klare Konturen besaß lediglich das, wovon sich New Labour absetzte. Im Grunde galt das für weite Teile des in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen britischen Wohlfahrtsstaats, der angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Globalisierung, von demographischer Alterung und Frauenemanzipation als paternalistisch und zu wenig aktivierend, als schwerfällig, nicht mehr zeitgemäß und dringend reformbedürftig angesehen wurde. Es war daher durchaus nicht weit hergeholt, wenn der »Guardian«, konfrontiert mit dem zeitlichen Zusammentreffen der konservativen Privatisierungspläne und der Selbststilisierung von New Labour als der »Partei der Sozialreform«,119 eine »Ablehnung des umfassenden, staatlichen Sozialversicherungsmodells à la William Beveridge durch beide großen Parteien« konstatierte und »Das Ende des Wohlfahrtsstaats« ausrief.120 Auch auf dem Gebiet der Alterssicherung wurden vor allem jene Forderungen und Positionen klar und erregten Aufsehen, von denen sich Labour nach 1994 verabschiedete. Das galt ganz besonders für die Weigerung der Partei führung, sich vor den Wahlen darauf festzulegen, im Falle eines Sieges die Basic State Pension wieder an die Löhne zu koppeln und damit zu jener Indexierungsmethode zurückzukehren, die Thatcher durch einen reinen Inflationsausgleich abgelöst hatte. Noch vor den Wahlen von 1992 hatte die Labour Party diese Forderung vertreten und damit den Tories eine Steilvorlage gegen die Partei des »tax and spend« geliefert, die Labour – so sahen das jedenfalls Blair und Brown, 117 Vgl. Social Justice, S. 267 ff.; Labour Drops Promise to Raise Pension, in: Financial Times, 29.6.1996. Für weitere Vorschläge, die auf der politischen Linken Anfang der 1990er Jahre ventilliert wurden, vgl. auch Johnson, Pensions Dilemma; Davies, Better Pensions. 118 New Labour Because Britain Deserves Better (http://www.politicsresources.net/area/ uk/man/lab97.htm). Vgl. An Unnessasary Gamble with All of Our Futures, in: Independent, 9.3.1997. 119 New Labour Because Britain Deserves Better (http://www.politicsresources.net/area/ uk/man/lab97.htm). 120 The End of the Welfare State, in: Guardian, 8.5.1996. Vgl. Goodbye Welfare, I’m in a State, in: Guardian, 9.5.1996; Social Justice, S. 16; Social Justice in a Changing World, S. i, 1 ff.
Die schleichende Krise der 1990er Jahre 241
aber auch viele Beobachter – den Wahlsieg gekostet hatte.121 Das weitere Zurückbleiben der staatlichen Grundrente gegenüber den Löhnen – das war allen Beteiligten klar – würde nicht nur die Armut unter den Alten vergrößern, sondern musste mit der beständig an Bedeutung verlierenden Basic State Pension zugleich die Axt an eine der ältesten Institutionen des britischen Wohlfahrtsstaats legen, deren normative Grundprinzipien – Universalismus und Gleichheit – sich als regulative Ideen der Alterssicherung tief in die politische Kultur des Vereinigten Königreichs eingegraben hatten. Entsprechend groß war der Widerstand, der den Labour-Modernisierern an dieser Stelle von Seiten der den alten Idealen anhängenden Parteimitglieder, der Gewerkschaften und auch der Rentnerorganisationen entgegenbrandete, die nach Jahren der lähmenden Starre seit den frühen 1990er Jahren wieder mehr Aktivität entfalteten. Die beiden wichtigsten Repräsentanten der innerparteilichen Opposition waren der Präsident der National Pensioners Convention, Jack Jones (83), und die 85jährige Barbara Castle, die den »link« zwischen Renten und Löhnen 1974 als Ministerin selbst gesetzlich verankert hatte.122 Der Konflikt über die Ankopplung der Renten an die Lohnbewegung spitzte sich im Vorfeld der Unterhauswahlen von 1997 zu einem der Hauptstreitpunkte innerhalb der Labour Party zu und bildete schließlich die »einzige ernsthafte Herausforderung«, die Blair innerparteilich zu überwinden hatte.123 Zum Showdown kam es auf dem letzten Parteitag vor der Wahl, Anfang Oktober 1996 in Blackpool, bei dem Barbara Castle, »eine der wenigen noch lebenden Legenden von Old Labour«, in einer vielbeachteten Rede forderte, die Rückkehr zur alten Anpassungspraxis in das Wahlprogramm der Labour Party aufzunehmen.124 Noch wenige Tage zuvor hatte ein Mitglied des Labour-Schatten kabinetts verlauten lassen: »Gegen Barbara Castle und Jack Jones zu kämpfen ist so, als ob man es mit Mutter Teresa und Nelson Mandela aufnimmt. Es wird sehr eng werden«.125 Doch gelang es Gordon Brown, in letzter Minute die für die neue Parteiführung heikle Situation zu entschärfen, indem er mit Jones und den Gewerkschaften eine Übereinkunft erreichte, die im Gegenzug für den Oppo sitionsverzicht in der Rentenfrage die Bildung einer Regierungskommission 121 Vgl. Fielding, Labour Party, S. 96–98, 189; Tax, Credibility and Labour’s First Budget, in: Financial Times, 1.10.1996; Unions Fight Blair over Pensions, in: Independent, 27.9.1996; Barbara’s Back, and This Time It’s Personal, in: Independent, 1.12.1996. 122 Castle griff darüber hinaus zusammen mit Peter Townsend mit ihrer Kampfschrift »We Can Afford the Welfare State« in die Debatte ein. Vgl. Castle u. Townsend, We Can Afford; Here’s How We Can All Be Better Off, in: Guardian, 17.9.1996; Battling Bab’s Last Fight, in: Guardian, 30.7.1996. 123 The Passion of Tony Blair, in: Economist, 5.10.1996. 124 Lady Castle Touches on Lingering Doubt, in: Financal Times, 3.10.1996. Vgl. Harriet and the Heroine: Battle Royal in Blackpool, in: Independent, 28.9.1996; Seven Sources of Strife for Labour, in: Independent, 29.9.1996; 125 Unions Fight Blair over Pensions, in: Independent, 27.9.1996.
242 Two Nations in Old Age direkt nach der gewonnenen Wahl vorsah, die sich mit der Zukunft der britischen Alterssicherung befassen sollte.126 Hinzu kam, dass viele Parteitagsdelegierte die New Labour-Spitze nicht kurz vor den Wahlen durch offen zur Schau gestellte parteiinterne Differenzen schwächen wollten. Gleichzeitig verwies New Labours ostentativer Bruch mit der Parteitradition, ein Wahlversprechen zugunsten einer lohnorientierten Rentenanpassung abzugeben, auf die geringe Bedeutung, welche die Parteistrategen dem »grey vote«, also dem Wahlverhalten der Älteren, beimaßen, da sie der Überzeugung waren, dass diese in ihren Parteipräferenzen festgelegt waren. Einem Repräsentanten von Age Concern gegenüber bekannte Peter Mandelson, einer der Architekten des Wahlsieges von 1997, er sei an der Meinung älterer Wähler nicht sonderlich interessiert, »weil sie ihr Stimmverhalten nicht ändern«.127 Über Labours zukünftigen Kurs in der Frage der Alterssicherung sagten die Aufgabe bisheriger Forderungen und die vagen Reformankündigungen freilich wenig aus. Insofern war auch New Labours Position eher Ausdruck des wachsenden Problemdrucks und der schleichenden Krise der 1990er Jahre, als dass sie den Keim einer Lösung des Rentendilemmas hätte erkennen lassen.
126 Vgl. Brown Brokers Agreement with Pension Rebels, in: Financial Times, 30.9.1996; Modernisers Set Their Sights on the Big One, in: Financial Times, 1.10.1996; Castle Declares War in Pensions Figures Fight, in: Guardian, 1.10.1996; Threat of Leadership Defeat on Pensions Recedes, in: Financial Times, 2.10.1996; Last-ditch Win Echoes Old Battle, in: Independent, 3.10.1996. 127 Zit. nach Vincent, Patterson u. Wale, Politics, S. 74. Vgl. auch There’s No Future in a Peter Pan Society, in: Independent, 8.3.1997.
VI. Kontinuität nach dem Boom – Die Bundesrepublik bis zur deutschen Vereinigung
1.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre
Die erste Ölkrise von 1973 markierte für die westdeutsche Gesellschaft das Ende eines beispiellosen Wohlstandswachstums, das die Geschichte der Bundesrepublik seit ihren frühen Tagen begleitet hatte. Ein jahresdurchschnittlicher Anstieg der Nettorealverdienste der abhängig Beschäftigten von 4,6 % im Zeitraum von 1950 bis 1972 – in der Summe bedeutete das fast eine Verdreifachung der Realeinkommen innerhalb von nur zwei Jahrzehnten! – hatte zu einem »Fahrstuhleffekt« (Ulrich Beck) geführt, der die gesamte bundesdeutsche Gesellschaft in ihrem Lebensstandard und ihren Konsummöglichkeiten um mehrere Etagen nach oben beförderte. Auch nach dem Ende des langjährigen wirtschaftlichen Booms jedoch stiegen die Realeinkommen zunächst noch durchweg von Jahr zu Jahr an – freilich mit einem deutlich langsameren Tempo von 1,5 % im Jahresdurchschnitt von 1973 bis 1979. Erst nach der zweiten Ölkrise von 1979 drehte die Entwicklung der Nettorealverdienste dauerhaft ins Negative, so dass diese sich von 1980 bis 1985 insgesamt um immerhin 6,8 % verringerten, bevor der Aufschwung am Ende der 1980er Jahre dann wieder einen Gesamtanstieg um 11,8 % bis 1990 mit sich brachte.1 Trotz der verlangsamten und phasenweise sogar rückläufigen Einkommensentwicklung setzte sich jedoch die allgemeine Erhöhung des materiellen Lebensstandards in vielerlei Hinsicht auch in den beiden Dekaden nach 1973 noch weiter fort: Die Größe der Wohnungen und Häuser nahm weiter zu, ihre Ausstattung wurde komfortabler; immer mehr westdeutsche Haushalte verfügten über ein Auto (1973: 55 %, 1988: 68 %), ein Telefon (51 %, 93 %) und langlebige technische Konsumgüter wie Waschmaschine (75 %, 86 %) oder Gefrierschrank (28 %, 70 %).2 Im Hinblick auf die Spreizung der Einkommen durchlief die westdeutsche Gesellschaft in den 1970er und 1980er Jahren die Tiefphase jener U-förmigen 1 BMAS (Hg.), Statistisches Taschenbuch 2004, Tab. 1.15: Durchschnittliche Abzüge und Nettorealverdienste; eigene Berechnungen. Nettorealverdienste in Preisen von 1995; wegen einer Revision der Berechnungsgrundlage ohne 1970. 2 Zahlen: Geißler, Sozialstruktur, S. 74. Vgl. ebd., S. 69 ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 76 ff.; Reckendrees, Konsummuster.
244 Kontinuität nach dem Boom Entwicklung, die für viele westliche Industriegesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statistisch gut dokumentiert ist.3 Nach einem leichten Rückgang der Einkommensungleichheit seit dem Zweiten Weltkrieg, heißt das, verharrte sie in dieser Zeit auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, bevor sie danach wieder zunahm. Zwar lässt die Entwicklung der in der Soziologie häufig herangezogenen Ungleichheitsmaße (Gini-Koeffizient, MLD, AtkinsonMaß) erkennen, dass die sog. Primärverteilung: die Verteilung der Bruttoäquivalenzeinkommen vor Steuern und Transfers, schon seit den frühen 1970er Jahren einen anhaltenden Trend zu mehr Ungleichheit aufwies.4 Doch schlug das zunehmende Auseinanderstreben der Markteinkommen einstweilen noch nicht auf die Sekundärverteilung der den Haushalten im Endeffekt zur Verfügung stehenden Nettoäquivalenzeinkommen durch: Völlig anders als in Großbritannien, das seit den frühen 1980er Jahren eine regelrechte Ungleichheitsexplosion erlebte (vgl. Kap. V.2), blieb der zur Messung der Einkommensspreizung oft gebrauchte Gini-Koeffizient für die westdeutsche Gesellschaft über die 1970er und 1980er Jahre hinweg weitgehend stabil. Lediglich der für Veränderungen im unteren Einkommensbereich besonders sensible Theil-Index (MLD) und der sich auf niedrigem Niveau abspielende Anstieg der Rate relativer Armut deuteten darauf hin, dass sich im Laufe der 1980er Jahre die Gewichte leicht zuungunsten des untersten Einkommensquintils verschoben.5 Aufs Ganze gesehen jedoch scheinen wohlfahrtsstaatliche Sicherung und Steuersystem in der Bundesrepublik die vom Markt ausgehenden Ungleichheitseffekte noch bis weit in die 1980er Jahre hinein ganz überwiegend abgedämpft und ihr Durchschlagen auf die Ebene der Haushaltsnettoeinkommen verhindert zu haben. Es ist diese Folie einer im historischen und internationalen Vergleich moderaten Ungleichheit zusammen mit der über Jahrzehnte andauernden Erfahrung steigenden Wohlstands und Massenkonsums, welche den lebensgeschichtlichen Hintergrund für die in der deutschen Soziologie seit der Mitte der 1980er Jahre zunehmend populäre These vom Verblassen klassengesellschaftlicher Hierarchien bildete, die sich eng mit der Betonung von Individualisierungsprozessen, der Pluralisierung von Lebensstilen sowie neuer, quer zu der traditionalen Schichtungsstruktur verlaufender Disparitäten verband.6 Der Aufstieg eines ähnlichen soziologischen Theorieansatzes im zur gleichen Zeit eine drama 3 Vgl. nur Alderson u. Nielsen, Globalisierung; Gottschalk u. Smeeding, Empirical Evidence. 4 Vgl. Becker u. Hauser, Anatomie, S. 92–96; Hauser u. Becker, Einkommensverteilung im Querschnitt, S. 84–88. 5 Vgl. Becker u. Hauser, Anatomie, S. 61 f., 96 ff., 115 ff.; Hauser u. Becker, Wird unsere Einkommensverteilung immer ungleicher?, S. 96 ff.; Becker, Entwicklung von Einkommensverteilung, S. 46 ff.; Hauser u. Becker, Einkommensverteilung im Querschnitt, S. 88 ff.; Hauser u. Becker, Zur Dynamik, S. 94 ff.; Birkel, Einkommensungleichheit, S. 175 ff. 6 Äußerst einflussreich: Beck, Risikogesellschaft, S. 121–160. Vgl. auch Hradil, Soziale Ungleichheit, S. 405–484; Kreckel, Theorie.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 245
tische Zunahme materieller Ungleichheit erlebenden Großbritannien erscheint nur schwer vorstellbar. Welchen Ort nahmen die Alten im gesellschaftlichen Gefüge der Bundes republik Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren ein? Insbesondere die Daten der seit den 1960er Jahren in Fünfjahresabständen durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erlauben es, die Einkommensposition der Älteren einigermaßen detailliert zu rekonstruieren. Sie zeigen, dass die durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen der über 65jährigen Westdeutschen im Beobachtungszeitraum nur noch knapp – 1973 um ca. 7 %, 1988 um 5 % – unter dem gesamtgesellschaftlichen Mittel lagen. Noch besser und sogar vorteilhafter als die jeder anderen Altersgruppe stellte sich die deutlich über dem Mittel liegende Einkommensposition der 55 bis 64jährigen dar, die sich zum guten Teil ebenfalls schon im Ruhe- oder Vorruhestand befanden.7 Dabei verbirgt der Durchschnittswert in beiden Fällen ein erhebliches Maß an Intra-Gruppenungleichheit, das die Einkommensspreizung in den jüngeren Altersgruppen übertraf. Verschiedene Verteilungsmaße – der als mittlere logarithmische Abweichung (MLD) berechnete Theil-Index ebenso wie der Gini-Koeffizient – weisen darauf hin, dass die Einkommen innerhalb der Gruppe der über 65jährigen in Westdeutschland bis weit in die 1980er Jahre hinein ungleicher verteilt waren als in jeder anderen Altersgruppe; erst danach scheint der vor allem die Altersgruppen unter 65 erfassende Ungleichheitszuwachs hier zu einer Änderung geführt zu haben.8 Der Vergleich mit Großbritannien lässt vor allem die Unterschiede in der sozio-ökonomischen Lage der Alten scharf hervortreten: In der Bundesrepublik war die relative Einkommensposition der Älteren insgesamt deutlich besser als im Vereinigten Königreich. Gleichzeitig waren ihre Einkommen in den 1970er und 1980er Jahren ungleicher verteilt als jene der Jüngeren, während in Großbritannien das Gegenteil der Fall war.9 Das insgesamt hohe Ausmaß an materieller Ungleichheit unter den Älteren – das lassen die Daten der repräsentativen Erhebung »Alterssicherung in Deutschland«, die 1986 erstmals im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt wurde, klar erkennen – war das Resultat einer Überlagerung verschiedener Ungleichheitsdimensionen, von denen es insbesondere drei hervorzuheben gilt: Erstens schlug sich hierin die Wirkungsweise des auf Beitrags-Leistungs-Äquivalenz und Statuserhalt hin ausgerichteten deutschen Alterssicherungssystems nieder. Während etwa Ungelernte mit Volksschulbildung Mitte der 1980er Jahre nur auf ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von 1561 DM kamen, waren es bei den ehemaligen leitenden Angestellten mit Hochschulabschluss 7 Vgl. Becker u. Hauser, Anatomie, S. 158 f., Tab. 7.4a. 8 Vgl. ebd. auf der Grundlage der EVS sowie Schwarze, Einfluss, S. 152, Tab. 2, auf der Basis des SOEP. 9 Vgl. oben, Kap. V.2.
246 Kontinuität nach dem Boom 3798 DM.10 Zweitens gab es eine deutliche Kluft zwischen den Geschlechtern. Am schlechtesten war die Situation der ledigen und geschiedenen Frauen, von denen 37 % in den einkommensschwachen Gruppen bis 1000 DM vertreten waren, während dies lediglich für 17 % der alleinstehenden Männer zutraf. Aber auch die Witwen waren schlechter als die Witwer gestellt, da ihnen – das galt jedenfalls für den ganz überwiegenden Typ der Ehe mit einem männlichen Hauptverdiener – lediglich eine Hinterbliebenenrente von 60 % zustand, wohingegen die Witwer ihre Rente aufgrund ihres eigenen Leistungsanspruchs auch nach dem Tod der Ehefrau in voller Höhe weiterbezogen.11 Die dritte wichtige Ungleichheitslinie verlief zwischen den Rentnern der Gesetzlichen Rentenversicherung und den Pensionären. Selbst wenn man die unterschiedlichen Qualifikationsniveaus in öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft sowie Zusatzsicherungsleistungen in Rechnung stellte, lagen die Nettoeinkommen der ehemaligen Beamten noch um zwischen 28 % und 36 % über jenen der GRV-Rentner.12 Konzentriert man sich auf den unteren Rand der Einkommen und legt – wie das hier auch an anderer Stelle geschehen ist – ein am Medianeinkommen orientiertes relatives Armutskonzept zugrunde, ergibt sich der in Graphik 8 dokumentierte Verlauf. Anders als in Großbritannien, wo die Armutsquoten insgesamt durchgehend auf einem höheren Niveau lagen und darüber hinaus die Armut allgemein ebenso wie unter den Rentnern seit den frühen 1980er Jahren deutlich anstieg (vgl. oben, Kap. V.2, Graphik 6), weisen die Armutsraten für die über 65jährigen und die Gesamtbevölkerung in Westdeutschland eine gegenläufige Tendenz auf: Während der Anteil jener, die weniger als 60 % des Medianeinkommens erhielten, im Laufe der 1970er und 1980er Jahre auf die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt bezogen wieder leicht anstieg, setzte sich der Abwärtstrend der Altersarmut auch in dieser Zeit weiter fort. Das hatte zur Folge, dass die Quote der Altersarmut in den ausgehenden 1980er Jahren erstmals die gesamtgesellschaftliche Armutsrate unterschritt. Darin spiegelte sich zum einen die Verbesserung der kollektiven Einkommensposition der Älteren wieder. In ihr schlug sich die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen von 1972, die viele »Kleinrenten« angehoben hatte, ebenso nieder wie die Tat sache, dass nun mehr und mehr Menschen das Rentenalter erreichten, deren Erwerbs- und damit Beitragsbiographien von den günstigen Verhältnissen des »Wirtschaftswunders« geprägt waren. Zum anderen reflektierte die Entwicklung der Armutsraten den Abstieg und das quantitative Anwachsen anderer Bevölkerungsgruppen, die die Alten zunehmend aus den untersten Bereichen des gesellschaftlichen Gefüges verdrängten. Zu ihnen gehörten insbesondere 10 BMAS (Hg.), ASID ’86. Zusammenfassender Bericht, S. 101. 11 Ebd., S. 110 ff. 12 Ebd., S. 150 f. Vgl. auch die Gegenüberstellung der Einkommenskurven für GRV-Rentner und Pensionäre in: Transfer-Enquête-Kommission, Zur Einkommenslage der Rentner, S. 98 f.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 247
Graphik 8: Quoten relativer Armut in Westdeutschland, 1973–1993 (in %) 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1973
1978 Ges., 50 %
1983 65+, 50 %
1988 Ges., 60 %
1993
65+, 60 %
Prozentsatz aller bzw. der über 65jährigen Westdeutschen, die über ein Einkommen unterhalb der x%-Marke des Median-Nettoäquivalenzeinkommens verfügen. Alte OECD -Skala. Quelle: Hauser u. Becker, Einkommensverteilung im Querschnitt, S. 119, Tab. 7.1.4.
die Alleinerziehenden, unter denen der Anteil jener, die über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügten, bis 1988 auf 33,1 %, wenn sie nur ein Kind besaßen, und sogar auf 53,2 % bei zwei und mehr Kindern kletterte. Eine weitere, sich hiermit z. T. überschneidende herausgehobene Armutsgruppe, die in den ökonomischen Krisen der 1970er und 1980er Jahre rasch anwuchs, waren die Arbeitslosen, unter denen die Quote relativer Armut 1988 einen Spitzenwert von 58,9 % erreichte.13 Und auch die in Deutschland lebenden Ausländer, die seit den 1980er Jahren weit häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen waren als die Einheimischen, bildeten eine Gruppe mit hoher Armutsneigung, deren Armutsrate (1988: 23,9 %) jene der Deutschen um fast das Doppelte übertraf.14 Es gehört zu den Paradoxien der neueren deutschen Sozialgeschichte, dass die Armut Mitte der 1970er Jahre just zu dem Zeitpunkt ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zurückkehrte, als die Armutsrate ihren Jahrhundert13 Hauser u. Becker, Einkommensverteilung im Querschnitt, S. 128, Tab. 7.1.8; ebd., S. 132, Tab. 7.1.10. Grundlage: Alte OECD -Skala. 14 BMAS (Hg.), Lebenslagen, S. 269, Anhangtab. IX .13.
248 Kontinuität nach dem Boom tiefstand erreichte. Mehr noch: Mit der Altersarmut rückte nun gerade jener Armutstyp in den Mittelpunkt, bei dem der stärkste und nachhaltigste Rückgang zu verzeichnen war. Den Anstoß für diesen erstaunlichen Umschwung bildete die Debatte über die »Neue Soziale Frage«, welche die CDU-Programmstrategen, allen voran Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, mit großem Nachdruck lancierten. Geißler, damals Sozialminister von Rheinland-Pfalz, war bereits 1974 mit einer »Anspruch und Wirklichkeit« betitelten Studie hervorgetreten, in der er auf der Grundlage einer »reale[n] Sozialwirtschaft-Bilanz für ausgewählte soziale Gruppen« mit der Sozialpolitik der sozial-liberalen Koalition abrechnete.15 Noch im gleichen Jahr erarbeitete er ein Papier für die Grundsatzkommission der CDU, das die »neue[n] große[n] soziale[n] Probleme und Konflikte« skizzierte und dessen Gedanken unter dem Punkt »Gesellschaftspolitische Aufgaben und die Neue Soziale Frage« Eingang in die »Mannheimer Erklärung« der CDU von 1975 fanden.16 1976 legte Geißler seine Argumente und Thesen noch einmal in Buchform vor. Aufgrund der breiten Diskussion, die sie anstieß, muss Geißlers Publikation – von Franz Alt im »Spiegel« als »Auferstehung« der katholischen Soziallehre gefeiert17 – zu »den wichtigsten Dokumenten der Sozialpolitik der 1970er Jahre« gerechnet werden.18 Der Kern der »Neuen Sozialen Frage« – das war die »neue Armut«, die Geißler in der gesellschaftlichen Mitte der prosperierenden Bundesrepublik entdeckte. Unter Zugrundelegung der Bedarfssätze des Bundessozialhilfegesetzes errechnete er für 1974 eine Anzahl von 5,8 Millionen »verdeckten« Armen mit einem Nettoeinkommen unterhalb des Sozialhilfeniveaus – fast achtmal so viele Menschen, wie im selben Jahr tatsächlich »laufende Hilfe zum Lebensunterhalt« bezogen.19 1,1 Millionen Rentner-Haushalte mit 2,3 Millionen Personen bildeten unter den »neuen Armen« die größte Gruppe. Als charakteristische Merkmale der »neuen Armut« identifizierte Geißler »[w]eibliches Geschlecht, Alter und Kinderreichtum«.20 Gemeinsam war den meisten von ihr Betroffenen, dass sie zu den »Nichtorganisierten« und »Nichtproduzenten« gehörten, die sich in der 15 Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport, Rheinland-Pfalz, Anspruch und Wirklichkeit. 16 Geißers Vorlage findet sich in: Geißler, Neue Soziale Frage, S. 144–149. Die »Mannheimer Erklärung« ist abgedruckt in: Heck (Hg.), Die CDU und ihr Programm, S. 145–175. Vgl. auch Geyer, Rahmenbedingungen, S. 31–34; Bösch, Macht, S. 35–37. 17 Freiheit für wen, für was?, in: Der Spiegel, 19.7.1976. 18 Geyer, Rahmenbedingungen, S. 33. 19 Geißler, Neue Soziale Frage, S. 48 f. 1974 bezogen 768.000 Menschen »laufende Hilfe zum Lebensunterhalt« [BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 217, Tab. 178]. Geißler (Neue Soziale Frage, S. 46) geht aus ungeklärten Gründen davon aus, dass es 1973 918.000 Empfänger der »laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt« gab. Die Statistik weist 676.000 Personen aus [BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 217, Tab. 178]. 20 Geißler, Neue Soziale Frage, S. 29. Vgl. auch Armut im Wohlfahrtsstaat, UiD Dokumentation 49/1975; Fink, Armut.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 249
bundesdeutschen Gesellschaft einer strukturellen »Unterprivilegierung« ausgesetzt sahen, da sie – wie Alte, Hausfrauen und Kinder – nicht direkt in den volkswirtschaftlichen Produktionsprozess eingebunden waren und daher »über kein wirtschaftlich wirksames Leistungsverweigerungs- und damit über kein Droh- oder Störpotential verfüg[t]en«.21 Hinter dieser Argumentation steckte die insbesondere von Biedenkopf propagierte Vorstellung einer Verschiebung der dominierenden gesellschaftlichen Konfliktlinie.22 Im Mittelpunkt der »Alten Sozialen Frage« des 19. Jahrhunderts hatte der Gegensatz von Kapital und Arbeit gestanden – entlang seiner Grenzen hatten sich die wichtigsten Interessenverbände herausgebildet, auf seine Entschärfung war die Sozialpolitik traditionell ausgerichtet. Inzwischen konnte der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu einem guten Teil als überwunden gelten. »Zu den Mächtigen unserer Gesellschaft«, konstatierte Geißler, gehörten »heute nicht mehr allein die Kapitaleigner. Mächtig sind Kapitaleigner und Arbeitnehmer zusammen«.23 Die entscheidende gesellschaftliche Konfliktlinie verlaufe daher nicht länger zwischen Arbeit und Kapital, sondern zwischen den in schlagkräftigen Verbänden organisierten Interessen und den »nichtorganisierten Bevölkerungsgruppen« – »alte Menschen, Mütter mit Kindern oder die nicht mehr Arbeitsfähigen« –, die sich systematisch Benachteiligungen ausgesetzt sahen, da sie der Macht der Verbände nichts entgegenzusetzen hatten.24 Diese veränderte gesellschaftliche Konstellation schlug sich insbesondere im Aufstieg von zwei neuen Konflikten nieder: dem »Generationenkonflikt« und dem »Geschlechterkonflikt«, die Geißler zunehmend an die Stelle des alten Klassengegensatzes treten sah und die er als neue Kernfelder sozialpolitischen Handelns reklamierte.25 Die »Neue Soziale Frage« war ein eigentümlicher Zwitter. Auf der einen Seite war sie Gesellschaftsanalyse mit theoretischem Anspruch – und zeichnete dabei umfangreiche Anleihen, angefangen von Mancur Olsons »Theorie des kollektiven Handelns« über die die Überlagerung des Klassengegensatzes durch »horizontale« Ungleichheiten der Lebensumstände betonende »Disparitäten-Theorie« Claus Offes bis zur Diagnose der »unruhigen Gesellschaft« von Helmut Klages.26 Die Grundbedingung für ihre breite Rezeption und die von ihr ausgehende 21 Geißler, Neue Soziale Frage, S. 16. 22 Vgl. etwa Unsere Politik für Deutschland. UiD-Interview mit dem Generalsekretär der CDU, Professor Dr. Kurt H. Biedenkopf, zur »Mannheimer Erklärung«, UiD Dokumentation 24/1975. 23 Geißer, Neue Soziale Frage, S. 15. 24 »Mannheimer Erklärung«, in: Heck (Hg.), Die CDU und ihr Programm, S. 169. 25 Vgl. Geißler, Neue Soziale Frage, S. 21–26. 26 Vgl. Olson, Logik; Offe, Politische Herrschaft; Klages, Die unruhige Gesellschaft; Dettling, »Neue Soziale Frage«. Zum Absatz vgl. auch Leibfried u. a., Zeit der Armut, S. 222; Hauser u. Neumann, Armut, S. 240; Leisering, Zwischen Verdrängung, S. 494.
250 Kontinuität nach dem Boom Wirkung lag darin, dass die neue Aufmerksamkeit, die sie den Armutslagen im Zentrum der deutschen Gesellschaft – im Gegensatz zur zuvor vorherrschenden Sicht der Armut als »Randgruppenproblem« – entgegenbrachte, den unter dem Eindruck von Ölpreiskrise und Rezession dramatisch sich wandelnden Erfahrungen und Zukunftserwartungen der Zeitgenossen entsprach: 1976 hatte sich die Anzahl der Sozialhilfeempfänger gegenüber dem Beginn der Dekade um über 70 % erhöht, 1975 hatte die Arbeitslosenzahl zum ersten Mal seit zwanzig Jahren die Ein-Millionenmarke überschritten;27 der im »Wirtschaftswunder« erworbene Optimismus machte in raschem Tempo einer tiefen Verunsicherung Platz. Und auch die mit der »Neuen Sozialen Frage« verbundene Sozialstaatskritik fiel angesichts des in der wirtschaftlichen Krise seit 1974 schnell anschwellenden Haushaltsdefizits auf fruchtbaren Boden. Das Neue der von Geißler und anderen vorgetragenen Kritik bestand dabei weniger darin, dass sie Armut als »sozialstaatlich verursacht« beschrieb.28 Das war auch in der Sozialreformdebatte der 1950er Jahre nicht anders gewesen. Doch waren damals Defizite im sozialen Sicherungssystem für die weit verbreitete Armut verantwortlich gemacht worden, die man durch einen allgemeinen Leistungsausbau beseitigen zu können glaubte.29 Der Erklärungsansatz der »Neuen Sozialen Frage« dagegen betrachtete nicht ein generell unzureichendes Leistungsniveau als ursächlich, sondern strukturelle Ungerechtigkeiten des deutschen Sozialstaats, in dem die Nichtorganisierten zugunsten der organisierten Arbeitnehmerschaft benachteiligt wurden. Nicht breit angelegte sozialstaatliche Expansion war hier der Fluchtpunkt, sondern Umbau der bestehenden sozialpolitischen Sicherungsstruktur. Auf der anderen Seite hatte die »Neue Soziale Frage« eine klare parteipolitische Stoßrichtung. Sie zielte gegen die SPD und die Gewerkschaften, die beide in ihrem Licht nicht nur von Fürsprechern der gesellschaftlich Unterprivilegierten zu Organisationen der Mächtigen mutierten, sondern durch ihre Ausrichtung an der »Alten Sozialen Frage« auch als hoffnungslos überlebt erschienen. Gleichzeitig machte sich die CDU zum Anwalt der »wirklich« Schwachen und gewann damit an sozialpolitischem Profil. Entsprechend empfindsam fiel die Reaktion auf Seiten der Gewerkschaften und Sozialdemokraten aus. Während in der gewerkschaftlichen Presse der »antigewerkschaftliche Affekt« der »Neuen sozialen Frage« und das von ihr gezeichnete »völlig verzerrte Bild der wirtschaftlichen Lage unserer Bürger« angeprangert wurden,30 kam eine im SPD geführten Arbeitsministerium entstandene interne Ausarbeitung nicht umhin, die »brillante politische Verkaufstaktik, die in die ›neue soziale Frage‹ investiert 27 BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 217, Tab. 178, sowie S. 120, Tab. 89. 28 Leisering, Zwischen Verdrängung, S. 494. 29 Vgl. oben, Kap. II.1. 30 Zitate: Himmelmann, Zur Problematik, S. 76; Brenner, Ein leichtfertiges Spiel, S. 293.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 251
worden ist«, zu bewundern. Die »Neue Soziale Frage«, ließ sich der auf mögliche sozialdemokratische Gegenstrategien zielende Verfasser vernehmen, enthalte »Hinweise auf sehr ernstzunehmende Probleme«. Die »politische Durchschlagskraft der ›neuen sozialen Frage‹« dürfe »keinesfalls unterschätzt werden«; mit ihr formuliere die CDU »erstmals eine geschlossene sozialpolitische Strategie … und erschein[e] schon deshalb als moderat und progressiv«. Darüber hinaus mache »[d]as Plädoyer für verbesserte und verstärkte Umverteilung zugunsten sozial schwacher Gruppen … die CDU für solche Gruppen attraktiver« – das gelte »insbesondere auch für Rentner«. Nicht zuletzt die Wahrnehmung, dass es »allmählich [zu] eine[r] in der Bevölkerung verbreitete[n] Überzeugung« werde, »[d]ass das System der sozialen Sicherung in der heutigen Form ungerecht sei«, so das Memorandum weiter, zwinge SPD und Gewerkschaften dazu, nicht nur defensiv zu agieren, sondern eine »echte inhaltliche Alternative« zu entwickeln, die den von der »Neuen Sozialen Frage« aufgeworfenen »tatsächlich vor handene[n] gesellschaftspolitische[n] Probleme[n]« gerecht werde und zugleich »semantisch-wahltaktisch« so zugeschnitten sei, dass sie »auch die gewerkschaftsfernen Bevölkerungsgruppen tendenziell ansprechen könne«.31 Wichtiger noch als die tagespolitischen Auseinandersetzungen, die sie auslöste, war der Impuls, der von der »Neuen Sozialen Frage« auf die Armuts diskussion und -forschung in der Bundesrepublik ausging. Zuvor – seit den späten 1960er Jahren – hatte der Armutsbegriff lediglich im Kontext der »Randgruppen«-Problematik eine Rolle gespielt; dabei war überdies der Aspekt des materiellen Mangels gegenüber den vielfältigen anderen Dimensionen der »Unterprivilegierung« und Stigmatisierung in seiner Bedeutung eher zurückgetreten. Das änderte sich seit der Mitte der 1970er Jahre grundlegend. Angestoßen durch die sozialpolitische Intervention der CDU, rückte nun wieder die Frage nach dem Ausmaß materieller Armut in der bundesdeutschen Gesellschaft in den Vordergrund. Der sich intensivierenden Armutsdiskussion korrespondierte eine Vertiefung und Verbreiterung des Stroms sozialwissenschaftlicher Forschung, die sich – häufig in kritischer Auseinandersetzung mit Geißlers Zahlen und zu einem Gutteil im Rahmen des Frankfurt-Mannheimer SPES -Projekts (Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatorensystem) betrieben – der quantitativen Erfassung materieller Armut mit ihren methodischen Problemen widmete.32 Verstärkend in die gleiche Richtung wirkte eine Initiative, die von der Ebene der Europäischen Gemeinschaft ausging: Von 1975 bis 1980 legte die Europäische Kommission ihr erstes Aktionsprogramm zur Erforschung 31 Thesen zur »Neuen sozialen Frage« der CDU, ohne Datum (wohl 1975) u. Verfasser, S. 7, 9, 11 f. BArch, B 149/51848. 32 Vgl. Hauser u. a., Armut, Niedrigeinkommen, S. 22–24; Hauser u. Neumann, Armut, S. 240 f.; Buhr u. a., Armutspolitik, S. 517 f.; Leibfried u. a., Zeit der Armut, S. 222 f.; Klanberg, Armut und ökonomische Ungleichheit; ders., Materielle Armut; Kortmann, Zur Armutsdiskussion; Krupp u. Glatzer (Hg.), Umverteilung.
252 Kontinuität nach dem Boom und Bekämpfung von Armut in den Mitgliedsstaaten auf. In diesem Kontext entstanden nicht nur international vergleichende Studien – wie etwa jene zur Wahrnehmung von Armut in der europäischen Bevölkerung –,33 sondern auch Berichte über die Armutssituation in den einzelnen EG -Mitgliedsländern. Auf diese Weise lag 1981 ein erster umfassender Armutsbericht für die Bundesrepublik Deutschland vor, in dessen Zentrum die Einkommensarmut stand und der sich in seinem Verständnis von Armut an dem international inzwischen vorherrschenden relativen Armutsbegriff orientierte.34 Wenn sie auch Geißlers Daten z. T. deutlich nach unten korrigierten, bestä tigten die Armutsuntersuchungen der 1970er Jahre doch im wesentlichen, dass die Alten die wichtigste Armutsgruppe darstellten. Das ist aus heutiger Sicht wenig erstaunlich, weil die Armutsstudien auf Daten der frühen 1970er Jahre – insbesondere jenen der EVS von 1973 – basierten und damit eine Situation reflektierten, in der die relative Armut unter den über 65jährigen den gesamtgesellschaftlichen Wert noch weit überstieg und die für die Alten günstige Entwicklung der Folgejahre noch bevorstand. »Zu der überdurchschnittlich häufigen Armut alter Menschen«, resümierte etwa der durch die EG angestoßene Armutsbericht von 1981, »liegen wohl die meisten empirischen Bestätigungen vor«.35 Dafür ließ sich nicht nur anführen, dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter den Alten 1972 mit 3,5 % bei den Frauen und 2,6 % bei den Männern jeweils um mehr als das Doppelte über dem Durchschnitt für Frauen und Männer insgesamt lag. Dafür sprach auch, dass der von den Armutsforschern ermittelte Prozentsatz der »verdeckten Armut« – jener Westdeutschen also, deren Einkommen die Sozialhilfeschwelle unterschritt und die aus Unwissenheit oder Scham trotzdem keine Sozialhilfe in Anspruch nahmen – bei den Alten mit 6,5 % den für alle Altersgruppen geltenden Satz von 1,4 % weit überstieg. Damit lag die errechnete Dunkelziffer der »verdeckt Armen« unter den Alten mit weit über 200 % um mehr als das Doppelte über dem Durchschnittswert für alle Altersgruppen. Insgesamt, so schätzte man, stellten die über 65jährigen »rund 60 % aller verdeckt Armen in der Bundesrepublik«.36 Armut im Alter – auch das ließ sich den Armutsstudien entnehmen und es stand in flagrantem Gegensatz zu der mit der »Neuen Sozialen Frage« verbundenen These vom Verblassen der »alten«, vertikalen Ungleichheiten – korrelierte eng mit schlechter Schul- und Berufsausbildung, der Herkunft aus Arbeiterfamilien so33 Commission of the European Communities, Perception of Poverty. Vgl. hierzu auch Estor, Betr.: Armut, hier: EG -Studie: The Perception of Poverty in Europe, 17.10.1977, BArch, B 149/51848. 34 Hauser u. a., Armut, Niedrigeinkommen. Vgl. ebd., S. 19 f.; Hauser u. Neumann, Armut, S. 241. 35 Hauser u. a., Armut, Niedrigeinkommen, S. 246. 36 Ebd., S. 247. Für die Zahlen: ebd., S. 48, Tab. 4.7, S. 84, Tab. 4.22, eigene Berechnungen. Vgl. auch Bujard u. Lange, Armut, S. 82–84.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 253
wie der früheren, teilweise unterbrochenen Tätigkeit in »am unteren Ansehensund Entlohnungsende rangierenden« Berufen.37 Darüber hinaus gab es klare Indizien dafür, dass materieller Mangel im Alter in enger Beziehung zu anderen Formen der Benachteiligung stand: Schlechte Wohnverhältnisse, inadäquate Beheizung und soziale Isolation traten mit besonderer Häufigkeit bei jenen Alten auf, die nur über ein niedriges Einkommen verfügten.38 Eine eigentümliche Blindstelle dagegen stellte die empirische Untersuchung des Zusammenhangs von Armut und Gesundheitssituation dar – das tritt insbesondere vor der Kontrastfolie Großbritanniens hervor, wo dieser Aspekt in der Ungleichheitsdiskussion eine zentrale Rolle spielte (vgl. oben, Kap. V.2). Die »Wiederentdeckung« eines zwar nicht enormen, aber doch nicht zu vernachlässigenden Potentials an Altersarmut prägte den sozialpolitischen Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen in der Bundesrepublik Deutschland bis tief in die 1980er Jahre hinein. Sie fand sich auch noch einmal durch den 1979 vorliegenden Zwischenbericht der gut zwei Jahre zuvor von der Bundesregierung eingesetzten »Transfer-Enquête-Kommission« bestätigt, die die Auswirkungen staatlicher Transfers auf das verfügbare Einkommen untersuchen und sich dabei nicht zufällig zuerst der »Einkommenslage der Rentner« zuwenden sollte.39 Ebenso wie der Bericht der seit 1981 tätigen »Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme« wies dabei die »Transfer-Enquête-Kommission« gleichzeitig auf die lückenhafte und dem aktuellen Stand stets um mehrere Jahre hinterherhinkende empirische Datenlage hin40 – ein Defizit, auf das die Bundesregierung schließlich durch die auf die Einkommenssituation der über 55jährigen bezogene Untersuchung »Alterssicherung in Deutschland« (ASID) reagierte, für die das Meinungsforschungsinstitut »Infratest Sozialforschung« erstmals 1986 und danach immer wieder in mehrjährigem Abstand Daten erhob.41 Bis dahin, vor allem aber bis sich unter dem Eindruck rasant steigender Arbeitslosenzahlen gegen Mitte der 1980er Jahre der Schwerpunkt der Armutsdebatte auf die »neue Armut« der Arbeitslosen verlagerte,42 blieb jedoch das in erster Linie die Verhältnisse der 1970er Jahre spiegelnde Bild eines beachtlichen Bodensatzes an Altersarmut in der Presse und der politischen Debatte stets präsent und aktualisierbar. 37 Ebd., S. 105. 38 Vgl. Arbeitsgruppe Fachbericht über Probleme des Alterns, Altwerden, Bd. 1, S. 419; Bujard u. Lange, Armut, S. 88–101, 106 f. 39 Transfer-Enquête-Kommission, Zur Einkommenslage der Rentner. Vgl. ebd., S. 100. Zur Arbeit der Transfer-Enquête-Kommission vgl. auch Geyer, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 6, S. 212–216. 40 Transfer-Enquête-Kommission, Zur Einkommenslage der Rentner, S. 5; Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich, Berichtsbd. 1, S. 116 f. 41 Vgl. nur BMAS (Hg.), ASID ’86. Zusammenfassender Bericht, sowie die anderen Berichtsbände. 42 Besonders einflussreich war Balsen u. a., Die neue Armut.
254 Kontinuität nach dem Boom Einen völlig anderen Akzent als die seit den 1970er Jahren wieder an Fahrt gewinnende Armutsdiskussion und -forschung setzte interessanterweise die Alterssoziologie bzw. Sozialgerontologie. Durchaus zu Recht konstatierte 1990 der Soziologe Martin Kohli, dass sich die Alterssoziologie und die soziologische Theorie der Ungleichheit weitgehend sprachlos gegenüberstünden. Die Alterssoziologie, so Kohli, habe bislang »ganz am Rande der Soziologie« gestanden. Sie sei »institutionell wie kognitiv … eine typische angewandte Soziologie« geblieben, gekennzeichnet dadurch, dass »sie sich an den praktischen Problemen ihres Felds orientiert[e]« und »dessen sozial konstruierte Grenzen als selbstverständliche Konturen ihrer eigenen Perspektive« übernahm. Auch »[i]hr kogniti ves Programm« habe sie sich »durch den unmittelbaren Problemdruck dieses spezifischen Realitätsausschnitts vorgeben lassen«. Umgekehrt hätten die Theorie sozialer Ungleichheit wie die soziologische Theorie allgemein, die beide im Verständnis der modernen Gesellschaft als »Arbeitsgesellschaft« wurzelten, die grundlegende theoretische Herausforderung des gesellschaftlichen Alterungsprozesses, die darin begründet liege, dass ein steigender Teil der erwachsenen Bevölkerung die Phase der Erwerbsarbeit hinter sich gelassen habe, »noch gar nicht als solche erkannt«. Für die Ungleichheitstheorie gehe es darum, das Verhältnis des höheren Lebensalters zu anderen Ungleichheitsdimensionen zu bestimmen und soziale Ungleichheit konsequent in einen biographischen Bezugsrahmen zu stellen.43 Wie sich die von dem selbst in vielfacher Weise in die Lebenslauf- und Alters forschung involvierten Soziologen kritisierte perspektivische Prägung konkret auswirkte, lässt sich exemplarisch am Vierten Familienbericht der Bundes regierung studieren, den Heiner Geißler als neuer Minister für Jugend, Familie und Gesundheit 1983 kurz nach seinem Amtsantritt in Auftrag gegeben hatte und in dem erstmals der Schwerpunkt auf die »Situation der älteren Menschen in der Familie« gelegt worden war. Von einer Sachverständigenkommission unter der Leitung der renommierten Altersforscherin Ursula Lehr erarbeitet, stellte der Bericht eine Art »Leistungsschau« der gerontologischen Forschung dar, der in vielem deren Ansätze und Problemzuschnitte widerspiegelte und der auf diese Weise zu einem inoffiziellen Vorläufer des Ersten Altenberichts von 1993 wurde.44 Eine prominente Rolle nahm im Kommissionsbericht die Auseinandersetzung mit dem in der Gesellschaft vorherrschenden negativen Altersbild ein, das das höhere Lebensalter als »problembelastete Lebensphase« darstelle und »oft nur unter dem Blickwinkel von ›Alterslast‹ oder ›Rentenlast‹« erscheinen lasse.45 Gegen diese Defizitsicht des Alters wurden die Ergebnisse 43 Kohli, Alter als Herausforderung, S. 387. Im gleichen Tenor: ders., Altern in soziolo gischer Perspektive; ders., Soziologische Theoriebildung. Vgl. auch Clemens, Zur »ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit«. 44 Vierter Familienbericht: BT Drs. 10/6145; Erster Altenbericht: BT Drs. 12/5897. 45 BT Drs. 10/6145, S. 46. Vgl. ebd., S. 20, 46–52.
Die Alten in der bundesdeutschen Gesellschaft 255
der empirischen Altersforschung in Anschlag gebracht, die vom Erhalt von Fähigkeiten und Fertigkeiten vielfach bis ins hohe Alter zeugten. Unter dem Gesichtspunkt der Ungleichheit im Alter betonte die Kommission zwar explizit die Heterogenität der Alten als Gruppe (»Ältere Menschen bilden keine homogene Gruppe«).46 Doch waren damit zunächst die individuelle Vielfalt der Alterungsprozesse und die Zunahme interindividueller Unterschiede im Alter gemeint, denen die westdeutsche Altersforschung auch in ihrer Forderung nach einer von der Dominanz individueller gegenüber sozialen Variablen ausgehenden »differentiellen Gerontologie« eine zentrale Bedeutung beimaß.47 Von den strukturellen Ungleichheiten rückte der Bericht besonders die chronologische Diversität, also die Unterschiede zwischen den einzelnen Alterskohorten innerhalb der älteren Bevölkerung in den Vordergrund. Die generationelle Lagerung – das war das dahinter stehende Credo – bestimme grundlegend »die Lebenssituation und Lebenserfahrung … und damit auch das Selbstverständnis der Menschen und ihre Verhaltensweisen während des Älterwerdens«.48 Beachtung fand ebenfalls die Geschlechterdifferenz. »Die älteren Frauen unserer Zeit«, resümierte der Familienbericht, »haben weit geringere Chancen für Bildungs- und Berufskarrieren gehabt als die älteren Männer …, was sich im Alter nicht zuletzt auch in einer niedrigeren materiellen Versorgung niederschlägt«. Darüber hinaus hätten sie aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung auch »weit geringere Chancen als ältere Männer, in einer Partnerbeziehung das hohe Alter zu erreichen«.49 Der gesamte Bereich der »klassischen« sozio-ökonomischen Schichtungsmerkmale trat dagegen ebenso in den Hintergrund wie das Problem der Altersarmut. Implizit akzeptierte die gerontologisch besetzte Sachverständigenkommission damit die Vorstellung einer Kontinuität sozialer Ungleichheit vom Erwerbsleben in den Ruhestand,50 die ihrerseits tief von dem im deutschen Rentenversicherungssystem angelegten Prinzip der Lebensstandardsicherung geprägt war. Die Ungleichheit von Besitz, Einkommen und Status im Alter erschien ihr schlicht als Fortschreibung jener Verhältnisse, die sich in der Erwerbsphase herausgebildet hatten, und daher als – sowohl im wissenschaftlichen wie normativen Sinne – unproblematisch. Dass diese – merkwürdig quer zur Diskussion über Altersarmut liegende – Sichtweise ebenfalls nicht ohne politische Resonanz blieb, mag man schon daran ablesen, dass die Gerontologin Lehr 1988 Rita Süßmuth als Familienministerin nachfolgte.
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Ebd., S. 20. Hervorh. i. O. Ebd., S. 53; Thomae, Alternsstile. Vgl. kritisch Kohli, Alter als Herausforderung, S. 394 f. BT Drs. 10/6145, S. 20. Vgl. ebd., S. 54–80. Ebd., S. 80. Vgl. hierzu auch Kohli, Altern in soziologischer Perspektive, S. 247 f.; ders., Alter als Herausforderung, S. 394 f.; ders. u. a., Soziale Ungleichheit, S. 319; Clemens, Zur »ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit«, S. 21.
256 Kontinuität nach dem Boom
2. Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung Von den 1950ern bis zum Beginn der 1970er Jahre hatte sich in der bundesdeutschen Alterssicherung weitgehend ungebremst eine sich selbst vorantreibende Expansionsdynamik ausgewirkt (vgl. oben, Kap. IV.3). Immer neue Gruppen waren in das System der Gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden; immer neue Leistungsausweitungen hatte es gegeben, teils weil sie sich großer Beliebtheit bei der Wahlbevölkerung oder in einzelnen gesellschaftlich relevanten Kreisen erfreuten, teils um die bislang vermeintlich Benachteiligten zu kompensieren. Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Krisenperiode Mitte der 1970er Jahre kam diese Entwicklung zu einem abrupten Ende. Es zeigte sich, dass der Prozess wohlfahrtsstaatlicher Ausweitung zwar einer »automobilen« Eigenlogik gehorchte, gleichzeitig aber auf den Kraftstoff wirtschaftlicher Zuwächse angewiesen war. Als dieser ausging, kam es zu einer Reihe von zunächst wenig systematischen Bremsmanövern, die dann in den 1980er Jahren in eine Phase des tastenden Suchens nach einer grundlegenden Reform des deutschen Alterssicherungssystems mündeten. Dabei war nicht nur politisch umstritten, wie man auf die neuen ökonomischen und politischen Verhältnisse reagieren sollte, sondern teilweise auch, welches denn überhaupt die wichtigsten Herausforderungen waren, mit denen sich die deutsche Rentenpolitik konfrontiert sah.51 Insbesondere vier Problemdimensionen der Alterssicherung waren es, die im Zentrum der Reformdebatten der 1970er und 1980er Jahre standen. 1. Finanzierung. Innerhalb einer überraschend kurzen Zeitspanne nach der weltwirtschaftlichen Gezeitenwende von 1973 erwiesen sich die Modellrechnungen, die für die zukünftige Kassenlage der GRV phantastische Überschüsse prognostiziert und damit die in der Rentenreform von 1972 kulminierende sozialpolitische Überbietungsspirale angetrieben hatten, als Makulatur. Die steigende Arbeitslosigkeit, die rückläufigen Lohnzuwachsraten, die Verminderung der Überstunden – all das schlug sich auf der Einnahmenseite der Rentenversicherung seit der Mitte der 1970er Jahre in einem deutlich langsameren Zuwachs des Beitragsvolumens nieder, als man es noch wenige Jahre zuvor angenommen hatte.52 Gleichzeitig legten die Ausgaben in rasantem Tempo zu. Mehr als alles andere waren dafür die Leistungsausweitungen des Rentenreformgesetzes von 1972 verantwortlich, von denen vor allem die vorgezogene Rentenanpassung, aber auch die flexible Altersgrenze und die Rente nach Mindesteinkommen mit
51 Vgl. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 117. 52 Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 410 f.; Arbeitslosigkeit führt zu Ausfällen in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: VDR-Informationen 174/1975, S. 1–7.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 257
erheblichen Mehrbelastungen zu Buche schlugen.53 In problematischer Weise wirkte sich darüber hinaus das Prinzip aus, nach dem der Gesetzgeber 1957 die Allgemeine Beitragsbemessungsgrundlage konstruiert hatte. Da die Renten dem Anstieg der Bruttolöhne nicht direkt, sondern mit einer Zeitverzögerung von mehreren Jahren folgten54 – ursprünglich war darin eine positive, konjunkturglättende Maßnahme gesehen worden –, fiel die Rezession von 1974/75 nun ausgerechnet mit hohen jährlichen Rentenanpassungsraten von über 11 % zusammen, die das stürmische Lohnwachstum in der Hochkonjunktur der Vorkrisenzeit widerspiegelten. Die divergierende Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben konnte nicht ohne Konsequenzen für die finanzielle Situation der GRV bleiben. Zwar konnte 1974 noch einmal ein Überschuss erreicht werden, doch geriet das Jahresergebnis ab dem Folgejahr in die Negativzone und wies 1977 alsbald sogar einen Rekordverlust von 10,17 Mrd. DM aus. Die dauerhaften Einnahmedefizite verschlechterten die Vermögenslage der Rentenversicherung dramatisch. Schnell schmolz ihr Rücklagenpolster, das sich 1974 noch auf komfortable 8,6 Monatsausgaben belaufen hatte, dahin und unterschritt 1978 erstmals die bislang gesetzlich vorgeschriebene Mindestsicherung von drei Monatsausgaben.55 Der Krise der GRV-Finanzen versuchte die sozial-liberale Koalition durch Ausgabenkürzungen Rechnung zu tragen. Den ersten, spektakulärsten und zugleich vergeblichen Anlauf hierzu stellte die sog. »Rentenlüge« von 1976 dar. Warnungen vor einer deutlichen Verschlechterung der Finanzlage der Rentenversicherung hatte es bereits lange vor der Anfang Oktober 1976 stattfindenden Bundestagswahl gegeben. Im März des Vorjahres etwa hatte der Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR), Rudolf Kolb, in einem Interview erklärt, die GRV insgesamt werde 1975 aufgrund hoher Defizite bei der Arbeiterrentenversicherung »›mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‹« ins Minus rutschen. Zahlungsschwierigkeiten sah er zu diesem Zeitpunkt für die bevorstehenden Jahre aufgrund der erheblichen Rücklagen allerdings noch nicht heraufziehen – »›es sei denn, der Gesetzgeber‹« mache »›irgendwelche blödsinnigen Wahlgeschenke‹«.56 Noch nicht einmal ein Jahr später jedoch revidierte der VDR diese zuversichtliche Haltung
53 Vgl. Waldmann, Finanzierung, S. 278; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 411 ff. 54 Die Allgemeine Beitragsbemessungsgrundlage im Jahre t entsprach dem Dreijahresmittel der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte der Jahre t-4 bis t-2. 55 Alle Zahlenangaben: Forschungsportal der Deutschen Rentenversicherung, Kap. »Finanzen« (http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/view3sp.jsp? chstatzr_Finanzen=54fa54fa&open&viewName=statzr_Finanzen&viewCaption=Statis tiken%20-%20Finanzen%20-%20Zeitreihen#54fa54fa). 56 Milliarden-Defizit bei den Arbeiter-Renten, in: FAZ , 21.3.1975.
258 Kontinuität nach dem Boom und befürchtete nun »Liquiditätsengpässe« bereits für das Rentenjahr 1976.57 In das gleiche Horn hatte die Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom November 1975 gestoßen, als sie ihrer Befürchtung Ausdruck verlieh, »dass die Rücklagen der Rentenversicherungen … – möglicherweise schon 1978 – den Mindestumfang … unterschreiten« könnten, zugleich aber vor den Gefahren weiterer Beitragserhöhungen warnte.58 Und auch der Sozialbeirat, das 1957 eingerichtete und vor jeder Rentenanpassung anzuhörende Sachverständigengremium, hatte in seinem Gutachten vom Herbst 1975 die übliche Rentenanhebung mit Blick auf die Finanzlage der Rentenversicherung nur mit Mehrheit und nicht, wie bisher, einstimmig empfohlen. Eine »große Minderheit des Beirats« dagegen hatte dafür plädiert, die fällige Rentenerhöhung um ein halbes Jahr zu verschieben.59 Obwohl die Zeichen an der Wand immer deutlicher hervortraten, verabschiedete die sozial-liberale Koalition – im allparteilichen Konsens – nicht nur die elfprozentige Rentenerhöhung zum 1. Juli 1976, sondern legte sich darüber hinaus noch vor den Wahlen definitiv darauf fest, die Renten auch im folgenden Jahr zum üblichen Termin formelgemäß anzuheben. Zwar war man sich in Regierungskreisen der »katastrophalen Lage der Rentenversicherung« durchaus bewusst, doch hielt man es – wie der »Spiegel« ein Mitglied der sozial- liberalen Koalitionsrunde zitierte – für »›selbstmörderisch, vor den Wahlen was zu tun‹«.60 Gut einen Monat vor der Wahl, Ende August 1976, versicherte Bundeskanzler Helmut Schmidt daher in einem Interview mit Nachdruck, dass alles beim Alten bleibe: »Die Rentenversicherungsbeiträge werden nicht erhöht. Die Bruttolohnbezogenheit der Rente bleibt. Es bleibt die Leistungsbezogenheit der einzelnen Rente, und es wird die regelmäßige Anpassung bleiben. Die Renten sind sicher«.61 Und noch drei Tage vor dem Wahltermin sprach Schmidt in einer Fernsehdiskussion von einem »Problemchen der Liquidität der Rücklagen«, das »leicht zu lösen sei«.62 Nur wenige Wochen nach den Bundestagswahlen, die SPD und FDP mit knappem Abstand für sich entschieden hatten, vollzog die Regierungskoalition in der Rentenfrage eine Kehrtwende. Unter dem Eindruck neuer Warnmeldungen des VDR , des Sozialbeirats und der Bundesbank legte sie sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen darauf fest, die nächste Rentenanpassung nun 57 Rentenversicherungen fürchten Liquiditätsengpässe, in: FAZ , 3.1.1976; Renten: So schön wird es nie wieder, in: Der Spiegel, 12.1.1976; Waldmann, Rentenversicherung. 58 Die Finanzentwicklung der Sozialversicherungen, S. 28 f. Vgl. Bundesbank: Die Sozialversicherung ist überfordert, in: FAZ , 20.11.1975. 59 Gutachten des Sozialbeirats: BT Drs. 7/4250. Vgl. auch Reichsthaler, Mittelfristige Rentensanierung, S. 111 f. 60 Renten: So schön wird es nie wieder, in: Der Spiegel, 12.1.1976. 61 Wir können natürlich noch Fehler machen, in: Der Spiegel, 30.8.1976. 62 Fernsehdiskussion am 30.9.1976. Zit. nach Chronik des Rentenbetruges, CDU-Dokumentation 9, 2.3.1978.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 259
doch vom 1. Juli 1977 auf den 1. Januar 1978 zu verschieben und darüber hinaus die Renten ab 1979 – unter Ausnutzung des gesetzlichen Spielraums und ohne Änderung der Rentenformel – nicht länger nach Maßgabe der Brutto-, sondern der Nettolohnentwicklung zu erhöhen.63 Mit dieser Entscheidung setzte sich die sozial-liberale Koalition über »eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen« hinweg – »Die neue Mode war kreiert«, kommentierte der »Spiegel« süffisant, »man trug Wortbruch«. Die Reaktion unter den eigenen Anhängern und in der politischen Öffentlichkeit fiel unerwartet heftig aus. Von den »linken Jungdemokraten« über den »Reichsbund der Kriegsopfer« bis zur »Deutschen Angestellten Gewerkschaft«, so das Hamburger Magazin weiter, »waren sich alle einig in ihrer Erbitterung über den Bonner Renten-Dreh«. Eine Woche vor der Kanzlerwahl im Bundestag brach unter den Abgeordneten der Regierungsparteien »offener Aufstand« aus.64 Angesichts des massiven Widerstands sahen die Koalitionäre keinen anderen Weg, als ihren Entschluss zu revidieren und von der Verschiebung der Rentenerhöhung Abstand zu nehmen. Das »Rentendebakel« war perfekt.65 Der Skandal um die »Rentenlüge« hatte gezeigt, welcher Sprengstoff in der Rentenfrage steckte. Gleichzeitig hatte er aber auch erkennen lassen, in welcher Richtung die sozial-liberale Koalition angesichts der beharrlichen Weigerung der FDP, Beitragserhöhungen mitzutragen, ihr Heil bei der Konsolidierung der Rentenfinanzen suchen würde, sobald sich der Schlachtenrauch des Wahlkampfes verzogen hatte. Unter dem Problemdruck eines rasant wachsenden Defizits in der Rentenkasse hielt sie an der halbjährigen Aussetzung der Rentenanpassung fest, verschob diese aber um ein Jahr. Das 20. Rentenanpassungsgesetz (RAG) vom 27. Juni 1977 verlegte die eigentlich für den 1. Juli 1978 vorgesehene Rentenerhöhung auf den 1. Januar 1979 und enthielt darüber hinaus noch weitere kostensenkende Maßnahmen wie etwa die Reduzierung der Bewertung von Ausbildungsausfallzeiten für Rentenneuzugänge. Schon bald stellte sich heraus, dass die auf diese Weise erzielten Einspareffekte nicht ausreichten, um die Rentenbilanzen auch nur mittelfristig zu sanieren. Mit dem 21. RAG vom 25. Juli 1978 koppelte der Gesetzgeber daher die Rentenentwicklung vorübergehend von der Bruttolohnentwicklung ab und setzte die Anpassungssätze diskretionär niedriger auf 4,5 % für 1979 und jeweils 4,0 % für 1980 und 1981 fest. Im gleichen Zug verfügte er, dass die Rentner ab 1982 individuelle Krankenversicherungsbeiträge zu leisten hatten, wobei die Beitragsbelastung im Jahrestakt ansteigen sollte. 20. und 21. RAG bremsten das Leistungswachstum in der Gesetzlichen Rentenversicherung merklich ab. Das wird schon bei einem Blick auf 63 Vgl. Renten-Erhöhung doch später. Krankenversicherung teurer, in: FAZ , 9.12.1976. Eine minutiöse Rekonstruktion der Abläufe bietet Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 432–439. 64 Der Renten-Skandal: »Wirklich das Dümmste«, in: Der Spiegel, 13.12.1976. 65 Neubeginn mit Zähneknirschen, in: Die Zeit, 17.12.1976.
260 Kontinuität nach dem Boom die Entwicklung der Allgemeinen Bemessungsgrundlage deutlich, die ohne die Kürzungsmaßnahmen der Rentenanpassungsgesetze zwischen 1977 und 1982 fast doppelt so schnell gestiegen wäre, wie es tatsächlich der Fall war. Auch die sog. »Eckrente« eines Durchschnittsverdieners (mit 40 Versicherungsjahren) stieg im gleichen Zeitraum nicht etwa von 46,3 % auf 50,4 % des mittleren Bruttoarbeitsentgelts, wie sie das bei Fortdauer der bisher gültigen Anpassungspraxis getan hätte, sondern fiel auf einen Wert von 44,9 %.66 Eine dauerhafte Stabilisierung der Rentenfinanzen freilich gelang auf diesem Wege nicht. Unter den sich weiter verschlechternden ökonomischen Bedingungen der neuen Rezession Anfang der 1980er Jahre, die auf die zweite Ölkrise von 1979 folgte, griff daher die Regierung Kohl unmittelbar nach der »Wende« von 1982 auf die gleichen Konsolidierungsinstrumente zurück, die schon ihre Vorgängerregierung gebraucht hatte: Die Haushaltsbegleitgesetze von 1983 und 1984 brachten abermals eine Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr sowie eine auf Dämpfung des Rentenwachstums zielende Abänderung der Rentenformel. Überdies wurden die Anspruchsvoraussetzungen für Berufsunfähigkeits- und Erwerbsminderungsrenten drastisch verschärft. All das zielte, wie Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 ausführte, darauf ab, in der Sozialpolitik eine »Atempause« einzulegen, die einen »Neubeginn« ermöglichen sollte.67 Ungeachtet dieser »Wende«-Rhetorik waren es auf dem Gebiet der Alterssicherung jedoch vor allem Kontinuitätslinien, die den Übergang von der sozial-liberalen zur christlich-liberalen Koalition kennzeichneten: Die späten 1970er ebenso wie die frühen 1980er Jahre waren geprägt durch zahlreiche »punktuelle Eingriffe«,68 die der kurzfristigen Stabilisierung der Rentenbilanzen und der Entlastung des Bundeshaushalts dienten, das Rentenwachstum bremsten und teilweise auch Einschnitte in die Leistungsstruktur bedeuteten, ohne dass dahinter jedoch schon eine systematische Strategie zur Konsolidierung der Rentenversicherung zu erkennen gewesen wäre. Es war durchaus kein Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht es angesichts dieser schnellen Abfolge diskretionärer Kürzungsmaßnahmen in Entscheidungen von 1980 und 1981 für nötig hielt, Renten und Rentenanwart
66 Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 454. Vgl zu diesem und dem folgenden Absatz allg. Niemeyer, Konsolidierung; Hauck, 21. Rentenanpassungsgesetz; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 439–466; ders., Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 319–333; Reichsthaler, Mittelfristige Rentensanierung, S. 173–275; Hermann, Entwicklungslinien, S. 126–135. 67 Kohl, BT 9/121 (13.10.1982), S. 7218. Vgl. auch Die Regierung Kohl handelt: Sicherung des sozialen Netzes, CDU-Dokumentation 36, 18.11.1982; Blüm, Solidarität, S. 1038; ders., Konzentration, S. 5 f. 68 So die Kritik des Sozialbeirats: Entschließung des Sozialbeirats am 25.10.1982, in: Sozialpolitische Informationen 16. 1982, 10.11.1982.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 261
schaften unter den Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG zu stellen.69 Indem es von einem abgestuften Eigentumsschutz für verschiedene sozialrechtliche Positionen ausging, ließ das höchste deutsche Gericht dem Gesetzgeber zwar erheblichen Gestaltungsspielraum in bestimmten Bereichen der Rentenversicherung – etwa bei der Bewertung von Ausfallzeiten. Gleichzeitig errichtete es aber – auch das mag noch einmal als Beleg dafür gelten, wie tief das Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz in der bundesdeutschen Alterssicherung verwurzelt war – einen hohen verfassungsrechtlichen Wall um jene Rentenansprüche, die sich auf die »persönliche Arbeitsleistung des Versicherten« im Sinne »einkommensbezogene[r] Beitragsleistungen« gründeten. »Je höher … der einem Anspruch zugrunde liegende Anteil eigener Leistung« sei, urteilte das Verfassungsgericht, desto stärker trete »der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor«.70 2. Ungerechtigkeiten. Ein zusätzlicher Druck zur Reform des bundesdeutschen Alterssicherungssystems ging von einer Reihe von Ungerechtigkeiten aus, die unter den neuen Bedingungen seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend deutlich hervortraten. Sie alle beruhten auf Ungleichheiten »zweiter Ordnung« – Ungleichheiten also, die nicht die marktwirtschaftliche Dynamik, sondern der Sozialstaat selbst durch sein Eingreifen hervorgebracht hatte. Die erste dieser als Ungerechtigkeiten thematisierten Ungleichheiten war jene zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen. Von 1960 bis 1974 hatte das Rentenniveau in der Bundesrepublik zwar in keinem festen Verhältnis zum durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelt der Arbeitnehmer gestanden, sich aber für einen Durchschnittsverdiener mit 40 Versicherungsjahren zumeist – ohne klaren Trend – in einem Korridor von 53 bis 57 % des letzteren bewegt. Aufgrund mehrerer Faktoren, die sich zuungunsten der Nettolöhne auswirkten: einer steigenden Abgaben- und Steuerlast ebenso wie niedrigerer Lohnabschlüsse, war jedoch das Standardrentenniveau seit 1975 im Vergleich zum durchschnittlichen Erwerbstätigenentgelt sprunghaft angestiegen, so dass es bereits 1977 bei 65,1 % desselben lag.71 Überdies war wegen der tendenziell zunehmenden Belastung durch Sozialabgaben und Steuern damit zu rechnen, dass sich Nettogehälter und die an die Bruttolöhne gekoppelten Renten auch in den Folgejahren weiter auseinanderentwickeln würden. 69 BVerfGE 53, 257 (28.2.1980); BVerfGE 58, 81 (1.7.1981). Vgl. hierzu auch Papier, Einfluss des Verfassungsrechts, S. 112–123; Stolleis, Rentenreform 1992, S. 337. 70 BVerfGE 53, 257 (28.2.1980). 71 Bei 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren betrug das Standardrentenniveau 1977 73,2 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsengelts. Für die Zahlen s. BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 159, Tab. 124.
