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German Pages 615 [616] Year 2006
Die Bundesmarine 1950 bis 1972. Konzeption und Aufbau
Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland
Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 4
R. Oldenbourg Verlag München 2006
Johannes Berthold Sander-Nagashima
Die Bundesmarine 1950 bis 1972
Konzeption und Aufbau Mit Beiträgen von Rudolf Arendt, Sigurd Hess, Hans Joachim Mann und Klaus-Jürgen Steindorff
R. Oldenbourg Verlag München 2006
Umschlagabbildungen: Schnellboot der »Zobel«-Klasse und Jagdbomber/Seeaufklärer vom Typ »Sea Hawk«/SKA/IMZBw/Siwik Atombombentest Juli 1970/AP Photo Trotz Nachforschungen konnten nicht alle Fotografen ermittelt werden. Wir bitten nicht genannte Urheber, sich beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt zu melden.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
© 2006 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Umschlag: Maurice Woynoski, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Herstellung: Wuhrmann Druck & Service GmbH, Freiburg ISBN 10: 3-486-57972-X ISBN 13: 978-3-486-57972-7
Inhalt Grußwort des Inspekteurs der Marine Vorwort Bruno Thoß: Einführung
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Johannes Berthold Sander-Nagashima: Die Bundesmarine 1950 bis 1972. Konzeption und Aufbau der kleinsten Teilstreitkraft der Bundeswehr I. Einleitung: Der außenpolitische Rahmen bis zum westdeutschen Verteidigungsbeitrag II. Die Aufbauphase (1955 bis 1961) III. Konsolidierungsphase und Modernisierung (1962 bis 1966/67) IV. Auf dem Weg zur neuen Konzeption der Bundesmarine von 1972
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Zeitzeugen Klaus-Jürgen Steindorff: Die Eingliederung der Bundesmarine in die NATO während der Aufbaujahre
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Sigurd Hess: Als die Computer lernten zur See zu fahren - die Entwicklung von Führungs- und Waffeneinsatzsystemen in der deutschen Marine 1963 bis 1969 433 Rudolf Arendt: Die Marine der Bundesrepublik Deutschland im Wandel der Zeit (1956-2005)
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Interview mit Vizeadmiral a.D. Hans Joachim Mann im MGFA am 3. Juli 2003 (Auszug)
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Ausgewählte Bilder und Übersichten Chronik 1945 bis 2005 Abkürzungen Literatur Personenregister Die Autoren
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Grußwort des Inspekteurs der Marine
Sehr verehrte Leser! In diesem Jahr feiern wir den 50. Jahrestag des Bestehens der Deutschen Marine. 50 Jahre, in denen die Deutsche Marine ihren Beitrag zu einem Leben in Frieden und Freiheit geleistet und die Einbindung in das transatlantische Bündnis prägend beeinflusst hat. Wir blicken dabei auch auf fünf erfolgreiche Jahrzehnte zurück, in denen es uns überzeugend gelungen ist, eine eigenständige, ungebrochene und durchweg positive Tradition in unserer Marine zu begründen. Dies und die Tatsache, dass diese Marine die langlebigste in der Geschichte unseres Landes ist, unterscheidet sie von all ihren Vorgängern. Traditionsbewusstsein setzt jedoch zunächst immer eine profunde Kenntnis der eigenen, jüngsten Geschichte und die Reflexion darüber voraus, denn erst dann ist eine Identifikation mit ihr möglich. Der vor Ihnen liegende, mit hohem wissenschaftlichen Einsatz und Liebe zum Detail gestaltete Band beruht auf neuesten Forschungsergebnissen. Die Resultate dieser Arbeit erlauben Ihnen wissenschaftlich fundierte, kritische und gleichzeitig spannende Einblicke in die Phase der Wiederbewaffnung in unserer damaligen Bundesmarine ab 1956 bis ins Jahr 1972. Die Forschungsergebnisse dieses Bandes umfassen somit einen Zeitraum, in welchem sich die westliche Welt mit den Staaten des Warschauer Paktes fast permanent in einem Spannungszustand, dem Kalten Krieg, befand. Erst die frühen 70er Jahre und der Beginn der Entspannungspolitik führten zu einer Veränderung der weltpolitischen Landschaft, ohne jedoch die Bipolarität der Systeme in Frage zu stellen. Es gilt insbesondere diesen Grundton nahezu dauernder politisch-militärischer Anspannung zu verinnerlichen, wenn man die geschilderten historischen Abläufe angemessen verstehen will. Beiträge von Zeitzeugen, die an den seinerzeit zu treffenden Entscheidungen beteiligt waren, verleihen diesem Band zusätzliche Authentizität und machen ihn zu einem Nachschlagewerk ersten Ranges für den Historiker, den Marineoffizier und jeden geschichtsinteressierten Laien. Die Vielfalt der dabei gewählten Blickwinkel und behandelten Aspekte entwirft im Ergebnis ein sehr vielschichtiges und in dieser Form bisher einzigartiges historisches Gesamtbild unserer jüngsten Marinegeschichte. Ich betrachte es als großen Glücksfall und nennenswerte wissenschaftliche Leistung, dass dieses Werk zustande gekommen ist, und wünsche ihm viele begeisterte Leser. Ihr Wolfgang E. Nolting Vizeadmiral
Vorwort Das Jahr 1955 war ganz gewiss ein Jahr der Entscheidungen. Mit dem Beitritt zur westlichen Allianz waren zuvor noch bestehende Souveränitätsbeschränkungen weitgehend gefallen. Die Bundesrepublik hatte ihre Handlungsfähigkeit nach innen und außen gewonnen. Gleichzeitig sollte sie Sicherheit durch Verteidigung im Bündnis finden. Aber obschon die Weichen mithin bereits gestellt waren, stand die westdeutsche Gegenleistung hierfür noch aus. Es gab 1955 ein Verteidigungsministerium und ab November immerhin sogar einzelne Soldaten in Uniform. Die Aufstellung von Verbänden hatte jedoch noch nicht begonnen. Der Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine - und damit die Umsetzung der Entscheidungen - sollte erst 1956 einsetzen. Im Jubiläumsjahr der Bundeswehr 2005 hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit seiner neuen Publikationsreihe »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland« begonnen, Studien zur Entwicklungsgeschichte der Bundeswehr vorzulegen. Im Lichte der Rahmenbedingungen des Kalten Krieges, der damaligen Vorgaben der NATO sowie der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der westdeutschen Bundesrepublik konzentrieren sich die Folgeuntersuchungen nun im Jubiläumsjahr der Teilstreitkräfte 2006 auf Heer, Luftwaffe und Marine. Innerhalb kurzer Zeit kann somit das im ersten Band der Reihe vorgestellte Zusammenspiel von bündnisstrategischen Vorgaben und nationaler Verteidigungsplanung fortgesetzt werden auf der Ebene der faktischen Realisierung. Der Band zur Marine bietet zunächst einen Beitrag zur Grundlagenforschung. Fregattenkapitän Dr. Sander-Nagashima hat auf der Basis archivalischer Quellen Konzeption und Aufbau der Bundesmarine mit ihren mitunter recht überraschenden Wendungen, zugleich aber auch mit ihren beachtlichen Kontinuitäten minutiös nachgezeichnet. Allerdings geht die Geschichte der Marine der Bundesrepublik ebenso wenig in ihrer konzeptionellen Ausrichtung und ihrem organisatorischem Aufwuchs auf, wie mit den ersten beiden knappen Jahrzehnten die Zeit ihres doch schon wesentlich längeren Bestehens bereits erfasst ist. Aus diesem Grunde freut es mich besonders, dass nicht zuletzt für jene Bereiche, die sich archivgestützter Historiographie noch entziehen, die Beiträge von vier durch ihr eigenes Wirken an prominenter Position ausgewiesenen »Zeitzeugen« für diesen Band gewonnen werden konnten. Sehr dankbar bin ich in diesem Zusammenhang Vizeadmiral a.D. Hans Joachim Mann, Konteradmiral a.D. Rudolf Arendt und Konteradmiral a.D. Dr. Sigurd Hess für Ihre Mitwirkung. Gleichermaßen zu Dank verpflichtet bin ich Konteradmiral a.D.
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Vorwort
Klaus-Jürgen Steindorff, der leider vor Erscheinen des Bandes verstorben ist. Herrn Leitenden Wissenschaftlichen Direktor Dr. Bruno Thoß danke ich schließlich für die Einführung in den militärgeschichtlichen Zusammenhang des Bandes. Wie immer wäre die Veröffentlichung eines solchen Bandes nicht möglich gewesen ohne die Hilfe zahlreicher Mitarbeiter vor allem, wenn auch nicht allein der Schriftleitung. Wesentlichen Anteil an der Erschließung des Materials hatte Kapitänleutnant (d.R.) Daniel Jost, jetzt Mitarbeiter im BundesarchivMilitärchiv. Der Zusammenstellung der organisationsgeschichtlichen Übersichten hat sich Frau Shiraishi Chihirö angenommen. Die bis in die Gegenwart reichende Chronik wurde von Ulrike Lützelberger M.A. bearbeitet. Die Texterfassung lag in den Händen von Antje Lorenz, Maurice Woynoski entwarf das Buchcover und um die Bildredaktion hat sich Dipl.-Phil. Marina Sandig gekümmert. Die Karten und Graphiken wurden von Dipl.-Ing. Bernd Nogli, Sabrina Gherscfeld und Harald S. Wolf M.A. erstellt. An der Vorbereitung der Veröffentlichung hat zudem Frau Eva Besteck mitgewirkt. Die Aufgaben der Koordination teilte sich Dr. Aleksandar-S. Vuletic mit Fregattenkapitän Dr. Frank Nägler. Ihnen allen danke ich um so mehr, als der Übergang zur »Armee im Einsatz« auch vor dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt nicht Halt gemacht hat. Fregattenkapitän Dr. Sander-Nagashima konnte zwar noch seinen Beitrag abschließen, bevor er seinen Dienst im Rahmen der Beobachtungsmission der Vereinten Nationen im Sudan aufnahm, an der weiteren Begleitung der Publikation war er damit aber verhindert. Freilich ist mit der Transformation der Bundeswehr nicht alles anders geworden. Dem Inspekteur der Marine danke ich herzlich für ein Grußwort, in dem er die Kontinuität der heute langlebigsten deutschen Marine hervorhebt. Über deren Wurzeln in der Zeit des Kalten Krieges und vor allem über die ersten Jahrzehnte aufzuklären, ist Anliegen des nachfolgenden Bandes.
Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Bruno Thoß Einführung
Als am 12. November 1955 in der Bonner Ermekeilkaserne die ersten 101 Soldaten in einem für den Geschmack des Bundeskanzlers wenig feierlichen Akt1 ihre Ernennungsurkunden überreicht bekamen, wurde dies in der Presse als »Die Geburtsstunde der neuen Streitkräfte« herausgestellt 2 . In der Militärischen Abteilung des Verteidigungsministeriums sah man darin jedoch vorerst nur einen aus der Not geborenen Akt, mit dem an die immer besorgter nachfragende NATO endlich ein öffentliches Signal über den Beginn des angemahnten Streitkräfteaufbaus abgegeben werden sollte3. Durch den gewählten Tag, den 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst, hatte man dies immerhin mit einem Zeichen für die eigene Reformorientierung verbinden können. Jetzt wie nach 1806 müsse es darum gehen, »aus den Trümmern des Alten wirklich etwas Neues wachsen [zu lassen], das unserer veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird« 4 . Die neuen Streitkräfte sollten mithin von Anfang an nicht nur ihrem militärischen Auftrag gerecht werden, sondern anders als die Reichswehr der ersten deutschen Republik auch voll in den vorgegebenen Rahmen einer parlamentarischen Demokratie und ihrer pluralistischen Gesellschaftsordnung integriert werden. Aus Sicht des Leiters der Militärischen Abteilung, Generalleutnant Adolf Heusinger, blieb es aber dabei, dass nicht eine derartige »Schaunummer für die Presse«, sondern erst der Dienstbeginn in den Lehrkompanien des Heeres (Andernach), der Luftwaffe (Nörvenich) und der Marine (Wilhelmshaven) am 2. Januar 1956 als »Geburtstunde neuer Wehrmacht anzusehen« [sie!] sei5. Die Absicht, den Aufbau der neuen Armee mit der Aufstellung ihrer Teilstreitkräfte einsetzen zu lassen, korrespondierte im Übrigen voll mit der Berechnung des Zeitbedarfs für den Abschluss des gesamten Aufrüstungsprozesses in der Bundesrepublik, für den man der NATO gegenüber nach entsprechenden Zusagen des Bundeskanzlers drei Jahre veranschlagt hatte. 1 2 3
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Schreiben Adenauers an Blank, 17.11.1955, zit. nach Schwarz, Adenauer, S. 246. So die Überschrift eines Artikels in: Die Welt, 14.11.1955. Zu den Begleitumständen dieser Veranstaltung: Thoß, Allgemeine Wehrpflicht, S. 147-150. Rede Blanks und Antwort des dienstältesten Soldaten, Generalleutnant a.D. Heusinger, 12.11.1955, BA-MA, BW 9/2527-121, Bl. 82-88. Tagebuch der militärischen Abteilung, 17.11.1955, ebd., BW 9/2527, Bl. 65.
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Bruno Thoß
Auch bei SHAPE hatte man deshalb als Einstieg dazu den Jahresbeginn 1956 ins Auge gefasst, die Verfügbarkeit einsatzfähiger und der NATO assignierter deutscher Heeresverbände mithin auf 1959 angesetzt6. In Fontainebleau wie in Bonn verband sich damit die Erwartung, dass man erst dann auch wirklich an die Implementierung einer nach Osten an die Grenzen der Allianz vorgeschobenen Verteidigung (forward defense) gehen konnte, wenn die seit 1949 dafür angenommene Streitkräftelücke in Mitteleuropa über vollwertige deutsche Landstreitkräfte geschlossen war. Mit Bezug auf die Luft- und Seestreitkräfte des neuen deutschen Partners hatte man bei der NATO wie bei der politischen und militärischen Führung in Bonn von vornherein einen höheren Zeitansatz in Aussicht genommen7. Die daran anknüpfenden Forderungen nach einer verzugslosen Einleitung des Aufbaus einsatzfähiger Verbände im Rahmen ihrer Teilstreitkräfte darf indes nicht dahingehend missverstanden werden, als habe man sich in der künftigen Bundeswehrführung oder gar bei den für die Operationsplanung verantwortlichen NATO-Stäben einem Denken verschrieben, das einen künftigen europäischen Krieg in ein Nebeneinander von Kriegsszenarien zu Lande, in der Luft und zur See auseinanderfallen sah. Gerade die angelsächsisch geprägte und geführte nordatlantische Allianz wusste sich aus den Erfahrungen der Westalliierten in zwei Weltkriegen dem Grundsatz einer Gesamtkriegführung verpflichtet. SHAPE hatte dies im Übrigen für die angenommenen Hauptgefahrenzonen von Nordnorwegen über Mitteleuropa bis in den östlichen Mittelmeerraum auch bereits in die Planung eng miteinander verzahnter Operationen von Land-, Luft- und Seestreitkräften umgesetzt8. Das korrespondierte vollkommen mit den Vorstellungen führender deutscher Militärexperten seit ihrem ersten Gedankenaustausch im Eifelkloster Himmerod (3. bis 6. Oktober 1950). Sie sahen eines der wesentlichsten Mankos deutscher Kriegführung im Zweiten Weltkrieg darin, dass die militärischen Verantwortlichkeiten in der Wehrmachtführung mit Blick auf die Führungsabläufe und Einsatzräume letztlich nur über die Person des »Führers« Adolf Hitler koordiniert werden konnten. Im Gegensatz dazu war nunmehr schon in Friedenszeiten eine Spitzengliederung angedacht, bei der einem verantwortlichen »Inspekteur [...] alle dem >Deutschen Kontingent angehörenden Wehrmachtsteile unterstehen« sollten9. Ganz im Sinne einer insbesondere von der Führungsmacht USA geforderten ökonomischen wie militärischen Lastenteilung im Bündnis (burden sharing) konzentrierte sich die deutsche Operations- und Streitkräfteplanung dabei arbeitsteilig auf die erwartete große Land-Luft-Schlacht um das angenommene 6
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Zu den zeitlichen Aufbauplanungen im Amt Blank vgl. AWS, Bd 3, S. 632 f. (Beitrag Greiner). Das Problem der »Streitkräftelücke« ist eingehend beschrieben bei Thoß, NATO-Strategie, Kap. 1/1. Bedrohungsschwerpunkte der NATO und die in den entsprechenden Räumen geplanten 9 Schlachten sind bereits im Strategiepapier MC 14/1 vom 9.12.1952 festgelegt, abgedr. in: NATO Strategy Documents, S. 193-229. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 41.
Einführung
Hauptgefechtsfeld der Allianz in Mitteleuropa. Vorrangiges deutsches Interesse musste es von daher sein, durch den eigenen Streitkräftebeitrag so rasch wie möglich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die NATO ihre Grundabsicht einer »forward defense« wahrmachen und das Bündnisgebiet damit »so weit ostwärts wie möglich verteidigt werden«10 konnte. Nur so mochte es möglich sein, der Bundesrepublik mittelfristig das Schicksal zu ersparen, im Rahmen einer bislang an der Rhein-Ijssel-Linie einsetzenden Verteidigung lediglich das vorgeschobene Schlachtfeld des Bündnisses mit all seinen verheerenden Folgen für Bevölkerung und Infrastruktur des eigenen Landes abgeben zu müssen. Bundeskanzler Konrad Adenauer brachte die nationalen Erwartungen in der entscheidenden Bundestagsdebatte um die Ratifizierung der Pariser Verträge im Februar 1955 noch einmal nachdrücklich auf den Punkt, dass »wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrussland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld [sind], und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr«11. Entgegen solchen sehr optimistischen Annahmen würde freilich auch dann noch das westdeutsche Territorium von seiner wehrgeografischen Lage wie von seiner Truppendichte her die Hauptlast einer Kriegführung mit ihren erheblich gesteigerten Waffenwirkungen zu tragen haben. Solche totale Kriegführung hatte aber schon in der Endphase des zurückliegenden Weltkrieges ein herkömmliches Denken und Planen in den Kategorien von Front und Heimat obsolet gemacht. Das setzte aber auch dem Eigeninteresse der Teilstreitkräfte aus Sicht der in Himmerod tagenden Militärexperten von vornherein enge Grenzen, erzwang die Vertretung nationaler Interessen in der Bündnisverteidigung wie die Notstands vor sorge im Bundesstaat doch von Anfang an gebieterisch eine Einbettung aller Anstrengungen zur militärischen wie zivilen Verteidigung in den Rahmen einer »Gesamtverteidigung«12. Hinzu kamen die Ansichten der in der künftigen Bundeswehrführung dominierenden Heeresoffiziere, die aus ihren spezifischen Ostkriegserfahrungen eigene operative Vorstellungen in die gemeinsame Bündnisplanung einzubringen gedachten. Danach waren in einem Krieg gegen die Sowjetunion die größten Erfolgsaussichten »in beweglicher Kampfführung« zu erwarten13. Folgte man diesen Vorstellungen, dann erhielt die angestrebte Gesamtstreitkräftelösung auch rein militärisch-operativ zusätzliches Gewicht. Aus solcher Einschätzung einer mit absoluter Priorität geforderten Vorneverteidigung des eigenen Territoriums im Zusammenwirken mit den ostwärts des Rheins stationierten Kontingenten der NATO-Partner leitete sich in der Himmeroder Denkschrift ein dezidiert landkriegsorientiertes Kriegsbild und ein darauf abgestimmtes 10 11
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Ebd., S. 39. 70. Sitzung, 25.2.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 23, S. 3736; zu den deutschen Sorgen um ein »Schlachtfeld« Westdeutschland allgemein: Maier, Battlefield und Thoß, Deterrence. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 39. Ebd., S. 39 und 40; vgl. dazu auch Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen und Gablik, Strategische Planungen.
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Bruno Thoß
Streitkräfteprofil für ein künftiges westdeutsches Kontingent ab. Eng angelehnt an ein für den Bewegungskrieg als besonders geeignet angesehenes panzerstarkes Heer waren dazu Luftstreitkräfte angedacht, die wesentlich der unmittelbaren Kampfunterstützung in der erwarteten großen Landschlacht um Mitteleuropa dienen und deshalb hauptsächlich aus »Heeres-Fliegerverbänden« bestehen sollten. Ahnlich zurückhaltend nahmen sich die Überlegungen für die eigenen Seestreitkräfte aus, denen vorrangig die Unterbindung des »russischen Nachschubverkehrs in der Ostsee«, ein »Minenfreihalten von eigenen Nachschubwegen und Verkehrswegen« sowie ein Flankenschutz »des eigenen an das Meer angelehnten Heeresflügels gegen Beschießungen und überflügelnde Landungen« von See her zufallen sollte. Dagegen erschien ganz im Sinne der im Bündnis geforderten Arbeitsteilung zu diesem frühen Zeitpunkt »eine Übernahme der Luftverteidigung des Luftraumes der Bundesrepublik ohne technische Schwierigkeiten durch die Westmächte möglich«, wie man auch die Verantwortung für eine weiträumige Sicherung der lebensnotwendigen Atlantikrouten bei den angelsächsischen Seemächten verortete14. Diese Vorüberlegungen trafen sich zunächst vollkommen mit den Forderungen der Westmächte bei den EVG-Verhandlungen von 1951/52 wie bei den Beitrittsverhandlungen zu NATO und WEU im Herbst 1954. Im Bündnisrahmen - sei es in einer Europa-Armee oder als NATO-Kontingent - ließ sich das Interesse der künftigen Partner an einem westdeutschen Streitkräftebeitrag nämlich auf die doppelte Formel bringen: Sicherheit mit Deutschland bei gleichzeitiger Sicherheit vor Deutschland. Einerseits sollten deutsche Verbände so zügig und effizient wie möglich die ausgemachte Streitkräftelücke in Mitteleuropa schließen, dabei aber nach personellem Umfang, weitreichender Bewaffnung und operativen Eigenspielräumen unter strikter Bündniskontrolle gehalten werden. Auf der Frühjahrskonferenz der Allianz in Lissabon 1952 hatte man dazu noch den Aufbau von NATO-Verbänden in einem Umfang angesteuert, der gegenüber den Armeen des Ostblocks gleichwertig sein sollte und in den deshalb insbesondere die zwölf in Aussicht genommenen deutschen Heeresdivisionen fest eingeplant waren. Dieses umfassende Aufrüstungsprogramm ließ sich indes in den westeuropäischen NATO-Staaten nicht umsetzen, so dass man bereits ab 1953 eine Strategiereform einleiten musste. Da sich herkömmliche Streitkräfte nach Zahl und Einsatzwert nicht im geforderten Umfang realisieren ließen, wollte man dies durch überlegene nukleare Feuerwirkung aufwiegen und dazu taktisch-atomare Gefechtsfeldwaffen bis in die operativen Verbände der NATO hinein integrieren. Diese Nuklearisierung der Bündnisstrategie seit 1953/54 löste allerdings sofort auch in Westeuropa eine in den USA bereits voll im Gange befindliche Debatte zwischen den Teilstreitkräften über die ausschlaggebende Waffe in einem künftigen Krieg aus15.