262 Kontinuität nach dem Boom Dass die »Rentner … im Vergleich zu den Netto-Einkommen der Arbeitnehmer immer mehr auf[holten]«,72 wurde freilich nur deshalb zu einem Gerechtigkeitsproblem, weil zeitgleich die Verteilungsspielräume schrumpften und der Bundeshaushalt ebenso wie die Rentenversicherungsbilanzen wachsende Defizite aufwiesen. Naturgemäß wurde die Ungerechtigkeit zwischen den Altersgruppen zuerst auf Seiten der Regierungsparteien bemerkt, die in der fiskalischen Verantwortung standen. So vertrat Hansheinrich Schmidt, der Sozialexperte der FDP-Fraktion, bereits Anfang 1976 die Auffassung, dass durch die Annäherung der Renten an die Löhne »›der Vertrag der Generationen, zwischen Rentnern und Aktiven, pervertiert‹« werde. Am Ende laufe es darauf hinaus, dass »›Opa … [die] Ausbildung von Enkel‹« zahlen müsse, »›weil Vater Rente von Opa zahlen muss‹«.73 Im »Spiegel« sekundierte Rudolf Augstein, »Rentner und Kranke, zumindest aber die Rentner, müss[t]en schlechter gestellt werden, im wohlverstandenen Sinne dieser Kranken und Rentner selbst«, da sie »von Arbeitskraft und -freude der noch Verdienenden lebten«, und forderte, die Renten nicht länger im Gleichschritt mit den Brutto-, sondern mit den Nettolöhnen zu erhöhen.74 Genau darauf, auf die Anpassung der Renten nach dem Nettolohn-Prinzip, liefen die diskretionären Konsolidierungsmaßnahmen der Folgejahre faktisch hinaus: Von 1978 bis zum Ende der 1980er Jahre wurde das Standardrenten niveau mit einer nur geringen Schwankungsbreite bei ca. 63 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts stabilisiert.75 Doch handelte es sich dabei um eine Politik, die seit dem Ende der 1970er Jahre zwar »machbar«, aber zunächst nicht »sagbar« war. Die extreme Sensibilität gegenüber einer expliziten Abkehr von der Bruttolohnanpassung lag in der hohen symbolischen Aufladung der bruttolohnbezogenen Rente als Verkörperung eines Grundpfeilers der neueren deutschen Sozialstaatlichkeit, als der Inkarnation der »größten Sozialreform seit 1950« begründet.76 Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die sozial-liberale Koalition in der Debatte um das 21. RAG erklärte, sie schlage die deutliche »Abflachung« der eigentlich formelgemäßen Anpassungssätze nicht vor, »um die Bruttolohndynamik abzuschaffen, sondern um sie zu stabilisieren«, also gewissermaßen als Rettungsaktion.77 Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das ostentative Pochen der Opposition auf den »Grundsatz der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente ohne Wenn und Aber« verstehen,78 während 72 Renten: So schön wird es nie wieder, in: Der Spiegel, 12.1.1976. 73 Ebd., sowie: Da ist eine Generalbereinigung fällig, in: Der Spiegel, 27.12.1976. 74 Rudolf Augstein, Geht nun gar nichts mehr?, in: Der Spiegel, 25.10.1976. 75 Eigene Berechnungen nach BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 159, Tab. 124. 76 Franke (CDU/CSU), BT 8/81 (16.3.1978), S. 6389. 77 Glombig (SPD), BT 8/81 (16.3.1978), S. 6365. 78 Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (CDU/CSU), BT 8/193 (13.12.1979), S. 15313 (Hervorh. i. O.).
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 263
sie gleichzeitig – ebenso wie übrigens der DGB – die Einführung von RentnerKrankenversicherungsbeiträgen befürwortete, die ebenfalls den Effekt hatten, die Renten- der Nettolohnbewegung anzunähern.79 Nur so schließlich ist erklärlich, warum sich die christlich-liberale Koalition nach dem Machtwechsel ebenso schwer wie ihre Vorgängerregierung damit tat, die Bruttoanpassung offen aufzugeben, obwohl sie doch deren nettobezogene Maßnahmen bruchlos weiterführte. Selbst im Haushaltsbegleitgesetz 1984, das die Orientierung am Nettoniveau faktisch festschrieb, wurde das Präfix »Netto« peinlich vermieden und statt dessen unschärfer formuliert, dass »[b]ei der Rentenanpassung … von dem Grundsatz einer gleichgewichtigen Entwicklung der Renten und der verfügbaren Arbeitsentgelte ausgegangen werden« sollte.80 Erst im Rentenreformgesetz von 1989, nachdem im Grunde alle politischen Kräfte angesichts der fiskalischen Lage die Rentenanpassung nach dem Nettoprinzip als alternativlos akzeptiert hatten, kam es zur offiziellen Aufgabe der Bruttoanpassung durch eine entsprechende Änderung der Rentenformel (vgl. unten, Kap. VI.3). Die enormen Widerstände, die einer Abkehr von der Bruttoanpassung entgegenstanden und das Ausmaß ihrer Verwurzelung in der bundesdeutschen Alters sicherungspolitik dokumentieren, treten – wie oben bereits erwähnt – in besonderer Deutlichkeit zutage, wenn man sie mit der Leichtigkeit vergleicht, mit der die Thatcher-Regierung zur gleichen Zeit die sehr viel weitergehende Entscheidung durchsetzte, die Renten nicht länger an die Lohn-, sondern an die Preisentwicklung zu koppeln.81 Auf dem »langen Weg« zum Abschied von der bruttolohnbezogenen Rente fungierte die Idee einer Ungerechtigkeit zulasten der erwerbstätigen Jüngeren als Gegendiskurs, der dazu beitrug, den anfangs mithilfe von Verschleierungsstrategien ins Werk gesetzten Übergang zur Netto anpassung politisch zu legitimieren. Das zweite Ungerechtigkeitsproblem, von dem ein Druck zur Reform des bundesdeutschen Alterssicherungssystems ausging, setzte an der Geschlechter differenz an. Den konkreten Reformimpuls bildete in diesem Fall ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975, das dem Gesetzgeber bis 1984 die Neuordnung des Hinterbliebenenrechts auftrug. Im geltenden Recht, nach dem die Witwe nach dem Tod ihres Ehemanns grundsätzlich immer Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente in Höhe von 60 % der Versichertenrente hatte, während eine Witwerrente nur dann gezahlt wurde, wenn die Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend durch ihr Einkommen bestritten hatte, sah das Verfassungsgericht angesichts der zunehmenden weiblichen Erwerbstätigkeit für die Zukunft einen gesellschaftlich relevanten Verstoß gegen den Grundsatz der 79 Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 446 f., 452 f. 80 § 1272 Abs. 2 RVO in der Neuformulierung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984. Vgl. zu diesem Grundsatz auch Schmähl, Beiträge, S. 43–50. 81 Vgl. oben, Kap. V.1.
264 Kontinuität nach dem Boom Gleichberechtigung angelegt.82 Über die Beseitigung dieser die Männer benachteiligenden Zugangsregelung hinaus zielte die Mitte der 1970er Jahre in Angriff genommene Reform des Hinterbliebenenrechts jedoch zugleich auf die Korrektur einer in der Praxis weit wichtigeren Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern: Der deutlichen materiellen Schlechterstellung von Frauen im Alter sollte – das hatte sich inzwischen als parteienübergreifender Konsens herausgebildet – durch den Ausbau eigener Sicherungsansprüche für Alter und Invalidität begegnet werden.83 Die von der sozial-liberalen Koalition zur Vorbereitung der Gesetzgebung 1977 eingesetzte Sachverständigenkommission schlug in ihrem Gutachten 1979 eine sog. »Teilhaberente« vor, bei der der überlebende Ehegatte ca. 70 % der gemeinsamen Rentenansprüche beider Ehepartner erhalten sollte.84 Das »Teilhabemodell« war im Grunde noch ganz das Kind der alten Expansionsdynamik, die den westdeutschen Wohlfahrtsstaat in der Zeit des Wirtschaftsbooms gekennzeichnet hatte: Gerechtigkeit sollte den bisher Benachteiligten durch Leistungsausweitung widerfahren, wobei Besitzstände – im Fall der »Teilhaberente« der Anspruch des Hauptverdieners auf seine vollständige eigene Versichertenrente – in voller Höhe erhalten blieben. Im Prinzip traf daher das »Teilhabemodell« unter den Parteien und Interessenverbänden auf breite, die üblichen politischen Grenzen transzendierende Zustimmung.85 Schnell zeigte sich jedoch, dass eine 70 %ige »Teilhaberente« bei Garantie der selbsterworbenen Ansprüche aufgrund der durch sie verursachten Mehrkosten in den fiskalisch besonders schwierigen Rezessionsjahren nach der Ölpreiskrise von 1979 politisch nicht durchzusetzen war. Zum Zuge kam 1985 dagegen das nach wie vor geltende sog. »Anrechnungsmodell«, bei dem Männer und Frauen gleichermaßen eine Hinterbliebenenrente von 60 % erhalten, auf die – anders als zuvor – eigenes Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen oberhalb eines Freibetrags zu 40 % angerechnet wird. Seine Durchsetzung verdankte das Anrechnungsprinzip insbesondere der Strategie des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, das Postulat der »Kostenneutralität« ins Zentrum zu rücken – ein Schachzug, der den Ministerialbürokraten des BMAS aufgrund der dabei zum Einsatz kommenden komplexen computergestützten Modellrech82 BVerfGE 39, 169 (12.3.1975). 83 Vgl. etwa die Regierungserklärung Willy Brandts, BT 7/7 (18.1.1973), S. 132, sowie für die CDU: Antrag des Bundesvorstandes: Frau und Gesellschaft, UiD-Dokumentation 18/1975; Partnerrente – wie sieht das in der Praxis aus?, UiD-Dokumentation 21/1975. 84 Vgl. Sachverständigenkommission für die Soziale Sicherung der Frau und der Hinter bliebenen, Gutachten; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 145 ff. 85 Vgl. etwa FDP und CSU für Modell drei der Rentenkommission, in: FAZ , 22.5.1979; Modell der Teilhaberente findet Zuspruch, in: FAZ , 27.10.1979; Von der Partner- zur Teil haberente, in: FAZ , 27.11.1979; Keine Bundesgarantie mehr für die Rentenversicherung?, in: FAZ , 26.2.1980.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 265
nungen zugleich einen uneinholbaren Informationsvorsprung im Hinblick auf die Entscheidung verschaffte, welche Lösung denn als »kostenneutral« zu bewerten sei.86 Unter dem Eindruck fiskalischer Restriktionen hielten mit Anrechnung und Freibetrag erstmals Gesichtspunkte der Bedürftigkeit Einzug in das bundesdeutsche Alterssicherungssystem, was von den Gegnern der Anrechnungslösung mit Hinweis auf das sonst dominante Versicherungsprinzip auch sogleich als systemwidrig kritisiert wurde.87 Dass entgegen der allgemeinen Konsolidierungstendenz auch in der Zeit knapperer Kassen punktuell noch sozialpolitische Leistungsausweitungen möglich waren, zeigt die Tatsache, dass 1985 zusammen mit der Neuordnung des Hinterbliebenenrechts zugleich erstmalig Kindererziehungszeiten im Rentenrecht Berücksichtigung fanden. Aus fiskalischen Gründen beschränkt auf Mütter bzw. Väter der Jahrgänge ab 1921, wurde seither je Kind einem Elternteil ein Erziehungsjahr mit 75 % des Durchschnittsentgelts rentensteigernd und -begründend gutgeschrieben. Auf den Ausbau der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau zielend, entsprach das einer Forderung, die inzwischen von allen Parteien geteilt wurde. Nach »hundert Jahren Rentenversicherung«, verkündete Bundesarbeitsminister Norbert Blüm anlässlich der ersten Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag, widerfahre nun »endlich der Mutter Gerechtigkeit«, indem sie »im Rentenrecht Anerkennung« finde.88 Rasch zeigte sich in der Folgezeit, dass die für das bundesdeutsche Alterssicherungssystem in der Boomperiode so typische Inklusionsdynamik im Falle von Leistungserweiterungen nach wie vor intakt war und die fiskalisch motivierte Beschränkung der Anrechnungsregelung auf bestimmte Geburtsjahrgänge ihr nicht standzuhalten in der Lage war. Die »grobe Ungerechtigkeit« einer Nicht-Berücksichtigung der Generation der »Trümmerfrauen«, welche die Opposition, aber auch Verbände wie der VdK nicht müde wurden anzuklagen,89 entwickelte sich für die Regierungskoalition alsbald zu einem »so schwer belastenden Thema«, dass sie noch vor der niedersächsischen Landtagswahl im Juni 1986 den grundsätzlichen Beschluss fasste, die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten auch auf die älteren Frauenjahrgänge auszudehnen.90 86 Vgl. hierzu insbes. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 153–158. 87 Vgl. Ruland, Sozialpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken; Kolb, Hinterbliebenenversicherung; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 341; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 153 ff.; Hermann, Entwicklungslinien, S. 137. 88 Blüm (CDU), BT 10/115, S. 8549 (18.1.1985). 89 Delorme (SPD), BT 10/213, S. 16416 (24.4.1986). Vgl. Heyenn (SPD), BT 10/208, S. 15961 (21.3.1986); SPD für Gleichstellung der »Trümmerfrauen«, in: FAZ , 24.5.1986; VdK setzt sich für die Trümmerfrauen ein, in: FAZ , 10.4.1986. 90 Ein politischer Fehler und sein Preis, in: FAZ , 3.6.1986. Vgl. Vorentscheidung für die »Trümmerfrauen«, in: FAZ , 28.5.1986; Albrecht unterstützt SPD -Antrag zum »Babyjahr« im Bundesrat, in: FAZ , 7.6.1986.
266 Kontinuität nach dem Boom Die dritte Ungerechtigkeit in der westdeutschen Alterssicherung, die seit Mitte der 1970er Jahre immer wieder im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, machte sich an den unterschiedlichen Modalitäten der Altersvorsorge im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft fest. Besonders die veröffentlichte Meinung prangerte immer wieder die großen Unterschiede zwischen den Versorgungsniveaus in den beiden Bereichen an. »Historischer Wildwuchs und erfolgreiche Lobbytätigkeit«, klagte etwa der »Spiegel«, hätten »in der Bundesrepublik eine dreiklassige Altersversorgung entstehen lassen, deren Einkommensspanne inzwischen weiter klafft als die zwischen Putzfrau und Direktor«. Während der Normalrentner der »gesetzlichen Rentenversicherung ein mageres Dasein« friste, könne sich der Beamte auf einen »flotten Lebensabend« ohne finanzielle Einschränkungen freuen.91 Noch besser als die Beamten jedoch seien die Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes gestellt. Dank ihrer Zusatzversorgung bezögen sie im Ruhestand vielfach »ein höheres Einkommen … als während ihrer aktiven Jahre«.92 »Früher einmal«, erläuterte die »Zeit«, habe die 1967 eingeführte Zusatzversicherung »Ungerechtigkeiten in der Alters versorgung von Staatsdienern beseitigen helfen« sollen, indem sie die nicht-beamteten Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes den Beamten gleichgestellt und ihre Renten auf 75 % des letzten Bruttoverdienstes angehoben habe.93 Durch den Anstieg des Steuer- und Sozialversicherungsanteils, der die Arbeitnehmer, nicht aber die Rentner getroffen habe, sei aus dieser kompensatorischen Maßnahme zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit über die Jahre eine »Überversorgung ehemaliger Angestellter des öffentlichen Dienstes« erwachsen, deren Renten nun häufig bei mehr als 100 % ihres letzten Nettogehaltes liege.94 Als Reaktion auf diese Vorwürfe, aber auch auf ein Urteil des Bundes verfassungsgerichts von 1980, das eine Neuregelung der ungleichen steuerlichen Behandlung von Pensionen und Renten anmahnte,95 setzte die sozial-liberale Regierung 1981 eine »Alterssicherungskommission« ein, die die verschiedenen staatlich finanzierten Alterssicherungssysteme miteinander vergleichen und untersuchen sollte, wie sie »besser aufeinander abgestimmt werden« könnten.96 Die Ergebnisse der Alterssicherungskommission bestätigten im wesentlichen den vorherrschenden Eindruck einer deutlichen Besserstellung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes. »Eine Gesamtversorgung des Niveaus, wie sie die 91 »Das stimmt an keiner Ecke mehr«, in: Der Spiegel, 30.1.1978 92 Rentenversicherung vor dem Bankrott, in: Der Spiegel, 21.2.1983. 93 Der kleine Unterschied, in: Die Zeit, 15.9.1978. Vgl. »Da ist eine Generalbereinigung fällig«, in: Der Spiegel, 27.12.1976. 94 Rente gut, alles gut, in: Die Zeit, 17.12.1982. 95 Vgl. BVerfGE 54, 11 (26.3.1980); Pensionäre und Rentner müssen gleich sein vor der Steuer, in: FAZ , 16.7.1980; Die Pensionäre entlasten – die Rentner besteuern?, in: FAZ , 17.7.1980. 96 Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich, Berichtsbd. 1, S. 17.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 267
Beamtenversorgung und die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes« böten, werde »im privaten Bereich bestenfalls bei 2 v.H. der Empfänger von Renten der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht«.97 Der Empfehlung der Kommission, »Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass sich die Leistungsniveaus der verschiedenen Alterssicherungssysteme unangemessen auseinanderentwickeln«,98 kam man allerdings in der Folgezeit nur insofern nach, als die Einführung der »Nettobegrenzung« in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes seit 1985 die Möglichkeit der »Überversorgung« von Angestellten und Arbeitern beseitigte und ihre Gesamtversorgung an jene der Beamten anglich.99 Die Privilegierung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegenüber den Versicherten der GRV dagegen blieb weitgehend unangetastet und fand sich von ihren Verteidigern mit dem Argument gerechtfertigt, dass die Beamtenversorgung als »bifunktionales« System die Doppelfunktion einer Regel- und einer Zusatzsicherung zu erfüllen habe.100 3. Vorverlegung des Ruhestands. Die dritte Herausforderung, vor der das bundesdeutsche Alterssicherungssystem stand, war der Trend zum frühen Ruhestand, der sich im Laufe der 1970er Jahre immer deutlicher abzeichnete. Die Vorziehung des Ausscheidens aus dem Arbeitsleben führte nicht nur zu einer rapiden Zunahme der Rentenbezieher, sondern belastete die Rentenkassen zugleich auch dadurch, dass diese nun als Beitragszahler fehlten. Am augenfälligsten dokumentiert das sinkende Rentenzugangsalter – und hier wiederum besonders jenes der Männer – die zunehmende Verkürzung der Erwerbsphase: Während 1970 die männlichen GRV-Mitglieder noch im Durchschnitt mit 61,6 Jahren in den alters- oder invaliditätsbedingten Ruhestand gingen, war das durchschnittliche Rentenzugangsalter nur zehn Jahre später auf 58,5 Jahre gefallen.101 Tabelle 6 zeigt deutlich, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland – wie in allen anderen westlichen Industrieländern auch – bis spätestens Mitte der 1960er Jahre der Ruhestand mit einer Regelaltersgrenze von 65 Jahren als Teil des männlichen Normallebenslaufs fest etabliert hatte: Jenseits des offiziellen Rentenalters war nur eine kleine Minderheit der abhängig Beschäftigten noch erwerbstätig; fast die Hälfte schied mit genau 65 Jahren aus dem Arbeitsleben aus; der Rest ging früher und fast immer aufgrund von Invalidität in Rente, wobei die meisten Rentenzugänge auf die fünf Jahre vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze entfielen. Seit Mitte der 1970er Jahre lässt sich dann im Hinblick auf den Übergang in den Ruhestand eine rasche Erosion des standardisierten Lebens97 Ebd., S. 139. 98 Ebd., S. 149. 99 Vgl. BT Drs. 14/7640 (Alterssicherungsbericht 2001), S. 43. 100 Vgl. Ruland, Möglichkeiten und Grenzen; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 6, S. 495 f.; BT Drs. 14/7640 (Alterssicherungsbericht 2001), S. 11. 101 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 106.
268 Kontinuität nach dem Boom laufs beobachten. Immer mehr Arbeitnehmer gingen im Folgejahrzehnt immer früher in Rente. Schon 1975 nutzte nur noch ein Viertel der GRV-Versicherten das nach wie vor für den Bezug der Altersrente gesetzlich festgeschriebene Regelalter von 65 Jahren zum Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit; danach waren es stets noch weit weniger. In den frühen 1980er Jahren verließ mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Männer den Arbeitsmarkt endgültig noch vor ihrem 60. Geburtstag. Das bevorzugte Rentenzugangsalter verschob sich zunächst auf 63, danach zunehmend auf 60 Jahre. An diesem Bild eines signifikanten Absinkens des Renteneintrittsalters ändert sich auch dann nichts, wenn man nicht die Rentenzugangsjahre, sondern das Verrentungsverhalten verschiedener Alters kohorten in den Blick nimmt und auf diese Weise mögliche Verzerrungen durch die unterschiedlich starke Besetzung der einzelnen Geburtsjahrgänge eliminiert. Spätestens mit der Kohorte der 1909 Geborenen, die 1974 die Altersgrenze von 65 Jahren erreichte, so zeigt sich nämlich, begann ein dauerhafter und kontinuierlicher Fall des Rentenzugangsalters.102 Tab. 6: Anteile (in %) der Rentenzugänge zur GRV (Alter u. Invalidität) nach Altersgruppen, Männer, 1965–1995 Jahr
Rentenzugangsalter bis 54
55–59
60
61–62
63
64
65
66 u. älter
1965
11,6
11,8
4,4
9,7
5,1
4,4
48,2
4,8
1970
10,2
10,6
4,5
10,5
5,8
5,8
45,0
7,7
1975
11,3
7,4
4,7
12,4
26,5
8,5
24,1
5,2
1980
20
16,8
18,2
13,8
12,4
2,9
13,5
2,3
1985
18,7
16,9
20,6
9,7
15,2
2,3
14,7
2,0
1990
15,3
14,7
21,6
7,8
19,1
1,5
18,1
1,8
1995
13,3
14,3
27,3
8,9
12,7
1,7
18,9
3,0
Quelle: DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 108, eigene Berechnungen.
Fragt man nach den Ursachen für den Trend zum frühzeitigen Ruhestand, findet man sich mit Erklärungsansätzen, die stärker auf die ökonomischen pushFaktoren abheben, und solchen Analysen konfrontiert, die mehr die wohl102 Vgl. ebd., S. 110 f.; Conrad, Jacobs u. Schmähl, Vorzeitiger Rentenbezug, S. 183; Jacobs u. Kohli, Trend; Clemens, Künemund u. Parey, Erwerbsbeteiligung, S. 43 ff.; Guillemard, Europäische Perspektiven, S. 629–633; Schmähl, Verkürzung, S. 18 ff.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 269
Graphik 9: Erwerbsquoten der 60–64jährigen Männer (in %), 1970–1998 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1970
1975
1980 Westdeutschland
1985 OECD
Schweden
1990
1995
UK
Quelle: OECD.Stat; UK 1972–1983: OECD, Labour Force Statistics 1970–1990, S. 508 f.
fahrtsstaatlichen pull-Faktoren betonen. Zu einer angemessenen Erklärung gelangt man freilich nur, wenn man die beiden Perspektiven miteinander kombiniert. Dabei ist für die Gewichtung der einzelnen Kausalfaktoren der internationale Vergleich – und hier wiederum ganz besonders derjenige mit Großbritannien – äußerst hilfreich. Wie Graphik 9 exemplarisch für Großbritannien, Westdeutschland und Schweden sowie die OECD -Länder insgesamt zeigt, stellte die Abnahme der Erwerbsbeteiligung 60–64jähriger Männer – hier gemessen anhand der Erwerbsquote, also des Anteils der Erwerbspersonen (inklusive der Arbeitslosen) an der Wohnbevölkerung in dieser Altersgruppe – eine Entwicklung dar, die allen fortgeschrittenen Industriegesellschaften seit den frühen 1970er Jahren gemeinsam war. In abgeschwächter Form lässt sich darüber hinaus derselbe Trend zeitgleich auch für die Altersgruppe der 55–59jährigen konstatieren.103 Angesichts der Unterschiedlichkeit wohlfahrtsstaatlicher Arrangements verweist die Existenz einer gleichgerichteten Entwicklung hin zu einem Rückgang der Erwerbsbeteiligung Älterer klar auf das Vorhandensein wirtschaftlicher 103 Vgl. nur Jacobs, Kohli u. Rein, Evolution, S. 50 f.; Kohli, Die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung, S. 42 ff.; Clemens, Künemund u. Parey, Erwerbsbeteiligung, S. 47 ff.
270 Kontinuität nach dem Boom Triebkräfte, denen sich alle westlichen Industrieländer gemeinsam ausgesetzt sahen. Zu diesen, in erster Linie auf die Nachfrage nach Arbeitskräften sich auswirkenden push-Faktoren gehörte zunächst einmal der mit »Deindustrialisierung« nur unzureichend umschriebene beschleunigte wirtschaftliche Strukturwandel, der den Niedergang traditionell bedeutender Wirtschaftszweige mit sich brachte und viele Arbeitnehmer ebenso überflüssig machte wie die Qualifikationen, die sie besaßen. Noch weit wichtiger war die Abfolge von ökonomischen Krisen, die die Weltwirtschaft nach dem ersten Ölpreisschock von 1973 erfassten. Allenthalben bildete der frühzeitige Rückzug älterer Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt einen Teil der Reaktion, mit der man versuchte, den in den Rezessionen seit Mitte der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre rasch anschwellenden Arbeitslosenzahlen Herr zu werden. Insofern war die abnehmende Erwerbsbeteiligung der Älteren zu einem Gutteil die direkte Konsequenz der makroökonomischen Ungleichgewichtslagen nach dem Ende des Booms. Dass der allgemeine Trend zum frühen Ruhestand sich weit deutlicher im Verlauf der Erwerbsquoten für ältere Männer (Graphik 9) als bei den Frauen (Graphik 10) abzeichnete, lag daran, dass sich bei letzteren zwei gegenläufige Entwicklungen überlagerten. Auf der einen Seite nämlich stieg die Erwerbsquote der Frauen insgesamt in allen OECD -Ländern im Zeitverlauf an; je jünger sie waren, desto häufiger tendierten Frauen überall dazu, ihre Erwerbstätigkeit auch während der Kinderaufzucht beizubehalten oder danach zu ihr zurückzukehren. Im Hinblick auf die Erwerbsquote fand sich durch diese Entwicklung wenigstens partiell konterkariert, dass auf der anderen Seite – wie etwa ein Blick auf den Rückgang der um Kohorteneffekte bereinigten Erwerbstätigkeitsquoten der 60–64jährigen gegenüber der Altersgruppe der 55–59jährigen zeigt – auch unter den älteren Frauen seit den frühen 1970er Jahren ein internationaler Trend zur Vorziehung des Ruhestands vorherrschte, der der Frühverrentungstendenz der Männer entsprach.104 Während der allgemeine internationale Trend zum frühen Ruhestand durch die gemeinsamen wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen sich die westlichen Industrieländer seit den frühen 1970er Jahren konfrontiert fanden, recht gut erklärt wird, lassen sich die massiven Unterschiede, die im Ausmaß der Frühverrentung zwischen den einzelnen Ländern bestanden, nur plausibilisieren, wenn man sich den sozialpolitisch begründeten und vor allem auf das Arbeitskräfteangebot wirkenden pull-Faktoren zuwendet. In den erheblich voneinander differierenden Erwerbsquoten der Älteren spiegelten sich ganz wesentlich die unterschiedlichen Anreizstrukturen und Möglichkeiten wider, die die verschiedenen Wohlfahrtsstaaten im Hinblick auf ein früheres Ausscheiden aus dem Arbeitsleben bereithielten. Die ansonsten zuweilen etwas holzschnittartig anmutende Einteilung in verschiedene wohlfahrtsstaatliche 104 Vgl. Ebbinghaus, Reforming, S. 92, 106–109; ders. u. Schulze, Krise, S. 284.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 271
Graphik 10: Erwerbsquoten der 60–64jährigen Frauen (in %), 1970–1998 60
50
40
30
20
10
0 1970
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1980 Westdeutschland
UK
1985 OECD
1990 Schweden
1995
Quelle: OECD.Stat; UK 1972–1983: OECD, Labour Force Statistics 1970–1990, S. 508 f.
Regimetypen vermag in diesem Kontext ein beträchtliches Erklärungspotential zu entfalten. Die Bundesrepublik Deutschland repräsentiert dabei den kontinentaleuropäisch-konservativen Wohlfahrtsstaat, der den älteren Arbeitnehmern in den 1970er und 1980er Jahren vielfältige und großzügige Zugangspfade zur frühzeitigen Verrentung offerierte. Entsprechend stark ging die Erwerbsbeteiligung der Älteren hier zurück – noch ausgeprägter als in Westdeutschland war das in den Niederlanden und Frankreich der Fall. Großbritannien steht exemplarisch für den Typus des liberalen Wohlfahrtsstaats, unter den sich etwa auch die Vereinigten Staaten subsumieren lassen. Die Erwerbsquote der Älteren lag hier deutlich höher als in den konservativen Wohlfahrtssystemen, da es weit weniger und restriktiver gehandhabte sozialstaatlich abgefederte Wege in den frühen Ruhestand gab. Die Risiken des frühzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt waren überwiegend individualisiert – in den meisten Fällen waren die Betroffenen auf Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe angewiesen, um die Zeit zwischen Ende der Erwerbstätigkeit und Rentenbezug zu überbrücken. Dass die Erwerbsquote der 60–64jährigen Frauen sich in Großbritannien trotzdem auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau bewegte (Graphik 10), lag schlicht daran, dass für sie traditionell ein gesetzliches Rentenalter von nur 60 Jahren galt. Die weit über dem gewichteten OECD -Durchschnitt
272 Kontinuität nach dem Boom liegende Erwerbsquote der Älteren, die Schweden als Vertreter des skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodells aufweist, mag angesichts des hierfür typischen allgemein hohen Niveaus sozialstaatlicher Absicherung auf den ersten Blick etwas überraschen. Doch setzte die schwedische Sozialpolitik in den 1970er und 1980er Jahren weniger auf die passive Strategie einer Entlastung des Arbeitsmarkts durch Frühverrentung als auf aktivierende Maßnahmen, die auf eine möglichst weitgehende Inklusion der Älteren abzielten. Hierzu gehörte nicht zuletzt auch die umfassende Förderung von Teilzeitarbeit in den letzten Jahren der Erwerbstätigkeit.105 In der Bundesrepublik Deutschland durchliefen die Entwicklung zum vorgezogenen Ruhestand und die Diskussion darüber in den 1970er und 1980er Jahren drei Phasen.106 Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit nutzten Arbeitnehmer und Unternehmer zunächst extensiv die in der Gesetzlichen Rentenversicherung schon bestehenden Möglichkeiten zum vorzeitigen Rentenbezug, die ursprünglich nicht als arbeitsmarktpolitische Instrumente konzipiert worden waren, sondern überwiegend Sonderrechte zur Verbesserung der Lage einzelner Beschäftigengruppen darstellten. Hierzu gehörten insbesondere das Schwerbehindertenruhegeld, das vorzeitige Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit, das Frauenaltersruhegeld ab 60 sowie die gerade 1972 unter Vollbeschäftigungs bedingungen eingeführte flexible Altersgrenze, die für langjährig Versicherte den Rentenbezug ab 63 ermöglichte. Am wichtigsten jedoch war die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, deren Bezug durch Urteile des Bundessozialgerichts von 1969 und 1976 deutlich erleichtert worden war und deren Anteil an allen Rentenarten gemeinsam mit der Berufsunfähigkeitsrente bis zum Anfang der 1980er Jahre auf ungefähr die Hälfte der Rentenzugänge sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen anschwoll.107 In der zweiten Phase seit den späten 1970er Jahren förderte die westdeutsche Sozialpolitik die Frühverrentung gezielt. Nachdem die Altersgrenze für den Bezug des Schwerbehindertenruhegelds schrittweise herabgesetzt worden war, erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt mit dem Vorruhestandsgesetz von 1984, das unter bestimmten Bedingungen den Übergang in den vorgezogenen Ruhestand nach der Vollendung des 58. Lebensjahrs ermöglichte. Hervorzuheben ist dabei ebenso wie für alle anderen westdeutschen Wege zum frühen Ruhestand, dass sich die Einkommensersatzleistungen durchweg am vorherigen Einkommen orientierten, das Prinzip des Statuserhalts also bruchlos von der Alterssicherung auf die expandierende Brückenzeit zwischen Ausstieg aus 105 Vgl. zu diesem Absatz Ebbinghaus, Reforming; Jacobs, Kohli u. Rein, Evolution; Kohli u. Rein, The Changing Balance; de Vroom u. Blosma, The Netherlands; Guillemard, France; Jacobs, Kohli u. Rein, Germany; Laczko u. Phillipson, Great Britain; Wadensjö, Sweden; Casey, Exit Options. 106 Vgl. Jacobs, Kohli u. Rein, Germany, S. 182; Jacobs u. Schmähl, Übergang, S. 196 f. 107 Vgl. Conradi, Jacobs u. Schmähl, Vorzeitiger Rentenbezug, S. 184, Tab. 2.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 273
dem Arbeitsleben und gesetzlichem Rentenalter übertragen wurde. Ebenfalls zu betonen gilt es – darauf hat unlängst insbesondere Bernhard Ebbinghaus hingewiesen –,108 dass die individuellen und kollektiven Akteure auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite im Prozess der sprunghaften Zunahme der Frühverrentung eine zentrale Rolle spielten, da sie sich an der Schnittstelle von ökonomischen push- und sozialpolitischen pull-Faktoren bewegten und bei ihnen die konkrete Entscheidung darüber lag, ob und inwieweit die verschiedenen Zugangspfade zum frühzeitigen Ruhestand beschritten wurden. Bis zur Mitte der 1980er Jahre lässt sich dabei von einem breiten, Arbeit, Kapital und Staat einschließenden Konsens ausgehen: Während die Arbeitgeber in der Frühverrentung das sozial verträglichste Mittel zum Abbau von Stellen und zur ökonomischen Restrukturierung erblickten, sahen die Gewerkschaften ebenso wie die staatlichen Akteure in ihr ein Hauptinstrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Unter den älteren Arbeitnehmern schließlich erfreute sich der finanziell gut abgepolsterte vorgezogene Ruhestand einer enormen Popularität. Ganz überwiegend empfanden sie ihn nicht als erzwungen, sondern als Einstieg in eine »späte Freiheit« (Leopold Rosenmayr)109 und sahen in ihm schon bald einen »erworbene[n] und schutzbedürftige[n] Anspruch«.110 In der dritten Phase seit Mitte der 1980er Jahre erodierte der allgemeine gesellschaftliche Frühverrentungskonsens. Was zuvor von allen als Königsweg angesehen worden war, erschien nun zunehmend als problembehaftet. Verantwortlich für diesen Einstellungswandel war in erster Linie zum einen die Bundesregierung, in der sich der rechte Flügel der CDU/CSU und die FDP mit ihrer Überzeugung durchsetzten, dass die Vorverlegung des Ruhestands auf die Dauer die Grenzen der Finanzierbarkeit sprenge und überdies als arbeitsmarktpolitische Maßnahme nur mäßigen Erfolg gezeitigt habe. Zum anderen wandten sich auch die Arbeitgeber mehr und mehr gegen die Frühverrentung, da ihnen die auf sie selbst bei einigen Zugangspfaden zum frühen Ruhestand entfallenden Kosten zu hoch waren und sie befürchteten, dass sich der Vorruhestand für die Arbeitnehmer zu einem »unantastbaren sozialen Besitzstand« entwickeln könnte.111 In der argumentativen Wende gegen die Frühverrentung spielte darüber hinaus der Vergleich mit anderen OECD -Ländern eine Rolle, 108 Vgl. Ebbinghaus, Reforming. 109 Rosenmayr, Späte Freiheit. 110 Kohli, Künemund u. Wolf, Der demographische und arbeitsmarktpolitische Hintergrund, S. 29. Vgl. Kohli u. a., Je früher; Jacobs, Kohli u. Rein, Germany, S. 209 ff. 111 So die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Die Verlängerung des Vorruhestands bleibt umstritten, in: FAZ , 22.7.1987. Vgl. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Hg.), Grundsätze, S. 14 f.; CDU-Wirtschaftsrat für längere Lebensarbeitszeit, in: FAZ , 3.12.1987; Den Streit über die Vorruhestandsregelung nur vorläufig entschärft, in: FAZ , 4.2.1988; Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit weiter umstritten, in: FAZ , 3.2.1989.
274 Kontinuität nach dem Boom der das niedrige bundesdeutsche Erwerbsquotenniveau im Verhältnis zu anderen führenden Industriestaaten dokumentieren sollte.112 Und auch jene Position innerhalb der Gerontologie, die vor den negativen Auswirkungen eines frühzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsleben für die Betroffenen warnte, Arbeit als »beste Geroprophylaxe« betrachtete und für eine »echte Flexibilisierung der Altersgrenze« in beide Richtungen – also nicht nur im Sinne einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit – warb, stieß nun auf zunehmende Resonanz.113 Es konnte durchaus als Signal gelten, dass mit Ursula Lehr 1988 eine der Hauptprotagonistinnen dieser gerontologischen Sichtweise zur Bundesfamilienministerin ernannt wurde.114 Die Konsequenzen des politischen Klimawechsels ließen nicht lange auf sich warten: Schon 1984 wurden die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Erwerbsminderungsrenten deutlich verschärft; 1988 lief das Vorruhestandsgesetz aus, ohne dass seine Bestimmungen verlängert wurden. In der Frage des vorgezogenen Ruhestands stand eine grundsätzliche Neuorientierung auf der politischen Tagesordnung. 4. Demographischer Wandel. Die vierte Herausforderung für die bundesdeutsche Alterssicherung, die in den Debatten seit Mitte der 1970er und dann vor allem im Laufe der 1980er Jahre immer mehr in den Vordergrund trat, war die demographische Alterung. Zwar hatte die Bevölkerungsentwicklung in der deutschen Rentenpolitik auch früher schon durchaus eine Rolle gespielt. So hatte man in den 1960er Jahren – wie etwa auch der Bericht der Sozialenquête-Kommission von 1966 dokumentiert – insbesondere dem ab Mitte der 1970er Jahre erwarteten »Rentenberg« ein hohes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt.115 Doch war dieser als ein durch die stärkere Besetzung einiger Geburtsjahrgänge bedingtes, vorübergehendes Phänomen – eben als »Berg«, bei dem der Ab- dem Aufstieg folgte – verstanden worden, der im Rahmen des geltenden Alterssicherungssystems durch temporäre Beitragserhöhungen relativ problemlos zu bewältigen war. Das galt zumal, weil der Erfahrungsraum der Zeitgenossen durch den langjährigen wirtschaftlichen Boom sowie die hohen Fertilitätsraten der Nachkriegszeit geprägt war und sie dazu neigten, hierauf auch ihre Zukunftserwartungen aufzubauen. Als sich die vermeintlich stabilen ökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen dann in den 1970er Jahren angesichts wirtschaftlicher Krisen und dauerhaft sinkender Geburtenraten im Abstand von wenigen Jahren in Luft auflösten, da gewann auch der de112 Vgl. BMAS (Hg.), Informationen über den Diskussions- und Referentenentwurf, S. 15. 113 Zitate: Lehr, Arbeit, S. 35; Vom Achtstundentag zum Nullstundentag?, in: FAZ , 24.3.1988. 114 Vgl. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 264, die Lehr aber fälschlicherweise ins Lager der Gegner der »These der Individualität der Alternsprozesse« und damit der differentiellen Gerontologie einordnen. 115 Vgl. Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Ziff. 478 ff. Siehe auch oben, Kap. IV.3.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 275
mographische Diskurs in der Rentenpolitik einen grundlegend anderen Charakter. Zunehmend ging es nun nicht mehr um durch Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur notwendig gewordene innersystemische Anpassungen, sondern darum, ob und inwieweit der demographische Wandel das bestehende Alterssicherungssystem als Ganzes in Frage stellte. Gleichzeitig rückte das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen – hier verstanden als Alterskohorten – in den Mittelpunkt, das sich eng mit der Beschwörung der Gefahr einer Entwicklung »[v]om Generationenvertrag zum Generationenkonflikt« verband.116 Bis zum Anfang der 1970er Jahre war der demographische Katastrophen diskurs auf die Auseinandersetzung mit der »Bevölkerungsexplosion« in der »Dritten Welt« beschränkt gewesen. Seit der Mitte des Jahrzehnts fand sich diese nach außen gerichtete Perspektive dann zunehmend durch das Niedergangs szenario flankiert, das sich aus der reflexiven Beschäftigung mit den Folgen des sich als dauerhaft erweisenden Geburtenrückgangs speiste.117 Eine Vorreiterfunktion nahmen dabei insbesondere die Bildungsinstitutionen der katholischen Kirche ein, die eine Reihe von Tagungen zum Thema organisierten. Mit nur kurzer Verzögerung erreichte die Diskussion über die Ursachen und Folgen der seit 1964 kontinuierlich abnehmenden Geburtenzahlen bereits in der Mitte der 1970er Jahre eine breitere Öffentlichkeit, da sie zunehmend in den Fokus der Massenmedien rückte.118 In der politischen Arena waren es vor allem CDU und CSU, die sich der demographischen Thematik annahmen. Mit ihrer Hilfe ließ sich nicht nur die Bedeutung familienpolitischer Fragen untermauern, die im Programm der Christdemokraten eine herausgehobene Rolle spielten; sie eignete sich auch als Hebel zur Kritik der sozial-liberalen Sozialpolitik und passte glänzend zu den Thesen der »Neuen Sozialen Frage«, die aus anderen Gründen ebenfalls den »Generationenkonflikt« akzentuierten (vgl. Kap. VI.1). Ab 1977 konvergierte die sich intensivierende demographische Diskussion dann verstärkt mit der Debatte über die akute Finanzkrise der Rentenversicherung, die zu diesem Zeitpunkt in ihre heiße Phase eintrat. Seither entwickelte sich parallel zur Auseinandersetzung über die richtige Reaktion auf die kurzfristigen finanziellen Schwierigkeiten der GRV eine zunehmend an Raum gewinnende Diskussion über die durch die demographische Alterung verursachten Langfristprobleme des bundesdeutschen Alterssicherungssystems.
116 Geißler, Bevölkerungsentwicklung, S. 156. 117 Zum Verlauf der demographischen Debatte der 1970er und 1980er Jahre vgl. allg. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 362–371; Geyer, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 6, S. 226–229; Süß, Von der Reform, S. 276–282. 118 Vgl. nur Der geplante Kindersegen, in: FAZ , 21.4.1973; Düstere Prognosen und Vermutungen, in: FAZ , 21.2.1976, sowie den Spiegel-Titel »Sterben die Deutschen aus?« mit dem Leitartikel »Die Kinder wollen keine Kinder mehr«, in: Der Spiegel, 24.3.1975.
276 Kontinuität nach dem Boom Zunächst beherrschten dabei die wissenschaftlichen Experten mit ihren Modellrechnungen und Prognosen das Bild. Bei allen Abweichungen im Einzelnen kamen sie in Fortschreibung des demographischen Trends der vorangegangenen Jahre weitgehend übereinstimmend zu dem Schluss, dass der sog. »Alterslast-« oder »Altersquotient« – das Verhältnis der über 60- bzw. über 65 jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter – kurz vor der Jahrtausendwende zunächst moderat, zwischen etwa 2010 und 2030 dann aber rapide ansteigen würde.119 Diese Entwicklung, so die Experten, brachte eine deutliche Verschlechterung der Zahlenrelation von Beitragszahlern und Rentenempfängern mit sich, die die Rentenversicherung auf lange Sicht vor massive Schwierigkeiten stellen musste. Unterstelle man ansonsten konstante Bedingungen, resümierte der Sozialbeirat 1981 auf der Grundlage des Gutachtens der von ihm eigens zum Studium der »Langfristigen Probleme der Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland« eingesetzten Wissenschaftlergruppe, müssten die Beiträge zur Rentenversicherung infolge der demographischen Alterung bis zum Jahr 2035 von derzeit »18,5 v.H. bis auf knapp 35 v.H. angehoben werden«, wenn man das bestehende Brutto-Rentenniveau aufrechterhalten wolle. Alternativ müsse das Brutto-Rentenniveau von aktuell 44 auf 25 % sinken, wenn der Beitragssatz nicht steigen sollte.120 Als überaus einflussreich erwies sich darüber hinaus, dass Oswald von NellBreuning, der Nestor der katholischen Soziallehre, zeitgleich zur Verfestigung dieser demographischen Bedrohungsszenarien Ende der 1970er Jahre in seinen sozialpolitischen Interventionen verstärkt die Abhängigkeit des bundesdeutschen Alterssicherungssystems von der Bevölkerungsentwicklung betonte. Man solle sich »endlich zu der Erkenntnis durchringen«, führte v. Nell-Breuning in einem 1978 erschienenen und weithin beachteten Artikel aus, »dass die Sicherung des Alters sich immer und notwendig im Drei-Generationen-Prozess abspiel[e]«. Die vorherrschende Sichtweise dagegen konzentriere sich ausschließlich auf das Verhältnis von zwei Generationen, der Beitragszahler und der Rentenbezieher, und habe darüber völlig die Frage der Aufzucht der dritten, der nachwachsenden Generation vernachlässigt, die den eigentlichen »Dreh- und Angelpunkt des Systems« darstelle. Man habe zugelassen, dass die »Sorge für die Alten ›sozialisiert‹« worden sei, während die Kosten der Kindererziehung weiterhin »›individualisiert‹ bei den einzelnen Familien oder Elternpaaren« 119 Vgl. etwa Grohmann, Gesetzliche Rentenversicherung, S. 17 f.; ders., Anpassungs- und Entlastungsstrategien, S. 17; ders., Auswirkungen, S. 54; BT Drs. 8/4437: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, S. 45 ff.; Löwe, Demographisch bedingte Probleme, S. 105; Lübeck, Die demographische Komponente, S. 142 ff. 120 BT Drs. 9/632: Gutachten des Sozialbeirats über langfristige Probleme der Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Ziff. 17. In der Anlage auch das Gutachten der vom Sozialbeirat eingesetzten Wissenschaftlergruppe.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 277
lägen. Auf diese Weise sei zugunsten der Kinderlosen, die »›ihre Zukunft auf die Kinder der anderen aufbau[t]en‹«, eine »A-Symmetrie« entstanden, die der »Forderung der Gerechtigkeit ins Gesicht« schlage.121 In dieser Argumentation war zugleich eine Umkehrung der üblicherweise unterstellten Kausalitätsbeziehung angelegt, die – wie noch zu zeigen sein wird (Kap. VI.3) – im weiteren Verlauf der deutschen Rentenreformdiskussion auf einige Resonanz stieß, in der Debatte in Großbritannien und anderen Ländern hingegen nicht anzutreffen ist. Während nämlich v. Nell-Breuning zusammen mit allen anderen bislang davon ausgegangen war, dass die Bevölkerungsentwicklung die unabhängige Variable darstellte, auf die das Rentensystem als abhängige Größe zu reagieren habe, nahm er jetzt den entgegengesetzten Wirkungszusammenhang in den Blick und fragte nach den Konsequenzen des Alterssicherungssystems für das generative Verhalten.122 Er gelangte zu dem Ergebnis, dass die GRV durch ihren institutionellen Zuschnitt nicht nur generative Leistungen unberücksichtigt lasse, sondern sogar Kinderlosigkeit prämiere und damit einen »starken Anreiz aus[übe], die Kinderzahl zu beschränken oder auf Kinder ganz zu verzichten und dadurch die ohnehin stattfindende Vergreisung noch zu beschleunigen«.123 Da sie das Aufziehen von Kindern zur kostspieligen, ökonomisch unrentablen Privatangelegenheit mache, so v. Nell-Breunings Argument, trage die Rentenversicherung dazu bei, ihre eigenen demographischen Grundlagen zu zerstören. Abhilfe könne hier nur die Rückkopplung der Rentenformel an ihre naturalen Bestandsvoraussetzungen im Sinne einer Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Beitragsbemessung schaffen. In eine neue Phase der Intensivierung trat die Debatte über die demographische Problemdimension der Rentenversicherung mit der »Wende« von 1982 ein, als mit den Unionsparteien die politischen Hauptprotagonisten dieser Stoßrichtung auf der Bundesebene in die Regierungsverantwortung einrückten. Während zur Zeit der sozial-liberalen Koalition die Bonner Regierung einen eher entdramatisierenden Ton gepflegt und beispielsweise Anke Fuchs, Staatssekretärin im Arbeitsministerium, 1980 nicht nur Skepsis gegenüber dem Realitätsgehalt langfristiger Modellrechnungen geäußert, sondern auch auf die »Entlastungseffekte gesunkener Kinderzahlen« als positive Begleiterscheinung des Geburtenrückgangs hingewiesen hatte,124 gewannen die demographischen Schreckensszenarien nach dem Regierungswechsel zunehmend an politischer Durchschlagskraft. Ein deutliches Zeichen setzte bereits die Regierungserklärung vom 4. Mai 1983, in der Bundeskanzler Helmut Kohl die Notwendigkeit 121 Nell-Breuning, Soziale Sicherheit, S. 75–80, Zitate: S. 77–80. Vgl. ders., Soziale Rentenversicherung; ders., Drei Generationen. 122 Vgl. Nell-Breuning, Soziale Sicherheit, S. 12 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden die luziden Ausführungen von Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 367–370, 378–381. 123 Nell-Breuning, Soziale Rentenversicherung, S. 377. 124 Fuchs, Bevölkerungsentwicklung, S. 150 f. Vgl. ebd., S. 148.
278 Kontinuität nach dem Boom einer grundlegenden Rentenreform ausschließlich mit »unserer katastrophalen demographischen Entwicklung« begründete.125 In der Folgezeit überlagerte dann die demographische Alterung mehr und mehr alle anderen Problembereiche und avancierte zu der zentralen Herausforderung für die Zukunft der Rentenversicherung – dieser Siegeszug lässt sich sowohl parteiübergreifend, wenn auch nur eingeschränkt bei den Grünen, als auch in weiten Teilen der publizistischen Öffentlichkeit beobachten. Schon Mitte der 1980er Jahre entsprach die demographische Lesart der Krise des deutschen Rentensystems dem gesellschaftlich weithin akzeptierten common sense. Exemplarisch für viele andere konnte etwa der »Spiegel« 1985 feststellen: »Die Hauptursache des Rentendilemmas ist seit langem bekannt: Die Deutschen ziehen seit 20 Jahren immer weniger Kinder groß … Heute versorgen 100 Beitragszahler etwa 46 Rentner. Im Jahre 2030 wird jeder Arbeitnehmer etwa einen Rentner unterhalten müssen.« Und auch in der Begründung des von den Unionsparteien, der SPD und FDP gemeinsam getragenen Gesetzentwurfs zur Rentenreform von 1989 dominierten die »Änderung des Altersaufbaus unserer Bevölkerung und die sich daraus ergebenen tiefgreifenden Auswirkungen« die Problembeschreibung vollständig.126 Die seit Mitte der 1970er Jahre schwelende Finanzkrise der GRV, die ihre Ursache gerade nicht in demographischen Verschiebungen, sondern im Zusammentreffen von forciertem wohlfahrtsstaatlichen Leistungsausbau, Wirtschaftskrisen und Frühverrentung hatte, war dagegen in der zeitgenössischen Problemwahrnehmung weit in den Hintergrund gerückt. Im deutsch-britischen Vergleich lassen sich zunächst einmal einige Gemeinsamkeiten konstatieren: In beiden Fällen wurde die demographische Entwicklung ganz überwiegend als Bedrohung wahrgenommen. Damit bewegte man sich in der Tradition eines sowohl das gesamte 20. Jahrhundert als auch nationale Grenzen überspannenden Bevölkerungsdiskurses, in dessen Zentrum der demographische Niedergang stand und der seine erste internationale Hochphase in der Bevölkerungspanik der Zwischenkriegszeit erlebte, die den allenthalben zu beobachtenden Geburtenrückgang begleitete.127 Gemeinsam war der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien darüber hinaus, dass das demographische Argumentationsmuster in beiden Ländern als Gegendiskurs zur traditionellen Sozialpolitik mit der ihr eingeschriebenen Logik der Leistungsausweitung fungierte und statt dessen auf eine Politik des sozialstaatlichen Rückbaus zielte. Schließlich gelang es sowohl in Westdeutschland als auch im Vereinigten Königreich einer konservativen Regierung in den 1980er Jahren unter Berufung auf die voranschreitende demographische Alterung, größere Rentenreformgesetze mit strukturellen Kürzungen durchzusetzen. 125 Kohl, BT 10/4 (4.5.1983), S. 61. 126 BT Drs. 11/4124, S. I. 127 Vgl. nur Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang.
Problemdimensionen der deutschen Alterssicherung 279
Mindestens ebenso aufschlussreich ist der Vergleich dort, wo er die Unterschiedlichkeit der bundesdeutschen und britischen Entwicklung zutage treten lässt. Der wichtigste Unterschied bestand darin, dass der demographische Diskurs in der Bundesrepublik früher Fuß fasste und er früher eine breite gesellschaftliche Akzeptanz fand. Während sich die Regierung Kohl mit ihrer demographischen Argumentation von Beginn an auf einem durch zahlreiche Prognosen und jahrelange Debatten wohlvorbereiteten Terrain bewegte, bezog sich Thatcher, als sie zum selben Zeitpunkt die demographische Alterung als Begründung für die Demontage von SERPS anführte, auf ein Thema, das in Großbritannien bislang nur in einem relativ kleinen Expertenkreis verhandelt worden war. Während in der Bundesrepublik das Szenario der voranschreitenden gesellschaftlichen »Vergreisung« bereits Mitte der 1980er Jahre zum allgemein anerkannten Wissen gehörte, das in Medienberichten und politischen Diskussionen wieder und wieder reproduziert wurde, war dieser Stand im Vereinigten Königreich erst rund ein Jahrzehnt später erreicht. Als Gründe für den nicht nur im Vergleich zu Großbritannien frühen Beginn des demographischen Diskurses in Westdeutschland und die weit größere Bedeutung, die ihm hier für die Rentenpolitik der 1980er Jahre zukam, lassen sich vor allem zwei Faktoren anführen. Der erste war die im internationalen Vergleich besonders scharfe Ausprägung, die der Geburtenrückgang seit der Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik angenommen hatte. Zwar entsprach diese Entwicklung einem allgemeinen Trend, der in allen Industrieländern nach dem Baby-Boom der Nachkriegszeit zu beobachten war. Doch sackte die Fertilität in Westdeutschland in den 1970er und 1980er Jahren auf ein Niveau ab, das niedriger als fast überall sonst war: Bereits im Jahrfünft 1970/75 verzeichnete die Bundesrepublik nur noch durchschnittlich 1,64 Geburten je Frau (Gesamtfertilitätsrate), während es in Großbritannien noch 2,01 waren; bis 1985/90 (BRD: 1,43; UK : 1,84) war die Geburtenrate in beiden Ländern weiter gefallen, der Abstand aber erhalten geblieben.128 Da auch die Zeitgenossen die Position der Bundesrepublik am unteren Ende der internationalen Geburten-Rangliste aufmerksam registrierten,129 galt der Problemdruck der demographischen Alterung in Westdeutschland als besonders hoch und war die Sensibilität für ihre Auswirkungen hier entsprechend groß. Der zweite Grund für die prominente Rolle der demographischen Argumentation im bundesdeutschen Kontext
128 Daten: Population Division of the Department of Economic and Social Affairs of the United Nations Secretariat, World Population Prospects: The 2010 Revision. Bei der Gesamtfertilitätsrate (total fertility rate) handelt es sich um eine Kunstziffer, die die Summe der altersspezifischen Fertilitätsraten in einem bestimmten Zeitraum wiedergibt. 129 Vgl. nur exemplarisch: Die Kinder wollen keine Kinder mehr, in: Der Spiegel, 24.3.1975; BT Drs. 8/4437: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 1. Teil, S. 31 ff.; Schmidt-Kaler, Kurskorrektur, S. 29.
280 Kontinuität nach dem Boom leitete sich aus dem breiten politischen Konsens ab, auf dem die Rentenpolitik hier bislang gefußt hatte und weiterhin basierte. Anders als in Großbritannien, wo die Rentenpolitik auch in den 1980er Jahren hochumstritten blieb und die Opposition gar keine Veranlassung sah, in die von der Regierung angeschlagene Rhetorik demographischer Sachzwänge einzustimmen, eröffnete der Bevölkerungskurs in der Bundesrepublik für alle Beteiligten der von der SPD über die FDP bis zur CDU/CSU reichenden großen rentenpolitischen Koalition eine Art Königsweg: Dank der natural-demographischen Umdeutung wenigstens teilweise selbst produzierter Probleme vermochten sie nun die seit den späten 1970er Jahren anstehende Umsteuerung in der Alterssicherungspolitik zu vollziehen, ohne sich mit den eigenen Fehlern der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen.
3. Rentenreform am Abend des Mauerfalls Auf die spätestens seit 1976 offenkundige Krise des bundesdeutschen Alters sicherungssystems hatten die sozial-liberale und anfangs auch die christlichliberale Koalition mit einer Reihe von ad hoc-Maßnahmen reagiert, die auf die kurzfristige Stabilisierung der Rentenfinanzen zielten (vgl. Kap. VI.2). Die teilweise im Jahrestakt erfolgenden diskretionären Eingriffe hatten freilich den Eindruck einer Dauerkrise des Rentensystems eher verstärkt als beseitigt. Anfang 1985 gaben zwei Drittel der Befragten bei einer Umfrage der »Forschungsgruppe Wahlen« an, dass sie nicht glaubten, dass die Renten auch in Zukunft (»in 20 Jahren«) noch sicher seien; 62 % waren der Überzeugung, dass es ihnen später als Rentner einmal schlechter gehen würde als den Rentnern in der Gegenwart. Dass dieser »Verlust des Vertrauens in die staatliche Alterssicherung« als das Flaggschiff des deutschen Sozialstaats »rasch auch zu Vertrauenseinbußen in anderen Bereichen des Gemeinwesens führen« könne und dann der »Weg von der Rentenkrise zur Staatskrise … nicht weit« sei, war eine Befürchtung, die viele Politiker und politische Publizisten teilten.130 Vor diesem Hintergrund und angesichts der massiven Probleme, mit denen das Rentensystem konfrontiert war, gelangten die politischen Akteure in den 1980er Jahren weitgehend unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit zunehmend zu der Auffassung, dass es unumgänglich sei, den Weg punktueller Korrekturmaßnahmen zu verlassen und eine grundlegende Reform der bundesdeutschen Alterssicherung in Angriff zu nehmen. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg hatte Helmut Kohl bereits 1983 in der Regierungserklärung »eine umfassende Strukturreform der Renten-
130 Von der Rentenkrise in die Staatskrise?, in: Der Spiegel, 4.3.1985.
Rentenreform am Abend des Mauerfalls 281
versicherung« angekündigt.131 Da sich die öffentliche Diskussion als langwierig und der mit weit mehr Veto-Spielern als in Großbritannien besetzte Entscheidungsprozess als äußerst mühsam erwies, wurde das Reformprojekt entgegen dieser Planung in die nächste Legislaturperiode verschoben. In ihren Grundzügen in den Koalitionsvereinbarungen von 1987 konkretisiert,132 verabschiedete der Bundestag schließlich die nach dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens als »Rentenreform 1992« bezeichnete Neuordnung der Alterssicherung am 9. November 1989 – knapp eine Stunde vor der Maueröffnung, deren Folgen die Planungsgrundlagen der Reformer zur Makulatur machten. Es spiegelt die Tiefe der Krise des Rentensystems bzw. die Dramatik ihrer Perzeption wider, dass im Vorfeld der Reform von 1989 erstmals seit den 1950er Jahren eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt und breit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit diskutiert wurde, die auf eine grundlegende Neuordnung der Alterssicherung zielten. In besonderer Weise intensivierte sich die Debatte im Laufe des Jahres 1985, als gleich mehrere konkurrierende Reformkonzepte präsentiert wurden. Zu ihnen gehörte der wohl die größte Aufmerksamkeit auf sich ziehende Plan einer Altersgrundsicherung, den Meinhard Miegel, der Leiter des CDU-nahen Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, zusammen mit Stefanie Wahl entwickelt hatte und den auch IWG -Vorstand Kurt Biedenkopf unterstützte. Im Vordergrund von Miegels Problemanalyse standen zum einen die »[t]iefgreifende[n] Veränderungen des Bevölkerungsaufbaus«, die »die Grundlagen des bestehenden Generationenvertrages« untergruben.133 Zum anderen waren es ökonomische und soziale Wandlungsprozesse – allen voran das Ende der Vollbeschäftigung, die Zunahme unterbrochener Erwerbsbiographien und der Zerfall der traditionalen Familienstruktur – sowie »eine Fülle bestehender Ungerechtigkeiten« – zwischen Männern und Frauen, öffentlich und privatwirtschaftlich Beschäftigten, erwerbstätigen Frauen und kindererziehenden Müttern –, die nach seiner Auffassung einen vollständigen Umbau des bestehenden Alterssicherungssystems notwendig machten.134 Miegels Alternativmodell bestand in einer steuerfinanzierten und für alle gleich hohen Grundsicherung in Höhe von 40 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts, die mit Vollendung des 63. Lebensjahres jedem zustehen sollte, der seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik hatte. Da keine Bedürftigkeitsprüfung vorgesehen war, dominierte als regulative Gerechtigkeitsvorstellung klar das Gleichheitsprinzip – Gleichheit auf einem Niveau freilich, das mit einer Grund131 Kohl, BT 10/4 (4.5.1983), S. 61. 132 Die Koalitionsvereinbarungen von 1987 sind abgedruckt in: CDU-Dokumentation 9/1987, S. 5–27 (http://www.kas.de/wf/doc/kas_26810-544-1-30.pdf?110902100916). 133 Miegel u. Wahl, Gesetzliche Grundsicherung, S. 11. 134 Beitrag Miegels im Rahmen des »Zeit«-Forums »Reform oder Revolution«, in: Die Zeit, 22.11.1985. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Miegel u. Wahl, Gesetzliche Grundsicherung; Miegel, Sicherheit; Ruhegeld von der Obrigkeit?, in: Die Zeit, 27.9.1985.
282 Kontinuität nach dem Boom sicherung von ca. 800 DM in 1985 weit unter der damaligen Standardrente (nach 45 Versicherungsjahren) von 1524 DM lag.135 Jede darüber hinausgehende Alterssicherung sollte vollständig der privaten Vorsorge überlassen sein. Die Zeit für den Übergang zur Grundsicherung veranschlagte Miegel auf etwa 25 Jahre; bis dahin sollten alle Sondersysteme – auch jene des öffentlichen Dienstes – weitgehend abgewickelt werden. Dem Grundsicherungskonzept Miegels sehr nahe kam der Vorschlag des Kronberger Kreises, eines 1982 gegründeten Zusammenschlusses prominenter marktfundamentalistischer Ökonomen. Auch der Kronberger Kreis favorisierte eine »Existenzsicherungsrente« in Höhe von 40 % des durchschnittlichen Nettolohns und damit ungefähr auf »Sozialhilfeniveau«. Anders als bei Miegel sollte diese Mindestrente jedoch nicht durch Steuern, sondern durch für alle Ver sicherten gleich hohe Pauschalbeiträge finanziert und in voller Höhe nur nach einem erfüllten Beitragsleben ausgezahlt werden – was ziemlich genau dem ursprünglichen Beveridge-Modell kurz nach seiner Einführung entsprach, ohne dass das von den Wirtschaftswissenschaftlern explizit vermerkt worden wäre. Auch diese Minimalversion jedoch war für die sich scharf gegen die »Total versorgung« der bundesdeutschen Sozialversicherung wendenden Ökonomen lediglich eine »zweitbeste Lösung«. Als ideal, aber angesichts der in der Bundesrepublik bereits bestehenden institutionellen Struktur leider nicht realisierbar erschien ihnen eigentlich – die ideologische Nähe zu den britischen und amerikanischen Neokonservativen der 1980er und 1990er Jahre war hier unübersehbar – eine vollständig privatwirtschaftlich organisierte Alterssicherung, in die der Staat lediglich durch die Verhängung eines Versicherungszwangs und als regulierende Instanz eingreifen sollte.136 Eine nach dem Gleichheitsprinzip ausgestattete Grundrente forderten 1985 im Bundestag auch die Grünen. Ihr Zielkatalog allerdings differierte deutlich von jenem der wirtschaftsliberalen Befürworter einer Grundsicherung. Im Vordergrund stand bei ihnen nicht die Bewältigung des demographischen Wandels, sondern die »Verhinderung von Altersarmut«, aber auch der Aufbau einer »eigenständigen Alterssicherung der Frauen« und die »Harmonisierung der verschiedenen Zweige der Alterssicherung«.137 Auf der Grundlage der »seitens der Regierung penetrant hochgehaltenen ›Leistungsbezogenheit‹ der Alterseinkommen«, der ein verkürzter Leistungsbegriff zugrunde liege, der »›Leistung‹ mit Einkommen gleichsetz[e]«, so die Grünen, sei weder der »Diskriminie135 Eigene Berechnungen nach BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (West), S. 49, Tab. 29; S. 159, Tab. 124. 136 Engels u. a., Reform. Zitate: ebd., S. 31 f., 28, 26. Vgl. Eine Existenzrente für alle Bürger, in: FAZ , 1.7.1987; Der Generationenvertrag wird brüchig, in: FAZ , 14.5.1988. 137 Antrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion DIE GRÜNEN: Grundrente statt Altersarmut, BT Drs. 10/3496, S. 3.
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rung der Frauen im Rentenrecht« noch der »grassierenden Altersarmut« beizu kommen.138 Abhilfe sollte dagegen eine mit 1000 DM monatlich deutlich über dem Sozialhilfesatz angesetzte und aus Steuern finanzierte Grundrente schaffen, die allen deutschen Staatsbürgern und Ausländern mit Niederlassungsrecht ab dem 60. Lebensjahr zustehen sollte. Oberhalb der Grundsicherung sah das Konzept der Grünen eine obligatorische Zusatzrente vor, die auf einkommensproportionalen Beiträgen beruhte und in ihren Leistungen beitragsbezogen war, aufgrund von Freibeträgen und Beitragssplitting aber relativ starke Umverteilungs- und Gleichstellungselemente enthielt.139 Auf die Bekämpfung von Altersarmut durch eine soziale Grundsicherung im Alter zielten ebenfalls zwei sich sehr ähnliche Vorschläge, die unabhängig voneinander die SPD und der Berliner Sozialsenator Ulf Fink (CDU) vorlegten.140 Im Gegensatz zu den vorangehend geschilderten Grundrentenkonzepten sahen diese beiden Reformpläne jedoch nicht den vollständigen Umbau des bundesdeutschen Alterssicherungssystems vor, sondern wollten lediglich das bestehende Rentensystem um eine Armutssicherung erweitern. Anders als das bei den auf dem Gleichheitsprinzip fußenden Grundrentenmodellen der Fall war, handelte es sich sowohl bei Finks »Ausgleichszulage« als auch bei der »Bedarfsorientierten Mindestrente« der SPD um Sonderleistungen, mit deren Hilfe bestehende Rentenansprüche auf ein armutssicherndes Niveau aufgestockt und die nur nach einer Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden sollten. Vereinfachte Einkommensanrechnungsverfahren, standardisierte Regelsätze und die Abwicklung über die GRV, die die Altersgrundsicherung von der originären Sozialhilfe unterschieden, sollten jedoch nach beiden Plänen dafür sorgen, der »[v]erschämte[n] Altersarmut«141 Herr zu werden und auch jene Alten zu erfassen, die eigentlich sozialhilfebedürftig waren, »die Leistungen aber aus Sorge vor Diskriminierung, falschem Stolz oder wegen des sonst drohenden Rückgriffs der Sozialämter auf ihre Kinder nicht in Anspruch« nahmen.142 Der einzige größere Unterschied zwischen den beiden nach dem Bedürftigkeitsprinzip konzipierten Mindestrenten bestand darin, dass die SPD ihre Grundsicherung in das System der Gesetzlichen Rentenversicherung integrieren, der Berliner CDU-Politiker hingegen seine »Ausgleichszulage« zwar von der GRV auszahlen
138 Ebd., S. 4, 2. 139 Vgl. Grundrente statt Altersarmut, S. 75–97; den Redebeitrag Buebs im Rahmen des »Zeit«-Forums »Reform oder Revolution«, in: Die Zeit, 22.11.1985; BT Drs. 10/3496. Vgl. hierzu auch Schmähl, Ökonomische Probleme. 140 Vgl. Fink, Verschämte Altersarmut; Glombig, Strukturreform, S. 255 f.; SPD (Hg.), Alterssicherung, S. 21; Die Zukunft sozial gestalten, S. 606–608; Bäcker, Solidarische Alterssicherung, S. 84–86. 141 Fink, Verschämte Altersarmut, S. 441. 142 Glombig, Strukturreform, S. 255.
284 Kontinuität nach dem Boom lassen wollte, gleichzeitig aber ihre systematische Zugehörigkeit zum »Bereich der Sozialhilfe« betonte.143 Vorübergehend erheblichen Einfluss schließlich übte das vergleichsweise weitreichende Reformkonzept des Postministers Christian Schwarz-Schilling aus, für das dieser 1988 die Unterstützung der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung hatte gewinnen können.144 Im Zentrum des Reformprogramms, das zunächst Schwarz-Schilling im Alleingang, dann eine von der Mittelstandsvereinigung unter seinem Vorsitz eingesetzte Rentenkommission erarbeitet hatte, stand ganz die Bewältigung der demographischen Bedrohung der Zukunft. Den Kern des Modells, das zunächst in der CDU/CSU-Fraktion und nicht zuletzt beim Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger regen Zuspruch fand, bildete die Staffelung der Rentenbeiträge nach der Kinderzahl. Die höheren Beiträge der Kinderlosen und -armen sollten zusammen mit dem ebenfalls angehobenen Bundeszuschuss dazu genutzt werden, einen Kapitalstock anzusparen, der dann ab ca. 2015 zur Finanzierung der Renten herangezogen werden und auf diese Weise dazu beitragen sollte, den Effekt der demographischen Alterung auf das Rentensystem zu dämpfen. Der Gedanke einer Beitragsdifferenzierung nach der Kinderzahl, den seit 1983 auch das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken offiziell unterstützte, ging auf die Überlegungen v. Nell-Breunings zur »Drei-Generationen-Solidarität« vom Ende der 1970er Jahre zurück, die andere aufgegriffen und weiterentwickelt hatten.145 Schwarz-Schillings Konzept bekannte sich ausdrücklich zum Ziel der Lebensstandardsicherung und zum Leistungsprinzip als regulativer Idee der deutschen Alterssicherung. Gleichzeitig versuchte es jedoch, den Leistungsbegriff interpretativ zu öffnen, indem es der »generative[n] Leistung« einen gleichberechtigten Platz neben der lohnbezogenen monetären Beitragsleistung einräumte.146 Was waren die Gründe dafür, dass bei der Rentenreform von 1989 keiner dieser mehr oder minder weitreichenden Pläne zur Neugestaltung der bundesdeutschen Alterssicherung zum Zuge kam? Um das Unterbleiben struktureller 143 Fink, Verschämte Altersarmut, S. 443. Vgl. hierzu auch schon Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 172. 144 Zum Folgenden vgl. Schwarz-Schilling fordert höhere Rentenbeiträge von Kinderlosen, in: FAZ , 14.9.1988; Unionspolitiker fordern eine Verbesserung des Familienlastenausgleichs, in: FAZ , 26.8.1988; Die Union sucht einen Weg bei den Renten und bei der Arbeitslosenversicherung, in: FAZ , 19.9.1988; Schwarz-Schilling, Rentenreform; ders. (Hg.), Langfristig sichere Rente; Wortbeitrag Schwarz-Schillings, ACDP 08–001–1087/1, CDU/ CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 90–96. 145 Vgl. Nell-Breuning, Soziale Sicherheit?, S. 79 f.; Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Drei-Generationen-Solidarität, S. 9 f.; Dinkel, Kinder- und Alterslastenausgleich; Müller u. Burkhardt, 3-Generationen-Solidarität; Burkhardt, Drei-Generationen-Solidarität; Borchert, Berücksichtigung. 146 Wortbeitrag Schwarz-Schilling, ACDP 08–001–1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 91.
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Reformen zu erklären, liegt es nahe, auf das bereits vorne (vgl. Kap. III.3) eingeführte Konzept der »Pfadabhängigkeit« zurückzugreifen, das den Fokus auf die den einmal eingeschlagenen Pfad stabilisierenden Selbstverstärkungskräfte lenkt. Aus einer Makroperspektive zählen zu ihnen im Kontext der Alterssicherung insbesondere die durch Beitragsleistungen bereits erworbenen Rentenansprüche, deren Verletzung unweigerlich einen politischen Orkan entfesseln muss. Jede systemändernde Rentenreform – und das gilt in besonderer Weise für einen, wenn auch nur partiellen Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren – steht daher vor dem grundlegenden Problem der Doppelfinanzierung, das daher rührt, dass über Jahrzehnte hinweg die Ausgaben für den Aufbau des neuen und für die Befriedigung der Ansprüche aus dem alten Rentensystem gleichzeitig zu bestreiten sind. Dieser Problemkomplex hat auch im deutschen Fall eine Rolle gespielt und ist von den Verteidigern des überkommenen Rentensystems bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Argument gegen die Erneuerer ins Feld geführt worden.147 Doch reicht der alleinige Rekurs auf die finanzielle Doppelbelastung nicht aus, um das Ausbleiben einer grundlegenden Neuordnung der bundesdeutschen Alterssicherung in den 1980er Jahren zu erklären – er ist zu abstrakt, um die »Pfadabhängigkeit« im konkreten historischen Fall zu plausibilisieren, blendet andere wichtige Faktoren aus und wird in seiner Erklärungskraft überdies dadurch relativiert, dass es später, nämlich 2001/2004, trotzdem zu einem substantiellen Wandel im deutschen Rentensystem kam. Eine angemessene historische Erklärung hat daher weitere Gründe für die systematische Abwehr weiter gehender Alternativen im Vorfeld der Rentenreform von 1989 zu berücksichtigen, von denen besonders vier hervor zuheben sind. Sie verdeutlichen zugleich die große Rolle, die dabei die normativen Grundprinzipien der bundesdeutschen Alterssicherung spielten und wie tief diese im Denken der historischen Akteure verankert waren. 1. Den ersten Faktor von Gewicht bildete die herausgehobene Position, die im bundesdeutschen Alterssicherungssystem den Experten vorbehalten war, die ihre festen Bastionen in den genuin mit Fragen der Rentenversicherung befassten Institutionen besaßen: insbesondere also im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, in den originären Trägern der Rentenversicherung und namentlich im VDR als ihrem Verband sowie im Sozialbeirat der Bundesregierung. Die zentrale Stellung der Experten wurde begünstigt durch die äußerste Komplexität des westdeutschen Rentenrechts. Ihre Sachkompetenz und die Aura des Unpolitischen, die ihren Vorschlägen zur Reform der Rentenversicherung anhaftete, machten die Experten zu einflussreichen Verteidigern des über147 Vgl. nur Wortbeitrag Blüm, ACDP 08-001-1086/2, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 19.9.1988, S. 151 f.; Schmähl, Ökonomische Probleme, S. 124 f.; VDR (Hg.), Gutachten der Kommission, S. 11; Einheitliche Grundrente wird weiterhin abgelehnt, in: Sozialpolitische Informationen, 22.10.1985.
286 Kontinuität nach dem Boom kommenen Systems. Verstärkt wurde die Machtposition der Rentenfachleute des BMAS , vor allem aber des VDR noch dadurch, dass sich bei ihnen nicht nur rentenrechtliche Kompetenz und bürokratisches Praxiswissen konzentrierte, sondern sie darüber hinaus auch die »Herren der Daten« waren. Mit privilegiertem Zugang zu den Daten aller Versicherten und Rentner sowie entsprechenden Datenverarbeitungskapazitäten zu ihrer Auswertung ausgestattet, besaßen seit der Gründung einer zentralen Datenstelle der deutschen Rentenversicherung in Würzburg insbesondere die VDR-Experten eine weitreichende Deutungs hoheit, wenn es darum ging, die Auswirkungen potentieller Reformmaßnahmen zu beurteilen.148 Die Ministerialbürokraten des BMAS , die Norbert Blüm später achtungsvoll als »Überzeugungsmitarbeiter« bezeichnete,149 hatten sich bereits Anfang der 1980er Jahre auf einen Reformkurs festgelegt, der im Kern strukturkonservativ war und den Regierungswechsel von 1982 weithin unverändert überdauerte. Im Sozialbericht von 1983 formulierten sie die Grundlinien der projektierten »Strukturreform der Rentenversicherung«, wobei der Erhalt der »Beitragsbezogenheit der Rente«, die gleichgewichtige Entwicklung von »Renten und verfügbare[n] Arbeitnehmereinkommen« sowie die »ausgewogen[e]« Verteilung der »Belastungen aus der Anpassung der Rentenversicherung an die veränderten ökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen … auf alle Beteiligten« die Eckpunkte bildeten.150 Ganz auf dieser Linie bewegte sich die 1985 vom VDR zur Entwicklung von Reformperspektiven eingesetzte Kommission in ihrem 1987 vorgelegten Gutachten, das zu dem Ergebnis kam, dass es »keiner Reform der Strukturen der gesetzlichen Rentenversicherung«, sondern nur »einer Anpassung des Systems an die sich verändernden Verhältnisse« bedürfe.151 Ebenso energisch wie sie mit Lohnersatzfunktion, Beitrags-LeistungsÄquivalenz und Lebensstandardsicherung für die Beibehaltung der »tragenden Prinzipien« der GRV eintrat, lehnte die VDR-Kommission alle Pläne ab, die in Richtung einer allgemeinen Grundsicherung, aber auch einer bedürftigkeitsorientierten Mindestrente gingen.152 Schon im Jahr zuvor, 1986, war der Sozialbeirat in seinem Gutachten über eine »Strukturreform« der GRV zu dem Schluss gekommen, dass »die sich abzeichnenden Probleme … im Rahmen des
148 Vgl. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 320 f. 149 »Abschied vom BMA«, Rede vom 28.10.1998, in: Blüm, Sommerloch, S. 146. Vgl. Schmidt, Sozialpolitik 1982–1989, S. 251 f. 150 BT Drs. 10/842, S. 18 f. Vgl. Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 127 ff., 163 f.; dies., Alterssicherungspolitik, S. 447 ff. 151 VDR (Hg.), Gutachten der Kommission, S. 4 152 Vgl. ebd., S. 11 f., 24–26, Zitat: S. 12. Zum Gutachten der VDR-Kommission vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 365–369; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 179 ff.
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bestehenden Systems bewältigt werden könn[t]en«.153 Gleichzeitig erteilte er allen Vorschlägen für eine steuerfinanzierte Grundsicherung eine ebenso deutliche Absage wie Überlegungen zur Staffelung der Rentenbeiträge nach der Kinderzahl. 2. Ein weiteres Bollwerk gegen eine grundlegende Neuordnung der Alters sicherung bildete die Haltung der Sozialpartner. Vorbereitet durch die Zusammenarbeit ihrer Spitzenvertreter in der GRV-Selbstverwaltung im allgemeinen und in der erwähnten VDR-Kommission im besonderen, legten DGB, DAG und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nur wenige Tage nach der Bundestagswahl Anfang 1987 eine »Gemeinsame Erklärung« vor. Die Verbände proklamierten, dass sie im Hinblick auf die notwendige »Strukturreform der Rentenversicherung«, der sie als Aufgabe für die bevorstehende Legislaturperiode »große Bedeutung« beimaßen, eine »weitgehende Übereinstimmung in den Grundsatzfragen erzielt« hätten. Sie unterstrichen, dass die »der Rentenversicherung eigenen Prinzipien der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Renten, der Lebensstandardsicherung und des sozialen Ausgleichs … sich bewährt« hätten und »zu erhalten« seien. Vollständig im Einklang mit dem VDR-Gutachten erklärten sie die »[a]usgewogene Lastentragung durch Beitragszahler, Rentner und Staat«, die »[g]leichgewichtige Entwicklung von Renten und verfügbaren Arbeitnehmereinkommen« sowie die Anhebung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung zu »unerlässlich[en]« Grundsätzen der Rentenreform.154 Differenzen zwischen den Sozialpartnern – das lassen die autonomen Publikationen der einzelnen Verbände erkennen – bestanden hinsichtlich der Neuordnung der beitragsfreien Zeiten und vor allem in Bezug auf das gesetzliche Renteneintrittsalter, bei dem die Arbeitgeber auf eine Anhebung drängten, die die Arbeitnehmerverbände energisch bekämpften.155 Völlig einig dagegen waren sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn es um die Abwehr weiter reichender Veränderungen des Rentensystems ging. Das schloss die Zurückweisung einer Differenzierung des Beitragssatzes nach der Kinderzahl ebenso ein wie die Ablehnung eines »Umbau[s] der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer bloßen Grundsicherung« und die Absage an die von der SPD und Teilen der CDU befürwortete Aufstockung niedriger Renten auf ein Mindestrentenniveau – all
153 BT Drs. 10/5332: Gutachten des Sozialbeirats über eine Strukturreform zur längerfristigen finanziellen Konsolidierung und systematischen Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der gesamten Alterssicherung, Ziff. 50. 154 Strukturreform der Rentenversicherung. Gemeinsame Erklärung von DGB , DAG und Bundesvereinigung. 155 Vgl. BDA (Hg.), Grundsätze, S. 14 f., 28 f.; Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes; Muhr, DGB -Forderungen, S. 3; DGB , Geschäftsbericht des Bundesvorstandes 1986 bis 1989, S. 68.
288 Kontinuität nach dem Boom diese Vorschläge galten als »systemfremd«, da sie den der Rentenversicherung zugrunde liegenden Beitrags-Leistungs-Zusammenhang schwächten.156 3. Zu einem entscheidenden Kurswechsel in der Rentenpolitik kam es auch deshalb nicht, weil die CDU/CSU – entgegen der von der Opposition in den 1980er Jahren immer wieder vorgebrachten Klagen über den »Sozialabbau« und die »grundsätzliche Kehrtwendung in der Sozial- und Gesellschaftspolitik«, die in dem Vorwurf kulminierten, sozial- und wirtschaftspolitisch »den britische[n] Weg« zu beschreiten – meilenweit vom Marktradikalismus und den neoliberalen Politikrezepten Margaret Thatchers und ihrer Gefolgsleute entfernt war.157 Vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion betonte Helmut Kohl 1988 diese Differenz mehr als deutlich, als er bekannte: »[I]ch bin kein Anhänger der Marktwirtschaft, sondern der Sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung von Liberalismus – ich will jetzt nicht das Wort Manchester-Liberalismus sagen –, dass der Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift … und dadurch die Schwachen hochzieht. … Wir sollten wirklich damit aufhören, ausgerechnet die Briten als unser Beispiel hinzustellen.«158 In dieser Ablehnung einer Sozial- und Wirtschaftspolitik nach dem Muster der britischen oder amerikanischen Neokonservativen mischten sich verschiedene Elemente. Erstens war sie Ausdruck einer in christlichen Werten wurzelnden, traditionell sozialstaatsfreundlichen Orientierung der Unionsparteien, die sie scharf von säkular-konservativen Parteien wie den brititischen Tories unterschied.159 Zweitens – und unmittelbar damit zusammenhängend – begriffen die meisten CDU/CSU-Politiker die sozialstaatlichen Institutionen der Bundesrepublik ganz wesentlich als schützenswerte Geschöpfe ihrer eigenen Partei. Das galt in besonderer Weise für das 1957 eingeführte Rentensystem. Man rede, explizierte das Norbert Lammert 1988 in einer kontroversen Fraktionssitzung, immerhin »über ein Alterssicherungssystem, das wir selber eingeführt haben«.160 Drittens spielten auch wahltaktische Überlegungen eine wichtige Rolle. Für einschneidende Eingriffe in den Wohlfahrtsstaat à la Thatcher fürchteten die Unionsparteien, von den Wählern abgestraft zu werden. Abermals traf das in besonderer Weise auf das sensible Thema Alterssicherung zu – nicht zuletzt auch 156 Zitat: Strukturreform der Rentenversicherung. Gemeinsame Erklärung von DGB , DAG und Bundesvereinigung. Vgl. BDA (Hg.), Grundsätze, S. 26 f., 31; Muhr, DGB -Forderungen, S. 4. Zum Absatz insges. vgl. auch Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 369; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 303–311, 324–335; Wiß, Wandel, S. 140–143. 157 Vogel (SPD), BT 10/135, 9967 (25.4.1985); Waltemathe (SPD), BT 10/135, 10060 (25.4.1985); Ehmke (SPD), BT 9/121, S. 7236 (13.10.1982); Vogel (SPD), BT 10/135, 9969 (25.4.1985). Vgl. Schmidt, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 7, S. 79–89. 158 Zit. nach Wirsching, Abschied, S. 338. Vgl. Schwarz, Kohl, S. 333 f. 159 Vgl. Schmidt, Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 7, S. 89–98; Laver u. Hunt, Policy. 160 Wortbeitrag Lammert, ACDP 08–001–1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 84.
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deshalb, weil man um das überproportional große Wählerpontential der CDU unter den Älteren wusste.161 Dennoch war die CDU jene Partei, in der alle grundlegenden Alternativen zum bestehenden System – von Biedenkopfs Grundsicherung über Finks Mindestrente bis zu Schwarz-Schillings Beitragsstaffel – vertreten waren und die daher in den 1980er Jahren den zentralen »Ort rentenpolitischer Konflikte«162 darstellte. Für die in den innerparteilichen Auseinandersetzungen letztlich erfolgreichen Befürworter einer Reform innerhalb des bestehenden Systems bestand dabei eine entscheidende Herausforderung darin, die Bedrohungsszenarien wieder einzufangen, die die CDU selbst ganz wesentlich mit entfesselt hatte. Vor allem galt das – zum einen – für die Vorstellung einer grassierenden Altersarmut, deren Verbreitung Geißlers Kampagne um die »Neue soziale Frage« nachdrücklich gefördert hatte (vgl. Kap. VI.1). Gegen dieses »Gemälde eines allgemeinen Rentnerelends« und damit verbundene Forderungen nach einer Altersmindestsicherung gewandt, wurde insbesondere der Arbeitsminister nicht müde darauf hinzuweisen, »dass die Lage der Rentner nicht eine allgemeine Elendslage« sei, sondern »dass es im allgemeinen und in der Mehrheit den Rentnern relativ gut geh[e]«.163 Zum anderen ging es für die Gegner systemverändernder Alternativen darum, den in den demographischen Prognosen bis über 2030 hinausreichenden Zukunftshorizont wieder zu verkürzen und ihm damit an Dramatik zu nehmen. Die Verfechter weiter gehender Änderungen – wie Biedenkopf und Schwarz-Schilling – begründeten nämlich ihre Pläne gerade mit den katastrophalen langfristigen demographischen Perspektiven und warfen der BMAS -Reformvorlage vor, dass ihr »Zeithorizont … bei dem Jahre 2010 [ende], obwohl die eigentlichen Probleme erst danach auftreten werden«.164 Obwohl auch sie selbst ihre Vorschläge in der Öffentlichkeit mit den Schrecken der demographischen Alterung in der fernen Zukunft legitimierten, sahen sich die Verteidiger des überkommenen Systems angesichts dessen gezwungen, in der parteiinternen Kontroverse die Unsicherheit langfristiger Prognosen und die Notwendigkeit zu betonen, »eine Politik für überschaubare Räume« – konkret also: für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte – zu machen.165
161 Vgl. Wortbeitrag Link, ACDP 08–001–1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 71–75. 162 Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 391. 163 Blüm, BT 10/115, S. 8545 (18.1.1985); Wortbeitrag Blüm, ACDP 08–001–1073/2, CDU/ CSU-Fraktionssitzung, 15.1.1985, S. 19 (Hervorh. i. O.). 164 Kurt H. Biedenkopf, Die Reform der Rentenversicheurng. Stellungnahme zur Vorlage des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, 27.9.1988, S. 4, ACDP 08-001-1087/1. 165 Wortbeitrag Link, ACDP 08–001–1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 71– 75, Zitat: S. 73; Wortbeitrag Seehofer, ebd., S. 76–81; Wortbeitrag Scharrenbroich, ebd., S. 60–64.
290 Kontinuität nach dem Boom 4. Schließlich kommt man gar nicht umhin anzuerkennen, dass es eine wichtige Rolle spielte, dass mit Norbert Blüm seit der »Wende« von 1982 ein ebenso überzeugter wie durchsetzungsfähiger Anhänger des bestehenden Rentensystems dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung vorstand. Innerhalb der CDU verfügte der tief in der katholischen Soziallehre verwurzelte Blüm über eine herausgehobene Einflussstellung, da er bis 1987 als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und danach als Landesvorsitzender der nordrhein-westfälischen CDU innerparteilich zentrale Ämter bekleidete und er zugleich das wichtigste Aushängeschild der Partei war, wenn es darum ging, Stimmen in der Arbeiterschaft zu gewinnen.166 Von der Richtigkeit der Grundsätze deutscher Sozialstaatlichkeit zutiefst erfüllt, wandte sich Blüm gegen jeden »abrupte[n] Umbruch« in der Sozialpolitik.167 Angesichts des auch von ihm immer wieder hervorgehobenen Problemdrucks, der auf dem sozialen Sicherungssystem lastete, zielte er auf die Stabilisierung des Erreichten. Gerade in der Rentenpolitik, so Blüm, wo »Kontinuität, Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit« besonders wichtig seien, müsse das Motto stets »Evolution statt Revolution« lauten.168 Fast schon gebetsmühlenartig wiederholte er die von ihm als unbedingt erhaltenswert angesehenen Grundprinzipien des bundesdeutschen Alterssicherungssystems. Noch vor der Rentendynamik war das für ihn die in der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente liegende »Leistungsgerechtigkeit«.169 In ihr sah er »das emanzipative Element unserer Rentenversicherung«, da nur das Leistungsprinzip verbürge, dass »Rente kein Geschenk«, sondern selbsterworbener »Alterslohn für Lebensleistung« sei.170 Angesichts dessen zielte Blüm bei der Rentenreform darauf ab, das Leistungsprinzip in der Rentenversicherung zu stärken und die Trennlinie zur bedürftigkeitsgeprüften Armutssicherung der Fürsorge scharf zu akzentuieren. »Jedes Abrücken vom Lohnbezug der Rente« dagegen, warf er den Verfechtern einer Mindest sicherung oder kindergestaffelter Beiträge vor, sei »abschüssige Strecke« und ge eignet, den deutschen Sozialstaat in seinen Grundfesten zu gefährden.171 In Anbetracht dieser vielfältigen Widerstände gegen eine fundamentale Neuordnung der Alterssicherung verwundert es kaum, dass das im November 1989 verabschiedete Rentenreformgesetz (RRG) 1992 ganz die Züge einer Reform »im System« trug. Als es im Parlament beschlossen wurde, fand es nicht 166 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik 1982–1989, S. 440 f.; ders., Rahmenbedingungen, in: GSD, Bd. 7, S. 4 f. 167 Blüm, Sicherheit, S. 5. 168 Blüm, Zukunft, S. 325; ders., Arbeit, S. 21. Vgl. ders., Zu Umstellungen fähig?. 169 Blüm, Sicherheit, S. 6; ders., Zukunft, S. 326. 170 Zitate: Blüm, Sicherheit, S. 6; ders., Rente kein Geschenk, in: Sozialpolitische Informationen, 30.9.1988; ders., Vor der Mühsal einer Schlankheitskur, in: Der Spiegel, 18.2.1985. 171 Norbert Blüm, Rente kein Geschenk, in: Sozialpolitische Informationen, 30.9.1988. Vgl. Wortbeitrag Blüm, ACDP 08–001–1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 54.
Rentenreform am Abend des Mauerfalls 291
nur die Stimmen der Regierungsparteien, sondern auch jene der oppositionellen SPD. Einen solchen breiten Konsens in der Rentenfrage hatte der Bundeskanzler bereits in der Regierungserklärung von 1983 anvisiert und das Angebot zur Zusammenarbeit an die Oppositionsparteien nach dem Wahlsieg von 1987 noch einmal wiederholt;172 in mehrmonatigen Konsensverhandlungen zwischen der Regierungskoalition und der SPD waren die Weichen für eine einvernehmliche Lösung gestellt worden.173 Dass ein Konsens zwischen den Regierungsparteien und der SPD – die Grünen blieben außen vor – zustande kam, war schon deshalb bemerkenswert, weil es sich beim RRG 1992 im Kern um ein Spargesetz handelte, es also für die Parteien nicht wie bis zum Beginn der 1970er Jahre darum ging, wählerstimmenwirksame Leistungsverbesserungen zu verteilen, sondern unattraktive Leistungseinschnitte zu verteidigen. Hinzu kam der scharfe Dauerkonflikt zwischen der sozialdemokratischen Opposition und der von ihr der Sozialdemontage geziehenen »Rechtskoalition«,174 der alle anderen Bereiche der Sozialpolitik in den 1980er Jahren kennzeichnete.175 Dass Regierungsparteien und SPD trotzdem zu einem Konsens gelangten, lag erstens daran, dass die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ihre gemeinsame Erklärung vom Januar 1987 einen massiven Druck in diese Richtung ausübten. Die parteienübergreifende Übereinkunft fand sich zweitens dadurch befördert, dass der Entscheidungsprozess innerhalb der politischen Parteien durch eine kleine Elite von Rentenfachleuten – in der SPD ist hier namentlich Rudolf Dreßler zu nennen – dominiert wurde, die zusammen mit den Experten des BMAS , der Rentenversicherungsträger und des Sozialbeirats eine »Gemeinschaft der ›Rentenmänner‹«176 bildeten, die nicht nur ein politikfeldspezifisches Expertenwissen, sondern auch gemeinsame Erfahrungen und die hohe Wertschätzung der überkommenen GRV teilten. Drittens verweist der Konsens von CDU/CSU, FDP und SPD vor allem darauf, wie weit in der Bundesrepublik nach wie vor die poli tische und gesellschaftliche Zustimmung zu den Grundprinzipien des 1957 neu begründeten Alterssicherungssystems reichte. Die Rentenreform von 1989 schrieb den mittels diskretionärer Maßnahmen faktisch seit dem Ende der 1970er Jahre praktizierten Übergang von der Bruttozur Nettolohnanpassung der Renten gesetzlich fest. Verteilungspolitisch war da172 Kohl, BT 10/4, S. 61 (4.5.1983); BT 11/4, S. 60 (18.3.1987). 173 Zu den Details des Werdegangs des RRG 1992 vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 344–387; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 185–223; Kolb, Rentenreformgesetz 1992, S. 726 f.; Heine, Entwicklungslinien, S. 145–163; Gohr, Sozialstaatspartei, S. 273–276. 174 Glombig, Sozialpolitik, S. 792. 175 Vgl. Schmidt, Reichweite, S. 150 f.; ders., Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: GSD, Bd. 7, S. 79–89. 176 Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 301.
292 Kontinuität nach dem Boom mit explizit die Festlegung auf ein als gerecht unterstelltes Verhältnis der Einkommen von Rentnern und Arbeitstätigen verbunden: Das Rentenniveau des sog. »Standard«- oder »Eckrentners« mit 45 Versicherungsjahren, das 1957 bei 66,7 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts gelegen und sich seither zwischen 59,0 % (1962) und 73,2 % (1977) bewegt, insgesamt jedoch eine steigende Tendenz aufgewiesen hatte, sollte ab 1992 bei ca. 70 % dauerhaft stabilisiert werden.177 Im gleichen Zug sollte der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung, der 1957 noch 28,0 % der Rentenausgaben ausgemacht hatte, sich danach aber prozentual deutlich verringert hatte und 1989 nur noch 15,7 % betrug, wieder auf ca. 20 % angehoben werden178 – was freilich nach wie vor deutlich unter jenen 2 5–30 % lag, die der GRV nach Ansicht der VDR-Repräsentanten und anderer Rentenversicherungsexperten zur Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen (Fremdrenten, Renten nach Mindesteinkommen etc.) zugestanden hätten.179 Eine Schlüsselstellung im RRG 1992 nahm die Einführung eines »Selbst regulierungsmechanismus« ein, der Bundeszuschuss, Beitragssatz und Rentenanpassung miteinander verband: War zur Sicherung der Liquidität der GRV eine Steigerung des Beitragssatzes nötig, hatte dies eine Erhöhung des Bundeszuschusses zur Folge und bewirkte ein Sinken des durchschnittlichen Netto entgelts, was sich wiederum in einer Verminderung des Rentenanpassungssatzes niederschlug. Da die Bestimmung dieser Stellgrößen überdies dem Gesetzgebungsprozess entzogen und der formelgemäßen Feststellung qua Rechtsverordnung überantwortet wurde, glaubten die zeitgenössischen Akteure, auf diesem Weg einen »Regelkreis« geschaffen zu haben, der »sich selbst steuert« und neue Lasten nach einem »vorhersehbaren und gerechten« Schlüssel auf Beitragszahler, Rentner und Bund verteilte.180 Die Erwartungen an die Zukunftsfähigkeit dieses Systems automatischer Selbststeuerung waren hoch. Wie viele andere ging Rudolf Dreßler (SPD) davon aus, dass es »für die nächsten zwei Jahrzehnte Korrekturen durch den Gesetzgeber überflüssig machen« würde.181 Und auch 1992 noch feierte das BMAS in der Rückschau die Implementierung des »Selbstregulierungsmechanismus« mit den Worten: »Sollte die Einführung dieses Regelkreises später einmal von den Historikern als ›genial‹ eingestuft werden, muss 177 Vgl. Schmähl, Entwicklung der Rentenversicherung, S. 49 f.; BMAS (Hg.), Informationen über den Diskussions- und Referentenentwurf, S. 9. 178 Eigene Berechnungen (Bundeszuschuss zur allg. RV in Relation zu den Rentenausgaben) nach Forschungsportal der Deutschen Rentenversicherung, Kap. »Finanzen« (http:// forschung.deutsche-rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/view3sp.jsp?chstatzr_ Finanzen=6a806a80&open&viewName=statzr_Finanzen&viewCaption=Statistiken %20-%20Finanzen%20-%20Zeitreihen#6a806a80). 179 Vgl. Ruland, Auswirkungen, S. 555 f.; ders., Nur nicht den Mut verlieren, in: Die Zeit, 1.4.1988; ders., Gesetzliche Rentenversicherung im Wandel, S. 44 f.; Kolb, Rentenreformgesetz 1992, S. 734 f. 180 Zitate: Blüm, BT 11/132, S. 9733 (10.3.1989); BT Drs. 11/4124, S. 139. 181 Dreßler (SPD), BT 11/174, S. 13108 (9.11.1989).
Rentenreform am Abend des Mauerfalls 293
dem nicht widersprochen werden«.182 Bemerkenswert war daran zum einen das enorme Ausmaß an Steuerungsoptimismus, das eng mit dem Vertrauen in weitreichende demographische Prognosen korrelierte und den Schluss zulässt, dass hier die diskreditierten kybernetischen Phantasien der späten 1960er Jahre auf vermeintlich festerer Grundlage eine Auferstehung erlebten. Bemerkenswert war zum anderen der Wille zur parlamentarischen Selbstentmachtung und zur »Entpolitisierung« der Rentenfrage, der in der Einführung des Automatismus zum Ausdruck kam. Übereinstimmend erklärten Dreßler und Blüm, dass man damit »die Lehre aus der inzwischen mehr als 12jährigen Geschichte von tagespolitisch motivierten Eingriffen, von Rentensanierungen und Verschiebe aktionen« ziehe, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit der Rente unterminiert hatte.183 Zugleich demonstrierte das Bemühen, die Alterssicherung dem Bereich des politisch Umstrittenen zu entrücken, den hohen Wert, den die politischen Entscheidungsträger über die Grenzen der Parteien hinweg der Rentenversicherung als Legitimationsspenderin nicht nur des Sozialstaats, sondern des politischen Systems der Bundesrepublik überhaupt beimaßen. Zu den wichtigsten Ergebnissen des RRG 1992, das überdies das Rentenrecht neu systematisierte und in das Sozialgesetzbuch integrierte, gehörte die Ver längerung der Lebensarbeitszeit, die insbesondere von den Arbeitgebern gefordert worden war und in Zukunft dazu beitragen sollte, die Rentenkassen zu entlasten. Das Altersruhegeld für Frauen und Arbeitslose mit 60 entfiel ebenso wie die flexible Altersgrenze von 63 für langjährig Versicherte; an ihre Stelle trat in allen Fällen die Regelaltersgrenze von 65. Wer in Zukunft früher in Ruhestand gehen wollte, hatte versicherungsmathematische Abschläge (in Höhe von 3,6 % pro Jahr) von seiner Rente hinzunehmen. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit gehörte in den Konsensverhandlungen mit der SPD zu den umstrittensten Punkten. Am Ende gelang es den Sozialdemokraten durchzusetzen, dass die stufenweise Anhebung der Altersgrenzen später (ab 2001) beginnen und langsamer erfolgen sollte, als das das ursprüngliche Konzept der Regierungskoalition vorgesehen hatte. Ebenfalls zum Reigen der Leistungseinschnitte ließ sich durchaus die Neuordnung der beitragsfreien Zeiten rechnen. Besonders deutlich zeigte sich das an der niedrigeren Bewertung und zeitlichen Begrenzung von Ausbildungs zeiten, deren Anrechenbarkeit der Gesetzgeber von früher maximal dreizehn auf sieben Jahre reduzierte. Und doch verband sich bei der Neuregelung der beitragslosen Zeiten die Konsolidierungsintention untrennbar mit dem normativen Motiv, »mehr Gerechtigkeit [zu] schaff[en]«,184 das in der Argumentation 182 Prinzipielle, mutige, behutsame Sozialpolitik. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm 10 Jahre im Amt, 4.10.1992, GSD, Bd. 7, CD -ROM , Dokument 7/136. 183 Dreßler (SPD), BT 11/132, S. 9736 (10.3.1989). Vgl. Blüm, BT 11/174, S. 13137 f. (9.11.1989). 184 Blüm, BT 11/174, S. 13137 (9.11.1989).
294 Kontinuität nach dem Boom der Ministerialbürokraten und der Außendarstellung ganz in den Vordergrund rückte. Der Übergang vom Prinzip der »Halbbelegung« zum »Gesamtleistungsmodell«, die das RRG 1992 vollzog, koppelte die zu erwartende Rentenleistung noch weit enger an die individuelle Beitragsbiographie, als das vorher der Fall gewesen war, da die Bewertung der beitragsfreien Zeiten nach dem neuen Berechnungsmodus nicht mehr wie bisher nur von der Beitragshöhe in den Beitragszeiten, sondern darüber hinaus auch von der »Beitragsdichte« über das gesamte Arbeitsleben hinweg abhing. Auf diese Weise, führte der BMAS -Beamte, der das Modell entwickelt hatte, aus, sollte sich »Leistung wieder lohnen«.185 Das implizierte eine Engführung der Idee der Leistungsgerechtigkeit, die sich im Hinblick auf die Berücksichtigung beitragsloser Zeiten nach 1989 noch fortsetzen sollte: Während im bundesdeutschen Alterssicherungssystem ursprünglich Beitragsgerechtigkeit und Lebensstandardsicherung im Begriff der Leistungsgerechtigkeit verschmolzen und durch die großzügige Bewertung von Ausfallzeiten im Zweifel der Statussicherung der Vorzug gegeben worden war, leistete der Druck knapper Kassen der kalkulatorischen Verengung der Leistungs- zu einer reinen Beitragsgerechtigkeit Vorschub – das marktwirtschaftliche Versicherungsprinzip stärkend, sollte die Rente die ökonomische »Lebensleistung« der im Laufe des Lebens eingezahlten Beiträge widerspiegeln; der Erhalt der sozialen Position im Alter war nicht mehr das vordringliche Ziel.186 Im offenen Widerspruch zu der dem RRG 1992 inhärenten Stärkung des Beitrags-Leistungs-Zusammenhangs schien die Verlängerung der bislang rentenbegründend und -steigernd berücksichtigten einjährigen Kindererziehungszeit um zwei weitere Jahre (für Geburten ab 1992) zu stehen, die darüber hinaus eine Leistungsausweitung darstellte, die der ansonsten vorherrschenden Kürzungstendenz der Reform zuwiderlief. Die Ausdehnung der Erziehungszeiten passte sich glänzend in das starke familienpolitische Engagement der CDU in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein, war parteiintern von den CDU-Frauen um Familienministerin Süßmuth aber erst relativ spät, im September 1988, gegen den Vorwurf der rentenrechtlichen »Systemfremdheit« und fiskalische Bedenken durchgesetzt worden.187 Süßmuth forderte die Ausdehnung der Kindererziehungszeiten zum einen als »Ausgleichsmaßnahme« für die Verschlechterungen, 185 So der Titel der Schrift von Johann S. Niemeyer, Mehr Beiträge = weniger Rente! Aber: So kann sich Leistung wieder lohnen. 186 Vgl. zu den beiden vorangehenden Absätzen BT Drs. 11/4124, S. 136–147; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 270–281; Heine, Entwicklungslinien, S. 163–170; Schmähl, Entwicklung der Rentenversicherung, S. 47 f.; ders., Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 7, S. 375–380; Rudolf Dreßler an die Mitglieder der SPD -Bundestagsfraktion, Ergebnisse der Verhandlungen zur Rentenreform, 8.2.1989, GSD, Bd. 7, CD -ROM , Dokument 7/124; Ruland, Gesetzliche Rentenversicherung im Wandel, S. 33 f., 42. 187 Vgl. Wirsching, Abschied, S. 340–349; Rentenreform soll Frauen mit Kindern besserstellen, in: FAZ , 24.9.1988; Für Biedenkopf und Schwarz-Schilling stehen die Zeichen schlecht, in: FAZ , 26.9.1988.
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welche die Konsolidierungsmaßnahmen der Reform – und hier wiederum besonders der Übergang zum »Gesamtleistungsmodell« – für die Frauen mit sich brachten.188 Noch wichtiger für den Erfolg ihrer Argumentation war zum anderen, dass es ihr und den anderen Befürworterinnen einer Berücksichtigung längerer Erziehungszeiten gelang, »Erziehungsarbeit« zu einem Äquivalent von »Erwerbsarbeit« aufzuwerten, das dann gemäß dem in der GRV dominierenden Leistungsprinzip systemkonform verarbeitet werden konnte. Möglich war das nur angesichts der demographischen Alterung und ihrer als systembedrohend wahrgenommenen Konsequenzen für das Rentensystem, dessen falscher Anreizstruktur überdies eine Teilverantwortung für die Fertilitätsmisere zugeschrieben wurde (vgl. Kap. VI.2). Vor diesem Hintergrund ging es darum, »eine Rentenreform durchzuführen, die die Grundlage unserer Sozialversicherung, den Generationenvertrag, wieder in Kraft setzt[e]«.189 Das implizierte nicht eine Aufgabe des rentenanspruchsbegründenden Leistungsprinzips, sondern lediglich seiner ausschließlichen Erwerbsarbeitszentrierung und eine Erweiterung des Leistungsbegriffs auf Reproduktionsleistungen, die dem langfristigen Systemerhalt der Rentenversicherung dienten.190 Trotz der vielfältigen Änderungen, die die Rentenreform von 1989 brachte, war sie im Kern doch vom Gedanken der Kontinuität beherrscht. Das lässt gerade die britische Vergleichsfolie scharf hervortreten. Nachdem sich in Großbritannien noch Anfang der 1970er Jahre mit der Einführung eines lohnbezogenen Zusatzrentensystems eine Annäherung an das bundesdeutsche Rentensystem abgezeichnet hatte, vollzogen die Tories in den 1980er Jahren einen abrupten Kurswechsel und unterwarfen den Bereich der Alterssicherung tiefgreifenden Einschnitten. Die Entscheidungseliten der Bundesrepublik dagegen reagierten auf die neuen Bedingungen »nach dem Boom« durch Reformmaßnahmen, die darauf abzielten, das überkommene Rentensystem mit seinen Grundprinzipien zu stabilisieren und vor einem substantiellen Umbau zu bewahren. Ungeachtet eines seit den frühen 1970er Jahren immer wieder aufflackernden Altersarmutsdiskurses schloss das auch die konsequente Verteidigung des Leistungsprinzips gegen alle Versuche ein, eine Armutsgrundsicherung nach dem Bedarfs- oder Bedürftigkeitsprinzip in das bundesdeutsche Alterssicherungssystem einzufügen.191 Der institutionellen Kontinuität entsprach eine Kontinuität des breiten gesellschaftlichen und politischen Konsenses, auf dem das weithin als gerecht 188 Wortbeitrag Süßmuth, ACDP 08-001-1087/1, CDU/CSU-Fraktionssitzung, 25.10.1988, S. 82. 189 Rita Süßmuth, Wie der Generationenvertrag zu sichern ist, in: Süddeutsche Zeitung, 9.9.1988. 190 Vgl. hierzu auch Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 282–292. 191 Lediglich die 1972 eingeführte Rente nach Mindesteinkommen wurde auf Druck der SPD für gering bewertete Beitragszeiten bis 1991 befristet verlängert.
296 Kontinuität nach dem Boom empfundene bundesdeutsche Rentensystem ruhte und der ebenfalls in scharfem Kontrast zu den Konflikten stand, die die britische Rentenpolitik dauerhaft kennzeichneten. Ebenso wie die Rentenreformen von 1957 und 1972 und völlig untypisch für die übrige innenpolitische Konstellation war auch das RRG 1992 das Ergebnis einer »großen sozialpolitischen Koalition«. In großer Einigkeit versuchte man schließlich die Rentenversicherung, die wie keine Institution die Erfolgsgeschichte des bundesdeutschen Sozialstaats verkörperte, auf Dauer zu konservieren – im Zweifel auch dadurch, dass man sie zur politischen Tabuzone erklärte. Es war ein vergebliches Unterfangen.
VII. Back to Beveridge? Großbritannien seit den späten 1990er Jahren
1.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut
Das gesellschaftliche Erbe, das New Labour 1997 nach achtzehn Jahren konservativer Regierung übernahm, war kein leichtes: Die Kluft zwischen Arm und Reich hatte sich besonders im Laufe der 1980er Jahre in dramatischer Weise geöffnet, so dass Großbritannien nun zu jenen Industrieländern zählte, in denen die soziale Ungleichheit am größten war; seit Jahren war etwa ein Viertel der Bevölkerung von relativer Armut betroffen; unter den besonders armutsgefährdeten Gruppen lag der Wert noch höher – bei 29,1 % für Rentner und bei 34,1 % für Kinder.1 Angesichts der massiven Verwerfungen innerhalb der britischen Gesellschaft konnte es nicht verwundern, dass sozialpolitische Themen – entgegen den Behauptungen von linksstehenden parteiinternen Kritikern – schon bald nach der gewonnenen Wahl einen prominenten Platz auf der Agenda der Regierung Blair einnahmen. Direkt nach ihrem Amtsantritt legte sie ein umfangreiches »Welfare to Work«-Programm auf, das sich stark an ähnlichen Ansätzen der Clinton-Administration orientierte und darauf zielte, Empfänger staatlicher Unterstützungsleistungen in möglichst großem Umfang wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Flankiert wurde diese Politik, die das aktivierende Potential des Wohlfahrtsstaats betonte und die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen gegenüber seinen sozialen Rechten hervorhob, durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und von ebenfalls nach amerikanischem Vorbild konzipierten fiskalischen Transferleistungen für Geringverdiener (Working Tax Credit) – durch Maßnahmen also, die darauf ausgerichtet waren, dass sich Arbeit in jedem Fall auszahlen sollte. Während sich die New Labour-Regierung zu Anfang ganz auf die Armutsbekämpfung durch zunehmende Erwerbstätigkeit konzentrierte, ließ sich ab 1999 ein weiterer Schwerpunkt in der Ausweitung der staatlichen Unterstützungsleistungen für die außerhalb des Erwerbsalters stehenden Hauptarmutsgruppen der Kinder und Alten erkennen. Großes Aufsehen erregte in diesem Kontext Blairs unerwartetes, auf einer Gedenkveranstaltung zu Ehren William Beveridges abgegebenes Versprechen, im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte 1 Alle Angaben für 1996/97 mit einer Armutsgrenze von 60 % des Medianeinkommens und AHC . IFS Commentary 124, Spreadsheet.
298 Back to Beveridge? Kinderarmut ein für allemal beseitigen zu wollen.2 Ebenfalls auf 1999 datierte mit der »Opportunity for All«-Agenda der Stapellauf eines breit angelegten Programms zur Vergrößerung der Chancengleichheit, das eine Reihe von Initiativen in einer Vielzahl von Lebensbereichen – von Bildung über Gesundheit bis zu Fragen der Diskriminierung aufgrund von Alter, Geschlecht, Ethnizität oder Behinderung – umfasste.3 Der Erfolg von New Labour bei der Armutsbekämpfung lässt sich nur schwer bestreiten. Legt man – wie zumeist üblich – 60 % des Medianeinkommens als Grenze relativer Armut zugrunde, sank die gesamtgesellschaftliche Armutsquote in Großbritannien von 1996/97 = 25,3 % bis 2004/05 kontinuierlich um immerhin fast ein Fünftel auf 20,5 % ab; danach stieg sie bis 2007/08 = 22,5 % wieder leicht an, bevor sie abermals fiel und 2010/11 einen Wert von 21,3 % erreichte.4 Noch deutlicher war die Erfolgsbilanz der Blair-Regierung, wenn man das Augenmerk auf die Alten (hierzu unten mehr) und die Kinder, mithin also auf jene Gruppen mit einem besonders hohen Armutsrisiko richtet. Zwar verfehlte New Labour klar das selbstgesteckte Zwischenziel, die Anzahl der Kinder in relativer Einkommensarmut bis 2010/11 zu halbieren, doch war das Ausmaß der Armutsreduktion, das die Regierung durch Umverteilungsmaßnahmen zugunsten von materiell unterprivilegierten Familien mit Kindern erreichte, dennoch beträchtlich: Unter Berücksichtigung der Wohnkosten nahm die Rate relativer Kinderarmut von 1996/97 bis 2010/11 von 34,1 auf 27,3 %, before housing costs sogar noch steiler von 26,7 auf 17,5 % ab.5 Was die Entwicklung der materiellen Ungleichheit seit 1997 anbelangt, fällt ein eindeutiges Urteil deutlich schwerer. Beschränkt man sich auf die Verteilung der Einkommen, deren Ungleichheit von jener der Vermögen stets noch weit übertroffen wird, so zeigt sich, dass das Realeinkommenswachstum unter New Labour (1997–2010) relativ gleichmäßig über die verschiedenen Einkommensquintile verteilt war und zwischen 1,5 % (4. Quintil) und 1,8 % (2. Quintil) im Jahresdurchschnitt lag.6 Das kontrastiert scharf mit der Zeitperiode von 1979 bis 1996/97, in der der Zuwachs um so höher ausfiel, je weiter man sich in der Einkommenshierarchie nach oben bewegte. Auf der einen Seite bedeutete das, dass sich der vor allem die Thatcher-Jahre kennzeichnende Trend zu einer weiteren 2 Blair, Beveridge Revisited, S. 7. 3 Vgl. Driver, Poverty; ders., Work, S. 70 f.; Stewart, Sefton u. Hills, Introduction, S. 8 ff.; Stewart, Equality, S. 408 ff.; King u. Wickham-Jones, From Clinton, S. 69–73; Walker, Americanization; Fitzpatrick, Cash Transfers, S. 367 ff.; Alcock, Social Policy, S. 9–11. 4 Alle Angaben AHC . IFS Commentary 124, Spreadsheet. Vgl. Cribb, Joyce u. Phillips, Living Standards, S. 47–68. 5 IFS Commentary 124, Spreadsheet. Vgl. Cribb, Joyce u. Phillips, Living Standards, S. 69– 94; Sefton, Hills u. Sutherland, Poverty, S. 28–34; Stewart, ›Scar‹. 6 Cribb, Joyce u. Phillips, Living Standards, S. 31. Vgl. Sefton, Hills u. Sutherland, Poverty, S. 25.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 299
Verschärfung der Ungleichheit nicht fortsetzte, auf der anderen Seite aber auch, dass das in dieser Zeit erreichte historisch hohe Ungleichheitsniveau weitgehend erhalten blieb. Das spiegelt sich etwa in der Entwicklung des Gini-Koeffizienten wider, dessen Anstieg einen Zuwachs an Ungleichheit signalisiert und der hier als Ungleichheitsmaß bereits mehrfach herangezogen worden ist. Der GiniKoeffizient, der 1997/98 einen im internationalen Vergleich hohen Wert von 0,341 annahm, stieg danach bis 2000/01 sogar noch leicht auf 0,353 an und pendelte seither ohne klaren Trend in einer Bandbreite zwischen 0,340 (2003/05) und 0,358 (2007/08). Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich, wenn man mit dem Verhältnis der Einkommen des 90. zum 10. Einkommensperzentil ein anderes häufig gebrauchtes Ungleichheitsmaß in den Blick nimmt: Der Anstieg vom Dreifachen auf das Vierfache, den dieser Indikator in den 1980er Jahren verzeichnete, fand sich auch nach 1997 nicht revidiert; statt dessen kam es zu einer Seitwärtsbewegung in einer Marge zwischen 3,98 (2004/05) und 4,23 (1998/99).7 Lässt sich daraus folgern, dass die steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen von New Labour ohne jede ausgleichende Wirkung auf die Einkommensverteilung geblieben sind? Gegen eine solche Schlussfolgerung spricht erstens, dass Simulationsrechnungen ergeben, dass das von der Labour-Regierung nach 1997 verantwortete Steuer- und Transfersystem deutlich stärkere redistributive Züge aufwies als die Regelungen, die bis dahin in Kraft waren.8 Ohne die Änderungen, die auf New Labour zurückgingen, heißt das, wäre die Einkommensungleichheit auch nach der Jahrtausendwende weiter angestiegen, statt auf dem bisherigen Niveau zu stagnieren. In die gleiche Richtung weist, zweitens, der internationale Vergleich. Die britische Entwicklung verlief hier seit Mitte der 1990er Jahre gegen den vorherrschenden Trend einer weiteren Verschärfung der Ungleichheit, der gerade die am weitesten fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschafen – und zumal die Bundesrepublik Deutschland – kennzeichnete.9 Wendet man sich vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung der Gruppe der Alten zu, so sticht zunächst einmal ins Auge, dass sich ihr seit dem Zweiten Weltkrieg andauernder langsamer Aufstieg in der gesellschaftlichen Einkommensschichtung auch nach der Jahrtausendwende fortsetzte. Das durchschnittliche reale Nettoeinkommen der britischen Rentnerinnen und Rentner stieg von 1998/99 bis 2010/11 schneller, nämlich um 33 %, als die Reallöhne der Werktätigen, die im gleichen Zeitraum nur um 11 % zulegten.10 Das schlug sich in einer deutlichen Verbesserung der relativen Einkommensposition der Alten nieder, die besonders klar zutage tritt, wenn man die Nettoäquivalenzeinkommen nach Abzug der Wohnkosten (AHC) heranzieht, da diese 7 Alle Zahlen BHC . IFS Commentary 124, Spreadsheet. 8 Vgl. Sefton, Hills u. Sutherland, Poverty, S. 34–40. 9 Vgl. OECD, Growing Unequal?, S. 26 f. 10 DWP, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 16.
300 Back to Beveridge? Tab. 7: Verteilung der britischen Rentner auf die verschiedenen Nettoeinkommensquintile, 1998/99–2010/11 Quintil 1
Quintil 2
Quintil 3
Quintil 4
Quintil 5
1998/99
17 %
28 %
21 %
17 %
17 %
2010/11
13 %
25 %
24 %
20 %
18 %
Quelle: Department for Work and Pensions, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 67, Tab. 4.6. Einkommen AHC , Berechnungsgrundlage: FRS .
widerspiegeln, dass die Älteren überproportional häufig im Besitz eigenen Wohnraums waren und ihnen daher keine Mietkosten entstanden.11 Tabelle 7 zeigt, dass sich der Anteil der Rentner in den beiden untersten Einkommensquintilen von 1998/99 bis 2010/11 verringerte, während sich gleichzeitig ihre Quote in allen drei oberen Fünfteln der Einkommensverteilung erhöhte. 2010/11 befanden sich schließlich – unter Berücksichtigung der Wohnkosten – 50 % der Rentner in der oberen Hälfte der Einkommensverteilung; und auch before housing costs waren es noch 42 %.12 Wie Graphik 11 erkennen lässt, speiste sich der Einkommenszuwachs der Alten seit Mitte der 1990er Jahre vor allem aus zwei Quellen: Zum einen verzeichneten die staatlichen Rentenleistungen im Gegensatz zu den 1980er Jahren (vgl. Kap. V, Graphik 5) seit den frühen 1990er Jahren wieder deutliche reale Auszahlungszuwächse. Das lag allerdings nicht an einer Anhebung der weiterhin lediglich an die Preisentwicklung gekoppelten Basic State Pension, sondern daran, dass das 1978 eingeführte einkommensbezogene SERPS -System nun zunehmend Leistungen an die früheren Beitragszahler ausschüttete. Zum anderen reflektierte der Einkommensgewinn der Alten den Siegeszug der betrieblichen und privaten Alterssicherung in Großbritannien seit den 1950er Jahren. Da immer mehr der ins Rentenalter einrückenden Alterskohorten eine solche Zusatzsicherung besaßen und sie ihr gesamtes Erwerbsleben in sie eingezahlt hatten, stieg der Anteil der Rentnerhaushalte, die eine betriebliche oder private Rente bezogen, von 1996/97 bis 2010/11 von 62 auf 70 % und der durchschnittliche Rentenauszahlbetrag von £ 134 auf £ 188 pro Woche.13 Der zunehmende Abdeckungsgrad betrieblicher und privater Alterssicherungsformen unter den Altenhaushalten sowie die SERPS -Leistungen, die schwerpunktmäßig gerade an die ehemaligen Bezieher kleiner und mittlerer 11 Ca. drei Viertel der Alten besaßen eine eigene Wohnung oder ein Haus. Vgl. ebd., S. 8. 12 Vgl. ebd., S. 69, Tab. 4.7. 13 Ebd., S. 51, Tab. 3.9. Vgl. ONS , Income of Retired Households, 1977–2010/11, S. 5.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 301
Graphik 11: Einkommensquellen der britischen Rentnerhaushalte, 1995/96–2010/11 (Durchschnittseinkommen [BHC] pro Haushalt, in £ pro Jahr in Preisen von 2010/11) 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000
/1 1 10
/1 0
20
09
/0 9
20
08
/0 8
20
07
/0 7
20
06
/0 6
20
05
/0 5
staatl. Unterstützungsleistungen
betriebl. o. private Alterssicherung
20
/0 4
04 20
/0 3
03 20
/0 2 01
02 20
00
/0 1
20
/0 0 99
Arbeitseinkommen
20
98
/9 9
19
/9 8
19
97
/9 7
19
96 19
19
95
/9 6
0
Einkommen aus Kapitalinvestment
staatl. Renten
Quelle: Office for National Statistics
Einkommen gingen, trugen zusammen wesentlich dazu bei, dass sich die seit dem Ende der 1970er Jahre scharf angestiegene Einkommensungleichheit im Alter insbesondere seit der Jahrtausendwende wieder etwas verringerte. Das lässt sich etwa am Gini-Koeffizienten ablesen, der für die Gruppe der Rentner im Mittel der Jahre 1999/2000 bis 2001/02 noch bei 0,289 gelegen hatte, danach aber absank und von 2008/09 bis 2010/11 nur noch einen Durchschnittswert von 0,254 annahm.14 Der Gini-Koeffizient für die Rentner-Haushalte war in Großbritannien stets niedriger als das Ungleichheitsmaß für die gesamte Gesellschaft gewesen, war letzterem aber in den 1980er Jahren weitgehend parallel in seiner Aufwärtsentwicklung gefolgt. Nach 2000 jedoch schlug die Ungleichheit im Alter mit ihrer leichten Abwärtsentwicklung einen Trend ein, der sich von der oben dokumentierten allgemeinen Tendenz einer Verstetigung der Einkommensungleichheit auf ihrem Anfang der 1990er Jahre erreichten hohen Niveau unterschied. Gleichzeitig bewegte sich die Einkommensungleichheit unter den 14 Eigene Berechnungen nach ONS , Pension Trends, 2012 Edition.
302 Back to Beveridge? über 65jährigen in Großbritannien damit seit der Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts den international vergleichenden OECD -Daten zufolge ziemlich genau auf dem Niveau ihrer Referenzgruppe in Deutschland, das sie noch Anfang der 1990er Jahre deutlich überschritten hatte.15 Trotz ihrer leichten Abnahme seit der Jahrtausendwende befindet sich die Einkommensungleichheit im Alter in Großbritannien aber nach wie vor auf einem historisch hohen Level, der den Stand der 1970er Jahre vor ihrem starken Zuwachs klar übertrifft. Jenseits der Abhängigkeit der materiellen Position im Alter von der Klassenzugehörigkeit und dem früheren Beruf, die wesentlich über die Chance entscheiden, im Ruhestand über Ressourcen außerhalb der staatlichen Rente zu verfügen, treten dabei vor allem drei ungleichheitsbedingende Strukturmerkmale hervor: Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit. Ebenso wie in der Bundesrepublik sind Frauen in Großbritannien im Alter benachteiligt, da sich unterbrochene Erwerbskarrieren und Ungleichheiten im Beruf in den Ruhestand hinein verlängern. Rentnerinnen erhalten im Durchschnitt geringere Zahlungen aus einer betrieblichen oder privaten Zusatzsicherung als ihre männlichen Altersgenossen, viele haben noch nicht einmal Anspruch auf die volle Basic State Pension, da ihnen die hierfür erforderlichen Beitragsjahre fehlen.16 Rentner, die über 75 Jahre sind, finden sich weit seltener in den oberen Einkommensgruppen als jüngere Ruheständler.17 Das liegt im höheren Verbreitungsgrad betrieblicher und privater Zusatzsicherungen unter den jüngeren Alterskohorten, aber auch darin begründet, dass die am letzten Erwerbseinkommen orientierten occupational pensions nach dem Renteneintritt nur noch im Gleichschritt mit den Preisen oder aber überhaupt nicht steigen und daher in Relation zur Lohnentwicklung mit steigendem Alter an Wert verlieren – ein Phänomen, das in Deutschland aufgrund der zentralen Stellung der gesetzlichen Rente und ihrer Kopplung an die Löhne in dieser Ausprägung unbekannt ist. Schließlich bildet die ethnische Herkunft ein Differenzmerkmal der Einkommensverteilung im Alter. Die – aufgrund der jüngeren Altersstruktur der verschiedenen Einwanderergruppen freilich zur Zeit noch nicht besonders zahlreichen – Alten, die in Großbritannien einer ethnischen Minderheit angehören, verfügen im Durchschnitt über ein deutlich geringeres Einkommen als die weißen Rentner. Besonders schlecht stellt sich die materielle Situation der älteren Pakistani und Bangladeshi dar, von denen 71 % auf die beiden untersten Einkommensquintile entfallen, während das nur für 39 % der Weißen gilt.18 15 OECD. Stat (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=INEQUALITY#). 16 Vgl. Hills u. a., Anatomy of Economic Inequality, S. 373–375; Ginn, Gender, S. 25 f.; dies. u. MacIntyre, UK Pension Reforms; Ginn u. Arber, Changing Patterns; Gough, Impact. 17 Vgl. DWP, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 58; ONS , Pension Trends, Chapter 13, 2012 Edition, S. 16. 18 Eigene Berechnung nach DWP, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 215. Vgl. ONS , Pension Trends, Chapter 13, 2012 Edition, S. 17, u. allg. Qureshi, Living.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 303
Über die Verteilung der Vermögen sind wir weit weniger zuverlässig und erschöpfend informiert als über jene der Einkommen. Die Datenlage bereitet nicht nur Schwierigkeiten im Hinblick auf die Einbeziehung der besonders großen Vermögen, sondern vor allem auch dann, wenn es um Fragen der historischen Entwicklung und des internationalen Vergleichs geht. Soviel ist klar: Stets und überall sind und waren die Vermögen noch weit ungleicher verteilt als die Einkommen – das gilt sowohl für die gesamte Gesellschaft als auch für einzelne Altersgruppen. In Großbritannien ergab der 2006/08 erstmals durchgeführte Wealth and Assets Survey, dass die ärmere Hälfte der Haushalte 2008/10 lediglich über 10 % des aggregierten nationalen Vermögens verfügte, während das reichste Zehntel 44 % auf sich vereinigen konnte – wobei private Rentenansprüche und Hausbesitz die beiden größten Vermögenspositionen darstellten und die Finanzanlagen sowie das Rentenvermögen besonders ungleich verteilt waren.19 Für die Vermögenslage der älteren Bevölkerung Englands besteht die Möglichkeit, auf die Daten der seit 2002 laufenden großangelegten Längsschnittstudie English Longitudinal Study of Ageing (ELSA) zurückzugreifen. Ihnen zufolge lag das durchschnittliche Haushaltsvermögen der über 65jährigen unter Einschluss von Finanz-, Sach- sowie Haus- und Grundbesitz, aber ohne Rentenansprüche 2010/11 bei £ 303.000. Die Streuung um diesen Mittelwert war allerdings erheblich. So besaßen die ärmsten 10 % der Altenhaushalte weniger als £ 3.000, und auch das 25. Perzentil kam lediglich auf ein Gesamtvermögen von knapp £ 93.000. Auf der Gegenseite der Vermögenshierarchie verfügte das 75. Perzentil bereits über einen Besitz von £ 362.000, während die reichsten 10 % der Haushalte zum Teil deutlich mehr als die £ 631.000 ihr Eigen nannten, die auf das 90. Perzentil entfielen.20 Eindrucksvoll waren aber nicht nur die Vermögensunterschiede innerhalb der einzelnen Altersgruppen, sondern auch jene zwischen ihnen. Nach der Wealth and Assets-Erhebung stand 2006/08 die Gruppe der 55–64jährigen mit einem Median-Haushaltsvermögen (ohne Rentenansprüche) von £ 243.300 an der Spitze der Reichstumshierarchie. Ihnen folgten dicht die 65–74jährigen mit £ 213.200 und – schon mit einigem Abstand – die 45–54- (£ 184.200) und die 75–84jährigen (£ 182.700), wohingegen die 35–44jährigen lediglich ein MedianHaushaltsvermögen von £ 120.000 besaßen.21 Die ELSA-Daten für 2010/11 weichen leicht hiervon ab und präsentieren die 55–64- und die 65–74jährigen genau
19 Total Wealth inkl. Private Pension Wealth, der wiederum betriebliche und private Rentenansprüche inkludiert. ONS , Total Wealth, 2008/10, Chapter 2, S. 7 f. Vgl. Rowlingson, Wealth Inequality, S. 11–15. 20 Eigene Berechnungen nach Banks, Nazroo u. Steptoe (Hg.), Dynamics of Ageing, S. 210, Tab. E4. Vgl. Banks u. Tetlow, Distribution. 21 Hills u. a., Anatomy of Economic Inequality, S. 214, Tab. 8.1. Vgl. auch Crossley u. O’Dea, Wealth, S. 17–20.
304 Back to Beveridge? gleichauf mit einem Median-Vermögen von £ 231.000.22 Die wahrscheinlichste Erklärung hierfür ist ein Alterskohorteneffekt, der darin begründet liegt, dass sich einige besonders vermögende Geburtsjahrgänge 2006/08 noch unmittelbar vor der Altersgrenze von 65 befanden, die sie vier Jahre später überschritten hatten. Diese Interpretation wird auch dadurch gestützt, dass die feiner differen zierende ELSA-Studie für 2010/11 eben gerade die Gruppe der 65–69jährigen mit einem Median-Haushaltsvermögen von £ 250.000 als die reichste Altersgruppe ausweist. Wie lässt sich die massive Ungleichverteilung der Vermögen zwischen den verschiedenen Altersgruppen mit ihrer Spitze um das 65. Lebensjahr erklären? Eine wichtige Rolle spielen zweifellos reine Lebenslaufeffekte: eine zunehmende Vermögensakkumulation mit steigendem Alter während der Phase der Erwerbstätigkeit und besonders dann, wenn die Kinder das Haus verlassen haben, sowie Entsparprozesse im fortgeschrittenen Rentenalter zur Finanzierung des Lebensunterhalts und von Pflegeleistungen. Das immense Ausmaß der Vermögensdifferenz zwischen den 55–75jährigen und den jüngeren Altersgruppen findet sich auf diese Weise allerdings nicht hinreichend erklärt, da die Älteren dann während ihrer Erwerbsphase ca. die Hälfe ihres Nettoeinkommens hätten sparen müssen. Eine angemessene Erklärung des steilen Vermögensgefälles wird daher vor allem die vermögenssteigernde Wirkung der Immobilienhausse berücksichtigen müssen, die die Hauspreise von 1996 bis 2005 in allen Regionen Englands um mindestens das Doppelte nach oben schießen ließ.23 Von dieser atemberaubenden Wertsteigerung nämlich profitierten überproportional gerade jene Alterskohorten, die in den Erhebungen der letzten Jahre als besonders vermögende Altersgruppen hervortraten, da sie ihren Immobilienbesitz zumeist noch vor Beginn des Preisanstiegs erworben hatten. Wendet man den Blick von der Vermögensdimension ab und richtet ihn auf die Armut am unteren Rand der Gesellschaft, kommt man gerade im Hinblick auf die Gruppe der Alten kaum umhin, die Labour-Jahre nach 1997 als Erfolgsgeschichte zu schreiben. Der Weg, den die Labour-Regierung im Kampf gegen die Altersarmut beschritt, war freilich nicht eine generelle Anhebung der staatlichen Rentenleistungen. Vielmehr entschloss sich Schatzkanzler Gordon Brown, der für diesen Teil der Regierungspolitik maßgeblich verantwortlich zeichnete, zu einer Strategie, die außerhalb des Bereichs der Alterssicherung lag und vollständig auf gezielte Armenhilfe durch bedürftigkeitsgeprüfte Maßnahmen setzte. 1999 reformierte die Regierung das bislang für alle Empfängergruppen einheitliche Sozialhilfesystem, indem sie für Rentner eine gesonderte Fürsorgeleistung, die sog. Minimum Income Guarantee (MIG), einführte. An
22 Eigene Berechnungen nach Banks, Nazroo u. Steptoe (Hg.), Dynamics of Ageing, S. 210, Tab. E4. 23 Vgl. Hills u. a., Anatomy of Economic Inequality, S. 379; Hills, Ends and Means, S. 76 f.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 305
die Stelle der MIG trat 2003 der Pension Credit (PC), der sich wiederum aus dem das vorhandene Alterseinkommen auf einen bestimmten Mindestsatz aufstockenden Guarantee Credit und einer bedürftigkeitsgeprüften Zusatzleistung (Savings Credit) zusammensetzte, durch die eigene Altersvorsorgebemühungen prämiert werden sollten.24 Die Abspaltung der Fürsorgeleistung für Rentner von der allgemeinen Sozialhilfe ermöglichte es der Regierung, die bedürftigkeitsgeprüften Zahlungen für alte Menschen signifikant anzuheben, ohne diese Leistungssteigerung auch anderen Bevölkerungsgruppen zugute kommen zu lassen. Nach ihrer Einführung um die Jahrtausendwende wurde die bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherung für Alte innerhalb von zwei Jahren um mehr als 20 % gesteigert und danach im Gleichschritt mit den Löhnen erhöht. Das hatte zur Folge, dass sich die Bezüge jener Rentner, die bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen erhielten, in der New Labour-Ära gleich gegenüber mehreren Vergleichmaßstäben positiv entwickelten: Erstens stiegen sie weit schneller als die Preise; ihr durchschnittlicher Realwert nahm – in Preisen von 2010/11 gerechnet, von 1996/97 bis 2009/10 um 47 % zu.25 Zweitens erhöhten sich im gleichen Zeitraum die Anspruchssätze für Ältere mit – diesmal in nominalen Größen – 103 % für einen alleinstehenden Rentner bzw. 97 % für ein Rentnerpaar schneller als die relative Armutsgrenze, die um knapp 70 % emporkletterte.26 Drittens schließlich verbesserte sich die Position der älteren Sozialhilfe-Bezieher im Vergleich zu anderen Empfängern bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen – das gilt nur begrenzt im Verhältnis zu Familien mit Kindern, die ebenfalls zu den Gewinnern der New Labour-Sozialpolitik gehörten, voll und ganz aber im Hinblick auf kinderlose Erwachsene im Erwerbsalter – und das heißt in diesem Kontext vor allem: Arbeitslose –, die Sozialleistungen erhielten, die gegenüber der Armutsschwelle immer mehr an Boden verloren.27 Als die Regierung Major 1997 aus dem Amt gewählt wurde, bezogen 37 % der britischen Rentnerhaushalte bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen. 2010, am Ende der dritten Amtszeit eines Labour-Premiers, waren es immer noch 30 %.28 Die im Vergleich zur Bundesrepublik und anderen kontinentaleuropäischen Staaten immens große Rolle von Fürsorgeleistungen in der britischen Altersversorgung vermag zu erklären, warum sich die skizzierten Leistungssteigerungen unmittelbar und massiv in einer Verringerung der Altersarmut niederschlugen. Wie Graphik 12 zeigt, lässt das am häufigsten gebrauchte und auch hier wieder24 Vgl. Evandrou u. Falkingham, Pensions, S. 168 ff.; Bozio, Crawford u. Tetlow, History of State Pensions, S. 52–58. 25 Eigene Berechnungen nach DWP, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 51, Tab. 3.4. 26 Relative Armutsgrenze BHC: 68,9 %, AHC: 69,7 %. Eigene Berechnungen nach Cribb, Joyce u. Phillips, Living Standards, S. 56, Tab. 4.3. 27 Vgl. Sefton, Hills u. Sutherland, Poverty, S. 30 f.; Cribb, Joyce u. Phillips, Living Standards, S. 56, Tab. 4.3. 28 DWP, The Pensioners’ Income Series 2010–11, S. 51, Tab. 3.4.
306 Back to Beveridge? Graphik 12: Quoten relativer Armut in Großbritannien (in %), 1997/98–2010/11 35
30
25
20
15
10
5
Rentner, 50 %
/1 1
/1 0
10 20
09 20
/0 9 08 20
/0 8 07 20
/0 7 06
/0 6
GB, 60 %
20
05
/0 5
20
04
/0 4
GB, 50 %
20
03
/0 3
20
02 20
/0 2 01 20
/0 1 00 20
/0 0
/9 9
99 19
98 19
19 9
7/ 98
0
Rentner, 60 %
Prozentsatz aller Haushalte (GB) bzw. der Rentnerhaushalte, die ein Einkommen unterhalb der x %-Marke des Median-Nettoäquivalenzeinkommens aufweisen. Alle Angaben after housing costs (AHC). Quelle: IFS Commentary 124, Spreadsheet.
holt herangezogene Maß für relative Einkommensarmut, die 60 %-Marke des Median-Nettoäquivalenzeinkommens (AHC), seit 1997 für die Alten einen erheblichen und dauerhaften Fall erkennen. Von 1997/98 bis 2010/11 hat sich die Quote der Altersarmut von 29,1 % auf 14,2 % mehr als halbiert. Der bei weitem größte Teil der Armutsreduktion ist auf den beachtlichen Anstieg der Sozialleistungen zurückzuführen; lediglich seit 2010 spiegelt die weiter absinkende Armutsrate die Tatsache wider, dass zwar die Realeinkommen der Alten sanken, das Medianeinkommen und damit auch die Schwelle relativer Armut in der seit 2008 andauernden Wirtschaftskrise aber noch schneller zurückgingen. Der markante und langanhaltende Fall der Quote relativer Armut im Alter bedeutete, dass diese erstmals in der britischen Geschichte dauerhaft unter die allgemeine Armutsrate absank. Gleichzeitig wurde das bislang vorherrschende und oben analysierte prozyklische Muster in der Entwicklung der Rentnerarmut durchbrochen, das darauf beruhte, dass die weniger stark als die Löhne mit dem Wirtschaftszyklus schwankenden Rentnereinkommen in wirtschaftlichen Boomperioden regelmäßig hinter der allgemeinen Einkom-
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 307
mensentwicklung zurückblieben und erst in der Rezession wieder aufholten:29 Der Labour-Regierung, heißt das, gelang die Rückführung der Altersarmut gerade in einer Phase, die durch eine glänzende wirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnet war und daher eigentlich einen Anstieg der Armutsrate hätte erwarten lassen. Trotz der unbestreitbaren Fortschritte, die die Labour-Administration durch den Ausbau des Sozialhilfenetzes erzielte, lebten in Großbritannien 2009/10 noch immer 1,7 Mio. der insgesamt 11,5 Mio. Rentner unterhalb der bei 60 % des Medianeinkommens liegenden Schwelle relativer Armut; wenn man die Berechnung nicht auf der Grundlage after, sondern before housing costs anstellte, waren es sogar 2,1 Mio.30 Überdies war der Anteil der dauerhaft Armen unter den Älteren höher als in der übrigen Bevölkerung, da sie zumeist nicht die Möglichkeit hatten, sich durch Erwerbsarbeit aus der Armutslage zu befreien.31 Zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen unter den Alten zählten wiederum jene, die bereits als in der Einkommensverteilung minderprivilegiert identifiziert wurden: Rentner, die zu einer ethnischen Minderheit gehörten, besaßen ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko: Für die Pakistani und Bangladeshi betrug es 2010/11 38 %, für die Inder ebenso wie für die Chinesen 31 %, für Schwarze 24 %, während von den weißen Rentnern nur 15 % unterhalb der Armutsgrenze lebten.32 Mit steigendem Alter der Rentner nahm die Armutsneigung zu: Bei den über 85jährigen lag sie bei 18 %, bei den 65–69jährigen nur bei 12 %.33 Aufgrund von Unterbrechungen in ihrer Erwerbskarriere und geringerer Einkommen waren Frauen im Alter häufiger von Armut betroffen als Männer; eine besonders hohe Armutsgefährdung wiesen alleinlebende ältere Frauen auf. Auch unter den dauerhaft Armen waren die Frauen überrepräsentiert: Im Vierjahreszeitraum 1996–1999 hatten 33 % der alleinstehenden Rentnerinnen mindestens drei Jahre lang unterhalb der Armutsschwelle zugebracht, während das »nur« für 21 % ihrer männlichen Referenzgruppe galt. Bis 2005–2008 war der Anteil der Rentnerinnen in persistenter Armut zwar deutlich auf 8 %, jener der Rentner auf 6 % zurückgegangen, die überproportionale Betroffenheit der Frauen aber erhalten geblieben.34 Analoge Geschlechterdifferenzen fanden und finden sich nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen OECD -Ländern. Die großen Unterschiede zwischen den nationalen Alterssicherungssystemen haben im internationalen Vergleich zu massiv diver-
29 Vgl. oben, Kap. V.2. 30 IFS Commentary 124, Spreadsheet. 31 Vgl. Price, Poverty, S. 256. 32 Alle Angaben bei 60 % des Medianeinkommens AHC . DWP, Households Below Average Income, S. 220, Tab. 6.5db. 33 Ebd. Vgl. Brewer u. a., Pensioner Poverty, S. 48. 34 Armut: 60 % des Medianeinkommens AHC . DWP, Low-Income Dynamics, S. 52, Tab. 8.1.