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Zu »Umfang, Art und Bewaffnung der Verbände des Deutschen Kontingents« vgl. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 42-49. Vgl. dazu Greiner/Maier/Rebhan, Die NATO, S. 65-101.
Einführung
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In solcher Perspektive einer wesentlich großräumigeren und vor allem vom frühzeitigen Einsatz des eigenen Atompotentials abhängigen Verteidigungsplanung der Allianz gewannen die Teilstreitkräfte damit wieder erheblich an Gewicht. Im Grundsatz blieb zwar auch weiterhin auf der Bündnisebene wie innerhalb der Bundeswehrführung die Orientierung an einer Gesamtkriegführung unstrittig. Gerade die atomare Schwerpunktsetzung in der ab 1955 implementierten Strategie der »massive retaliation« verschärfte aber in allen NATO-Staaten die Konkurrenz der Teilstreitkräfte um eine Neuverteilung der finanziellen Ressourcen, abgeleitet von ihrem Rollenverständnis in der Abschreckungsstrategie wie in einem möglichen Krieg der Zukunft. Angelsächsisches Denken in den Kategorien weiträumiger See- und Luftoperationen musste dazu abgeglichen werden mit den Forderungen der Westeuropäer, die sich am absoluten Vorrang der Territoriumsverteidigung auf dem europäischen Kontinent orientierten. Die Diskrepanzen darüber fielen naturgemäß gegenüber dem neuen deutschen Partner besonders groß aus, da hier die Forderung nach unbedingter Vorneverteidigung zusammentraf mit dessen Vorstellungen von beweglicher Operationsführung. Wenn daher die künftige Bundeswehrführung die NATOVerteidigung auch weiterhin in einer großen Land-Luft-Schlacht um Mitteleuropa gipfeln sah, dann konnte und musste man demgegenüber aus der Sicht der angelsächsischen Führungsmächte zu Lande durchaus zeitweilig Raum aufgeben, weil man die Entscheidung in den eigenen strategischen Gegenoffensiven in der Tiefe der gegnerischen Territorien zu suchen gedachte16. Durchsetzen musste sich zwangsläufig die angelsächsische Perspektive, da sie nicht nur auf den ausschlaggebenden nuklearen Mitteln im Krieg der Zukunft aufbaute, sondern ihre Einschätzungen über die bei SHAPE konzentrierte operative Planung und Führung auch in entsprechende Vorgaben für die Bündnisverteidigung umsetzen konnte. Für die aufwachsenden deutschen Verbände bedeutete dies, dass sie zwar als Gesamtkontingent in das NATOKommando Europa-Mitte (Allied Forces Central Europe, AFCENT) eingegliedert, ihre Land-, Luft- und Seestreitkräfte aber in der Operationsplanung wie im Einsatzfall nicht mehr auf nationaler Ebene koordiniert, sondern ihre spezifischen Rollenzuweisungen erst auf der Unterebene der nach Teilstreitkräften organisierten Subkommandos von AFCENT für dessen Land-, Luft- und Seestreitkräfte (LANDCENT, AIRCENT und NAVCENT) erhalten würden. Bei aller grundsätzlichen Ausrichtung am Prinzip der Gesamtverteidigung empfingen die aufwachsenden Teilstreitkräfte der Bundeswehr mithin ihre entscheidenden Impulse für Aufbau, Gliederung und Bewaffnung letztlich aus den Besonderheiten ihrer spezifischen Einsatzprofile. Diese gegenläufigen Tendenzen einer Grundorientierung an den Prinzipien einer aufeinander abgestimmten Gesamtkriegführung bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung in gesonderte Einsatzszenarien unter atomaren Bedingungen bündelten sich beim Aufbau der 16
Das Aufeinanderprallen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Vorstellungen ist eingehend analysiert bei Wampler, Ambiguous Legacy, Greiner/Maier/Rebhan, Die NATO und Thoß, NATO-Strategie.
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Bruno Thoß
Bundeswehr mit den Eigeninteressen der beiden kleineren Teilstreitkräfte. Die Marine hatte sich seit ihrem forcierten Aufbau im Kaiserreich durchgängig als eigenständige Streitmacht verstanden und entwickelt, die Luftwaffe strebte Ähnliches vor und während des Zweiten Weltkrieges ebenfalls an. Das sollte auch auf die Bundeswehr ausstrahlen als fortdauerndes Spannungsverhältnis zwischen prinzipiell akzeptierter gemeinsamer Verteidigungsplanung im nationalen wie im Bündnisrahmen bei gleichzeitigem und durch die Integration in die NATO sogar noch verstärktem Bestreben nach angemessener Eigenständigkeit. Diese Mischung aus geforderter Gesamtplanung für die Bundeswehr bei weiterwirkendem Eigeninteresse der Teilstreitkräfte durchzieht die gesamte Geschichte der Streitkräfte, zusätzlich verschärft durch das Ringen um entsprechende Anteile an den zur Verteilung stehenden personellen wie materiellen Ressourcen. Sie spiegelt sich auch wider im Auftrag des Stellvertreters des Generalinspekteurs, Vizeadmiral Hans Frank, an das Militärgeschichtliche Forschungsamt von 1998, vorausschauend auf das Jubiläumsjahr der Bundeswehr 2005 neben der Erforschung der Gesamtstreitkräfte nunmehr zusätzlich Konzeption und Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine in den Blick zu nehmen. Realisiert werden sollte dazu eine auf die Teilstreitkräfte ausgedehnte Bundeswehrforschung in enger Vernetzung mit den darüber angesiedelten Vorgaben aus dem Bündnis wie aus den nationalen Rahmenbedingungen des Bundeswehraufbaus allgemein. Die Geschichten der Teilstreitkräfte verstehen sich danach als integrale Bestandteile der Bundeswehrgeschichte. In diesem Rahmen stellen Heer, Luftwaffe und Marine auftragsorientierte abgeleitete Teilelemente einer übergeordneten Bundeswehrplanung dar, erst auf dieser Ebene der Umsetzung von der Planung zur Realisierung der Gesamtauftrag wirklich über die Verfügbarkeit von militärischen Verbänden in Zugehörigkeit zur jeweiligen Teilstreitkraft. In so verstandener Geschichte von Teilstreitkräften liegen die Schwerpunkte auf vier konstitutiven Untersuchungsfeldern. Da ist an erster Stelle ihr spezifischer Auftrag zu nennen, der sich aus der strategischen Grundkonzeption des Bündnisses und ihrer nationalen Umsetzung im Rahmen des Streitkräfteaufbaus ergibt. In ihn fließen die Besonderheiten aus einem je eigenständigen Denken in den Kategorien des Land-, Luft- und Seekrieges ein. Angemessen zu berücksichtigen sind zudem die spezifischen Herausforderungen aus der Revolutionierung der Waffentechnik, wie sie aus der Nuklearisierung der Bündnisstrategie - wenn auch in unterschiedlicher Intensität - auf alle Ebenen des Streitkräfteaufbaus durchschlug. Abgeleitet aus einer Analyse des Auftrages erschließen sich zweitens die Vorgaben für die Organisation und Dislozierung der Verbände einschließlich ihrer erforderlichen Infrastrukturen im nationalen wie im Bündnisrahmen. Die Planung der Verbände auf der Basis ihrer spezifischen Einsatzgrundsätze, ihrer Bewaffnung und ihres Einsatzraumes nimmt im Anschluss daran Gestalt an im Prozess der personellen und materiellen Rüstung. Darin fließen alle Maßnahmen zu Personalplanung und -bewirtschaftung ebenso ein wie Rüstungsentwicklung, Ausrüstung und Logistik. Aus der historischen Entwicklung von Land-, Luft- und Seestreitkräften ragen schließlich die
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fortdauernden Ausprägungen eines Sonderbewusstseins bis in die Erziehung, die Ausbildung und den Dienstalltag hinein. Zusammen mit den Spezifika ihres Kriegsdenkens und ihrer Auftragslage sowie deren personeller wie materieller Umsetzung bildet sich davon abgeleitet ein spezifischer Geist und Habitus in den Teilstreitkräften aus. Die Möglichkeiten zur Realisierung eines derart umfassenden Ansatzes hatten sich dabei an der Terminvorgabe einer Publikation zum 50-jährigen Bestehen der Teilstreitkräfte, an weiteren Verpflichtungen des Hauses und vor allem an der Zugänglichkeit der benötigten Quellen auszurichten. Die wesentlichste Herausforderung lag dabei in der Auswertung der umfangreichen Aktenbestände aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br., die bislang nur zum geringsten Teil archivisch erschlossen waren und deshalb erst einmal unter hohem Zeitdruck einer Erstauswertung unterzogen werden mussten. Vor diesem Hintergrund waren konzeptionelle Kompromisse einer Auswahl im Sinne einer thematischen Konzentration erforderlich, mit der zwar nicht letzte thematische Vollständigkeit zu erreichen war, die sich dafür aber an den eindeutigen Schwerpunktproblemen beim Aufbau der Bundeswehr ausrichtete. Unter diesen Voraussetzungen stellen die vom MGFA nun publizierten Forschungsergebnisse in ihrer Quellendichte und in ihrer Differenziertheit die bislang ersten und wohl auf absehbare Zeit fundiertesten wissenschaftlichen Analysen zur Aufbauphase der drei Teilstreitkräfte dar. Mit Blick auf die Quellenlage wurde dazu der behandelte Zeitraum chronologisch eingegrenzt auf die bereits historisierbare Konzeptions- und Aufbauphase von Heer, Luftwaffe und Marine. Darunter sind die zwei Jahrzehnte von den ersten Planungsvorstellungen in der »Himmeroder Denkschrift« von 1950 bis zum Abschluss der Aufstellung von Einsatzverbänden zu verstehen, je nach Teilstreitkraft zeitlich voneinander abweichend bis an die Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren. Die dafür gewählte Festlegung der thematischen Schwerpunkte bei Konzeption, Aufbau und Gliederung jeder der drei Teilstreitkräfte ergibt sich aus der Dominanz dieser Fragen in den Planungs- und Aufbaujahren der Bundeswehr. Eingebettet in die beiden Hochphasen des Kalten Krieges - von der Berliner Blockade 1948 bis zu Stalins Tod 1953 und vom sowjetischen Berlin-Ultimatum 1958 bis zur Kubakrise 1962 - standen das atlantische Bündnis wie sein neues westdeutsches Mitglied durchgängig unter dem Eindruck einer Bedrohungsperzeption, die den Kalten Krieg jederzeit zum »heißen« umschlagen lassen konnte17. Die Forderung nach voller Einsatzfähigkeit und schneller Schließung der Streitkräftelücke in Mitteleuropa als Voraussetzungen für eine Vorneverteidigung des deutschen Territoriums ließen deshalb in diesem frühen Zeitraum der Bundeswehrgeschichte die gewählten Untersuchungsfelder Konzeption und Aufbau von militärischen Verbänden bei der politischen und militärischen Führung im Bündnis wie in der Bundesrepublik absolute Priorität genießen. Das mindert nicht den Stellenwert der übrigen Die Strukturen dieser Bedrohung sind eingehend analysiert von Gustav Schmidt in: Mastny/Schmidt, Konfrontationsmuster, S. 1-380.
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Fragestellungen zum personellen und materiellen Aufbau wie zum Selbstverständnis der Soldaten innerhalb ihrer Teilstreitkräfte, die in künftiger Forschung noch zu vertiefen sein werden. Dazu leisten schon jetzt die parallel erarbeiteten Studien zur militärischen Infrastruktur, zur Inneren Führung und zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages auf der Ebene der Gesamtstreitkräfte gerade auch für die Aufklärung über die Probleme und Lösungsansätze dazu in den Teilstreitkräften ganz erhebliche Vorarbeit18. Kennzeichnend für den Aufbau neuer deutscher Seestreitkräfte in diesem Rahmen seit 1955 war es dabei, dass sie nach ihrem Umfang zwar wie ihre Vorgängerinnen im Kaiserreich, in der Reichswehrzeit und in der Wehrmacht des Dritten Reiches auch jetzt wieder im Schatten des Heeres standen. In Konkurrenz zu den dominierenden Landstreitkräften verband sich mit ihrer Existenz aber historisch gesehen durchgängig eine über den kontinentalen Gestaltungsrahmen deutscher Politik weit hinaus greifende Orientierung an einer Perspektive des Ausbrechens aus der regionalen Enge einer reinen Landmacht19. In einem Vorentwurf zur Frage einer Regelung der Traditionspflege in der Marine war diese gerade für die Deutschen als notwendig erachtete Bereitschaft zur Übernahme eigener Verantwortung auf See selbst noch im Herbst 1956 von einem hochrangigen Marineoffizier in die Formel gefasst worden: »Seefahrt ist deutsches Schicksal«20. Wenn das Deutsche Reich auch vor 1945 für die angestrebte Rolle einer Weltmacht zu keinem Zeitpunkt die notwendigen militärischen Mittel auf See aufzubringen vermocht hatte, so erzeugte solches perspektivisches Denken doch ein Selbstverständnis, das sich auch nach 1945 noch einem Planen und Handeln über den Tag hinaus verpflichtet wusste. Natürlich war sich die neue Marineführung klar darüber, dass es jetzt »nicht mehr Sache der deutschen Marine sein [könne], zum Kampf um die Seeherrschaft im klassischen Sinne auf den Weltmeeren aufzutreten«, dass es vielmehr darauf ankomme, »unsere eigenen Küstengewässer und ihr Vorfeld auf See zu verteidigen«21. Die im Vergleich zu Heer und Luftwaffe lange Aufbauphase der Bundesmarine verbunden mit erheblichen materiellen Einschränkungen bis weit in die sechziger Jahre taten ein Übriges, um der Marine im ersten Jahrzehnt ihres Aufbaus von allen Teilstreitkräften das höchste Maß an Selbstbeschränkungen aufzuerlegen. Im NATO-Rahmen wurde dies allerdings aufgewogen durch eine seestrategische Lage der Allianz, in der die zunächst noch sehr be18
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Zur Publikation vorbereitet für 2006 werden dazu derzeit im MGFA die Bände von Nägler, Die personelle Rüstung, Schlaffer, Der Wehrbeauftragte und Schmidt, Integration und Wandel. Wesentliche Einblicke in solche Kontinuitäten deutschen maritimen Denkens und Handelns bietet jetzt die Aufsatzsammlung Deutsche Marinen im Wandel. Referentenentwurf des Marinereferats der Abt. VII im BMVg »Zur Pflege der Tradition«, 13.10.1956, BA-MA, Ν 493/v.27, wobei der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Rüge, diesen Satz nicht in sein Traditionspapier vom 27.2.1957 übernehmen sollte, vgl. Duppler, Germania, S. 205 f. So der kommissarische Leiter der Marineabteilung im BMVg, Kapitän z.S. Zenker in seiner Rede anlässlich der Indienststellung der Marine-Lehrkompanie in Wilhelmshaven am 16.1.1956, abgedr. in: Marinezeitung »Leinen los!«, Nr. 2, Februar 1957, S. 228.
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grenzten nationalen maritimen Möglichkeiten für den deutschen Partner erstmals durch das Bündnis mit den angelsächsischen Seemächten ausgeglichen werden konnte. Gerade dieser langsame Aufwuchs der Einsatzverbände hinderte die deutsche Marineführung aber nicht daran, die augenblicklichen beschränkten Möglichkeiten von Anfang an geistig und planerisch zu überwinden. Nachdrücklich gefördert wurde dieses Planen einer neuen Marine in allmählich zu erweiternder Perspektive über das hinaus, was für sie in Himmerod zunächst angedacht war, durch zwei weitere Voraussetzungen. Die Führungselite der künftigen Bundesmarine vereinte in sich zumindest in ihrer Aufbauphase eine Generationenspanne, die vom jungen Seeoffizier der Kaiserzeit stellvertretend dafür steht an vorderster Stelle ihr erster Inspekteur Friedrich Rüge22 - bis zu den 1956 eingetretenen neuen Offizieranwärtern reichte, die ihre Prägungen wesentlich in der Nachkriegszeit erfahren hatten. Ein Anknüpfen an historische Erfahrungen und deren Anpassung an die neuen Herausforderungen in der Kontinuität eines längeren Atems war von daher schon rein personell auch im künftigen Marineoffizierkorps angelegt. Das korrespondierte mit einer anderen durchgängigen Erfahrung von Seestreitkräften allgemein: ihrer Abhängigkeit von aufwendiger Großtechnik und deren langen Entwicklungszeiten. Eine Erstausstattung der Bundesmarine mit Schiffen, Waffen und Gerät, die anfangs noch nicht einmal den an sich schon reduzierten Einsatzauftrag an den Ostseezugängen durchführbar machte, war dabei für eine auf längerfristige Entwicklung angelegte Marineplanung das Schlechteste nicht. Stellte man dafür nämlich die zeitaufwendigen planerischen und technologischen Entwicklungsprozesse in Rechnung, dann erwuchsen aus den unbefriedigenden Startbedingungen durchaus Vorteile für die Zukunft. Auf diese Weise ließen sich nämlich parallel zur Aufstellung der Einheiten und zur Ausbildung ihrer Soldaten Planung und Entwicklung für eine Marine der Zukunft einleiten und vorantreiben, die unter dem Stichwort Modernisierung naturgemäß auf zukunftsfähige Einsatzsysteme angelegt sein musste. Die Interessen der NATO an effizienten Seestreitkräften am strategisch neuralgischen Punkt der Ostseezugänge und die begrenzten militärischen Möglichkeiten der kleineren skandinavischen Allianzpartner taten ein Übriges, um das Gewicht eines westdeutschen Marinebeitrags anwachsen zu lassen. Und dabei musste schließlich auch den Herausforderungen aus den Modernisierungen der Seestreitkräfte des Warschauer Paktes einschließlich der Volksmarine der DDR, allen voran der sowjetischen Flotte in der Ostsee angemessen begegnet werden. Die im Zuge des Bundeswehraufbaus vorankommende Vertrauensbildung im Bündnis ermöglichte es deshalb, die einschränkenden Bestimmungen aus den Pariser Verträgen von 1954 Zug um Zug den Erfordernissen gemeinsamer Bündnisverteidigung anzupassen. Vor diesem Hintergrund geht Fregattenkapitän Dr. Berthold Sander-Nagashima im Kernbeitrag des vorliegenden Bandes von den konzeptionellen ÜberlegunGeradezu programmatisch kommt dies noch im Titel seiner Memoiren Rüge, In vier Marinen z u m Ausdruck.
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gen aus, die in den bereits genannten Überlegungen der Himmeroder Expertenrunde über Auftragsprofil und Zuschnitt einer neuen deutschen Marine angestellt worden waren. In der daraus im Amt Blank, ab 1955 in der Abteilung Marine, dann im Führungsstab der Marine weiter entwickelten Konzeption für eine künftige Bundesmarine lag der Schwerpunkt auf der Frage, wie man dem selbst gestellten Anspruch eines effizienten Verteidigungsbeitrages zur See so gerecht werden wollte, dass sich daraus die eigene Existenz und ein angemessener Anteil an den Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik rechtfertigen ließen. In dieser Perspektive musste die mittelfristig anzustrebende Gesamtkonzeption künftiger deutscher Seestreitkräfte aber über die Vorüberlegungen von 1950 und die in den Bündnisvorgaben 1954/55 fixierten Einschränkungen deutlich hinaus geführt werden. Die Grundannahme der neuen Marineführung ging dazu von Anfang an davon aus, dass ihre in Uber- und Unterwasserstreitkräfte sowie in eine eigenständige Marinefliegerkomponente ausdifferenzierten Einsatzverbände mittelfristig letztlich als Einzige in der Lage sein würden, die Lücke in der Vorneverteidigung an den strategisch bedeutsamen Ostseezugängen zu schließen. Im Kriegsfall war demnach erst nach dem Ausbau einsatzfähiger deutscher Seestreitkräfte dem Gegner ein Ausbruch aus der Ostsee Richtung Nordsee und Nordatlantik zu verwehren und gleichzeitig die unbehinderte Nutzung der »unzerstörbaren Rollbahn« Ostsee zur logistischen Unterstützung seines erwarteten Durchbruchs durch Mitteleuropa zu den Atlantikküsten zu unterbinden. Dem standen freilich zunächst erhebliche Hindernisse im Wege. An vorderster Stelle sind dazu die erst allmählich abzubauenden Einschränkungen in der Bewaffnung aus den Pariser Verträgen zu nennen. Die materielle Erstausstattung war gerade einmal für Ausbildungszwecke, bei weitem aber noch nicht für effiziente Verteidigungsoperationen im zugewiesenen Seeraum geeignet. Hinzu kamen Auseinandersetzungen um ein notwendiges zusätzliches Regionalkommando der NATO zur Koordination der Verteidigungsanstrengungen an den Ostseeausgängen (Baltic Approaches, BALTAP), die erst 1963 im Konsens austariert werden konnten, hatten sich doch die Überlegungen über eine gleichberechtigte Ausgestaltung der Spitzenverwendungen auch für die deutsche Seite auf Jahre hinaus an dänischen historischen Vorbehalten und einem von Kopenhagen befürchteten künftigen deutschen Übergewicht festgebissen23. Von daher eröffnete sich für die deutschen Marineplaner eine zunächst kaum zu überbrückende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des für eine Verteidigung der Ostseezugänge militärisch für notwendig Erachteten im Gegensatz zum tatsächlich verfügbar zu Machenden. Verschärft wurde diese aus Sicht des Führungsstabs Marine (Fü M) in den ersten Aufbaujahren als nahezu aussichtslos eingeschätzte Ostseelage durch die Modernisierung der Seestreitkräfte des Warschauer Paktes, in allererster Linie der sowjetischen Ostseeflotte. Gerade dieser unübersehbare Zuwachs an Bedrohung für alle NATOPartner sollte sich allerdings seit Beginn der sechziger Jahre für die deutschen Eingehend beschrieben in einem eigenen Kapitel bei: Thoß, NATO-Strategie.