308 Back to Beveridge? gierenden Armutsraten im Alter geführt; überall jedoch blieb Altersarmut überwiegend weiblich konnotiert.35 Zu den wichtigsten Gründen für das weiterhin erhebliche Potential an Altersarmut in Großbritannien zählt die Tatsache, dass viele alte Menschen, denen bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen zustanden, diese nicht in Anspruch nahmen. Nach offiziellen Schätzungen machten 2009/10 lediglich 62–68 % der Rentner und Rentnerinnen ihren Anspruch auf die Altersmindestsicherung Pension Credit geltend; bei den beiden anderen für die Alten in Frage kommenden bedürftigkeitsgeprüften Leistungen, Housing Benefit und Council Tax Benefit, waren es 78–84 % bzw. 62–69 %.36 Da bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen im britischen Wohlfahrtsstaat seit dem Zweiten Weltkrieg eine weit größere Rolle spielten als überall sonst in Europa und das Problem ihrer NichtInanspruchnahme, des sog. non take-up, den wohl wichtigsten Einwand gegen die Wirksamkeit dieser Strategie der Armutsvermeidung darstellte, besaß die take-up-Frage im Vereinigten Königreich traditionell eine Bedeutung, die sie sonst nirgendwo hatte – das gilt sowohl im Vergleich mit der Bundesrepublik als auch mit allen anderen europäischen Ländern. Bereits seit den 1960er Jahren setzte sich die sozialwissenschaftliche Forschung mit diesem Thema auseinander; seit den 1980er Jahren veröffentlichte das zuständige Ministerium jährliche Schätzungen darüber, welcher Anteil der Berechtigten die bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen auch tatsächlich in Anspruch nahm.37 Unter New Labour avancierte dann das Bestreben, die take-up-Quote unter den Alten zu erhöhen, zu einem zentralen Element der sozialpolitischen Agenda. Zur Regierungs-Strategie gehörte eine Intensivierung der empirischen Forschung zu den Gründen für die Nicht-Inanspruchnahme der bedürftigkeitsgeprüften Altersmindestsicherung, die zu dem Ergebnis kam, dass die meisten Alten ihren Anspruch auf Pension Credit nicht wahrnahmen, weil sie glaubten, nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten zu zählen; hinzu kamen mangelndes Wissen, der Unwille, persönliche Informationen preiszugeben, und die Kompliziertheit der Antragstellung.38 Vor allem aber entfaltete das Department for Work and Pensions (DWP) eine Reihe von Initiativen, die darauf zielten, die Inanspruchnahme bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen zu steigern, und über deren Wirksamkeit das Ministerium in regelmäßigen Abständen dem Na35 Vgl. Smeeding u. Sandström, Poverty, Tab. 1; Sefton, Evandrou u. Falkingham, Material Well-being, S. 17, sowie allg. Evandrou, Falkingham u. Sefton, Women’s Family Histories; Sefton u. a., Relationship; Sefton, Evandrou u. Falkingham, Family Ties. 36 DWP, Income Related Benefits, S. 39, 71, 101. Zu den methodischen Problemen dieser Schätzungen vgl. auch Richardson u. Bradshaw, Variations. 37 Vgl. DWP, Review of Take-Up, S. 7; van Oorshot, Failing Selectivity, S. 104; ders., NonTake-Up, S. 19. 38 Vgl. DWP, Income Related Benefits, S. 53 f.; Talbot, Adelman u. Lilly, Encouraging Take Up; Bunt, Adams u. Leo, Understanding the Relationship.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 309
tional Audit Office und dem Unterhaus Rechenschaft abzulegen hatte.39 Zu ihnen zählten die Festlegung von quantitativen Zielvorgaben für die angestrebte Vermehrung der Altenhaushalte mit Sozialhilfebezug, die Vereinfachung der Fomulare und Antragsprozeduren, großangelegte nationale Werbekampagnen, die gezielte Information und Beratung potentieller Anspruchsteller auf lokaler Ebene sowie die Kooperation mit Altenorganisationen wie Age Concern und Help the Aged. Trotz dieser erheblichen Anstrengungen blieb der Erfolg der Regierungsinitiative begrenzt: Nach anfänglichen leichten Steigerungen erreichten die take-up-Raten schnell ein Plateau in der oben genannten Höhe, das darauf hindeutet, dass ein Gutteil der Alten für bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen nur schwer oder gar nicht erreichbar ist. Im Hinblick auf die Altersarmut, aber auch auf Armut im allgemeinen unterschieden sich die seit dem Ende der 1990er Jahre politisch vorherrschende Wahrnehmung und die Politik der Labour-Regierung von der Zeit zuvor nicht nur durch die insgesamt geringere Armutsakzeptanz, sondern darüber hinaus auch durch drei Neuentwicklungen. Erstens erreichte die »Verwissenschaft lichung des Sozialen« (Lutz Raphael) eine neue Stufe.40 Zwar hatten die britische Armutsforschung, ihre Kategorien und Ergebnisse seit den Tagen von Booth und Rowntree die gesellschaftlich dominante Perzeption von Armut und den politischen Umgang mit ihr geprägt. Doch hatte sie dabei zumeist – und das gilt in besonderer Weise für die Regierungszeit der Konservativen in den 1980er und 1990er Jahren – als scharfe Kritikerin der Regierungspolitik agiert und war nicht an der Konzipierung oder Evaluation sozialpolitischer Maßnahmen beteiligt gewesen. Das änderte sich mit Blairs Regierungsantritt grundlegend; in raschem Tempo nahm nun die wechselseitige Durchdringung von sozialwissenschaftlicher Expertise und Politik zu. Auf der einen Seite suchte die Labour-Regierung die Beratung akademischer Experten in sozialpolitischen Fragen, berief Sachverständigenkommissionen ein und vertrat offensiv den Ansatz einer »evidence-based policy«, die beanspruchte, die eigenen Programme oder Pilotprojekte einer rigorosen empirischen Überprüfung zu unterwerfen.41 Auf der anderen Seite kam die sozialwissenschaftliche Forschung – allen voran think tanks und Forschungsinstitute wie das New Policy Institute, die Joseph Rowntree Foundation oder das an der LSE beheimatete Centre for Analysis of Social Exclusion – der Nachfrage nach sozialpolitischem Expertenwissen nur allzu bereitwillig nach und brachte einen rapide anschwellenden Strom anwendungsorientierter Studien hervor. »Opportunity for All«, das 1999 auf gelegte Anti-Armutsprogramm der Blair-Regierung, listete nicht weniger als 59 39 Vgl. National Audit Office, Progress in Tackling Pensioner Poverty; HC Work and Pensions Committee, Tackling Pensioner Poverty; HC Committee of Public Accounts, Department for Work and Pensions: Progress. 40 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung. 41 Vgl. Wells, New Labour; Walker, Great Expectations.
310 Back to Beveridge? quantitative Indikatoren auf, über deren Entwicklung die seither jährlich veröffentlichten Armutsberichte Rechenschaft ablegten und die als Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg der sozialpolitischen Agenda von New Labour dienen sollten.42 Doch beschränkte sich der Einfluss sozialwissenschaftlichen Wissens nicht nur darauf, dass es mittels seiner Kategorien und Messgrößen die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmte, soziale Probleme definierte und dass es im Nachgang die entscheidende Instanz für die Evaluation sozialpolitischer Maßnahmen darstellte. Vielmehr bildete es seit dem Ausgang der 1990er Jahre auch insofern stets einen integralen Bestandteil sozialpolitischer Programme, als diese ihre Ziele in der Sprache quantitativer Indikatoren formulierten und ihre Instrumente entsprechend konstruierten. So ließ sich der in Graphik 12 dokumentierte signifikante Fall des Anteils jener Rentner, die unter der Armutsgrenze von 60 % des Medianeinkommens (AHC) lagen, wesentlich darauf zurückführen, dass die neue bedürftigkeitsgeprüfte Altersmindestsicherung in ihrer Höhe darauf ausgerichtet war, genau diesen Indikator zu beeinflussen, während alternative, weniger im Rampenlicht stehende Armutsmaße deutlich bescheidenere Erfolge in der Armutsbekämpfung auswiesen. Zweitens gewann in der britischen Armutsdiskussion der internationale Vergleich mit anderen Ländern seit den 1990er Jahren eine zunehmende Bedeutung. Das hatte seinen Grund nicht nur in einer generell wachsenden Aufmerksamkeit für Entwicklungen jenseits der eigenen nationalen Grenzen, sondern konkreter auch in einer erheblichen Verbesserung der Datenlage für international vergleichende Sozialstruktur-Analysen, die in erster Linie von supranationalen Organisationen wie der OECD und der EU vorangetrieben worden war. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang der 2000 in Lissabon im Rahmen der »Offenen Methode der Koordinierung« beschlossene Ausbau der EU-Sozialberichterstattung, der »European Union Statistics on Income and Living Conditions« (EU-SILC), für die seither jährlich gesamteuropäisch die sog. Laeken-Indikatoren zu Fragen von Armut und sozialer Ausgrenzung erhoben werden.43 In Richtung einer stärker komparatistischen Perspektive wirkte ebenfalls der Aufstieg der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, der seinen entscheidenden Impuls durch Gøsta Esping-Andersens These von den »Three Worlds of Welfare Capitalism« erhielt, schnell eine erhebliche Dynamik innerhalb der Sozialwissenschaften entfaltete und dann mit kurzer Verzögerung in die politische Debatte über sozialpolitische Themen diffundierte.44 42 Vgl. Opportunity for All, Cmd. 4445, S. 13–20; DWP, Opportunity for All: Indicators Update 2007; Hills, Sefton u. Stewart, Conclusions, S. 349–352. 43 Vgl. Dennis u. Guio, Armut; Krause u. Ritz, EU-Indikatoren; http://epp.eurostat.ec. europa.eu/portal/page/portal/microdata/eu_silc. 44 Vgl. Esping-Andersen, Three Worlds.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 311
In Großbritannien hatte der für das Vereinigte Königreich unvorteilhafte Vergleich mit anderen Industrieländern im Hinblick auf Armut und soziale Ungleichheit am Ende der 1990er Jahre dazu beigetragen, die konservative Regierung zu desavouieren (vgl. Kap. V.3), und einen Impetus für die unter Blair ergriffenen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung dargestellt.45 Was anfangs als motivatorischer Antrieb gewirkt hatte, entwickelte sich freilich im Laufe der Zeit für New Labour und die ihm nahestehenden Sozialwissenschaftler zum Problem: Die internationalen Vergleichszahlen nämlich spiegelten die Erfolge der britischen Armutsbekämpfung bei weitem nicht so deutlich wider, wie man das erhofft hatte und wie das vielfach die eigenen, maßgeschneiderten Statistiken taten. In besonderer Weise traf das auch auf die Werte für relative Altersarmut zu, die sich an einer Armutsgrenze von 60 % des Medianeinkommens orientierten. Untersuchungen, die auf den offiziellen EU-Daten für 2008 basierten, zeigten Großbritannien mit einer relativen Armutsquote von 30 % unter den über 65jährigen noch immer in der Spitzenliga der europäischen Armutshierarchie – zusammen mit Ländern wie Bulgarien (34 %), Spanien (28 %) und Rumänien (26 %). Ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko verzeichnete dagegen im europäischen Vergleich eine Gruppe von Staaten, in der die Armutsquoten von 4 % (Ungarn) bis 16 % (Schweden) reichten und zu der mit 15 % auch die Bundesrepublik Deutschland gehörte.46 Das für Großbritannien ungünstige Ranking reflektierte zum einen einfach noch das hohe Ausgangsniveau an Altersarmut, das sich in den 1980er und 1990er Jahren aufgebaut und das die LabourRegierung geerbt hatte. Zum anderen lag es in darin begründet, dass die offizielle britische und europäische Sozialstatistik in einer Reihe von Berechnungs methoden differierten, die Personenkreis, Berücksichtigung der Wohnkosten und Äquivalenzskalen betrafen. In all dem offenbarten sich nicht nur die Inkommensurabilität unterschiedlicher statistischer Grundlagen und die Schwierigkeiten international vergleichender Statistiken im besonderen, sondern auch die Probleme von mit dem Anspruch auf quantitative Exaktheit auftretenden statistischen Wirklichkeitskonstruktionen im allgemeinen. Für die LabourRegierung bedeutete die disparate Datenlage konkret, dass der internationale Vergleich als politisches Argument gegen Ende der 2000er Jahre eine weit problembehaftetere Ressource war als ein Jahrzehnt zuvor. Der dritte Wandel, den das politisch vorherrschende Armutsverständnis in Großbritannien mit New Labour vollzog, hing eng mit den gerade skizzierten Entwicklungen zusammen und bestand in seiner Erweiterung in Richtung sozialer Exklusion und Multidimensionalität. Symbolisch war hier bereits die 45 Vgl. Stewart, Poverty, S. 267; Howarth u. Kenway, Monitoring, S. 4; Howarth u. a., Monitoring, S. 17, 150 f. 46 Zahlen: Zaidi, Poverty Risks, S. 4; ders., Exclusion, S. 7. Der Wert für Großbritannien für 2008 wurde in Eurostat später auf 27 % korrigiert (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/ table.do?tab=table&plugin=1&language=de&pcode=tespn050).
312 Back to Beveridge? Gründung der Social Exclusion Unit, die 1997 noch im Wahljahr erfolgte, direkt dem Premierminister berichtete und den Auftrag hatte, Problemfelder sozialer Ausgrenzung zu identifizieren und Gegenkonzepte zu erarbeiten. Im Untertitel der »Opportunity for All«-Agenda, »Tackling Poverty and Social Exclusion«, stand die Bekämpfung sozialer Exklusion ebenfalls gleichberechtigt neben jener der Armut. Das Konzept der sozialen Ausgrenzung stammte ursprünglich aus der französischen Soziologie in der Nachfolge Durkheims und wurde nach Großbritannien vor allem über die EU-Armutsprogramme der 1990er Jahre importiert, in denen es eine zunehmend große Rolle spielte.47 Auch wenn sich der Exklusionsbegriff in den Publikationen der britischen Regierung nie trennscharf vom Armutsbegriff abgegrenzt fand und beide häufig mehr oder minder synonym verwandt wurden, kristallisierte sich schnell heraus, dass »Armut« in erster Linie den Mangel an materiellen, sozialen und anderen Ressourcen bezeichnete, während sich »Exklusion« auf den dynamischen – häufig kumulativen, in eine »Spirale der Benachteiligung«48 mündenden – Prozess des Ausschlusses aus den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen bzw. von der Teilnahme an den normalen Aktivitäten der Mehrheitsgesellschaft bezog. Ganz in diesem Sinne und in Erweiterung des Armutsbegriffs fasste 2007 eine Forschergruppe für einen von der Labour-Regierung in Auftrag gegebenen Bericht die in den Sozialwissenschaften und der politischen Praxis dominierenden Exklusionsansätze zusammen: »Soziale Exklusion … bedeutet den Mangel an oder die Verweigerung von Ressourcen, Rechten, Gütern und Diensten, und die Unfähigkeit, an den normalen Beziehungen und Aktivitäten teilzunehmen, die für die Mehrheit der Menschen in einer Gesellschaft verfügbar sind, ob nun im ökonomischen, sozialen, kulturellen oder politischen Bereich. Sie beeinträchtigt sowohl die Lebensqualität des Individuums als auch die Fairness und den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes.«49 Untrennbar damit verbunden – auch darauf verweist das Zitat – war die Abkehr von einem ausschließlich materiellen Armutsbegriff und die Hinwendung zu einem Verständnis von Armut und Ausgrenzung als mehrdimensionalen Phänomenen. Auf diese Weise gerieten schlechte Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen, miserable Wohnverhältnisse, gesundheitliche Belastungen, ein unterprivilegierter Zugang zu Dienstleistungen und zerrüttete Familienverhältnisse verstärkt in den Blick – und zwar nicht nur als Konsequenzen materieller Deprivation, sondern auch als eigenständige Ursachen sozialer Ausgrenzung. Die zunehmende Durchsetzung eines multidimensionalen Armutsverständnisses anstelle rein ökonomischer Indikatoren lag zugleich ganz auf der Linie eines machtvollen Trends in der internationalen Armutsforschung, wie er seit den 47 Vgl. Levitas, Concept, S. 124 f.; Engels, Lebenslagen; Room, Armut, S. 271 f. 48 Opportunity for All, Cmd. 4445, S. 23. 49 Levitas u. a., Multi-Dimensional Analysis, S. 9. Vgl. ebd., S. 18–31; Levitas, Concept.
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1980er Jahren insbesondere in Amartya Sens Ansatz der Verwirklichungschancen seinen theoretischen Ausdruck und im Human Poverty Index der Vereinten Nationen seinen institutionellen Niederschlag gefunden hatte.50 Aus dem breiten Strom an Ergebnissen, der durch diese Neuorientierung des Armutsverständnisses generiert worden ist, sollen hier nur drei Aspekte beleuchtet werden, die für die Gruppe der Alten von besonderer Bedeutung sind. Gleichzeitig soll dabei ein besonderes Augenmerk auf ihrer komplexen Inter aktion mit der materiellen Armutsdimension liegen. Große Bedeutung kam aus der Perspektive sozialer Exklusion zunächst dem Zugang alter Menschen zu Infrastruktur und Dienstleistungen – etwa öffentliche Transportmittel, Kulturveranstaltungen oder Einrichtungen des Gesundheitssystems – zu. Obwohl es auch hier durchaus Hinweise auf eine zunehmende Exklusionstendenz bei abnehmendem Einkommen gab – der Anteil jener, die sich von kulturellen Aktivitäten ausgeschlossen fühlten, war im untersten Einkommensquintil mehr als doppelt so hoch wie im obersten –, standen doch andere Faktoren wie Hochaltrigkeit oder der Gesundheitszustand der Befragten als Ausgrenzungsmerkmale im Vordergrund.51 Mindestens ebenso wichtig wie der individuelle war jedoch der kollektive Ausschluss der Älteren, der sich darauf gründete, dass bestimmte Einrichtungen oder Dienstleistungen in einer für sie erreichbaren Nähe einfach nicht verfügbar waren.52 So gaben 40 % der Älteren in ländlichen Gebieten an, dass für sie der Zugang zu Dienstleistungen ein Problem darstelle.53 Damit rückte gleichzeitig das öffentliche Verkehrssystem – die flächendeckende Versorgung mit Bus- und Bahnverbindungen, die Sicherheit und der behindertengerechte Ausbau der Verkehrsmittel, die Flexibilität und die Altenfreundlichkeit des Transportangebots – in seiner Funktion als Inklusions- oder Exklusionsschleuse in den Mittelpunkt. »Der Transport ist häufig das fehlende Bindeglied, das zu Isolation und zum Ausschluss von Dienstleistungen führt«, stellte die Social Exclusion Unit 2005 in ihrem Zwischenbericht zusammenfassend fest.54 Ganz anders als bei den allgemeinen Dienstleistungen sah es bei jenen aus, die sich, wie etwa »Essen auf Rädern« oder ambulante Altenhilfe und -pflege, ausschließlich an alte Menschen als Adressaten wandten, da bei ihnen nicht die prinzipielle Verfügbarkeit, sondern das Kriterium der »Leistbarkeit« und damit materielle Unterprivilegierung das Haupthindernis darstellte. Die mangelnde Versorgung mit altenspezifischen Dienstleistungen aufgrund von Ein50 Zum Vorangehenden vgl. Opportunity for All, Cmd. 4445, S. 23 ff.; Stewart, Sefton u. Hills, Introduction, S. 9 ff.; Gordon, Concept; Levitas, Concept; Sen, Development; Nussbaum, Frontiers; Clark, Capability Approach. 51 Vgl. Kneale, Social Exclusion, bes. S. 44–61. 52 Vgl. Patsios, Pensioners, S. 444. 53 Excluded Older People, S. 28. 54 Ebd.
314 Back to Beveridge? kommensarmut war überdies ein Problem, das seit Mitte der 1990er Jahre an Bedeutung gewann. Das lag daran, dass der Staat seine Hilfeleistungen seither mehr und mehr auf jene Alten konzentrierte, die einer intensiven Betreuung bedurften, wohingegen sich alle anderen in der Finanzierung häuslicher Hilfe und Pflege zunehmend auf sich selbst verwiesen fanden. Während der Anteil jener alten Menschen über 75, die intensive ambulante Hilfe erhielten, von 1998 bis 2010 von 1,7 auf 2,8 % zunahm, ging der Prozentsatz der Empfänger weniger intensiver Hilfs- und Pflegeleistungen im gleichen Zeitraum um fast die Hälfte, von 10,2 auf 5,5 %, zurück.55 Eine zweite soziale Unterprivilegierung, die seit dem Ende der 1990er Jahre gesteigerte Aufmerksamkeit erfuhr, war jene der Wohnverhältnisse. Obwohl sich zeigte, dass die Alten in Großbritannien insgesamt nicht unter schlechteren Bedingungen wohnten als jüngere Altersgruppen,56 bildeten sie doch in einem Teilbereich: dem des Heizens und der angemessenen Temperierung der Wohnräume, die Hauptrisikogruppe. In der britischen Armutsdebatte der letzten Jahre – weder in Deutschland noch sonst in Kontinentaleuropa gibt es hierzu eine Parallele – hat dieser Problemkomplex unter dem Stichwort fuel poverty, also: Brennstoff-Armut, erhebliche Beachtung gefunden.57 Ausgehend von einem Ansatz, der den notwendigen Brennstoff-Aufwand in Relation zum Haushaltseinkommen setzt, errechnete die seit Anfang der 2000er Jahre jährlich erscheinende fuel poverty-Statistik nicht nur, dass die Brennstoff-Armut insgesamt bis 2003 fiel, danach aber wieder stetig anstieg, so dass 2009 4 Mio. Haushalte von ihr betroffen waren, sondern auch, dass das Risiko, fuel poor zu sein, mit wachsendem Alter deutlich zunahm.58 Ungefähr die Hälfte jener Haushalte, die die Statistiker aufgrund der von ihnen gewählten Definition als brennstoff-arm ausmachten, waren Rentnerhaushalte.59 Interessant war dabei, dass fuel poverty zwar hochgradig positiv mit Einkommensarmut korrelierte, durchaus aber nicht in ihr aufging. Brennstoff-Arme fanden sich nicht nur in 55 Zahlen: http://www.poverty.org.uk/69/index.shtml?2. Vgl. Palmer, MacInnes u. Kenway, Monitoring Poverty 2008, S. 93; MacInnes, Kenway u. Parekh, Monitoring Poverty 2009, S. 86, 88; Parekh, MacInnes u. Kenway, Monitoring Poverty 2010, S. 106, 110; An Overview of the UK Domiciliary Care Sector, UKHCA Summary Paper, Februar 2013, S. 4 f. 56 Vgl. Department for Communites and Local Government, English Housing Survey 2010–11, S. 88 ff. 57 Als fuel poor gilt dabei im allgemeinen ein Haushalt, wenn er mehr als 10 % seines Einkommens darauf verwenden muss, in den Wohnräumen eine »angemessene« Wärme von 18° bis 21° C zu erzielen. Vgl. Department of Energy and Climate Change, Annual Report on Fuel Poverty Statistics 2012, S. 3. Für alternative Definitionen vgl. Hills, Fuel Poverty; ders., Getting the Measure. 58 http://www.poverty.org.uk/80/index.shtml?2; Aldridge, Monitoring Poverty 2012, S. 139; Department of Energy and Climate Change, Annual Report on Fuel Poverty Statistics 2012, S. 35. 59 Vgl. Palmer, MacInnes u. Kenway, Cold and Poor, S. 47, 61.
Bleibende Ungleichheit und sinkende Armut 315
den untersten Einkommensschichten, sondern auch darüber, da Haushaltsgröße und Energieeffizienz der Behausung eine eigenständige Rolle spielten.60 Ein Sonderproblem für die Alten bestand darin, dass sie in der Regel einen höheren Heizbedarf als andere Altersgruppen besaßen, da sie sich im Durchschnitt einen größeren Teil des Tages zuhause aufhielten als diese. Überdies waren alte Menschen weit anfälliger als andere für die gesundheitlichen Auswirkungen unzureichender Wohntemperaturen. In Großbritannien ist diese Problematik anhand des Sterblichkeitsüberschusses in den Wintermonaten, der sog. excess winter deaths, seit den 1990er Jahren mit zunehmender Intensität diskutiert worden. Trotz eines deutlichen Rückgangs seit den 1950er Jahren lag der winterbedingte Sterblichkeitsüberschuss mit knapp 20 % im Vereinigten Königreich um die Milleniumswende weit höher als fast überall sonst im nördlichen Europa.61 Betroffen davon waren in erster Linie alte Menschen; von ihnen starben durchschnittlich von 1990/91 bis 2010/11 in jedem Winter fast 29.000 mehr als in den anderen Jahreszeiten – zumeist an den Folgen von Herz-Kreislaufund Atemwegserkrankungen; besonders gefährdet waren die über 85jährigen.62 Auch wenn die kausalen Wirkungsmechanismen nach wie vor im Dunkeln liegen, gibt es doch ausreichende Hinweise darauf, dass sich die excess winter deaths zu einem großen Teil auf unzureichend geheizte Wohnräume bzw. niedrige Innentemperaturen mit ihren direkten und indirekten Effekten zurückführen lassen. Da sich der winterliche Sterblichkeitsüberschuss bemerkenswert gleichmäßig über die verschiedenen sozialen Schichten verteilt, liegt darüber hinaus der Schluss nahe, dass es die allgemein schlechtere Isolierung und geringere Energieeffizienz britischer Häuser ist, die für die traurige internationale Ausnahmestellung des Vereinigten Königreichs bei den zusätzlichen Winter todesfällen verantwortlich zu machen ist.63 Drittens bildeten auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten angesichts von Krankheit und Tod eine integrale Dimension des mit New Labour sich durchsetzenden erweiterten Armutsverständnisses. Sie hatten in Großbritannien im Kontext des »Black Reports« und des »Whitehead Reports« zwar auch schon zuvor, in den 1980er Jahren, erhebliche Aufmerksamkeit erregt (vgl. Kap. V.2). Das Neue war nun jedoch, dass die Labour-Regierung – anders als die Konservativen, die sich nach Kräften bemüht hatten, das Problem aus dem Bereich des Politischen herauszuhalten – die soziale Ungleichheit im Hinblick auf Morbidität und Mortalität offensiv als Ungerechtigkeit brandmarkte, mit dem »Acheson Report« (1998) selbst eine neue Bestandsaufnahme ihres Ausmaßes in Auftrag gab und 60 Vgl. Department of Energy and Climate Change, Annual Report on Fuel Poverty Statistics 2012, S. 32; Palmer, MacInnes u. Kenway, Cold and Poor, S. 64. 61 Vgl. Healy, Excess Winter Mortality, S. 786; ONS , Excess Winter Mortality, S. 3, 15. 62 Eigene Berechnungen nach http://www.poverty.org.uk/67/index.shtml?2. Vgl. Wilkinson u. a., Cold Comfort, S. 1; ONS , Excess Winter Mortality, S. 11–14. 63 Vgl. Wilkinson u. a., Cold Comfort, S. 6, 8, 23.
316 Back to Beveridge? ihrer Bekämpfung oberste Priorität einräumte.64 Die vielen Initiativen auf nationaler und lokaler Ebene, die die Regierung gerade in ihren ersten beiden Amtszeiten zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten entfaltete, ebenso wie die zusätzlichen Ressourcen, die sie diesem Ziel widmete, haben sich jedoch bislang nicht in statistisch messbaren Erfolgen niedergeschlagen. Das lässt sich anhand zahlreicher Indikatoren belegen, von denen hier drei herausgegriffen werden sollen, die sich ausschließlich auf die ältere Bevölkerung beziehen. Beim ersten handelt es sich um den Anteil der 65–74jährigen, der angab, an einer stark beeinträchtigenden langfristigen Erkrankung oder Behinderung zu leiden. Ebenso, wie das zuvor der Fall gewesen war, variierte dieser Messwert am Ende der 2000er Jahre klar erkennbar mit dem Einkommen: Während im reichsten Einkommensquintil nur 23 % der Älteren unter einer gravierenden gesundheitlichen Einschränkung litten, waren es im untersten Einkommensfünftel genau doppelt so viel: 46 %. Unter den über 75jährigen war die Einkommensabhängigkeit des Gesundheitszustands weniger stark ausgeprägt, da in dieser Altersgruppe die altersspezifischen Krankheiten auf zunehmend breiter Front vorrückten; auch hier ließ sich aber ein sozialer Gradient durchaus noch erkennen.65 Von einer weitgehenden Kontinuität der Ungleichheitsstrukturen zeugt auch der zweite Indikator: die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer im Alter von 65 Jahren. Während ein 65jähriger professional 2002–2006 statistisch noch mit 18,6 weiteren Lebensjahren rechnen konnte, waren es für einen ungelernten Arbeiter nur 14,5 Jahre. Damit bewegte sich die Differenz zwischen den sozialen Klassen – bei insgesamt weiter steigender Lebenserwartung – ungefähr auf dem Niveau der 1990er Jahre (1992–1996: 17,0 zu 12,5 Jahre) und war nach wie vor weit größer als in den 1970er Jahren, als der Unterschied noch 14,0 gegenüber 11,6 Jahren (1972–1976) betragen hatte.66 Sogar auf einen Anstieg des gesundheitlichen Gefälles in der britischen Gesellschaft nach 2000 schließlich deutet die dritte Kennzahl hin: die Lebenserwartung frei von Behinderungen und schwerer Krankheit (disability-free life expectancy) im Alter von 65 Jahren in Abhängigkeit von der mithilfe eines »Multiplen Deprivationsindex« klassifizierten Wohngegend.67 Fokussiert man 64 Vgl. Department of Health, Independent Inquiry; Department of Health, Reducing Health Inequalities; Department of Health, Our Healthier Nation; Department of Health, Tackling Health Inequalities; Sassi, Tackling Health Inequalities; ders., Health Inequalities. 65 Vgl. http://www.poverty.org.uk/68/index.shtml?2#note1; Parekh, MacInnes u. Kenway, Monitoring Poverty 2010, S. 91; Palmer, Carr u. Kenway, Monitoring Poverty 2005, S. 91; Palmer u. a., Monitoring Poverty 2003, S. 87. 66 ONS , Trends in Life Expectancy by the National Statistics Socio-Economic Classification, S. 9, Tab. 3. 67 Zum Index of Multiple Deprivation vgl. nur Department for Communities and Local Government, English Indices of Deprivation 2010; Payne u. Abel, UK Indices of Multiple Deprivation.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 317
diesmal nicht auf die Männer, sondern die Frauen (die Tendenz ist dieselbe), zeigt sich, dass die Anzahl der weiteren Lebensjahre ohne wesentliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, mit denen eine 65jährige Frau aus dem am meisten privilegierten Gebiets-Fünftel durchschnittlich rechnen konnte, von 2002– 2005 bis 2006–2009 noch einmal um mehr als ein halbes Jahr, von 12,0 auf 12,6, anstieg. Für Frauen aus den am stärksten deprivierten Bezirken dagegen verminderte sich die behinderungsfreie Lebenserwartung im gleichen Zeitraum von 8,5 auf 8,2 Jahre – der gesellschaftliche Abstand vergrößerte sich. In Relation zur Gesamtlebenserwartung gesetzt, bedeutete das zudem, dass Frauen, die im Gebiets-Quintil mit den besten Lebensumständen wohnten, nicht nur insgesamt deutlich länger lebten als ihre minderprivilegierten Geschlechtsgenossinnen, sondern darüber hinaus auch einen größeren Anteil der noch vor ihnen liegenden Lebensjahre – 57,5 % gegenüber 44,2 % – ohne schwerwiegende gesundheitliche Probleme zubrachten.68
2. Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts Angesichts der vergleichsweise vorteilhaften sozialen Entwicklung, die die Gruppe der Älteren in Großbritannien seit den späten 1990er Jahren durchmachte und die sich – wie gerade geschildert – in der Abnahme der relativen Armut sowie im materiellen Positionsgewinn gegenüber anderen Altersgruppen niederschlug, mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, für eben diesen Zeitraum von einer »Krise der Alterssicherung« zu sprechen. Und doch war es genau dieser Eindruck, am Anfang einer »pensions crisis« bislang unbekannten Ausmaßes zu stehen, zu dem sich die Auffassungen der politischen Akteure, der publizistischen Kommentatoren und der wissenschaftlichen Experten im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums zunehmend verdichteten. Im Grunde waren es freilich drei weitgehend voneinander unabhängige Entwicklungen, die erst in ihrer Überlagerung kurz nach der Jahrtausendwende das Syndrom einer existentiellen »Rentenkrise« entstehen ließen. 1. Nicht dass die neue Labour-Regierung die Altersarmut bekämpfte, sondern wie sie es tat, rückte immer mehr ins Zentrum der Kritik. Wie bereits dargelegt, versuchte Schatzkanzler Gordon Brown – in erster Linie aus fiskalischen Gründen – das Problem nicht im Rahmen der staatlichen Rentenversicherung, sondern durch eine Anhebung der bedürftigkeitsgeprüften Leistungen zu lösen, die gezielt nur jenen Alten zugute kamen, die sich in relativer Einkommensarmut befanden. Damit setzte er ganz auf das Bedürftigkeitsprinzip der m eans-tested 68 ONS , Inequality in Disability-free Life Expectancy, S. 12, Tab. 4. Die Zahlen beziehen sich auf England. Vgl. White u. Edgar, Inequalities; Smith, Olatunde u. White, Monitoring Inequalities.
318 Back to Beveridge? benefits, das in Großbritannien stets den üblen Beigeschmack des Poor Law besaß und dennoch – im Gegensatz sowohl zur Situation in der Bundesrepublik als auch zu den ursprünglichen Intentionen Beveridges – in der Altersversorgung der Nachkriegszeit stets eine herausgehobene Rolle gespielt hatte. Während die Regierung die bedürftigkeitsgeprüfte Altersgrundsicherung (Minimum Income Guarantee, seit 2003 Pension Credit) an die Entwicklung der Durchschnittslöhne koppelte, ließ sie die staatliche Pauschalrente, die Basic State Pension, in der Fortführung der von Thatcher 1980 durchgesetzten Praxis weiterhin lediglich im Gleichschritt mit den Preisen steigen. Das hatte zur Folge, dass die Basic State Pension sowohl im Verhältnis zur Lohnentwicklung als auch zu den bedürftigkeitsgeprüften Fürsorgeleistungen immer mehr im Wert verfiel: Hatte sie 1981 noch 21,1 % des männlichen Durchschnittsverdienstes betragen, waren es 2000 nur noch 14,3 %.69 Bereits um die Jahrtausendwende lag die Basic State Pension ca. 10 % unterhalb des Satzes der bedürftigkeitsgeprüften Altersgrundsicherung; die unterschiedlichen Indexierungsverfahren versprachen die Differenz in Zukunft zu vergrößern.70 Tatsächlich war der Abstand zwischen der für alle Versicherten mit vollständiger Beitragskarriere gleich hohen Grundrente und den nach dem Bedürftigkeitsprinzip gewährten Fürsorgeleistungen sogar noch deutlich größer, da mittellose Antragsteller nicht nur die Altersgrundsicherung, sondern darüber hinaus zusätzliche bedürftigkeitsgeprüfte Hilfen wie Wohngeld und Council Tax Benefit erhielten. Zwar verfügten die meisten Briten nicht nur über Anrechte auf die Basic State Pension, sondern besaßen überdies eine private bzw. betriebliche Alterssicherung oder hatten Ansprüche aus der einkommensbezogenen staatlichen Zusatzrente SERPS bzw. ihrer von der Labour-Regierung mit Wirkung zum April 2002 eingeführten Nachfolgerin, der State Second Pension (S2P). Doch handelte es sich dabei häufig nur um geringe Zusatzleistungen, die nicht in der Lage waren, die Gesamtaltersrente auf das Niveau der deutlich angehobenen Fürsorgesätze zu bringen. Vor allem aber war für die Zusatzrenten ebenso wie für die Basic State Pension lediglich ein Inflations ausgleich vorgesehen, so dass sie mit voranschreitender Zeit gegenüber der mit den Löhnen steigenden Altersgrundsicherung an Boden verlieren mussten. Die unterschiedlichen Indexierungsverfahren hatten zur Folge, dass auch jene Rentner, deren Einkommen bei Renteneintritt noch knapp über der Altersgrund sicherung lag, damit rechnen mussten, bereits nach wenigen Jahren unter die Sozialhilfeschwelle zu rutschen. Angesichts dessen schien ein weiterer Anstieg der ohnehin schon hohen Zahl an Fürsorgebeziehern unter den Alten für die Zukunft vorprogrammiert zu sein. Bis zu 75 % der Rentner, so rechnete man in
69 Written Answers, HC , 526W (14.6.2012). 70 Vgl. Rake, Falkingham u. Evans, British Pension Policy, S. 298.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 319
Fortschreibung der geltenden Regelungen hoch, würden im Jahr 2050 Anspruch auf die bedürftigkeitsgeprüfte Altersgrundsicherung haben.71 Gegen diese Entwicklung, die durch den Bedeutungsverlust der staatlichen Basisrente und den schleichenden Umbau der britischen Alterssicherung zu einem primär auf dem Bedürftigkeitskriterium beruhenden System gekennzeichnet war, formierte sich alsbald ein breiter politischer Widerstand. Er reichte von den Altenorganisationen über sozialpolitische Experten bis zur Versicherungsindustrie und schloss auch Kritiker aus dem Labour-Lager wie den Unterhausabgeordneten Frank Field ein, der seit 1997 selbst für kurze Zeit dem Kabinett als Minister of Welfare Reform angehört hatte, dann aber nach Differenzen mit Blair und Brown schnell aus der Regierung ausgeschieden war.72 Die Kritik richtete sich nicht nur prinzipiell dagegen, die Praxis der Bedürftigkeitsprüfung faktisch bis weit in die Mittelschichten hinein auszudehnen, sondern zielte auch auf die praktischen Probleme des von New Labour präferierten Ansatzes: die Schwierigkeit, dass stets ein Gutteil der Alten die ihnen zustehenden bedürftigkeitsgeprüften Leistungen nicht in Anspruch nahm (non-take up), ganz besonders aber auch die Gefahr, dass ein vergleichsweise großzügiges Fürsorgenetz in den unteren und mittleren Einkommensklassen die Bereitschaft, Eigenvorsorge für das Alter zu betreiben, unterminieren und insofern als »strong disincentive to saving« wirken könnte.73 In die gleiche Richtung einer Verteidigung des Gleichheitsprinzips der Basic State Pension und einer Ablehnung der wachsenden Bedeutung des Bedürftigkeitsgrundsatzes in der Alterssicherung deuteten auch die Ergebnisse der empirischen Meinungsforschung. Angesichts der sich unter New Labour abzeichnenden Entwicklung nach dem von ihnen befürworteten Verteilungsprinzip in der staatlichen Alterssicherung befragt, sprachen sich 71 % der Befragten dafür aus, dass jeder eine gleich hohe Rente erhalten sollte.74 Zwar gab es durchaus auch eine große Zustimmung für bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen, doch sollten sie nicht an die Stelle der nach dem Gleichheitsgrundsatz gezahlten Grund71 Priceless Proposal to Bring State Pension in Line with Earnings, in: Financial Times, 24.11.2005. Zum Vorangehenden vgl. Bozio, Crawford u. Tetlow, History of State Pen sions, S. 34 ff., 59 ff.; Rake, Falkingham u. Evans, British Pension Policy, S. 299 ff.; Walker u. F oster, Caught, S. 437 f.; Evans u. Williams, Generation, S. 167 ff. 72 Vgl. Field Warns on Pensions Reform, in: Financial Times, 20.4.1999; Frank Field, Pay Off the Oldest Ones, in: Guardian, 26.5.2000; ders., An Uncomfortable Retirement, in: Financial Times, 18.2.2002; ders., Act, Mr. Blair, or Labour Might Be Pensioned Off, in: The Times, 21.9.2004. 73 Sally West (Age Concern) nach: Elderly Are No Longer Poorest of the Poor, in: The Times, 14.9.1999. Vgl. Naegele u. Walker, Social Protection, S. 165; Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 224–231; Darling Blames Tories for Poverty, in: The Times, 22.9.2000; Pensioners’ Scheme Not Sustainable, Say Advisers, in: Financial Times, 6.3.2001; Grasp This Historic Plan for Pensions, in: Financial Times, 1.12.2005. 74 Hills u. Lelkes, Social Security, S. 14.
320 Back to Beveridge? rente treten, sondern diese nur in besonderen Härtefällen ergänzen.75 Für eine staatliche Rente nach dem Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz, die in Deutschland eine lange Tradition hatte und bei Umfragen dauerhaft hohe Zustimmungswerte erhielt, in Großbritannien aber mit SERPS nur eine kurze und wechselvolle Geschichte besaß, votierte schließlich nur eine Minderheit von 12 %.76 Nachdrücklich wiesen diese Umfrageergebnisse ein weiteres Mal darauf hin, in welchem Ausmaß Gerechtigkeitsvorstellungen der Prägekraft seit langem bestehender Institutionen unterliegen. Einen Höhepunkt erreichte der Protest gegen den Kurs der Labour-Regierung im Jahr 2000, als diese die Basic State Pension aufgrund der niedrigen Inflationsrate um lediglich 1,1 % bzw. £ 0,75 erhöhte, während die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung im Gleichschritt mit den Löhnen um 4,5 % stieg.77 Innerhalb weniger Monate provozierte die zwar formelgerechte, aber symbolisch in ihrer Geringfügigkeit fatale Anhebung der allgemeinen Basisrente in einem komplexen Wechselspiel aus Selbstmobilisierung von erbosten Rentnern und Steuerung ihres Unmuts durch die Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Altenorganisationen eine »Great Pensioner Revolt«,78 die die verantwortlichen politischen Akteure unter erheblichen Druck setzte. Ausdruck fand der Rentnerprotest nicht zuletzt bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2000, bei denen die Labour Party eine desaströse Niederlage einstecken musste. Eine Blitzumfrage der »Times« unter Labour-Ratsmitgliedern, die ihren Sitz verloren hatten, ergab, dass mehr als zwei Drittel von ihnen die Empörung der Älteren über die Rentenpolitik der Regierung für ihren Mandatsverlust verantwortlich machten.79 Auf nationaler Ebene ging unter den Labour-Abgeordneten die Angst um, bei den 2001 bevorstehenden Unterhauswahlen für die unpopuläre Strategie ihrer Parteiführung abgestraft zu werden.80 Auf dem Parteitag der Labour Party im Herbst 2000 kam es zum Eklat: Die Gewerkschaften drangen mit ihrer Forderung durch, die Basic State Pension hinfort wieder an die Lohnentwicklung zu koppeln, und fügten damit der Parteispitze eine empfindliche Niederlage zu.81 Gordon Brown, der in erster Linie für den Kurs der Regierung in der Alterssicherungspolitik verantwortlich zeichnete, sah sich mit der bis dahin »größten Krise seiner Karriere« konfrontiert.82 Tony Blair ließ im Wahl75 Vgl. Phillips u. Hancock, Planning, S. 169; Sefton, Give and Take, S. 8 f. 76 Hills u. Lelkes, Social Security, S. 14. 77 Pensions Gloom Puts Pressure on Brown, in: The Times, 13.10.1999; Lib Dems Attack ›Miserly‹ Pension Rise, in: Financial Times, 8.2.2000. 78 Brown’s Pension Plan Is Just a Patch Over an Old Problem, in: Independent, 10.11.2000. 79 Vgl. Blair Urged to Buy Back the Pensioner Vote, in: The Times, 15.5.2000. 80 Vgl. Brown Will Woo ›Grey Vote‹ with £ 2 Increase in Pensions, in: Independent, 28.4.2000; To Stay on Top, Tony Has to Help the Aged, in: The Times, 8.5.2000. 81 Vgl. Unions Deal Labour Blow on Pensions, in: Financial Times, 28.9.2000; Blair Rocked by Pensions Defeat, in: Daily Telegraph, 28.9.2000. 82 Brown Hits Back over Pensions, in: The Times, 22.9.2000.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 321
kampf 2001 bußfertig verlauten, die »75p«-Erhöhung der staatlichen Grundrente sei der größte Fehler seiner gesamten ersten Amtszeit gewesen.83 Das Resultat des Rentnerprotests und der parteiinternen Auseinander setzung war ambivalent: Auf der einen Seite verwies die Episode klar auf die zunehmende Bedeutung der anwachsenden älteren Wählerschaft und zeigte, welchen Einfluss die Sorge um das »grey vote« unter bestimmten Bedingungen ausüben konnte. Unter dem Druck der eigenen Partei und der großzügigen Wahlversprechen der Tories und LibDems sah sich Brown gezwungen, die Basic State Pension 2001 in einem Umfang zu erhöhen, der nicht nur den Anstieg der Preise, sondern auch den der Löhne übertraf, und auch für das Folgejahr einen deutlichen Zuschlag anzukündigen. Durchaus zutreffend sprach der »Independent« von einem »Bieterkrieg … um die Stimmen der Alten«.84 Auf der anderen Seite hielt die Labour-Führung grundsätzlich an ihrer Strategie fest, die Altersarmut primär durch den Ausbau bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen zu bekämpfen, und verweigerte sich aus fiskalischen Gründen dem Drängen der Parteibasis, gleichzeitig die von Thatcher 1980 abgeschaffte Lohnanbindung der staatlichen Grundrente wiederherzustellen. Das Grundproblem des Zurück bleibens der Basic State Pension gegenüber der Entwicklung sowohl der Löhne als auch der Fürsorgesätze blieb daher einstweilen prinzipiell ungelöst. 2. Den Rückzug des Staates aus der originären Alterssicherung, der nicht nur im Wertverfall der staatlichen Grundrente, sondern auch in der Ablösung von SERPS durch die langfristig als Pauschalrente konzipierte State Second Pension zum Ausdruck kam, wollte die Regierung Blair – in diesem Ziel unterschied sie sich in keiner Weise von ihren konservativen Vorgängerinnen – durch einen weiteren Ausbau der betrieblichen und privaten Altersvorsorge kompensieren: In der Zukunft sollten nicht, wie bisher, 60 % der Renteneinkommen vom Staat und 40 % aus privaten (inkl. betrieblichen) Rentenversicherungen kommen, sondern umgekehrt 40 % vom Staat und 60 % aus privater Hand.85 Ganz entgegen diesen Erwartungen – und das machte das zweite Versatzstück der pensions crisis aus – erlebte jedoch die private Altersvorsorge seit den ausgehenden 1990er Jahren einen forcierten Niedergang, der zeitgleich mit dem Rückbau der staatlichen Rentenversicherung verlief. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten hatte die betriebliche Alterssicherung (occupational pensions), die das Rückgrat der nicht-staatlichen Altersvorsorge in Großbritannien bildete und gerade für die 83 Blair: 75p Pension Rise Was Our Biggest Mistake, in: The Scotsman, 15.5.2001; Hills, Poverty, S. 27. 84 Brown’s Pension Plan Is Just a Patch Over an Old Problem, in: Independent, 10.11.2000. Vgl. Pensioners’ Increase Outpace Inflation, in: Guardian, 8.3.2001; £ 7 Pension Rise Pledged by Hague, in: The Times, 24.5.2000; Brown to Boost Pensions from Phone Windfall, in: The Times, 25.5.2000; Brown Buys Off Pensions Revolt, in: Daily Telegraph, 26.9.2000; Ambitions for Britain, S. 28 f. 85 Vgl. Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 70.
322 Back to Beveridge? Mittelschichten eine Art funktionalen Äquivalents zur Statussicherungsqualität der bundesdeutschen Gesetzlichen Rentenversicherung darstellte, einen Prozess rapider Expansion durchgemacht. Zu einem guten Teil spiegelte das Wachstum der betrieblichen Rentenpläne den steigenden Verteilungsspielraum und die Arbeitsmarktsituation der Nachkriegszeit wider: Für die Gewerkschaften bildeten Betriebsrentensysteme wichtige Verhandlungsziele und Ausweise ihrer Daseinsberechtigung; für die Unternehmen fungierten sie als – zunächst kostengünstige – Instrumente, um attraktive Arbeitskräfte anzuziehen und eine – fast ausschließlich männliche – gut ausgebildete Stammbelegschaft an den Betrieb zu binden. Hinzu kam, dass der Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge staatlicherseits durch Beitragsnachlässe und Steuervorteile nach Kräften gefördert wurde. 1967 erreichte die Zahl der aktiven, also beitragzahlenden, Mitglieder von betrieblichen Rentenplänen in Großbritannien mit 12,2 Mio. ihr Allzeithoch. Danach ging sie, wie Graphik 13 zeigt, zunächst langsam, seit Ende der 1990er Jahre dann schneller zurück, bis sie 2011 auf nur noch 8,2 Mio. gefallen war. Der Rückgang – auch das weist die Graphik deutlich aus – war vollständig auf die Entwicklung im privaten Sektor zurückzuführen: Während die Anzahl jener im öffentlichen Dienst Beschäftigten, die Mitglied in einem Betriebsrentenschema waren, von 1967 bis 2011 sogar noch von 4,1 Mio. auf 5,3 Mio. anstieg, sackte der entsprechende Wert in der Privatwirtschaft im gleichen Zeitraum von 8,1 auf 2,9 Mio. ab – und das, obwohl sich das Verhältnis der Beschäftigtenzahlen aufgrund zahlreicher Privatisierungen zugunsten des privaten Sektors verschob.86 Noch 2002 hatten 52 % der in der Privatwirtschaft beschäftigten Männer und 41 % der Frauen über eine von ihrem Arbeitgeber getragene Rentenversicherung verfügt; bis 2011 waren die Prozentsätze auf 37 % bzw. 26 % gefallen. Im öffentlichen Dienst dagegen blieb der Abdeckungsgrad durch occupational pen sions bei den Männern gleichbleibend hoch und lag auch 2011 noch bei 87 %; der Anteil der Frauen mit betrieblicher Altersversorgung steigerte sich seit 1997 sogar noch von 75 % auf 82 % (2011).87 Im Ergebnis führte das in der Altersvorsorge zu einer wachsenden Divergenz von öffentlichem und privatem Sektor, die in der veröffentlichten Meinung als »eine Art von Renten-Apartheit« scharf kritisiert wurde.88 Die Krise der betrieblichen Alterssicherung in der britischen Privatwirtschaft, die im Absacken der Zahl aktiver Beitragszahler zum Ausdruck kam und in deutlichem Kontrast zum anhaltenden Anstieg der Betriebsrentenausschüttungen an die sich bereits im Ruhestand befindenden Alterskohorten 86 ONS , Occupational Pension Schemes Survey, 2011, S. 6. Vgl. Clark, UK Occupational Pension System, S. 149. 87 ONS , Pension Trends, Chap. 7, S. 14, Figure 7.8 (XLS -Daten). 88 Pensions Crisis to Hit Millions of Workers, in: Daily Telegraph, 24.6.2009.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 323
Graphik 13: Aktive Mitglieder von Betriebsrentenplänen in Mio., Großbritannien, 1953–2011 14 12 10 8 6 4 2
11
10
20
09
20
08
20
07
20
06
20
04
20
00
20
95
20
91
19
87
Privater Sektor
19
83
19
79
19
75
19
71
19
67
19
63
19
56
19
19
19
53
0 Öffentlicher Sektor
Quelle: ONS , Occupational Pension Schemes Survey, 2011.
stand,89 war voll und ganz die Folge des Niedergangs der am weitesten verbreiteten Spielart britischer Betriebsrenten: der defined benefit final salary pensions, deren Höhe sich – ebenso wie das bei den deutschen Beamtenpensionen der Fall war – am letzten Gehalt orientierte und die allgemein als die »Kronjuwelen« des britischen Rentensystems galten.90 Schon seit den frühen 1980er Jahren waren mehr und mehr britische Unternehmen davon abgerückt, neu angestellte Arbeitnehmer mit einem Betriebsrentenplan auszustatten, dessen Leistungszusagen sich am früheren Gehalt ausrichteten. Seit 2000 nahm dieser Trend, vor allem aber auch der Prozess der vollständigen Schließung von Betriebsrentenplänen für neue Mitglieder dann zunehmend die Gestalt eines reißenden Stromes an. Während 2000 noch 4,1 Mio. der 4,6 Mio. Beschäftigten im Privatsektor, die über eine defined benefit-Alterssicherung verfügten, Mitglieder in einem weiterhin offenen Rentenplan waren, traf das 2011 nur mehr auf 900.000 Arbeitnehmer zu; die übrigen 1,1 Mio., die ebenfalls noch eine derartige Betriebsrente besaßen, bildeten die Nachhut in Systemen, deren Abwicklung beschlossen 89 ONS , Pension Trends, Chap. 11, S. 11; ONS , Occupational Pension Schemes Survey, 2011, S. 11. 90 Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 80.
324 Back to Beveridge? worden war.91 2012 ergab eine Untersuchung der Association of Consulting Actuaries, dass 9 von 10 der sich an der Höhe des letzten Gehalts orientierenden Betriebsrentenpläne inzwischen für Neuzugänge geschlossen waren.92 Was waren die Ursachen für den raschen Niedergang der betrieblichen Alterssicherung in Großbritannien, die noch 1998 vom Sozialministerium als »one of the great welfare success stories« besungen worden war?93 Nur scheinbar widersinnig ist es, an erster Stelle die in den 1970er Jahren einsetzende zunehmende Regulierung der occupational pensions anzuführen, die aus anderer Perspektive zutreffend als anhaltender Lernprozess zu beschreiben ist, in dessen Verlauf die Betriebsrentenpläne durch gesetzliche Vorschriften für ihre Mitglieder in vielfacher Hinsicht gerechter, profitabler, transparenter und sicherer wurden. Staatliche Mindestdeckungsvorschriften, die Einrichtung eines Pen sionssicherungsfonds, die Absicherung von Hinterbliebenen, die Unverfallbarkeit von Ansprüchen im Falle eines Arbeitsplatzwechsels, die Anpassung der Renten an die Inflationsrate – all das gab es freilich nicht zum Nulltarif, sondern verursachte Kosten, die den Unternehmen die Aufrechterhaltung ihrer überkommenen Betriebsrentenpläne zunehmend weniger attraktiv erscheinen ließen.94 Mehr und mehr sah sich der Staat in der Regulierungsfrage einer Dilemmasituation ausgesetzt: Auf der einen Seite führte eine Reihe von Unternehmensinsolvenzen, in deren Folge bis Anfang 2004 mehr als 65.000 Beschäftigte ihre betrieblichen Rentenansprüche ganz oder teilweise verloren, eindringlich vor Augen, dass auf dem Feld der betrieblichen Alterssicherung nach wie vor noch ein erheblicher Schutz- und Regulierungsbedarf bestand.95 Auf der anderen Seite schienen die mit der Verschärfung der regulativen Standards verbundenen finanziellen Belastungen das Angebot gerade jener Formen betrieblicher Alterssicherung sinken zu lassen, die für die Arbeitnehmer besonders vorteilhaft waren. Aber nicht nur die zunehmenden gesetzlichen Auflagen trieben die Kosten der betrieblichen Alterssicherung für die Unternehmen nach oben, sondern auch die steigende Lebenserwartung. Das mag auf den ersten Blick überraschen, da der Anstieg der Lebenserwartung ein Trend war, der das gesamte 20. Jahrhundert durchzog, und daher zu vermuten ist, dass seine Fortschreibung in die Zukunft auch den Erwartungshorizont der Zeitgenossen in den vergangenen Dekaden bestimmt hat. Die Schwierigkeit für die zeitgenössische Prognostik lag jedoch darin, dass sich die Struktur des Zuwachses an zu erwarten91 https://www.pensionspolicyinstitute.org.uk/default.asp?p=91 (Tab. 24). 92 Work Until 70 to Pay for Your Old Age, in: Daily Telegraph, 3.1.2012. 93 DSS , New Contract, S. 18. 94 Vgl. Munnell, Employer-Sponsored Plans, S. 374 f.; Marschallek, Aufgestaute Probleme, S. 9 f.; Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 122. 95 Vgl. Turner Points to Stark Choices But Stalls on Recommendations, in: Financial Times, 12.10.2004.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 325
den Lebensjahren im Laufe der Zeit radikal veränderte: Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der enorme Anstieg an Lebenserwartung bei Geburt – von 1901–1910 = 48,5 auf 1950–52 = 66,4 Jahre – fast vollständig auf den Rückgang der Mortalität unter Kindern und jungen Erwachsenen zurückzuführen war, wohingegen die weitere Lebenserwartung mit 65 Jahren sich praktisch nicht veränderte, verlagerte sich der Zugewinn an durchschnittlicher Lebenszeit danach auf der Altersstufenleiter immer weiter nach oben. Bedingt durch die Überlagerung eines Alterskohorteneffekts mit einem in hochentwickelten Industrieländern allgemein zu beobachtenden Trend zum Vorrücken des Mortalitätsrückgangs in höhere Lebensalter, verzeichneten in England und Wales in den 1970er Jahren die 40–49jährigen, in den 1980ern die 50–59jährigen und in den 1990er Jahren die 60–69jährigen jeweils den höchsten Zuwachs an Lebenserwartung.96 Viel spricht dafür, dass die britischen Versicherungsmathematiker in den 1980er und 1990er Jahren den sich abzeichnenden neuen Trend nicht ausreichend erkannten, lange ihrem von früheren Entwicklungen geprägten Erfahrungsraum verhaftet blieben und auf diese Weise den Anstieg der Lebenserwartung im Alter systematisch unterschätzten. Als sich dann um 2000 in den versicherungsmathematischen Fachkreisen die neue Sichtweise durchsetzte, hatte das massive Auswirkungen auf die Prognosen für die zukünftige Entwicklung der Lebenserwartung: Noch 2002 hatte etwa das Government Actuary’s Department eine offizielle Schätzung vorgelegt, nach der die weibliche Lebenserwartung mit 65 Jahren, die derzeit bei gut 20 Jahren lag, bis 2050 nur leicht auf etwas mehr als 21 Jahre steigen sollte. Nur drei Jahre später, 2005, hatte es die entsprechende Prognose auf ungefähr 26 Jahre angehoben; 2007 waren es bereits mehr als 27 Jahre.97 Dass diese gravierenden Korrekturen die prognostizierten Kosten für Betriebsrentenpläne mit festen jährlichen Leistungszusagen explodieren und diese damit für die Unternehmen zu einer immer schwereren finanziellen Belastung werden ließen, braucht kaum näher ausgeführt zu werden. Dafür, dass die durch zunehmende Regulierung und Verlängerung der Lebenserwartung ansteigenden Kosten nicht schon in den 1980er und 1990er Jahren zu einem deutlichen Rückgang der defined benefit-Betriebsrenten führten, sondern dieser Prozess ruckartig nach der Jahrtausendwende an Dynamik gewann, war aber nicht nur die vorübergehende demographische Unterschätzung des Mortalitätsrückgangs im höheren Alter verantwortlich, sondern – noch weit wichtiger – die Entwicklung der Finanzmärkte. Da die britischen Pen sionsfonds überwiegend in Aktien investiert waren, bildete der langanhaltende Börsenboom der 1980er und 1990er Jahre für sie eine goldene Ära. So groß waren die Gewinne am Aktienmarkt, dass viele Unternehmen ihre Kapitalbeiträge 96 Willetts u. a., Longevity, S. 3–45, 72 ff., Zahlen: S. 5, 23. 97 Hills, Demographic Trends, S. 168 (kohortenspezifische Lebenserwartung für Frauen).
326 Back to Beveridge? zur Fondsbildung reduzierten oder die Zahlung ganz einstellten und »Beitragsferien« nahmen. Staatlicherseits wurde dem noch zusätzlich dadurch Vorschub geleistet, dass der Finance Act von 1986 etwaige dauerhafte Überschüsse im Kapitalvermögen der Pensionsfonds mit dem teilweisen Verlust der Steuerfreiheit bestrafte. Als dann der Aktienboom seit 2001 in eine rasante Talfahrt überging und die Versicherungsmathematiker gleichzeitig ihre Prognosen für das zu erwartende Lebensalter nach oben korrigierten, fand das »fool’s paradise«, dem der Erwartungshorizont in der betrieblichen Alterssicherung zwei Jahrzehnte lang geglichen hatte, ein jähes Ende.98 Im Eiltempo begannen nun viele Unternehmen ihre defined benefit-Pläne zu schließen und lösten damit ein Herdenverhalten aus, das durch den Aktiencrash seit 2008 – den zweiten innerhalb eines Jahrzehnts – noch einmal zusätzlich befeuert wurde. Die meisten britischen Firmen schafften ihre Betriebsrentenpläne nicht einfach ersatzlos ab, sondern stellten von defined benefit auf defined contribution um, setzten also ein System mit festgelegten monatlichen Beiträgen an die Stelle einer Rentenversicherung mit festen Leistungszusagen. Doch erscheint dieser Systemwechsel in der betrieblichen Alterssicherung, der sich in ähnlicher Weise auch in anderen Ländern wie etwa den Vereinigten Staaten beobachten lässt, kaum geeignet, die Versorgungslücke zu kompensieren, die für zukünftige Rentnerkohorten durch den Untergang der defined benefit-Pläne entstanden ist. Das liegt zunächst einmal daran, dass die Beiträge, die die Arbeitgeber in die defined contribution-Rentenversicherungen einzahlen, deutlich – ungefähr um die Hälfte – unter dem liegen, was sie zuvor im Durchschnitt in die am Endgehalt orientierten Betriebsrentenpläne einspeisen mussten. Mindestens ebenso wichtig ist, dass der Wechsel von defined benefit zu defined contribution untrennbar mit der Verschiebung des Risikos vom Unternehmen bzw. der Versicherung zum Individuum verbunden ist. Das gilt zum einen für das Investmentrisiko, das nun der einzelne Versicherte alleine trägt, da seine Altersvorsorge vollständig vom Anlageerfolg abhängt, während ihm zuvor eine Rente in bestimmter Höhe garantiert worden war. Das trifft zum anderen auf das vorher ebenfalls beim Anbieter der defined benefit-Renten liegende Risiko zu, das für den Versicherten nun dadurch entsteht, dass er das angesparte Kapital mit Erreichung des Ruhestandes in eine lebenslange Rente umwandeln muss, deren monatliche Höhe empfindlich von Veränderungen der durchschnittlichen Lebenserwartung und des Kapitalmarktzinses abhängt. Gerade in den Jahren seit 2008 hat hier der Anstieg der Lebenserwartung zusammen mit der von der Bank of England betriebenen Geldmengenerhöhung (quantitative easing) zu einem erheblichen Verfall der aus einem bestimmten
98 A Pensions House of Cards That Was Always Going To Fall, in: Financial Times, 23.4.2007; Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 123–125.
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Grundkapital zu erwartenden Rentenhöhe geführt, dessen Umkehrung nicht abzusehen ist.99 Ebensowenig wie die defined contribution-Betriebsrenten vermochte die individuelle private Altersvorsorge die Lücke zu füllen, die das Sterben der defined benefit occupational pensions in der britischen Privatwirtschaft hinterließ. Im Gegenteil: Nach einer Serie von Skandalen wie dem Fast-Zusammenbruch der Equitable Life von 2000, Aufsehen erregenden Falschberatungsfällen und vernichtenden Berichten über die im internationalen Vergleich hohen Verwaltungskosten und schlechten Renditen durchleidet die britische Versicherungsindustrie seit längerer Zeit eine Krise des Publikumsvertrauens, die kaum geeignet scheint, einem Wachstum der privaten Altersvorsorge Vorschub zu leisten.100 Im Ergebnis führt all das zu der inzwischen von Politikern, Experten und in der veröffentlichten Meinung weithin geteilten Diagnose, dass in der Altersvorsorge großer, sich jetzt in der Erwerbsphase befindenden Teile der britischen Gesellschaft ein tiefes Loch klafft, dessen Ausmaß freilich schwer abzuschätzen ist. Nach einer von der HSBC – und damit von wirtschaftlich interessierter Seite – 2013 vorgelegten repräsentativen Untersuchung gaben zwei Drittel der befragten Briten an, gar nicht oder nicht ausreichend für ihr Alter vorzusorgen. Während sie im Durchschnitt erwarteten, eine 19jährige Ruhestandsphase zu erleben, waren ihre Rücklagen für das Alter lediglich auf eine Zeit von sieben Jahren ausgelegt.101 3. Die dritte Entwicklung, die die entscheidende Hintergrundfolie für die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen heraufziehende »Rentenkrise« bildete, war die demographische Alterung. Der Anstieg des Anteils der Älteren an der Bevölkerung, der einen das gesamte 20. Jahrhundert ebenso wie auch die absehbare Zukunft durchziehenden Grundtrend in allen Industrieländern bildet, lässt sich auf das Zusammenwirken von zwei Faktoren zurückführen: auf die sinkende Fertilität einerseits und die steigende Lebenserwartung andererseits. Gemeinsam bewirken beide Prozesse – wobei mit voranschreitendem Zeitablauf der Lebenserwartungszuwachs im fortgeschrittenen Erwachsenenalter immer mehr an Bedeutung gewinnt – die langfristige Zunahme des sog. AltersDependenzkoeffizienten (Old-Age Dependency Ratio), der heute den internatio99 Zum vorangehenden Absatz vgl. nur Bank’s Policy Will Cost New Retirees Thousands Every Year, in: Daily Telegraph, 8.6.2012; Pensions Pots ›In Free Fall‹ From Money Printing, in: Daily Telegraph, 9.10.2012; Pensions Crisis to Hit Millions of Workers, in: Daily Telegraph, 24.6.2009; Pensions Half the Minimum Standard of Living, in: Independent, 17.8.2010; Munnell, Employer-Sponsored Plans, S. 362–376; Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 84–113. 100 Vgl. UK Pension Performance Among Worst in Developed World, 11.6.2012; Ed Miliband Challenges ›Rip-Off‹ Pension Schemes, in: Guardian, 12.7.2012; Fees That Can Halve the Value of Your Pension, in: Daily Telegraph, 17.7.2012; Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 214 ff.; http://www.bbc.co.uk/news/business-10725923. 101 HSBC , The Future of Retirement. UK Report, S. 5.
328 Back to Beveridge? nal am weitesten verbreiteten Indikator für Bevölkerungsalterung darstellt und der – nach der hier gebrauchten Definition – das Verhältnis der über 65jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter (20–64) widergibt. In die Konstruktion des Dependenzkoeffizienten gehen – das lässt sich nicht genug betonen – wichtige analytische Vorannahmen ein. An erster Stelle zählt zu ihnen die binäre Differenzierung der Bevölkerung in produktiv und unproduktiv anhand eines einfachen chronologischen Alterskriteriums: Wer 65 und älter ist, gilt – unabhängig von seinem tatsächlichen Erwerbsstatus – als ökonomischer Belastungsfaktor, der von den Jüngeren, denen ebenso umstandslos wirtschaftliche Produktivität zugeschrieben wird, versorgt werden muss. Ein Anstieg der Old-Age Dependeny Ratio wird dann regelmäßig im Sinne eines wachsenden Ressourcentransfers von den produktiven Jungen an die unproduktiven Alten bzw. einer steigenden Belastung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung durch die zunehmende Zahl der Rentner interpretiert. Basierend auf der mittleren Variante der aktuellen Bevölkerungsschätzungen der Vereinten Nationen, zeigt Graphik 14 sowohl für Großbritannien als auch für Deutschland nicht nur den säkularen Aufwärtstrend des AltersDependenzkoeffizienten von 1950 bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Sie verdeutlicht auch, dass dieser Anstieg in beiden Fällen alles andere als gleichmäßig verläuft. In Großbritannien etwa lag die Old-Age Dependency Ratio von 1980 bis 2005 so gut wie unverändert bei knapp 27 %. Der Anstieg setzte erst ungefähr 2010 ein, wobei sich – das ist eine für die Änderung der Grundannahmen äußerst robuste Prognose – das hauptsächliche Wachstum auf einen Zeitraum von nur drei Jahrzehnten komprimieren wird. Den Grund hierfür bilden die geburtstarken Jahrgänge von 1945 bis etwa 1970. In der Zeit, als sie sich vollständig in der Erwerbsphase befanden, hielten sie trotz eines beträchtlichen Zuwachses an Lebenserwartung den Alters-Dependenzkoeffizienten auf einem stabilen Niveau. Ab 2010, als die ersten von ihnen das 65. Lebensjahr erreichten und damit vom Nenner in den Zähler des statistischen Indikators wanderten, schlägt nun der Zugewinn an Lebenserwartung in verschärftem Tempo durch, das noch zusätzlich dadurch erhöht wird, dass zunehmend geburtenschwache Jahrgänge in das Erwerbsalter einrücken. Gleichzeitig verdeutlicht die Graphik, dass sowohl Großbritannien als auch Deutschland – auf die Unterschiede wird noch einzugehen sein – sich von 1980 bis etwa 2010/15 sogar in einer demographisch ausgesprochen günstigen Periode befanden, wenn man die Perspektive des Dependenzkoeffizienten beibehält, dabei aber nicht nur die Alten, sondern auch die Kinder und Jugendlichen in den Blick nimmt: Die Total Dependency Ratio – das Verhältnis aller ökonomisch »Abhängigen« bis zum 19. und jenseits des 65. Lebensjahrs zur Gruppe der 20–64jährigen – sackte seit Mitte der 1970er Jahre aufgrund der dramatisch abnehmenden Fertilität in beiden Ländern für eine Zeitlang deutlich ab. Seit Anfang des neuen Millenniums schließt sich jedoch dieses von Demographen und Ökonomen häufig als »demographische
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 329
Graphik 14: Dependenzkoeffizienten (Old-Age Dependency Ratio, Total Dependency Ratio), Deutschland und Großbritannien, 1950–2050 120,0
100,0
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60,0
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0 TDR Deutschland
OADR : Old-Age Dependency Ratio: Relation der über 65jährigen zur 20–64jährigen Bevölkerung. TDR : Total Dependency Ratio: Relation der 0–19 sowie über 65jährigen zur 20–64jäh-
rigen Bevölkerung. Schätzungen ab 2015 nach mittlerer Fertilitätsvariante; Deutschland in den Grenzen von 2010. Quelle: United Nations, World Population Prospects, 2010 Revision.
Dividende« titulierte, durch einen besonders hohen Bevölkerungsanteil an Erwerbsfähigen gekennzeichnete und daher angeblich besondere Wachstumschancen bergende Fenster aufgrund der nun dominierenden Bevölkerungsalterung mit zunehmender Geschwindigkeit.102 Fokussiert man nicht auf das allen fortgeschrittenen Industrieländern gemeinsame Grundmuster der demographischen Alterung, sondern auf die Unterschiede zwischen ihnen, zeigt sich – und das gilt gerade im Vergleich zu einem schnell alternden Land wie der Bundesrepublik –, dass die Bevölkerungsentwicklung in Großbritannien im Grunde vergleichsweise undramatisch verläuft. Das ist in erster Linie das Ergebnis der britischen Fertilitätsrate, die sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich über der deutschen Referenzgröße bewegte und darüber hinaus einen Aufwärtstrend aufweist: Während die 102 Vgl. Bloom, Canning u. Sevilla, Demographic Dividend; Bloom u. a., Fertility; Mason, Demographic Dividends; Mason u. Lee, Reform.
330 Back to Beveridge? Gesamtfertilitätsrate (Total Fertility Rate) in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 1990–2010 bei lediglich 1,34 Kindern je Frau lag, lautete der entsprechende Wert für Großbritannien 1,75. In der ersten Dekade des neuen Millenniums verzeichnete die britische Geburtenrate eine steigende Tendenz, die sie bis 2010 auf 1,98 Kinder pro Frau anwachsen ließ, wohingegen die Fertilität in Deutschland dauerhaft unter 1,4 verharrte.103 Im Hinblick auf die für die Zukunft aufgrund der demographischen Alterung zu erwartenden finanziellen Belastungen wirkt sich aber nicht nur die vergleichsweise günstige Bevölkerungsentwicklung, sondern vor allem auch der bescheidene Zuschnitt der staatlichen Alterssicherung im Vereinigten Königreich entlastend aus: Nach den neuesten Schätzungen der Europäischen Kommission sollen in Großbritannien die staatlichen Rentenausgaben, die sich 2010 auf 7,7 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) beliefen, bis 2050 nur leicht auf 8,2 % steigen. Für die Bundesrepublik dagegen, wo die Ausgaben der gesetzlichen Alterssicherung 2010 10,8 % des BIP betrugen, wird bis 2050 ein Anstieg auf 13,0 % prognostiziert.104 Es zeugt von der Eigenständigkeit und transnationalen Qualität diskursiver Formationen, dass sich in Großbritannien trotz dieser im Vergleich zu anderen OECD -Ländern weniger problematisch erscheinenden Zukunftsaussichten ein demographischer Bedrohungsdiskurs entwickeln konnte, der dem deutschen an Intensität nicht nachstand. Unter dem Einfluss vor allem US -amerikanischer Diskussionen und befördert durch alarmierende Studien supranationaler Institutionen wie der Weltbank, setzte sich im Vereinigten Königreich unter sozialpolitischen Experten, Politikern und in der veröffentlichten Meinung im Laufe der 1990er Jahre zunehmend ein Wahrnehmungsmuster durch, das die besonders auf den Feldern der Alterssicherung und Gesundheitsversorgung infolge der demographischen Alterung sich auftürmende finanzielle Belastung beschwor und in politischen Debatten wie jener über die pensions crisis jederzeit aktualisierbar war.105 Untrennbar damit verbunden ist der Ruf nach mehr Generationengerechtigkeit, der gerade in der Wirtschaftskrise seit 2008 auffallend laut zu vernehmen ist und hinter dem die Vorstellung steht, dass nicht mehr Klassen- oder Schichtzugehörigkeit, sondern Alter das entscheidende Differenzkriterium bildet, an dem sich sozio-ökonomische Ungleichheiten festmachen. Die Leitidee der generational equity bzw. Generationengerechtigkeit zielt letztlich darauf ab, die Lebensbilanzen verschiedener Geburtskohorten im Sinne eines generational accounting gegeneinander aufzurechnen und aus103 Eigene Berechnungen nach United Nations, World Population Prospects, 2010 Revision; 2010: Eurostat. 104 European Commission, 2012 Ageing Report, S. 394, 460. 105 Vgl. World Bank, Averting; Rethink Pensions, Urges OECD, in: Daily Telegraph, 8.11.2000; Why an Ageing Population Is the Greatest Threat to Society, in: Independent, 10.4.2002.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 331
zugleichen.106 »Wir sind der Auffassung, dass jede Generation für sich selbst aufkommen sollte und dass das heute nicht der Fall ist«, verleiht die 2011 gegründete Intergenerational Foundation dieser Sichtweise Ausdruck.107 Die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Strukturen, so die Anwälte der Forderung nach mehr Generationengerechtigkeit, verteilten die Ressourcen systematisch zugunsten der Älteren und zum Nachteil der Jüngeren um, auf deren Schultern nicht nur während ihrer Ausbildungs- und Erwerbsphase die Lasten einer alternden Gesellschaft ruhten, sondern deren eigene Alterssicherung darüber hinaus weit schlechter sei als die gegenwärtiger Rentnerkohorten. Diese Ungerechtigkeit leiste einem Konflikt zwischen den Generationen, einem »Clash of the Generations«, Vorschub: »The Age War has begun«.108 Es ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, ob und inwieweit der in der politischen Öffentlichkeit zunehmend an Raum gewinnende Diskurs um Generationengerechtigkeit und -konflikt eine in der Bevölkerung verbreitete Vorstellung widerspiegelt oder diese nachhaltig geprägt hat. Die anhaltend hohe und in den letzten Dekaden sogar noch ansteigende Popularität staatlicher Ausgaben für die Alterssicherung spricht zunächst einmal eher gegen eine solche Annahme. Bei einer im Rahmen des British Social Attitudes Survey seit Beginn der 1980er Jahre immer wieder gestellten Frage nach derjenigen Sozialleistung, deren Erhöhung die Befragten oberste Priorität geben würden, landeten die Altersrenten durchgehend auf dem ersten Platz. In der Konkurrenz zu Leistungen für Kinder, Arbeitslose, Behinderte und Alleinerziehende stehend, konnte die Aufstockung der Renten in den 1980er Jahren einen Zustimmungwert von durchschnittlich 43 %, in den 1990er Jahren von 44 % und in den 2000ern gar von 57 % der Befragten verbuchen. Andere Sozialleistungen dagegen – vor allem jene für Arbeitslose – büßten deutlich an Legitimität ein; hatten Anfang der 1980er Jahre noch 18 % der Befragten eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung an erster Stelle genannt, waren es es 2007 nur noch 2 %. Die breite Zustimmung zu Rentenerhöhungen ist allerdings nicht gleich mäßig über die Altersklassen verteilt, sondern weist ein steiles Altersgefälle auf: Während 2010 67 % der über 55jährigen einer Steigerung der Alterrenten gegenüber anderen Sozialleistungen den Vorzug gaben, waren es nur 53 % der 35–54jährigen und 29 % der 17–34jährigen.109 Der auf den ersten Blick mögliche Schluss, hierin kündige sich ein Generationenkonflikt im Sinne divergierender Präferenzen unterschiedlicher Alterskohorten an, hält jedoch einer näheren Analyse nicht stand. Es zeigt sich nämlich (Graphik 15), dass die Älteren über 106 Vgl. Kotlikoff, Generational Accounting; Auerbach, Kotlikoff u. Leibfritz, Generational Accounting; Williamson, McNamara u. Howling, Generational Equity; Macnicol, Intergenerational Equity; Higgs u. Gilleard, Generational Justice. 107 http://www.if.org.uk/. 108 The Age War is Here – and the Young Are Losing It to the Old, in: Observer, 21.5.2006. 109 Alle Zahlen: British Social Attitudes Survey.
332 Back to Beveridge? Graphik 15: Meinungsumfrage Großbritannien: Altersrenten als oberste Priorität für zusätzliche Sozialausgaben nach Altersgruppen (in %) 80 70 60 50 40 30 20 10
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0 55+ Jahre
Frage: »About the government’s spending on social benefits like these. Which, if any, of these would be your highest priority for extra spending?« Mögliche Antworten: »Old age pen sions«, »Child benefits«, »Benefits for the unemployed«, »Benefits for disabled people«, »Benefits for single parents«, »None of these« Quelle: British Social Attitudes Survey
den gesamten Befragungszeitraum hinweg weit häufiger für eine Prioritätensetzung bei den Altersrenten votierten als die Jüngeren, was klar auf einen Wandel der Präferenzen über den Lebenszyklus hinweg und nicht auf eine generationelle Konfliktlinie hinweist. Der überwiegend parallele Verlauf der drei Kurven in Graphik 15 deutet darüber hinaus sogar eher darauf hin, dass sich die Einstellungen der verschiedenen Alterskohorten im Zeitverlauf weitgehend im Gleichschritt verändert haben und zwar insgesamt – jedenfalls gilt das bis zur Mitte der 2000er Jahre – in Richtung einer wachsenden Unterstützung für eine Verbesserung der Altersversorgung.110 Schließlich gilt es eine Eigenart des britischen Diskurses über Generationengerechtigkeit zu erwähnen, die erst im Vergleich mit ihrem deutschen Widerpart hervortritt. Während die Debatte in der Bundesrepublik sich tendenziell an der angeblichen Besserstellung der derzeitigen Rentnergeneration abarbei110 Vgl. hierzu auch Clery, Welfare, S. 6 ff.; Park, Generation Game, S. 16 f.
Die »Rentenkrise« am Anfang des 21. Jahrhunderts 333
tet, richtet sich die Argumentation in Großbritannien vorzugsweise gegen die jüngere Alterskohorte der Baby-Boomer. Wie immer die Generation der BabyBoomer abgegrenzt wird – zumeist werden sie mit den Geburtsjahrgängen von 1945 bis 1965 gleichgesetzt –, stets ist der Vorwurf der Kritiker derselbe: »Die Generation der Baby-Boomer hat von einer Reihe einzigartiger historischer Umstände profitiert, und anstatt ihr Glück mit der Generation ihrer Kinder zu teilen, haben sie einfach grausam die Leiter weggezogen.«111 Nicht nur ihre angeblich privilegierte generationelle Lage, die es ihnen erlaubte, von allen positiven Trends der Nachkriegszeit in besonderer Weise zu profitieren, wird mithin den Boomern vorgehalten; viele der Generationengerechtigkeitsnarrative sind auch nahe daran, ihnen als Generation eine Akteursqualität zuzuschreiben und ihren generationellen Egoismus moralisch zu verurteilen. Der Untertitel von »The Pinch«, dem 2010 erschienenen und vielbeachteten Bestseller des prominenten konservativen Politikers David Willetts, weist etwa durchaus in diese Richtung: »How the Baby Boomers Took Their Children’s Future – And Why They Should Give It Back«.112 Warum die britische Debatte über Generationengerechtigkeit anders als die deutsche vollständig auf die Boomer fixiert ist, ist nicht einfach zu erklären. Von der ihnen in besonderer Weise zugeschriebenen Verantwortung für den Klimawandel bis zum Vorwurf, einmalig günstige Beschäftigungschancen genossen zu haben, speist sich die Kritik an den Baby-Boomern aus einer Reihe von Problembereichen, die keineswegs auf Großbritannien beschränkt sind. Zwei zentrale Ansatzpunkte der britischen Generationengerechtigkeitsdiskussion finden sich jedoch nur im Vereinigten Königreich und nicht in Deutschland: Das trifft zum einen auf die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt zu – von der großangelegten Privatisierung öffentlichen Wohnraums unter Thatcher bis zur Immobilienhausse seit Mitte der 1990er Jahre –, die ein Vermögen vor allem in die Taschen der Baby-Boomer gespült haben sollen. Zum anderen gelten die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge als die Hauptprofiteure einer großzügigen Altersversorgung durch die defined benefit occupational pensions, die heute für Neuzugänge so gut wie vollständig geschlossen sind.113 Dagegen lässt sich freilich zu Recht einwenden, dass – wie auch die Analyse der Vermögensunterschiede im vorangegangenen Kapitel (VII.1) demonstriert hat – die Gleichsetzung der Boomer-Jahrgänge mit der Gruppe der Hauptnutznießer beider Phänomene eine die tatsächlichen Verhältnisse stark verzerrende Verein fachung darstellt. Vor allem aber wird deutlich, in welchem Ausmaß der Dis111 Berry u. Freeland, Book Reviews, S. 853. 112 Willetts, The Pinch. 113 Zum Vorangehenden vgl. etwa Howker u. Malik, Jilted Generation; Beckett, What Did the Baby Boomers; Willets, The Pinch; Will the Baby-Boomers Bankrupt Britain?, in: Independent, 5.4.2010. Zur Kritik vgl. Macnicol, Intergenerational Equity; Higgs u. Gilleard, Generational Justice; dies., Generational Conflict.
334 Back to Beveridge? kurs der Generationengerechtigkeit auf die soziale Situation der besitzenden Mittelklassen bezogen ist, während er die Lage der vielen vermögenslosen BabyBoomer ohne eigenes Haus und betriebliche Alterssicherung ausblendet und damit von intra-generationellen Ungleichheiten ablenkt.
3. Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 Vor dem Hintergrund der politisch immer weiter um sich greifenden Vorstellung, einer existentiellen Krise der Alterssicherung entgegenzusteuern, und angesichts der bislang vergeblichen Versuche der Labour-Regierung, diese Entwicklung durch Reformmaßnahmen aufzuhalten, setzte die zweite BlairAdministration im Dezember 2002 eine unabhängige Sachverständigenkommission, die Pensions Commission, ein. Der dreiköpfigen Kommission gehörten mit Jeannie Drake eine führende Gewerkschaftsfunktionärin und mit John Hills einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Sozialpolitik an; geleitet wurde sie von Adair Turner, dem Vizepräsidenten von Merrill Lynch Europe und ehemaligen Generaldirektor der Confederation of British Industry (CBI). Nicht anders als die Beveridge-Kommission ging die Pensions Commission über ihren eigentlich auf den Bereich der privaten und betrieblichen Alterssicherung beschränkten Auftrag deutlich hinaus und unterzog das britische Rentensystem als Ganzes einer eingehenden Prüfung. Das Ergebnis war wenig schmeichelhaft: In ihrem ersten Bericht von 2004 attestierte die Sachverständigenkommission dem britischen Alterssicherungssystem eine »verwirrende Komplexität«, die in der Bevölkerung zu »Verwirrung und Misstrauen« geführt habe. Der Staat ziehe sich zunehmend aus der Alterssicherung zurück; anstatt die entstehende Versorgungslücke zu füllen, erlebe die private bzw. betriebliche Altersvorsorge zeitgleich einen sich beschleunigenden Niedergang. Ohne grundlegende Reformen müssten breite Kreise der Bevölkerung zukünftig im Alter mit »unzureichenden Renten« rechnen.114 Angesichts der rasch voranschreitenden demographischen Alterung habe die britische Gesellschaft die Wahl zwischen vier Optionen: der Absenkung der Altersbezüge relativ zu den Einkommen der Erwerbstätigen, einem Anstieg der Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung, einem Ausbau der privaten bzw. betrieblichen Altersvorsorge oder der Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Die Kommission schloss die erste Alternative einer Verschlechterung der relativen sozialen Position der Rentner als gesellschaftlich und politisch »unattraktiv« aus.115 Eine erfolgreiche 114 Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. xiii, xii. Vgl. Other Countries Provide Examples to Follow, in: Financial Times, 13.10.2004; Turner Points to Stark Choices But Stalls on Recommendations, in: Financial Times, 12.10.2004. 115 Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. x.
Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 335
Rentenreform hatte nach ihrem Dafürhalten auf einer Kombination der drei übrigen Optionen aufzubauen. Die grundlegende Reform der britischen Alterssicherung, die die Regierung mit den Pension Acts von 2007 und 2008 in Angriff nahm, lehnte sich eng an die Vorschläge der Pensions Commission an, die diese in ihrem 2005 vorgelegten zweiten Bericht konkretisiert hatte.116 Vorangegangen war der Reform einer der schwersten Konflikte in der Geschichte des an Zerwürfnissen reichen Verhältnisses zwischen Tony Blair und Gordon Brown, bei dem sich der die Empfehlungen der Turner-Kommission befürwortende Premierminister gegen den Schatzkanzler weitgehend durchsetzte. Bis zuletzt hatte Brown auf die Überlegenheit des von ihm kräftig ausgebauten Systems bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen gepocht und die von der Pensions Commission geforderte Wiederankopplung der staatlichen Basisrente an die Lohnentwicklung als zu kostspielig abgelehnt – letztlich ohne Erfolg.117 Die Reformmaßnahmen der Labour-Regierung, die keinen Teilbereich des bestehenden Alterssicherungssystems unberührt ließen, ruhten im wesentlichen auf drei Eckpfeilern: Der erste Kernbereich der Reform umfasste die Aufwertung der Basic State Pension und die Vereinfachung des staatlichen Rentensystems. Möglichst ab 2012, spätestens aber ab 2015 sollte die seit den frühen 1980er Jahren langsam in ihrem Wert verfallende staatliche Grundrente wieder im Gleichschritt mit den Erwerbseinkommen steigen. Diese Maßnahme sollte dem überaus un populären Bedeutungsgewinn bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen in der Alterssicherung entgegenwirken und entsprach nicht nur dem langgehegten Wunsch der Gewerkschaften und vieler Labour-Anhänger, sondern inzwischen auch der gemeinsamen Forderung von Konservativen und Liberaldemokraten in ihren Parteiprogrammen für die Unterhauswahlen von 2005.118 Faktisch eingeführt wurde das neue Indexierungsregime für die Basic State Pension schließlich nicht von der Labour Party, die in der Wahl 2010 unterlag, sondern von der Regierungskoalition aus Tories und LibDems unter David Cameron. Anstatt – wie das in der Geschichte der britischen Alterssicherung häufig der Fall gewesen war – die von ihrer Vorgängerin angestoßenen Reformen auf Eis zu legen, zog die neue Regierung nicht nur den Übergang zum neuen Indexierungverfahren vor, sondern ging auch über die reine Koppelung der Renten an die Einkommensentwicklung hinaus. Im April 2011 führte sie den sog. »triple-lock« 116 Vgl. Pensions Commission, New Pension Settlement; Pensions Act 2007; Pensions Act 2008; DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841; DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975. 117 Vgl. Seldon, Blair Unbound, S. 401–404, 461–465; Blair, Journey, S. 608 f.; Bower, Gordon Brown, S. 519 f.; Chancellor Sacrifices Means Testing to Settle Pensions Row, in: Guardian, 5.4.2006; On Pensions Turner is Half Right, Brown Totally Wrong, in: Guardian, 5.4.2006; Fair, Affordable and Sustainable, in: Guardian, 5.4.2006. 118 Vgl. TUC , Pensions Commission Report, S. 2; Conservative Party, Are You Thinking?, S. 4; Liberal Democrats, The Real Alternative, S. 12.
336 Back to Beveridge? ein. Seither steigt die Basic State Pension jährlich entweder analog dem Einkommenswachstum oder der Inflationsrate oder um 2,5 % – je nachdem, welcher von diesen drei Werten am höchsten ist.119 Parallel zur Wiederbelebung der Basisrente und ebenfalls im Einklang mit den Vorschlägen der Turner-Kommission beschloss die Blair-Regierung, die State Second Pension (S2P), die sie 2002 als einkommensabhängige staatliche Zusatzrente gerade an die Stelle von SERPS gesetzt hatte, bis 2030 sukzessive zu einer für alle Bezugsberechtigten gleich hohen Pauschalrente umzubauen.120 Der Staat sollte sich – darauf lief dieser Schritt hinaus – nach und nach als Anbieter von an der Einkommenshöhe orientierten und auf Lebensstandardsicherung zielenden Renten zurückziehen und sich auf den Kernbereich der Grundsicherung beschränken, die zukünftig aus zwei übereinanderliegenden, aber beide auf dem Gleichheitsprinzip beruhenden flat-rate-Komponenten bestehen würde. Ebenso wie beim Indexierungsverfahren ist die Position der die LabourAdministration beerbenden Regierung Cameron auch in dieser Frage weniger von einem Richtungswechsel als von Beschleunigung und Radikalisierung der eingeleiteten Reformen geprägt. Einem 2011 eingeleiteten Konsultationsprozess folgte im Januar 2013 ein White Paper und schließlich der Pensions Act 2014, der schon für 2016 die Einführung einer neuen staatlichen Grundrente für Rentenneuzugänge vorsieht, welche die bisherige duale Struktur von Basic State Pension und Zusatzrente (SERPS oder S2P) ersetzen, oberhalb des derzeit geltenden Niveaus der bedürftigkeitsgeprüften Alterssicherung angesiedelt sein und auf diese Weise den von Fürsorgeleistungen abhängigen Anteil zukünftiger Rentner radikal verringern soll.121 Die Zusammenführung der staatlichen Rentenleistungen in einer einheitlichen Basisrente war eine Lösung, die auch von der Turner-Kommission und der Labour-Regierung erwogen, von ihnen aber verworfen worden war, weil ihnen ein schneller Wechsel zu einem solchen System als zu kostspielig, ein langsamer als mit komplizierten Übergangsproblemen behaftet erschien.122 Die letzte wichtige Veränderung, die die Labour-Regierung im Bereich der staatlichen Grundrente vornahm, betraf die Anspruchsvoraussetzungen. Bislang hatte die Beitrags- oder Ersatzzeit, die zum vollen Bezug der Basic State 119 Vgl. http://www.hm-treasury.gov.uk/fin_consumer_finprovision.htm; Pensions Policy Institute, An Assessment, S. 8 f. Gleichzeitig setzte die Regierung als Inflationsmaß den Consumer Price Index (CPI) an die Stelle des diesen regelmäßig übersteigenden Retail Price Index (RPI). 120 Vgl. nur DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 17; Bozio, Crawford u. Tetlow, History of State Pensions, S. 41 f.; Pensions Policy Institute, Pensions Primer, S. 50. 121 Vgl. Pensions Act 2014; DWP, Single-Tier Pension, Cmd. 8528, S. 7–10, 27–36; DWP, State Pension for the 21st Century, Cmd. 8053, S. 9 f., 25–36; Lain, Vickerstaff u. Loretto, Reforming State Pension Provision, S. 84. 122 Pensions Commission, New Pension Settlement, S. 9 f.; DWP, Security in Retirement, S. 117 f.
Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 337
Pension berechtigte, für Männer 44, für Frauen 39 Jahre betragen. Dieser Zeitraum wurde nun für beide Geschlechter deutlich auf 30 Jahre herabgesetzt. Gleichzeitig wurde der relativ umfangreiche Katalog an anspruchbegründenden Ersatzzeiten, der beispielsweise Erziehungszeiten bis zum 12. Lebensjahr des Kindes berücksichtigt, beibehalten und an bestimmten Stellen – wie etwa im Hinblick auf Pflegezeiten – noch ausgeweitet. Mit diesem Schritt versuchte man dem grundlegenden Wandel der Arbeits-, Familien- und Geschlechterverhältnisse seit der Einführung der Basic State Pension gerecht zu werden und insbesondere die eigenständige Alterssicherung der Frauen zu stärken. Den Hintergrund hierfür bildete die deutlich überproportionale Betroffenheit älterer Frauen von relativer Armut sowie die Tatsache, dass sie aufgrund von unterbrochenen Erwerbskarrieren häufig keinen Anspruch auf die volle staatliche Grundrente besaßen. Das bestehende Rentensystem, hob das White Paper von 2006 hervor, sei »ungerecht gegenüber allen Menschen mit Betreuungsverantwortung, bei denen es sich vor allem um Frauen handelt«, da »ihr gesellschaftlicher Beitrag vom staatlichen Rentensystem nicht voll honoriert wird«.123 Sowohl die Herabsetzung der Anspruchsvoraussetzungen durch die LabourRegierung als auch die früher (seit den 1970er Jahren) und umfassender als in Deutschland vollzogene Anrechnung von Ersatzzeiten verweisen darauf, dass die im britischen Wohlfahrtsstaat tief verankerten Prinzipien der Universalität und Gleichheit diese im Grundsatz offener für eine Loslösung von der traditionellen sozialversicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlage machten als das deutsche Rentensystem, in dem Anrechte, Beiträge und Erwerbsarbeit aufgrund des vorherrschenden Leistungsprinzips stets enger miteinander verkoppelt blieben. Auf der anderen Seite konnte sich die Labour-Regierung nicht entschließen, dem Vorschlag der Pensions Commission zu folgen, den sozialversicherungstypischen Beitrags-Leistungs-Zusammenhang vollständig aufzugeben und die Altersgrundrente als steuerfinanzierte Leistung auf der Grundlage des Wohnortsprinzips zu universalisieren.124 Gegen eine solche zeitgemäße Variante der »Staatsbürgerrente«, wie sie etwa in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden anzutreffen ist, sprachen nach Auffassung der Regierung nicht nur praktische Probleme und fiskalische Bedenken, sondern auch und in erster Linie das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden: »Wir halten es nicht für gerecht, jemandem staatliche Rentenansprüche bloß aufgrund seines Wohnsitzes zuzuerkennen, während andere ihren gesellschaftlichen Beitrag durch Erwerbs- oder Betreuungsarbeit geleistet haben«.125 Grundsätzlich blieb daher der dem Beveridge-System von Beginn an innewohnende (vgl. Kap. I.2) latente Widerspruch zwischen dem am Staatsbürgerstatus oder Aufenthaltsort an123 DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 18. 124 Vgl. Pensions Commission, New Pension Settlement, S. 206 ff. 125 DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 126.
338 Back to Beveridge? knüpfenden Universalitätsanspruch und dem auf Beitragszahlungen beruhenden Sozialversicherungsprinzip erhalten. Die zweite einschneidende Neuerung, die die Rentenreformen seit Mitte der 2000er Jahre brachten, war die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Schon zuvor, im Pensions Act 1995, war festgelegt worden, dass das ursprünglich bei 60 liegende Verrentungsalter für Frauen zwischen 2010 und 2020 schrittweise auf das für Männer geltende Rentenalter von 65 Jahren angehoben werden sollte. Im Einklang mit den Vorschlägen der Turner-Kommission sowie einer gleichgerichteten Entwicklung nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in vielen anderen OECD -Staaten, ging die Labour-Regierung nun deutlich weiter und beschloss, das gesetzliche Rentenalter für beide Geschlechter bis 2026 auf 66, bis 2036 auf 67 und bis 2046 auf 68 Jahre anzuheben.126 Abermals spielte die der Labour-Administration nachfolgende Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten nicht die Rolle der Bremserin, sondern beschleunigte den in Gang gesetzten Prozess. Die Angleichung des offiziellen Rentenalters für Frauen und Männer soll nun bereits bis 2018, die Anhebung des Verrentungsalters auf 66 bis 2020 und diejenige auf 67 Jahre bis 2028 realisiert werden. Für die fernere Zukunft ist die weitere beschleunigte Heraufsetzung des offiziellen Ruhestandsalters auf der Grundlage eines periodischen Überprüfungsverfahrens mit Expertenbeteiligung beabsichtigt. Angestrebt wird dabei – das greift ebenfalls einen Gedanken der Pensions Commission auf – eine systematische Kopplung des Rentenalters an die Entwicklung der statistischen Lebenserwartung, wie sie sich auch in Dänemark sowie neuerdings in Italien und Griechenland findet.127 Die Labour-Regierung flankierte die Anhebung des gesetzlichen Renten alters durch einen Strauß von Maßnahmen, die dazu beitragen sollten, dass der Rechtsänderung auch eine tatsächliche Verlängerung der durchschnittlichen Lebensarbeitszeit folgte. Sie reichten von sozialpolitischen Programmen zur Reintegration älterer Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt wie »New Deal 50 plus« bis zum Ausbau der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung. Ihr Zentrum bildeten jedoch erkennbar »weiche« Maßnahmen, die auf einen »kulturellen Wandel« abzielten. Zu ihnen gehörten Informationskampagnen, die sich gegen die »culture of early retirement« richteten und unter den Arbeitgebern die Bereitschaft zur Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern sollten, aber auch »Opportunity Age«, ein größer angelegtes Programm, das generell die Revision des negativen und von Defiziten geprägten Altersbildes der britischen Gesellschaft anstrebte.128 Wenig dagegen hatte die Regierung gegen das insbeson126 Ebd., S. 113. 127 Vgl. Pensions Act 2011, S. 2 f.; Pensions Bill 2013–14, S. 12 f. 128 DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 149. Vgl. insgesamt ebd., S. 139–156; DWP, Opportunity Age, Cmd. 6466i.
Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 339
dere von Gewerkschaftsseite formulierte Argument vorzubringen, dass eine allgemeine Heraufsetzung des Rentenalters sozial ungerecht sei, da die ärmeren Schichten angesichts der stark divergierenden klassenspezifischen Lebenserwartung auf diese Weise einen deutlich größeren Anteil ihrer durchschnittlichen Restlebenszeit verlören als die ohnehin privilegierten Klassen.129 Vor dem Hintergrund dieses ungelösten Problems, vor allem aber vor der Vergleichsfolie der massiv gegen eine Erhöhung des Rentenalters kämpfenden deutschen Gewerkschaften ist es bemerkenswert, dass die Opposition der britischen Arbeitnehmerverbände verhältnismäßig moderat ausfiel, dass ihre Führung in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit nie ein zentrales Kampfthema gesehen und dass sie sich relativ schnell mit ihr arrangiert zu haben scheint.130 Die dritte und letzte Neuerung, mit der die Labour-Regierung der Krise der Alterssicherung beikommen wollte, war die Schaffung eines semi-staatlichen kapitalgedeckten Rentenfonds, der unter dem Titel National Employment Savings Trust (NEST) 2012 seine Arbeit aufnahm. NEST soll all jene – zumeist wenig oder mittelmäßig verdienenden – Arbeitnehmer zu günstigen Konditionen mit einer betrieblichen bzw. privaten Alterssicherung versorgen, die bislang noch nicht über eine solche Form der Absicherung verfügten. Falls der Arbeitgeber kein eigenes Betriebsrentensystem unterhält, wird – nach einer mehrjährigen Übergangszeit – zukünftig jeder Arbeitnehmer automatisch Mitglied von NEST (automatic enrolment) – eine Mitgliedschaft, die er allerdings aus eigener Initiative widerrufen kann. Innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen hat jeder Versicherte einen Beitrag in Höhe von 4 % seines Gehalts zu leisten; hinzu kommen ein Arbeitgeberanteil von 3 % und eine Steuerersparnis von etwa 1 % des Einkommens (ab Oktober 2018 gültige Mindestbeiträge). Aus diesen Beiträgen werden strikt individualisierte Rentenkonten gespeist, die nach dem defined contribution-Prinzip funktionieren: Die späteren Rentenleistungen, bedeutet das, hängen ganz von der Höhe der Beiträge und dem Anlageerfolg am Kapitalmarkt ab. In begrenztem Ausmaß haben die NEST-Versicherten die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Investmentstrategien zu entscheiden. Für alle, die keine eigene Wahl treffen wollen – nach den Erwartungen wird das die breite Mehrheit sein – existiert ein Standardfond, der nach dem Lebenslaufprinzip den Schwerpunkt zunächst bei Kapitalwachstum, mit sich näherndem Rentenalter dann bei Kapitalerhalt setzt. NEST ist als Treuhandorganisation mit öffentlichem Auftrag konzipiert; seine Verwaltung und damit auch grundlegende Anlageentscheidungen liegen bei einem von staatlichen Stellen unabhängigen Leitungsgremium; das Tagesgeschäft am Finanzmarkt wird von nach dem Wettbewerbsprinzip ausgewählten privaten Anbietern wahrgenommen. Mit 129 Vgl. TUC , Pensions Commission Report, S. 2; TUC , 80 Per Cent Solution, S. 11; Klitzke, Resisting; Pension Age Rise Brought Forward, in: Bedfordshire on Sunday, 16.5.2013. 130 Vgl. Klitzke, Resisting.
340 Back to Beveridge? dieser Organisationsform entschied sich die Regierung für das von der Pensions Commission präferierte Modell und gegen den erklärten Wunsch der Versicherungsindustrie, nach dem die verschiedenen Versicherer ohne Zwischenschaltung einer halb-staatlichen Stelle direkt um die Rentenversicherungsverträge konkurrieren sollten.131 Im Hinblick auf die Markt und Staat für die Alterssicherung zugeschriebenen Rollen offenbaren die Etablierung und der Zuschnitt von NEST eine tiefgreifende Ambivalenz. Auf der einen Seite signalisieren sie den vollständigen Rückzug des Staates als Anbieter einer auf den Erhalt des Lebensstandards zielenden Zusatzsicherung. Alles, was an Altersversorgung über die staatliche Grundrente hinaus in Richtung Statuserhalt im Alter geht, soll der einzelne nun auf individueller Grundlage ansparen und am Kapitalmarkt erwirtschaften. Diese Umschichtung von Staat zu Markt entspricht einer Tendenz, die die konservative Ära seit 1979 kennzeichnete und die von New Labour unter dem Eindruck der fiskalischen Belastung durch die demographische Alterung weitgehend bruchlos fortgeführt wurde. Bewusst in Kauf genommen werden dabei sowohl die Verschiebung der Risiken von Investition und Inflation zum einzelnen Versicherten als auch der Verzicht auf die im Rahmen eines staatlichen Zusatzsicherungssystems bestehenden Redistributionsspielräume. Auf der anderen Seite zeugt NEST von einer tiefen Skepsis gegenüber der Funktionsfähigkeit des Marktes auf dem Gebiet der Alterssicherung und von der Anerkenntnis einer Reihe von Marktfehlern, die durch staatliches Eingreifen korrigiert werden sollen. Zu ihnen zählt ein Versagen des Wettbewerbs auf der Angebotsseite aufgrund fehlender Anreize für die Versicherungen und von Informationsasymmetrien: »Es ist klar«, stellte das White Paper von 2006 fest, »dass Wettbewerb alleine nicht ausreicht, um einfache, kostengünstige und langfristig angelegte Sparprodukte für diejenigen hervorzu bringen, die ein durchschnittliches Einkommen und keinen Zugang zu einer Betriebsrente besitzen«.132 Insbesondere habe die Konkurrenz der Versicherer nicht dazu geführt, die hohen und die Renditen der Anleger massiv reduzierenden Verwaltungsgebühren zu vermindern; ihre Senkung – das hatte schon die Pensions Commission festgestellt – sei in der Vergangenheit stets das Produkt staatlicher Regulierung und nicht eine Auswirkung marktwirtschaftlichen Wettbewerbs gewesen.133 Aber auch auf der Nachfrageseite schienen die Kunden den Architekten von NEST weit davon entfernt zu sein, in die Rolle jener wohlinformierten und rational handelnden Marktakteure zu schlüpfen, die 131 Vgl. zu diesem Abschnitt DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975; Pensions Commission, Implementing; Clark, UK Pensions Crisis; ders., From Corporatism. 132 DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975, S. 14. Vgl. auch Medium and Long-Term Retail Savings (Sandler Review). 133 Vgl. Pensions Commission, Challenges and Choices, Appendix C, S. 76; Pensions Commission, New Pension Settlement, S. 113.
Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 341
ihnen in der neoliberalen Idealwelt zugedacht war. Mangelndes Verständnis von Rentenversicherungsprodukten, fehlendes Vertrauen in die eigene Entscheidungsfähigkeit, Entscheidungsparalyse angesichts komplexer Sachverhalte und Fixierung auf einen kurzfristigen Zeithorizont – all das führte dazu, dass viele Menschen eine schlechte Wahl trafen oder – noch häufiger – überhaupt keine Altersvorsorge betrieben. Die Antwort hierauf ist der »sanfte Zwang« der automatischen Mitgliedschaft in NEST und der Standardrentenfond, die beide zusammen gewährleisten sollen, dass jeder Arbeitnehmer eine kapitalgedeckte Alterssicherung aufbaut, wenn er nicht aktiv widerspricht. Diese Lösung liegt in ihrem Zwangscharakter zwar unterhalb der obligatorischen Mitgliedschaft in einer kapitalgedeckten Zusatzrentenversicherung, wie sie sich etwa in Australien, Kanada oder Schweden findet, gleichzeitig aber deutlich oberhalb der Freiwilligkeit der deutschen Riester-Rente.134 Die vielleicht bemerkenswerteste Eigenschaft der Labour-Rentenreform von 2007/08 war der breite politische und gesellschaftliche Konsens, auf den sie sich stützen konnte. Bei aller Kritik in einzelnen Punkten stießen die 2006 in zwei White Papers der Öffentlichkeit unterbreiteten Pläne der Regierung bei den wirtschaftlichen und anderen Interessenverbänden auf ein grundsätzlich positives Echo, das von den Gewerkschaften über die Arbeitgeber bis zu den Altenorganisationen reichte. Der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes TUC etwa begrüßte die Regierungspläne mit einem »Warm welcome« und verlieh seiner Ansicht Ausdruck, dass sie als »foundation of a new pensions settlement« dienen könnten.135 Die Confederation of British Industry (CBI) erklärte sich mit den grundlegenden Konstruktionsprinzipien von NEST einverstanden.136 Help the Aged sah im Programm der Regierung »einen bedeutenden Schritt nach vorne in der Rentenpolitik«.137 Und auch die Verbände der Versicherer wie die Association of British Insurers (ABI) vertraten die Auffassung, dass das Labour-Konzept »die Rentenpolitik entschieden in die richtige Richtung lenkt« und dass seine Realisierung »ein solides Fundament für die Schaffung einer neuen Sparkultur in Großbritannien« bilden würde.138 Auf der Ebene der politischen Parteien spiegelte sich der für britische Verhältnis überaus ungewöhnliche Konsens in Fragen der Alterssicherung nicht nur in der Tatsache wider, dass die Labour nachfolgende Regierungskoalition aus Konservativen und Liberaldemokraten an den Grundpfeilern der von der Vorgängerregierung 134 Vgl. DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975, S. 12 ff.; Pensions Commission, Challenges and Choices, Appendix D, S. 94 ff.; Clark, From Corporatism, S. 37 ff. 135 http://www.tuc.org.uk/economy/tuc-12776-f0.cfm (12.12.2006); DWP, Security in Re tirement: Summary of Responses to the Consultation, Cmd. 6960, S. 7. 136 DWP, Personal Accounts: Summary of Responses to the Consultation, Cmd. 7121, S. 8. 137 DWP, Security in Retirement: Summary of Responses to the Consultation, Cmd. 6960, S. 18. 138 Ebd., S. 7.
342 Back to Beveridge? initiierten Reform festhielt und ihre Durchführung beschleunigte. Vielmehr lässt sich das hohe Ausmaß an Übereinstimmung zwischen den politischen Gegnern bis in die Semantik hinein verfolgen: Ein Vergleich des LabourWhite Papers vom Mai 2006 und des von Tories und LibDems verantworteten Green Papers vom April 2011 zeigt, dass beide sich als Reformgrundsätze exakt auf die fünf gleichen Leitprinzipien beriefen: »personal responsibility«, »fairness«, »simplicity«, »affordability« und »sustainability« (»persönliche Verantwortung«, »Gerechtigkeit«, »Einfachheit«, »Erschwinglichkeit«, »Nachhaltigkeit«).139 Auffällig ist darüber hinaus, dass beide mit »responsibility« eine in der britischen Sozialpolitik von Beveridge bis Thatcher immer wieder akzentuierte Maxime an die Spitze stellten und dass mit »fairness«, »affordability« und »sustainability« gleich drei der Prinzipien auf Fragen der Generationengerechtigkeit verweisen. Der weitgehende Konsens hinsichtlich der notwendigen Schritte zur Reform des Rentensystems war kein Zufall. Er war – man wird darin das Ergebnis eines Lernprozesses angesichts der an gescheiterten Reformen reichen Geschichte der britischen Alterssicherung sehen müssen – von der Blair-Regierung zu einem Ziel sui generis erhoben und von ihr immer wieder beschworen worden. »Eine dauerhafte Regelung muss auf dem Fundament eines starken nationalen Konsens ruhen« bildete das nicht zuletzt vom Premierminister selbst häufig wiederholte Mantra.140 Zur Strategie der Konsensproduktion hatte nicht nur die Einsetzung der aus Experten bestehenden und ein weites politisches Spektrum abbildenden Pensions Commission sowie die weitgehende Umsetzung ihrer Empfehlungen gehört. Vielmehr sollten auch ausgedehnte Anhörungsphasen – nach jedem Bericht der Turner-Kommission sowie vor und nach Vorlage beider White Papers – gewährleisten, dass alle Interessenorganisationen und interessierten Personen den Eindruck gewannen, ausreichend gehört worden zu sein.141 Schließlich initiierte die Regierung in den Jahren 2005 und 2006 mit erheblichem Aufwand eine »National Pensions Debate«, in deren Verlauf Regierungsvertreter in Diskussionsveranstaltungen mit einer breiteren Öffentlichkeit zusammentrafen, Tagungen mit Vertretern von Interessenverbänden abhielten und Repräsentanten der Versicherungsindustrie die Gelegenheit gaben, alterna-
139 DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 22–25; DWP, State Pension for the 21st Century, Cmd. 8053, S. 7 f. 140 DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975, S. 5. Vgl. ebd., S. 21 f., 43; DWP, Security in Re tirement, Cmd. 6841, S. 15, 25. 141 Vgl. Pensions Commission, Pensions: Challenges and Choices, S. 283 ff; Pensions Commission, New Pension Settlement, S. 405 ff.; DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 159 ff.; DWP, Security in Retirement: Summary of Responses to the Consultation, Cmd. 6960; DWP, Personal Accounts, Cmd. 6975, S. 149 ff.; DWP, Personal Accounts: Summary of Responses to the Consultation, Cmd. 7121.
Die Neuordnung der britischen Alterssicherung seit 2005 343
tive Modelle vorzustellen.142 Man wird nicht fehlgehen, in dieser großangelegten Konsensstrategie der Labour-Regierung eine Politik neuen Typs zur Herstellung von »Legitimation durch Verfahren« (Niklas Luhmann) zu sehen. In einer von konkurrierenden Expertenmeinungen und Medialisierung geprägten Zeit, in der traditionelle Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zunehmend weniger in der Lage scheinen, die dauerhafte Legitimität von Entscheidungen zu sichern, sollen die öffentliche »Diskursivierung« (Peter Weingart) von politischen Problemen und die Eröffnung neuartiger Partizipationsmöglichkeiten die Betroffenen zur Mitwirkung an einem Verfahren motivieren, das ihnen Rollen zuweist, ihnen Gelegenheit gibt, ihre Erwartungen zu korrigieren, und aufgrund ihrer eigenen Beteiligung am Ende die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie das Ergebnis des Entscheidungsprozesses als bindend anerkennen.143 Inhaltlich markierte die von der Labour-Regierung vollmundig als »eine der bedeutendsten Reformen des Wohlfahrtsstaats seit Beveridge« apostrophierte Neuordnung der britischen Alterssicherung einen doppelten Einschnitt.144 Erstens bedeutete die Reform – was die staatlichen Rentenleistungen anbelangt – die Rückkehr zum Gleichheitsprinzip des ursprünglichen Beveridge-Plans. Der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und insbesondere der Erosion des strong male breadwinner model trugen die Reformer durch eine Neugestaltung der Anspruchsvoraussetzungen Rechnung. Auf der Leistungsseite jedoch zielte man auf eine möglichst reine Wiederherstellung des Pauschalrentensystems. Damit muss der bis in die späten 1950er Jahre zurückreichende und 1975 in der Einführung von SERPS kulminierende Versuch, im staatlichen Rentensystem Großbritanniens das in der Bundesrepublik so populäre Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz zu verankern, auf absehbare Zeit als gescheitert betrachtet werden. Angesichts einer als krisenhaft wahrgenommen Entwicklung gaben es die politischen Entscheidungsträger als »Fremdkörper« auf und orientierten sich mit dem Gleichheitsprinzip an jener Norm, die als einzige sowohl in den britischen Eliten als auch – wie Meinungsumfragen zeigen – in der Bevölkerung breite Zustimmung genießt, wenn es um die Ausgestaltung des staatlichen Systems der Alterssicherung geht. Ebenso wie Beveridge streben die jüngsten Reformen eine Pauschalrente in Höhe eines (sozialen) Existenzminimums an. Ebenso, wie das bei der Gründung des britischen Wohlfahrtsstaats kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, lässt sich auch die letzte Neuordnung der staatlichen Grundrente ganz wesentlich auf das Motiv zurückführen, die Abhängigkeit der Alten von den ungeliebten means-tested benefits zu verringern. 142 Vgl. DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 27 f.; Government Takes Pension Debate to Nation, in: Guardian, 30.11.2005. 143 Vgl. Luhmann, Legitimation; Weingart, Wissenschaftsssoziologie, S. 101; Leendertz, Experten, S. 365. 144 DWP, Security in Retirement, Cmd. 6841, S. 43.
344 Back to Beveridge? Ob das gelingen wird, darf angesichts der enormen Rolle, die bedürftigkeits geprüfte Leistungen durchgehend in der britischen Alterssicherung gespielt haben, mit gutem Grund bezweifelt werden. Eine Richtungsentscheidung stellten die 2000er Reformen, zweitens, auch für den Bereich der über die Grundrente hinausgehenden zusätzlichen Absicherung für das Alter dar. So klar der Gesetzgeber das Gleichheitsprinzip bei der Gestaltung der staatlichen Rente zur Geltung brachte, so groß ist der Raum für soziale Ungleichheit, den er jenseits dessen eröffnete. Der Rückzug des Staates als Anbieter eines eigenen Systems einkommensabhängiger Zusatzrenten mit den ihm eigenen – in Großbritannien stärker als in Deutschland ausgeprägten – Umverteilungselementen sowie die Individualisierung des Absicherungsrisikos auf marktwirtschaftlicher Basis lassen für die Zukunft einen deutlichen Anstieg der Ungleichheit im Alter erwarten – zwischen den sozialen Schichten, zwischen den Geschlechtern und zwischen Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dem Zurückweichen des Staates als sozialpolitischer Produzent korrespondiert jedoch gleichzeitig sein Vordringen als Regulator. Die zunehmende Regulierung des Marktes für private bzw. betriebliche Alterssicherungsprodukte durch gesetzliche Vorschriften ist ein Trend, der sich in Großbritannien seit den 1970er Jahren erkennen lässt, durch eine Reihe von Skandalen und Insolvenzen vorangetrieben und auch von der Labour-Regierung fortgesetzt wurde. Zugleich erreichte er in den Reformen von 2007/08 mit automatic enrolment und der Gründung von NEST eine neue Stufe. Nicht auf eine simple Entstaatlichung der Alterssicherung scheint der hier beschrittene Weg hinauszulaufen, sondern auf eine Verstärkung der Gemengelage von staatlicher und marktwirtschaftlicher Wohlfahrtsproduktion:145 Der Staat organisiert die Ab sicherung für das Alter und schützt vor basalen Ausfallrisiken, überlässt aber die Erbringung und Verteilung der Leistungen den Kräften des Marktes.
145 Vgl. hierzu einschlägig: Leisering u. Mabbett, Introduction, sowie insgesamt die Beiträge zu dem Band Leisering (Hg.), New Regulatory State.
VIII. Alterssicherung und Generationengerechtigkeit – Deutschland seit 1990
1.
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland
Unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit ist die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung im vereinigten Deutschland seit 1990 durch die Gleichzeitigkeit von abnehmender horizontaler und zunehmender vertikaler Differenz gekennzeichnet. Deutlich kleiner geworden, bei weitem aber noch nicht verschwunden sind die Unterschiede in den Lebensverhältnissen zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Hatte sich das durchschnittliche äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen in Ostdeutschland 1991 noch auf lediglich 73,6 % desjenigen in Westdeutschland belaufen, betrug der entsprechende Wert 2009 80,0 %, nachdem er zwischenzeitlich, 2000, freilich schon einmal höher, bei 82,4 % gelegen hatte.1 Auch in ihren Konsummöglichkeiten schlossen die Ostdeutschen zu den Westdeutschen auf: Während 1988 in der DDR nur 54,3 %, in der Bundesrepublik aber 76,1 % der privaten Haushalte über ein Auto verfügten, hatten sich die entsprechenden Quoten bis 2008 auf 71,0 % und 78,0 % angenähert. Bei der Ausstattung mit einem privaten Telefonanschluss, die in Westdeutschland bereits 1988 bei 96,8 %, in der DDR aber lediglich bei 17,2 % gelegen hatte, trat bis 2008 sogar eine vollständige Angleichung nahe der 100 %-Marke ein.2 Im Hinblick auf den Besitz von Geld- und Immobilienvermögen lässt sich ebenfalls eine Verringerung des Abstands zwischen Ostund Westdeutschland verzeichnen. Mindestens ebenso bemerkenswert wie der Anstieg des durchschnittlichen ostdeutschen Nettogesamtvermögens von 1993 = 30,4 % auf 2008 = 41,4 % des westdeutschen Niveaus ist hier jedoch die nach wie vor bestehende Distanz.3 Der zählebigste und zugleich am schmerzhaftesten empfundene Unterschied zwischen Ost und West schließlich ist die in den neuen Bundesländern deutlich höhere Arbeitslosenquote, die den westlichen Referenzwert seit Mitte der 1990er Jahre durchgehend um ungefähr das Dop1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2011/12, S. 337, Datenanhang. 2 Ragnitz, Lehmann u. May, Bilanz, S. 27, Tab. 17. 3 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 26, Tab. 16. Vgl. aber auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2009/10, S. 323 ff.; Frick, Grabka u. Hauser, Verteilung der Vermögen, S. 28 ff.
346 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit pelte übertraf und auch 2012 mit 11,9 % noch weit von den in Westdeutschland zu verzeichnenden 6,6 % entfernt war.4 Mehr oder minder zeitgleich zu dem Aufholprozess, der den ost- näher an den westdeutschen Lebensstandard heranführte, vergrößerte sich in Deutschland die vertikale Kluft zwischen Arm und Reich. Im Hinblick auf die Verteilung der Einkommen, für die weit verlässlichere Daten als für die eine noch weit ausgeprägtere Polarisierung aufweisenden Vermögen vorliegen, lässt sich der Ungleichheitszuwachs eindeutig nachzeichnen. Auf der Ebene der Primärverteilung: der Verteilung der Markteinkommen vor Steuern und Transfers, gab es bereits seit den 1970er Jahren einen anhaltenden Trend zu mehr Ungleichheit, der seit Anfang der 1990er Jahre noch einmal deutlich an Fahrt gewann. Bis weit in die 1990er Jahre hinein sorgte jedoch die Umverteilungsmaschinerie des Sozial- und Steuerstaats dafür, dass dieses Ungleichheitswachstum nicht auf die Sekundärverteilung der äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommen durchschlug. Das änderte sich seit dem Ende der 1990er Jahre grundlegend: Alle in den Sozialwissenschaften üblicherweise gebrauchten und auch hier immer wieder herangezogenen Ungleichheitsmaße weisen insbesondere im ersten Jahrfünft des neuen Millenniums einen signifikanten Anstieg auf. Nachdem er sich lange Zeit kaum verändert hatte, wuchs etwa der Gini-Index für die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen von 1999 bis 2005 von 0,250 auf 0,289 an und verharrte danach auf seinem erhöhten Niveau; der für Veränderungen im unteren Einkommensbereich sensitive Theil-Index kletterte im gleichen Zeitraum von 0,106 auf 0,144.5 Damit gehörte die Bundesrepublik den international vergleichenden Daten der OECD zufolge zu jenen Industrieländern, die seit 2000 einen besonders prononcierten Ungleichheitszuwachs aufweisen – ähnliches gilt übrigens für Dänemark und Schweden.6 Deutschland folgte auf diese Weise vergleichsweise spät einem breiten internationalen Trend der innergesellschaftlichen Einkommenspolarisierung und holte eine Entwicklung nach, die Großbritannien – freilich in deutlich schärferer Form – in der Thatcher-Ära durchgemacht hatte. Am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends lag die Bundesrepublik mit ihrer Einkommensungleichheit leicht unterhalb des OECD -Durchschnitts – deutlich gleicher waren die Einkommen in den skandinavischen Ländern verteilt, während vor allem die USA, aber auch Großbritannien zur Ungleichheits-Spitzengruppe gehörten. Über die Gründe für die in den meisten Industrieländern zu beobachtende zunehmende Einkommensspreizung ist viel und kontrovers dis4 Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Datenstand: Juli 2013. 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2011/12, S. 338, Tab. 31. Vgl. oben, Kap. VI .1; Becker u. Hauser, Anatomie, S. 92–101; Geißler, Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Entwicklungen, S. 8 ff. 6 OECD, Divided We Stand, S. 22 ff; OECD, Growing Unequal?, S. 24–38.
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 347
kutiert worden. Außer den von der Veränderung der Haushaltsstrukturen ausgehenden statistischen Effekten scheinen insbesondere zwei Faktorengruppen für sie verantwortlich zu sein: zum einen der technologische Fortschritt und die Globalisierung mit ihren Folgen: der Verschiebung der Nachfrage am Arbeitsmarkt zuungunsten niedrig qualifizierter Arbeitskräfte und der Schwächung der Gewerkschaften; zum anderen Reformen des Steuer- und Transfersystems, die eine verminderte Umverteilungseffektivität nach sich zogen.7 Tab. 8: Durchschnittliche Versichertenrenten (Rentenbestand) nach Geschlecht, alte und neue Bundesländer, 1992–2011 (in € pro Monat) 1992
1995
1999
2003
2007
2011
Alte Bundesländer
Männer
860
915
945
982
947
964
Frauen
375
410
449
483
480
507
Neue Bundesländer
Männer
641
881
988
1037
995
1008
Frauen
428
551
611
665
669
709
Verhältnis der neuen zu den alten Bundesländern
Männer
74,5 %
96,3 %
104,5 %
105,7 %
105,0 %
104,6 %
Frauen
114,3 %
134,2 %
136,0 %
137,6 %
139,3 %
139,8 %
Quelle: DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 163; DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2012, S. 204.
Richtet man den Blick vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung auf die soziale Lage der Alten und konzentriert sich zunächst auf die Ost-West-Dimension, zeigt sich, dass die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner in materieller Hinsicht eindeutig zu den Wendegewinnern gehörten. Ende 1989 erhielten 1,1 der 1,8 Mio. Altersrentner in der DDR lediglich eine Rente in Höhe des sog. Mindestbetrages, der mit 470 Mark bei nur 41 % des durchschnittlichen monatlichen Nettoarbeitseinkommens in Ostdeutschland lag.8 Die im Zuge der deutschen Einigung vollzogene Übertragung des deutlich großzügigeren westdeutschen Rentensystems auf die neuen Bundesländer bedeutete für fast alle Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland 7 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2011/12, S. 347; OECD, Divided We Stand, S. 22–40; Peichl, Pestel u. Schneider, Mehr Ungleichheit; Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2012/13, S. 329–338. 8 Eigene Berechnungen nach Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 553; BMAS (Hg.), Statistische Übersichten (SBZ /DDR), S. 134, Tab. 1.1.2.
348 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit einen rapiden Einkommenszuwachs, der ihre bisherige materielle Abkopplung von der Bevölkerung im Erwerbstätigenalter beseitigte. Da die auf Angleichung der Lebensverhältnisse ausgerichtete Sozialpolitik die Renten in Ostdeutschland vor allem zwischen 1991 und 1997 weit schneller erhöhte als jene in den alten Bundesländern, schlossen die durchnittlichen Versichertenrenten im Osten Deutschlands darüber hinaus in Riesenschritten zu denen im Westen auf und überholten diese alsbald sogar. Bei den Männern erreichten die durchschnittlichen ostdeutschen GRV-Renten 1996 das Westniveau und lagen seit der Jahrtausendwende um ca. 5 % darüber (Tab. 8). Bei den Frauen überstiegen die Versichertenrenten in den neuen Bundesländern von Beginn der 1990er Jahre an jene im Westen Deutschlands, da die ostdeutschen Rentnerinnen viel häufiger auf ununterbrochene Erwerbskarrieren zurückblicken konnten. In der Folgezeit baute sich dieser Vorsprung noch aus, so dass die GRV-Bezüge der Rentnerinnen in Ostdeutschland jene in den alten Bundesländern im Durchschnitt schließlich um fast 40 % übertrafen (Tab. 8). Die im Mittel höheren GRV-Renten in den neuen Bundesländern bedeuten nun allerdings nicht, dass die Einkommenssituation der Alten im Osten Deutschlands insgesamt besser als im Westen gewesen wäre – das Gegenteil ist der Fall. Tabelle 9 zeichnet die Entwicklung der durchschnittlichen Nettoeinkommen für Ehepaare sowie alleinstehende Männer und Frauen ab 65 Jahren nach, wie sie sich auf der Grundlage der seit 1986 immer wieder im Abstand von mehreren Jahren durchgeführten repräsentativen Untersuchung »Alterssicherung in Deutschland« (ASID) darstellt. Klar lassen auch diese Daten zunächst den raschen Aufholprozess der Ost- gegenüber den Westeinkommen im Laufe der 1990er Jahre erkennen. Genauso wird aber auch deutlich, dass die Einkommen der über 65jährigen in Ostdeutschland nie vollständig mit den Westeinkommen gleichzogen. Lediglich die Nettoeinkommen der alleinstehenden Frauen in den neuen Bundesländern näherten sich aufgrund der höheren Leistungen aus der GRV weitgehend an jene ihrer Referenzgruppe im Westen an. Bemerkenswert ist schließlich auch, dass der Annäherungsprozess zwischen Ost und West in den 1990er Jahren rasch voranschritt, um 2000 jedoch seinen Zenit erreichte und danach wieder einer wachsenden Divergenz Platz machte. Die Ursache für den anhaltenden – und sich in den letzten Jahren wieder vergrößernden – Abstand zwischen den Einkommen der Alten in Ost und West trotz höherer GRV-Leistungen in den neuen Bundesländern ist in der unterschiedlichen Struktur der Alterseinkommen in Ost- und Westdeutschland zu suchen. Zwar lässt sich von einer Dominanz der Gesetzlichen Rentenversicherung in der Altersversorgung in beiden Teilen Deutschlands sprechen, doch ist diese in den neuen Bundesländern bei weitem ausgeprägter. So machten etwa Leistungen der GRV in Ostdeutschland 2003 89 % des Bruttoeinkommensvolumens der älteren Ehepaare aus; in den alten Bundesländern waren es lediglich 57 %. Im Westen stammten immerhin 26 % der Einkommen dieser Haushalte
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 349
Tab. 9: Durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von Ehepaaren und Alleinstehenden ab 65 Jahren, alte und neue Bundesländer, 1992–2011 (in € pro Monat)
Alte Bundesländer
Neue Bundesländer
Verhältnis der neuen zu den alten Bundes ländern
1992
1995
1999
2003
2007
2011
Ehepaare
1807
1927
1997
2211
2350
2614
Alleinst. Männer
1309
1386
1391
1515
1568
1615
Alleinst. Frauen
993
1062
1115
1181
1201
1310
Ehepaare
1151
1594
1783
1938
1937
2019
Alleinst. Männer
710
1045
1178
1284
1188
1310
Alleinst. Frauen
650
926
1035
1128
1152
1219
Ehepaare
63,7 %
82,7 %
89,3 %
87,7 %
82,4 %
77,2 %
Alleinst. Männer
54,2 %
75,4 %
84,7 %
84,8 %
75,8 %
81,1 %
Alleinst. Frauen
65,5 %
87,2 %
92,8 %
95,5 %
95,9 %
93,1 %
Alleinstehende Frauen und Männer sowie Ehemänner ab 65 Jahren. Quelle: BMAS (Hg.), ASID 2012, S. 120–123, Tab. 7–7a, 7–7b, 7–8a, 7–8b.
aus anderen Alterssicherungssystemen – einem Betriebsrentenschema der Privatwirtschaft, der Zusatzversorgung des Öffentlichen Dienstes oder der Beamtenversorgung; im Osten belief sich die entsprechende Quote auf lediglich 2 %. Hinzu kam, dass die Alten in Westdeutschland über deutlich höhere Einnahmen aus Vermögen und Vermietung verfügten als jene in den neuen Bundesländern.9 Der dauerhafte Rückstand der Alterseinkommen in Ostdeutschland lag mithin darin begründet, dass die Alten hier fast ausschließlich auf die Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen waren, während die Westrentner noch über umfangreiche andere Einkommensquellen verfügten. Ebenso wie die Alten am Prozess der sozialen Konvergenz von Ost- und Westdeutschland partizipierten, nahmen sie auch am zweiten der beiden eingangs 9 Für die Zahlen: BFSFJ (Hg.), Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 198, Tab. 12. Vgl. Hardach, Generationenvertrag, S. 444; BFSFJ (Hg.), Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 186–198; Motel-Klingebiel, Einkommen, S. 77 f.
350 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit geschilderten allgemeinen gesellschaftlichen Trends teil: der Zunahme vertikaler Ungleichheit. Der die Ungleichheitsstruktur in einer Zahl bündelnde GiniKoeffizient für die Verteilung der verfügbaren Einkommen der über 65jährigen Bevölkerung stieg von 1990 = 0,252 über 2000 = 0,262 bis 2008 = 0,283 um immerhin 12,3 % an, bevor er bis 2010 wieder leicht auf 0,277 absank.10 Dabei waren die Einkommen in Westdeutschland dauerhaft weit ungleicher verteilt als in Ostdeutschland – sowohl zwischen Männern und Frauen als auch im Hinblick auf die Gruppe der Alten insgesamt.11 Der Zuwachs an Ungleichheit unter den über 65jährigen in der Bundesrepublik war zwar erheblich, er wurde aber von der zunehmenden Spreizung der Einkommen der Bevölkerung im Erwerbstätigenalter (18–65) noch übertroffen. Dafür spricht nicht nur, dass die Erhöhung des Gini-Koeffizienten für die Einkommen dieses Bevölkerungssegmentes von 1990 = 0,250 auf 2009 = 0,289 mit 15,6 % den Gini-Zuwachs der über 65jährigen noch überflügelte, sondern auch ein Blick auf andere Ungleichheitsmaße wie etwa das S90/S10-Dezilverhältnis, das das aggregierte Einkommen des obersten Dezils in Relation zu jenem des untersten Dezils setzt. Während diese Kennzahl für die über 65jährigen von 1990 bis 2004 nur mäßig von 5,2 auf 5,6 anstieg, steigerte sich das Einkommensverhältnis von oberstem und unterstem Dezil der 18–65jährigen Bevölkerung vom 5,2- auf das 7,0fache.12 Die Tatsache, dass sich die vom Auseinanderdriften der Markteinkommen und dem Umbau der Steuer- und Transfersysteme ausgehenden gesellschaftlichen Zentrifugalkräfte stärker auf die jüngeren Altersgruppen auswirkten als auf die über 65jährigen, hatte zur Folge, dass sich die Älteren, die in der Bundesrepublik traditionell eine Gruppe von überdurchschnittlich hoher Einkommensungleichheit dargestellt hatten, seit den 1990er Jahren zu einem Bevölkerungsteil entwickelten, in dem die Einkommensunterschiede gegenüber dem Rest der Gesellschaft etwas geringer ausgeprägt waren. Der deutsch-britische Vergleich lässt erkennen, dass sich das Ausmaß der Einkommensungleichverteilung unter den über 65jährigen – zieht man noch einmal den Gini-Index als Maßstab heran – in beiden Ländern seit 1990 (UK : 0,313; BRD: 0,252) aufgrund der britischen Abwärts- und der deutschen Aufwärtsbewegung fast vollständig angenähert hat (2010: UK : 0,265; BRD: 0,277). Im Vereinigten Königreich war diese Entwicklung freilich in ein gesamtgesellschaftliches Umfeld eingebettet, das von einer noch weit krasseren Ungleichheit der Einkommen gekennzeichnet war, als das für Deutschland galt (Gini 2010 UK : 0,341; BRD: 0,286).13 10 OECD.Stat (http://stats.oecd.org/Index.aspx). 11 Vgl. BFSFJ (Hg.), Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 196; BMAS (Hg.), Alterssicherungsbericht 2012, S. 126. 12 OECD.Stat (http://stats.oecd.org/Index.aspx). 13 OECD.Stat (http://stats.oecd.org/Index.aspx).
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 351
Setzt man die Alten in Relation zu den anderen Altersgruppen, lässt sich mit ihrem weiter voranschreitenden Aufstieg in der gesellschaftlichen Einkommensverteilung für die Bundesrepublik eine Entwicklung konstatieren, die sich der Tendenz nach genauso im Vereinigten Königreich abzeichnete. In der Bundesrepublik war dieser Prozess jedoch in den Nachkriegsjahrzehnten weit kraftvoller ausgeprägt gewesen und hatte die Alten früher an die gesellschaftliche Mitte herangeführt, als das in Großbritannien der Fall gewesen war. Auf die Frage, wie weit genau diese Annäherung um die Jahrtausendwende bereits fortgeschritten war, lassen sich freilich je nach Datengrundlage unterschiedliche Antworten geben. Nach den Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) hatte das Durchschnittseinkommen der über 65jährigen bereits 1988 nur noch um 5 % unter dem gesamtgesellschaftlichen Mittelwert gelegen und mit letzterem 1998 so gut wie gleichgezogen.14 Ein etwas anderes Bild zeichnen die Befunde des Deutschen Alterssurveys (DEAS), einer vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durchgeführten Langzeitstudie zum Wandel der Lebensverhältnisse von Menschen in der zweiten Lebenshälfte (über 40). Die DEAS -Daten erlauben einen Vergleich der Einkommensentwicklung von drei Altersgruppen: der voll im Erwerbsalter stehenden 40–54jährigen, der sich um den Eintritt in den Ruhestand gruppierenden 55–69jährigen und der üblicherweise vollständig aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen 70–85jährigen. Sie zeigen, dass sich das Durchschnittseinkommen der 70–85jährigen, das 1996 bei 82,1 % desjenigen der traditionell besonders einkommensstarken 40–54jährigen lag, bis 2008 auf 88,6 % erhöhte. Insgesamt lassen die DEAS -Daten erkennen, dass sich die relative Einkommensposition der verschiedenen Altersgruppen seit der Mitte der 1990er Jahre verschoben hat, da sich das bedarfsgewichtete durchschnittliche Real einkommen der 40–54jährigen von 1996 bis 2008 lediglich um 2,6 %, dasjenige der 70–85jährigen dagegen um 10,7 % und dasjenige der 55–69jährigen sogar um 20,0 % erhöht hat. Die einkommensstärkste Altersgruppe stellen nun nicht länger die 40–54jährigen, sondern die 55–69jährigen dar, die zu einem guten Teil bereits den Übergang in den Ruhestand vollzogen haben.15 Richtet man sein Augenmerk auf das untere Ende der Einkommensverteilung und orientiert sich – wie in den vorangehenden Kapiteln – an dem heute weitverbreiteten Konzept relativer Einkommensarmut, das 60 % des bedarfsgewichteten Medianeinkommens als Armutsschwelle definiert, ist zunächst zu konstatieren, dass sowohl die gesamtgesellschaftliche als auch die Altersarmutsquote in der Bundesrepublik seit Mitte der 1990er Jahre wieder einen klaren, wenn auch moderaten Aufwärtstrend aufweisen. Auf das gesamte Bundesgebiet 14 Becker u. Hauser, Anatomie, S. 159. 15 Alle Zahlenangaben: Eigene Berechnungen nach Motel-Klingebiel, Wurm u. TeschRömer (Hg.), Altern, Tabellenanhang, Tab. A 3–1, A 3–2 (zugrunde gelegt wurde die neue OECD -Äquivalenzskala). Vgl. Motel-Klingebiel, Simonson u. Romeu Gordo, Materielle Sicherung.
352 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit Graphik 16: Quoten relativer Armut in Ost- und Westdeutschland (in %), 1994–2009 25,0
20,0
15,0
10,0
5,0
Westdeutschl. Gesamtbev.
Westdeutschl. 65+
Ostdeutschl. Gesamtbev.
09 20
08 20
07 20
06 20
05 20
04 20
03 20
20
02
01 20
00 20
99 19
98 19
97 19
96 19
95 19
19
94
0,0 Ostdeutschl. 65+
Prozentsatz der Personen in Privathaushalten, deren verfügbares Einkommen unterhalb der 60 %-Schwelle des Median-Äquivalenzeinkommens liegt (neue OECD -Skala, unter Berücksichtigung des Mietwerts aus selbstgenutztem Wohneigentum). Quelle: SOEP, Berechnungen des DIW Berlin.16
bezogen, lagen dabei die beiden Armutsquoten relativ nah beieinander und stiegen – mit leichter zeitlicher Verschiebung – von knapp 11 % am Ende der 1990er Jahre auf gut 14 % in 2010 an.17 Die aggregierten gesamtdeutschen Daten schatten freilich durchaus unterschiedliche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland ab, die in Graphik 16 wiedergegeben sind. Während die Altersarmut in den alten Bundesländern sich seit Mitte der 1990er Jahre zunächst leicht oberhalb der allgemeinen westdeutschen Armutsrate bewegt hatte und im neuen Jahrtausend dann zunehmend mit dieser konvergierte, entwickelten sich die entsprechenden Armutsquoten in den neuen Ländern ab 1999 mehr und mehr in unterschiedliche Richtungen: Hatten sie sich, von deutlich höheren Werten direkt nach der »Wende« ausgehend (Altersarmut in Ostdeutschland 1992: 44,5 %), 16 Ich danke Markus M. Grabka (DIW Berlin) für die freundliche Zurverfügungstellung der Graphik 16 zugrundeliegenden Daten. 17 BMAS (Hg.), Vierter Armuts- und Reichtumsbericht, S. 462, Tab. A.1.
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 353
bis Ende der 1990er Jahre beide an das niedrigere Westniveau angenähert, stieg das Armutsrisiko der ostdeutschen Gesamtbevölkerung danach wieder signifikant auf ca. 20 % an. Die Altersarmut dagegen blieb in Ostdeutschland weiterhin rückläufig, so dass die über 65jährigen in Ostdeutschland in den 2000ern nicht nur viel seltener von Einkommensarmut betroffen waren als die Jüngeren, sondern sie auch ein geringeres Armutsrisiko aufwiesen als ihre Altersgenossen im Westen.18 Im Hinblick auf das Armutsrisiko im Alter wurde die Ost-West-Differenz allerdings noch deutlich von anderen gesellschaftlichen Unterscheidungsmerkmalen übertroffen. Zwei stechen besonders hervor. Erstens waren und sind ältere Frauen sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern häufiger von Einkommensarmut betroffen als Männer. Die höchste Armutsneigung besitzen – das ist ein den gesamten Untersuchungszeitraum überspannendes Kontinuitätsmerkmal sowohl der deutschen als auch der britischen Sozialgeschichte – hochaltrige Frauen, die allein leben.19 Zweitens existiert ein massiver Unterschied zwischen den Rentnern der Gesetzlichen Rentenversicherung und den Pensionären. Während die Armutsquote der GRV-Rentner 2008 nach den Daten der EVS bei 16,1 % lag, betrug sie bei den Pensionären nur verschwindend geringe 1,3 %. Das spiegelt die insgesamt privilegierte relative Einkommensposition der früheren Beamten wider, die im selben Jahr den gesamtdeutschen Einkommensmedian um 67 % übertraf, wohingegen die Rentner im Mittel um 11 % darunter lagen.20 Im europäischen Vergleich gehörte und gehört Deutschland zu den Ländern mit einer relativ niedrigen Altersarmut. Der offiziellen EU-Sozialstatistik (EUSILC) zufolge, die zwar auf dem gleichen relativen Armutskonzept wie die oben angeführten Daten, aber auf einer etwas anderen Erhebungs- und Berechnungsgrundlage beruht, lag die Armutsrate unter den über 65jährigen 2011 im Durchschnitt der EU-15-Länder bei 16,4 %, während sie in Deutschland 14,2 % und in Großbritannien 21,8 % betrug. Interessanterweise hatte sich dabei die Wirtschaftskrise seit 2008 positiv auf die relative Einkommensposition der vor allem auf Transfereinkommen angewiesenen und daher von der schlechten Entwicklung der Markteinkommen weniger betroffenen Alten ausgewirkt, deren Armutsrisiko im Anfangsjahr der Krise noch durchweg höher, nämlich bei 19,2 % im EU-15-Mittel, bei 14,9 % in Deutschland und bei 27,3 % im Vereinigten Königreich gelegen hatte.21 Diskursiv dominante Deutungsmuster folgen Veränderungen in der Sozialstruktur (wenn man diese eigentlich unzulässige Unterscheidung hier der Ein18 Goebel u. Grabka, Zur Entwicklung, S. 6. 19 Vgl. Noll u. Weick, Altersarmut, S. 5; Goebel u. Grabka, Zur Entwicklung, S. 7 f. 20 Noll u. Weick, Altersarmut, S. 4 f. Vgl. Goebel u. Grabka, Zur Entwicklung, S. 7. 21 Daten: EU-SILC (tessi 120) (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/refreshTableAction. do?tab=table&plugin=1&pcode=tessi120&language=de).
354 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit fachheit halber einmal aufrechterhalten will) häufig mit einiger Verzögerung. Das gilt auch für das Bild von den »armen Alten«, das in der Debatte über die »Neue Soziale Frage« Anfang der 1970er Jahre noch einmal aktualisiert worden und bis tief in das Folgejahrzehnt virulent geblieben war, seit den späten 1980er Jahren aber zunehmend verblasste. Daran änderte zunächst auch der langsame Wiederanstieg der Altersarmutsquote seit Mitte der 1990er Jahre nichts, da sie sich einigermaßen im Gleichschritt mit der gesamtgesellschaftlichen Armutsrate bewegte und die Einkommenslage anderer Gruppen wie etwa der Alleinerziehenden und Arbeitslosen weit problematischer erschien. Anstelle der Vorstellung einer weitverbreiteten Altersarmut etablierte sich im publizistischen und politischen Diskurs der 1990er Jahre mehr und mehr die Sozialfigur des »[r]eichen Senioren«. »Der heutigen Rentnergeneration«, fasste 1999 durchaus repräsentativ der »Spiegel« zusammen, »geh[e] es so gut wie keiner anderen zuvor in der Geschichte Deutschlands. … Armut in Deutschland [sei] vor allem ein Phänomen junger Leute«.22 Hierzu passte, dass die Alten vermehrt als kaufkräftige Konsumenten in den Blick gerieten. Unternehmen entdeckten das enorme Nachfragepotential, das der »silver market« gerade in den Bereichen Gesundheit und Freizeit zu bergen schien, und entwickelten auf die vermeintlichen Bedürfnisse der Alten zugeschnittene Produkte und Werbestrategien; in der Politik gab es erste Ansätze zur Förderung und Gestaltung der »Seniorenwirtschaft«.23 Doch wäre es unzutreffend zu behaupten, dass das Deutungsmuster der »reichen« einfach das der »armen Alten« ersetzt hätte. Eher lässt sich konstatieren, dass im gesellschaftlich vorherrschenden Altersbild seit den 1990er Jahren die materielle Dimension insgesamt etwas zurücktrat und es sich zunehmend ausdifferenzierte. Darin spiegelte sich ganz wesentlich der steigende Einfluss der gerontologischen Forschung wider, deren Ergebnisse vor allem über den Transmissionsriemen der seit 1993 in mehrjährigen Abständen vorgelegten Altenberichte Eingang in die Politik fanden.24 Eine besondere Bedeutung kam im Altersdiskurs dabei zum einen der ursprünglich aus der Psychogerontologie kommenden Betonung der besonderen Kompetenzen des Alters und ihrer gesellschaftlichen Nutzbarmachung zu – einer Sichtweise, der insbesondere auch der Fünfte Altenbericht von 2005 zu den »Potentialen des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« Vorschub leistete.25 Dieser vor allem auf die »jungen Alten« abhebenden Perspektive korrespondierte zum anderen – gewissermaßen als 22 Reiche Senioren, in: Der Spiegel, 25.10.1999; Kampf der Generationen, in: Der Spiegel, 25.10.1999. 23 Vgl. BFSFJ (Hg.), Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 227–281; Deutsche Bank Research, Die demographische Herausforderung, S. 31 ff.; Gesellschaft für Konsumforschung, 50plus; Micklitz u. Reisch, Verbraucherpolitik. 24 Vgl. BFSFJ (Hg.), Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation, S. 232. 25 BFSFJ (Hg.), Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation.