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Marineplaner als förderlich erweisen. Da die Ressourcen der skandinavischen NATO-Anrainer erkennbar nicht wesentlich über das bereits Geleistete hinaus zu aktivieren waren, um den technisch modernisierten Seestreitkräften des Warschauer Paktes in der Ostsee angemessen zu begegnen, blieb nur der Rückgriff auf die bislang noch nicht hinreichend entwickelten deutschen Seestreitkräfte. Ein Kernstück in der jetzt möglichen Modernisierung auch der Bundesmarine sollte die Entwicklung des Lenkwaffenzerstörers abgeben, in dessen wesentlich erweiterte Einsatzmöglichkeiten die Marineführung hohe Erwartungen setzte. Selbst wenn sich das angestrebte Seekriegsmittel bei näherer Betrachtung dann doch nicht für so weitreichende Aufgaben als tauglich erweisen sollte, wie dies ursprünglich in Erwägung gezogen war, lässt sich an der damit verbundenen Freigabe einer technologischen Entwicklung dieser Reichweite doch ablesen, wie weit inzwischen die Vertrauensbildung im Bündnis gegenüber dem deutschen Partner vorangeschritten war. In dem Maße, wie im Übrigen die Rüstungsinvestitionen beim britischen Partner an ihre ökonomischen Grenzen zwischen Kosten für eine eigenständige Atomstreitmacht und allgemeiner Etatschwäche stießen, sollte auch der bislang eher bremsende britische Verbündete den Diskussionen innerhalb der deutschen Marineführung über ein erweitertes Aufgabenspektrum, zunächst in der Nordsee, schließlich sogar darüber hinaus, mit größerer Offenheit gegenüber stehen. In den sechziger Jahren mussten andererseits auch die Marineplaner den Realitäten einer Nuklearisierung der Bündnisstrategie mit Blick auf die eigene Rolle in der internen Rollenkonkurrenz zu Heer und Luftwaffe, vor allem aber wegen der Einplanung taktischer Atomwaffen in die Bündnisverteidigung an den Ostseezugängen zunehmend Rechnung tragen. Der Schwerpunkt sollte hier aber trotz aller Annäherung an die nuklearen Vorgaben für die Bündnisverteidigung in der NATO im Vergleich zu den anderen Teilstreitkräften auch weiterhin näher an den Mitteln konventioneller Seekriegführung und Einsatzszenarien orientiert bleiben. Der mit der Kennedy-Administration seit Beginn der sechziger Jahre eingeleitete Strategiewechsel hin zur >flexible response< mit ihrer Zielrichtung einer schrittweisen Denuklearisierung der Verteidigungsplanungen in der Allianz, die durchgängig sehr begrenzten Zugriffsmöglichkeiten des deutschen Partners auf Atomwaffen und die allgemein unter die Wirkungen erheblicher Budgetkürzungen gelangende Bundeswehrplanung seit Mitte der 1960er Jahre waren solcher Zurückhaltung in der Bundesmarine durchaus dienlich. Diese Konzentration in der wissenschaftlichen Analyse des Hauptbeitrages auf die ersten eineinhalb Jahrzehnte konzeptioneller Entwicklung und faktischen Aufbaus von Verbänden bettet der Zeitzeugenbericht eines Marineoffiziers der ersten Stunde, Konteradmiral a.D. Rudolf Arendt, vor dem Hintergrund seiner mehrfachen Verwendungen im Bereich der Flotte und bei der NATO, zuletzt als Chef des Stabes Fü S (1980-1983), in zweifacher Weise in einen umfassenderen Zusammenhang ein. Zum einen greift sein thematisch wesentlich breiter angelegter Längsschnitt auch Facetten auf, die unter dem Blickwinkel von Konzeption und Aufbau nicht hervortreten konnten. Außerdem führt sein
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Bericht den Leser von den Anfängen über die 1970er Jahre hinaus bis an die Schwelle zur Gegenwart, ordnet die Konzeptions- und Aufbauphase der Bundesmarine damit in eine zeitlich wesentlich längere Linienführung ein, als dies dem an die Quellen gebundenen Militärhistoriker bereits möglich wäre. Zwei Herausforderungen haben die Entwicklung der deutschen Marine als einer modernen Bündnisstreitmacht weit über ihre Gründungsjahre hinaus stets begleitet. Dies war zum einen die Frage nach dem hauptsächlichen Einsatzgebiet und damit verbunden die Verständigung mit den größeren Partnern in der Allianz über eine deutschen Interessen angemessene Ausweitung. Konteradmiral a.D. Klaus-Jürgen Steindorff (t), ausgebildeter Marineflieger, ist schon als Marineattache in Washington (1974-1977), vor allem aber in seinen Verwendungen als Befehlshaber der Seestreitkräfte der Nordsee (1984-1986) und schließlich als Chef des Stabes und DDO AFNORTH (1986-1989) immer wieder mit diesem Problem einer notwendigen, aber eben nur schrittweise voranzubringenden Ausweitung des Einsatzraumes deutscher Seestreitkräfte in Berührung gekommen. Sein Beitrag beschreibt den zurückgelegten Weg von der anfänglichen Konzentration auf die Ostseeaufgaben hin zu einem in den 1980er Jahren schließlich möglichen Einsatz im >NordflankenraumModerne< einer maritimen Rüstungstechnik nach. Der letzte Zeitzeugenbericht, ein eingehendes Interview des Amtes im Zuge seines Quellensicherungsprogramms mit Vizeadmiral a.D. Hans Joachim Mann, Inspekteur der Marine in den Umstellungsjahren 1986 bis 1991, gewinnt seine Aussagekraft aus dem Mitgestalten des militärischen Einigungsprozesses in herausgehobener Verantwortung. Ausführlich kommen darin Fragen und Entscheidungsprozesse zur Sprache, die sich um die zentralen Bereiche Übernahme von Schiffstechnik und Infrastrukturen sowie einer damit verbundenen ausge-
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weiteten Dislozierung der Bundesmarine im Küstenraum der ehemaligen DDR drehten. Mehr noch werden aber die drängenden Probleme des Umgangs mit dem >Erbe< der Volksmarine und ihrem Personal erörtert. Über lange Jahre eingeführte und erprobte Grundsätze des Umgangs miteinander innerhalb der Bundesmarine sollten sich gerade unter dem Handlungsdruck des zeitlich nur sehr vorläufig vorzubereitenden Vereinigungsprozesses bewähren. In entscheidender Zeit ist damit zugleich ein Beitrag zum Aspekt der Inneren Führung in der Marine angeschnitten, der natürlich in künftigen Forschungen zur Geschichte dieser Teilstreitkraft noch wesentlicher Vertiefung bedarf. Eine eingehende Chronologie sucht dem Leser abschließend Informationen darüber zu bieten, was historiografisch bislang noch nicht aus den Quellen darzustellen ist. Mit der dafür erstellten, sehr detaillierten Datenübersicht über den Gesamtzeitraum von 50 Jahren Geschichte der Bundesmarine/Deutschen Marine (1955-2004) kann aber schon jetzt dem Anlass der Publikation entsprechend ein erster repräsentativer Gesamtüberblick als Orientierungsrahmen für künftige Forschung und Information zur vorgestellten Teilstreitkraft gewonnen werden. Mit der Analyse der wichtigsten Planungsabschnitte, der Einnahme der Grundgliederung und den zentralen Entscheidungen für die Rüstungsperspektiven sind die wesentlichen Einstiege in die künftige Erforschung der Bundesmarine geschaffen. Sie sollen in der weiteren Forschung auf den Gesamtzeitraum des Kalten Krieges ausgedehnt und thematisch insbesondere in die Bereiche hinein ausgeweitet werden, die unter den begrenzten Möglichkeiten dieser wissenschaftlichen Erstbewertung von Konzeption und Aufbau deutscher Seestreitkräfte nach 1945 gerade einmal angerissen oder auch lediglich kenntlich gemacht werden konnten. Detailstudien zu den größeren technologischen Projekten müssen den erreichten Forschungstand ebenso vertiefen, wie Aspekte der Ausbildungsplanung, des inneren Zustandes der aufwachsenden Bundesmarine und ihres dezidierten Eigenbewusstseins eigener Untersuchungen harren. Vor allem wird aber auch - zweckmäßig in einem Sammelband der Herausbildung und Entwicklung der großen Einzelkomponenten von den Über- und Unterwasserstreitkräften über die Marineflieger bis zum Unterstützungsbereich in einer quellengestützten Überblicksdarstellung nachzugehen sein. Dazu bietet sich für die Zukunft eine Kooperation zwischen dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, der Marineschule Mürwik, den Jahrgangsarbeiten an der Führungsakademie und interessierten Marinehistorikem in wie außerhalb der Bundeswehr an.
Johannes Berthold Sander-Nagashima Die Bundesmarine 1955 bis 1972. Konzeption und Aufbau der kleinsten Teilstreitkraft der Bundeswehr
I. Einleitung: Der außenpolitische Rahmen bis zum westdeutschen Verteidigungsbeitrag Als die Bundesrepublik mit der Verkündung des Grundgesetzes im Mai 1949, den ersten Bundestagswahlen im August und der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler im folgenden Monat die ersten Schritte in ihre staatliche Existenz tat, schienen die Aussichten für eine Neugründung eigener Streitkräfte, und damit auch einer Marine, in diesem Teil Deutschlands zunächst sehr gering zu sein. Zwar hatten die drei westlichen Besatzungsmächte dem von ihnen kontrollierten Teil des Landes mehr Autonomie gegeben, ihm die volle Souveränität jedoch noch nicht gewährt. Dies galt besonders in Fragen der Rüstung. Im Petersberger Abkommen vom November 1949 verpflichteten die Repräsentanten der USA, Frankreichs und Großbritanniens die Bundesregierung darauf, die Neubildung von Streitkräften mit allen Mitteln zu verhindern. Bekräftigt wurde dieser Kurs noch durch von der Alliierten Hohen Kommission erlassene Gesetze. Gemäß Besatzungsstatut war sie die maßgebliche Institution zur Ausübung der Kontrolle über die Bundesrepublik, der im Dezember 1949 mit dem Gesetz Nr. 16 zur »Ausschaltung des Militarismus« ausdrücklich die Aufstellung deutscher Streitkräfte verboten wurde. Dies wurde im Mai 1950 noch durch das Gesetz Nr. 24 zur Verhinderung der deutschen Wiederaufrüstung ergänzt, das auf die Vermeidung der industriellen Grundlage einer eventuellen Rüstung abzielte. Damit schien auch der Aufbau einer neuen deutschen Marine ausgeschlossen, doch dieser Schein trog: Zum einen war im Jahr 1949 nicht allein bei den westlichen Besatzungsmächten, sondern auch bei weiteren westeuropäischen Nachbarn Deutschlands längst die Bedrohung durch sowjetische Truppen mit erheblicher Beunruhigung zur Kenntnis genommen worden, was zu ersten Ansätzen einer westeuropäischen Sicherheitsarchitektur geführt hatte. Zum anderen hatten Überlegungen zu einem westdeutschen Beitrag dazu im In- und Ausland nicht nur bereits begonnen, es existierten vielmehr in Westdeutschland auch schon, zum damaligen Zeitpunkt freilich noch nicht als solche vorgesehen, »Keimzellen«, die den Aufbau von Streitkräften einschließlich ihrer maritimen Komponente später ermöglichen sollten.
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1. Die Bedrohung Westeuropas bis zum Koreakrieg Erste gemeinsame Studien von US-, britischen und kanadischen Fachleuten über Kräfte und Fähigkeiten der Sowjetunion in Europa, die dann auch die Basis der Bedrohungseinschätzung durch die NATO bildeten, hatten bereits 1948 ein düsteres Bild für die Lage in Europa im Falle eines konventionellen Krieges ergeben1: Man rechnete mit sowjetischen Landstreitkräften, deren 175 Divisionen binnen fünf Tagen auf eine Kriegsstärke von 2,5 Millionen Mann gebracht worden waren. Man ging davon aus, dass die Zahl der Divisionen im Kriegsfall binnen Monatsfrist auf 320, innerhalb eines Jahres auf 500 gesteigert werden konnte. Hinsichtlich Ausbildung, Ausrüstung, Kampfmoral und Führung schätzte man diese Verbände den westlichen als überlegen ein, den zusätzlich gut 80 Divisionen der Satellitenstaaten maß man dagegen nur einen geringen Kampfwert bei. 84 der 175 sowjetischen Divisionen waren in den westlichen Militärbezirken der UdSSR, den Satellitenstaaten und den sowjetischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs disloziert, davon allein 22 in Deutschland. Zu den insgesamt 35 westlich der sowjetischen Grenze in Europa stehenden Divisionen zählten mit je zehn bzw. dreizehn 50 Prozent aller sowjetischen Panzer- und mechanisierten Divisionen. Diese Aufstellung bewerteten die angloamerikanischen Analytiker als gepanzerte und bewegliche Vorhut eines möglichen Angriffes auf Westeuropa, dem in Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten nur 16 westliche Divisionen mit zum Teil zweifelhafter Kampfkraft entgegengesetzt werden konnten. Man rechnete mit fünf bis sechs Reservedivisionen der Westalliierten auf dem europäischen Festland. Da die sowjetischen Kräfte zudem noch über eine fünffache Überlegenheit an taktischen Erdkampfflugzeugen verfügten, hielten es die westlichen Planer für realistisch, dass gegnerische Truppen in einem Kriegsfall bereits nach fünf Tagen den Rhein erreicht haben, nach zwei Wochen Dänemark eingenommen, nach einem Monat an der Atlantikküste stehen und nach zwei Monaten bis zu den Pyrenäen vorgestoßen sein würden. Für einen Zeitpunkt von sechs Monaten nach Kriegsbeginn wurde die Besetzung der britischen Inseln angenommen. Eine maritime Bedrohung sah man in erster Linie von den 275 sowjetischen Ubooten ausgehen, deren Hauptaufgabe es sein würde, den westlichen Seeverkehr nach Festlandeuropa und zu den britischen Inseln zum Erliegen zu bringen. In den schwachen sowjetischen Überwasserstreitkräften sah man dagegen nur eine geringe Gefahr. Vorrangige Ziele sowjetischer Flugzeuge sah man außerdem in der Küstenschifffahrt und den westeuropäischen Häfen. Nach erfolgter Eroberung Europas würde der Kampf gegen die USA von dieser verbreiterten Basis aus fortgesetzt werden. 1
Diese fanden Eingang in einschlägige Dokumente des National Security Council (NSC) und des Joint Strategie Planning Committee der USA. Vgl. die ausführliche Darstellung samt Diskussion der unterschiedlichen Haltungen zwischen Politikern, Militärs und einzelnen Teilstreitkräften in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (AWS), Bd S. 197 f. (Beitrag Greiner). Vgl. als neuere Darstellung auch Duffield, Power rules, S. 30.
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Solche Aussichten mussten bei den westeuropäischen Staaten tiefe Besorgnis hervorrufen und als einziges direkt verfügbares Mittel dagegen erschien das nukleare Arsenal durch die USA. Für einen Kriegsfall änderte freilich deren Einsatz gegen die UdSSR nichts daran, dass die westeuropäischen Staaten infolge ihrer mangelnden konventionellen Verteidigungsfähigkeit einer sowjetischen Invasion zunächst zum Opfer fallen würden. Denn die USA waren weder bereit noch in der Lage, in der Anfangsphase eines Konfliktes Westeuropa mit Truppen so zu verstärken, dass dieses Schicksal hätte abgewendet werden können. Die in dieser Hinsicht stark voneinander abweichenden Vorstellungen wurden bis zum Frühling 1950 deutlich, als der Verteidigungsausschuss der NATO zwar einen Verteidigungsplan billigte, in dem das Interesse der europäischen Mitglieder an möglichst weit ostwärts einsetzender Verteidigung und baldigen US-Verstärkungen zur gemeinsamen Verteidigung der europäischen NATO-Regionen berücksichtigt war, zugleich jedoch erkennbar wurde, dass die tatsächlichen Ansichten des amerikanischen Bündnispartners andere waren: Statt möglichst viel NATO-Territorium gemeinsam gegen einen ersten Ansturm zu halten, sahen die US-Planer die konventionelle Verteidigung als Sache der Europäer an, wollten sich auf das Halten von Schlüsselpositionen beschränken (eine »skandinavische Bastion«, Häfen am Atlantik, die britischen Inseln und Norditalien) und setzten im Übrigen auf die Wirkung ihrer strategischen Kernwaffen gegen die UdSSR. Hiervon wurde ein wesentlicher Beitrag zur Verteidigung Westeuropas erwartet, ohne allerdings die anfängliche Offensivfähigkeit der sowjetischen Truppen nachhaltig einzuschränken2. Die in der NATO erwogene Verteidigung entlang des Rheins hielt man für nicht realisierbar, da die hierfür notwendigen Truppen fehlten3. Das Territorium der westeuropäischen NATO-Partner wäre zunächst großenteils verloren gegangen und erst später durch Offensiven aus den gehaltenen Schlüsselpositionen heraus zu befreien gewesen. Es bestand also angesichts der unzureichenden konventionellen Kräfte, rein militärisch gesehen, gerade aus westeuropäischer Sicht ein sehr großer Bedarf an einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag. Dieser wurde im Zeitraum zwischen 1947 und 1950 in westlichen Hauptstädten mehrfach, zum Teil öffentlich angesprochen, stieß aber auf politische Bedenken. Im Grundsatz wurde ein westdeutscher Beitrag auch hier keineswegs mehr völlig ausgeschlossen, sondern an noch nicht vorliegende Voraussetzungen geknüpft4. Hier deutete sich bereits ein mögliches Abgehen vom strikten Demilitarisierungskurs an, wie ihn die Alliierte Hohe Kommission mit den eingangs genannten Gesetzen steuerte. Eine Zäsur stellte der Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 dar. Die Aggression der nordkoreanischen Staatsführung gegen den südlichen Nachbarn war aus westeuropäischer Sicht als Stellvertreterkrieg interpretierbar, der eine AWS, Bd 1 (Beitrag Greiner), S. 253. Vgl. National Archives and Records Administration (NARA), RG 218, MMB, History of the Joint Chiefs of Staff 4, S. 161 und JCS 2073/41, Deployment of U.S. Forces, 12.7.1950, S. 287. Vgl. AWS, Bd 1, S. 327 f. (Beitrag Wiggershaus) und S. 260 (Beitrag Greiner).
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erhöhte Bereitschaft der Sowjetunion zum Gebrauch militärischer Mittel zu signalisieren schien. Die nukleare Abschreckung war offensichtlich kein taugliches Mittel zur Verhinderung regionaler Kriege. Hinzu kam, dass durch dies, nach dem Eingreifen chinesischer Truppen noch verschärfte Bindung von USTruppen auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz die Fähigkeit der USA eingeschränkt wurde, den europäischen Verbündeten bei einem ähnlichen Vorfall in Europa zu Hilfe zu kommen. Eine ursprünglich erst ab 1954 erwartete erhöhte Bereitschaft der Sowjetunion zum Krieg schien sich nun bereits für die nahe Zukunft anzukündigen5. Zwar wurden besorgte Hinweise aus Europa von Washington mit der Antwort beschieden, es sei Sache der Europäer selbst, endlich größere Anstrengungen für die eigene Verteidigung zu erbringen, dennoch scheint auf beiden Seiten des Atlantik der Krieg ein wichtiger Anstoß dazu gewesen zu sein, gemeinsame und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen6. Das bedeutete aber auch, einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag nunmehr konkret näher zu treten. Auf Empfehlung der Joint Chiefs of Staff (JCS) hatte die US-Regierung zur Beruhigung der westeuropäischen Verbündeten ausdrücklich die Verteidigung des gesamten Vertragsgebietes, insbesondere Westeuropas, zugesichert7 und zunächst die Militärhilfe für diese Region um 3,5 Milliarden Dollar erhöht8. Ergänzt wurde dies durch Maßnahmen, die den Westeuropäern zugleich entgegenkommen und sie zu eigener Initiative bei der Aufstellung von Streitkräften anregen sollten: Vier zusätzliche US-Divisionen sollten in Mitteleuropa stationiert und die NATO besser organisiert werden. Hierfür war unter anderem vorgesehen, einen Oberbefehlshaber für den europäischen Kommandobereich des Bündnisses einzusetzen. Dieser sollte im Kriegsfall mit hinreichenden Kompetenzen für eine effiziente Führung der verbündeten Streitkräfte ausgestattet sein, wofür schon im Frieden Vorkehrungen zu treffen waren9. Die USA boten auch an, einen Oberbefehlshaber zu stellen, machten dies aber davon abhängig, ob die Europäer schon im Frieden hinreichend Truppen bereitstellen würden. Damit war deutlich gemacht, dass der amerikanische Bündnispartner zwar zu weitergehenden Verpflichtungen als bisher bereit war, aber auch von den Kontinentaleuropäern deutlich mehr Engagement erwartete10. Von entscheidender Bedeutung war allerdings, dass dafür in den Überlegungen des State Department und auch des Pentagon mit Blick auf die für den September in New York vorgesehene Außenministerkonferenz der Westalliierten ein bun-
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FRUS 1950, vol. 3, S. 415 und 479. Als wahrscheinlichster Zeitraum für eine erhöhte Kriegsbereitschaft der SU wurde das Jahr 1952 angesehen. Im Dezember 1950 befürchteten US-Planer aufgrund der massiven chinesischen Intervention diese sogar zeitweilig für 1951. Vgl. Α WS, Bd 1, S. 291 (Beitrag Greiner). FRUS 1950, vol. 3, S. 273. FRUS 1950, vol. 1, S. 352 und vol. 3, S. 136 f. und 168. Vgl. zum Schritt zu diesen »integrated forces« FRUS 1950, vol. 3, S. 274. FRUS 1950, vol. 3, S. 274; vgl. auch JCS 2073/61, zit. in: AWS, Bd 1, S. 296 (Beitrag Greiner).
I. Einleitung
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desdeutscher Verteidigungsbeitrag bereits vorausgesetzt wurde11. Die USA plädierten dabei für deutsche Streitkräfte in der Stärke von zehn bis fünfzehn Divisionen. Diese sollten national geführt sein und ebenso wie die Verbände der anderen NATO-Partner unter dem Oberkommando eines von den USA zu stellenden NATO-Oberbefehlshabers stehen12. Bezüglich schwerer Waffen sollte die Bundesrepublik vollständig vom Ausland abhängig sein. Deutsche See- und Luftstreitkräfte wurden abgelehnt13. Es war absehbar, dass auch von britischer Seite einem solchen Vorschlag kein dauerhafter Widerstand entgegengesetzt würde. Die britische Regierung ließ wissen, dass man momentan zwar die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte nicht wolle, zur Vorbereitung darauf aber schon einmal die Schaffung einer westdeutschen Bundespolizei vorschlage. Die britischen Stabschefs schlugen sogar, über die als Sofortmaßnahme befürwortete Aufstellung von 100 000 Mann westdeutscher Bundespolizei hinaus, eine westdeutsche Streitmacht von nicht weniger als zwanzig Divisionen, Luftstreitkräfte mit insgesamt 2100 Flugzeugen und eine Küstenschutzmarine als Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik vor14. Solchen Vorstellungen gegenüber erklärte der französische Außenminister Robert Schuman Anfang September, dass erst nach Erreichen einer hinreichenden Mindeststärke der NATO-Staaten ein westdeutscher Beitrag erörtert werden könne15. Da Frankreich aber ohne US-Hilfe nicht im Stande war, einen hinreichenden militärischen Beitrag im NATO-Rahmen zu stellen, war damit der entscheidende Hebel gegeben, um bei den Konferenzen der Außenminister und des NATO-Rates schließlich die französische Einwilligung zu erreichen16. Mittlerweile hatte auch Bundeskanzler Konrad Adenauer Schritte ergriffen, um die Westalliierten einem bundesdeutschen Verteidigungsbeitrag geneigt zu machen. Den offiziellen Strafandrohungen der alliierten Gesetze zum Trotz wurde die Erörterung militärischer Probleme von ihnen schon jetzt nicht mehr geahndet, sondern, zumindest von den USA und Großbritannien, geradezu gewünscht. Ein Antrag auf Aufstellung einer Bundespolizei als Zwischenlösung 11 12
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FRUS 1950, vol. 3, S. 273 ff. und Duffield, Power rules, S. 42. Damit hatte sich das Pentagon mit seinen Vorstellungen weitgehend durchsetzen können. Das State Department war ursprünglich, angestoßen von französischen Überlegungen, für eine supranationale Lösung eingetreten. AWS, Bd 1, S. 352 (Beitrag Wiggershaus). Als einziger der Stabschefs hatte der Chief of Naval Operations für taktische Luftstreitkräfte und eine auf Hafen- und Küstenschutz beschränkte Marine votiert. NARA, RG 218, MMB, GF 1948-1950, Germany, (5-4-49), Sec. 3, JCS 2124/20, 6.9.1950. FRUS 1950, vol. 4, S. 717 ff. FRUS 1950, vol. 3, S. 1441. US-Außenminister Dean Acheson erklärte seinem französischen Kollegen Schuman, dass der Kongress keine Mittel mehr zur Unterstützung der europäischen Verbündeten bewilligen werde, wenn nicht auch das Potential der Bundesrepublik genutzt werde, und der britische Verteidigungsminister Emanuel Shinwell wies darauf hin, dass die aufzustellenden französischen Truppen von ausländischen Lieferungen an Waffen und Ausrüstung abhängig waren. Vgl. AWS, Bd 1, S. 384 (Beitrag Wiggershaus). Das französische Dilemma wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass während der Verhandlungen im September 1950 wegen des dortigen Engagements 150 000 Mann französischer Truppen in Indochina eingesetzt waren.
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wurde von den Besatzungsmächten zwar Ende Juli de facto abgelehnt17, jedoch hatte bereits einige Tage zuvor der amerikanische Hochkommissar John J. McCloy Gesprächen zwischen alliierten und deutschen militärischen Experten zur Erörterung von Verteidigungsfragen zugestimmt und Adenauers Sicherheitsberater, Gerhard Graf von Schwerin, hatte daraufhin umgehend die Bildung eines »Arbeitsstabes für Angelegenheiten der äußeren Sicherheit« angekündigt18. Die Zustimmung von alliierter Seite zur Bildung dieses Expertengremiums, vor allem aber die Resolution des Straßburger Parlaments für eine Europaarmee mit westdeutscher Beteiligung Mitte August, durfte Adenauer mithin bereits als Anzeichen dafür werten, dass nunmehr der Zeitpunkt für weitere Initiativen gekommen war. Rechtzeitig vor den Konferenzen der Westmächte ließ er ihnen Memoranden zukommen, in denen die ihm wichtigen Hauptpunkte festgehalten waren: Aufstellung einer »Schutzpolizei« des Bundes als Vorgriff auf einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag zu einer westeuropäischen Armee, Gleichberechtigung und eine Sicherheitsgarantie für das Bundesgebiet und Westberlin. Im Oktober 1950 hatte Adenauer dann allen Grund, mit den sicherheitspolitischen Ergebnissen der Konferenzen des Vormonats zufrieden zu sein: Die Außenminister der Besatzungsmächte hatten in New York ihre Bereitschaft zu erkennen gegeben, das Besatzungsstatut zu ändern und damit einen eventuellen künftigen Verteidigungsbeitrag Westdeutschlands auf gleichberechtigter Basis zu ermöglichen. Den Unterrichtungen durch die Alliierten Hohen Kommissare darüber hatte der Bundeskanzler auch die grundsätzliche Zustimmung der Alliierten entnehmen können, nunmehr bald konkret über die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte zu verhandeln. Zwar waren die französischen Bedenken noch keineswegs ausgeräumt und die mit dem Pleven-Plan Ende Oktober gemachten französischen Vorschläge zur »Entschärfung« eines deutschen Beitrages enthielten zahlreiche diskriminierende Bestimmungen, die nicht mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung vereinbar waren. Aus maritimer Sicht war hier insbesondere wichtig, dass er für die Deutschen noch immer keine Marine vorsah. Immerhin war aber nunmehr eine Grundlage vorhanden, auf der Verhandlungen über die Ausgestaltung des deutschen Verteidigungsbeitrages beginnen konnten. Bereits im Dezember wurde der Pleven-Plan in Gestalt des »Spofford-Kompromisses« modifiziert und Militärkomitee und Stellvertreterrat der NATO empfahlen ein Bündel von Maßnahmen, das nun auch eine kleine westdeutsche Marine vorsah19. Die von Adenauer geforderte Sicherheitsgarantie war zwar noch nicht gegeben worden, aber als im selben Monat die Absicht zur »Vorwärtsverteidigung« als unmittelbar am Eisernen Vorhang beginnenden Direktverteidigung des NATO-Gebietes festgeschrieben wurde, war eine in die gewünschte Richtung weisende, gerade auch aus bundesdeutscher
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FRUS 1950, vol. 4, S. 701 f. Es wurden lediglich Länderpolizeien von insgesamt 10 000 Mann bewilligt. Vgl. ΑWS, Bd 1, S. 365 f. (Beitrag Wiggershaus). FRUS 1950, vol. 3, S. 531, 538 und 566.
I. Einleitung
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Sicht wichtige Entscheidung gefallen20. Der Weg, sich hieran mit einer eigenen bundesdeutschen Marine zu beteiligen, war nunmehr geebnet. Seit Oktober existierten hierfür mit der Himmeroder Denkschrift, dem Ergebnis einer Tagung deutscher Militär-Experten, erste deutsche konzeptionelle Vorstellungen.
2. Soziale Lage und Selbstverständnis der ehemaligen Marineangehörigen Bevor jedoch der Weg zu einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag beschritten werden konnte, galt es bei den zur Mitwirkung Aufgerufenen die Voraussetzungen zu schaffen. Auf Seiten der ehemaligen Marineoffiziere, auf die man beim Aufbau des Marineanteils würde zurückgreifen müssen, gab es im Herbst 1950, wie bei allen Wehrmachtoffizieren, eine Reihe von Problemen. Diese wurzelten in den während der Gefangenschaft gemachten Erfahrungen, vor allem aber in der sozialen und gesellschaftlichen Lage, in der sich insbesondere ehemalige Berufsoffiziere wiederfanden. In der Gefangenschaft hatten auch die später wieder in der Bundesmarine dienenden Offiziere Erfahrungen gemacht, die Spuren hinterlassen hatten. Neben der unmittelbar nach Kriegsende häufig entwürdigenden Behandlung durch die Sieger waren die Bedingungen in den Lagern bisweilen ohnehin schon schlecht genug, geprägt durch Hunger, vielfache Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen und nach einer Entlassung völlig ungewiss erscheinende Lebensperspektiven. Verschärfend kamen Zwiste untereinander hinzu, die dienstgradunabhängig von Kameradendiebstahl über gegenseitige Denunziationen bis hin zu Versuchen von ehrengerichtlichen Verhandlungen wegen »vorzeitiger Kapitulation« gegen Mitgefangene reichten. Besonderes Konfliktpotential bargen die unterschiedlichen Positionen zum 20. Juli 1944. Zudem sahen sich selbst die vor den Spruchkammern in den Entnazifizierungsverfahren als unbelastet eingestuften Offiziere nach ihrer Entlassung damit konfrontiert, dass sie, im Gegensatz zu den Beamten21, ihre gesetzlichen Pensionen nicht erhielten und auch bei der Vermittlung von Arbeit benachteiligt wurden. Dies war eine Folge des Kontrollratsgesetzes Nr. 34n, welche in dieser Form vielleicht nicht beabsichtigt war, jedoch bestand keine Aussicht, diese vielfache Benachteiligungen festschreibende Bestimmung in absehbarer Zeit zu ändern. Letztlich war das Schicksal der ehemaligen Offiziere nur ein Teil des damaligen Elends in Deutschland, wobei andere Gruppen (Flüchtlinge, Opfer der NS-
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Vgl. Α WS, Bd 1, S. 302 f. (Beitrag Greiner). Sofern sie keine Wehrmachtsbeamten waren. Hier war besonders der Artikel III folgenschwer, der die rechtliche Stellung der vormaligen Wehrmachtangehörigen aufhob und so nicht nur ihnen, sondern auch ihren Hinterbliebenen den Pensionsanspruch verwehrte.
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Herrschaft, Kriegsopfer, Vertriebene und Ausgebombte) den ehemaligen Offizieren und ihren Hinterbliebenen an Hilfsbedürftigkeit keineswegs nachstanden. Jedoch sahen sich die so Betroffenen in besonderer Weise diskriminiert und entwickelten vielfach tiefe Bitterkeit gegenüber staatlichen Stellen, verbunden mit Abneigung gegenüber den Kameraden, die dennoch zur Mitwirkung an einem Neuaufbau von Streitkräften bereit waren23. Durch das Kontrollratsgesetz waren auch die Möglichkeiten der Ehemaligen stark eingeschränkt, ihre Position durch Wahrnehmung ihrer Interessen in eigenen Verbänden zu verbessern. Einen ersten Schritt hierzu unternahm Admiral a.D. Gottfried Hansen, der in seinem um 1947 als informelle Gruppierung eingerichteten »Hansen-Kreis« zunächst noch gänzlich erfolglos für die Sache der ehemaligen Berufssoldaten und Wehrmachtsbeamten hinsichtlich der Versorgungsfrage zu wirken versuchte. Der 1881 geborene Hansen war 1898 in die Marine eingetreten und 1932 als Admiral in den Ruhestand verabschiedet worden. Im Zweiten Weltkrieg reaktiviert, diente er von 1941 bis Juni 1943 als Leiter des Luftwaffenlehrstabes und schied einen Monat später endgültig aus dem aktiven Dienst aus24. Nach der Währungsreform, die im Sommer 1948 gerade die besonders hierauf angewiesenen ehemals hauptberuflichen Wehrmachtsangehörigen ihrer letzten Ersparnisse beraubt hatte, wurden sogar im Herbst 1948 noch ähnliche Vereinigungen wie der »Hansen-Kreis« gewaltsam aufgelöst, obwohl sie sich strikt auf Versorgungsfragen beschränkt hatten. Eine Erleichterung bedeutete erst das Gesetz Nr. 16 der Hohen Alliierten Kommission vom Dezember 1949, das das Kontrollratsgesetz Nr. 34 aufhob und diesem Personenkreis die Möglichkeit zur Bildung von »Notgemeinschaften« eröffnete. Mit den im März 1951 vom Bundestag verabschiedeten Ausführungsbestimmungen zu Artikel 131 des Grundgesetzes war endlich der Durchbruch zur letztlichen Gleichbehandlung politisch unbelasteter vormaliger Berufssoldaten und Wehrmachtsbeamter erzielt. Bis dahin hatte das noch ungelöste Problem bei
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Zur tiefen, oft von Ausweglosigkeitsgefühlen begleiteten Verbitterung und den Folgen des Kontrollratsgesetzes, gerade auch bei ehemaligen Offizieren der Marine vgl. AWS, Bd 1, S. 638 (Beitrag Meyer). So beging Vizeadmiral a.D. Hans-Herbert Stobwasser im Februar 1946 angesichts der sich ihm völlig hoffnungslos darstellenden Lage Selbstmord und führte in seinem Abschiedsbrief aus: »[...] Das erniedrigende Gefühl, einer derartig korrupten Gesellschaft gedient zu haben, der Zusammenbruch, die schmähliche und keine Erniedrigung und Diffamierung auslassende Behandlung, die uns die Feinde zu Teil werden lassen, die gänzliche Aussichtslosigkeit auf eine Besserung der Verhältnisse, die Aussicht, eines Tages vollständig mittellos dazustehen, das ist ein Leben ohne Sinn und Ziel. Und so ist es das Beste, ich tue es von mir.« Ein anderer Flaggoffizier, ehemals Flottenchef in der Reichsmarine (Admiral Konrad Mommsen), starb, nun völlig mittellos, Ende 1946 an Hunger. Im Sommer 1948 verglichen zwei frühere Seeoffiziere die Folgen des Gesetzes mit einer Vergasung[!]. Sie seien zwar nicht so sichtbar, aber in der Wirkung gleich. Sie zogen die Folgerung: »[...] Es lohnt sich wirklich nicht mehr, für diese sogenannte abendländische Kultur einzutreten.« Zudem stand er nach dem Krieg in engem Kontakt mit Rüge, der nicht nur Mitglied in Hansens VDS, sondern auch Vorsitzender der Kreisgruppe des VDS in Ruges Wohnort Cuxhaven war. MGFA, Quellen- und Befragungssammlung Güth, Bemerkungen zu: »Entstehungsgeschichte Bundeswehr« vom 10.1.1975.
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manchen von ihnen durchaus zu Distanz und zu Ablehnung von demokratischen Institutionen und des Bonner Staates beigetragen25. Neben diesen rechtlichen Gesichtspunkten hatten jedoch auch nicht oder nur schwer justiziable Geschehnisse, die von den ehemaligen Berufssoldaten als diffamierend empfunden wurden, das Gefühl der Isolierung bestärkt. Die Tatsache des früheren Berufs allein genügte in manchen Fällen, um Betriebs- und Personalräte bei Bewerbungen gegen den »Militaristen« votieren zu lassen. Ähnliche Fälle gab es bei Immatrikulationsanträgen. Im Zusammenhang mit den angeführten Maßnahmen der Besatzungsmächte und deutscher Behörden und angesichts der als fragwürdig angesehenen Rechtsgrundlagen der Kriegsverbrecherprozesse gegen ehemalige Kameraden dürften solche Fälle zu dem Eindruck beigetragen haben, dass sich ehemalige Berufsoffiziere insgesamt in der westdeutschen Gesellschaft vielfach als »minderwertig« betrachtet, als Parias behandelt und diffamiert sahen. Hierbei wird sicher auch eine subjektive Komponente mit zu berücksichtigen sein, denn gerade die ältere Generation dieser Offiziere war in keiner Weise darauf vorbereitet, ihr Handeln öffentlich kritisiert zu sehen26. Dass dieser Eindruck jedoch sehr real gespürt wurde, zeigt schon der Umstand, dass die Autoren der Himmeroder Denkschrift im Oktober 1950 die Beseitigung eben dieser Diffamierung und eine Ehrenerklärung als wesentliche psychologische Voraussetzungen nannten, die sie vor einem Verteidigungsbeitrag für notwendig hielten27. Eine besondere Rolle für die Bereitschaft ehemaliger Marineangehöriger, an einem künftigen Verteidigungsbeitrag mitzuwirken, ja dergleichen überhaupt zu erwägen, spielten der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und seine Nachfolgeprozesse. Im Ersteren waren die beiden früheren Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, die Großadmirale a.D. Erich Raeder und Karl Dönitz, im Nachfolgeverfahren Nr. XII Generaladmiral a.D. Otto Schniewind angeklagt worden. Ihnen wurde zwar keine Beteiligung an den massenhaft verübten Morden zur Last gelegt, jedoch ließen zahlreiche Verfahrensmängel, grundsätzliche rechtliche Bedenken und der Versuch, statt individueller Verantwortung bereits die Zugehörigkeit zur Wehrmachtsspitze zur Grundlage von Anklagen zu machen, die Verteidiger der beiden ehemaligen Oberbefehlshaber zu dem Schluss kommen, dass die Prozesse keine wirklich der Gerechtigkeit dienenden Instrumente waren. Freiherr Viktor von der Lippe, Raeders Verteidiger, stand unter dem Eindruck, dass die Beschuldigten in erster Linie wegen ihrer militärischen Funktion angeklagt würden28, und für Flottenrichter a.D. Otto
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Vgl. die Hinweise Meyers z u m häufigen Gebrauch des Begriffes »Bonner Lumpen« auf Versammlungen von Notgemeinschaften und z u m Aufwärtstrend der später verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Herbst 1950. AWS, Bd 1, S. 647 (Beitrag Meyer). Auch der Hinweis Meyers, dass das Schlagwort von der Diffamierung zugleich auch einen Selbstschutzmechanismus beinhalten konnte, der beispielsweise vor unerwünschten Erörterungen über die Rolle des Militärs in der NS-Zeit schützen konnte, erscheint hier erwägenswert. Vgl. AWS, Bd 1, S. 653 (Beitrag Meyer). Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 37 f. Lippe, Tagebuchrvotizen, S. 156; AWS, Bd 1, S. 618 (Beitrag Meyer).
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Kranzbühler, der Dönitz verteidigte, war der Prozess gegen seinen Mandanten schlicht »Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln«29. Obwohl beide auf zumindest in Teilen fragwürdiger Grundlage angeklagt und verurteilt wurden, ist doch erkennbar, dass die Flaggoffiziere von den Siegern besser behandelt wurden als viele Angeklagte vergleichbarer Ränge anderer Teilstreitkräfte der ehemaligen Wehrmacht. Schniewind wurde freigesprochen und es gab weder innerhalb noch außerhalb Deutschlands ein Todesurteil gegen einen ehemaligen Flaggoffizier. Zudem gestanden die Richter im Fall von Dönitz die Anwendung des »tu quoque«-Grundsatzes zu, den sie eigentlich bereits im Vorfeld als Mittel der Verteidigung ausgeschlossen hatten. Angesichts des Verweises auf gleiche oder ähnliche Verfahrensweisen der angelsächsischen Marinen ließen sie den entsprechenden Anklagepunkt betreffend die deutsche Führung des Ubootkrieges fallen. Bei Anklagen gegen untere ehemalige Marinedienstgrade durch andere Gerichte sah das Bild jedoch oft anders aus30. Insgesamt war bei ehemaligen Marineangehörigen der Eindruck sehr verbreitet, dass mit Raeder und Dönitz die Marine schlechthin angeklagt und verurteilt worden war. In dieser kleinsten der ehemaligen deutschen Wehrmachtteile, in dem sich besonders die älteren Offiziere in weit höherem Ausmaß untereinander persönlich kannten als bei Heer und Luftwaffe, war diese Überzeugung ein wesentlicher gemeinsamer Nenner31. Die Großadmirale wurden als die Märtyrer der Marine gesehen, zu deren Gunsten sich die Ehemaligen jederzeit einsetzten und denen sie sich auch ab 1955, dann teilweise als Mitglieder der Bundesmarine, verpflichtet fühlten32. Dass die Reihen in dieser Frage nach außen so einhellig geschlossen wurden, 29 30
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Zit. nach AWS, Bd 1, S. 617 (Beitrag Meyer). Leider belegt Meyer die Fundstelle nicht. Völlig außerhalb des Rechtlichen liegende Gesichtspunkte, wie Großspurigkeit und Taktlosigkeit der Angeklagten, waren z.B. vor einem kanadischen Kriegsgericht ausschlaggebend, ein Todesurteil zu verhängen, das jedoch später auf eine 21-jährige Haftstrafe reduziert wurde. In anderen Fällen brachten auch später vorgebrachte neue entlastende Tatsachen die zuständigen Stellen nicht dazu, das Verfahren wieder aufzunehmen oder Gnadenersuchen stattzugeben. Vgl. MGFA, Ν 379/v. Goebell-Briefwechsel. Tatsächlich hatte die Anklage gegen die Großadmirale eine zusammenschweißende Wirkung auf die Marineehemaligen. Vgl. Salewski, Die deutsche Seekriegsleitung, Bd 2, S. 579. Vgl. hierzu die Bemerkung Förstes über die Welle an Hilfsbereitschaft, die ihm aus Anlass seiner Arbeit an den Memoiren Raeders entgegenschlug: »Es ist wirklich so, dass die Marine sich sofort zusammenfindet und hilfsbereit ist, wenn es irgendwie um unsere beiden Großadmiräle geht.« BA-MA, Ν 328/42, Brief Förstes an Boie. Noch klarer kommt dies in Zenkers Rede vom Januar 1956 zum Ausdruck, die auch im Bundestag hohe Wellen schlug und in der er ausführte: »Jeder von uns alten Marineleuten, die unter der Führung der beiden Großadmirale Dienst getan haben, weiß, dass die Marine sauber, anständig und ehrenhaft geführt worden ist und dass kein Makel an der Person unserer ehemaligen Oberbefehlshaber haftet [...] dass die Großadmirale nichts getan haben als ihre Pflicht gegenüber ihrem Volk [...]. Sie tragen daher ihr Schicksal stellvertretend für uns alle [...]« Charakteristisch war auch, dass der Kapitän seine Bedenken, wieder in den aktiven Dienst zu treten, erwähnte, solange Raeder und Dönitz noch in Spandau einsaßen, sowie seiner Freude über die nachträgliche Billigung dieses Schrittes ausdrückte, die Raeder ihm nach der Entlassung aus der Haft persönlich erklärt hatte. Ansprache an die MarineLehrkompanie in Wilhelmshaven am 16. Januar 1956. Abgedruckt in: Duppler, Germania auf dem Meere, S. 204.