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 355
Schattenseite – ein negativ besetztes Altersbild, das Pflegebedürftigkeit und Demenz in der Phase der Hochaltrigkeit in den Vordergrund rückte.26 Im Hinblick auf den Zusammenhang von Alter und sozialer Ungleichheit in Deutschland seit 1990 verdienen es über die bereits skizzierten Entwicklungen hinaus besonders zwei Aspekte hervorgehoben zu werden. Zunächst einmal kam es auch in der Bundesrepublik zu einer ähnlichen mehrdimensionalen Ausweitung des Ungleichheits- und Armutsverständnisses, wie das zeitgleich auch im Großbritannien der Blair-Ära der Fall war und ganz allgemein einem internationalen Trend entsprach (vgl. Kap. VII.1). Über die Einkommenslage hinaus rückten nun mehr als zuvor Unterschiede in der Wohn- und Vermögenssituation der Älteren, im Ausmaß ihrer sozialen Teilhabe und in ihren Mobilitätschancen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Am bemerkenswertesten ist jedoch, dass mit dem Konnex von sozialer Lage und Gesundheit nun zunehmend Licht auf eine Ungleichheitsdimension fiel, die in Deutschland bislang so gut wie vollständig im Dunkeln geblieben war, in Großbritannien dagegen seit den 1980er Jahren eine zentrale Rolle gespielt hatte. Krasse soziale Unterschiede förderte die ganz überwiegend erst nach der Jahrtausendwende in Fahrt kommende Forschung zunächst hinsichtlich des Mortalitätsrisikos zutage. Auch in Deutschland, so stellte sich heraus, starben die Armen deutlich früher als die Reichen. Die verlässlichsten Zahlen zu diesem Komplex entstammen einer Studie des Robert Koch-Instituts, in der auf der Grundlage des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und der amtlichen Sterbetafeln die durchschnittliche Lebenserwartung für verschiedene Einkommensgruppen errechnet wurde. Klar lassen ihre Ergebnisse einen statistischen Zusammenhang von Einkommen und Lebenserwartung erkennen – das gilt sowohl für die Lebenserwartung bei Geburt als auch für die in Tabelle 10 wiedergegebene fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren. Männer, deren gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen mehr als das Anderthalbfache des Median einkommens betrug, konnten in Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts damit rechnen, 7,4 Jahre länger zu leben als ihre Geschlechtsgenossen, die unterhalb der sowohl in der EU als auch in der Bundesrepublik geltenden offiziellen Armutsgefährdungsschwelle von 60 % des Medianeinkommens lagen. Bei den Frauen, die im Mittel in Deutschland wie in allen anderen Industrieländern eine höhere Lebenserwartung besitzen, war die Differenz nur wenig kleiner (6,3 Jahre). Und auch im Hinblick auf die mit 65 noch zu erwartenden Lebensjahre ohne größere gesundheitliche Beeinträchtigungen wiesen die Ergebnisse für beide Geschlechter auf einen deutlichen Einkommensgradienten hin.27 26 Vgl. van Dyk u. Lessenich, »Junge Alte«, S. 30–41. 27 Vgl. Lampert, Soziale Ungleichheit; Lampert, Kroll u. Dunkelberg, Soziale Ungleichheit; Lampert u. Mielck, Gesundheit, S. 11; Datenreport 2011, Bd. 1, S. 248 f.; Kroh u. a., Menschen; Geld macht alt, in: Süddeutsche Zeitung, 31.5.2013.
356 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit Auch wenn ein auf solider statistischer Grundlage ruhender Vergleich mit dem Vereinigten Königreich an uneinheitlichen Kategorien und unterschiedlichen Erhebungsmethoden scheitert, spricht doch das Ausmaß dieser Unterschiede in der Lebenserwartung dafür, dass die soziale Ungleichheit vor dem Tod in Deutschland jener in Großbritannien kaum nachsteht.28 Tab. 10: Lebenserwartung mit 65 nach Einkommen und Geschlecht, Deutschland 1995–2005 Einkommensgruppen (in % des MedianNettoäquivalenz einkommens)
Männer Lebens erwartung mit 65
Frauen
Gesunde Lebenserwartung mit 65
Lebens erwartung mit 65
Gesunde Lebenserwartung mit 65
150
19,7
16,4
22,5
18,4
Gesamt
15,7
13,6
19,3
16,4
Quelle: Lampert, Soziale Ungleichheit, S. 130 f., Tab. 3.2.7.1. u. 3.2.7.2.
Als ebenfalls ausreichend belegt kann inzwischen der Zusammenhang von sozialem Status und Gesundheit gelten. Erst in den letzten Jahren allerdings richtete sich hier der Blick der Forschung auf die Alten; zuvor hatte ganz die Bevölkerung im Erwerbstätigkeitsalter im Vordergrund gestanden. Die bislang für die über 65jährigen in der Bundesrepublik vorliegenden Daten legen den Schluss nahe, dass sich das hohe Maß an sozial bedingten Morbiditätsdifferenzen bis weit ins Alter fortsetzt. Eine zwischen 2008 und 2011 durchgeführte Studie, die mit einem dreigeteilten, Informationen zu Bildung, Beruf und Einkommen berücksichtigenden sozialen Schichtmodell arbeitete, kam etwa zu dem Ergebnis, dass von den 65- bis 79jährigen Frauen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status 54,9 % ihren allgemeinen Gesundheitszustand als »mittelmäßig« bis »sehr schlecht« beurteilten, während das nur für 45,7 % mit mittlerem und 28,4 % mit hohem sozialen Status zutraf. An Diabetes mellitus litten 22,2 % der Frauen aus der Unter-, aber nur 6,9 % aus der Oberschicht. Und auch die Prävalenz von Adipositas und depressiven Symptomatiken ließ eine Abhängigkeit 28 Vgl. oben, Kap. V.2. u. Kap. VII .1.
Alter und soziale Ungleichheit im vereinigten Deutschland 357
vom sozio-ökomischen Status der Befragten erkennen.29 Die sozialepidemiologische Forschung ist sich inzwischen weitgehend einig darüber, dass die beobachtete gesundheitliche Ungleichheit auf das Zusammenwirken eines Bündels von Ursachen zurückzuführen ist, die sich drei Faktorengruppen zuordnen lassen: materiellen Lebensbedingungen wie Einkommen, Belastungen am Arbeitsplatz und Wohnqualität; psychosozialen Faktoren wie etwa Stressbelastung durch Arbeitslosigkeit, familiäre Krisen oder ein Missverhältnis von Arbeitseinsatz und materieller bzw. immaterieller Gratifikation; und schließlich gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen wie Tabak- und Alkoholkonsum, Ernährungsweise und körperlicher Aktivität.30 Welches Gewicht diesen sozial ungleich verteilten Risikofaktoren allerdings zukommt und wie sie miteinander interagieren, ist mangels belastbaren Datenmaterials einstweilen noch ebenso ungeklärt wie die Frage, ob die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland größer oder geringer ist als in Großbritannien und im übrigen Europa. Während das – die skandinavischen Ländern einschließende – allgemeine Muster eines erheblichen sozialen Morbiditäts- und Mortalitätsgefälles mittlerweile empirisch gut belegt ist, steckt die Erforschung des internationalen Vergleichs noch in den Anfängen.31 Die zweite für die Wahrnehmung des Zusammenhangs von Alter und sozialer Ungleichheit wichtige Entwicklung neben der multidimensionalen Erweiterung des Ungleichheitsbegriffs war das wachsende Bemühen der Alterssoziologie, Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit in einen »lebenszeitlichen Bezugsrahmen« zu setzen und auf diese Weise prozesshaft zu verflüssigen.32 Beide großen deutschen Altenstudien der 1990er und 2000er Jahre – der Deutsche Alterssurvey (DEAS) ebenso wie die Berliner Altersstudie (BASE) – fragten explizit danach, wie sich Strukturen sozialer Ungleichheit im Laufe des Alternsprozesses veränderten. Beide fanden keine empirischen Belege für eine Individualisierung oder Entstrukturierung der Lebensverhältnisse und betonten die fortdauernde Dominanz vertikaler Schichtungsstrukturen. Auch im Hinblick auf die Variable Alter und den Wechsel vom Erwerbsleben in den Ruhestand zeigten sich die meisten sozio-ökonomischen Schichtungsparameter ausgespro29 Bei den 65–79jährigen Männern waren soziale Morbiditätsunterschiede ebenfalls zu erkennen, aber weniger ausgeprägt. Für die Zahlen: Lampert u. a., Socioeconomic Status, S. 4. 30 Vgl. etwa Lampert, Soziale Ungleichheit, S. 122 f.; Lampert u. Mielck, Gesundheit, S. 11– 13; Mielck, Soziale Ungleichheit; Geyer, Ansätze; Mackenbach, Health Inequalities, S. 30–40. 31 Vgl. Kunst u. a., Trends in Socioeconomic Inequalities; Mackenbach u. a., Socioeconomic Inequalities in Health; Mackenbach u. a., Socioeconomic Inequalities in Morbidity; Majer u. a., Socioeconomic Inequalities; Mackenbach, Health Inequalities; Lampert u. Mielck, Gesundheit; Dalstra u. a., Socioeconomic Differences; Richter u. Hurrelmann, Warum. 32 Kohli, Alter als Herausforderung, S. 391.
358 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit chen resistent. Das galt etwa für die Einkommens- und Vermögenslage, wo sich die Unterschiede der mittleren Altersphase bruchlos im höheren Alter fortsetzten. Bestätigt fand sich die These von einer Kontinuität vertikaler Ungleichheitsstrukturen ebenfalls hinsichtlich der Wohnsituation und für die Betroffenheit durch gesundheitliche Einschränkungen. In einigen Bereichen ließ sich sogar eine Verstärkung der Schichteffekte im vorgerückten Alter feststellen. So waren Menschen mit einem hohen Sozialstatus nicht nur im Durchschnitt länger gesund, sondern konnten im Falle eines schlechten Gesundheitszustands aufgrund ihrer materiellen Ressourcen auch häufiger auf externe professionelle Hilfe zurückgreifen, die ihnen ein Weiterleben in ihrer vertrauten Wohnumgebung ermöglichte und den Umzug in ein Pflegeheim hinausschob oder ganz vermied. Fast ein Drittel der Berliner Alten aus der oberen Mittelschicht, aber nur 6,2 % aus der Unterschicht beispielsweise nahmen professionelle Hilfe im Haushalt oder durch einen Pflegedienst in Anspruch. Bei der Heimunterbringung war das Verhältnis genau umgekehrt: Während 10 % der Unterschicht angehörigen im Heim lebten, traf das nur für eine verschwindende Minderheit von 0,2 % aus der oberen Mittelschicht zu.33 Ungeachtet der allgemeinen Dominanz einer Kontinuität vertikaler sozialer Ungleichheiten im Alter fanden die Altersforscher jedoch auch Belege für Nivellierungsprozesse, die für die »age as a leveler«-These einer Altersbedingtheit sprechen, nach der das Alter selbst die entscheidende Determinante der sozialen Lage darstellt. Prozesse einer Verminderung schichtspezifischer Differenzen ließen sich insbesondere für die Phase der Hochaltrigkeit jenseits des 80. bzw. 85. Lebensjahrs beobachten. So scheinen sich die sozialen Unterschiede in Morbidität und Mortalität – eventuell aufgrund selektiver Sterblichkeit der benachteiligten Schichten – mit voranschreitendem Alter wieder zu verringern, ohne aber zu verschwinden; gleichzeitig gewinnt der Gesundheitszustand im hohen Alter gegenüber anderen Lebensbedingungen immer mehr an Bedeutung. Auch im Hinblick auf die Wahrnehmung kultureller Angebote und die soziale Teilhabe der Alten treten Schichtdifferenzen mit steigendem Alter mehr und mehr in den Hintergrund. Angesichts dessen tendiert die Alterssoziologie heute dazu, den Unterschied zwischen dem »jungen« und dem »hohen« Alter zu akzentuieren, wobei sie ersteres vornehmlich durch die Fortschreibung der bisherigen sozialen Ungleichheitsstruktur, letzteres dagegen dadurch gekennzeichnet sieht, dass biologisch-genetische Faktoren und gesundheitliche Einschränkungen zunehmend gegenüber sozioökomischen Differenzen an Relevanz gewinnen.34 33 Mayer u. Wagner, Lebenslagen, S. 294. Vgl. Linden u. a., Inanspruchnahme, S. 507; Mayer, Wissen, S. 642. 34 Zum Vorangehenden vgl. allgemein Kohli u. a., Soziale Ungleichheit; Mayer u. Wagner, Lebenslagen; Meyer u. a., Wissen; Clemens, Zur »ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit«; Hoffmann, Illness; Motel-Klingebiel, v. Kondratowitz u. Tesch-Römer, Social Inequality; v. dem Knesebeck u. Schäfer, Gesundheitliche Ungleichheit.
Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung 359
2. Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung Die deutsche Einigung bedeutete für das »Beitrittsgebiet« einen umfassenden Systemwechsel. Das galt auch für die Alterssicherung, wo die Rentner und Beitragszahler im Osten Deutschlands mit Wirkung vom 1. Januar 1992 in die bundesdeutsche Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) integriert wurden. Um den grundlegenden Charakter dieser Umstellung zu begreifen, hat man sich die erheblichen Differenzen zwischen dem Alterssicherungssystem der DDR und jenem der Bundesrepublik vor Augen zu führen. Die bei weitem größte Rolle in der Alterssicherung der DDR spielte die Sozialversicherung, die aus zwei Stufen bestand: der in ihren Leistungen in erster Linie nach Arbeitsjahren in geringem Ausmaß differenzierenden Pflichtversicherung, die wie die bundesdeutsche Rentenversicherung vor der Reform von 1957 zwischen einem Fest- und einem Steigerungsbetrag unterschied, sowie der 1971 eingeführten einkommensbezogenen Freiwilligen Zusatzrentenversicherung. Da das DDR-Rentensystem keine regelmäßige Anpassung der Anwartschaften und Renten an die Lohnentwicklung, sondern lediglich diskretionäre Rentenerhöhungen kannte und es zudem Mindestrenten und Mindestbeträge gab, auf die kleinere Renten aufgestockt wurden, lagen die Renten der breiten Masse der DDR-Bevölkerung in einem schmalen Ungleichheitskorridor und zudem auf einem niedrigen Niveau. Deutlich besser gestellt waren dagegen jene ungefähr 230.000 Rentner, die 1990 Leistungen aus einem der zahlreichen Zusatzversorgungssysteme erhielten, die für die »Intelligenz«, die Mitarbeiter des »Staatsapparates« und andere der sozialistischen Führung wichtig erscheinende Berufsgruppen eingerichtet worden waren. Eine besonders privilegierte Position schließlich besaßen ca. 120.000 Ruheständler, die Mitglied in einem der vier Sonderversorgungssysteme waren, die der »Arbeiter-und Bauernstaat« für Angehörige des Ministeriums für Staats sicherheit, der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee und der Zollverwaltung geschaffen hatte.35 Die Geschichte der Überführung dieses einige ausgewählte Gruppen hervorhebenden, die Renten der großen Bevölkerungsmehrheit aber auf Armutsniveau nivellierenden Alterssicherungssystems in das Gehäuse der GRV soll hier nicht noch einmal detailliert geschildert werden.36 Die wichtigsten Stationen sind schnell aufgezählt: der unter massivem Zeitdruck zustande gekommene »Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« vom 18. Mai 1990, der bereits die Verpflichtung der DDR enthielt, »alle erforder35 Vgl. zu diesem Abschnitt Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 549–554; ders., Alterssicherung in der DDR ; Ritter, Rentenversicherung, S. 53–55; Püschel, Renten. 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 541–648; Ritter, Preis, S. 317 ff.; ders., Rentenversicherung; Ruland, Gesetzliche Rentenversicherung im Wandel, S. 34.
360 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit lichen Maßnahmen ein[zuleiten], um ihr Rentenrecht an das auf dem Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit beruhende Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland anzugleichen«,37 der am 31. August 1990 paraphierte Einigungsvertrag und endlich das schon in den Bereich der normalen Gesetzgebung fallende Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991, das die Neuberechnung der Ost-Renten nach dem Rentenrecht der Bundesrepublik regelte. Parallel zur Schaffung der Rechtseinheit in der Rentenversicherung standen die Rentenversicherungsträger – namentlich der VDR und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) – vor der Herausforderung, im Osten Deutschlands eine funktionierende Verwaltungsstruktur in kürzester Zeit von Grund auf aufzubauen. Schließlich wurden »in einem organisatorischen Kraftakt ohne Beispiel« Ende 1991 innerhalb weniger Tage 4 Mio. ostdeutsche Bestandsrenten »umgewertet« und die entsprechenden individuellen Rentenbescheide postalisch zugestellt.38 Die rasche und weitgehend reibungslose Einbeziehung der ostdeutschen Bevölkerung in das bundesdeutsche Rentensystem lässt sich mit Fug und Recht als Triumph der GRV beschreiben. Sie dokumentierte nicht nur einen hohen Grad an verwaltungstechnischer Leistungsfähigkeit, sondern ebenso die Überlegenheit des Umlageverfahrens, das die Rentner in den neuen Bundesländern von einem auf den anderen Tag mit Leistungsansprüchen ausstatten konnte, während ihr Aufbau in einem kapitalgedeckten Verfahren Jahrzehnte benötigt hätte. Vor allem aber bedeutete die Ausdehnung der GRV auf das »Beitrittsgebiet« den Triumph ihrer grundlegenden Bauprinzipien. Das galt, erstens, für die im bundesdeutschen Rentensystem verankerte Norm der Gleichheit zwischen Alt und Jung, die sich in der Ankopplung der Renten an die Entwicklung der Löhne manifestierte, in der DDR dagegen nicht existiert hatte. Verkörpert durch die 1957 eingeführte Rentendynamik, war das Prinzip der Beteiligung der Alten am wirtschaftlichen Wachstum gerade 1989 mit der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes noch einmal im Grundsatz bestätigt und zugleich durch die Festlegung des Eckrentenniveaus auf 70 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts dauerhaft konkretisiert worden. Eine Dynamisierung der OstRenten genau gemäß dieser im RRG 1992 formulierten Rentenniveauvorstellung – freilich bezogen auf die ostdeutschen Löhne – hatte seit Beginn 1990 die Richtschnur dargestellt, der insbesondere die Schlüsselakteure des Bundesarbeitsministeriums bei ihren Vorschlägen zur schrittweisen Angleichung des DDR-Systems an die bundesdeutsche GRV gefolgt waren.39 Die Anhebung der 37 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag) vom 18. Mai 1990, Art. 20, Abs. 1. 38 Rentenfrust und Elektronik, in: Süddeutsche Zeitung, 7.2.1992. 39 Vgl. nur die Zitate bei Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 560 f.
Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung 361
Standardrenten (bei 45 Versicherungsjahren) auf 70 % des durchschnittlichen Nettoverdienstes fand dann als Ziel auch Eingang in den Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 und wurde noch vor der Einigung von der DDR-Regierung zum 1. Juli 1990 vollzogen – wobei die Renten der älteren Jahrgänge besonders stark aufgewertet wurden, ansonsten aber die sich aus dem Rentenrecht der DDR ergebende Rentenstruktur zunächst erhalten blieb.40 Einen Triumph feierte nach der Einigung, zweitens, auch das für die bundesdeutsche Rentenversicherung charakteristische Leistungsprinzip. Anstatt die in ihrer großen Masse relativ gleichen DDR-Renten einfach in ihrer Struktur zu übernehmen, liefen die Bestimmungen des Rentenüberleitungsgesetzes darauf hinaus, sie gemäß der individuellen relativen Einkommensposition der letzten 20 Jahre neu zu berechnen, sie also in eine neue – einkommensbezogene – Ungleichheitsordnung zu bringen. Wenngleich es an einer Reihe von Bestimmungen des am Ende im Konsens von Koalitionsfraktionen und SPD verabschiedeten RÜG – wie etwa an seinem Verzicht auf die Übernahme von Mindestsicherungselementen und der längeren Kindererziehungszeiten aus dem DDR-Rentenrecht41 – von Seiten der Opposition heftige Kritik gab, scheint die Neuordnung der Ost-Renten nach dem westdeutschen Leistungsprinzip politisch nie ernsthaft zur Debatte gestanden zu haben. Gleichzeitig versuchte man – nicht zuletzt auf Druck ostdeutscher Regimekritiker und im Anschluss an noch 1990 in der späten DDR erlassene Gesetze –, die von der staatssozialistischen Führung geschaffene Renten-Privilegienhierarchie zu demontieren, indem man – Anlass für endlose Rechtsstreitigkeiten und zahlreiche spätere Korrekturen – verschiedene Kappungsgrenzen für Renten aus den Zusatz- und Sonderversicherungssystemen einführte, die vor allem die »staatsnahen« Berufsgruppen wie die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter treffen sollten.42 Aus der Vogelperspektive treten angesichts dessen die Parallelen zwischen der Ausweitung der GRV auf das »Beitrittsgebiet« von 1990/91 und der Renten reform von 1957 deutlich hervor: Nicht nur wurden die Renten im Osten Deutschlands durch ihre nachgeholte Dynamisierung in ähnlicher Weise an die Erwerbseinkommen herangeführt, wie das in Westdeutschland durch die Adenauersche Rentenreform geschehen war. Vielmehr war mit der Anpassung des Alterssicherungssystems der DDR an jenes der Bundesrepublik auch ebenso wie 1957 die Schaffung einer neuen Ordnung materieller Ungleichheit im Alter ver40 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag) vom 18. Mai 1990, Art. 20, Abs. 3. Vgl. Ritter, Rentenversicherung, S. 61 ff.; Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 574–578. 41 Vgl. beispielsweise die Rede Rudolf Dreßlers vor dem Bundestag, BT 12/24 (26.4.1991), S. 1613–1619. 42 Vgl. Schmähl, Sicherung bei Alter, in: GSD, Bd. 11, S. 606–614; Ruland, Die gesetzliche Rentenversicherung im wiedervereinigten Deutschland, S. 485.
362 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit bunden, die sich in beiden Fällen am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit bzw. der Einkommenshierarchie der westdeutschen Marktwirtschaft orientierte. Angesichts des Triumphes und der Verdienste der GRV im Rahmen der deutschen Einigung erscheint es äußerst erklärungsbedürftig, dass sie nur wenige Jahre später ihre tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Bis zum Ende der 1990er Jahre war die Zahl der Meinungsführer in Politik und Wirtschaft, die wie Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, die deutsche Rentenversicherung »schlicht [für] ein ›Auslaufmodell‹« hielten, deutlich angewachsen.43 Kurz nach der Jahrtausendwende erfuhr das deutsche Alterssicherungssystem eine Reform an Haupt und Gliedern, die auch seine grundlegenden Konstruktionsprinzipien nicht unangetastet ließ (vgl. Kap. VIII.3). Wer diesen raschen Umschwung von Erfolg zu Krise erklären will, wird sein Augenmerk zuerst auf die desaströse Finanzentwicklung der inzwischen einen Finanzverbund von Ost und West bildenden Rentenversicherung im Laufe der 1990er Jahre richten. In den beiden ersten Jahren nach der Einigung hatte sich die finanzielle Situation der GRV noch durchaus positiv dargestellt. 1992 hatte sie einen Einnahmeüberschuss von 5,79 Mrd. DM erzielt, im Jahr zuvor waren es sogar 11,19 Mrd. DM gewesen.44 Infolgedessen war die als Schwankungsreserve bezeichnete Rücklage der Rentenversicherung – wie der Rentenversicherungsbericht 1994 stolz hervorhob – 1992 auf den »höchste[n] jemals festgestellte[n]« Wert von 49,1 Mrd. DM gestiegen.45 Da das deutlich oberhalb der gesetzlichen Mindestreservevorschrift von einer Monatsausgabe lag, hatte sogar der Beitragssatz zur GRV im April 1991 von 18,7 auf 17,7 % und dann für 1993 noch einmal auf 17,5 % gesenkt werden können.46 Ab 1993 jedoch verschlechterte sich die finanzielle Lage der Rentenversicherung dramatisch. Für vier aufeinanderfolgende Jahre überstiegen nun die Ausgaben die Einnahmen. Zwar konnten in Westdeutschland über den gesamten Zeitraum hinweg noch kontinuierlich Überschüsse erwirtschaftet werden. Doch standen ihnen schnell anwachsende Defizite in den neuen Bundesländern gegenüber, die im Finanzverbund der GRV nun querfinanziert werden mussten. Die Bilanz der Rentenversicherung für die ostdeutschen Länder verschlechterte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit: Hatte das Defizit 1993 noch bei 14,2 % der ostdeutschen GRV-Ausgaben gelegen, kletterte es über 1994 = 16,3 % und 1995 = 20,7 % bis 1996 auf 22,9 %. Ein abermaliger Anstieg ab der Jahrtausendwende führte schließlich dazu, dass im Mittel der Jahre 2000 bis 2003 mehr als ein Viertel der Ausgaben der Rentenversicherung im Osten Deutsch43 »Die Zeit der Dilettanten«, in: Der Spiegel, 10.11.1997. 44 Eigene Berechnungen nach dem Rentenversicherungsbericht 1999, BT Drs. 14/2116, S. 112 f. 45 Rentenversicherungsbericht 1994, BT Drs. 12/8309, S. 47. 46 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Augabe 2008, S. 216.
Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung 363
lands – 26,2 % – nicht durch entsprechende Einnahmen abgedeckt war.47 Da auch die Überschüsse im Westen nicht ausreichten, um das sich vergrößernde Rentenloch in den neuen Bundesländern zu stopfen, waren die Versicherungsträger gezwungen, auf die Schwankungsreserve zurückzugreifen, die in der Folge ab 1995 regelmäßig unter das gesetzliche Mindestsoll von einer Monatsausgabe rutschte. Gleichzeitig wurden die Beiträge zur Rentenversicherung erhöht – zum 1. Januar 1994 stiegen sie von 17,5 auf 19,2 % an. Es war die Ankündigung dieser deutlichen Beitragsanhebung im Sommer 1993, die den Anlass für das Aufflammen einer Debatte über die Sicherheit der Renten und die Zukunft des deutschen Rentensystems bildete, die insbesondere von Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) und der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung mit ihren Forderungen nach einer grundlegenden Rentenreform vorangetrieben wurde.48 In den nächsten Jahren gab die Entwicklung der Rentenfinanzen und vor allem der Beitragssätze Diskussionen über die Reformbedürftigkeit des deutschen Alterssicherungssystems immer wieder neue Nahrung: Anfang 1997 stieg der GRV-Beitrag erstmals in der Geschichte über die magische 20 %-Hürde (20,3 %). Nahm man die Beitragssätze für alle Sozialversicherungen zusammen, beliefen sie sich nun auf einen historischen Spitzenwert von 42,1 % der Lohnsumme.49 Die wichtigsten Ursachen für die prekäre Lage der Rentenfinanzen waren die Entwicklung am Arbeitsmarkt, vor allem aber die Folgekosten der deutschen Einheit, deren Finanzierung zu einem guten Teil im Rahmen der Sozialversicherung abgewickelt und damit von den Beitragszahlern im Westen getragen wurde. Auf der Einnahmenseite waren es besonders die nach dem Vereinigungsboom anschwellenden Arbeitslosenzahlen, die die Rentenkassen durch Beitragsausfälle belasteten. In Westdeutschland stieg die Arbeitslosenquote in der tiefen Wirtschaftskrise seit 1993 von 1992 = 6,4 % bis 1997 auf 10,8 % der abhängigen Erwerbspersonen an – das war ein Wert, der sogar den bisherigen Rekord zur Zeit der Rezession in der Mitte der 1980er Jahre in den Schatten stellte und danach nur 2005 mit 11,0 % noch einmal übertroffen wurde. Noch weit schlimmer sah es in den neuen Bundesländern aus, wo die Arbeitslosenquote bis 1998 auf 19,2 % kletterte. Gleichzeitig ging in Ostdeutschland die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und damit auch der Beitragszahler zur GRV, die 1992 noch 6,68 Mio. betragen hatte, immer weiter zurück; das war ein Trend, der erst 2005 bei 4,97 Mio. sein Ende fand und von einer Ge47 Eigene Berechnungen nach DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 197. 48 Vgl. Die Rente – sicher?, in: FAZ , 24.8.1993; Renten-Gerede, in: FAZ , 26.8.1993; Verlängerung der Lebensarbeitszeit bleibt Thema, in: FAZ , 27.8.1993; Rentendebatte mit allen alten Argumenten, in: FAZ , 1.9.1993; Des Kanzlers Wahrheit, in: FAZ , 4.9.1993; Kohl: Diskussion um die Rente beenden, in: FAZ , 3.1.1994. 49 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 217.
364 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit genbewegung abgelöst wurde.50 Den stagnierenden und zum Teil auch sinkenden Beitragseinnahmen im Osten Deutschlands standen rasch expandierende Rentenausgaben gegenüber. Sie waren eine Folge der hohen, auf eine Annäherung an das Westniveau zielenden Steigerungen der Ost-Renten zu Beginn der 1990er Jahre, von zusätzlichen – vor allem die Hinterbliebenenrenten betreffenden – Rentenansprüchen infolge der Übernahme des bundesdeutschen Rentenrechts, aber auch der im Vergleich zu Westdeutschland längeren Versicherungszeiten insbesondere bei den Frauen. Eine massive Belastung schließlich sowohl für die Einnahmen- als auch die Ausgabenseite der Rentenversicherung stellte die Frühverrentungswelle dar, die den Osten Deutschlands Anfang der 1990er Jahre erfasste. Auf der einen Seite verringerte sich durch den früheren Wechsel in den Ruhestand die Zahl der Beitragszahler, auf der anderen Seite verlängerte sich die Rentenbezugsdauer. Im Grunde war in der alten Bundesrepublik seit der Mitte der 1980er Jahre und insbesondere durch das 1989 verabschiedete Rentenreformgesetz bereits der Kurswechsel in Richtung eines Abbaus von Frühverrentungsmöglichkeiten vollzogen worden (vgl. Kap. VI.2 u. 3). Angesichts der völlig neuen Situation zu Beginn der 1990er Jahre, die durch den Abbau von ungefähr 4 Mio. Arbeitsplätzen in Ostdeutschland infolge der Transformation der Plan- in eine Marktwirtschaft und der Auswirkungen der Währungsunion gekennzeichnet war,51 griffen die politischen Akteure und Sozialpartner, die Betriebe und Arbeitnehmer nun jedoch abermals bereitwillig auf die Rezepte der 1970er Jahre zurück, um den dramatischen Angebotsüberhang auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen. Teils bediente man sich dabei der noch zur Verfügung stehenden rechtlichen Wege in den früheren Ruhestand, teils schuf man befristet neue – wie das Altersübergangsgeld, das ostdeutschen Arbeitnehmern ab 55 Jahren den Ausstieg aus dem Arbeitsleben bei zwei Dritteln ihres bisherigen Gehaltes ermöglichen und die Zeit bis zur Altersrente überbrücken sollte.52 Die Folge dieser Frühverrentungsoffensive war, dass die ostdeutschen Arbeitnehmer, die bislang ganz überwiegend bis zur Regelaltersgrenze gearbeitet hatten, den Trend zum vorgezogenen Ruhestand, der sich in Westdeutschland seit Mitte der 1970er Jahre abzeichnete, binnen kürzester Zeit nachholten und radikalisierten. In seinen Auswirkungen auf die Rentenfinanzen am gravierendsten, lässt sich das besonders deutlich am Absinken des durchschnittlichen Rentenzugangsalters für Männer beobachten, das von 1993 (für die Zeit zuvor existieren keine Daten) bis 1998 von 60,7 auf 57,8 Jahre fiel und damit mehr als zwei Jahre unter dem entsprechenden westdeutschen Wert (1998: 59,7) lag.53 Wie 50 Bundesagentur für Arbeit (Hg.), Arbeitsmarkt, Tab. 4.1 u. 8.1. 51 Vgl. Ritter, Rahmenbedingungen, in: GSD, Bd. 11, S. 70. 52 Vgl. Schmid u. Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik, in: GSD, Bd. 11, S. 473; Zähle u. Möhring, Berufliche Übergangssequenzen, S. 331 ff. 53 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 106.
Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung 365
Tab. 11: Anteile (in %) der Rentenzugänge zur GRV (Alter u. Invalidität) nach Altersgruppen, Männer, Ost- und Westdeutschland, 1993–2011 Rentenzugangsalter
Jahr bis 54
55–59
60
61–62
63
64
65
66 u. älter
Ostdeutschland 1993
15,1
4,5
10,6
9,1
10,2
3,2
47,3
0,1
1995
8,3
4,2
39,1
18,1
9,3
4,1
16,2
0,7
1997
14,8
9,9
54,1
7,4
6,7
1,6
4,5
1,0
2000
13,5
9,0
47,5
13,7
7,9
1,3
5,3
1,7
2005
14,6
5,9
19,8
20,6
18,6
6,7
13,3
0,5
2011
16,4
10,0
13,8
13,7
19,7
5,7
22,6
0,2
Westdeutschland 1993
13,3
14,2
21,5
9,9
17,6
1,6
19,3
2,5
1995
13,3
14,3
27,3
8,9
12,7
1,7
18,9
3,0
1997
12,4
13,3
30,1
9,1
14,5
1,5
16,7
2,3
2000
11,0
9,8
28,7
11,3
15,6
1,8
20,5
1,5
2005
11,1
5,7
14,9
11,8
15,6
5,9
33,3
1,7
2011
12,5
6,3
9,5
8,5
17,7
4,6
38,4
2,5
Quelle: DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2008, S. 108; DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2012, S. 142, eigene Berechnungen.
Tabelle 11 zeigt, verschob sich die Altersstruktur der Rentenzugänge zur GRV (Alter und Invalidität) in den neuen Bundesländern im Laufe der 1990er Jahre dramatisch, während sie sich in Westdeutschland nur unerheblich veränderte. Hatte 1993 noch fast die Hälfte der ostdeutschen Neurentner bis zur Regelaltersgrenze von 65 gearbeitet, traf das 1997 nur mehr auf eine kleine Minderheit von noch nicht einmal 5 % zu. Mehr als die Hälfte (54,1 %) der Ostdeutschen ging nun mit 60 in Rente – dem frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem sie nach einer Phase der Arbeitslosigkeit eine reguläre Altersrente beantragen konnten. Auf 12,6 % war 1995 die Erwerbstätigkeitsquote der 60–65jährigen Männer in den neuen Bundesländern abgesunken; in Westdeutschland lag sie im gleichen Jahr immerhin noch bei 29,6 %.54 Die ostdeutschen Frauen machten in ihrer über54 Schlussbericht der Enquête Kommission »Demographischer Wandel«, BT Drs. 14/8800, S. 101.
366 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit wiegenden Mehrheit – 1995 zu 69,9 %, 2000 zu 73,4 %55 – von der zu dieser Zeit noch existierenden Ausstiegsmöglichkeit der »Altersrente für Frauen« ab 60 Gebrauch – auch sie zumeist nach einer längeren Periode der Beschäftigungslosigkeit. Ihr durchschnittliches Rentenzugangsalter (Alter und Invalidität) erreichte 1994 mit 57,4 Jahren seinen Tiefpunkt; im Westen lag es im gleichen Jahr bei 61,4. Von den Frauen in den neuen Ländern im Alter von 60 bis 65 waren im Mittel der Jahre 1995–1999 lediglich 4,1 % erwerbstätig; in Westdeutschland betrug der Referenzwert 12,7 %.56 So klar sich die Finanzprobleme der deutschen Rentenversicherung ganz überwiegend den Folgen der deutschen Einheit, der gezielten Frühverrentung Millionen von Ostdeutscher und der insgesamt ansteigenden Arbeitslosigkeit zurechnen ließen, so sehr differierte hiervon die Lesart, die sich in der deutschen Politik und publizistischen Öffentlichkeit zunehmend durchsetzte. Mehr und mehr gewann hier im Laufe der 1990er Jahre die Vorstellung an Einfluss, dass die Finanzkrise der GRV primär nicht auf exogene Sonderentwicklungen zurückzuführen sei, sondern dass es sich bei ihr im Kern um eine Strukturkrise handele, dass die grundlegenden Konstruktionsprinzipien des deutschen Alterssicherungssystems überholt seien und es dringend der Reform bedürfe. Warum dieses folgenreiche Deutungsmuster vorherrschende Geltung erlangte, lässt sich nur verstehen, wenn man fünf, die Konstellation in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und darüber hinaus prägende Faktoren in Rechnung stellt, die in ihrem Zusammenwirken den bis dahin in der Bundesrepublik weithin bestehenden Rentenkonsens erschütterten und einer durchgreifenden Reform den Weg ebneten. 1. Von Grund auf reformbedürftig erschien das deutsche System der Alterssicherung zunächst angesichts des »Siegeszuges des Mehrsäulenparadigmas« in der internationalen rentenpolitischen Diskussion.57 Den wichtigsten Motor für diesen weltweit zu beobachtenden ideologischen Umbruch zuungunsten um lagefinanzierter staatlicher und zugunsten kapitalgedeckter privater Renten systeme bildete die Weltbank. Eine Schlüsselstellung nahm in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung des vielbeachteten Weltbank-Berichts »Averting the Old Age Crisis« von 1994 ein. Ausgehend von den in düsteren Farben geschilderten Konsequenzen der demographischen Alterung für die bestehenden Rentensysteme, propagierte die Weltbank ein Modell, das drei Säulen der Alterssicherung vorsah: eine auf die Vermeidung von Altersarmut ausgerichtete staatliche Säule, die entweder nach dem Bedürftigkeitsprinzip organisiert
55 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zahlen 2013, S. 64 f. 56 Schlussbericht der Enquête Kommission »Demographischer Wandel«, BT Drs. 14/8800, S. 101. 57 Bönker, Siegeszug.
Triumph und Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung 367
sein oder eine für alle gleiche Grundsicherung bereithalten sollte; eine verpflichtende und staatlich regulierte, aber privatwirtschaftlich verwaltete und kapitalgedeckte Alterssicherungssäule, in der individuelle Konten nach dem Beitragsprinzip angespart werden sollten; und schließlich eine zusätzliche, auf Freiwilligkeit basierende Säule.58 Ihre große internationale Bedeutung erlangten die Vorschläge der Weltbank nicht zuletzt dadurch, dass diese in einer Vielzahl von Ländern am Auf- oder Umbau von Alterssicherungssystemen als Beraterin aktiv beteiligt war und finanzielle Hilfe leistete. Besonders in den Transformationsländern Osteuropas erwiesen sich die Alterssicherungskonzepte der Weltbank in den 1990er Jahren als ausgesprochen einflussreich.59 Auch die Europäische Kommission, die zwar formal keine Kompetenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik besitzt, aber die EU-Mitgliedsländer durch ihre Empfehlungen zu beeinflussen versucht, machte sich seit Mitte der 1990er Jahre für rentenpolitische Reformen stark. Die »Alterung der Bevölkerung«, ließ sie sich vernehmen, mache es unabdingbar, »dass die Rentensysteme zügig reformiert« würden.60 Einerseits müssten die öffentlichen Rentensysteme durch Leistungseinschnitte demographisch wetterfest gemacht werden, andererseits sei der Ausbau zusätzlicher, kapitalgedeckter Formen der Alterssicherung nachdrücklich zu fördern. Mit der »Offenen Methode der Koordinierung« (OMK) entstand 2001 ein neues, »weiches« Politikinstrument, das mittels der Formulierung gemeinsamer Ziele und eines benchmarking-Verfahrens den Einfluss der europäischen Ebene auf die Mitgliedsstaaten in Politikbereichen vergrößern soll, die außerhalb der legislativen Kompetenzen der EU liegen. Betroffen hiervon ist auch das Feld der Alterssicherung, für das die EU-Leitlinien abermals Rentenreformen mit dem »übergeordnete[n] Ziel der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen« und die Schaffung besserer Rahmenbedingungen für den Ausbau kapitalgedeckter Rentensysteme anmahnten.61 Inwieweit sich die rentenpolitische Agenda der supranationalen Institutionen auf die deutsche Politik auswirkte, ist freilich chronisch schwer zu ermessen. Im britischen Fall ist man geneigt, ihre Bedeutung eher gering zu veranschlagen, da sich die politischen Akteure hier aufgrund der traditionell großen Rolle kapitalgedeckter Alterssicherungssysteme eher als Vorreiter auf dem Weg zu einem Mehrsäulenmodell denn als beratungsbedürftige Nachzügler sahen. Aber auch im Hinblick auf die Bundesrepublik legen neuere Studien
58 Vgl. World Bank, Averting, S. 16, 233–254. 59 Vgl. Holzmann u. Hinz, Old-Age Income Support; Orenstein, Privatizing Pensions; ders., Pension Privatization; ders., New Pension Reform; ders., Out-Liberalizing. 60 Europäische Kommission, Modernisierung, COM 97 (102), S. I. Vgl. ebd., S. 12 ff.; Europäische Kommission, Grünbuch, COM (97) 283; Europäische Kommission, Soziale Sicherheit. 61 Rat der Europäischen Union, Qualität, 14098/01, S. 6 f.
368 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit nahe, den direkten Einfluss von Weltbank und OMK nicht zu überschätzen.62 In die gleiche Richtung weist ebenfalls die Tatsache, dass das in Deutschland propagierte Dreisäulenmodell mit seiner Trias von gesetzlicher, betrieblicher und privater Alterssicherung zwar eine begriffliche Nähe zum Weltbank-Konzept aufwies, inhaltlich hiervon aber deutlich differierte. Und dennoch: Als Faktor, der die traditionellen rentenpolitischen Arrangements und Denkmuster in der Bundesrepublik unter Druck setzte, ist der internationale Reform- und Privatisierungstrend nicht zu unterschätzen. In der veröffentlichten Meinung und politischen Diskussion der Bundesrepublik waren die Weltbank- und EU-Initiativen ebenso dauerhaft präsent wie der Vergleich mit den Rentensystemen anderer Länder.63 Besondere Popularität erlangte dabei neben der Schweiz das niederländische »Cappuccino-Modell« aus staatlicher Grundsicherung (Kaffee), obligatorischer kapitalgedeckter Betriebsrente (Milch) und freiwilliger Zusatzabsicherung (Kakao), dem vielfach eine Art Vorbildfunktion zugeschrieben wurde.64 Die Ökonomen im In- und Ausland – diesen Eindruck gewann man aus Interviews und Berichten von Kongressen – schienen ohnehin in ihrer erdrückenden Mehrheit von der Überlegenheit des Mehrsäulenprinzips in der Alterssicherung überzeugt zu sein.65 Und überhaupt konnte es bald als »[d]as Fazit aus allen internationalen Reformdiskussionen« gelten, dass das deutsche Alterssicherungssystem mit seinem Übergewicht der umlagefinanzierten GRV den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr gewachsen sei und dass auch »wir … eine zweite, kapitalgedeckte Säule [brauchten]«.66 All das setzte eine Strukturreform des deutschen Rentensystems zwar keineswegs zwingend auf die politische Tagesordnung, aber es verlieh den Verfechtern einer grundlegenden Reform die Aura des internationalen Zeitgeistes und ihren Lösungsvorschlägen eine legitimatorische Basis, während die Verteidiger des alten Systems zunehmend als unbelehrbar und gestrig wirkten. 2. An Plausibilität gewannen Rufe nach einer tiefgreifenden Reform der Alterssicherung auch deshalb, weil sich die Diskussion über die Finanzprobleme der Rentenversicherung zusehends mit der Debatte über den »Wirtschaftsstandort Deutschland« verknüpft sah. Den Hintergrund für diese Standort62 Vgl. Schrader, Offene Koordinierung; Nullmeier, Politische Rahmenbedingungen, S. 122 f.; Eckardt, Open Method. 63 Vgl. nur Weltbank schlägt Pflichtsparen auch für künftige deutsche Rentner vor, in: FAZ , 18.4.1996; Auf Kosten der Jungen, in: Der Spiegel, 3.2.1997; Zwang zur Wende, in: Der Spiegel, 30.8.1999; Der Mix macht’s, in: Der Spiegel, 12.2.2001. 64 Vgl. Abschied der Alten, in: Der Spiegel, 16.11.1998; »Das gibt einen Aufschrei«, in: Der Spiegel, 21.6.1999; Drei gegen Schröder, in: Der Spiegel, 11.10.1999. 65 Vgl. Die Regierung kürzt die Rente – Flickwerk angesichts der drängenden Probleme, in: Die Zeit, 10.10.1997; »Jetzt ist die Rente sicher«, in: Die Zeit, 23.4.1998; Vorbildliche Nachbarn, in: Der Spiegel, 30.12.2002; »Übergang zur kapitalgedeckten Rente ist möglich«, in: FAZ , 8.12.1997. 66 Der Befreiungsschlag, in: Der Spiegel, 5.10.1998.
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debatte bildete die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zunehmend an Dynamik gewinnende ökonomische Globalisierung, die von bahnbrechenden Innovationen in der Kommunikations- und Informationstechnologie sowie einem weltweiten Trend zur Liberalisierung und Deregulierung von Märkten vorangetrieben wurde und in einem explosionsartigen Wachstum an Direktinvestitionen sowie einer massiven Zunahme der internationalen Arbeitsteilung ihren Ausdruck fand.67 Unter dem Eindruck des Zusammentreffens der auch von deutschen Anbietern empfundenen Verschärfung der globalen Wettbewerbsbedingungen, des niedrigen Wirtschaftswachstums und der hohen Arbeitslosenzahlen entwickelte sich in der Bundesrepublik insbesondere seit der Rezession von 1992/93 ein Krisendiskurs, der um die Vorstellung kreiste, dass auf dem Weltmarkt nicht nur Unternehmen miteinander konkurrierten, sondern auch Staaten in einem Standortwettbewerb um den hochgradig mobilen Faktor Kapital stünden. Im Mittelpunkt der anfangs vor allem von den Verbänden der deutschen Wirtschaft vorangetriebenen Standortdebatte standen die wettbewerbsschädigenden Schwächen des Standorts Deutschland.68 Zu ihnen zählten nach Ansicht der Kritiker hohe Löhne und eine Reihe von Inflexibilitäten am Arbeitsmarkt, vor allem aber auch die exorbitanten »Lohnnebenkosten«, die den Produktionsfaktor Arbeit in Deutschland zusätzlich verteuerten. Herausragende Bedeutung unter den Personalzusatzkosten besaßen die seit 1990 deutlich gestiegenen Sozialversicherungsbeiträge. Mit ihnen gerieten die Beiträge zur Rentenversicherung ins Visier, die mit einem Anteil von ungefähr der Hälfte stets den wichtigsten Posten ausmachten. Angesichts der Parallelität wachsender Arbeitslosigkeit und steigender Beitragssätze zur Sozialversicherung, die den kausalen Zusammenhang zwischen beiden zu bestätigen schien, avancierte im Laufe der 1990er Jahre die Forderung nach einer Senkung der Lohnnebenkosten als notwendiger Voraussetzung für ein Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft zunehmend zum politisch vorherrschenden Dogma. »[S]ollen die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung wieder günstiger werden«, resümierte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1996 den heraufziehenden common sense, müsse »die Politik … die Belastung des Faktors Arbeit mit Lohnnebenkosten zurückführen«.69 Zur gleichen Zeit gewannen die gerade übersprungene 40 %-Schwelle des Gesamtbeitragssatzes zur Sozialversicherung und die 1997 beim Beitragssatz für die GRV überschrittene 20 %-Marke die Be67 Vgl. nur Wirsching, Preis, S. 226 ff.; Schlussbericht der Enquete-Kommission »Globalisierung«, BT Drs. 14/9200. 68 Vgl. BDI, Produktionsstandort Deutschland; Die Chancen der Krise, in: Der Spiegel, 6.9.1993; Trampusch, Der erschöpfte Sozialstaat, S. 116 ff.; Hegelich, Reformkorridore, S. 217 ff. 69 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97, S. 103.
370 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit deutung symbolischer Schallmauern, deren dauerhafte Durchbrechung um jeden Preis zu verhindern war. Auf die Absenkung des Beitrags zur Rentenversicherung zielte bereits das noch von der schwarz-gelben Koalition 1997 verabschiedete Rentenreformgesetz, das die Rente des »Eckrentners« langfristig von 70 auf 64 % des durchschnittlichen Nettolohns reduzieren sollte und faktisch den Übergang von einer an der Höhe der Leistungen orientierten Einnahmen- zu einer am Beitragssatz ausgerichteten Ausgabenpolitik markierte. Schon bald jedoch reichten derartige Reformen »im System« einer stetig sich verbreiternden Koalition von Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nicht mehr aus. Als der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 1998 auf 21 % angehoben zu werden drohte, massierten sich die »Forderungen nach einem tiefgreifenden Umbau des Rentensystems«. Zu den Befürwortern einer grundsätzlichen Neuorientierung in der Alterssicherungspolitik gehörten nun nicht nur die Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sowie eine Reihe von FDP-Politikern, sondern auch der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD), der ebenfalls für ein Mehrsäulenmodell und eine größere Rolle der »Eigenvorsorge« optierte.70 Der Rat der »Fünf Wirtschaftsweisen« hatte sich bereits im Jahr zuvor für eine umfassende Rentenreform in Richtung eines »gemischte[n] Systems … mit einer nach dem Umlageverfahren finanzierten obligatorischen Grundabsicherung und einer daneben stehenden zusätzlichen, durch eigene Kapitalbildung aufgebauten Sicherung« ausgesprochen.71 Unter dem als »Sachzwang« perzipierten Handlungsimperativ, die Lohnnebenkosten zu senken, gewann der Gedanke einer grundlegenden Strukturreform des deutschen Rentensystems wachsende Zustimmung. 3. Zugunsten eines Paradigmenwechsels in der deutschen Alterssicherungspolitik wirkte sich ebenfalls die neue Akteurskonstellation aus, die auf diesem Politikfeld gegen Ende der 1990er Jahre entstand.72 Auf der personellen Ebene war sie primär das Ergebnis des rot-grünen Wahlsieges von 1998, der zur Bildung einer Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen führte. In einer Reihe von Schlüsselpositionen fanden sich im Zuge des Regierungswechsels überzeugte Verteidiger des überkommenen Rentensystems und der ihm zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien durch Akteure ersetzt, die seiner grundlegenden Neuordnung offen gegenüberstanden. Das galt zunächst für das Amt des Bundeskanzlers selbst, in das mit Gerhard Schröder ein SPD -Politiker einrückte, der bereits vor der Wahl dezidiert für eine umfangreiche Reform der 70 Neue Forderungen nach einem Umbau des Rentensystems, in: FAZ , 3.11.1997. 71 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97, S. 242. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1999/2000, S. 8 f., 180–183. 72 Vgl. hierzu und zum Folgenden grundlegend Wehlau, Lobbyismus, bes. S. 139–158; dies., Rentenpolitik; Hockerts, Abschied, S. 268 ff.
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Alterssicherung eingetreten war. Mit dem Rücktritt von Finanzminister Oskar Lafontaine, der sich wiederholt offen für die Erhaltung des bestehenden Rentensystems ausgesprochen hatte,73 verlor Schröder 1999 seinen wichtigsten Gegenspieler innerhalb der Regierung und der SPD. An der Spitze des Bundesarbeitsministeriums beendete der Regierungswechsel die Amtszeit von Norbert Blüm, der wie kein anderer Politiker für das Festhalten am überkommenen System stand. An seine Stelle trat mit Walter Riester ein Gewerkschaftsfunktionär, der davon überzeugt war, dass das soziale Sicherungssystem »[k]urz vor dem Kollaps« stünde, und dem gerade in der Rentenfrage der Ruf eines »›Modernisierers‹« vorausging.74 Gleichzeitig erhielt Riester damit innerhalb der SPD den Vorzug vor Rudolf Dreßler, der als langjähriger und unumstrittener sozialpolitischer Experte der Partei eigentlich als Hauptanwärter für den Posten des Arbeitsministers gegolten hatte, sich im Vorfeld der Wahl aber unzweideutig gegen einen grundlegenden Umbau der Alterssicherung und gegen Leistungskürzungen gewandt hatte.75 Dass die Reformer nicht nur auf der Ebene des politischen Personals auf dem Vormarsch waren, zeigte sich in der Neubesetzung der wissenschaftlichen Mitglieder des Sozialbeirats der Bundesregierung. Besonders bemerkenswert war, dass mit dem seit 1986 als Vorsitzender des Sozialbeirats fungierenden Winfried Schmähl einer der prominentesten wissenschaftlichen Repräsentanten des traditionellen Rentensystems seinen Hut nehmen musste. Neues Mitglied und sogleich auch neuer Vorsitzender des Gremiums dagegen wurde der als reformfreudig bekannte Bert Rürup. Die Entstehung einer weitreichenden Reformschritten aufgeschlossenen Akteurskonstellation war jedoch nicht nur das Produkt eines Elitenwechsels, sondern auch das Ergebnis institutioneller Verschiebungen. Bis weit in die 1990er Jahre hinein war die bundesdeutsche Alterssicherungspolitik die Domäne eines kleinen Zirkels von Rentenexperten des Bundesarbeitsministeriums, der Rentenversicherungsträger, des Sozialbeirats und der politischen Parteien gewesen, die sich – bei allen Differenzen in Einzelfragen – dem bestehenden Rentensystem und seinen normativen Grundprinzipien zutiefst verpflichtet fühlten (vgl. oben, Kap. VI.3). Gegen Ende der 1990er Jahre hatte dieses relativ geschlossene Netzwerk von Rentenfachleuten jedoch an Stabilität und Dominanz eingebüßt – nicht zuletzt deshalb, weil das Bundesfinanzministerium (BMF) mit zunehmendem Druck als neuer »Spieler« in das Feld der Alterssicherungspolitik hineindrängte und dem BMAS seine bisherige Alleinzuständigkeit streitig machte.76 Das Einfallstor für das BMF, für das weniger der Erhalt des überkom73 Vgl. »Das Land ist bereit für die kulturell-soziale Wende«, in: Süddeutsche Zeitung, 22.10.1998; Lafontaine u. Müller, Keine Angst, S. 126. 74 Riester, Mut, S. 126, 131. 75 Vgl. Ein bezahlbares System?, in: FAZ , 17.4.1998. 76 Vgl. Wehlau, Lobbyismus, S. 144 ff.; Berner, Der hybride Sozialstaat, S. 188–235; ders. Riester Pensions, S. 524.
372 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit menen Rentensystems als haushaltspolitische Gesichtspunkte und die Belebung der Nachfrage am deutschen Finanzmarkt im Vordergrund standen, bildete der Komplex der Zulassung und steuerlichen Förderung privater kapitalgedeckter Altersvorsorgeprodukte, der mit dem projektierten Ausbau dieser Formen der Alterssicherung an Relevanz gewann und nicht in den Kompetenzbereich des BMAS , sondern des Finanzministeriums fiel.77 Der Einfluss des BMF auf dem Feld der Rentenpolitik wurde noch zusätzlich dadurch vergrößert, dass es zuständig für die bevorstehende vollständige Neuregelung der Besteuerung von Beiträgen und Renten war, die um die Jahrtausendwende als Ergebnis eines beim Verfassungsgericht anhängigen Verfahrens für die unmittelbare Zukunft allseits erwartet wurde.78 Mit dem Bundesfinanzministerium als Türöffner erlangte im Vorfeld der Rentenreform von 2001 auch die Finanzbranche Zugang zur Arena der Alters sicherungspolitik, in der sie zuvor keine nennenswerte Rolle gespielt hatte. Aufgrund ihrer Fachkompetenz in Fragen der Ausgestaltung von privaten Alterssicherungsprodukten und der Finanzmarktregulierung fanden sich die Interessenvertreter von Versicherungen, Banken und Investmentgesellschaften von Beginn an als Sachverständige in den ministeriellen und parlamentarischen Entscheidungsprozess involviert und erhielten Gelegenheit, auf die Rentenreformgesetzgebung Einfluss zu nehmen. Trotz des sogleich entflammenden Konkurrenzkampfes zwischen der Versicherungsindustrie und dem Banken- und Investmentsektor einte die Finanzbranche dabei das gemeinsame wirtschaftliche Interesse an dem »Riesengeschäft mit der privaten Altersvorsorge«.79 Um hiervon möglichst umfangreich zu profitieren, nutzten ihre Verbände nicht nur die offiziellen Einflusskanäle, sondern bedienten sich der gesamten Klaviatur des klassischen Lobbying – von Großspenden an alle im Bundestag vertretenen Parteien (bis auf die PDS) über die Pflege informeller Beziehungen zwischen Finanzwirtschaft und Politik bis zur finanziellen Unterstützung der Arbeit sympathisierender Forschungsinstitute und Wissenschaftler. Gleichzeitig initiierten die Unternehmen und Verbände der Finanzbranche eine großangelegte Medienkampagne, die darauf abzielte, das Vertrauen in die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente zu untergraben und die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer Teilprivatisierung der Altersvorsorge zu überzeugen.80 4. Der unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel betriebene PR-Feldzug der Finanzindustrie wäre auf einen weit weniger fruchtbaren Boden gefallen, 77 Vgl. Wehlau, Rentenpolitik, S. 207 f. 78 Vgl. etwa Eichel drängt zur Eile, in: Süddeutsche Zeitung, 18.5.2000; Riesters Reformruine, in: Der Spiegel, 12.2.2001. Das Urteil kam dann doch erst 2002: BVerfGE 105, 73 (6.3.2002). 79 Neue Konkurrenz für Bausparkassen, in: Berliner Zeitung, 12.5.2001. 80 Zu diesem Absatz vgl. Wehlau, Lobbyismus, S. 159–311; dies., Rentenpolitik, S. 211–224.
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wäre nicht insbesondere die zweite Hälfte der 1990er Jahre von einer beispiel losen Hausse am Aktienmarkt gekennzeichnet gewesen. Der DAX, der die dreißig größten und umsatzstärksten deutschen Unternehmen umfassende Aktienindex, kletterte von 1545 Punkten zu Beginn des Jahres 1993 bis 2000 auf einen Spitzenstand von 8065 Punkten – das war ein Wachstum von sage und schreibe 422 % in noch nicht einmal acht Jahren. Noch abenteuerlicher war die Entwicklung am »Neuen Markt«, dem in der Euphorie über die Zukunftschancen der new economy 1997 neu eingerichteten Börsensegment für Unternehmen aus dem Bereich der »Neuen Technologien«: Bis zum Platzen der Dotcom-Blase ab März 2000 war der hier ausschlaggebende Index Nemax 50 innerhalb von nur gut zwei Jahren von 1000 auf einen historischen Höchststand von 9666 Punkten emporgeschnellt. Es war die Folie dieser Ausnahmegewinne am Aktienmarkt, die zu Renditevergleichen zwischen kapitalgedeckten Pensionsfonds und der krisengeschüttelten Gesetzlichen Rentenversicherung geradezu einluden – Vergleiche, die die der Finanzbranche nahestehenden Institute und Experten nur allzu gern bereitstellten und die von der Presse ebenso bereitwillig aufgegriffen wurden. 3726 DM monatliche »Blüm-Rente«, rechnete der »Spiegel« unter Bezug auf Zahlen des Deutschen Aktieninstituts, eines Lobbyverbandes der an der Stärkung des deutschen Finanzplatzes interessierten Unternehmen, vor, würde ein Neurentner 1998 erhalten, wenn er zuvor 45 Jahre lang den Höchstsatz in die GRV eingezahlt hätte; bei alternativer Anlage der gleichen Beiträge in einem Aktienfonds dagegen hätte er eine Monatsrente von stattlichen 17.000 DM erzielt. Das Urteil des Hamburger Nachrichtenmagazins über die Rentabilität der GRV fiel dementsprechend scharf aus: »Gerade jetzt, wo die Deutschen einen gewaltigen Boom an den Börsen erleben, schwindet ihr Verständnis für die schlappen Leistungen der gesetzlichen Rentenkasse; die Alterssicherung in kapitalgedeckten Systemen erscheint da verlockender. Bei gleichem Geldeinsatz ließen sich drastisch höhere Altersbezüge erzielen«.81 Aber auch jene Ökonomen, die größere methodische Vorsicht walten ließen und die implizite Rendite der Gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Zinsertrag anderer Kapitalanlageformen verglichen, gelangten zu Ergebnissen, die für die GRV wenig schmeichelhaft ausfielen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft etwa errechnete Anfang 1998 in einem Gutachten zum Thema »Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung«, dass die Kohorte der Arbeitnehmer, die 1957 ihre Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte und 2002 in Rente ging, noch eine interne Realrendite von 2,8 % auf ihre GRV-Beiträge erzielte. Aufgrund der steigenden Beitragssätze nahm dieser Wert aber für alle folgenden Kohorten kontinuierlich ab, so dass die 81 Aktien statt Almosen, in: Der Spiegel, 3.8.1998. Vgl. Kampf der Generationen, in: Der Spiegel, 25.10.1999; Riesters Reformruine, in: Der Spiegel, 12.2.2001.
374 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit Rendite für jene, die erst 2000 in das Erwerbsleben eintraten, lediglich 1,6 % betragen würde. Im Vergleich dazu lag der Realzins, der sich mithilfe zehnjähriger Staatsanleihen hätte erwirtschaften lassen, deutlich höher: bei über 4 %.82 Überhaupt galt es in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen als weithin akzeptierte Binsenweisheit, dass ein »entscheidender Vorzug des Kapitaldeckungsverfahrens … die im Vergleich zur Umlagefinanzierung erheblich höhere Rendite« sei.83 Das, so die vorherrschende Lehrmeinung, sei nicht nur durch »umfangreiche empirische Untersuchungen für viele Länder und Zeitperioden« belegt, sondern müsse »aufgrund elementarer ökonomischer Gesetzmäßigkeiten auch langfristig so sein«.84 Das »renditeorientierte Verständnis der Altersvorsorge«,85 das in all dem zum Ausdruck kam, war in der Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung kein vollständiges Novum. In der Sparillusion, der viele Beitragszahler angesichts der Verkopplung von Sozialversicherungs- und Leistungsprinzip erlagen, bereits angelegt, hatte es gerade in den Mittelschichten vor allem im Kontext der durch das Rentenreformgesetz von 1972 ermöglichten Nachentrichtung von Beiträgen Verbreitung gefunden.86 Neu war jedoch die große Rolle, die der Renditeaspekt in der Debatte um die Jahrtausendwende spielte; und neu war auch, dass die Gesetzliche Rentenversicherung anders als in den 1970er Jahren nicht mehr als rentables Anlageobjekt, sondern als miserables Investment galt. 5. Der letzte Faktor, der die grundlegende Strukturreform des deutschen Alterssicherungssystems nach der Jahrtausendwende ermöglichte und vorantrieb, war der Aufstieg des Diskurses der Generationengerechtigkeit. Wie bereits skizziert, hatte die demographische Alterung als Argument in der Bundesrepublik schon in den rentenpolitischen Debatten seit den 1970er Jahren und dann besonders im Vorfeld der Rentenreform von 1989 eine zentrale Rolle gespielt. Mit dem Vorwurf, das bestehende Rentensystem verteile die durch die Bevölkerungsentwicklung verursachten Lasten einseitig zuungunsten der Jüngeren und verstoße dadurch gegen das Gebot der »Generationengerechtigkeit«, erlangte die auf den demographischen Wandel rekurrierende Argumentation nun jedoch eine zusätzliche und wirkungsvolle normative Aufladung. Wenige Jahre später als in Großbritannien fand der ursprünglich aus dem amerikanischen Kontext stammende Begriff der Generationengerechtigkeit seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend Eingang in den politischen Sprachgebrauch der Bundesrepu-
82 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten, S. 21 f. Kritisch: Schmähl, Soziale Sicherung, S. 395 f. 83 Manfred J. M. Neumann, Abschied vom Prinzip Hoffnung, in: Handelsblatt, 31.8.1998. Vgl. Börsch-Supan, Rentabilitätsvergleiche; Schnabel u. a., Renditen. 84 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten, S. 20. 85 Hockerts, Abschied, S. 272. 86 Vgl. oben, Kap. IV.3.
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blik.87 Seine steile Karriere, die ihm in Deutschland binnen kurzem eine prominentere Stellung verschaffte, als das um 2000 im Vereinigten Königreich der Fall war, verdankte er nicht zuletzt einer Reihe von institutionellen Akteuren, die seinen Gebrauch und die Verbreitung der mit ihm zusammenhängenden Konzepte nachdrücklich förderten. Zu ihnen zählten von der Finanzbranche unterstützte think tanks wie das von der Deutschen Bank finanzierte Deutsche Institut für Altersvorsorge sowie Zusammenschlüsse marktliberaler Ökonomen wie der Kronberger Kreis, vor allem aber auch die 1996 gegründete Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, deren Sprecher Jörg Tremmel den »›Betrug an der jüngeren Generation‹« in der Rentenpolitik anprangerte.88 Zugunsten der wachsenden Popularität des Generationengerechtigkeitsbegriffs wirkte sich überdies aus, dass er in einen diskursiven Raum hineinstieß, der bereits durch den seit den späten 1980er Jahren sich weltweit vollziehenden Siegeszug des Nachhaltigkeitskonzepts (sustainability) gekennzeichnet war. Ebenso wie die Ausweitung des Nachhaltigkeitsdiskurses auf den ökonomischen und sozialen Bereich profitierte dabei der sich mit ihm vielfach überlappende Generationengerechtigkeitsdiskurs von einem »Legitimitätstransfer«, der auf dem Import des aus dem ökologischen Kontext vertrauten und hier ein hohes Maß an Akzeptanz genießenden Prinzips der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen sowie der mit ihm zusammenhängenden Semantiken und Argumentationsstrukturen beruhte.89 Auf der Bühne der deutschen Rentenpolitik avancierte der Grundsatz der Generationengerechtigkeit Ende der 1990er Jahre in kurzer Zeit zur parteiübergreifend akzeptierten Leitidee. Die FDP erklärte 1997 in ihren Wiesbadener Grundsätzen »Generationengerechtigkeit« und »Beitragsstabilität« zu den Zielen der von ihnen geforderten »grundsätzliche[n] Reform des Gesamtsystems der Alterssicherung«.90 CDU-Arbeitsminister Blüm verteidigte im selben Jahr die von der Bundesregierung langfristig geplante Absenkung des Rentenniveaus ebenfalls als Beitrag zur »Generationengerechtigkeit« und zur »gerechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt«.91 Bei Bündnis 90/Die Grünen stellte das Grundsatzprogramm von 2002 fest, dass der »veränderte Altersaufbau der Gesellschaft« dazu führe, »dass die Frage der Generationengerechtigkeit beson87 Vgl. Tennstedt, Generationengerechtigkeit, S. 51. 88 Sozialexperte Tremmel: »SPD betrügt die Jungen«, in: FAZ , 13.11.2002. Vgl. Tremmel, Generationsbetrug; ders., Generationengerechtigkeit; Lob und Tadel für Riesters Rentenreform beim Frankfurter Institut, in: FAZ , 9.10.2000; Kreutz, »Generationengerecht«, S. 195–197; Kohli, Alt – Jung, S. 120–122. 89 Brettschneider, Paradigmenwechsel, S. 195. Vgl. Nullmeier, Diskurs, S. 62 f. 90 FDP, Wiesbadener Grundsätze, S. 31. Vgl. FDP beharrt auf mehr Eigenvorsorge, in: Süddeutsche Zeitung, 10.2.1997. 91 Blüm, BT 13/185 (27.6.1997), S. 16767. Vgl. Blüm nennt Reform Gebot der Gerechtigkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 28.6.1997; Norbert Blüm, Solidarität und Gerechtigkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 10.7.1997.
376 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit ders für die Altersvorsorge neu gestellt werden« müsse.92 Schon vorher hatte die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Kerstin Müller, die Grünen als die »›Partei der Generationengerechtigkeit‹« in Szene gesetzt.93 Und auch in der Sozialdemokratie gewann das Prinzip der Generationengerechtigkeit als Leitmaxime der Alterssicherungspolitik – vom rechten Flügel kommend – immer mehr an Boden. In der die Agenda 2010 einläutenden Regierungserklärung Bundeskanzler Schröders vom 14. März 2003 schließlich nahm die »Gerechtigkeit zwischen den Generationen« eine zentrale Stellung ein.94 Im Konzept der Generationengerechtigkeit war und ist der Anspruch auf Veränderung des Gerechtigkeitsverständnisses angelegt, das der bislang für das deutsche Rentensystem konstitutive Begriff des Generationenvertrags verkörperte. Hatten das bislang dominierende Prinzip der Lebensstandardsicherung und die Ankopplung der Renten an die Entwicklung der Erwerbseinkommen von einer starken Norm der Gleichheit zwischen den Altersgruppen gezeugt, implizierte der Ruf nach Generationengerechtigkeit nun die Verschiebung des Gleichheitsanspruchs von den Altersgruppen zu den Alterskohorten und ihren kumulierten Lebensbilanzen. An die Stelle der Gleichbehandlung von Erwerbstätigen und Rentnern trat als zentraler Gerechtigkeitsmaßstab die Angleichung des sich prospektiv verschlechternden Beitrags-Leistungsverhältnisses jüngerer Geburtsjahrgänge an dasjenige älterer Kohorten – auch wenn die Erreichung diese Zieles die relative Schlechterstellung der gegenwärtigen Rentnergeneration gegenüber den Jüngeren mit sich bringen mochte.95 »Generationengerechtigkeit«, formulierte diesen Zusammenhang einer ihrer Anwälte unter Rückgriff auf das bereits erwähnte Renditedenken, bedeute, dass »[d]as erreichbare Beitrags-Leistungs-Verhältnis (die Rendite) der jungen und zukünftiger Generationen aus der staatlichen Rentenversicherung … nicht niedriger sein [dürfe] als die Rendite der heute älteren und früherer Generationen«.96 Wissenschaftliches Unterfutter erhielt die Forderung nach mehr Kohortengerechtigkeit durch die Erstellung sog. »Generationenbilanzen«, die in Deutschland insbesondere von dem Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen errechnet wurden. Auf der aus den USA kommenden Methode des generational accounting basierend, wiesen die alle gegenwärtigen und für die Zukunft hochgerechneten Ausgaben und Einnahmen des Staates und der sozialen Sicherungssysteme gegenüberstellenden Generationenbilanzen eine deutliche »Nachhaltigkeitslücke« zulasten künftiger Generationen aus. Als wichtigste Verursacher dieser auch als 92 Bündnis 90/Die Grünen (Hg.), Zukunft, S. 89. Vgl. »Zu viele Botschaften«. Kuhn will die Grünen auf wenige Begriffe festlegen, in: FAZ , 12.4.2001. 93 Grüne wollen eigenes Profil schärfen, in: Süddeutsche Zeitung, 15.1.2000. 94 Schröder, BT 15/32 (14.3.2003), S. 2481. 95 Vgl. Leisering, Wohlfahrtsstaatliche Generationen, S. 68 f.; Nullmeier, Diskurs, S. 66. 96 Tremmel, Generationengerechtigkeit, S. 38. In gleicher Weise das Gutachten des Sozialbeirats 2001, BT Drs. 14/7639, S. 131.