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war allerdings für eine differenzierte Bewältigung der eigenen Vergangenheit bisweilen hinderlich, wenngleich sich intern durchaus Anzeichen für ein Problembewusstsein zeigten33. Nicht allein die Symbolkraft der Anklage und Verurteilung der Großadmirale musste für die älteren Marineangehörigen ein besonderes Hemmnis für eine künftige Mitarbeit an einem möglichen Verteidigungsbeitrag sein. Auch das, was der US-Ankläger in seinem Plädoyer gegen die Gruppe »Generalstab und OKW«, und damit unter Einschluss der Flagg- und Admiralstabsoffiziere, erklärt hatte, dürfte vielfach selbst den Gedanken hieran bei vielen von ihnen ausgeschlossen haben. So hatte der Ankläger Telford Taylor ausgeführt: »Die deutschen Militaristen werden sich mit jedem Mann oder mit jeder Partei verbünden, die ihnen eine Wiedergeburt der deutschen bewaffneten Macht verspricht. Sie werden sorgfältig und kalt kalkulieren. Sie werden sich nicht von fanatischen oder abstoßenden Methoden abhalten lassen; sie werden Verbrechen in Kauf nehmen, um das Ziel zu erreichen: die deutsche Macht und den deutschen Terror34.« Zwar mochten die alliierten Richter der Gruppenanklage nicht stattgeben und erkannten auf Freispruch, doch enthielt das Urteil Ausführungen, die ungeachtet der hier nicht erfolgten juristischen Ahndung pauschal und schonungslos die Verantwortung dieses Personenkreises ansprachen. So seien seine Angehörigen »in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind«, und damit »ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden.« Je nach Opportunität für ihre Verteidigung hätten sie sich während des Prozesses auf ihre Gehorsamspflicht berufen, bei Konfrontation mit den Verbrechen Hitlers, »deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde«, jedoch Gehorsamsverweigerungen behauptet. Die Wahrheit sei, dass sie an all diesen Verbrechen rege teilgenommen hätten, zumindest aber »in schweigender Zustimmung verharrten«, als »vor ihren Augen größer angelegte und empörendere Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte«35. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere diejenigen Offiziere, die sich unschuldig fühlten, solche Ausführungen als Stigmatisierung ansahen. Vielen von ihnen war eine Koope33
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Stellenweise finden sich auch bei Kriegsmarineehemaligen durchaus Ansätze zu kritischem Nachdenken über deren frühere Oberbefehlshaber, so in den Überlegungen Eberhard Weicholds zur Rolle Raeders. Es ist allerdings charakteristisch, dass dergleichen nur höchst vorsichtig und unter striktester Vertraulichkeit stattfand. Zu Weichold vgl. MGFA, Konvolut Adm. a.D. Prof. Friedrich Rüge und BA-MA, Ν 379/v.88. IMT, Bd 22, S. 338 f. IMT, Bd 22, S. 595. Freilich gab es unter den alliierten Juristen auch immer wieder deutliche Anzeichen dafür, dass die Art und Weise mancher Verfahren nicht als korrekt angesehen wurde. Vgl. z.B. die öffentliche Kritik des US-Richters Charles Wennerstrum nach seiner Rückkehr oder die Ausführungen des Briten Reginald Pagets, dem britischen Verteidiger Erich von Mansteins, der es als inakzeptabel bezeichnete, dass gegenüber den Besiegten Verfahren Anwendung fanden, die gegenüber alliierten Bürgern abgelehnt würden. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass es möglich bleiben müsse, gerade angesichts einer möglichen zukünftigen Verteidigung Westeuropas, mit unbelasteten Deutschen ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen. AWS, Bd 1, S. 621 und 627 (Beitrag Meyer).
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ration mit den Alliierten sowie den westdeutschen staatlichen Stellen, die oft als Erfüllungsgehilfen der Alliierten empfunden wurden, unmöglich. Dies galt erst recht für die Beteiligung an einem deutschen Verteidigungsbeitrag. Insgesamt gesehen standen also bei den ehemaligen Marineangehörigen der möglichen Unterstützung eines Verteidigungsbeitrages Gesichtspunkte entgegen, die als Erwartungen an die Westalliierten, die Bundesregierung und die bundesdeutsche Öffentlichkeit formuliert wurden: Zunächst von den Alliierten, dann besonders von der Bundesregierung wurde als erster Schritt die Aufhebung der sozialen Benachteiligung durch eine versorgungsrechtliche Gleichbehandlung gefordert; von den Alliierten wurde zudem eine Revision der als pauschal und rechtsbrüchig empfundenen Urteile gegen ehemalige Marineangehörige erwartet, sofern diese nicht auch aus deutscher Sicht eindeutiger Kriegsverbrechen überführt worden waren. Als Symbole, ja geradezu als Märtyrer dafür wurden die in Spandau einsitzenden Großadmirale Raeder und Dönitz gesehen. Die Bundesregierung erwartete deshalb von den Alliierten energische Schritte zugunsten einer Revision bzw. Freilassung. An Alliierte, Regierung und Öffentlichkeit richtete sich die Erwartung, als ehrverletzend empfundene, pauschale »Militarismus«-Vorwürfe zu unterlassen und die Integrität derjenigen Marineangehörigen anzuerkennen, die sich persönlich keiner Verbrechen schuldig gemacht hatten36. Zusätzlich kamen noch interne Meinungsverschiedenheiten der Ehemaligen untereinander hinzu, die sich vor allem an der Haltung zum 20. Juli 1944 entzündeten. Für eine künftige deutsche Marine musste dieses Problem insofern wesentlich sein, als sich damit die Frage verband, welchen Traditionen sich diese in Zukunft verpflichtet sehen sollte. Diese Vorbehalte waren auch nach der Gründung der Bundesmarine noch gewichtig. Das zeigte sich beispielsweise im März 1956, als der erst wenige Monate zuvor aus der Haft entlassene Raeder auf einer Mitgliederversammlung der Marine-Offizier-Hilfe (MOH), also der Vereinigung der Marineoffiziere, die bereits kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges gegründet worden war, für die Unterstützung der Bundesmarine warb. Auch er sei zwar anfänglich der Meinung gewesen, dass sich eine Mitarbeit in der Bundesmarine verbiete, solange Dönitz noch in Haft sei. Inzwischen sei er sich aber sicher, dass Dönitz selbst dies anders sehe. Nach Raeder ergriff der kurz vor seiner Ernennung zum ersten Inspekteur der Bundesmarine stehende Rüge das Wort und appellierte leidenschaftlich an die Mitglieder, dass in dieser Frage von der gegenwärtigen Lage ausgegangen werden müsse, womit er auf die sowjetische Bedrohung anspielte. Nachdem er bereits in der Verbandszeitschrift für tatkräftige Unterstützung der neuen Marine eingetreten war, warb er nun vor der Mitgliederversammlung erneut engagiert um die Unterstützung der Ehemaligen: »Unser Volk ist in Gefahr! Wir müssen Macht aufbauen, damit uns nicht Gewalt angeEine solche unter dem Schlagwort »Rehabilitierung vor Reaktivierung« zugespitzt zusammenfassbare Haltung wurde auch im einflussreichen Speidel-Kreis vertreten, zu dem auch Rüge Kontakt hatte. Hier wurde dies als Vorbedingung eines deutschen Verteidigungsbeitrages angesehen. Vgl. AWS, Bd 1, S. 498 (Beitrag Foerster).
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tan wird [...] Vorrang hat die Pflicht gegenüber unserem Volk. [...] Helfen Sie uns aktiven Soldaten37!«
3. Frühe Überlegungen zum Marineanteil in einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag In der Zeit vor 1950 war mithin sowohl bei den ehemaligen Marineangehörigen als auch in der breiten Öffentlichkeit die Neigung, sich mit Fragen eines eigenen Verteidigungsbeitrages zu befassen, sehr gering, was keineswegs allein daran lag, dass die Alliierten die Erörterung militärischer Probleme untersagt hatten. Als in der westdeutschen Öffentlichkeit erstmals ab dem Sommer 1948 Stimmen zur Frage eines Beitrages zur Verteidigung Westeuropas zu vernehmen waren, stießen solche Überlegungen bei der Bevölkerung, für die auf Grund anhaltender Entbehrung Fragen des täglichen Uberlebens vorrangig waren, auf Ablehnung. Allenfalls in kleinen Zirkeln von Politikern und Fachleuten wurde ein möglicher Verteidigungsbeitrag mit Interesse diskutiert. Einer der einflussreichsten dieser Zirkel war der »Heiligenberger« oder »Laupheimer Kreis«, so benannt nach den Wohnorten einiger seiner Mitglieder in Südwestdeutschland, der als eine Art »think tank« für den Parlamentarischen Rat und die Regierungen der Länder diente38. Zu ihm gehörten neben namhaften Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern (u.a. Gerhard Ritter, Klaus Mehnert, Theodor Eschenburg, Carlo Schmid und Theodor Heuss) auch der Generalleutnant a.D. Dr. Hans Speidel39, der aus der gemeinsamen Zeit im Stabe Rommels 1944 freundschaftlich mit Vizeadmiral a.D. Friedrich Rüge, dem späteren ersten Inspekteur der Bundesmarine verbunden war. Gestützt auf Materialien über die sowjetischen Truppen in Europa, die er von dem nun für die Amerikaner arbeitenden früheren Chef der »Abteilung Fremde Heere Ost«, Generalmajor a.D. Reinhard Gehlen, erhalten hatte, trug Speidel im Juni 1948 seinem Kreis sein Memorandum »Die Sicherheit Westeuropas« vor. Als deutschen Beitrag hierzu griff er dabei die Forderung eines starken deutschen Landheeres auf, nannte aber unter den Voraussetzungen, die er für eine erfolgreiche Verteidigung als 37
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MOH-Nachrichten, Nr. 3, 15. März 1956, S. 28, Bericht über die 4. Mitgliederversammlung der MOH am 4.3.1956 in Düsseldorf. Speidel, Aus unserer Zeit, S. 251. Speidel war in den dreißiger Jahren Attache in Frankreich gewesen und verfügte über zahlreiche auch internationale Kontakte. Während seiner gemeinsamen Dienstzeit im Stab Rommels hatte er sich mit Rüge angefreundet. Im September 1944 zeitweilig wegen des Verdachtes der Zusammenarbeit mit dem Widerstand inhaftiert, war er nach Kriegsende bald aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Im Sommer 1948 hatte er an der Universität Tübingen einen Lehrauftrag für Neueste Geschichte erhalten. Speidel war später Delegierter bei den Petersberg-Verhandlungen und bei den Verhandlungen in Paris. Als Generalleutnant der Bundeswehr bekleidete er später hohe NATOPositionen.
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erforderlich ansah, auch die »Sicherung der Küstengewässer«. Diese war aber mit Landstreitkräften allein nicht zu leisten40 und zunächst schwebte Speidel die britische Flotte als Instrument hierfür vor41. Auf Anregung von US-Seite wurde Speidel schließlich im Dezember 1948 selbst zum Vortrag bei Adenauer, damals Vorsitzender der CDU in der britischen Zone, gebeten. Der ehemalige Heeresgeneral war hinfort aber auch eine wichtige Informationsquelle für Rüge über wesentliche Ereignisse und sicherheitspolitische Tendenzen in der westdeutschen Staatsführung42. Zwar waren seine Adenauer vorgetragenen Gedanken weder die allerersten Überlegungen, die dem späteren Bundeskanzler nahegebracht wurden, noch stellten sie erstmalig maritime Bezüge her43. Mit dem Kontakt Speidel-Ruge war jedoch ein wichtiger Informationsweg entstanden, der Rüge noch vor der Einrichtung der Dienststelle Blank über das sicherheitspolitische Denken maßgeblicher Politiker in Kenntnis setzte. Ergänzt wurde dieser informelle Informationskanal durch die langjährigen Kontakte Konteradmiral a.D. Gerhard Wagners mit dem ehemaligen General Adolf Heusinger, dem zweiten wichtigen militärischen Berater Adenauers. Wagner und Heusinger kannten sich aus der Kriegszeit, in der sie beide geraume Zeit als Chefs der Operationsabteilungen in der Seekriegsleitung bzw. im Oberkommando des Heeres gedient hatten44. Damit war sichergestellt, dass zwei der wichtigsten ehemaligen Flaggoffiziere, die beim Aufbau der Bundesmarine später zentrale Rollen spielten, über die sicherheitspolitische Meinungsbildung der maßgeblichen Kreise der Bundesrepublik informiert waren. Die marineinternen Informationsnetzwerke ermöglichten die notwendige Verbreitung und Abstimmung45.
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Speidel, Aus unserer Zeit, S. 251. Vgl. die ergänzenden Bemerkungen vom 19.11.1948, abgedruckt in: Speidel, Aus unserer Zeit, S. 466 f. Vgl. den Briefwechsel Ruge-Speidel in Ruges Nachlass. BA-MA, Ν 379, v.65. Wichtige Nachrichten scheinen beide jedoch mündlich über Mittelsmänner ausgetauscht zu haben. Vgl. z.B. entsprechende Hinweise in den Briefen vom 15.3. und 18.7.1952. Wie gut Speidel informiert war, mag dadurch belegt werden, dass sich Graf von Schwerin, den Adenauer im Mai 1950 zu seinem Berater für Sicherheitsfragen berief, im Vorfeld bei Speidel erkundigte, welche Denkschriften über Sicherheitsprobleme dem Bundeskanzler bereits vorgelegt worden seien, und auch die entsprechende Antwort erhielt. Vgl. in AWS, Bd 1, S. 460 (Beitrag Foerster). Foerster nennt hier beispielsweise eine Denkschrift »Die Frage der deutschen Wiederaufrüstung« von Admiral a.D. Godt, die vom Dezember 1948 stammt. Sie ist in den von ihm genannten Befragungsmaterialien des MGFA jedoch nicht mehr auffindbar. AWS, Bd 1, S. 438 (Beitrag Foerster). Befragungsmaterialien MGFA, Brief Wagners an Fischer, 14.7.1971. Die Heeresleute Speidel und Heusinger waren damit zu »Brückenköpfen« für die Marine geworden. Besonders Speidel hat diese Funktion gern und gelegentlich etwas ironisch wahrgenommen. Vgl. den Briefwechsel Ruge-Speidel 1947-1955. Diese »BrückenkopfFunktion« sprach Speidel selbst an, als er im Oktober 1951 Rüge ironisch über die Entwicklung der Verhandlungen aus Paris berichtete: »Einer Hohen Admiralität zur Kenntnis, [...] Ich bitte aber, diese Nachrichten vertraulich zu nehmen und gegebenenfalls die Insignien für eine Kriegsmarine für mich bereit zu stellen. Euer untertäniger Treuhänder Hans Speidel«. BA-MA, Ν 379/v.65, Brief an Rüge vom 15.10.1951.
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Sowohl in Adenauers sicherheitspolitischem Denken als auch bei Teilen der SPD-Spitze spielte das maritime Element jedoch vorläufig keine Rolle. Hier wurde seit 1948 allenfalls daran gedacht, die Sicherheit Westdeutschlands zunächst durch die Aufstellung einer zentral geführten Polizei zu erhöhen. Gedanken an eine Aufrüstung waren nicht allein in der Bevölkerung unpopulär, sondern staatliche deutsche Stellen durften sich damit offiziell bei Strafandrohung nicht befassen. Auch nach dem Ausbruch des Koreakrieges hatten sicherheitspolitische Überlegungen für den Bundeskanzler hauptsächlich instrumenteilen Charakter: Die künftige Wiederaufrüstung sollte ein Beitrag zum Erlangen der Souveränität sein. Die tatsächliche Bedrohung der Bundesrepublik schätzte er diesem Ziel gegenüber als zweitrangig ein46. Dennoch berief er im Mai 1950 den General a.D. Graf von Schwerin zu seinem Berater in Sicherheitsfragen. Wie vorsichtig Adenauer hierbei vorging, zeigte sein lediglich mündlicher Auftrag an Schwerin, sich mit Fragen der inneren wie äußeren Sicherheit nur von der Perspektive einer zu schaffenden Bundespolizei her zu befassen. Kurz nach Ausbruch des Koreakrieges und den daraus herrührenden Signalen der Westmächte, dass eine Beschäftigung westdeutscher Stellen mit militärischen Fragen nicht nur geduldet, sondern vielmehr erwünscht sei, hatte Schwerin im Juli 1950 die Bildung eines Gremiums militärischer Experten ins Auge gefasst, in dem auch maritimer Sachverstand repräsentiert sein sollte: Zu den ersten von ihm genannten und von der Alliierten Hohen Kommission begrüßten Fachleuten zählten neben den Generalen Speidel, Heusinger, Foertsch und Seidemann auch der Konteradmiral a.D. Godt47. Eine im Sommer 1950 ins Auge gefasste Konferenz dieser Experten verschob Adenauer jedoch im Hinblick auf die für September anstehende Konferenz der NATO-Außenminister in New York auf Oktober. Sie fand dann vom 5. bis 9. Oktober im Eifelkloster Himmerod statt48. Die Marine war daran durch Admiral a.D. Walter Gladisch, Kapitän zur See a.D. Alfred Schulze-Hinrichs und Vizeadmiral a.D. Rüge vertreten. Die Himmeroder Tagung war auch für die Marine ein Meilenstein, weil daran Marineoffiziere maßgeblich beteiligt waren, die bereits vorher - im Rahmen der von den USA und Großbritannien für ihre eigenen Zwecke aus ehemaligen Marineangehörigen gebildeten Institutionen - aktiv gewesen waren. Hierbei handelte es sich einerseits um Dienstgruppen, die mit Nachschub- und Minenräumaufgaben betraut waren, wie die von der US-Navy betriebene »Labor Service Unit« (LSU) in Bremerhaven und die »German Mine Sweeping Administration« (GMSA) der Briten in Cuxhaven. Hinzu kamen Einrichtungen, die deutsche Kriegserfahrungen abschöpfen und auswerten sollten. Während die Briten hierzu einzelne ehemalige deutsche Offiziere ansprachen und zum Teil
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Adenauer, Erinnerungen, S. 348 f. Zur Haltung der SPD vgl. AWS, Bd 1, S. 439 (Beitrag Foerster). MGFA, Befragungsmaterialien Schwerin, 15.3.1977. Der Teilnehmerkreis war mit dem oben genannten identisch mit der Ausnahme, dass Bogislav v. Bonin durch Wolf Graf von Baudissin ersetzt wurde, außerdem nahm Johann Adolf Graf von Kielmansegg als Sekretär teil.
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nach London holten49, bildeten die Amerikaner zu diesem Zweck zwei eigene Einrichtungen, die deutsche Sektion der »Historical Division« in Karlsruhe und das »Naval Historical Team« (NHT) in Bremerhaven. Der Schwerpunkt der Historical Division lag auf der Untersuchung der Landkriegserfahrungen an der Ostfront, weswegen hier hauptsächlich ehemalige Heeresoffiziere arbeiteten, die relevante Schlüsselstellungen in der Wehrmacht innegehabt hatten, wie z.B. General a.D. Franz Halder50. Das NHT untersuchte die Erfahrungen der Kriegsmarine und war mit Schniewind, Rüge, Wagner und Gaul als permanenten sowie Godt und Rösing als zeitweiligen Mitarbeitern mit früheren Offizieren besetzt, deren Verwendungen sie für diese Aufgabe besonders qualifizierten51. Dienstältester Mitarbeiter des NHT war Generaladmiral a.D. Otto Schniewind (1887-1964). Von Hause aus Torpedospezialist, war er 1938 Chef des Stabes der Seekriegsleitung und von 1941 bis 1944 Flottenchef gewesen. In der Bundesmarine wurde er nicht mehr verwendet. Vizeadmiral a.D. Friedrich Rüge (1894-1985) war 1914 in die Marine eingetreten und hatte zunächst auf Kreuzern und Linienschiffen gedient, war dann jedoch auf Torpedobooten und Zerstörern eingesetzt. 1918/19 mit der Flotte in Scapa Flow interniert, hatte er sich auch an ihrer Selbstversenkung beteiligt. 1920 wurde er in die Reichsmarine übernommen und zum Minenspezialisten ausgebildet. Er gehörte zu den wenigen Seeoffizieren, die an der Technischen Hochschule Charlottenburg in Berlin eine zweijährige Weiterbildung erhielten. Außerdem erwarb er in der Reichswehrzeit Kenntnisse in mehreren Fremdsprachen, wovon er nach 1945 erheblich profitierte. 1937 wurde er Führer der Minensuchboote. Im Zweiten Weltkrieg war er als Flaggoffizier u.a. in Frankreich eingesetzt, wo er ab Anfang 1941 als »Befehlshaber Sicherung West« für Geleit- und Minensuchdienst an den Küsten Hollands, Belgiens und der französischen Atlantikküste verantwortlich war. 1943 hatte er von Italien aus als »Befehlshaber Deutsches Marinekommando« für die Sicherung der Tunesiengeleite zu sorgen. Ende 1943 kam er zum Stab Rommels nach Frankreich, wo er die Landung der Angloamerikaner in der Normandie miterlebte. Von September 1944 bis Kriegsende war Rüge Chef des »Amtes Kriegsschiffbau« und wurde Ende 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Nicht nur für das NHT, sondern auch für die ehemaligen Marineangehörigen insgesamt wurde er rasch eine Schlüsselfigur und diente von 1956 bis 1961 als erster Inspekteur der Bundesmarine. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst war er
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So u.a. Godt und Gaul. Vereinzelt arbeiteten jedoch auch Seeoffiziere bei der Historical Division mit, so Rüge nach Abschluss der Arbeit des NHT. BA-MA, Ν 379/v.l08a Narrative Blatt 10. Rüge nennt in seinen Memoiren noch den früheren Chef des Marinepersonalamtes, Admiral a.D. Conrad Patzig als Mitarbeiter. Seine Rolle scheint sich jedoch im Wesentlichen auf die Empfehlung von Personal für das NHT beschränkt zu haben. Rüge, In vier Marinen, S. 279.
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publizistisch rege für die Marine tätig, lehrte Sicherheitspolitik an der Universität Tübingen und engagierte sich auch politisch52. Konteradmiral a.D. Gerhard Wagner (1898-1987) gehörte zur Crew 1916 der Kaiserlichen Marine. Den größten Teil des Zweiten Weltkrieges über war er Chef der Operationsabteilung der Seekriegsleitung gewesen. In der Bundesmarine wurde er Ruges Stellvertreter und beendete seine Laufbahn als erster deutscher Flaggoffizier, der die integrierte NATO-Position des Commander Naval Forces Baltic Approaches, COMNAVBALTAP, (1961-1962, am Anfang noch Commander Allied Naval Forces Northern Area Central Europe, COMNAVNORCENT, genannt) bekleidete, wozu ihm eigens der zeitweilige Dienstgrad eines Vizeadmirals verliehen wurde. Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye (1895-1970) war Crewkamerad Ruges. Bei Ende des Zweiten Weltkrieges war er Admiral der Kleinkampfverbände. Ähnlich wie Rüge engagierte er sich nach 1945 politisch. Zwar fand er keine Verwendung in der Bundesmarine, wurde jedoch Abgeordneter der CDU im Bundestag (1953-1961) und dessen Wehrbeauftragter (1961-1964). Als ehemaliger Luftwaffenangehöriger bildete Oberst i.G. a.D. Walter Gaul (1905-1994) eine Ausnahme im NHT. Sein Bezug zur Marine war jedoch dadurch gegeben, dass er 1924 in die Reichsmarine eingetreten und im Zweiten Weltkrieg als Verbindungsoffizier bei der Seekriegsleitung (Ski.) für Fragen der Marinefliegerei ein geeigneter Fachmann war. Dementsprechend wurde er im Dienstgrad eines Kapitän zur See später in die Bundesmarine übernommen und war der erste Kommandeur der Marineflieger (1957-1960). Die beiden zeitweiligen Mitarbeiter, Konteradmiral a.D. Eberhardt Godt (1900-1995) und Kapitän zur See a.D. Hans-Rudolf Rösing (1905-2004), repräsentierten die Expertise auf dem Gebiet der Uboot-Kriegführung. Godt war Chef der Operationsabteilung des Befehlshabers der Uboote gewesen. Während Godt in der Bundesmarine nicht mehr verwendet wurde, diente Rösing im Führungsstab der Marine als Unterabteilungsleiter, wurde Kommandeur des Marineabschnittskommandos Nord (1957-1962) und schließlich 1965 im Dienstgrad eines Konteradmirals als Befehlshaber des Wehrbereichskommandos I (WBKI) (1962-1965) verabschiedet. Die Mitglieder des von 1949 bis 1952 tätigen 53 NHT stellten ihre Überlegungen zu Struktur und Aufgaben einer künftigen deutschen Marine als Teil der westlichen Verteidigung zunächst inoffiziell und neben den eigentlichen Studienaufträgen an. Jedoch scheinen sich hierfür relevante konzeptionelle Überlegungen zu möglichen künftigen Szenarien schon ab 1950 auch innerhalb der
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Rüge trat in die CDU ein und stellte sich dem damaligen Ministerpräsidenten von BadenWürttemberg, Hans Filbinger, zur Verfügung, als dieser wegen seiner Tätigkeit als Marinestabsrichter während des Krieges, in der er auch an Todesurteilen mitgewirkt hatte, in der Öffentlichkeit angegriffen wurde. Filbinger trat wegen dieser Affäre von seinem Amt als Ministerpräsident zurück. BA-MA, Ν 379/v.l08a Narrative Blatt 9 f.
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Studien selbst niedergeschlagen zu haben54. Aus der Sicht des NHT bildete für den Fall eines sowjetischen Angriffs auf Westeuropa die Abwehr zu Lande den Schwerpunkt, wobei allerdings Seestreitkräfte die Voraussetzungen für einen Erfolg zu schaffen hatten. Als Schlüsselpositionen waren hierbei, wegen der von hier aus möglichen Bedrohung der lebenswichtigen Seewege zwischen Europa und Nordamerika durch sowjetische Seestreitkräfte (insbesondere Uboote), die nördliche Norwegensee und die Ostseeengen samt ihrer Küsten anzusehen. Bei den Ostseezugängen kam noch die Bedeutung als Flankenposition für den sowjetischen Hauptstoß durch Norddeutschland an die Atlantikküste hinzu. Für die Erfüllung der hier anfallenden Verteidigungsaufgaben sahen die Teammitglieder eine deutsche Marine als notwendig an, die kleinere Schiffseinheiten, Boote und eine eigene Marinefliegerkomponente umfassen sollte. Die dazu entwickelten Vorstellungen waren deshalb von besonderer Bedeutung, weil das NHT, im Gegensatz zu anderen Gruppierungen ehemaliger Marineangehöriger, nicht nur lokale Bedeutung besaß, sondern sich aufgrund seiner Arbeitsbedingungen in einer privilegierten Position befand55.
4. Himmerod Als Rüge zu der Expertentagung in das Eifelkloster geladen wurde, reiste er mit den konzeptionellen Überlegungen im Gepäck an, die im NHT bereits angestellt worden waren56. Die maritimen Anteile der als Folge der Tagung in Him54
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Weder eine Liste der Studien noch die Studien selbst, die vom NHT für das Office of Naval Intelligence der US-Navy angefertigt worden sind, scheinen in den National Archives (NARA) verfügbar zu sein. Eine Teilliste ist jedoch in den deutschen Akten überliefert: NHT Serial No. 67, »The Need for a German Naval Contribution and its Tasks« vom September 1952, BA-MA, BM 1/724. Hier wird auf die Serials No. 47, »Creating a German Navy Contingent in the frame of a German participation in the defence of Western Europe« (April 1951), No. 51 »The military-political significance of the Baltic« (Juni 1951), No. 53 »Memorandum on the creation of German naval units« (24. September 1951) und No. 66, vom 15. September 1952 verwiesen. Der Titel des letzten Serial wird nicht genannt, jedoch werden darin die für eine neue deutsche Flotte als erforderlich angesehenen Fahrzeugarten behandelt. Angesichts der Thematik und Datierung der Studien scheint ein deutscher Marinebeitrag also erst ab 1951 zum offiziellen Untersuchungsgegenstand des NHT geworden zu sein. Vgl. dazu Rüge, In vier Marinen, S. 282. Zur zentralen Stellung des NHT gegenüber den Messen auch BA-MA, Ν 379/v.l08a, Narrative Blatt 10. Zudem hatte Rüge beste Kontakte zur GMSA, wo sein ehemaliger Adjutant Zimmermann, später Generalinspekteur der Bundeswehr, im Stab eingesetzt war. Zimmermann arbeitete Rüge zu. Vgl. MGFA, Befragungsmaterialien, Befragung des Herrn Generalinspekteurs der Bw, Admiral Armin Zimmermann am 9. April 1976. MGFA, Quellensammlung und Befragungen KzS Güth, Befragung Rüge, »Bemerkungen zu: Entstehungsgeschichte BWehr«, 10.1.1975, hier Ruges Stellungnahme vom 24.1.1975. Es handelte sich um die später als »Wagner-Denkschrift« bekannt gewordenen Überlegungen.
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merod vom 5. bis 9. Oktober 1950 zustande gekommenen Denkschrift wiesen denn auch die Handschrift des NHT auf. In Himmerod war die Marine, neben Rüge, auch durch Walter Gladisch und Alfred Schulze-Hinrichs vertreten. Generaladmiral a.D. Gladisch (1882-1954) war 1898 in die Kaiserliche Marine eingetreten und hatte vom Stützpunkt Tsingtau aus 1904/05 den russischjapanischen Krieg aus der Nähe miterlebt. Als Artilleriespezialist diente er im Ersten Weltkrieg an Bord SMS »Nassau«, des ersten deutschen »Dreadnought«. In die Reichsmarine übernommen, wurde er Abteilungsleiter in der Marineleitung unter Admiral Paul Behncke, dann Chef des Stabes des Flottenkommandos. Im Anschluss hieran wurde er Befehlshaber der Aufklärungsstreitkräfte, diente dann unter Raeder als Amtschef des Marinekommandoamtes und krönte seine Laufbahn mit einer zweijährigen Dienstzeit als Flottenchef. Im Herbst 1933 pensioniert, wurde er im Zweiten Weltkrieg reaktiviert und war zuletzt als Admiral z.V. Vorsitzender des Oberprisengerichts in Berlin. Noch vor dem Neuaufbau der Bundesmarine verstarb er57. Kapitän zur See a.D. Schulze-Hinrichs (1899-1972) war während des Zweiten Weltkrieges Zerstörerflottillen-Chef und zuletzt Kommandeur der MarineAkademie gewesen. Nach dem Krieg arbeitete er für die Organisation Gehlen, so auch zum Zeitpunkt der Tagung in Himmerod. Er wurde in der Bundesmarine nicht verwendet, sondern blieb beim Vorläufer des späteren Bundesnachrichtendienstes. Die Aufgabenstellung für die in Himmerod versammelten Experten war recht umfassend: Sie waren aufgefordert, nicht allein zu Stärke, Organisation, Führung und Unterstellung des zu planenden deutschen Kontingents Empfehlungen zu geben, sondern sollten auch zu den bündnis- wie innenpolitisch zu erfüllenden Voraussetzungen Stellung nehmen, bevor dem deutschen Volk das »große neue Opfer erneuter Aufrüstung auferlegt werden« könne58. Noch bevor sich die Experten zu den militärischen Fragen im eigentlichen Sinne äußerten, benannten sie deshalb zunächst Gesichtspunkte, die sie als Voraussetzungen für einen deutschen Verteidigungsbeitrag betrachteten. Hier fanden sich die in den Kreisen ehemaliger Wehrmachtsangehöriger allgemein gegenwärtigen Gravamina wieder: die Forderungen nach Gleichberechtigung, nach »Rehabilitierung des deutschen Soldaten«, nach Freilassung der als Kriegsverbrecher verurteilten Wehrmachtsangehörigen, bei denen die Verurteilung auf zweifelhafter Rechtsgrundlage erfolgt war, schließlich nach »Einstellung der Diffamierung des deutschen Soldaten« bis hin zu »Maßnahmen zur 57
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Vgl. Nachruf in »Leinen Los!«, Mai 1954, S. 6, und Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 190. BA-MA, BW 9/3102, Aufgabenstellung für militärische Expertentagung, 4.10.1950. Die Himmeroder Denkschrift findet sich außer an den bei Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift genannten Fundstellen auch in BA-MA, BM 1/724 (umsigniert in BW 9/1824), hier allerdings unter dem irreführenden Titel »Gedanken zu einem deutschen Marinebeitrag«. Da für den Leser ggf. leichter greifbar, wird im Folgenden aus der Veröffentlichung der Denkschrift von Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 168-192, zitiert.
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Umstellung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland«59. An die Bundesregierung richteten die Tagungsteilnehmer als »das Maß an sachlichen und psychologischen Forderungen und Voraussetzungen, die ihre Erfüllung auch bei drängender Zeit erhalten können und müssen«60, neben einer Verpflichtung des zu schaffenden Kontingents auf das deutsche Volk61 und der Herstellung einer breiten gesellschaftlichen Basis hierfür62 vor allem die Forderung nach einer Ehrenerklärung durch Regierung und Parlament sowie nach einer versorgungsrechtlichen Gleichbehandlung der Wehrmachtsangehörigen analog zu allen anderen Staatsbediensteten63. Für den Fall eines sowjetischen Angriffes auf Westeuropa sahen die Experten den Schwerpunkt klar bei den Landoperationen, rechneten jedoch auf See mit einer Bedrohung durch sowjetische Uboote, deren Gesamtzahl sie auf 300 Boote schätzten. In der nördlichen Norwegensee und der Ostsee vermuteten sie etwa 200 Boote, wobei sie mit einem Anteil von maximal einem Drittel an modernen Booten rechneten64. Als Gebiete, in denen operative Schwerpunkte der Verteidigung Westeuropas zu bilden waren, wurden die Dardanellen, eine von Süddeutschland über die Alpen nach Norditalien reichende Landbrücke und 59
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Ebd., S. 169. Eine einer Rehabilitierung nahekommende Erklärung gab Eisenhower am 22.1.1951 Speidel und Heusinger gegenüber ab, worin er in Abweichung von seinen früheren, öffentlich geäußerten Ansichten feststellte: »Der deutsche Soldat hat für seine Heimat tapfer und anständig gekämpft.« BA-MA, Ν 379/v.l08, Erklärung des Oberkommandierenden der Atlantik-Streitkräfte General D.E. Eisenhower gegenüber den Generälen Adolf Heusinger und Dr. Hans Speidel, 22.1.51 19 Uhr 25, Nicht zu veröffentlichen! Zur Genese der Erklärung siehe Wettig, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung, S. 400 f. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 170. »Verpflichtung des deutschen Soldaten auf das deutsche Volk - repräsentiert durch den Bundespräsidenten - unter Betonung des gesamteuropäischen Gedankens, solange die westeuropäische Föderation noch keine überstaatliche Form gefunden hat.« Ebd. »Das Einverständnis der Opposition und der Gewerkschaften für den Aufbau eines deutschen Kontingents erscheint als selbstverständliche Voraussetzung; das Ethos der Landesverteidigung muss das ganze Volk erfassen.« Ebd. Ebd. Die Ehrenerklärung gab Adenauer am 3. Dezember 1952 vor dem Bundestag ab. Er führte hier unter anderem aus: »Ich möchte heute und vor diesem Hohen Hause im Namen der Regierung erklären, dass wir alle Waffenträger unseres Volkes, die im Rahmen der hohen soldatischen Uberlieferungen ehrenhaft zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft gekämpft haben, anerkennen.« Auch auf das Problem der als Kriegsverbrecher verurteilten Soldaten ging er ein, wobei er mit den Worten schloss: »Ausdrücklich möchte ich betonen, dass auch die Vertreter der früheren Soldaten eine Amnestie asozialer, verbrecherischer Elemente nicht befürworten.« Eine Abschrift der Erklärung findet sich im Rüge- Nachlaß, BA-MA, Ν 379/v.l08a. Erklärung Adenauers. Abschrift. Rüge datierte das Dokument jedoch irrtümlich mit 1951. Die Lösung der Versorgungsfrage zeichnete sich zum Zeitpunkt der Himmeroder Tagung zwar ab, da Artikel 131 des Grundgesetzes, der die Rechtsverhältnisse der ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Dienstes regelte, vom Bundestag beschlossen worden war. Es fehlten jedoch noch die Ausführungsbestimmungen hierzu, die im März 1951 schließlich vorlagen. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 171. Damit scheinen die sowjetischen Uboot-Zahlen überschätzt worden zu sein, die sich anscheinend tatsächlich im Bereich von 200 Booten bewegten. Der Serienbau modernerer Boote, die mit insgesamt 1200 Stück geplant waren, begann 1950 gerade erst. Vgl. Potter/Nimitz/Rohwer, Seemacht, Tabelle auf S. 1018, und die Ausführungen auf S. 1017.
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das Gebiet »Schleswig-Holstein-Dänemark-Südskandinavien« benannt. Letzteres Gebiet wurde als Riegel gegen einen Ausbruch sowjetischer Kräfte aus der Ostsee und als Ausgangsbasis für Gegenschläge in die Nordflanke des gegnerischen Stoßes nach Westeuropa betrachtet. Neben dem Eismeer sollten auch im Schwarzen Meer und in der Ostsee für diesen Fall möglichst frühzeitig Uboote, Schnellboote und Landungsverbände bereitgehalten werden, um die Absicht zur schnellstmöglichen Gegenoffensive zu verdeutlichen. Hiervon versprachen sich die Experten einen deutlichen Abschreckungseffekt. Der schleswigholsteinisch-dänische Raum war mit einem möglichst weit nach Süden reichenden Brückenkopf zu halten. Zu den dafür erforderlichen Land- und Luftstreitkräften wurden deshalb auch »die notwendigen Marine-Einheiten zum Kampf im Küstenvorfeld« gefordert65. Dass ihr Umfang eher begrenzt sein würde, deutete sich bereits in der Feststellung an, dass aufgrund der geographischen Lage, der operativen Situation und der verfügbaren Ressourcen ein zweckmäßiger deutscher Beitrag zwar auch Luft- und Seestreitkräfte umfassen müsse, »ihre Begrenzung aber nach Art und Zahl der Überlegung Rechnung zu tragen hat, dass das Schwergewicht beim Kampf in der Luft und zur See bei den U.S.A. und Großbritannien liegen wird«66. Als Aufgaben »der atlantischen Marinen«, worunter hier auch der deutsche maritime Beitrag verstanden wurde, bei der Verteidigung des »SchleswigHolsteinischen Brückenkopfes« wurden für Ost- und Nordsee genannt: die Sicherung der westlichen Ostsee gegen Angriffe von Uber- und Unterwasserstreitkräften sowie die Abwehr von Landungen. Sowjetischen Ubooten sollte der Ausbruch aus der Ostsee verwehrt und die Seewege in der Ostsee sollten für den gegnerischen Nachschubverkehr unpassierbar gemacht werden. Den Weg über die Ostsee sah man nämlich als potentiell leistungsfähigsten Nachschubweg für einen Angriff auf Westeuropa an. Die eigenen Seewege in Nordund Ostsee würden dagegen minenfrei gehalten und eigene Geleitzüge in diesen Gewässern zusätzlich gegen Luft- und Uboot-Angriffe geschützt werden. Ebenso waren die seewärtigen Flügel eigener, an die Küste angelehnter Heeresverbände gegen Beschuss von See und Landungen hinter ihrer Front zu schützen und entsprechende gegnerische Truppen selbst in ihren Flanken zu bedrohen. Verstärkt werden sollte dies durch die Fähigkeit zu Kommandounternehmen bis tief in den Rücken der gegnerischen Front. Die landgestützte Küstenverteidigung wurde als vom Heer zu lösende Aufgabe betrachtet. Der nun folgende Blick auf die in der Ostsee verfügbaren Kräfte verdeutlichte rasch den Handlungsbedarf, denn die Marinen der USA und Großbritanniens hatten bislang keinerlei Kräfte dorthin abgestellt. Schweden wollte im Konfliktfall neutral bleiben und die dänische Marine war allein viel zu schwach für die Abwehr von Landungen, geschweige denn für ein Vorgehen gegen die
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Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 173. Ebd., S. 174.