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»implizite Staatsschuld« interpretierten Zukunftsbelastung galten die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme und hier wiederum insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung und die Pensionskassen.97 Zugegeben: Die Forderung nach mehr Generationengerechtigkeit und die häufig damit einhergehende Stilisierung des Generationenkonflikts zur beherrschenden Spannungslinie unserer Zeit haben auch Widerspruch erfahren. Zum einen hat insbesondere die Lebenslaufforschung die Behauptung mangelnder Generationengerechtigkeit mit Hinweis auf ihre ausschließliche Fixierung auf öffentliche Transfers kritisiert. Renten- und Pensionszahlungen, so ihre Argumentation, seien nur ein Ausschnitt des weit komplexeren Austauschverhältnisses zwischen den Generationen (und zwar sowohl im Sinne von Altersgruppen als auch -kohorten). Den sozialstaatlichen Überweisungen von den Erwerbstätigen an die Älteren stünden diesen entgegenlaufende private Netto-Transfers innerhalb der Familie – in Form von Erbschaften, aber auch inter vivos – gegenüber, die in ihrer Höhe geeignet seien, das übliche Bild einer Benachteiligung der Jüngeren erheblich zu modifizieren.98 Zum anderen haben Sozialwissenschaftler darauf hingewiesen, dass die in der öffentlichen Debatte beschworene Generationengerechtigkeitsproblematik keine Entsprechung im Denken der Bevölkerung habe. Als Beleg führten sie die Ergebnisse repräsentativer Meinungsumfragen an, die für die Bundesrepublik ebenso wie für Großbritannien und andere OECD -Länder eine breite Zustimmung zum bisherigen Niveau der Alterssicherung bzw. sogar zu seinem Ausbau erkennen lassen. Zudem zeugen die Daten von der anhaltenden Unterstützung, welche die konstitutiven Prinzipien des deutschen Rentensystems unter den Befragten besitzen, und von der verbreiteten Ablehnung der im Namen der Generationengerechtigkeit geforderten Veränderungen.99 Angesichts dessen und angesichts des Fehlens anderer Anzeichen für einen Generationenkonflikt in der Bevölkerung kam die Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach zu dem Schluss, dass es sich bei dem politisch heiß diskutierten Problem der Generationengerechtigkeit in Wirklichkeit um eine »Schimäre« handele.100 Und dennoch: Schon die Resultate der empirischen Meinungsforschung sind alles andere als eindeutig. So stimmten etwa bei der 2006 im Rahmen des Inter97 Vgl. Raffelhüschen, Generationenbilanz; Raffelhüschen u. Schoder, Generationengerechtigkeit; Hagist, Raffelhüschen u. Weddige, Brandmelder; Borgmann u. Raffelhüschen, Entwicklung. 98 Vgl. Kohli, Generationengerechtigkeit; Kohli u. Künemund, Gegenwart, S. 364–367; Kohli u. Künemund, Geben; Reuter, »Generationenvertrag«, S. 169; Hauser, Generationengerechtigkeit, S. 256 ff. 99 Vgl. Hicks, Public Support, S. 10 f.; Kohli, Generational Changes, S. 522–524; ders., Generationenbeziehungen, S. 135 f.; Liebig u. Scheller, Gerechtigkeit; Schrenker, Warum; Dallinger u. Liebig, Gerechtigkeit, S. 99; Kohl, Breite Zustimmung, S. 4 f. 100 Die Schimäre Generationengerechtigkeit, in: FAZ , 15.10.2003.
378 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit national Social Justice Project durchgeführten Repräsentativumfrage 65 % aller Befragten in der Bundesrepublik der Aussage zu, dass »[u]nser Rentensystem … ungerecht gegenüber der jüngeren Generation« sei. Noch weit höher lagen die Werte in den jüngeren Altersgruppen: bei 77 % unter den 17–34jährigen und bei 74 % unter den 35–59jährigen. Hinzu kam, dass das Ungerechtigkeitsempfinden im Hinblick auf das Rentensystem von der vorangegangenen Erhebungswelle 2000 bis 2006 allgemein deutlich angestiegen war.101 Noch weit wichtiger als diese Belege für das Durchschlagen des Generationengerechtigkeitsdiskurses auf die in der Bevölkerung vorherrschenden Einstellungen war jedoch seine Funktion als Elitendiskurs, die in der normativen Flankierung des rentenpolitischen Reformprozesses bestand. Ein grundlegender Umbau des deutschen Systems der Alterssicherung erschien nicht länger nur aufgrund der kühlen Sachzwanglogik notwendig, die Lohnnebenkosten zu senken. Vielmehr verfügten die Reformbefürworter mit dem Generationengerechtigkeitsargument nun auch über ein normatives Leitbild, das sie gegen die im deutschen Rentensystem bislang dominierenden Gerechtigkeitsprinzipien des Statuserhalts und der Gleichbehandlung der Altersgruppen ins Feld führen konnten und das den angestrebten, potentiell unpopulären Reformmaßnahmen eine Zusatzlegitimation zu verschaffen versprach, die auf der Ebene technischer Sachzwangargumentationen nicht zu erzielen war.102
3. Brüche: Die Reformen der deutschen Alterssicherung nach der Jahrtausendwende Am Ende der 1990er Jahre hatte sich die Wahrnehmung von der Alternativ losigkeit und Dringlichkeit eines tiefgreifenden Umbaus des bundesdeutschen Alterssicherungssystems in der Politik und der veröffentlichten Meinung so sehr verfestigt, dass eine umfassende Strukturreform unabweisbar schien. Wiederholt hat die Forschung darauf hingewiesen, dass zeitgleich der die deutsche Rentenpolitik bis dahin kennzeichnende parteiübergreifende Konsens erodierte.103 Das ist insoweit völlig zutreffend, als sowohl das 1997 den Bundestag passierende Rentenreformgesetz 1999, das einen »demographischen Faktor« in die Rentenformel einbaute, als auch die Reformen der rot-grünen Koalition danach nicht – wie bislang üblich – im Einklang, sondern im heftigen Streit zwischen Regierung und Opposition verabschiedet wurden. Im Wahlkampf 1998 101 Schrenker, Warum, S. 3 f. Vgl. Liebig u. Scheller, Gerechtigkeit, S. 312 f. 102 Zur theoretischen Grundlegung dieses Arguments vgl. Brettschneider, Paradigmenwechsel, S. 190; Schmidt, Values. 103 Vgl. etwa Wehlau, Lobbying, S. 93; Hockerts, Abschied, S. 278; Schmähl, Ergänzung, S. 146.
Die Reformen der deutschen Alterssicherung 379
bildete die Rentenpolitik eines der wichtigsten Kontroversthemen; unmittelbar nach der Wahl machte sich die neue Regierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen daran, zentrale Bestandteile des RRG 1999 zu kassieren. Und doch sind es aus der Vogelperspektive weniger die Differenzen zwischen den Parteien als die Gemeinsamkeiten zwischen den Vorschlägen, die im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung der allseits als unumgänglich angesehenen Rentenreform hervorstechen. Das entging auch aufmerksamen zeitgenössischen Beobachtern nicht. »[I]nhaltlich«, stellte die »Zeit« bereits 1999 fest, lägen die rentenpolitischen Reformkonzepte der Sozialdemokraten und der Grünen, der Liberalen und der Union »gar nicht so weit auseinander«.104 Und auch der »Spiegel« resümierte im Folgejahr, dass »[z]wei Einsichten …, trotz aller Meinungsunterschiede im Detail, in beiden großen politischen Parteien mittlerweile als Allgemeingut« gelten würden: Zum einen müssten die »Leistungen aus der staatlichen Rentenversicherung … sinken, wenn die Beiträge stabilisiert werden soll[t]en«; zum anderen müsse die »Versorgungslücke, die sich dadurch im Alter auftut, … jeder selbst durch private Vorsorge schließen«.105 Von einer erheblichen Schnittmenge der auf beiden Seiten des politischen Spektrums präferierten Reformpläne zeugten ebenfalls die Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, die die von der Bundesregierung eingesetzte Rürup-Kommission und die von der Union beauftragte Herzog-Kommission 2003 fast zeitgleich vorlegten.106 Von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit über die Verlangsamung der Rentenanpassung, die im einen Fall durch den sog. »Nachhaltigkeitsfaktor«, im anderen durch den sog. »Demographiefaktor« erreicht werden sollte, bis zur Stärkung der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge lagen die beiden Expertenkommissionen in allen relevanten Eckpunkten ihrer Vorschläge zur Reform der Alterssicherung dicht beieinander und markierten einen weitreichenden politischen und wissenschaftlichen Konsens, dem eine »weitgehend uniformierte veröffentlichte Meinung«107 (Winfried Schmähl) korrespondierte und der im Grunde nur von der PDS und den mit Minderheitsvoten im Rürup-Bericht vertretenen Gewerkschaftlern durch brochen wurde.108 Angesichts dieser grundlegenden Übereinstimmung nicht nur über die Notwendigkeit, sondern auch über die inhaltliche Ausrichtung einer Struktur reform der Alterssicherung liegt es nahe, die sich häufig an Detailfragen entzündenden rentenpolitischen Auseinandersetzungen seit dem Ende der 1990er Jahre als der Parteienkonkurrenz geschuldete »Oberflächenpolarisierung« zu 104 Basteln am großen Wurf, in: Die Zeit, 21.10.1999. 105 Noch mehr Zugeständnisse, in: Der Spiegel, 19.6.2000. Vgl. Noch nie so nahe, in: Der Spiegel, 17.1.2000. 106 Vgl. BMGS (Hg.), Nachhaltigkeit; Bericht der Kommission »Soziale Sicherheit«. 107 Schmähl, Deutschlands Sozialversicherung, S. 567. 108 Vgl. BMGS (Hg.), Nachhaltigkeit, S. 135–142.
380 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit beurteilen.109 Das darunter liegende Fundament geteilter Deutungsmuster und Lösungsvorschläge bildete geradezu die Voraussetzung dafür, dass die Reformen seit 2000 wenigstens teilweise den dauerhaften Bruch mit dem bisherigen Entwicklungspfad vollziehen konnten, dem das bundesdeutsche Alterssicherungssystem bis dahin in voller Übereinstimmung mit den Grundannahmen des Konzeptes der »Pfadabhängigkeit« gefolgt war. So bemerkenswert der Richtungswechsel in der deutschen Alterssicherungspolitik war, so wenig gelang den politischen Akteuren jedoch eine Rentenreform in einem »großen Wurf«. Auf die »Riester-Reform« von 2001, die mit dem Anspruch verbunden gewesen war, Beiträge und Renteniveau bis 2030 zu stabilisieren,110 folgte bereits 2004 das RV-Nachhaltigkeitsgesetz, nachdem sich – so der Gesetzentwurf – herausgestellt habe, dass die drei Jahre zuvor geltenden »Grundannahmen im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse teilweise revidiert werden« mussten und die bisher ergriffenen Maßnahmen »zur langfristigen Sicherung der Renten finanzen nicht mehr als ausreichend angesehen werden« konnten.111 Den nächsten tiefgreifenden Eingriff in das Rentenrecht bildete das »RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz« von 2007, das in seiner Begründung ebenso wie die beiden anderen Reformgesetze den demographischen Wandel ganz in den Vordergrund stellte.112 Unter systematischen Aspekten lassen sich die wichtigsten Neuerungen der von einer deutlichen Beschleunigung des Reformtaktes in der Alterssicherung zeugenden Rentenreformen nach 2000 in drei Punkten verdichten: Von entscheidender Bedeutung war zunächst der Einstieg in die Teilpriva tisierung der Alterssicherung durch die staatliche Förderung einer »zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge«,113 deren Leistungen das langfristige Absinken des GRV-Rentenniveaus (s. u.) kompensieren sollten. Um in den Genuss der vollen staatlichen Zulage zu gelangen, musste jeder Förderberechtigte einen bestimmten Anteil seines Vorjahresbruttogehalts in eine förderfähige Form der privaten Altersvorsorge einzahlen. Der aufzuwendende Prozentsatz stieg von 2002 bis 2008 in Zweijahresschritten von 1 % auf 4 % an. Parallel dazu erhöhte sich die maximale Zulage pro Jahr und Person auf 154 €. Hinzu kam eine vergleichsweise hohe Kinderzulage, die sich seit 2008 bei voller Ausschöpfung auf 185 € für vor 2008 geborene und 300 € für danach geborene Kinder belief. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den Altersvorsorgebeitrag steuerlich abzusetzen, die sich jedoch nur dann finanziell auswirkt, wenn die vom Finanzamt errechnete Steuerersparnis die Höhe der staatlichen Zulage übersteigt. Die Förderungsstruktur ist so konzipiert, dass sie – bezogen auf den Eigenbeitrag – tendenziell die Bezieher von Niedrigsteinkommen und Perso109 Raschke, Politische Strategie, S. 221. Vgl. Brettschneider, Paradigmenwechsel, S. 197. 110 Vgl. BT Drs. 14/5068. 111 BT Drs. 15/2149, S. 1. 112 Vgl. BT Drs. 16/4372. 113 BT Drs. 14/5068, S. 1.
Die Reformen der deutschen Alterssicherung 381
nen mit Kindern überproportional begünstigt.114 Förderungsfähig sind Altersvorsorgeprodukte wie Sparpläne und Rentenversicherungen nur dann, wenn sie einer Reihe von in einem eigenen Gesetz (»Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz«) festgelegten Kriterien genügen. Zu ihnen gehören u. a. die Verrentung des angesparten Kapitals in Form einer lebenslangen Rente, die Maßgabe, dass die Auszahlung der Leistungen nicht vor dem vollendeten 60. (später 62.) Lebensjahr oder dem Bezug einer Rente aus der GRV beginnen darf, sowie die Garantie des Anbieters, dass zu Beginn der Auszahlung wenigstens die eingezahlten Prämien in nominaler Höhe zur Verfügung stehen.115 Zeitgleich zur Einführung dieser sog. »Riester-Förderung«, die vor allem auf den Ausbau der individuell-privaten Altersvorsorge zielte, schuf die rot-grüne Regierung auch zusätzliche Anreize für die betriebliche Alterssicherung, indem sie die Beiträge durch Entgeltumwandlung bis zu einer gewissen Höhe steuer- und sozialversicherungsfrei stellte (»Eichel-Rente«).116 Mit der Riester-Reform folgte die deutsche Regierung einem allgemeinen internationalen Trend zur zunehmenden Privatisierung der Alterssicherung, der im Zeichen von haushaltspolitischer Konsolidierung und demographischer Alterung seit den 1990er Jahren mehr oder minder alle europäischen Wohlfahrtsstaaten erfasste. Zutreffend ist dieser Prozess in der Wohlfahrtsstaatsforschung als Teil der Entwicklung vom »produzierenden« zum »regulierenden« Wohlfahrtsstaat beschrieben worden.117 Im Zuge dieser Transformation reduziert der Staat einerseits seine Rolle als Produzent sozialpolitischer Leistungen und überlässt ihre Erbringung privaten marktwirtschaftlichen Anbietern. Parallel weitet er andererseits seine regulative Tätigkeit im Hinblick auf die nicht-staatliche Wohlfahrtsproduktion aus und erhält so seinen sozialpolitischen Gestaltungsanspruch aufrecht. Für den Bereich der Altersvorsorge bedeutet das, dass sich die Grenze zwischen privater und öffentlicher Alterssicherung verschiebt und sie zugleich verschwimmt: Dem Bedeutungsschwund öffentlicher Alterssicherungssysteme korrespondiert die Entstehung eines »Wohlfahrtsmarkts« für Altersvorsorgeprodukte, der in seiner Gemengelage von marktwirtschaftlichen Akteuren und umfassender sozialpolitischer Regulierung durch den Staat einen neuartigen hybriden Charakter aufweist.118 Trotz der nach wie vor bestehen114 Vgl. Deutsche Bundesbank, Funded Old-Age Provision, S. 29; Gasche, Und sie lohnt sich doch, S. 13; Coppola u. Reil-Held, Jenseits staatlicher Alterssicherung, S. 221. 115 Vgl. Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz (AltZertG) v. 26.6.2001, zuletzt geändert durch Art. 2 G v. 24.6.2013 I 1667. 116 Zum Vorangehenden vgl. Berner, Der hybride Sozialstaat, S. 135–148. 117 Vgl. nur Leisering u. Berner, Vom produzierenden zum regulierenden Wohlfahrtsstaat; Leisering, Privatisierung; Leisering (Hg.), New Regulatory State. 118 Zum Vorangehenden vgl. nur Berner, Der hybride Sozialstaat; ders., Der entgrenzte Sozialstaat; Leisering, Privatisierung; Willert, Regulierte Wohlfahrtsmärkte; Ebbinghaus u. Whiteside, Shifting Responsibilities; Whiteside, Adapting; Ebbinghaus (Hg.), Varieties; Immergut, Anderson u. Schulze (Hg.), Handbook.
382 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit den erheblichen Differenzen zwischen dem deutschen und dem britischen System der Alterssicherung lässt sich konstatieren, dass beide sich in der jüngsten Vergangenheit auf ein solches Modell der »gemischten« Wohlfahrtsproduktion zubewegt haben und insoweit zwischen beiden ein Prozess der Konvergenz zu verzeichnen ist. Im Fall Großbritanniens, wo die betriebliche und private Alterssicherung stets eine weit größere Rolle als in Deutschland spielte, ist dabei vor allem auf die oben geschilderte und seit Jahrzehnten zunehmende gesetzliche Regulierung des Marktes für Altersvorsorgeprodukte zu verweisen. Noch weit stärker jedoch war nach 2000 die Annäherungsbewegung auf deutscher Seite ausgeprägt, da die Riester-Reform hier in der Alterssicherungspolitik den Übergang vom Ein- zum Mehrsäulenmodell markierte und sie im gleichen Zug einen »Wohlfahrtsmarkt« entstehen ließ, der von Beginn an hochgradig reguliert war. Die deutsche Alterssicherungspolitik beruht auf der Freiwilligkeit einer zusätzlichen privaten bzw. betrieblichen kapitalgedeckten Altersvorsorge und versucht, ihren Aufbau durch die genannten finanziellen Anreize zu unterstützen. Damit befindet sie sich am liberalen Ende eines internationalen Kontinuums, an dessen anderer Seite die obligatorische Mitgliedschaft in einem kapitalfundierten Rentensystem steht, wie sie beispielsweise 1998 in Schweden mit der auf Kapitalmarkterträgen beruhenden, aber staatlich verwalteten »Premiepension« eingeführt wurde.119 Die britische Lösung der automatischen, aber durch aktiven Widerspruch zu beendenden Mitgliedschaft im 2008 geschaffenen semi-staatlichen Rentenfonds NEST liegt in der Mitte zwischen diesen beiden Polen. Auch Bundesarbeitsminister Riester hatte ursprünglich die von ihm geplante zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge verpflichtend machen wollen, war damit aber auf eine Welle des Widerstands gestoßen. Als fatal erwies sich vor allem, dass die »Bild-Zeitung« seinem Projekt das Prädikat »Zwangsrente« anheftete. Derart gebrandmarkt, wandten sich in der Folge nicht nur weite Teile der veröffentlichten Meinung und die Opposition, sondern auch der grüne Koalitionspartner und Politiker aus den Reihen der SPD gegen den Vorschlag Riesters. Kaum auf der Tagesordnung, war das Thema »Obligatorium« binnen weniger Tage vollständig diskreditiert und verschwand endgültig in der Schublade.120
119 Vgl. Leisering, Privatisierung, S. 208; Anderson u. Immergut, Sweden, S. 362 f., 385 f. 120 Vgl. Minister Riester: Keine Sorge – Zwangsvorsorge, in: taz, 17.6.1999; Kampf um Begriffe, in: FAZ , 19.6.1999; Die Stimmung ist verriestert, in: Süddeutsche Zeitung, 19.6.1999; Codewort eins, zwei oder drei, in: Süddeutsche Zeitung, 28.6.1999; Pflicht zum Risiko, in: Die Zeit, 24.6.1999; Zwang zur Wende, in: Der Spiegel, 30.8.1999; Bürokratisches Monster, in: Der Spiegel, 22.1.2001; Riester, Mut, S. 141 f.; Delhaes, Politik, S. 153–159.
Die Reformen der deutschen Alterssicherung 383
Eine Wirkungsbilanz der politischen Bemühungen zur Förderung der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge ergibt auf Grundlage der bislang zur Verfügung stehenden Daten ein gemischtes Bild. Obwohl eine kausale Zurechnung schwierig ist, bleibt auf der einen Seite festzuhalten, dass die Verbreitung von Formen der privaten oder betrieblichen Alterssicherung seit Anfang der 2000er Jahre deutlich zugenommen hat: Verfügten 2003 noch 73 % der Haushalte über keine zusätzliche Altersvorsorge jenseits des öffentlichen Systems, traf dies 2010 nur noch auf 45 % zu.121 Besonders dynamisch stieg überdies die Anzahl der Riester-Verträge an, die 2011 die Marke von 15 Millionen übersprang.122 Nach einem die Erwartungen der Bundesregierung enttäuschenden Beginn war das vor allem das Ergebnis eines Wachstumsschubes seit 2005, der auf die Vereinfachung der Förderungs- und Zertifizierungsrichtlinien folgte. Auch scheint die Struktur der Riester-Prämien die politisch intendierte Wirkung gehabt zu haben, besonders die Altersvorsorge von Familien mit Kindern zu fördern: Während von den Kinderlosen 2009 lediglich 27 % einen RiesterVertrag abgeschlossen hatten, waren es bei den Personen mit einem Kind 38 %, bei jenen mit zwei Kindern 56 % und bei denen mit drei Kindern 68 %.123 Deutlich schlechter – und das ist die andere Seite der Riester-Bilanz – sah es im Hinblick auf das ebenfalls zentrale und in der Förderstruktur zum Ausdruck kommende Ziel aus, besonders die Bezieher niedriger Einkommen beim Aufbau einer privaten Alterssicherung zu unterstützen. Lediglich ca. ein Viertel der förderberechtigten Haushalte in den beiden untersten Einkommensquintilen nahm 2010 die Riester-Förderung in Anspruch; über andere Formen der zusätzlichen Altersvorsorge wie etwa Betriebsrenten verfügten noch weit weniger von ihnen. Im dritten und vierten Einkommensquintil dagegen hatten ungefähr 45 % der Haushalte einen Riester-Vertrag abgeschlossen; im obersten waren es sogar über 50 %.124 Verantwortlich für dieses der ursprünglichen Förderintention diametral zuwiderlaufende Gefälle scheint neueren Untersuchungen zufolge nicht nur gewesen zu sein, dass Geringverdiener den geforderten Eigenbeitrag nicht aufzubringen in der Lage waren, sondern ebenso, dass sie über ein geringeres Wissen hinsichtlich Förderberechtigung und -höhe verfügten.125 Im Ergebnis ist damit der Löwenanteil der Riester-Förderung, die sich nur für das Jahr 2009 immerhin auf 2,4 Mrd. € aus Steuermitteln belief, als finanzieller Anreiz zum Aufbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung an die Mittelschichten 121 Börsch-Supan, Coppola u. Reil-Held, Riester Pensions, S. 10. Grundlage: SAVE -Daten, Nicht-Ruheständler. Zum SAVE -Datensatz vgl. detailliert Börsch-Supan u. a., German SAVE -Study. 122 BMAS (Hg.), Alterssicherungsbericht 2012, S. 143. 123 Börsch-Supan, Coppola u. Reil-Held, Riester Pensions, S. 16. 124 Coppola u. Gasche, Riester-Förderung, S. 794; Börsch-Supan, Coppola u. Reil-Held, Riester-Pensions, S. 18. 125 Vgl. Coppola u. Gasche, Riester-Förderung, S. 794 ff.
384 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit geflossen, während ein Großteil der später besonders von Altersarmut bedrohten unteren Einkommensgruppen nicht erreicht wurde.126 Das zweite Kernelement der rot-grünen Alterssicherungspolitik war die langfristige Absenkung des Rentenniveaus der Gesetzlichen Rentenversicherung. Bereits die hektische Abfolge der Rentenreformen und zusätzlichen diskretionären Eingriffe in die Rentenanpassung signalisierten den endgültigen Übergang von einer ausgabenorientierten Einnahmen- zu einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik sowie – unmittelbar damit zusammenhängend – den Aufstieg der Beitragsstabilisierung zum vollständig dominierenden Ziel. Nachdem die SPD die von ihr im Wahlkampf als »unsozial«127 angeprangerten Kürzungsmaßnahmen der letzten Blümschen Rentenreform von 1997 unmittelbar nach der Wahl rückgängig gemacht hatte, entschloss sich die neue rot-grüne Regierung angesichts knapper Kassen nur wenig später – 1999 – dazu, die seit dem RRG 1992 geltende Nettolohnanpassung der Renten für die Jahre 2000 und 2001 auszusetzen und durch einen reinen Inflationsausgleich zu ersetzen. Bert Rürup, rentenpolitischer Berater der alten wie der neuen Bundesregierung, sah darin eine »Schocktherapie« und mutige »Radikalkur«, deren rentenkürzende Wirkung er höher veranschlagte als die der noch von der Kohl-Administration beschlossenen Reform.128 Aufgrund eines unerwartet geringen Lohnzuwachses, der sogar noch unter der Preissteigerungsrate lag, wäre es jedoch in 2001 nicht zu dem erhofften Einspareffekt gekommen, so dass die Regierung kurzfristig für dieses Jahr zur Nettolohnanpassung zurückkehrte. 2001 wurde dann im Rahmen der Riester-Reform die Rentenformel geändert. An die Stelle der mit dem RRG 1992 eingeführten Nettolohnanpassung trat die sog. »modifizierte Bruttolohnanpassung«. Die Renten sollten nun wieder der Entwicklung der Bruttolöhne folgen. Rentensteigerungsmindernd wirkten sich jedoch ein Anstieg der Beiträge zur GRV sowie der ebenfalls in der Formel enthaltene »Altersvorsorgeanteil« aus, durch den die schrittweise ansteigende Belastung der Arbeitnehmer durch den Aufbau einer privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge Berücksichtigung finden sollte. Im Ergebnis entsprach die rentensenkende Wirkung dieser Formeländerung ziemlich genau derjenigen des von der SPD zuvor emphatisch abgelehnten »Demographiefaktors«.129
126 BMAS (Hg.), Alterssicherungsbericht 2012, S. 149. Inwieweit bei der Riester-Rente Mitnahmeeffekte eine Rolle spielen, ist umstritten. Vgl. Blank, Riester-Rente, S. 112; Coppola u. Reil-Held, Jenseits staatlicher Alterssicherung, S. 234 ff.; Börsch-Supan, Coppola u. Reil-Held, Riester-Pensions, S. 18 ff.; Jung u. Thöne, Förderung, S. 463; Corneo, Keese u. Schröder, Riester Scheme, S. 329. 127 SPD (Hg.), Arbeit, S. 39. 128 »Jedes System hat seine Risiken«, in: Der Spiegel, 21.6.1999. 129 Neigung zum Nachbessern, in: Der Spiegel, 2.10.2000; Reform vor der Reform, in: Der Spiegel, 25.12.2000.
Die Reformen der deutschen Alterssicherung 385
Schon für 2004 setzte die Regierung die nach der neuen Rentenformel eigentlich vorgesehene Rentenerhöhung aus. Die Renten-Nullrunde war laut Bundeskabinett »ein notwendiger Beitrag der Rentner zur Dämpfung der Beitragssatzentwicklung«.130 Da die bislang ergriffenen Maßnahmen zur Ausgabenbegrenzung angesichts der sich zuspitzenden Krise der Rentenfinanzen und unter der mit Unbedingtheit verteidigten Vorgabe, den Beitragssatz zur GRV unter 20 % zu halten, nicht ausreichten, machte man sich im gleichen Jahr daran, die Rentenformel erneut zu ändern. Entsprechend den Vorschlägen der »Rürup-Kommission« erweiterte das RV-Nachhaltigkeitsgesetz von 2004 sie um den sog. »Nachhaltigkeits«-Faktor, der die auf Dauer erwartete Verschlechterung des rechnerischen Verhältnisses von Rentenempfängern und Beitragszahlern berücksichtigt und faktisch die rentensenkende Wirkung des 2001 eingeführten »Riester«-Faktors verstärkt. Gleichzeitig wurde dem »Nachhaltigkeits«-Faktor mit dem Parameter α eine politische Stellschraube implementiert, mit Hilfe derer in Zukunft vergleichsweise leicht formelintern unerwünschte Rentenerhöhungen reduziert werden können. Seit 2005 wäre die Rentenanpassung aufgrund des Zusammenwirkens von »Nachhaltigkeits«- und »Riester«-Faktor rein formelbedingt in mehreren Jahren negativ ausgefallen. Aufgrund diverser Schutzklauseln, die die Große Koalition im Wahljahr 2009 zu einer allgemeinen, ein Absinken des nominalen Rentenniveaus auch im Falle sinkender Bruttolöhne ausschließenden »Garantieklausel« ausbaute, wurde die drohende Minus-Anpassung jedoch jeweils abgewendet und durch eine NullRunde (2005, 2006, 2010) ersetzt. Die auf diese Weise unterbliebenen Rentenkürzungen wurden unter den verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen ab 2011 sukzessive nachgeholt.131 Die Konsequenzen der zahlreichen Eingriffe in die Modalitäten der Rentenanpassung sind in ihrem quantitativen Ausmaß nicht leicht zu ermessen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die politischen Akteure in dieser Hinsicht kein ausgeprägtes Interesse an Transparenz besaßen. So operierte etwa die Bundesregierung im Zuge der Rentenreform von 2001 und später mit zwei verschiedenen Definitionen des üblicherweise als Maßstab gebrauchten »Nettorentenniveaus«. Während sie für den aktuellen Wert die gebräuchliche Definition des Verhältnisses der Standardrente zum durchschnittlichen Nettoeinkommen zugrunde legte, verminderte sie in der Berechnung des zukünftigen Nettorentenniveaus den Nenner um den »Altersvorsorgeanteil«, so dass sich 130 Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Rentenreform des Jahres 2001 und zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Beschluss der Kabinettsklausur, 19.10.2003. 131 Zu diesem und dem vorangehenden Absatz vgl. allg. Bourcarde, Rentenkrise, S. 209– 227; ders., Reform; Berner, Der hybride Sozialstaat, S. 134 f.; Hinrichs, New Century, S. 57 f.; Steffen, Anpassung; Schmähl, Ergänzung, S. 154–175; ders., Paradigm Shift; Blank, Soziale Rechte, S. 70–101.
386 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit das Rentenniveau künstlich erhöhte und die Auswirkungen der Reformmaßnahmen weniger dramatisch erschienen.132 Seit 2005 ist ein zeitübergreifender Vergleich des Rentenniveaus zusätzlich dadurch erschwert, dass von der offiziellen Statistik nun nur noch das Standardrentenniveau netto vor Steuern ausgewiesen wird, da beginnend mit 2005 aufgrund des schrittweisen Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung jeder neue Rentnerjahrgang einen höheren Anteil seiner Rente zu versteuern hat und daher die Berechnung eines einheitlichen Nettorentenniveaus nach Steuern nicht mehr möglich ist. Selbst die Entwicklung des aus diesem Grund nur begrenzt aussagekräftigen Standardrentenniveaus vor Steuern jedoch zeigt einen eindeutigen Abwärtstrend: Hatte die Eckrente 1985 noch bei 57,4 % des durchschnittlichen Jahresentgelts gelegen (nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge, aber vor Steuern), waren es 2012 nur noch 49,6 %; für 2026 ist ein weiterer Abfall auf 46,0 % prognostiziert.133 Noch weit drastischer allerdings stellte sich die Absenkung des Rentenniveaus dar, wenn man – wie das 2004 der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger in einem Gutachten tat – die ursprüngliche Definition des Nettorentenniveaus (nach Steuern) zugrunde legte: Hatte diese Maßzahl seit Mitte der 1970er Jahre um die 70 %-Marke geschwankt, ergab die VDR-Modellrechnung bereits für die Rentenzugänge des Jahres 2015 eine deutliche Reduktion auf 62,5 %; bis 2030 sollte dann der Prognose zufolge das Zusammenspiel von verlangsamter Rentenanpassung und wachsender Steuerlast dazu führen, dass die Nettorente eines Neu-Standardrentners nur noch 52,2 % des Durchschnittsverdienstes betrug.134 Seit der Rentenreform von 1957 war die grundlegende Ordnungsvorstellung des bundesdeutschen Rentensystems die Idee der »Lebensstandardsicherung« gewesen, in der sich das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und des Status erhalts mit dem Grundsatz der Beteiligung der Älteren am steigenden gesellschaftlichen Wohlstand verband (vgl. Kap. II.2). Auch angesichts der sich verschlechternden ökonomischen und fiskalischen Lage war diese Norm in den 1970er und 1980er Jahren nicht aufgegeben worden; vielmehr hatte das RRG 1992 ihr numerisch Ausdruck verliehen, indem es das Nettorentenniveau faktisch bei 70 % des Durchschnittsentgelts festschrieb (vgl. Kap. VI.3). Die auf eine kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus hinauslaufenden Reformgesetze seit der Jahrtausendwende markierten hier einen klaren Bruch: Dass zukünftig von einer lebensstandardsichernden Funktion der gesetzlichen Rente nicht mehr die Rede sein könnte, lag auf der Hand. Das ist von Politikern der rot-grünen Regierungskoalition und allen voran von Bundesarbeitsminister Riester
132 Vgl. BT Drs. 14/5146, S. 7, im Zusammenhang mit BGBl. 2001, Teil 1, Nr. 13, S. 408. 133 Zahlen: DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2012, S. 260; Renten versicherungsbericht 2012, BT Drs. 17/11740, S. 24. 134 VDR (Hg.), Stellungnahme zum RV-Nachhaltigkeitsgesetz, S. 30.
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auch immer wieder explizit mitgeteilt worden.135 Gleichzeitig spricht es für die anhaltende normative Geltung und die große Popularität des Prinzips der Lebensstandardsicherung, dass die Bundesregierung es nicht einfach aufgab, sondern versuchte, es semantisch vom Ein- auf das Mehrsäulensystem zu übertragen. Das Ziel der Lebensstandardsicherung sollte in Zukunft nicht mehr allein durch die Renten der GRV, sondern durch sie und eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge gemeinsam erreicht werden. Mit der staatlichen Förderung der betrieblichen bzw. privaten Altersvorsorge, führte etwa der Gesetz entwurf zum Altersvermögensgesetz von 2001 aus, werde »die Alterssicherung auf eine breitere finanzielle Grundlage gestellt, die es ermöglich[e], die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter zu gewährleisten«.136 Die Vereinnahmung des Lebensstandardsicherungsziels durch die dem Mehrsäulenparadigma verpflichtete Alterssicherungspolitik verdichtete sich in dem von der Bundesregierung neu eingeführten Begriff des »Gesamtversorgungsniveaus«, der die Summe der Standardrenten aus der GRV und einem idealtypischen Riester-Vertrag ins Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen setzte. Das »Gesamtversorgungsniveau«, rechnete die Bundesregierung seither immer wieder vor, würde das bisherige Sicherungsziel von 70 % des Durchschnittsentgelts sogar noch übertreffen, da die ansteigenden Erträge aus der privaten Altersvorsorge das sinkende Rentenniveau der GRV mehr als kompensierten.137 Das Prinzip der Lebensstandardsicherung ließ sich auf diese Weise weiter als politische Zielsetzung reklamieren. In die Neufassung der Lebensstandardsicherungsvorstellung ist freilich nicht nur die Verschiebung der Verantwortung vom Staat zum Individuum eingelassen, das nun auf dem Wege der zwar staatlich geförderten, aber auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit basierenden privaten Altersvorsorge einen wachsenden Teil des »Gesamtversorgungsniveaus« selbst zu erbringen hat.138 Vielmehr erscheint es auch mehr als fraglich, ob die private Altersvorsorge die ihr zugeschriebene Kompensationsfunktion in der Lage zu erfüllen ist und ob daher tatsächlich von einer Aufrechterhaltung des Lebensstandardsicherungsziels in modifizierter Form gesprochen werden kann. Erstens nämlich hat die Freiwilligkeit der privaten Alterssicherung zur Folge, dass ein nicht unerheblicher Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von immerhin fast 30 % überhaupt keine zusätzliche Altersvorsorge betreibt und daher im Alter ausschließlich auf die in ihrem Niveau absinkende Rente der GRV angewiesen 135 Vgl. etwa Walter Riester hält trotz der Kritik an seinen Rentenplänen fest, in: FAZ , 19.6.1999; »Wir haben keine Zeit mehr«, in: Der Spiegel, 30.8.1999; Ulla Schmidt: Zweite Säule bei der Alterssicherung unerläßlich, in: FAZ , 23.6.1999; Katrin Göring-Eckardt, BT 14/133 (16.11.2000), S. 12762; Thea Dückert, BT 14/133 (16.11.2000), S. 12771. 136 BT Drs. 14/4595. 137 BT Drs. 14/9503, S. 4, 33; Rentenversicherungsbericht 2002, BT Drs. 15/110, S. 10, 58. 138 Vgl. hierzu und zum Vorangehenden auch Berner, Der hybride Sozialstaat, S. 174–179.
388 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit sein wird.139 Zweitens lässt eine empirische Überprüfung der am Markt vertretenen Riester-Produkte Zweifel angebracht erscheinen, ob die von der Bundesregierung in ihren Modellrechnungen für Riester-Verträge stets unterstellten Annahmen einer Rendite von 4 % und von Verwaltungskosten in Höhe von 10 % nicht zu optimistisch sind. Wird die langfristige Zinserwartung jedoch unterschritten und liegen die Verwaltungskosten höher als angenommen, lassen sich auch die prognostizierten Rentenleistungen aus der privaten Altersvorsorge nicht erreichen; das angestrebte »Gesamtversorgungsniveau« wird verfehlt.140 Drittens ist damit zu rechnen, dass das anvisierte Lebensstandardsicherungsziel sogar dann, wenn es zum Zeitpunkt des Rentenzugangs erreicht würde, mit voranschreitendem Alter regelmäßig unterschritten wird, da die meisten Riester-Renten entweder überhaupt nicht oder in zu geringem Umfang dynamisiert sind, um mit dem Wachstum der Löhne Schritt zu halten.141 Viertens schließlich weisen die Rentenversicherungsberichte der Bundesregierung seit 2004 lediglich ein einigermaßen gleichbleibendes »Gesamtversorgungsniveau« vor Steuern aus.142 Angesichts der aufgrund des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung mit jedem Rentnerjahrgang ansteigenden steuerlichen Belastung ist damit aber zwangsläufig – von der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit so gut wie unbeachtet – ein Absinken des Versorgungsniveaus im Alter nach Abzug der Steuern verbunden. Von einer erfolgreichen Verteidigung der Lebensstandardsicherung in ihrer bisherigen Höhe kann nach all dem kaum die Rede sein. Das dritte Kernelement der Rentenreformen nach 2000 jenseits der Teilprivatisierung der Altersvorsorge und der Absenkung des Rentenniveaus war die Erhöhung des Rentenalters. 2007 verabschiedete die Große Koalition unter Federführung des sozialdemokratischen Arbeitsministers Franz Müntefering das »RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz«, durch das die Regelaltersgrenze von 2012 bis 2029 schrittweise von 65 auf 67 angehoben wird. Zwar sollte für »langjährig Versicherte« (mit 35 Beitragsjahren) weiterhin die Möglichkeit bestehen, mit frühestens 63 in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen, doch müssen sie hierfür dauerhafte Rentenabschläge in Kauf nehmen, die sich auf 3,6 % pro Jahr belaufen und in ihrer Summe aufgrund des wachsenden Abstands 139 Vgl. BMAS (Hg.), Alterssicherungsbericht 2012, S. 156. 140 Vgl. Rentenversicherungsbericht 2012, BT Drs. 17/11740, S. 24; Gutachten des Sozial beirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012, BT Drs. 17/11740, S. 87 f.; Gasche u. a., Kosten der Riester-Rente; Börsch-Supan u. Gasche, Riester-Rente. 141 Vgl. Schmähl, Die wachsende Bedeutung; Künemund u. a., Rentenanpassung; BörschSupan u. Gasche, Riester-Rente, S. 15, 20 ff. 142 Vgl. etwa Rentenversicherungsbericht 2004, BT Drs. 15/4498, S. 25; Rentenversicherungsbericht 2005, BT Drs. 16/905, S. 25; Rentenversicherungsbericht 2012, BT Drs. 17/11740, S. 24.
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zum gesetzlichen Rentenalter ansteigen. Die Anhebung der Regelaltersgrenze bildete lediglich den vorläufigen Schlussstein einer bis zum 1989 beschlossenen RRG 1992 zurückreichenden Politik, die auf die Abschaffung von Frühverrentungsmöglichkeiten und die Anhebung des Rentenalters zielte und seit Mitte der 1990er Jahre eine deutliche Beschleunigung erfahren hatte. Vorgezogene Ausstiege aus dem Erwerbsleben wie das Altersruhegeld für Frauen und Arbeitslose mit 60 waren im Zuge dieser Entwicklung zunächst mit Abschlägen belegt und schließlich ganz dichtgemacht worden, wobei die ursprünglich vorgesehenen Übergangsfristen zwischenzeitlich drastisch verkürzt worden waren.143 Die deutschen Maßnahmen zur Eindämmung der Frühverrentung waren Teil eines breiten internationalen Trends zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit, dem sich angesichts der demographischen Alterung mehr und mehr Industrieländer anschlossen. In Großbritannien fiel die Entscheidung zur Anhebung der Regelaltersgrenze – wie oben dargelegt – im selben Jahr wie in Deutschland.144 Genau wie das im Vereinigten Königreich der Fall war, setzte die Bundesregierung dabei explizit die Empfehlung einer Expertenkommission, der Rürup-Kommission, in die Tat um – einer Empfehlung, vor deren Verwirklichung die rot-grüne Koalition wenige Jahre zuvor noch zurückgeschreckt war. Der sozialpolitische Gleichschritt war nicht nur das Ergebnis aufmerksamer gegenseitiger Beobachtung und eines regen internationalen Wissenstransfers unter rentenpolitischen Experten. Vielmehr war er auch Ausfluss einer gemein samen europäischen Agenda, die gemäß Beschluss des Europäischen Rates von 2001 darauf abzielte, bis 2010 die Beschäftigungsquote älterer Menschen zwischen 55 und 65 Jahren auf 50 % zu steigern.145 Auch in Großbritannien löste die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters, wie repräsentative Meinungsumfragen dokumentieren, keine Begeisterungsstürme aus und wird in der Bevölkerung nach wie vor überwiegend kritisch beurteilt.146 Von der breiten Ablehnung, die der Erhöhung der Regelaltersgrenze in Deutschland entgegenschlug, waren die britischen Verhältnisse jedoch weit entfernt. Anfang 2007 lehnten in der Bundesrepublik 80 % der im Rahmen einer Telefonumfrage Befragten die Erhöhung des Renteneintrittsalters ab.147 Und auch 2012 sprachen sich noch 64 % der Deutschen dafür aus, die »Rente mit 67« auszusetzen.148 Vor allem aber entfesselten die Gewerkschaften in der Bundes143 Vgl. etwa Schmähl, Kriterien, S. 592 f.; ders., Ergänzung, S. 177 ff.; Reimann, Anmerkungen; Ruland, Gesetzliche Rentenversicherung im Wandel, S. 39 f. 144 Vgl. oben, Kap. VII .3. 145 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen, Ziff. 9. 146 Vgl. DWP, Attitudes to Pensions 2012, S. 88; DWP, Attitudes to Pensions 2009, S. 130; Hills, Pensions. 147 Bauknecht, Einstellungen, S. 185. 148 Forsa-Umfrage vom 5. und 6.1.2012 (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/12996/ umfrage/beibehaltung-oder-ruecknahme-der-rente-ab-67/).
390 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit republik eine Welle des dauerhaften Protestes gegen die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters, der im Vereinigten Königreich keine ähnlich entschiedene Opposition gegenüberstand.149 Als Hauptargument gegen eine Erhöhung der Regelaltersgrenze brachten die Gewerkschaften vor, dass ihre Mitglieder aufgrund gesundheitlicher Probleme oder der für ältere Arbeitnehmer schwierigen Arbeitsmarktsituation überhaupt nicht die Gelegenheit hätten, länger zu arbeiten, sie daher zusätzliche Rentenabschläge in Kauf nehmen müssten und die Hinausschiebung des Rentenalters folglich nichts anderes als eine »verkappte Rentenkürzung« darstelle.150 Im Gegensatz zu den zum Teil mit empfindlichen Leistungskürzungen verbundenen Reformgesetzen der Vorjahre, gegen die der Protest der Arbeitnehmerverbände eher moderat ausgefallen war, avancierte die »Rente mit 67« für die Gewerkschaften zu einer Frage von symbolischer Bedeutung. Einen wesentlichen Grund für den massiven und im Vergleich zu Groß britannien weit entschiedeneren Widerstand der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen gegen die Anhebung der Regelaltersgrenze bildet die zentrale Rolle, die der Gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der deutschen Altersvorsorge zukommt. Während eine Heraufsetzung des offiziellen Renten eintrittsalters in der Bundesrepublik für die meisten tatsächlich mit einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit oder erheblichen materiellen Einbußen im Alter verbunden ist, besitzt in Großbritannien die staatliche Rente für viele Arbeitnehmer im Vergleich zu ihrer privaten Altersvorsorge eine untergeordnete Bedeutung und ist damit die gesetzliche Altersgrenze auch weniger entscheidend für den faktischen Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben.151 Hinzu kommt das aufgrund der vergleichsweise komfortableren Alterssicherung in der Bundesrepublik traditionell positiver besetzte Bild des Ruhestands als einer materiell sorgenfreien Lebensphase, mit dem im Vereinigten Königreich bei nicht wenigen die Angst vor dem materiellen Absturz im Alter kon trastiert. Eng hiermit zusammen hing wiederum der hohe Stellenwert, den die deutschen Gewerkschaften seit den 1960er Jahren der Forderung nach Verkürzung der Lebensarbeitszeit eingeräumt hatten. Nachdem ihnen die Herabsetzung des Renteneintrittsalters lange Zeit als Einbahnstraße des sozialen Fortschritts gegolten hatte, wirkte seine erstmalige Anhebung auf viele Gewerkschaftler wie eine Zeitenwende und ein Symbol gewerkschaftlichen Machtverlustes. 149 Vgl. nur IG Metall, Rente mit 67; DGB -Bundesvorstand, Gewerkschaftliche Anforderungen, S. 3 f.; DGB macht Front gegen Rente mit 67, in: Die Welt, 18.1.2007; DGB will Rente mit 67 zum Wahlkampfthema machen, in: FAZ , 2.5.2007; Rente mit 67 kommt trotz heftiger Proteste, in: FAZ , 17.11.2010. 150 DGB kritisiert »Rente mit 67« als verkappte Rentenkürzung, 14.6.2006 (http://sh-nord west.dgb.de/presse/++co++be16d5e8-6e8f-11e0-77b5-00188b4dc422). 151 Vgl. Klitzke, Resisting.
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Die Ende 2013 ihre Arbeit aufnehmende Große Koalition (drittes Kabinett Merkel) hat auf den Unmut in der Bevölkerung und den gewerkschaftlichen Druck reagiert, indem sie unmittelbar nach ihrer Amtsübernahme die Regelungen der »Rente mit 67« für bestimmte Jahrgänge und einen begrenzten Kreis von Beitragszahlern außer Kraft gesetzt hat. Nach der von der SPD durchgesetzten und bereits am 1. Juli 2014 mit dem »RV-Leistungsverbesserungsgesetz« (Rentenpaket 2014) in Kraft getretenen Neuregelung können »besonders langjährig Versicherte« mit 45 Beitragsjahren – eine erst 2007 eingeführte neue Kategorie – nun bereits mit 63 ohne Abschläge in den Ruhestand gehen. Diese »Rente mit 63« gilt allerdings nur für die Geburtsjahrgänge bis einschließlich 1952 in vollem Umfang. Danach steigt die Altersgrenze jährlich um zwei Monate an, so dass für die »besonders langjährig Versicherten« der Alterkohorten ab 1964 wieder die bereits zuvor geltende Sonderregelung einer abschlagsfreien Rente mit 65 gilt. Eine erste Bilanz der politischen Bemühungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit – für eine Beurteilung der Auswirkungen der »Rente mit 67« ist es angesichts der gerade erst begonnenen schrittweisen Heraufsetzung der Regelaltersgrenze noch viel zu früh – fällt ambivalent aus. Unstrittig ist zunächst, dass die Maßnahmen zum Abbau von Frühverrentungsoptionen im Hinblick auf ihr Ziel, die Erwerbsphase zu verlängern, hochgradig erfolgreich waren. Die Erwerbsquote der 60–64jährigen Männer – also der Anteil der Erwerbspersonen (inklusive der Arbeitslosen) an der Wohnbevölkerung in dieser Altersgruppe –, die in Deutschland in den 1990er Jahren auf unter 30 % gefallen war (vgl. oben, Kap. VI.2), stieg ab der Jahrtausendwende in rasantem Tempo an, überschritt bereits 2005 die 40 %-, 2009 die 50 %-Marke und erreichte schließlich 2012 einen Wert von 58,9 %. Damit liegt sie inzwischen oberhalb des Durchschnitts der OECD -Länder (2012: 56,7 %) und hat sich vollständig an das britische Niveau angenähert (2012: 58,8 %), das freilich niemals nennenswert unter 50 % gefallen war. Ein noch dramatischeres Wachstum verzeichnete die Erwerbsquote der 60–64jährigen deutschen Frauen: Hatte sie Anfang der 1990er Jahre bei unter 10 % gelegen, während in Großbritannien ebenso wie im Durchschnitt der OECD -Länder zu dieser Zeit ungefähr ein Viertel der Frauen im gleichen Alter zur Erwerbsbevölkerung zählte, stieg sie bis Anfang der 2000er Jahre zunächst langsam, danach rapide an und kletterte bis 2012 auf ein Niveau von 41,1 %, das den britischen und den OECD -Referenzwert übertraf.152 Der klare statistische Trend in Richtung einer Verlängerung der Erwerbsphase bleibt auch erhalten, wenn man statt der Erwerbs- die Erwerbstätigenquote in den Blick nimmt, wenn man die Ergebnisse um demographische Effekte bereinigt und wenn man berücksichtigt, dass gerade unter den westdeutschen Frauen die Erwerbsbeteiligung insgesamt gestiegen ist. Alles spricht mithin dafür, dass 152 Alle Zahlen: OECD.Stat.
392 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit die veränderten institutionellen Rahmenbedingungen zur Konsequenz hatten, dass ungefähr seit der Jahrtausendwende jede neue Geburtskohorte den Zeitpunkt des Austritts aus dem Erwerbsleben weiter hinausgeschoben hat als die vorangehende.153 Die durch die Maßnahmen zur Anhebung des Renteneintrittsalters verursachten Probleme liegen unterhalb der Makroebene der durchschnittlichen Verlängerung der Erwerbsphase und der von ihr ausgehenden Entlastungswirkung auf die Rentenfinanzen. Erst wenn man die Ebene der gesamtgesellschaftlich aggregierenden Daten verlässt, zeigt sich, dass verschiedene soziale Gruppen in ausgesprochen ungleicher Weise vom neuen Altersgrenzenregime betroffen sind. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass die Arbeitsmarktchancen älterer Menschen je nach Qualifikation und beruflicher Tätigkeit massiv voneinander differieren. So belief sich 2008 die Erwerbstätigenquote der 60–64jährigen mit Hochschulabschluss auf 54,3 %, wohingegen in der gleichen Altersgruppe lediglich 24,9 % der Personen ohne Berufsabschluss erwerbstätig waren.154 Für viele hochqualifizierte Arbeitnehmer gestaltet sich angesichts dessen die Altersgrenzenanhebung als vergleichsweise unproblematisch, da sie entweder weiter in ihrem angestammten Beruf erwerbstätig bleiben können oder aber – bei ausreichender anderweitiger Altersvorsorge – die Wahlfreiheit besitzen, bereits mit 63 in Ruhestand zu gehen und dafür Rentenabschläge zu akzeptieren. Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums steht ihnen eine sich immerhin auf ein Viertel bis ein Drittel der Neuzugänge zur Altersrente belaufende Gruppe von überwiegend in manuellen – einfachen, aber auch qualifizierten – Berufen tätigen Arbeitnehmern gegenüber, deren Übergang in den Ruhestand als »prekär« zu bezeichnen ist. Zu ihnen gehören vor allem die Langzeitarbeitslosen (Arbeitslosigkeit oder Krankheit in den letzten drei Jahren vor Rentenbeginn) sowie jene, bei denen dem Rentenantritt eine kürzere Phase der Arbeitslosigkeit voranging, die aber hohe Rentenabschläge in Kauf zu nehmen hatten. Gerade für diese soziale Problemgruppe schlugen sich die veränderten Bedingungen des Rentenübergangs in den letzten Jahren in einem deutlichen Rückgang der Altersrentenleistungen nieder.155 Gleichzeitig reagierten zahlreiche Arbeitnehmer auf die Schließung der verschiedenen Frühverrentungspfade, indem sie in verstärktem Maß – und zum großen Teil ebenfalls unter Inkaufnahme hoher Abschläge – die beiden einzigen verbliebenen Wege in den vorzeitigen Ruhestand nutzten: Der Anteil der Erwerbsminderungsrenten an den Rentenzugängen insgesamt stieg von 2005 = 17,5 % auf 2010 = 21,3 %, jener der 153 Vgl. BMAS (Hg.), Aufbruch, S. 43–53; Mümken u. Brussig, Alterserwerbsbeteiligung; Brussig, Höhere Alterserwerbsbeteiligung; Brussig, Schriftliche Stellungnahme, BT Ausschussdrs. 17(11)396neu; Bäcker, Kistler u. Stapf-Finé, Rente mit 67?, S. 22 ff.; Gasche u. a., Zehn Missverständnisse, S. 17 ff. 154 DGB (Hg.), Rente mit 67?, S. 13. Vgl. Brussig, Erwerbstätigkeit im Alter. 155 Vgl. Brussig, Weiter steigendes Renteneintrittsalter, S. 12–19.
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Schwerbehindertenrenten im gleichen Zeitraum von 7,0 auf 10,1 %.156 Auch hier waren die manuellen Berufgsgruppen deutlich überproportional vertreten.157 Nachdem der Generationengerechtigkeitsdiskurs die Dimension der intragenerationellen Gerechtigkeit zeitweise so gut wie vollständig verdeckt hatte, drängte mit der Debatte über Altersarmut in den letzten Jahren wieder verstärkt eine Frage der »klassischen« Verteilungsgerechtigkeit in den Vordergrund. Verantwortlich hierfür waren die scharfen Auseinandersetzungen über die »Rente mit 67«, und – untrennbar damit verbunden – der wachsende Einfluss einer kritischen Sichtweise auf die sozialen Auswirkungen der jüngsten Alterssicherungsreformen, die von den Gewerkschaften, den Sozialverbänden und der politischen Linken ihren Ausgang nahm, bald aber auch die Regierungsbänke der neuen christlich-liberalen Koalition erreichte. Hinzu kam, dass die Finanzkrise seit 2008 mit ihrem Crash an den Aktienmärkten und der von ihr provozierten Niedrigzinspolitik der Zentralbanken die Formen der privaten Altersvorsorge, deren Förderung einen Schwerpunkt der bundesdeutschen Reformpolitik gebildet hatte, nachhaltig in Misskredit brachte. Freilich besitzt die Altersarmut, die im Mittelpunkt der besonders seit 2008 Fahrt aufnehmenden Debatte steht, gegenwärtig nicht die Qualität eines drängenden sozialen Problems. Zwar ist das Risiko relativer Einkommensarmut im Alter – wie oben ausführlich geschildert – seit der Jahrtausendwende wieder gewachsen, doch bewegt sich die Alterarmutsquote dabei nicht oberhalb des gesellschaftlichen Durchschnitts, sondern liegt – je nach Datenquelle und Berechnungsverfahren – eher etwas darunter. Im europäischen Vergleich gehört Deutschland nach wie vor zu den Ländern mit einer niedrigen Altersarmut. Auch die in der politischen Debatte immer wieder angeführte Zunahme des Empfängerkreises der von der rot-grünen Regierung neu eingeführten Grundsicherung im Alter – einer standardisierten Sozialhilfeleistung ohne Unterhaltsrückgriff auf die Kinder –, die von 2003 bis 2010 immerhin 60 % betrug, sollte in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden.158 Selbst nach diesem Anstieg der Bezieherzahl waren es nämlich 2010 nicht mehr als 2,5 % der Bevölkerung über 65 Jahren, die die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung in Anspruch nahmen. Ihnen stand im gleichen Jahr ein weit höherer Anteil von 10,3 % der Menschen im Alter bis zu 65 Jahren gegenüber, die eine Leistung der Grundsicherung für Arbeits suchende nach dem SGB II erhielten.159 Die Debatte über Altersarmut bezieht ihre Sprengkraft daher weniger aus der aktuellen sozialen Lage der Alten als aus einem zunehmend breit akzeptierten Zukunftsszenario. Tatsächlich besitzen Überlegungen, die auf mitt156 DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2012, S. 67. 157 Vgl. Bäcker, Kistler u. Stapf-Finé, Rente mit 67?, S. 31. 158 Eigene Berechnungen nach: Daten zur Altersarmut, S. 369. 159 Bäcker, Altersarmut, S. 69 f.; http://www.sozialpolitik-aktuell.de/sozialstaat-datensamm lung.html#grusi-systeme-1783.
394 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit lere und lange Frist von einem signifikanten Anstieg der Altersarmut ausgehen, ein hohes Maß an Plausibilität. Verantwortlich für diese Entwicklung sind vor allem zwei Faktorenkomplexe. Der erste lässt sich unter Stichworten wie »Wandel der Arbeitsgesellschaft« oder »Entstandardisierung von Erwerbsbiographien« subsumieren.160 Der Anstieg von Arbeitslosigkeit und insbesondere von Langzeitarbeitslosigkeit, der Rückgang der Vollzeitbeschäftigten und der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, das rasante Wachstum der Teilzeitarbeit, die Zunahme gebrochener Erwerbslebensläufe und die Ausbreitung des Niedriglohnsektors – all das hat zur Folge, dass sich die realen Erwerbsbiographien immer weiter vom Standardlebenslauf des GRV-»Eckrentners« mit seinen 45 Beitragsjahren entfernen. Eine wachsende Zahl von Ver sicherten werden am Ende ihres Erwerbslebens in Zukunft eine stark verkürzte Beitragsdauer und eine ausgesprochen niedrige Entgeltposition aufweisen.161 Erste Anzeichen hierfür gibt es bereits. So zeigt eine Analyse, die ihren Blick ausschließlich auf die Rentenneuzugänge richtet, dass in Westdeutschland die Rentenansprüche der männlichen Neurentner im Vergleich zu früheren Rentenjahrgängen in den letzten Jahren im Durchschnitt tendenziell gesunken sind und dass dieser Rückgang vor allem die unteren Dezile traf. Noch weit dramatischer jedoch stellt sich der Schwund der Rentenanwartschaften bei den ostdeutschen männlichen Rentenzugängen dar; hier schlagen nun bei vielen die langen Zeiten der Arbeitslosigkeit seit Anfang der 1990er Jahre negativ zu Buche.162 Fatal im Hinblick auf die Armutsprävention wird sich in Zukunft an dieser Stelle auswirken, dass das deutsche Rentensystem aufgrund seiner geringen Umverteilungswirkung eine im OECD -Vergleich extrem niedrige Nettolohnersatzrate für Geringverdiener besitzt (55,6 %, UK : 67,5 %, OECD 34: 72,0 %).163 Gleichzeitig aber verfügen gerade die unteren Einkommensschichten über deutlich unterproportionale Ansprüche aus einer zusätzlichen privaten oder betrieblichen Altersvorsorge. Der zweite Grund für die steigende Gefahr von Altersarmut ist die bereits eingehend skizzierte Absenkung des Rentenniveaus. Die Abänderungen der Rentenformel durch die Reformen seit der Jahrtausendwende haben dazu geführt, dass die Renten den Löhnen nur noch gebremst folgen. Aufgrund dessen müssen Arbeitnehmer in Zukunft immer länger in die GRV einzahlen, um eine Rentenleistung auch nur in Höhe der staatlichen Grundsicherung zu erhalten. Brauchte ein Durchschnittsverdiener bei dem vom RRG 1992 festgelegten 160 Vgl. hierzu auch Wirsching, Erwerbsbiographien. 161 Vgl. Bäcker u. Schmitz, Altersarmut, S. 37 f.; Bourcarde, »Alter in Not«, S. 457–460; Geyer u. Steiner, Künftige Altersrenten; Steffen, Reformvorschläge; ders., Gebrochene Erwerbsbiografien. 162 Vgl. Frommert u. Himmelreicher, Angleichung, S. 352–367; Datenreport 2011, S. 281–285. 163 Nettolohnersatzrate eines Geringverdieners mit einem Einkommen in Höhe von 50 % des Durchschnittsentgelts. Vgl. OECD, Pensions at a Glance 2011, S. 125.
Die Reformen der deutschen Alterssicherung 395
Nettorentenniveau von 70 % des Durchschnittsentgelts noch annähernd 26 Beitragsjahre, um eine Rente auf dem Niveau dieser politisch gesetzten Armutsgrenze zu erzielen, werden es unter Berücksichtigung aller beschlossenen Gesetzesänderungen 2030 – ceteris paribus – 35, bei einem Verrentungsalter von 65 aufgrund der dann anfallenden Abschläge sogar 37 Beitragsjahre sein.164 Auch die Rentenniveausenkung und die mit ihr langsam einhergehende Abkopplung der Rentner von den Lohnempfängern haben bereits erste statistisch nachvollziehbare Spuren hinterlassen: Während die Reallöhne seit längerem lediglich leichte Schwankungen um die Nullinie aufweisen und heute ziemlich genau auf dem gleichen Niveau wie Mitte der 1990er Jahre liegen, hat die zuvor sich im Gleichschritt mit den Löhnen bewegende preisbereinigte Nettostandardrente (vor Steuern) durch die Rentenreformen der Jahre nach 2000 kontinuierlich an Wert verloren; 2011 lag sie 10,3 % niedriger als 2003.165 Mindestens im gleichen Maße wie sie eine Reaktion auf das Zukunftssze nario einer wachsenden materiellen Unterprivilegierung älterer Menschen darstellen, sind die gegenwärtige Debatte über Altersarmut und die zu ihrer Vermeidung unterbreiteten politischen Vorschläge aber Ausdruck der normativen Orientierungslosigkeit der deutschen Alterssicherungspolitik. Der rentenpolitische Umbau seit der Jahrtausendwende hat das seit der Rentenreform von 1957 in der deutschen Rentenversicherung so wichtige Leistungsprinzip zwar formell unangetastet gelassen. Gleichwohl verliert es infolge der mit der Renten niveauabsenkung verbundenen Stauchung der Rentenungleichheitsspanne zunehmend an Bedeutung. Die im System der deutschen Rentenversicherung vormals stark ausgeprägte Norm der Gleichheit zwischen den Altersgruppen wurde faktisch ebenso aufgegeben wie das Ziel der Statussicherung im Alter. Während das deutsche Rentensystem bislang vorwiegend auf Lebensstandardsicherung ausgerichtet war, scheint sich nun – eine weitere Annäherung an die britischen Verhältnisse – die Vermeidung von Altersarmut als primäres Sicherungziel zu etablieren. Der Verschiebung der Zielsetzung korrespondiert eine strukturelle Analogie in den meisten der parteipolitischen Vorschläge zur Altersarmutsprävention – mögen sie nun »Solidarrente«, »Garantierente« oder »Lebensleistungsrente« heißen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in ihren Plänen für eine oberhalb der bisherigen Grundsicherung liegende Mindest sicherung für langjährige Beitragszahler mit dem allgemeinen Grundsatz der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz brechen und für eine bestimmte Gruppe Leistungsgerechtigkeit im Sinne von Teilhabegerechtigkeit umdeuten. Gleichzeitig versuchen sie auf diese Weise, einem Legitimations- und Anreizproblem zu ent164 Vgl. Schmähl, Gründe, S. 398; ders., Einige Thesen, S. 5; ders., Gesundheits- und Alterssicherung, S. 43. 165 Standardrente mit 45 Versicherungsjahren netto vor Steuern: Eigene Berechnungen nach DRV (Hg.), Rentenversicherung in Zeitreihen, Ausgabe 2012, S. 260, 274. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Verdienste und Arbeitskosten, 2. Vierteljahr 2013, S. 6.
396 Alterssicherung und Generationengerechtigkeit kommen, das aus Alterssicherungssystemen wie dem britischen bekannt ist und sich daraus ergibt, dass in ihnen die durch langjährige Beitragszahlung erworbene Rente häufig kaum den bei Bedürftigkeit jedem zustehenden Sozialhilfesatz übersteigt. In aller Deutlichkeit lassen gegenwärtig Problemdiagnose und Lösungskonzepte erkennen, wie weit die deutsche Rentenpolitik sich von ihrem früheren normativen Zentrum entfernt hat.
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Sowohl in Großbritannien als auch in Westdeutschland kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer grundstürzenden Neuordnung der Alterssicherung. In beiden Fällen spielten dabei Gerechtigkeitsideen – Vorstellungen davon, wie die Einkommen im Alter gerecht zu verteilen, aber auch wie hoch sie im Verhältnis zu denen der Jüngeren zu bemessen seien – eine entscheidende Rolle. Einmal in die institutionelle Matrix des Wohlfahrtsstaats eingeschrieben, verfestigten die Gerechtigkeitsprinzipien sich nicht nur in Form der auf ihrer Grundlage erworbenen Rentenanwartschaften und in der von ihnen ganz wesentlich mitgestalteten sozialen Wirklichkeit der Alten. Sie prägten auch tiefgreifend die Einstellungen und den Erwartungshorizont der Menschen sowie den normativen Haushalt der politischen Akteure, der Parteien und Verbände. Auf diese Weise bildeten sich in beiden Ländern auf dem Gebiet der Alterssicherung deutlich voneinander differierende »Gerechtigkeitskulturen« heraus, die ihr erhebliches Maß an Veränderungsresistenz und Dauerhaftigkeit daraus bezogen, dass in ihnen institutionelle Regelungen und Strukturen sozialer Ungleichheit, politische Diskurse und gesellschaftlich vorherrschende Normen in einem sich wechselseitig stabilisierenden Wirkungszusammenhang standen. Der moderne britische Wohlfahrtsstaat war ein Kind des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Bereich der Alterssicherung setzte die neue Labour-Regierung 1946 in modifizierter Form jene Vorschläge um, die eine Kommission unter Leitung von Sir William Beveridge wenige Jahre zuvor erarbeitet hatte. Aufbauend auf einer spannungsreichen Verbindung von Universalitätsanspruch und Sozialversicherungskonzept, orientierte sich das neue Rentensystem auf seiner Leistungsseite klar am Gleichheitsprinzip: Jeder Beitragszahler sollte nach dem Erreichen des Ruhestandsalters eine gleich hohe, in ihrer Höhe freilich knapp bemessene, am Existenzminimum ausgerichtete Pauschalrente erhalten. Die Einheitlichkeit der Rentenleistungen – und anfangs auch der Beiträge – hatte nicht nur den Vorzug administrativer Einfachheit und entsprach der von Beveridge favorisierten Praxis. Vielmehr trugen die Dominanz des Gleichheitsprinzips ebenso wie der universalistische Zuschnitt des gesamten Sicherungssystems auch den kriegsbedingt Auftrieb erhaltenden Ideen nationaler Solidarität Rechnung und projizierten die – fraglos vielfach imaginäre – Gleichheitserfahrung angesichts der existentiellen Gefahren des Krieges auf die soziale Sicherung vor den Alltagsrisiken in der Nachkriegszeit. Die Errichtung des neuen staatlichen Rentensystems unter den Auspizien von Gleichheit und Knappheit hatte zwei weitreichende Implikationen: Zum
398 Bilanz einen – das war von Beveridge durchaus intendiert – verwies sie alle, die dazu in der Lage waren, auf die Notwendigkeit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Alterssicherung. Unter den vorteilhaften ökonomischen Bedingungen der 1950er und 1960er Jahre erfuhr die private und vor allem die betriebliche Altersvorsorge in Großbritannien einen enormen Auftrieb. Hiervon profitierte allerdings nur eine – wenn auch große – Minorität: die Angestellten und eine Minderheit der Arbeiter, vornehmlich im öffentlichen Sektor und in verstaatlichten Betrieben. Zum anderen – und das lief den Intentionen aller beteiligten politischen Akteure diametral zuwider – hatten die zu knapp veranschlagten Rentensätze zur Folge, dass das erklärte Ziel, die Alten aus der Abhängigkeit von bedürftigkeitsgeprüften Leistungen hinauszuführen, von Anfang an verfehlt wurde. Ein Viertel bis ein Drittel der Alten blieb seit den frühen 1950er Jahren dauerhaft auf Fürsorgeleistungen angewiesen. Damit spielte das Bedürftigkeitsprinzip in der britischen Alterssicherung nach wie vor eine große Rolle, war es nicht gelungen, vollständig aus der Tradition des Poor Law mit seinen gefürchteten Bedürftigkeitstests herauszutreten. Unter dem Einfluss einer Gruppe linksgerichteter sozialpolitischer Experten hat die Labour Party seit Mitte der 1950er Jahre das unzureichende Sicherungsniveau des bestehenden Rentensystems, vor allem aber auch das Auseinanderfallen der Alten in zwei Klassen – jene mit und jene ohne zusätzliche private Altersvorsorge – immer wieder als sozial ungerecht angeprangert. Alle Reformbemühungen der 1950er und 1960er Jahre scheiterten jedoch am tiefen rentenpolitischen Dissens zwischen den beiden großen Parteien und den Klippen des politischen Betriebes. Erst 1975 gelang es der Labour-Regierung, mit dem State Earnings-Related Pensions Scheme (SERPS) eine staatliche Zusatzrente einzuführen, die sich in ihrer Höhe am Erwerbseinkommen orientierte und zugleich eine Reihe redistributiver Elemente enthielt. Fragt man nach den Ursachen für die jahrzehntelange Reformblockade, die in evidenter Weise mit dem forcierten Ausbau des Rentensystems in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Ländern kontrastiert, stößt man insbesondere auf zwei Faktorenkomplexe: Erstens hatten die wohlfahrtsstaatlichen Richtungsentscheidungen kurz nach dem Weltkrieg zur Herausbildung machtvoller Interessenaggregate geführt, die nun einer grundlegenden Reform des Rentensystems entgegenstanden und darauf hin wirkten, den einmal eingeschlagenen Pfad nicht zu verlassen. Zu ihnen gehörten die nicht an einem Systemwechsel, sondern an einer Anhebung der Pauschalrenten interessierten Altrentner, die privilegierten Arbeitnehmer, die bereits zu günstigen Konditionen über eine zusätzliche Alterssicherung im Rahmen eines Betriebsrentenschemas verfügten, vor allem aber auch die rasch expandierende private Versicherungswirtschaft, die um ihr Geschäft fürchtete und die daher alles daran setzte, ihren Interessen gefährliche Reformvorschläge zu diskreditieren. Zweitens fehlte in Großbritannien ein belastbares ideologisches Fundament für den weiteren Ausbau des öffentlichen
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Rentensystems: Während die britischen Alten- und Rentnerverbände, aber auch Teile der Gewerkschaften und der Labour Party am vertrauten Gleichheitsprinzip des Beveridge-Systems festhielten und auch die Labour-Reformer ihr Eintreten für eine einkommensbezogene Rente nicht offensiv mit dem Grundsatz der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz, sondern mit ihrem Redistributionspotential verteidigten, war den zunehmend mit dem Bedürftigkeitsprinzip liebäugelnden Konservativen jede Ausweitung der staatlichen Altersvorsorge Anathema, da sie mit den von ihnen hochgehaltenen Grundsätzen der Freiheit, des Marktes und der Eigenverantwortung kollidierte. Ebenso wie beim Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaats nach dem Krieg handelte es sich bei der bundesrepublikanischen Rentenreform von 1957 um eine »titanische« Neuschöpfung. Die Unterschiede hätten allerdings größer nicht sein können. Schon die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren grundverschieden: Wo das neue britische Rentensystem als Produkt der wirtschaftlichen Mangellage und fiskalischen Knappheit der Kriegs- und Nachkriegsjahre erkennbar war, trug das deutsche die Züge von »Wirtschaftswunder« und ungebremstem Wachstumsoptimismus. Während die britische Basic State Pension auf Armutsvermeidung ausgerichtet war, zielte die »dynamische« Rente auf »Lebensstandardsicherung« im Alter. Leitend war dabei der Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit im Sinne einer Äquivalenz von Beiträgen und Rentenleistungen sowie der Konservierung des im Erwerbsleben erreichten sozialen Status auch im Ruhestand. Eng verbunden damit war eine starke Norm der Gleichheit zwischen den Generationen, die in der Kopplung der Renten an die Lohnentwicklung ihren Ausdruck fand. Auf diese Weise sollten die Alten nicht nur am wachsenden Wohlstand beteiligt werden; vielmehr wäre ohne die Bindung der Renten an die Löhne auch das Vorhaben der dauerhaften Statussicherung im Alter von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Fraglos fand sich die inhaltliche Ausgestaltung des neuen Rentensystems durch die deutsche Sozialversicherungstradition und die blendende ökonomische Ausgangssituation begünstigt. Verständlich werden die zuweilen geradezu obsessive Suche nach der »gerechten Rentenformel« und die starke Akzentuierung des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit jedoch erst vor dem Hintergrund der Erosion sozialer Hierarchien durch zwei Weltkriege und zwei Inflationen. Weit mehr, als das in Großbritannien der Fall war, hatten die Kriege in Deutschland Sachwerte ausradiert, während die Hyperinflation von 1923 und die Währungsreform von 1948 massenhaft Vermögen in Gestalt von Sparguthaben und Wertpapieren vernichtet hatten. Auf diese Weise war auch ein Gutteil der Eigenvorsorge für das Alter ausgelöscht worden, auf die bislang gerade die bürgerlichen Schichten ihre Hoffnungen gegründet hatten, ihre bisherige soziale Position auch nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess aufrechtzuerhalten. Angesichts dessen zielte die Rentenreform von 1957 mehr als alles andere auf die Rekonstruktion einer Ordnung sozialer Ungleichheit im Alter, die in den Wir-
400 Bilanz ren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untergegangen war und in der jeder Alte die Stellung einnehmen sollte, die er im Erwerbsleben erreicht hatte. Die unabdingbare Voraussetzung für die normative Neuorientierung des deutschen Rentensystems ebenso wie für die massiven Rentenerhöhungen bildete der Übergang vom Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren. Erst der Wechsel zum Umlagesystem machte Höhe und Verteilung der Altersrenten überhaupt zu politisch gestaltbaren und Gerechtigkeitserwägungen zugänglichen Problemen, gleichzeitig aber auch zu Fragen, deren Entscheidung mit »Generationenvertrag« und »Leistungsgerechtigkeit« überzeugender normativer Begründungen bedurfte. Während im Vereinigten Königreich die normative Basis des öffentlichen Rentensystems zutiefst umstritten blieb und lediglich eine Art Minimalkonsens im Hinblick auf das Gleichheitsprinzip der staatlichen Grundrente existierte, genossen die Grundsätze des neuen bundesdeutschen Systems der Alterssicherung schon bald nach seiner Einführung eine große gesellschaftliche und politische Zustimmung. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich die Gesetzliche Rentenversicherung zu einer der populärsten Institutionen der jungen Bundesrepublik und verschaffte dem neuen Staatswesen einen nicht zu unterschätzenden Zuwachs an Legitimität. Nicht zuletzt manifestierte sich der breite Konsens auf dem Gebiet der Alterssicherung auch darin, dass alle wichtigen renten politischen Entscheidungen auf einer »Großen Koalition« von CDU/CSU und SPD beruhten, während in Großbritannien zeitgleich Konservative und Labour Party gegenseitig ihre Anläufe zu einer Rentenreform mit Hingabe torpedierten. Die schnell erreichte unbestrittene Dominanz des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit in der deutschen Rentenversicherung zog eine Verschiebung im rentenpolitischen Gerechtigkeitsdiskurs nach sich: Nicht mehr grundlegende Fragen des Aufbaus der Alterssicherung standen nun im Vordergrund, sondern innersystemische Gerechtigkeitsprobleme. Vielfach ging es jetzt in der Rentenpolitik darum, Ungleichheiten auszugleichen, die sie selbst produziert hatte, um die gerechte Berücksichtigung einzelner Gruppen innerhalb des bestehenden Systems – mochte es sich nun um Selbständige, besser verdienende Angestellte oder »Kleinstrentner« handeln. Da jede Kompensationsmaßnahme ihrerseits potentiell neue Ungerechtigkeiten hervorbrachte, die ihrerseits wieder zu Ausgangspunkten weiterer Forderungen werden konnten, entstand daraus eine sich selbst vorantreibende wohlfahrtsstaatliche Expansions- und Inklusions dynamik, die schließlich im parteipolitischen Überbietungswettkampf der Rentenreform von 1972 kulminierte. Wie sehr sich die britischen und die deutschen Verhältnisse unterschieden, zeigte sich nicht nur in der ökonomischen Boomperiode nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern mindestens ebensosehr in der Zeit seit der Mitte der 1970er Jahre, als sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechterten und die Zeichen zunehmend in Richtung eines Um- oder Rückbaus des Wohlfahrts-
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staats wiesen. In Großbritannien setzte die Thatcher-Regierung tiefgreifende Einschnitte in das bestehende Netz der Alterssicherung durch: In einem ersten Schritt gleich nach Amtsantritt schaffte sie die wenige Jahre zuvor von Labour beschlossene Kopplung der Renten an die Löhne ab und ersetzte sie durch einen reinen Inflationsausgleich. In einem zweiten Schritt strich sie Mitte der 1980er Jahre den Leistungskatalog des staatlichen einkommensbezogenen Zusatzrentensystems SERPS , das nach langen Kämpfen gerade erst eingeführt worden war, empfindlich zusammen. Während für die erste Entscheidung primär haushaltspolitische Motive verantwortlich zeichneten, war die Demontage von SERPS , die für die Staatskasse kurzfristig sogar Zusatzkosten verursachte, ein Akt der ideologischen Überzeugung. Er wurzelte in einem Komplex eng miteinander verbundener Ideen, die sich unter den britischen Konservativen in den vorangegangenen Jahren in zunehmend radikaler Form Bahn gebrochen hatten: einer scharf akzentuierten Ablehnung sozialstaatlicher »Überversorgung« und redistributiver Maßnahmen, der euphorischen Befürwortung von Ungleichheit und individueller Entscheidungsfreiheit sowie dem Glauben an die prinzipielle Überlegenheit marktwirtschaftlicher Lösungen. Gerade im internationalen Vergleich überrascht der geringe politische Widerstand, der den weitgehenden Kürzungsmaßnahmen der Konservativen entgegenschlug. Hauptverantwortlich für sein Fehlen war, dass es sich im britischen Kontext sowohl bei der Lohnanbindung der Renten als auch beim einkommensbezogenen Zusatzrentensystem um institutionelle Innovationen mit einer sehr kurzen Tradition handelte. Das hatte zur Folge, dass die Einschnitte auf eine relativ schwache und fragmentierte Phalanx negativ von ihnen betroffener Interessen trafen. Vor allem aber basierten die von der Thatcher-Regierung angegriffenen Institutionen – anders als in Westdeutschland – auch nicht auf gesellschaftlich tief verankerten und parteiübergreifend geteilten normativen Grundprinzipien, die geeignet gewesen wären, ein wirksames Bollwerk gegen den neokonservativen Ansturm darzustellen. In der Bundesrepublik ging der rentenpolitischen Expansionsmaschine ebenfalls Mitte der 1970er Jahre der Treibstoff wirtschaftlicher Zuwächse aus. Die Verlangsamung des ökonomischen Wachstums, der Anstieg der Arbeits losigkeit, der Trend zum früheren Ruhestand, aber auch die Wohltaten der Rentenreform von 1972, die wesentlich dazu beitrugen, dass sich die Ausgaben der Rentenversicherung von 1970 bis 1975 verdoppelten1 – all diese Faktoren sorgten gemeinsam dafür, dass die Rentenfinanzen zunehmend unter Druck gerieten. Anders als in Großbritannien reagierte die deutschen Rentenpolitik – und zwar unabhängig davon, ob die Federführung bei der sozial-liberalen oder später bei der christlich-liberalen Koalition lag – auf die neue Situation knapper Kassen nicht mit einer Vollbremsung, sondern zunächst mit einer Reihe klei1 Vgl. DRV Hg., Rentenversicherung in Zeitreihen, Augabe 2008, S. 203.