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gegnerischen Seewege67. Als Schlussfolgerung hielt man eine erhebliche Vermehrung westlicher leichter Seestreitkräfte in der Ostsee für erforderlich, wozu gerade die deutsche Seite besondere Pluspunkte beitragen konnte: »Ein deutsches Kontingent erscheint in diesem Rahmen notwendig, denn es bringt genaue Ortskenntnis und eingehende Kenntnis des Gegners mit68.« Aus diesem Befund wurden nun Zusammensetzung und Stärke des deutschen Kontingents abgeleitet. Dabei wurde jedoch sogleich darauf hingewiesen, dass dies allein noch nicht genüge. »Weitere atlantische See- und Luftstreitkräfte« hätten dafür zu sorgen, dass die Seeherrschaft bis in die mittlere Ostsee in westlicher Hand bleibe, während das deutsche Kontingent seine begrenzten Aufgaben erfülle. Zur Landungsabwehr wurden zwei Flottillen Kleinkampfmittel, also Kleinst-Uboote und Sprengboote, gefordert; außerdem, wohl hauptsächlich wegen ihrer Feuerkraft, 12 Landungsfahrzeuge mit Raketenbatterien. Interessant ist schon an dieser Stelle, in welcher Weise weitere, offenbar wegen ihrer relativ hohen Feuerkraft benötigte Fahrzeuge angesprochen wurden. Zerstörer und »große Kanonenboote« seien zwar für Beschießungen notwendig, doch wurde angenommen, dass sie »von den Engländern oder Amerikanern gestellt werden«69. Gebraucht wurden diese Fahrzeuge, aber offensichtlich wagten die deutschen Planer noch nicht, solche relativ großen Einheiten zu fordern. Gerade bei Fahrzeugen größeren Tiefganges waren die als besondere Vorzüge eines deutschen Beitrages herausgestrichenen genauen Ortskenntnisse angesichts der flachen Gewässer der westlichen Ostsee ein besonders ins Gewicht fallender Vorteil. Daher darf vermutet werden, dass politische Erwägungen (vorläufig) verhinderten, solche Fahrzeuge für das deutsche Kontingent zu fordern. Es galt nämlich zu berücksichtigen, dass sie auch außerhalb der Ostsee, ggf. sogar im Atlantik, Verwendung finden konnten, man jedoch vermeiden musste, den Anschein zu erwecken, als beabsichtige man hier in absehbarer Zeit wieder Flagge zu zeigen70. Die Kleinkampfmittel sollten außerdem auch beim Druck auf die Seeflanke des Gegners zum Einsatz kommen, wozu je 12 Landungsfahrzeuge für Infanterie und Landfahrzeuge gefordert wurden. Für den Kampf gegen die gegnerischen Seewege in der Ostsee sahen die Experten 12 Torpedoboote von 1200 t, die zugleich über Minenlegekapazitäten verfügen sollten, und 36 Schnellboote 67
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Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 204, beziffern die Stärke der dänischen Marine auf 2 Fregatten und einige kleine Fahrzeuge, die der Baltischen Flotte (= sowjetische Seestreitkraft in der Ostsee) mit 3 Kreuzern, 15 Zerstörern, 169 Landungsfahrzeugen und 32 Ubooten. Ebd., S. 200. In der Denkschrift selbst sind nur Schätzungen von bis zu 200 Ubooten in der Ostsee enthalten. Ebd,. S. 171. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 180. Ebd. Im Übrigen ist hier Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 204, Anm. 214 zu widersprechen, die der Ansicht sind, dass die deutschen Marineexperten so lange auf Zerstörer und Fregatten zu verzichten bereit waren, wie die Nordsee nicht als Einsatzraum zugewiesen würde. Die Denkschrift selbst impliziert den Einsatz von Zerstörern als kampfstarken Feuerrückhalt bei der Landungsabwehr und der Verwendung bei Küstenbeschuss, wobei die Nordsee keineswegs ausgeschlossen wird.
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vor. Hierzu dienten auch 24 kleine Uboote von 2501 und eine Marinefliegerkomponente, die aus je 30 Aufklärern und gleichzeitig zur Uboot-Jagd einsetzbaren Kampfflugzeugen bestehen sollte. Zusammen mit 12 U-Jägern sollten Kampfflugzeuge zudem den Ausbruch gegnerischer Uboote aus der Ostsee verhindern. Zum Schutz der eigenen Seewege in Nord- und Ostsee gegen Minen-, Uboot- und Luftbedrohung waren schließlich vorgesehen: 24 Minensuchboote von 6001 Verdrängung sowie 35 Räumboote mit je 1001, 12 Geleitboote (800 t) und 35 Kriegsfischkutter, die unter einem Luftschirm aus 84 Marinejagdflugzeugen operieren sollten71. Für die Aufstellung der so skizzierten Flotte wurde der Rückgriff auf die in Cuxhaven und Bremerhaven vorhandenen Minensucheinheiten unter britischer und US-Regie empfohlen. Man hoffte, so innerhalb weniger Wochen einen ersten Kern von 16 Räum- und Minensuchbooten und 4 Hilfsfahrzeugen zu bekommen, mit dem sofort eine Ausbildung von Rekruten begonnen werden konnte. Auch ließ sich über diese Verbände die Einstellung benötigter Spezialisten vornehmen. Weitere Boote seien problemlos in Deutschland herstellbar, während die 250 t-Uboote am besten aus den USA zu beziehen seien. Ansonsten würden leichte Fla-Waffen zur Ausbildung benötigt, wobei vor allem Verbindungsoffiziere möglichst bald trainiert werden sollten. Uber die Ausbildung des Personals der Marineflieger enthält die Himmeroder Denkschrift keine Angaben, man wird jedoch davon ausgehen dürfen, dass hier die bei den entsprechenden Abschnitten über die Schulung von Luftwaffenpersonal72 gemachten Angaben greifen dürften. Unter Rückgriff auf fliegendes Personal der ehemaligen Luftwaffe glaubte man, auf die fliegerische Anfangsschulung verzichten und mit Hilfe der Alliierten bereits nach einem Jahr einsatzklare Piloten stellen zu können. Uber die vier Schritte 1. Ausbildung von Ausbildern, 2. Ausbildung von Stammeinheiten, 3. deren Erweiterung zu Rahmeneinheiten und 4. deren schließliche Auffüllung wurde ein Aufstellungszeitraum von nur zwei Jahren für alle drei Teilstreitkräfte ins Auge gefasst73. Damit lag erstmals nach dem Krieg ein Entwurf für eine deutsche Marine vor. Er argumentierte zwar vor allem mit den Aufgaben in der Ostsee und den hier besonders zu Buche schlagenden deutschen Kenntnissen und Erfahrungen, beschränkte die Marine jedoch keineswegs auf die Ostsee allein. Der Bedarf an hochseefähigen Einheiten, wie Zerstörern, war ebenfalls, jedoch noch verschleiert, angesprochen. Deutlicher als in der Denkschrift selbst zeigen sich die von den Marinefachleuten hierbei gesehenen Hauptpunkte in einem späteren Kommentar Ruges: »Einige Punkte waren von Anfang an klar: Bei der politischen und geographischen Lage der Bundesrepublik musste das Schwergewicht einer neuen Rüstung auf Heer und taktische Luftwaffe gelegt werden. Trotzdem konnte die Marine nicht völlig durch Verbündete ersetzt werden. Wir hatten nun einmal 71 72 73
Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift, S. 180 f. Ebd., S. 183 f. Ebd., S. 160 f.
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besondere Erfahrungen in Nord- und Ostsee, Meeren mit besonderen und schwierigen Verhältnissen für Seefahrt und Seekrieg. Die dänischen Meerengen waren die strategische Position Nr. 1 in Nordwesteuropa. Es musste alles daran gesetzt werden, sie in einem Ernstfall den Sowjets zu sperren [...] Die Marine hatte also eine begrenzte Aufgabe, die aber mehr war als reine Küstenverteidigung und enge Zusammenarbeit mit dem Heer [...] Unser Bestreben war von vornherein, nur das an Marine zu schaffen, was in dieser Lage unbedingt nötig war. Als größter Typ schwebte uns der Zerstörer vor, weil er das kleinste voll seetüchtige Kampfschiff war und weil er sich für eine ganze Anzahl von Aufgaben verwenden ließ. Das waren: Unterstützung noch leichterer Streitkräfte (Schnellboote), Sicherung von Geleitzügen, Bekämpfung von Unterseebooten, Abwehr von Flugzeugen und (häufig übersehen) Minenwerfen. Dieses konnten Zerstörer schnell, zuverlässig und in Mengen durchführen, wobei sie eine gute Kampfkraft gegen alle Arten von Angriffen besassen74.« Dass der spätere erste Inspekteur der Bundesmarine hinsichtlich der Ausführungen über das »Innere Gefüge« durchaus Interpretationsunterschiede zu anderen Himmeroder Experten sah, belegt übrigens der Schluss von Ruges Kommentar zur dortigen Tagung: »Die Marine hatte aus den Ereignissen von 1918 bis 1923 die richtigen Folgerungen gezogen. Unsere Gedanken lagen durchaus in der Richtung, die dann Graf Baudissin als Verfechter der «inneren Führung» vertrat. Es kam aber darauf an, die geeignete praktische Form zu finden. Baudissin neigte vielleicht etwas zu stark zur Theorie. Bei einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise, etwa 1954 in Königswinter, setzte ich mich deshalb mit ihm auseinander. Nach einem längeren Wortgefecht sagte er schließlich: >Ich will ja nur, was vernünftige Männer schon immer getan haben! < Ich antwortete, dass wir uns auf dieser Grundlage durchaus einigen könnten75.« Allerdings dürfte auch diese recht abstrakte Basis kaum geeignet gewesen sein, Ruges Bedarf an praktischen Grundsätzen wirklich zu entsprechen. Daneben zeigte sich aber auch bei den am Anfang der Denkschrift genannten Voraussetzungen, dass diese im Herbst 1950 als noch nicht gegeben angesehen wurden, eine Meinung, die besonders Rüge ohne Einschränkungen teilte76. 74 75 76
BA-MA, Ν 379/v.l08a, Grundgedanken, undatiert, nach 1954. Ebd. Diese Voraussetzungen waren zuvor in den innenpolitischen Forderungen des Speidelkreises mehrfach formuliert worden. Von Rüge selbst stammen die »Gedanken eines ehemaligen deutschen Soldaten zum Neuaufbau einer deutschen Wehrmacht« vom Oktober 1950, in denen er ausdrücklich ausführte, dass die erforderliche Vertrauensgrundlage für einen Dienst in den neu aufzubauenden Streitkräften der Bundesrepublik »z.Zt. nicht gegeben« sei. Bislang fehlten »klare Beweise, dass man seine Vorbehalte gegen eine neue Inpflichtnahme verstehen will und dass man sich ernstlich bemüht, den Anlass dieser Vorbehalte zu beseitigen.« Zugleich legte er Wert darauf, dass zur Führung der künftigen deutschen Streitkräfte »nur solche Persönlichkeiten bestimmt werden, deren Schild rein ist und die sich als Mensch, Soldat und Führer bewährt haben.« BA-MA, Ν 379/v.l08a, S. 2 f. des Dokuments. Rüge hatte es im Anschluss an die Himmeroder Tagung verfasst und es diente künftig, zusammen mit einem an die Messen verschickten Fragebogen, als Grundlage für Gespräche mit Marineehemaligen in der ganzen Bundes-
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5. Vom Amt Blank und den EVG-Verhandlungen bis zum NATO-Beitritt der Bundesrepublik Ende 1950 existierten somit für die Verbesserung der Verteidigung Westeuropas unter Einbeziehung eines deutschen Beitrages erste Ansätze, für die allerdings die Schritte zur praktischen Umsetzung von Seiten der europäischen Bündnismitglieder nur langsam folgten. Noch als Eisenhower als erster SACEUR im April 1952 aus dem Amt schied, zeigte er sich deshalb enttäuscht darüber, dass die nur schleppenden europäischen Truppenaufstellungen ostwärts des Rheins noch immer keinen wirksamen Widerstand ermöglichten. Vor allem der französische politische Widerstand verhinderte vorläufig, dass die Lücken in der Bündnisplanung in absehbarer Zeit durch westdeutsche Streitkräfte ausgefüllt werden konnten. Die im Oktober 1950 in Himmerod von deutschen Experten als möglich erachteten Leistungen, die sie mit zwölf Panzerdivisionen, 84 Marinefahrzeugen und 821 Flugzeugen bezifferten, hätten recht genau in diese Lücken gepasst77. Parallel zu Himmerod hatte Adenauer mittlerweile seinen bisherigen Sicherheitsberater Graf von Schwerin fallen gelassen und am 17. Oktober 1950 den CDU-Abgeordneten Theodor Blank zum »Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« berufen. Der relativ junge christliche Gewerkschafter bot in den Augen des Bundeskanzlers die Vorteile, dass er eine Wiederbewaffnung auch in Kreisen jüngerer Menschen und der Arbeiterschaft glaubwürdiger vertreten konnte als der ehemalige General und vor allem dem autoritären Bundeskanzler gegenüber völlig loyal war. Zudem bot die Berufung eines Zivilisten zusätzlich die Möglichkeit, den Primat des Zivilen gegenüber dem Militärischen zu verdeutlichen, was Adenauer noch dadurch verstärkte, dass er Blank seine Vertrauensleute Emst Wirmer und Wolfgang Holtz zur Seite stellte. Durch die, ähnlich wie schon bei Schwerin, etwas prekäre Zwischenstellung ähnelte Blanks Position eher der eines persönlichen Referenten des Kanzlers als der eines auch vor Kabinett und Parlament verantwortlichen Ressortinhabers. Hierdurch behielt sich der Kanzler gerade auf dem sensiblen Gebiet der künftigen westdeutschen Aufrüstung die eigentlichen Entscheidungsbefugnisse letztlich selbst vor. Blanks erster und wichtigster Auftrag bestand darin, ab Januar 1951 die Verhandlungen mit den stellvertretenden Hohen Kommissaren der Alliierten auf dem Petersberg bei Bonn über Umfang und Modalitäten des bundesdeutschen Verteidigungsbeitrages zu führen. Diese dauerten bis in den Juni an und hierbei wurde er von Speidel, Heusinger und Kielmansegg unterstützt, wobei bei den Ersteren auch die Marinebelange durchaus gut aufgehoben waren, da sie über
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republik über eine künftige neue Marine. Vgl. Rüge, In vier Marinen, S. 282. Etwas irreführend bezeichnet Meyer diese Schrift Ruges als »Eröffnungsbilanz des Meisel-Kreises« und datiert sie mit Dezember 1950. Vgl. AWS, Bd 1, S. 728 (Beitrag Meyer). Ebd., S. 314.
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ihre informellen Kontakte zu Rüge und Wagner in enger Verbindung zum NHT standen, dem wichtigsten Nervenzentrum des Netzwerkes ehemaliger Marineangehöriger. Die Verhandlungen verliefen zunächst eher einseitig, da die Alliierten zwar die deutschen Vorstellungen entgegenzunehmen bereit waren, zugleich jedoch ihre deutschen Gesprächspartner über ihre eigene strategische Lageeinschätzung, ihre operativen Planungen und vor allem über die von den Westalliierten zuvor in Brüssel beschlossenen Kontrollmaßnahmen im Dunkeln ließen. Das Ausmaß der Diskriminierung, der ihr Beitrag unterworfen werden sollte, wurde den Deutschen nur allmählich offenbart. Grundsätzlich trat hier erneut ein Spannungsfeld zutage, welches bereits bei den internen Verhandlungen der Westmächte im Spätsommer 1950 eine Rolle gespielt hatte. Einen Pol bildete das aus Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und nationalen Interessen gespeiste politische Interesse daran, die Deutschen schwach zu halten. Den Gegenpol stellte die aus sachlich zu lösenden Aufgaben abgeleitete Argumentation zu einem militärisch gewichtigen deutschen Beitrag dar. Eben dieses Spannungsfeld trat sowohl bei den vorbereitenden Gesprächen zu einem deutschen Verteidigungsbeitrag auf dem Petersberg78 im ersten Halbjahr 1951 als auch den späteren Verhandlungen über eine EVG in Paris in Erscheinung. Die hier vorgetragenen skizzierten Aufgabenstellungen des maritimen Teils eines deutschen Verteidigungsbeitrages waren dabei weitgehend identisch mit den Himmeroder Vorstellungen. Die auf dem Petersberg dargelegten Aufgaben unterschieden sich von denjenigen aus Himmerod lediglich darin, dass die Aufgaben in defensive und offensive gruppiert, eine Küstenartilleriekomponente gefordert und zusätzlich die Unterstützung von Widerstandsbewegungen im sowjetischen Machtbereich im Kriegsfalle genannt wurden. Außerdem wurde hier die Vorstellung eines Fernziels sichtbar, das offensive Großlandungen in der mittleren und östlichen Ostsee im Rahmen eines Ubergangs des Westens zur allgemeinen Offensive nach Abwehr der ersten Aggression beinhaltete. Die künftige deutsche Marine sollte hier unterstützend mitwirken79. In der »Wagner-Denkschrift« der EVG-Verhandlungen von 1952 wurde die Küstenartilleriekomponente wieder fallen gelassen und dafür die Evakuierung eigener Truppen als Aufgabe aufgenommen. Auch wurde die später so genannte »Vorwärtsverteidigung«, also die taktisch und operativ offensive Abwehr, hier erstmals im Rahmen maritimer konzeptioneller Überlegungen angedeutet80. Noch vor den Petersberger Gesprächen hatte der französische Ministerpräsident Rene Pleven Ende Oktober 1950 eigene, integrierte westeuropäische Streitkräfte vorgeschlagen, die allerdings im Kriegsfall als geschlossenes Kontingent im NATO-Rahmen operieren sollten. Diese Europa-Armee sollte sich aus belgischen, westdeutschen, französischen, italienischen, luxemburgischen 78 79 80
Vgl. AWS, Bd 2, S. 630 ff. (Beitrag Meier-Dörnberg). BA-MA, BM 1/725, »Petersberg«-Denkschrift, März 1951 (keine Tagesangabe). BA-MA, N 3 7 9 / v . l l 6 , Ausführungen des deutschen Marinesachverständigen Konteradmiral a.D. Wagner über Fragen des deutschen Marinebeitrages, 8.2.1952.
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und niederländischen Anteilen zusammensetzen. Das politische Ziel dieser Konstruktion bestand darin, sowohl nationale deutsche Verbände von Divisionsgröße und darüber als auch eine eigene NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik zu verhindern, aber dennoch die deutschen Ressourcen für die Verteidigung Westeuropas zu nutzen 81 . Obgleich sowohl die angelsächsischen Mächte als auch Adenauer zunächst skeptisch waren, begannen die Verhandlungen zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Mitte Februar 1951 in Paris. Die Bundesrepublik war daran mit einer kleinen Delegation vertreten, mit deren Leitung Adenauer im Juli 1951 seinen Sicherheitsbeauftragten Blank betraute, obgleich die Verhandlungen offiziell unter der Leitung des Auswärtigen Amtes stattfinden sollten. Ab dem 1. Oktober wurde als Chef der militärischen Delegation Speidel eingesetzt. Die Delegation wuchs bis zum Frühjahr 1953 auf etwa 80 Mitglieder an, wobei die Marinesektion aus fünf Personen bestand. Das »Amt Blank«, wie Blanks Dienststelle mittlerweile genannt wurde, erhielt dazu auf Empfehlung des NHT Mitte Juli 1951 mit Karl-Adolf Zenker Verstärkung durch einen ehemaligen Marineoffizier, der von nun an die Marineangelegenheiten bei den EVG-Verhandlungen und auch danach in Bonn wesentlich prägte. Als nach Vertragsunterzeichnung in Paris dort der Interimsausschuss der EVG gebildet wurde, lag die Leitung des Marineanteils bei Kapitän zur See a.D. Heinrich Gerlach. Fregattenkapitän a.D. Karl-Adolf Zenker (1907-1998) war als Mitglied der Crew 1926 in die Reichsmarine eingetreten, wo er zum Minensuchspezialisten ausgebildet wurde. Im Zweiten Weltkrieg war er unter anderem als Erster Offizier und Kommandant auf Zerstörern eingesetzt, bevor ihn sein Weg 1944 als Referent für Minenwesen in die Operationsabteilung der Ski. führte. Nach Kriegsende zunächst unter britischer Aufsicht weiter tätig, war er bis zu seiner Einstellung durch das Amt Blank in der Wasserstraßenverwaltung von Rheinland-Pfalz tätig gewesen. Im Amt Blank übernahm er zunächst die Marineplanung und wurde dann Leiter der Gruppe Marine. In der Bundesmarine anfangs Unterabteilungsleiter im Führungsstab der Marine und dann der erste Befehlshaber der Seestreitkräfte Nordsee (BSN), übernahm er im Januar 1961, inzwischen Flaggoffizier, das Kommando der Marineausbildung und wurde im September desselben Jahres Ruges Nachfolger als Inspekteur der Marine (1961-1967). Kapitän zur See a.D. Heinrich Gerlach (1906-1988, Crew 1925) konnte für die Zeit des Zweiten Weltkrieges ebenfalls auf Verwendungen in der Ski. zurückblicken: Er hatte ihr von 1941 bis 1943 als Referent in der Operationsabteilung angehört. Nach einer Verwendung als Chef einer Zerstörerflottille kehrte er als Chef des Stabes des Oberkommandos der Kriegsmarine (OKM) 1945 wieder in die Ski. zurück. Nach Kriegsende war er zunächst im von den Alliierten beaufsichtigten Minenräumdienst tätig und stieß nach Tätigkeiten als Mitarbeiter
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Selbst hochrangige französische Offiziere hatten Zweifel am militärischen Wert dieses Konstrukts. Vgl. AWS, Bd 2, S. 605 (Beitrag Meier-Dörnberg).
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des Bibelarchivs in Hamburg und als nautischer Sachverständiger einer Versicherungsfirma 1952 zum Amt Blank. Nicht zuletzt durch Zenkers Arbeit konnte die deutsche Seite, der es nach und nach gelang, die gravierendsten Benachteiligungen zu beseitigen oder zu mildern, die Verhandlungen, gerade was maritime Angelegenheiten anging, in Richtung einer integrierten Lösung vorantreiben. Allerdings blieb die bereits angesprochene Schere zwischen politischen und militärisch-sachlichen Argumenten größer denn je. Abgesehen davon, dass der Pleven-Plan ursprünglich keinerlei deutsche Seestreitkräfte vorgesehen hatte, erforderten die vorgesehenen Aufgaben und das Operationsgebiet des schließlich doch konzedierten Marinekontingents enge Abstimmung und Zusammenarbeit mit den dänischen, norwegischen und britischen Marinen, die jedoch allesamt nicht zur EVG gehörten. Überdies zeigten die meisten anderen EVG-Kandidaten nur minimales Interesse daran, überhaupt nennenswerte Seestreitkräfte zu assignieren82. Dies lief jedoch dem französischen Interesse zuwider, auf keinen Fall die Masse der Einheiten von der Bundesrepublik stellen zu lassen, da hieraus möglicherweise Ansprüche zur Besetzung von Kommandostellen abzuleiten gewesen wären. Die französische Seite bot daher durchaus ansehnliche Kräfte in Form von 20 Hochsee- und 74 Küstenminensuchbooten an, zu denen noch 37 U-Jäger und 62 Reserveboote treten sollten83. Ein Kernproblem war jedoch nicht gelöst, dass nämlich Frankreich, Belgien und die Niederlande außereuropäische Seeinteressen hatten, für die sie eine nicht für jeden Fall exakt vorhersagbare Menge von Seestreitkräften benötigten, weshalb, außer im Fall Frankreichs, die Neigung eher gering war, diese vorab im Rahmen der EVG zu binden. Eine kritische Lage entstand schließlich im Oktober 1951, als die deutsche Seite über die bereits in der Himmeroder und der Wagner-Denkschrift genannten Kräfte hinaus die Notwendigkeit von 12 Zerstörern begründete und außerdem deren Mitwirkung an offensiven amphibischen Operationen in der Ostsee erwähnte. Das war ein deutlicher Schritt über eine reine Kleinboot- und Küstenmarine hinaus, der auf entschiedenen französischen Widerstand stieß. Dass die Franzosen eindeutig der einflussreichere Partner waren, bekam die deutsche Seite alsbald bei vermittelnden Vorschlägen des NATO-Hauptquartiers SHAPE (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) zu spüren, in denen Anfang November 1951 die kampfkräftigsten Kerne einer deutschen Flotte gestrichen worden waren, besonders alle Flugzeuge, Zerstörer und Uboote. Dafür sollten die Zahlen an Minensuch- und Schnellbooten heraufgesetzt werden, jedoch der Großteil von Booten und Besatzungen der Reserve angehören84.