402 Bilanz nerer unkoordinierter Bremsmanöver in Gestalt von ad hoc-Sparmaßnahmen. Weit von einem radikalen Schritt wie dem von den Tories vollzogenen Wechsel vom Lohn- zum Inflationsausgleich der Renten entfernt, zögerten sowohl Regierung als auch Opposition in der Bundesrepublik lange Zeit, auch nur das als sakrosankt geltende Prinzip des Bruttolohnbezuges der Rente offiziell preiszugeben und es durch den Grundsatz der Nettoanpassung zu ersetzen, obwohl die konkreten rentenpolitischen Maßnahmen genau in diese Richtung zielten. Als dann im Laufe der 1980er Jahre angesichts der Dauerkrise der Rentenkassen doch die Bereitschaft der politischen Akteure zu einer größeren Rentenreform wuchs, trug diese ganz die Züge einer Reform »im System«. Alle weiterreichenden Vorschläge für eine grundlegende Neuordnung des bundesdeutschen Alterssicherungssystems scheiterten bereits im Reformvorfeld nicht nur an den prinzipiellen Schwierigkeiten eines Systemwechsels und den durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eigentumsrechtlich geschützten Rentenansprüchen, sondern ebenso an einer breiten Allianz der Befürworter des überkommenen Rentensystems, die von den rentenpolitischen Experten des VDR und des Bundesarbeitsministeriums über die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bis zum rentenpolitischen Bündnis der christlich-liberalen Regierungskoalition mit der sie ansonsten erbittert bekämpfenden sozialdemokratischen Opposition reichte. Obwohl die 1989 beschlossene Rentenreform ein Spargesetz war, stand sie doch – das tritt vor der britischen Kontrastfolie besonders deutlich hervor – unter dem Signum der Kontinuität: Alle wichtigen Bauprinzipien des 1957 errichteten Rentensystems blieben unangetastet. Den Kern der Rentenreform bildete die Einführung eines »Selbstregulierungsmechanismus«, mit dessen Hilfe der für die Zukunft zu erwartende Anstieg des Finanzbedarfs der Rentenversicherung automatisch zu gleichen Teilen auf die Beitragszahler, die Rentner und den Bund verteilt werden sollten. Darin zeigte sich nicht nur, dass der ansonsten im Laufe der 1970er Jahre weithin diskreditierte Steuerungsoptimismus auf dem Gebiet der Alterssicherungspolitik noch bis zum Ende der 1980er Jahre intakt war, da er sich hier auf dem vermeintlich besonders festen Boden demographischer Prognosen bewegte. Vielmehr dokumentierte der Rückgriff auf ein automatisches Steuerungssystem auch das Ausmaß, in dem die politischen Akteure bereit waren, sich selbst zu entmachten und die Rentenfrage dem Bereich des politisch Strittigen zu entziehen, um auf diese Weise das überkommene Rentensystem auf Dauer zu erhalten. Weder die Reformen im Vereinigten Königreich noch jene in der Bundes republik vermochten jedoch zu verhindern, dass sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen sowohl das britische als auch das deutsche Alterssicherungssystem um die Jahrtausendwende in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befanden. Im Krisendiskurs beider Länder wurde dabei die demographische Entwicklung als wichtigste Ursache namhaft gemacht. Der sich unter sozialpolitischen Experten, Politikern und in der veröffentlichten Meinung gleichermaßen
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durchsetzenden Argumentation zufolge führte die Alterung der Bevölkerung zu einer wachsenden und auf Dauer untragbaren Belastung der öffentlichen Rentensysteme, da immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Alte aufzukommen hatten. Das entsprach einem von supranationalen Institutionen wie der Weltbank und der EU massiv propagierten Denkmuster und besaß in der politischen Debatte den unschätzbaren Vorzug, auf eine quasi-natürliche Begründung rekurrieren zu können, überzeugt in der Retrospektive als Erklärung für die akute Krise der Alterssicherung in Großbritannien und der Bundes republik um 2000 aber schon deshalb nicht, weil sich der sog. Altersdependenzkoeffizient: das demographische Verhältnis der über 65jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter, in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in beiden Ländern kaum verändert hat. Der Anstieg dieser als »Belastungs koeffizient« interpretierten und aus verschiedenen Gründen ohnehin problematischen Kennzahl fällt erst in die Zeit nach der Jahrtausendwende, wenn die breit besetzten Kohorten der Baby-Boomer nach und nach das Ruhestandsa lter erreichen. So ernst die demographische Alterung daher als Hintergrund für die Zukunftsaussichten der Alterssicherungssysteme in Großbritannien und Deutschland zu nehmen sind, so wenig taugt sie zur alleinigen Erklärung ihrer krisenhaften Entwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich war es eine Kombination anderer, im Vereinigten Königreich und der Bundesrepublik jeweils unterschiedlicher Faktoren, die hierfür hauptsächlich verantwortlich zeichneten: In Großbritannien ist dabei zum einen besonders an den durch die Lohnabkopplung bedingten Wertverfall der staatlichen Grundrente und den ihm korrespondierenden Bedeutungsgewinn des Bedürftigkeitsprinzips in der Alterssicherung zu denken. Zum anderen erlebte die betriebliche Altersvorsorge, die das Rückgrat der Alterssicherung gerade der britischen Mittelschichten dargestellt hatte, seit den späten 1990er Jahren einen rasanten Niedergang, da immer mehr Unternehmen der Privatwirtschaft ihre herkömmlichen Betriebsrentenpläne angesichts der zunehmenden Regulierung, der steigenden Lebenserwartung und der veränderten Finanzmarktentwicklung als unrentabel einstuften und im Eiltempo schlossen. In der Bundesrepublik dagegen beruhten die massiven Finanzprobleme der Rentenversicherung auf der insgesamt ansteigenden Arbeitslosigkeit, vor allem aber auf der gezielten Frühverrentung Millionen von Ostdeutscher und überhaupt auf den Kosten der deutschen Einheit, die zu einem guten Teil den Beitragszahlern der Sozialversicherung aufgelastet wurden. Dass die akute Krise der Rentenfinanzen zunehmend als grundlegende Strukturkrise des deutschen Alterssicherungssystems wahrgenommen wurde, lag nicht zuletzt daran, dass die Debatte über die prekäre Lage der Rentenkassen eine enge Verbindung mit jener über den »Wirtschaftsstandort Deutschland« einging und sich dabei immer mehr die Ansicht durchsetzte, dass die steigenden Rentenversicherungsbeiträge die »Lohnnebenkosten« in inakzeptable Höhen trieben und
404 Bilanz auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nachhaltig unterminierten. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland reagierte die Politik nach der Jahrtausendwende auf die Krise mit einer grundlegenden Reform des Alterssicherungssystems. Was den Kernbereich des öffentlichen Rentensystems anbelangt, wiesen die Reformmaßnahmen freilich in ganz unterschiedliche Richtungen. In Großbritannien bedeutete die Reform der Blair-Regierung für den Bereich der staatlichen Rente die Rückkehr zum Gleichheitsprinzip des Beveridge-Plans. Ganz auf der Linie des ursprünglichen britischen Rentenkonzepts peilt die jüngste, von der Cameron-Regierung fortgeführte Neuordnung des Rentensystems eine Pauschalrente in Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums als einzige staatliche Rentenleistung an. Genau wie nach dem Zweiten Weltkrieg zielten die Reformen der 2000er Jahre ganz wesentlich darauf, die Rolle des Bedürftigkeitsprinzips in der britischen Alterssicherung zurückzudrängen. Zugleich verabschiedete man sich damit definitiv von dem Projekt einer einkommensbezogenen, nach dem Prinzip der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz funktionierenden staatlichen Zusatzrente, das sich bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen lässt und später in SERPS Gestalt angenommen hatte. Mit dem Gleichheitsprinzip orientierten sich die Rentenreformen an der einzigen Wertidee, die in Großbritannien politisch und gesellschaftlich auf breite Zustimmung stößt, wenn es um die Ausgestaltung des staatlichen Rentensystems geht. Davon zeugte der für die britische Rentenpolitik sonst ganz unübliche parteienübergreifende Konsens ebenso wie die insgesamt positive Resonanz, auf die die Reformvorschläge bei Altenorganisationen, Gewerkschaften und Arbeitgeber verbänden gleichermaßen trafen. In der Bundesrepublik brachten die Reformen der rot-grünen Koalition von 2001 und 2004 einen partiellen Bruch mit den überkommenen Grundprinzipien des deutschen Alterssicherungssystems. Mit der langfristigen Absenkung des Nettorentenniveaus von 70 % auf nur noch etwas mehr als die Hälfte des Durchschnittsverdienstes im Jahr 2030 wurde das Ziel der Lebensstandardsicherung durch das öffentliche Rentensystem faktisch aufgegeben – auch wenn man zunächst versuchte, seine Geltung aufrechtzuerhalten, indem man es semantisch auf den Mehrsäulenansatz übertrug. Während die Norm der Gleichheit zwischen den Altersgruppen eindeutig dem Übergang von einer ausgabenorientierten Einnahmen- zu einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik zum Opfer fiel, blieb der Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit, den die Rentenreform von 1957 zum dominanten Organisationsprinzip der Rentenversicherung erhoben hatte, zwar formal erhalten. Doch verliert er durch die von der Absenkung des Rentenniveaus bewirkte Kompression des Rentenungleichheitsgefüges zwangsläufig an Bedeutung. Die Reformen nach der Jahrtausendwende haben dazu geführt, dass die deutsche Rentenpolitik heute fernab ihres ursprünglichen normativen Koordinatensystems operiert. Das lässt sich nicht zuletzt auch daran
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ablesen, dass nicht mehr Statussicherung, sondern die Verhinderung von Altersarmut den Fluchtpunkt der rentenpolitischen Debatten der letzten Jahre bildet. Gleichzeitig ist absehbar, dass alle vorgeschlagenen Maßnahmen zur Armutsprävention darauf hinauslaufen, das traditionelle normative Gehäuse des deutschen Rentensystems weiter auszuhöhlen. Seit ihrer Etablierung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich das britische und das bundesdeutsche Alterssicherungssystem auf ganz unterschiedlichen institutionellen Bahnen bewegt. In den 1970er Jahren schien die Einführung eines einkommensbezogenen staatlichen Zusatzrentensystems im Vereinigten Königreich auf eine Annäherung der britischen an die westdeutsche Entwicklung hinzudeuten – doch handelte es sich dabei nur um eine kurzfristige Episode. In den letzten beiden Jahrzehnten zeichnet sich nun erneut ein Konvergenzprozess zwischen den zwei Ländern ab, der sein Momentum diesmal vor allem daraus bezog, dass auch Deutschland mit der Riester-Reform den Weg zur Teilprivatisierung der Alterssicherung einschlug. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in Großbritannien, wo die Entwicklung schon viel weiter fortgeschritten ist, zieht sich der Staat zunehmend als Produzent von Alterssicherungsleistungen zurück. Er überlässt ihre Erbringung privatwirtschaftlichen Anbietern, die er im gleichen Zuge aber einer sich ausweitenden Regulierungstätigkeit unterwirft. Auf diese Weise entsteht in beiden Ländern ein hochgradig regulierter »Wohlfahrtsmarkt« für Altersvorsorgeprodukte, der in seiner Verbindung von marktwirtschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Elementen ein neuartiges Hybridgebilde darstellt.2 Gleichzeitig findet damit eine Verlagerung sowohl des Langlebigkeits- als auch des Anlagerisikos hin zum Individuum statt – eine Entwicklung, die in Großbritannien noch dadurch verstärkt wird, dass immer mehr Unternehmen ihre Betriebsrentenpläne von festen Leistungszusagen (defined benefit) auf Systeme mit festgelegten Beiträgen und ohne Leistungsgarantie (defined contribution) umstellen. Der allgemeine Trend zur Privatisierung der Altersvorsorge, der nicht nur der britisch-deutschen Konvergenz zugrunde liegt, sondern auch die übrigen europäischen Wohlfahrtsstaaten erfasst hat, basiert ganz wesentlich auf der von der Weltbank und anderen supranationalen Akteuren maßgeblich geförderten Durchsetzung eines neuen internationalen Paradigmas in der Alterssicherungspolitik, in dessen Zentrum der Mehrsäulenansatz und die damit verbundene Aufwertung privater und kapitalgedeckter Vorsorgeformen stehen. Selbst das Ergebnis einer international vergleichenden Perspektive, hat das im Laufe der 1990er Jahre sich herausbildende Alterssicherungsparadigma inzwischen in zahlreichen Staaten zu grundlegenden Strukturreformen und Systemwechseln geführt, die ihrerseits das Poten2 Vgl. nur Leisering u. Berner, Vom produzierenden zum regulierenden Wohlfahrtsstaat; Berner, Der hybride Sozialstaat; ders., Der entgrenzte Sozialstaat; Leisering, Privatisierung; Leisering (Hg.), New Regulatory State; Willert, Regulierte Wohlfahrtsmärkte.
406 Bilanz tial besitzen, den fortdauernden empirischen Gehalt der in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung vorherrschenden Ansätze – von den Regimetypenlehren bis hin zur Pfadabhängigkeit – nachdrücklich in Frage zu stellen. Wendet man den Blick ab von der Geschichte des Wechselverhältnisses wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und sozialer Gerechtigkeitsprinzipien und richtet ihn auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Alterssicherungsarrangements in Großbritannien und der Bundesrepublik, tritt zunächst das erhebliche Ausmaß hervor, in dem der Sozialstaat in beiden Ländern von der unmittelbaren Nachkriegszeit an die materielle Situation der Alten bestimmt hat. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Westdeutschland war die große Mehrheit der Alten bereits in den 1950er Jahren ganz überwiegend auf Renten und andere staatliche Transferzahlungen angewiesen, bildete der Wohlfahrtsstaat für sie die zentrale Versorgungs- und Verteilungsagentur. Gemeinsam war beiden Ländern ebenfalls, dass die Alten vor der Neuordnung des jeweiligen Alterssicherungssystems die größte gesellschaftliche Gruppe bildeten, die massenhaft von materieller Not betroffen war. Eine auskömmliche Existenz besaßen ältere Menschen zumeist nur dann, wenn sie weiterhin erwerbstätig blieben – und das war bei der großen Majorität von ihnen bereits in den 1950er Jahren nicht mehr der Fall. Ausgehend von einer ähnlichen Ausgangssituation wirkten sich dann jedoch die neuen Rentensysteme der beiden Vergleichsländer in ganz unterschiedlicher Weise auf die soziale Situation der Alten aus. Auch wenn der direkte Vergleich durch die Verschiedenheit der statistischen Kategorien und der Datengrundgrundlage erschwert wird, ergibt sich doch, weitgehend unabhängig vom verwendeten Armutskonzept, ein hinreichend klares Bild: In Großbritannien verbesserte die Einführung der staatlichen Grundrente unmittelbar nach dem Krieg zwar die lamentable materielle Lage der Alten, doch bewegte sich mindestens die Hälfte von ihnen auch in den 1950er und 1960er Jahren durchgehend unter- oder nur leicht oberhalb der Schwelle relativer Einkommensarmut. In der Bundesrepublik dagegen katapultierten die Rentenreform von 1957 und die Rentenerhöhungen der Folgejahre die meisten Alten dauerhaft aus der Armutszone heraus – wenn auch das Armutsrisiko der über 65jährigen bis in die 1980er Jahre hinein die gesamtgesellschaftliche Armutsrate deutlich übertraf. Während in Westdeutschland um 1970 lediglich gut 5 % der älteren Menschen auf bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen angewiesen waren, traf das im Vereinigten Königreich zur gleichen Zeit auf ein Viertel bis ein Drittel von ihnen zu. Nachdem in Großbritannien die Quote relativer Einkommensarmut unter den Alten im Laufe der 1970er Jahre vor allem infolge der Rentenerhöhungen der Labour-Regierungen vorübergehend zurückgegangen war, stieg sie im Folgejahrzehnt – ebenso wie die allgemeine Armutsrate – scharf an. In der Bundesrepublik hingegen hielt der Rückgang der Altersarmut in den 1980er Jahren auch dann noch an, als die gesamtgesellschaftliche Armutsquote wieder einen
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leichten Anstieg aufwies. Den international vergleichenden Daten der Luxembourg Income Study zufolge führte die stark divergierende Entwicklung dazu, dass Großbritannien um 1990 mit einem Anteil der Alten in relativer Armut von 43,6 % (1991) im europäischen Vergleich einen einsamen Spitzenplatz einnahm, während die Bundesrepublik mit 21,6 % (1989) zu den Ländern mit einer verhältnismäßig geringen Altersarmut zählte. Seither hat nicht zuletzt die gezielte Bekämpfung von Altersarmut durch die Blair-Regierung dazu beigetragen, die materielle Unterprivilegierung alter Menschen in Großbritannien wieder zu reduzieren. Auch das vermochte allerdings nichts daran zu ändern, dass die britische Quote relativer Armut im Alter mit 33,3 % auch 2007 noch die deutsche von 18,6 % weit übertraf.3 Der britisch-deutsche Vergleich führt zu dem auf den ersten Blick kontraintuitiven Ergebnis, dass das auf Armutsvermeidung ausgerichtete und dem Gleichheitsprinzip verpflichtete Alterssicherungssystem in Großbritannien weit weniger erfolgreich in der Bekämpfung der Altersarmut war als das auf Statussicherung zielende, die Ungleichheiten des Erwerbslebens in das Alter verlängernde Rentensystem der Bundesrepublik. Dieser Befund kann als Beleg für die in der Wohlfahrtsstaatsforschung ebenso einflussreiche wie umstrittene These des »Redistributionsparadoxons« gelten, nach der gerade jene Sozialstaaten, die ganz auf Armutsvermeidung und Umverteilung zugeschnitten sind, ihre Ziele besonders weit verfehlen.4 Die Erklärung hierfür ist im konkreten Fall der Alterssicherungssysteme in Großbritannien und der Bundesrepublik darin zu suchen, dass das Gleichheitsprinzip und die große Rolle bedürftigkeitsgeprüfter Hilfen im Vereinigten Königreich zwar einen deutlich höheren Umverteilungsgrad aufweisen als das bundesdeutsche Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, der zur Verteilung anstehende »Redistributionskuchen« aber in Deutschland weit größer ist. Das auf Statussicherung angelegte, nicht auf vertikale Redistribution, sondern auf Umverteilung im Lebenslauf zielende bundesdeutsche Rentensystem erwies sich von Beginn an auch für die Mittelschichten als so attraktiv, dass die relativ hohen Beiträge lange Zeit klassenübergreifend klaglos akzeptiert wurden. Auf diese Weise konnte im Rahmen der Rentenversicherung ein weit größeres Finanzvolumen als in Großbritannien generiert werden, das mittels eines hohen Rentenniveaus und nur weniger Umverteilungselemente eine effektive Armutsbekämpfung ermöglichte, ohne dass diese das primäre Anliegen gewesen wäre. Ob diese Bedingungen auch nach der Aufgabe des Lebensstandardsicherungsziels noch gegeben sind, erscheint zweifelhaft.
3 LIS Dataset, Key Figures as of 20 December 2013 (http://www.lisdatacenter.org/). Armutsgrenze: 60 % des Median-Nettoäquivalenzeinkommens. 4 Korpi u. Palme, The Paradox. Vgl. Marx, Salanauskaite u. Verbist, The Paradox; Brady u. Bostic, Paradoxes; Kenworthy, Progress.
408 Bilanz Eng verbunden mit der geringeren Altersarmut und der insgesamt besseren materiellen Situation der Alten in der Bundesrepublik ist ein weitere Differenz, die im deutsch-britischen Vergleich hervortritt: die unterschiedliche Entwicklung in der Erwerbsbeteiligung älterer Menschen seit den frühen 1970er Jahren. Zwar war beiden Ländern wie auch den übrigen OECD -Staaten gemeinsam, dass sich in der wirtschaftlichen Krisenphase nach dem Ende des Booms immer mehr Ältere vom Arbeitsmarkt zurückzogen. Doch fiel der Rückgang in der Erwerbstätigkeit jener Kohorten, die sich dem Rentenalter näherten, in der Bundesrepublik weit schärfer aus als in Großbritannien. Während im Jahrfünft von 1985 bis 1989 in Westdeutschland nur noch durchschnittlich 33,9 % der 60–64jährigen Männer zur Erwerbsbevölkerung zählten, waren es im Vereinigten Königreich immerhin noch 54,8 %.5 Ein entscheidender Grund für diese Differenz liegt darin, dass die meisten Älteren in der Bundesrepublik einem materiell einigermaßen sorgenfreien Rentenalter entgegensahen und der Ruhestand daher vielen als erstrebenswerte »späte Freiheit« galt. Die in den 1970er und 1980er Jahren politisch zur Entlastung des Arbeitsmarkts eröffneten Frühverrentungswege, die auch den Übergang in das Rentenalter finanziell großzügig abfederten, konnten angesichts dessen schnell eine erhebliche Sogwirkung entfalten. In Großbritannien dagegen bedeutete der Ruhestand für viele nach wie vor einen materiellen Absturz. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben war für sie eher eine Schreckensvision denn der ersehnte Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Der in Deutschland seit der Jahrtausendwende zu beobachtende signifikante Anstieg der Erwerbsbeteiligung rentennaher Jahrgänge, der einen Gutteil der seit 1970 zurückgelegten Abwärtsentwicklung revidiert, zeigt deutlich, wie sensibel die Erwerbsorientierung der Älteren auf die Veränderung der sozialpolitischen Anreize zur Frühverrentung reagiert. Gleichzeitig demonstriert der anhaltende gesellschaftliche und politische Widerstand gegen die »Rente mit 67« eindrucksvoll, wie lebendig und attraktiv die Vorstellung eines von materieller Not und Erwerbsarbeit gleichermaßen entlasteten Alters nach wie vor ist. So unterschiedlich sich die Sozialgeschichte des Alters in Großbritannien und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg in vieler Hinsicht ausnimmt, so klar treten doch an anderen Stellen auffällige Ähnlichkeiten hervor. Diese Parallelen verweisen zugleich darauf, dass weit voneinander entfernte wohlfahrtsstaatliche Systeme zuweilen ganz ähnliche soziale Ergebnisse produzieren. Gemeinsam war beiden Ländern, erstens, der allmähliche Aufstieg der Alten in der gesamtgesellschaftlichen Einkommenshierarchie. Einst ganz überwiegend im unteren Segment der Einkommensschichtung angesiedelt, haben sich die Älteren in der Zeit seit dem Weltkrieg sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik zunehmend über ihr gesamtes Spektrum ver5 Eigene Berechnungen nach OECD.Stat. Vgl. oben, Graphik 9.
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teilt. Dieser Prozess, der die Alten gewissermaßen in die Mitte der Gesellschaft führte, ging allerdings mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vonstatten: Während er in Westdeutschland nach der Adenauerschen Rentenreform schnell Fahrt aufnahm und in den 1980er Jahren bereits weitgehend abgeschlossen war, gewann er in Großbritannien zu dieser Zeit erst an Tempo. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die erst jetzt in erheblichem Umfang an eine breite Masse der britischen Alten fließenden Rentenzahlungen aus betrieblichen Alterssicherungssystemen, die nun als eine Art Äquivalent zur einkommensbezogenen Rente in der Bundesrepublik fungierten. Zweitens besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Vergleichs länder darin, dass in ihnen das Geschlecht kontinuierlich eine zentrale Determinante sozialer Ungleichheit im Alter dargestellt hat. Im Vereinigten Königreich wie in der Bundesrepublik haben alleinstehende alte Frauen durchgehend niedrigere Einkommen bezogen als die Männer, waren überproportional von Armut betroffen und häufiger auf Sozialhilfe angewiesen. Während in Deutschland das öffentliche Rentensystem dafür gesorgt hat, die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten des Arbeitslebens – Einkommensdifferenzen ebenso wie Unterschiede in der Erwerbsbiographie – im Rentenalter fortzuschreiben, haben in Großbritannien die unterschiedlichen Chancen von Frauen und Männern, eine einträgliche betriebliche oder private Alterssicherung aufzubauen, zu mehr oder minder demselben Ergebnis geführt. Drittens schließlich waren mit der sich im höheren Alter weitgehend bruchlos fortsetzenden materiellen Schichtungsstruktur in beiden Ländern stets andere Dimensionen sozialer Ungleichheit eng verkoppelt. Am bemerkenswertesten ist dabei angesichts des universalen Zuschnitts des britischen und des deutschen Gesundheitssystems sicherlich die anhaltende massive soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Ebenso wie im übrigen Europa unterscheidet sich heute die Lebenserwartung eines 65jährigen sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ganz erheblich in Abhängigkeit von seinem Einkommen und sozio-ökonomischen Status; Vergleichbares gilt für die Morbiditätsrisiken im Alter. Ein klarer Unterschied zwischen der Bundesrepublik und dem Vereinigten Königreich ist hier lediglich insofern zu konstatieren, als die krassen sozialen Unterschiede in Mortalität und Morbidität in Deutschland erst in jüngster Zeit in den Blickpunkt rücken, während sie sich in Großbritannien bereits in den 1980er Jahren skandalisiert fanden. So deutlich der soziale Fußabdruck zu erkennen ist, den die verschiedenen Systeme der Alterssicherung in Großbritannien und der Bundesrepublik hinterlassen haben, so schwierig ist es umgekehrt, in einer allgemeineren, den historischen Einzelfall transzendierenden Weise zu beschreiben, ob und in welcher Weise sich die soziale Lage der Alten auf die Rentenpolitik ausgewirkt hat. Stets bildete sie im politischen Entscheidungsprozess in beiden Ländern nur eine von zahlreichen Variablen – und dazu noch eine, die gegenüber fiskalpolitischen
410 Bilanz Gesichtspunkten, ideologischen Überzeugungen, innersystemischen Gerechtigkeitsfragen oder den von Verbänden artikulierten wirtschaftlichen Interessen häufig in den Hintergrund trat. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung eines sozialen Problems – das gilt im Hinblick auf die Alten, aber ebenso generell –, die ihrerseits erst die Voraussetzung für seine Einspeisung in den politischen Prozess bildet, zwar nicht in kontingenter Weise, aber doch nur sehr vermittelt mit Entwicklungen auf der Ebene der sozialen Struktur verknüpft ist. Armut im Alter galt zwar in beiden Vergleichsländern prinzipiell als weit weniger hinnehmbar als eine hohe Ungleichheitsspanne unter den Alten, für die stets ein erhebliches Maß an Akzeptanz bestand. Doch hingen die Wahrnehmung von Altersarmut und ihre politische Thematisierung mindestens ebensosehr von Themenkonjunkturen, den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen und dem gesellschaftlich dominierenden Armutsverständnis ab wie von der materiellen Situation der Alten. In Großbritannien etwa führte der Erwartungsüberschuss, den der Aufbau des neuen Wohlfahrtsstaats nach dem Weltkrieg erzeugte, dazu, dass die anhaltende materielle Notlage vieler alter Menschen fast zwei Jahrzehnte lang weitgehend ausgeblendet wurde. Ihre politische Skandalisierung erfolgte Mitte der 1960er Jahre erst, nachdem es einer Gruppe sozialpolitischer Experten um Richard Titmuss gelungen war, sich mit ihrem neuen »relativen« Armutskonzept gegen die bislang vorherrschende »absolute« Definition durchzusetzen. In der Bundesrepublik galt die Altersarmut – ebenso wie die Armut überhaupt – unter dem Eindruck des »Wirtschaftswunders«, der Rentenzuwächse und der fortdauernden Dominanz eines »absoluten«, am physischen Existenzminimum orientierten Armutsverständnisses seit den späten 1950er Jahren zunächst ebenfalls als endgültig besiegt. Das änderte sich erst Mitte der 1970er Jahre im Zusammenhang mit der von CDU-Programmstrategen lancierten Debatte über die »Neue soziale Frage« – und damit ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die relative Einkommensarmut im Alter auf einen zuvor noch nie erreichten Tiefstand gefallen war. Nach dem Durchlauf durch sieben Jahrzehnte der Geschichte des Alters und der Alterssicherung in zwei Ländern bleibt eine bemerkenswerte Fehlstelle zu konstatieren: Sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik scheint die Bedeutung der Alten selbst als politische Akteure in der Rentenpolitik eher gering gewesen zu sein. Weder haben ihre Verbände eine nennenswerte Rolle beim Ausbau des Alterssicherungssystems nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt. Noch konnten ihr Wählerstimmenpotential oder ihre Organisationen verhindern, dass es in beiden Ländern in den letzten Jahrzehnten zu signifikanten Einschnitten in das öffentliche Rentensystem gekommen ist, die auch die sich zu dieser Zeit bereits im Rentenalter befindenden Generationen nicht un erheblich belastet haben. Es mag eine latente Vetomacht der Alten geben, die um Wiederwahl bemühte Politiker vor noch weitergehenden Kürzungsmaßnahmen
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abhält. Zu Anzeichen einer Reformunfähigkeit auf dem Gebiet der Alterssicherung hat sie jedoch bislang noch nicht geführt. Dieser Befund steht im Widerspruch zu der sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der politischen Debatte weitverbreiteten Vorstellung, dass die Rentner und ihre Organisationen als die Nutznießer der bestehenden Alterssicherungssysteme die natürlichen Feinde ihres Rückbaus seien und dass die voranschreitende demographische Alterung daher die Rückführung ihres Leistungsniveaus zunehmend erschwere. In der Bundesrepublik, so eine besonders prononcierte Variante dieser Sichtweise, sei eine die jüngeren Generationen entlastende Rentenreform angesichts der demographischen Entwicklung noch bis 2016 demokratisch durchsetzbar; danach sei Deutschland eine Gerontokratie.6 Gegen diese auf die reformverhindernde Macht des »grey vote« abhebende, durch die überproportionale Wahlbeteiligung der Älteren7 noch zusätzliche Plausibilität gewinnende Argumentation sprechen jedoch nicht nur die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, sondern auch die der neueren politikwissenschaftlichen Forschung. Sie verweist nicht nur auf die chronische Bedeutungslosigkeit von Seniorenparteien, die allen europäischen Demokratien gemeinsam ist.8 Vielmehr zeigt sie auch, dass die bestehenden Differenzen in der Parteipräferenz von jüngeren und älteren Wählern nicht auf einen Gegensatz zwischen Alt und Jung, sondern auf generationenspezifische Unterschiede in der politischen Sozialisation zurückzuführen sind und dass die Alten weit davon entfernt sind, ihre Wahlentscheidungen primär an ihren egoistischen ökonomischen Interessen auszurichten.9 Schließlich arbeitet sie heraus, dass die wachsende Repräsentanz der Alten unter den Mitgliedern der Parteien und Gewerkschaften sich nicht in einem entsprechenden Zuwachs ihres Einflusses im politischen Betrieb niedergeschlagen hat.10 Die fehlende politische Mobilisierung entlang der Scheidelinie von Alt und Jung legt zugleich Skepsis gegenüber der vielfach zu hörenden Behauptung nahe, dass der Generationenkonflikt inzwischen den Klassenkonflikt als den zentralen, im Hintergrund aller sozialpolitischen Auseinandersetzungen stehenden gesellschaftlichen Gegensatz abgelöst habe.11 Dass die unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Begünstigung und Belastung einzelner Generationen im Zeichen von demographischem Wandel und Sozialstaatsumbau ein nicht unerhebliches Konfliktpotential birgt, steht außer Frage und wird in der Debatte 6 Sinn u. Uebelmesser, Pensions. Vgl. International Monetary Fund, World Economic Outlook, S. 165. 7 Vgl. Goerres, Why are Older People?; Kohli, Neckel u. Wolf, Krieg, S. 481 f. 8 Vgl. Goerres, The Political Participation, S. 72–74; ders., Von der Selbsthilfeorganisation; Hanley, Explaining. 9 Vgl. Goerres, Reforming; ders., The Grey Vote; ders., The Political Participation; Lynch, Age Politics. 10 Vgl. Schmidt, Demokratie, S. 164–168; Streeck, Politik, S. 293–299. 11 Vgl. etwa Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, S. 201.
412 Bilanz über Generationengerechtigkeit zu Recht betont. Doch birgt die einseitige Akzentuierung der inter-generationellen Unterschiede die Gefahr, dass dadurch von den fortbestehenden intra-generationellen Ungleichheiten zwischen Arm und Reich abgelenkt wird, die jene zwischen den Generationen in ihrem Ausmaß nicht nur deutlich übertreffen, sondern zudem in den letzten Jahrzehnten noch einmal beträchtlich zugenommen haben.12 Daher wirkt sich eine auf mehr Generationengerechtigkeit zielende Alterssicherungspolitik auch nicht nur auf die wohlfahrtsstaatliche Balance zwischen verschiedenen Alterskohorten aus. Sie kann ebenfalls in unvorhergesehener Weise zu einer Verschärfung der Ungleichheiten innerhalb einzelner Generationen führen – ob sich diese nun in neu entstehenden Armutsrisiken oder darin manifestieren mögen, dass die allgemeine Anhebung des Rentenalters aufgrund der klassenspezifisch divergierenden Lebenserwartung für die Ärmeren einen überproportional hohen Verlust an Ruhestandsjahren zur Folge hat. Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden vor diesem Hintergrund in der Alterssicherungspolitik auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen.
12 Vgl. hierzu auch Kohli, Generational Equity; ders., Generations.
Dank
Bücher zu schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Leicht vergisst man darüber, wieviel das Endprodukt im Prozess seiner Entstehung anderen Menschen und einer Reihe von Institutionen verdankt. An der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg bin ich seit vielen Jahren in jeder nur erdenklichen Weise gefördert worden. In erster Linie bedanke ich mich dafür bei Manfred Hettling, von dessen Anregungen, kritischer Diskussionsbereitschaft und freundschaftlicher Unterstützung das Buch in vieler Hinsicht profitiert hat. Er hat nicht nur dafür gesorgt, dass ich stets das Ziel im Auge behalten habe. Er hat mir auch den nötigen Freiraum für meine Arbeit geschaffen – nicht zuletzt dadurch, dass er mich immer wieder für lange Forschungsaufenthalte außerhalb Halles beurlaubt hat. Ein großer Dank geht sodann an Patrick Wagner, von dessen klugem Urteil und wohlwollendem Rat ich immer wieder profitieren durfte und bis heute profitiere. Petra Dobner, Peter Hertner, Stefanie Midden dorf und Michael G. Müller haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass meine Zeit in Halle sowohl ein intellektuelles als auch ein menschliches Vergnügen war. Ein Großteil der Forschungsarbeit für das vorliegende Buch fand von 2009 bis 2011 im Rahmen eines zweijährigen Aufenthalts am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz statt. Ebenso wie die Reisen zu britischen und deutschen Archiven wurde er mir in großzügiger Weise durch ein Marie C urie Fellowship der Europäischen Kommission ermöglicht. In Florenz habe ich wichtige Anstöße von Heinz-Gerhard Haupt erhalten, dessen komparatistischer und sozialgeschichtlicher Kompetenz der Text viel verdankt. Martin Kohli, Hans-W. Micklitz und Kiran K. Patel haben zahlreiche weiterführende Über legungen und neue Perspektiven beigetragen. Die Abfassung des Manuskripts wurde erheblich durch ein Research Fellowship (2011/12) am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) beschleunigt. Hier fand ich ideale Forschungsbedingungen vor, für die ich den beiden Direktoren, Ulrich Herbert und Jörn Leonhard, herzlich danke. Die vielen Diskus sionen mit den anderen Fellows gaben mir die einmalige Gelegenheit, neue Argumentationen zu entwickeln, durchzuspielen und einem Plausibilitätstest zu unterziehen. Ganz besonders wertvoll waren für mich die Gespräche mit Martin H. Geyer, dessen Kennerschaft der deutschen Geschichte und des Wohlfahrtsstaats dem Buch an vielen Stellen zugute gekommen ist. Aus den zahlreichen Diskussionen mit Jakob Tanner habe ich ebenfalls einen Schatz an Ideen mitgenommen.
414 Dank Auf das Urteil von zwei Menschen habe ich mich bei der Lektüre meiner Manuskripte immer bedenkenlos verlassen: zum einen auf Claudius Torp, der in seiner Doppelrolle als Bruder und Historikerkollege die perfekte Besetzung ist; zum anderen auf Hans-Ulrich Wehler, der auch den vorliegenden Text wieder in atemberaubend kurzer Zeit durchgearbeitet hatte und dem ich sowohl intellektuell als auch menschlich unendlich viel verdanke. Sein kürzlicher Tod reißt eine schmerzliche und nicht zu füllende Lücke. Kent Weaver, Frank Trentmann, Helmut Walser Smith, Ronald Rogowski, Alexander Nützenadel, Paul Nolte, John Macnicol, Isabella Löhr und Ralf Banken haben mir entweder die Gelegenheit gegeben, meine Thesen in ihrem Kolloquium zu diskutieren, oder waren mir in anderer Weise eine große Hilfe. Peter Borscheid war so zuvorkommend und selbstlos, mir sein detailliertes Exzerpt der Bundestagsdebatten zur Verfügung zu stellen, das er für seinen eigenen Beitrag zum Sechsten Altenbericht angefertigt hatte. Zahlreichen Mitarbeitern in den von mir besuchten Archiven bin ich zu Dank verpflichtet. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik in Sankt Augustin war so freudlich, mir Protokolle der Sitzungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Ende der 1980er Jahre zugänglich zu machen und die Sperrfrist aufzuheben. Zarina Hablitschek und Cornelia Kometz in Halle sowie Albrecht Wiesener, Michael Graf und Jasmin Gauch in Freiburg haben weit über das übliche Maß dazu beigetragen, bürokratische Hürden zu überwinden. Isabel Flory war am FRIAS eine unentbehrliche Hilfe bei der Literaturbeschaffung und der Recherchearbeit. Johanna Kirchhofer und Michaela Wolf danke ich für ihre Mitarbeit bei der Textgestaltung und der Erstellung des Registers. Eine frühere Fassung des Manuskripts hat Anfang 2014 der Philosophischen Fakultät I der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Habilitationsschrift vorgelegen. Dass aus der Habilitation nach dem zügigen Abschluss des Verfahrens nun so schnell ein Buch geworden ist, verdanke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Besonders Martina Kayser hat als Lektorin das Buchprojekt von Beginn an mit großem Interesse und freundlichem Drängen vorangetrieben. Daniel Sander hat sich umsichtig und professionell um die Drucklegung des Manuskripts gekümmert. Der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT hat die Veröffentlichung durch einen Druck kostenzuschuss großzügig unterstützt. Mein wichtigster Halt schließlich war in all den Jahren meine Familie. Was ich Cordelia verdanke, lässt sich ohnehin in ein paar dürren Worten nicht ausdrücken. Gewidmet ist das Buch unseren Kindern Constantin und Lucian. Sie haben den gesamten Wissenschaftsbetrieb souverän ignoriert und mir immer wieder vor Augen geführt, was wichtig ist. Bielefeld, im November 2014
Verzeichnis der Graphiken und Tabellen
Graphiken Graphik 1: Ehepaar-Haushalte mit Renten und Unterstützungen und über 65jährigen Haushaltsvorständen 1955 in der Bundesrepublik nach Monatseinkommen . . . . . . . . . 73 Graphik 2: Verteilung der 25–65jährigen und der über 65jährigen nach Nettoeinkommensgruppen, Westdeutschland, 1971 . . 160 Graphik 3: Durchschnittliches Realeinkommenswachstum pro Jahr nach Einkommensquintilen, Großbritannien 1979–1996/97 . . 214 Graphik 4: Einkommensungleichheit in Großbritannien, 1977–1997 . . . 215 Graphik 5: Einkommensquellen der britischen Rentnerhaushalte, 1977–1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Graphik 6: Quoten relativer Armut in Großbritannien 1961–1997 . . . . 220 Graphik 7: Lebenserwartung bei Geburt nach sozialen Klassen, Männer, England und Wales, 1972–1996 . . . . . . . . . . . . 225 Graphik 8: Quoten relativer Armut in Westdeutschland, 1973–1993 . . . 247 Graphik 9: Erwerbsquoten der 60–64jährigen Männer, 1970–1998 . . . . 269 Graphik 10: Erwerbsquoten der 60–64jährigen Frauen, 1970–1998 . . . . 271 Graphik 11: Einkommensquellen der britischen Rentnerhaushalte, 1995/96–2010/11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Graphik 12: Quoten relativer Armut in Großbritannien, 1997/98–2010/11 306 Graphik 13: Aktive Mitglieder von Betriebsrentenplänen in Mio., Großbritannien, 1953–2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Graphik 14: Dependenzkoeffizienten, Deutschland und Großbritannien, 1950–2050 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Graphik 15: Meinungsumfrage Großbritannien: Altersrenten als oberste Priorität für zusätzliche Sozialausgaben nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Graphik 16: Quoten relativer Armut in Ost- und Westdeutschland, 1994–2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
416 Verzeichnis der Graphiken und Tabellen
Tabellen Tab. 1:
Haushaltungen der Rentner- und Unterstützungsempfänger mit Haushaltsvorständen über 65 Jahre im Bundesgebiet 1955 71
Tab. 2:
Armutsquoten bei verschiedenen Armutsgrenzen in der Bundesrepublik Deutschland, 1962/63–1983 . . . . . . . . 158
Tab. 3:
Verteilung der britischen Rentner auf die verschiedenen Nettoeinkommensquintile, 1979–1995/96 . . . . . . . . . . . . 219
Tab. 4:
Veränderung der Lebenserwartung von Frauen nach sozialen Klassen, England und Wales, 1972–76 bis 1992–96 . . 226
Tab. 5:
Meinungsumfragen zu Fragen sozialer Ungleichheit in Großbritannien, 1983–1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Tab. 6:
Anteile der Rentenzugänge zur GRV nach Altersgruppen, Männer, 1965–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
Tab. 7:
Verteilung der britischen Rentner auf die verschiedenen Nettoeinkommensquintile, 1998/99–2010/11 . . . . . . . . . . 300
Tab. 8:
Durchschnittliche Versichertenrenten nach Geschlecht, alte und neue Bundesländer, 1992–2011 . . . . . . 347
Tab. 9:
Durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von Ehepaaren und Alleinstehenden ab 65 Jahren, alte und neue Bundesländer, 1992–2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Tab. 10:
Lebenserwartung mit 65 nach Einkommen und Geschlecht, Deutschland 1995–2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Tab. 11:
Anteile der Rentenzugänge zur GRV nach Altersgruppen, Männer, Ost- und Westdeutschland, 1993–2011 . . . . . . . . 365
Abkürzungen
ABI ACDP
Association of British Insurers Archiv für Christlich-Demokratische Politik AdsD Archiv der sozialen Demokratie AHC After Housing Costs BArch Bundesarchiv BASE Berliner Altenstudie BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDI Bundesverband der Deutschen Industrie BfA Bundesversicherungsanstalt für Angestellte BFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BGBl. Bundesgesetzblatt BHC Before Housing Costs BIP Bruttoinlandsprodukt BKA Bundeskanzleramt BLPES British Library of Political and Economic Science BMA Bundesministerium für Arbeit BMAS Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (bzw. Soziales) BMF Bundesministerium der Finanzen BMGS Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung BSHG Bundessozialhilfegesetz BT Deutscher Bundestag CBI Confederation of British Industry CSIAS Committee on Social Insurance and Allied Services DAF Deutsche Arbeitsfront DAG Deutsche Angestelltengewerkschaft DEAS Deutscher Alterssurvey DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DHSS Department of Health and Social Security DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DRV Deutsche Rentenversicherung DSS Department of Social Security DWP Department for Work and Pensions DZA Deutsches Zentrum für Altersfragen ELSA English Longitudinal Study of Ageing EU Europäische Union EU-SILC European Union Statistics on Income and Living Conditions EVS Einkommens- und Verbrauchsstichprobe FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung GRV Gesetzliche Rentenversicherung GSD Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 HC House of Commons HL House of Lords HMSO His/Her Majesty’s Stationary Office ILO International Labour Office
418 Abkürzungen LIS Luxembourg Income Study LOA Life Offices’ Association MIG Minimum Income Guarantee MP Member of Parliament NA National Archives NALGO National and Local Government Officers’ Association NEST National Employment Savings Trust NFOAPA National Federation of Old Age Pensions Associations NHS National Health Service OECD Organisation for Economic Co-operation and Development OMK Offene Methode der Koordinierung ONS Office for National Statistics (UK) PC Pension Credit RAG Rentenanpassungsgesetz RRG Rentenreformgesetz RÜG Rentenüberleitungsgesetz RV Rentenversicherung
S2P
State Second Pension
SERPS State Earnings-Related Pension Scheme SGB Sozialgesetzbuch SIAS Social Insurance and Allied Services SOEP Sozio-oekonomisches Panel St BA Statistisches Bundesamt TUC Trades Union Congress
VdK
Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschlands VDR Verband Deutscher Rentenversicherungsträger WP Wahlperiode
Quellen- und Literaturverzeichnis
1.
Ungedruckte Quellen
The National Archives (Kew) BN – Department of Health and Social Security 69/7 CAB – Cabinet Office 65/33/28, 66/33/18, 66/34/8, 66/34/9, 66/34/15, 87/76–78, 87/82, 129/178/9, 130/144, 134/2246 INF – Central Office of Information 1/292 JB – Department for Work and Pensions 4/49 PIN – Ministry of Pensions and National Insurance
8/64, 8/70, 35/453/1, 46/20, 46/443, 87/95, 90/56, 147/1–2
PREM – Prime Minister’s Office 4/89/1, 4/89/2
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Register
Namensregister Abel-Smith, Brian 109 f., 112, 119, 124, 143 f., 155 Achinger, Hans 82 Adenauer, Konrad 82 f., 85, 87 f., 95 f., 101, 105 Alt, Franz 248 Anderson, Walter 138 Arendt, Walter 183, 186 f. Augstein, Rudolf 262 Baldwin, Peter 43 Baltes, Margret M. 166 Baltes, Paul B. 166 Barzel, Rainer 188 Beck, Ulrich 243 Beveridge, William 29 f., 38–40, 43–47, 49 f., 52–54, 56, 58 f., 61, 134–136, 203, 208, 240, 297, 318, 342 f., 397 f. Biedenkopf, Kurt 248 f., 281, 289 Blair, Tony 238–241, 297 f., 309, 311, 319–321, 335 f., 342, 355, 404, 407 Blank, Theodor 178 Blüm, Norbert 265, 286, 289 f., 293, 371, 375 Blume, Otto 167–169, 172 f. Bogs, Walter 82 Booth, Charles 32, 309 Bowley, Arthur Lyon 33 f., 47 Brandt, Willy 188 Brown, Gordon 239–241, 304, 317, 319–321, 335 Bühler, Theodor 106 Cameron, David 335 f., 404 Castle, Barbara 144, 146–148, 241 Churchill, Winston 57 Clinton, William Jefferson »Bill« 297 Clough, W.H. 126 Cole, Dorothy (später: Dorothy Wedderburn) 112, 116 Crosland, Anthony 127 f.
Crossman, Richard 119 f., 124, 126, 128 f., 131 f., 138, 140, 144, 148 Dale, C.R. 137 de Jesus, Carolina Maria 164 Dean, Paul 145 Disraeli, Benjamin 120, 142 Döhring, Clara 90 Drake, Jeannie 334 Dregger, Alfred 284 Dreßler, Rudolf 291–293, 371 Durkheim, Émile 312 Ebbinghaus, Bernhard 273 Eden, Anthony 210 Epps, George 49 Erhard, Ludwig 85 Ermisch, John 207 Esping-Andersen, Gøsta 13, 310 Fawcett, Helen 135 Field, Frank 319 Fink, Ulf 283, 289 Fowler, Norman 145, 202–205, 209 Freeden, Michael 141 Friedeburg, Ludwig v. 68 Fuchs, Anke 277 Gaitskell, Hugh 127 Geißler, Heiner 248–252, 254, 289 Geyer, Martin 105 Göckenjahn, Gerd 77 Griffith, James 39, 59 Groth, Sepp 76 f. Hayek, Friedrich August v. 209 f. Heath, Edward 132, 141, 143 Heubeck, Georg 95 f. Hewitt, Patricia 152 Hills, John 334 Hobman, David 151
468 Register Hobsbawm, Eric 10 Hockerts, Hans Günter 11, 80 Höffner, Joseph 82 Hogg, Quintin 32 Jantz, Kurt 82, 85, 93, 95, 97, 99 Jenkin, Patrick 200 Jones, David Caradog 34 Jones, Jack 137, 153, 241 Jores, Alfred 168 Joseph, Keith 132, 209, 211 Jowitt, William 59 Kaufmann, Franz-Xaver 17, 88 Keynes, John Maynard 31, 50 Killat, Arthur 81, 89 Klages, Helmut 249 Kohl, Helmut 260, 277, 279 f., 288, 291, 384 Kohli, Martin 13, 254 Kolb, Rudolf 257 König, René 168 Korspeter, Lisa 180 Lafontaine, Oskar 371 Lammert, Norbert 288 Lavers, G.R. 61 f., 64, 121 Lawson, Nigel 204 f. Lehr, Ursula 166, 173, 254 f., 274 Lepsius, M. Rainer 16, 21 Liebing, Herbert 91 Lilley, Peter 237 Luhmann, Niklas 10, 174, 343 Luserke, Klaus 179 Macdonald, Gordon 35 Mackenroth, Gerhard 105 f. Macleod, Ian 143 Macmillan, Harold 129, 133, 139 Major, John 197, 237, 305 Mandelson, Peter 242 Marquard, Odo 174 Marshall, Thomas H. 41 Maxwell, Robert 234 Meade, James 42 Merkel, Angela 391 Miegel, Meinhard 281 f. Morgan, Hyacinth 48 Morrison, Robert 58 Müller, Kerstin 376 Müller-Armack, Alfred 156
Müntefering, Franz 388 Muthesius, Hans 82 Nell-Breuning, Oswald v. 83, 276 f., 284 Neumeister, Heddy 97 Neundörfer, Ludwig 82 O’Malley, Brian 144 Offe, Claus 198, 249 Olson, Mancur 249 Phillips, Thomas 57 Pierson, Paul 23, 197 Pollock, Friedrich 79 Portillo, Michael 237 Powell, Enoch 143 Preller, Ludwig 81, 92 Raffelhüschen, Bernd 376 Raphael, Lutz 309 Rawls, John 17, 20, 128 Reagan, Ronald 211 Rexrodt, Günter 363 Riester, Walter 371, 382, 386 Roberts, Alfred 137 Roosevelt, Franklin Delano 88 Rosenmayr, Leopold 273 Rowntree, Benjamin Seebohm 32–34, 45, 47, 61 f., 64, 75, 109 f., 121, 309 Ruf, Thomas 180 Rürup, Bert 371, 384 Schäffer, Fritz 83, 85 Schellenberg, Ernst 85, 176 f., 181 f., 186, 191 Schelsky, Helmut 77–79, 89 Schewe, Dieter 103 Schiller, Karl 189, 191 Schmähl, Winfried 80, 371, 379 Schmidt, Hansheinrich 262 Schmidt, Helmut 189 f., 258 Schreiber, Wilfrid 83 f., 88, 91, 95 f., 119 Schröder, Gerhard 370 f., 376 Schwarz-Schilling, Christian 284, 289 Sen, Amartya 313 Sexton, Thomas 58 Simmel, Georg 38, 149 Smith, John 238 Stock, Christian 92 Storch, Anton 83, 90, 99, 101, 103 Strang, Heinz 156
Sachregister 469 Sumption, Jonathan 211 Süßmuth, Rita 255, 294 Tartler, Rudolf 77 Tawney, Richard Henry 32, 128 Thatcher, Margaret 132, 145, 197–199, 201– 203, 205–213, 216, 223, 228–230, 234–237, 240, 263, 279, 288, 298, 318, 321, 333, 342, 346, 401 Thomae, Hans 166, 173 Titmuss, Richard M. 30, 64, 78, 119, 124–126, 163, 217, 410 Townsend, Peter 63 f., 109 f., 112, 119, 124, 143, 155, 221 Tremmel, Jörg 375
Tribe, Frank 34 Turner, Adair 334 Tyrell, H.W. 56 Utting, J.E.G. 112, 116 Wahl, Stefanie 281 Walter, Norbert 362 Walzer, Michael 18 Wedderburn, Dorothy, siehe Cole, Dorothy Weingart, Peter 343 Willetts, David 333 Wilson, Harold 131, 141 Wood, Edward Frederick Lindley (Viscount Halifax) 55
Sachregister Acheson Report 315 Age Concern 150–153, 232, 242, 309 Altenberichte der Bundesregierung 254, 354 Altersarmut, siehe Armut Altersbild 68, 78, 119, 150, 173, 254, 338, 354 f. Altersforschung, siehe Gerontologie Alterssicherung in Deutschland (ASID) 245, 253, 348 f. Americans for Generational Equity (AGE) 236 Armut 109–111, 219–222, 246–253, 297 f., 304–307, 309–315, 351 f. –– Altersarmut in Deutschland 67, 73, 75 f., 79, 89, 155–165, 174, 180, 183, 193 f., 246–248, 250–253, 255, 282 f., 289 f., 351–355, 384, 393–395, 405–410 –– Altersarmut in Großbritannien 33–35, 37 f., 45, 52 f., 56 f., 62, 65, 109–117, 121 f., 149, 151 f., 154, 193, 220–223, 227, 246, 297, 304–309, 317, 321, 337, 406–410 –– britisches Armenrecht (Poor Law) 43, 58, 61, 318, 398 –– Armutsdefinition 33 f., 38, 110 f., 121 f., 152, 157 f., 163 f., 221, 311–313 –– Armutsforschung 15, 32–34, 45, 47, 61–64, 74 f., 109–111, 163, 251 f., 309, 312 f. Association of British Insurers (ABI) 341 Association of Consulting Actuaries 324 Australien 341
Baby-Boomer 208, 333 f., 403 Bank of England 326 Basic State Pension 45–50, 59–61, 120, 122 f., 129, 131 f., 136, 146 f., 150, 153, 181, 199–201, 210, 216, 232 f., 237, 240 f., 300, 302, 318–321, 335–337, 340, 397–399, 404 Belgien 222 Berliner Altersstudie (BASE) 357 Betriebliche Alterssicherung –– in Deutschland 193, 349, 381, 383 –– in Großbritannien 22, 113 f., 116, 120 f., 123, 125, 131 f., 138–140, 143, 148, 204, 206, 217–219, 233, 302, 318, 321–324, 326 f., 333 f., 339, 344, 398, 403, 405 –– gesetzliche Regulierung 234, 237, 324 f., 340, 344, 381 f., 405 Beveridge-Kommission (Committee on Social Insurance and Allied Services) 29, 31, 39 f., 42, 45 f., 50, 52, 81, 238, 334 Beveridge-Report 29, 38–41, 43, 46 f., 49 f., 54–59, 81, 90, 104, 133, 149 f., 343, 404 Black Report 223, 227, 315 Bonner Längsschnittstudie über das Altern (BOLSA) 166 British Employers’ Confederation 39, 51 British Institute of Management 203 British Medical Association 34 British Pensioners Trade Union Action Association 150 British Social Attitudes Survey 231, 331
470 Register British Social Science Research Council 110 Bulgarien 311 Bund Katholischer Unternehmer 83 Bundesbank 258 Bundesministerium der Finanzen (BMF) 31, 371 f. Bundesministerium für Arbeit (BMA)/ Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bzw. Soziales (BMAS) 82 f., 85–87, 90 f., 93 f., 111, 168, 171, 186, 250, 264, 277, 285 f., 291 f., 360, 371 f., 402 –– Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen 91 –– Generalsekretariat für die Sozialreform 82, 85, 90 f., 93, 101–103 Bundessozialgericht 272 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 155 f., 168, 248 Bundestag 85 f., 96, 99, 101, 103, 162, 180, 184 f., 188, 191, 259, 265, 281 f., 372, 378 –– Sozialpolitischer Ausschuss 86, 92 Bundestagswahlen, siehe Wahlen zum Deutschen Bundestag Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 370 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 190, 287, 370 Bundesverfassungsgericht 260, 263, 266 Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) 360 Bündnis 90/Die Grünen 282, 291, 370, 375 f., 379 CDU/CSU (Christlich Demokratische
Union/Christlich Soziale Union) 86 f., 94, 97, 102, 178, 182–184, 186, 188, 191 f., 248, 250 f., 273, 275, 280, 287–291, 294, 400 –– Bundestagsfraktion 86, 284, 288 –– Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) 290 –– Mittelstandsvereinigung 284, 363 Confederation of British Industry (CBI) 145, 203, 334, 341 Conservative Party 57, 129, 139, 197, 209, 213, 227, 229, 240, 309, 315, 321, 338 –– leitende Wertideen 132 f., 141–145, 154, 208–211, 232, 282, 288, 401 –– One Nation Group 142 f.
Dänemark 338, 346 Demographische Entwicklung 40, 48–50, 77, 134, 165, 190, 207–209, 235 f., 240, 274–280, 284, 289, 295, 327–330, 334, 340, 366, 374, 381, 389, 402 f., 411 Department for Work and Pensions (DWP) 308 Department of Health and Social Security (DHSS) 131, 148, 205 Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) 185, 287 Deutsche Arbeitsfront (DAF) 106 Deutsche Bank 362, 375 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 68, 165, 345, 347, 359–361 –– Rentensystem 359 Deutsche Gesellschaft für Gerontologie 166 Deutscher Alterssurvey (DEAS) 351, 357 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 74, 88 f., 94, 185, 263, 287 Deutsches Aktieninstitut 373 Deutsches Industrieinstitut 178 Deutsches Institut für Altersvorsorge 375 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 161 Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) 173, 351 Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 157, 245, 252, 351, 353 English Longitudinal Study of Ageing (ELSA) 303 f. Eurobarometer 231 Europäische Union/Europäische Gemeinschaft 12, 100 f., 133, 136, 151, 153, 231 f., 235, 308, 310 f., 353, 364, 381, 389, 398, 405, 407, 411 –– Europäische Kommission 164, 231, 251, 330, 367 –– Europäischer Gerichtshof 237 –– Offene Methode der Koordinierung 12, 310, 367 f. Fabian Society 39, 46, 49, 119 Family Expenditure Survey (FES) 110, 221 FDP (Freie Demokratische Partei) 177, 181, 186, 188, 194, 258 f., 262, 273, 278, 280, 291, 363, 370, 375 Finnland 222 Frankfurter Institut für Sozialforschung 68
Sachregister 471 Frankreich 101, 153, 173, 215, 271 Frühverrentung 267–274, 278, 364, 366, 388–392, 403, 408 Generationengerechtigkeit 236, 330–334, 342, 374–378, 393, 412 Gerontological Society (USA) 166 Gerontologie –– in Deutschland 70, 165–173, 187 f., 254 f., 274, 354, 357 f. –– in Großbritannien 64, 77, 167, 357 –– in den Vereinigten Staaten 77, 166 f. Gesundheit/Krankheit im Alter 118, 171 f., 198, 223, 226–228, 236, 315, 330, 356 f., 409 Gewerkschaften –– in Deutschland 87, 104, 186 f., 250 f., 273, 339, 389 f., 393, 402 –– in Großbritannien 35 f., 44, 50–53, 124, 136–138, 140, 150 f., 154, 200, 241, 320, 322, 335, 339, 341, 399, 404 Government Actuary’s Department 200, 207, 325 Griechenland 338 Die Grünen, siehe Bündnis 90/Die Grünen Help the Aged 150–152, 309, 341 HM Treasury 31, 34, 37, 40, 49 f., 52, 56, 129 f., 135, 205, 237 Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung 167 Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 281 Institute for Fiscal Studies 203, 207 Institute of Economic Affairs 143 Intergenerational Foundation 331 International Labour Office (ILO) 42 Italien 153, 338 Japan 9 Joseph Rowntree Foundation 229, 309 Kanada 341 Kapitaldeckungsverfahren 83, 105 f., 123, 204, 238, 285, 374 Katholische Soziallehre 82, 248, 276, 290 Kindererziehungszeiten –– Berücksichtigung im deutschen Rentenrecht 265, 294 f., 361
–– Berücksichtigung in der britischen Alterssicherung 337 Konservative Partei, siehe Conservative Party Kronberger Kreis 282, 375 Labour Party 34–36, 45, 50, 57–59, 61, 64, 131–145, 147 f., 152 f., 164, 192, 199 f., 202–204, 209, 223, 239–242, 304 f., 307–311, 317–321, 334–344, 397–401, 406 –– Commission on Social Justice 238–240 –– Gerechtigkeitsvorstellungen 120–128, 137, 141, 144, 154, 238 f., 342 –– National Executive Committee 119, 124, 136 –– National Superannuation-Plan 119–129, 132, 134–139, 146, 148 –– Study Group on Equality 127 –– Study Group on Security and Old Age 119 Lebenserwartung im Alter –– in Deutschland 355 f. –– in Großbritannien 223–228, 315–317, 325 f. Liberal Democrats 321, 335, 338, 341 f. Life Offices’ Association (LOA) 139 London School of Economics (LSE) 30, 109, 163, 309 Luxembourg Income Study (LIS) 214 f., 407 Luxemburg 101, 232 Maxwell-Skandal 234 Ministerausschuß für Sozialreform (Sozialkabinett) 82 f., 95, 101 f. Ministry of Health 30, 148, 223 f. National and Local Government Officers’ Association (NALGO) 138 National Employment Savings Trust (NEST) 339–341, 344, 382 National Federation of Old Age Pensions Associations (NFOAPA) 36 f., 42, 48 f., 51, 56, 81, 150, 153 National Health Service (NHS) 57, 223 National Labour Organisation 51 National Pensioners Convention 150, 241 National Spinsters’ Pensions Association 36 Neue soziale Frage 248–251, 289, 354, 410 New Policy Institute 309 Niederlande 101, 136, 153, 222, 230, 271, 337 Nigeria 230
472 Register Nuffield Foundation 63, 70, 112 Ölkrise –– 1973 243, 250 –– 1979 243, 260, 264 One Nation Group, siehe Conservative Party Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) 208, 235 f., 310, 346 PDS (Partei des Demokratischen Sozia
lismus) 372, 379 Pensions Commission 334–338, 340, 342 Phillips Committee 134 Policy Studies Institute 207 Portugal 231 Rente nach Mindesteinkommen 179, 182 f., 187, 191, 194, 246, 256 Riester-Rente 341, 380–384, 387 f. Robert Koch-Institut 355 Rothenfelser Denkschrift 82 Rumänien 311 Rürup-Kommission 379, 385, 389 Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung 370 Schweden 89, 101, 153, 178, 222, 269, 271 f., 311, 341, 346, 382 Sozialbeirat 86, 258, 276, 285 f., 291, 371 Sozialenquête-Kommission 177 f., 274 Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) 355 Spanien 215, 311 SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) 81 f., 85–88, 92, 94, 97, 182, 185–189, 250 f., 258, 278, 280, 283, 287, 291, 293, 361, 370 f., 379, 382, 384, 391, 400 –– Bundestagsfraktion 81 –– Volksversicherungsplan 176–178, 181 f. State Earnings-Related Pension Scheme (SERPS) 145–148, 153, 197, 202–209, 211 f., 233, 235, 237, 279, 300, 318, 320 f., 336, 343, 398, 401, 404 State Graduated Pension 129 f., 133
State Second Pension (S2P) 318, 321, 336 Statistisches Bundesamt 74, 157, 159 Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen 375 Trades Union Congress (TUC) 36, 39, 45, 48, 50, 136–138, 150, 203, 341 Transfer-Enquête-Kommission 253 Transport & General Workers’ Union 137 Umlageverfahren 80, 83, 105 f., 123, 360, 370, 400 Ungarn 311 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) 91, 179, 257 f., 285–287, 292, 360, 386, 402 Verein für Socialpolitik 105 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 29, 55, 72, 77, 166 f., 173, 211 f., 215 f., 222, 228, 230, 236, 271, 326, 346, 376 Vereinte Nationen (UN) 230, 313, 328 Versicherungswirtschaft –– in Deutschland 85, 372 –– in Großbritannien 125, 131, 139 f., 145, 148, 203 f., 233 f., 319, 327, 339–342, 398 Wahlen zum britischen Unterhaus (House of Commons) 127, 129, 132, 139, 144, 202, 238–242, 320, 335 Wahlen zum Deutschen Bundestag 81, 83, 87 f., 178, 184 f., 188, 257 f., 287, 291, 370, 378 Wealth and Assets Survey 303 Weltbank 208, 235 f., 330, 366–368, 403, 405 Whitehead Report 223, 226 f., 315 Wirtschaftskrise seit 2008 330, 353, 393 Wohnverhältnisse der Alten –– in Deutschland 75, 170 f., 253 –– in Großbritannien 63, 117 f., 227, 314 f. Zentralkomitee der Deutschen Katholiken 284 Zentralverband des Deutschen Handwerks 175