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So beabsichtigten beispielsweise Belgien und die Niederlande, nur vier bis fünf Wachboote bereit zu stellen. Diese Kräfte sollten überdies z.T. erst im Kriegsfall mobilisiert und zugeteilt werden. Ahnlich scheint es sich im Fall des italienischen Beitrags verhalten zu haben. Vgl. Krüger, Die Anfänge der Bundesmarine, Teil 1, S. 4. Ebd. Vgl. AWS, Bd 3, S. 840 (Beitrag Greiner).
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Zur Darlegung ihrer Position wurde nunmehr von deutscher Seite ein wichtiger Repräsentant des NHT, Wagner, nach Paris geschickt85. Nach seinem Vortrag wurde von den französischen Offizieren die Schlüssigkeit der von ihm aus dem Auftrag abgeleiteten Stärke und Zusammensetzung des deutschen Kontingents nicht mehr bestritten, die politischen Argumente sollten sich jedoch durchsetzen: Im militärischen Sonderabkommen zum Vertrag über die EVG waren dem deutschen Kontingent zwar 18 Geleitboote zugestanden, jedoch kein Zerstörer oder Uboot. 60 Minensuchbooten im aktiven Dienst sollten 85 in Reserve liegende gegenüber stehen. Dazu kamen 60 Schnellboote, zwei Minenleger, 10 Hafenschutzboote im aktiven Dienst und 40 in Reserve, sowie 36 Landungsboote. Wie diese Zahlen bereits andeuten, sollte die Masse des Personals im deutschen Marinekontingent der Reserve angehören: 14 091 Mann gegenüber 11 443 Aktiven. Als Kompromissformel waren diese Zahlen allerdings als »erste Welle der Aufstellung« bezeichnet worden. Dies ließ zwar die Möglichkeit späterer Vergrößerung zu, was aber ungewissen künftigen Verhandlungen vorbehalten blieb. Jedoch waren dies die Bedingungen, unter denen es zu diesem Zeitpunkt offenbar nur möglich war, zu einer Einigung zu kommen und den Vertrag am 27. Mai 1952 zu unterzeichnen. Die Aufstellung des deutschen Marinekontingents sollte innerhalb von 2 Jahren und 3 Monaten stattfinden und erst im Nachhinein konnte die deutsche Seite durchsetzen, dass die aufzustellenden Einheiten zunächst einem Flaggoffizier deutscher Nationalität unterstehen sollten. Von einem erfolgreichen Abschluss der EVG-Verhandlungen ausgehend, hatte bereits im Februar der Nordatlantikrat in Lissabon getagt und die Aufstellung konventioneller NATO-Streitkräfte in Europa von 50 Divisionen, 4000 Flugzeugen und starken Seestreitkräften bis Ende 1952 sowie eine Steigerung auf 90 Divisionen und 6000 Flugzeuge bis Ende 1954 beschlossen. Diese Beschlüsse waren jedoch voreilig, da sie die finanziellen Möglichkeiten der Mitglieder außer Acht ließen. Sie wurden zwar nie verwirklicht, jedoch zeigen sie, dass ein erhebliches Gefühl der Bedrohung bestand und Abhilfe als dringend erforderlich erachtet wurde. Der Interimsausschuss der EVG erstellte nun im Verlauf des zweiten Halbjahres 1952 Zeit- und Dislozierungspläne für die Aufstellung. Ihnen zufolge wollte man die beiden Marinefliegergruppen in Nordholz und Jagel (Marinefliegerhorst Schleswig) stationieren. Die Geleitboote sollten in je sechs Boote umfassende Flottillen aufgeteilt werden und in Kiel, Cuxhaven und Emden ihre Heimathäfen finden, die Schnellboote in fünf Flottillen zu je zwölf Booten in Kiel, Eckernförde, Flensburg, Cuxhaven und Wilhelmshaven. Die drei Minensuchflottillen zu acht Booten waren in Kiel, Bremerhaven und Wilhelmshaven, die drei Räumbootflottillen zu zwölf Booten in Flensburg, Kappeln und Cuxhaven vorgesehen. Kiel sollte außerdem eine Hafenschutzbootflottille mit zehn Booten erhalten und die Landungsboote mit ebenfalls je zehn Booten auf Vgl. BA-MA, Ν 379/v.ll6, Ausführungen des deutschen Marinesachverständigen Konteradmiral a.D. Wagner über Fragen des deutschen Marinebeitrages, 8.2.1952.
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Kappeln, Eckernförde und Emden verteilt werden. Flottenchef und Befehlshaber der Ostseestreitkräfte würden in Kiel, der Befehlshaber der Nordseestreitkräfte in Cuxhaven ihre Flaggen setzen86. Die mit gut zweieinviertel Jahren bis zum Erreichen des Personalsolls sehr ehrgeizigen Aufstellungspläne sahen für ein halbes Jahr nach Aufstellungsbeginn 4450 Mann im aktiven Dienst vor, zu denen noch weitere 800 für Ausbildungseinrichtungen und territoriale Dienststellen treten sollten. Nach einem Jahr sollten diese Zahlen auf 5500 und 1200 steigen, bevor das Aufstellungsziel von 11 443 (mit weiteren 6100 Mann für die genannten Bereiche) erreicht würde87. Diese Planungen wurden allerdings durch ungünstige Rahmenbedingungen stark beeinträchtigt. Obgleich stets von den früheren Mitgliedern des mittlerweile aufgelösten NHT beraten, konnte die Marinegruppe im Amt Blank dennoch ihre gravierenden Personalengpässe nicht überwinden. Hinzu kam, dass die Westalliierten vor einer Ratifizierung der EVG-Verträge nicht bereit waren, den deutschen Planern Einblick in ihre eigenen Planungen zu gewähren oder den Deutschen aus dem gemeinsamen Fonds Mittel für Konstruktionsarbeiten und vorbereitende Maßnahmen zuzubilligen, die diese in die Lage versetzt hätten, unmittelbar nach einer Ratifizierung der Verträge mit dem Bau von Fahrzeugen zu beginnen. Hinzu kamen weitere wesentliche Einschränkungen politischer Natur. Auch nach der gewonnenen Bundestagswahl vom September 1953 wollte Adenauer Blank nicht den Status eines Ministers zubilligen, da er wegen der zu erwartenden außenpolitischen Beunruhigung (vor allem in Frankreich) vor Schritten zurückschreckte, die ihm den Vorwurf einseitiger Aufrüstung ohne vertragliche Grundlage hätten einbringen können. Die Kehrseite der Medaille war, dass wichtige administrative Vorbereitungen unterblieben und damit Probleme des Dienstrechts, der Logistik, der Ausbildung und Infrastruktur auch Ende 1953 noch ungelöst waren. Angesichts dieser Situation war dem in der Marinegruppe des Amtes Blank für die Organisation zuständigen Sachbearbeiter, Korvettenkapitän a.D. Gert Jeschonnek, zu diesem Zeitpunkt klar geworden, dass die ursprünglich geplanten zwei Jahre und drei Monate für die Aufstellung illusorisch waren88. Die vorhandenen Planungen wurden jedoch alsbald durch die politischen Ereignisse überholt, als die französische Nationalversammlung die Ratifizierung des EVG-Vertrages am 30. August 1954 ablehnte. Der Balanceakt eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages zwischen europäischer Kontrolle und militärischer Notwendigkeit, gepaart mit dem Wunsch nach Gleichberechtigung war damit für den Moment gescheitert. Allerdings waren die anderen westeuropäischen Partner nicht gewillt, dieses Scheitern hinzunehmen, weswe86 87 88
Vgl. AWS, Bd 3, S. 834 f. (Beitrag Greiner). Ebd. Auch andernorts war die sich öffnende Schere zwischen Planung und Realität der Aufstellung deutlich erkannt worden, so vom für die Planung im Amt Blank verantwortlichen Oberst a.D. Bogislaw von Bonin. Sein Drängen auf eine Kursänderung stieß jedoch bei Blank auf taube Ohren, der keine Aufstellungen ohne vertragliche Basis wollte. Dementsprechend verlor Bonin seinen Posten. Vgl. AWS, Bd 2, S. 742 (Beitrag Meier-Dömberg).
I. Einleitung
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gen auf britische Initiative im September und Oktober 1954 über eine NATOMitgliedschaft der Bundesrepublik verhandelt wurde. Durch den Beitritt der Bundesrepublik zum Brüsseler Pakt im Oktober 1954 samt damit gekoppelter Kontrollvorschriften, die für die Deutschen den Verzicht auf ABC-Waffen und Einschränkungen beim Besitz und der Herstellung schwerer konventioneller Waffen vorsahen, wurde ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag im NATORahmen auch für die französische Seite akzeptabel. Für die Marineplaner des Amtes Blank beinhaltete die so veränderte Lage die Chance, unter Rückgriff auf die bereits 1950/51 entwickelten Vorstellungen die Schwachstellen des Marineteils in der EVG-Konzeption auszugleichen, die nach Streichung der kampfstärksten Bestandteile in mangelnder Standfestigkeit und Feuerkraft der geplanten Flotte gesehen wurden. Um dem abzuhelfen, forderte man jetzt wieder 12 Zerstörer und Uboote mitsamt einem Hilfsschiff und einem Minenleger sowie eine Flottille an Kleinkampfmitteln und eine erhöhte Zahl der Flugzeuge. Im Gegenzug wurde die Anzahl an Minensuch-, Landungs- und Schnellbooten verringert und auf eine marineeigene Küstenartillerie verzichtet89. Bei den Personalstärken war mit 25 000 Mann Friedens- und 27 000 Mann Kriegsstärke der Schwerpunkt klar auf das aktive Personal gesetzt. Für die Aufstellung scheinen nunmehr vier Jahre veranschlagt worden zu sein. Die Empfehlungen von SHAPE übertrafen sogar teilweise die Zahlen der deutschen Planer: Sie sahen 18 Zerstörer, 10 Geleitboote und 36 Landungsfahrzeuge sowie eine Gesamtpersonalstärke der Marine von 30 000 Mann vor. Noch immer aber verweigerte Adenauer Blank das Ministeramt und ließ keine hinreichende Bereitstellung von Haushaltsmitteln für die notwendigen Vorbereitungen der tatsächlichen Aufstellung zu. Dies änderte sich erst mit dem Inkrafttreten der NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik am 5. Mai 1955. Einen guten Monat später wurde Blank nun endlich Bundesminister für Verteidigung; auch weitere Haushaltsmittel begannen jetzt verfügbar zu werden. Wegen der ungenügenden Vorbereitungen konnten sie aber vorläufig noch nicht ausgegeben werden. Zwar erhielt die Marine im neugeschaffenen Ministerium immerhin 69 Offizierplanstellen, aber bis zu einer reibungslosen Arbeit war es noch ein langer Weg, denn die interne Organisation des Ministeriums war noch keineswegs ausgereift. Es dauerte noch bis zum November 1955, bis im Zuge der Errichtung von vier militärischen Abteilungen auch eine eigene Marineabteilung entstand und die ersten Marineangehörigen ihre Ernennungsurkunden erhielten. Erst jetzt konnte man davon sprechen, dass eine Marine tatsächlich gegründet worden war. Welche Untiefen nicht zuletzt in den politischen Gewässern lauerten, in denen sich die zunächst kommissarisch von Zenker geführte junge Marine befand, wurde rasch deutlich, als seine Bezugnahme Die genauen Zahlen betrugen: 12 Zerstörer und 12 Uboote, wobei beide Fahrzeugarten klein und den Einsatzbedingungen im Bereich der Ostsee angepasst sein sollten. Außerdem 36 Schnellboote, 30 Landungsboote sowie zunächst 16 Minensucher im aktiven Dienst für die Nordsee. Bei den Luftfahrzeugen wurden 16 Hubschrauber, 48 Flugzeuge für Aufklärungs- und Kampfeinsätze und weitere 14 Rettungs- und Verbindungsflugzeuge gefordert. Vgl. Krüger, Die Anfänge der Bundesmarine, Teil 2, S. 29.
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auf die als Kriegsverbrecher verurteilten Großadmirale Raeder und Dönitz für harsche Kritik im Bundestag sorgte. Zenker hatte in einer Ansprache an die erste aufgestellte Einheit der Marine, die Marine-Lehrkompanie in Wilhelmshaven, am 16. Januar 1956 die beiden ehemaligen Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, die Großadmirale a.D. Raeder und Dönitz, unter indirekter Kritik an den Urteilen, die beide in den Nürnberger Prozessen erhalten hatten, als »sauber, anständig und ehrenhaft« bezeichnet und unterstrichen, dass »kein Makel« an ihnen hafte. Sie trügen ihr Schicksal »stellvertretend für uns alle, die wir damals in gutem Glauben einer verantwortungslosen politischen Führung gedient haben [...]«90. Eine Erwähnung des Widerstandes unterließ Zenker hingegen. Besonders seine allzu undifferenzierte Darstellung der Großadmirale war dann im April die Ursache teils pointierter Kritik im Bundestag, wobei ihm unter anderem antisemitische und menschenverachtende Äußerungen von Dönitz entgegengehalten wurden, die unvereinbar waren mit dem »Ausdruck [...] des Geistes der Menschlichkeit, der Menschenrechte und der Menschenwürde«, welcher die Bundeswehr prägen müsse und ohne den es auch keine »soldatische Tugend« geben könne91. Zenker hatte allzu einseitig dem Missbehagen vieler früherer Marineangehöriger über teils vermeintliche, teils zutreffende Fehlbehandlung der beiden »Symbolfiguren« Raum gegeben, ohne aber die Schattenseiten zu beachten. Seiner Karriere tat dieser Missgriff indessen keinen Abbruch: Er wurde nach Rüge der zweite Inspekteur der Bundesmarine. Mit der Ernennung Vizeadmiral Ruges zum Abteilungsleiter Marine und Konteradmiral Wagners zu seinem Stellvertreter im März 1956 lag die Führung der jungen Bundesmarine in den Händen der führenden Köpfe des Naval Historical Teams, das 1950/51 erstmals ernst zu nehmende Vorschläge für eine neue deutsche Marine formuliert hatte. Das NHT kann daher wohl zu Recht als die eigentliche Keimzelle der Bundesmarine gelten92.
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BA-MA, BW 9/728, Ansprache des Kapitän zur See Zenker, 16.1.1956. Der Vorfall ist dargestellt und analysiert bei Krüger, Das schwierige Erbe, S. 28. Krüger, Das schwierige Erbe, S. 31. Admiral Zimmermann hat hierzu bei seiner Befragung zwar eine andere Ansicht vertreten, jedoch findet seine Auffassung, dass das NHT keineswegs eine Art »Führungszelle« gewesen sei, angesichts der Quellenlage keine Grundlage. Vgl. MGFA, Befragungsmaterialien, Befragung des Herrn Generalinspekteurs der Bw, Admiral Armin Zimmermann am 9. April 1976.
II. Die Aufbauphase ( 1 9 5 5 bis 1961) 1. Die eingebrachten konzeptionellen Vorstellungen 1954/55 Was die konzeptionellen Vorstellungen der deutschen Marineplaner anging, so eröffnete sich mit dem Scheitern der EVG im August 1954 die Chance, mit den künftigen Verbündeten neu über die Konzeption und die für ihre Umsetzung benötigten Kräfte zu verhandeln, insbesondere über Zerstörer und Uboote, die im EVG-Vertragswerk ganz entfallen waren, und über Seeluftstreitkräfte, deren Anzahl und Kampfkraft gegenüber den ursprünglichen deutschen Vorstellungen stark zusammengestrichen worden waren1. Diese Kerne der Feuerkraft und Hochseefähigkeit der künftigen Flotte galt es nun zu retten. Der an den Verhandlungen selbst beteiligte spätere Vizeadmiral Gerlach schilderte 1969 vor angehenden Admiralstabsoffizieren plastisch die Überlegungen, die den Planungen vom Herbst 1954 und Frühjahr 1955 zugrunde lagen2. Aus Sicht der deutschen Marineplaner konnten die Aufgaben der künftigen westdeutschen Marine in sechs Punkten zusammengefasst werden: 1. Sicherung der Ostseezugänge, 2. Unterbindung feindlichen Schiffsverkehrs in der Ostsee, 3. Unterstützung des Heeres, 4. Sicherung eigener Seeverbindungen, 5. beschränkte Beteiligung an den Sicherungsaufgaben im Nordatlantik und 6. angemessene Repräsentation der Bundesrepublik in Übersee und Ausbildungsfahrten im Frieden3. Die Sicherung der Ostseezugänge sollte taktisch-offensiv gelöst werden, da das Sperren dieser Engen für den Gegner und ihr Offenhalten für die Allianz nur dann als möglich angesehen wurde, wenn die angrenzenden Küsten in eigener Hand blieben. Hieraus war gefolgert worden, dass Jütland, SchleswigHolstein und die vorgelagerten Inseln unter allen Umständen im Kriegsfall gehalten werden mussten. Da sie die dänische Marine als zu klein ansahen, um 1
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Der EVG-Vertrag hatte 24 Marineflugzeuge und 30 Hubschrauber vorgesehen. In seiner Denkschrift vom Februar 1952 hatte Wagner dagegen für die Marine 60 Kampfflugzeuge und 2 Gruppen Jäger angemahnt, dazu 12 Zerstörer und 24 Uboote. Vgl. BA-MA, BM1/724, Ausführungen des deutschen Marinesachverständigen Konteradmiral a.D. Wagner über Fragen des deutschen Marinebeitrages (»Wagner-Denkschrift«), 8.2.1952, fol. 63. BA-MA, N379/v.ll6, Aus den Anfängen der Bundesmarine. Vortrag vor dem 9. und 10. Admiralstabsoffizierlehrgang am 6.3.1969 von Vizeadmiral a.D. Heinrich Gerlach. Ebd., S. 21-25 des Vortrage.
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diese Aufgabe allein lösen zu können, betrachteten die deutschen Planer es als deutsche Aufgabe, im vorgelagerten Seegebiet - und darunter wurde die mittlere Ostsee verstanden - einen Schwerpunkt bilden zu können. Dies wurde als Voraussetzung für eine erfolgreiche Verteidigung der Küsten im Bereich der Ostseeengen betrachtet. In der westlichen Ostsee sollte im Konfliktfall jeglicher gegnerische Schiffsverkehr unterbunden, in der mittleren Ostsee sollte er zumindest nachhaltig gestört und in der östlichen Ostsee wenigstens beunruhigt werden, womit nicht allein eine Beeinträchtigung des gegnerischen Nachschubverkehrs, sondern auch eine Bindung gegnerischer Kräfte beabsichtigt wurde. Die Unterstützung des Heeres wurde sowohl als indirekte, nämlich durch die erwähnte Einschränkung des gegnerischen Nachschubs auf dem Seewege, als auch als direkte Unterstützungsaufgabe durch überflügelnde amphibische Operationen und Küstenbeschuss sowie durch Mitwirkung bei der Luftabwehr im Küstenbereich gesehen. Hinsichtlich der Sicherung der eigenen Seeverbindungen war man der Meinung, dass sie in der westlichen Ostsee allein, im Kattegat und Skagerrak dagegen zusammen mit Dänen und Norwegern zu leisten war. An eine Beschränkung bei den Sicherungsaufgaben auf die Ostsee wurde keineswegs gedacht, denn in der nördlichen Nordsee sollte nach den konzeptionellen Vorstellungen der Deutschen bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben mit Briten und Norwegern zusammengearbeitet werden. Dagegen nahm man an, dass man in der südöstlichen Nordsee hierbei auf sich allein gestellt sein und weiter westlich eine Zusammenarbeit mit den Marinen der Beneluxstaaten erfolgen würde. Aber man blickte auch bereits über die Nordsee hinaus: »Eine beschränkte Beteiligung der deutschen Marine an der Sicherung der Seeverbindungen im Nordatlantik hielten wir für wünschenswert; hauptsächlich im Hinblick darauf, dass man, wenn man Kontingente stellt, auch im Stabe vertreten ist. Wir hielten es für sinnvoll und eigentlich nötig, dass wir auch im SACLANT-Stab mindestens mithören, wenn schon nicht mitreden konnten4.« Die Friedensaufgabe der Repräsentanz der Bundesrepublik bei Ausbildungsreisen nach Übersee< wurde, Gerlach zufolge, von den Planern als wichtiger, im Rahmen der Ausbildung der Offiziere und ihres Nachwuchses bedeutsamer Aspekt betrachtet. Hier kam zugleich die Position der Marine in der deutschen Gesellschaft in den Blick, wenn der Admiral ausführte, dass dadurch auch ein wesentlicher Beitrag zur notwendigen »Ausbildung zu weltweitem maritimen Denken« geleistet werde. Da nämlich die Bundesrepublik eine Landmacht sei, werde man hier stets in Gefahr sein, »maritime Gesichtspunkte falsch zu bewerten«. Es sei daher die Verantwortung des Marineoffiziers, »die maritimen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen im Verteidigungsministerium, im Verteidigungsrat, vor dem Parlament und im Volk«5. Erhellend für die Gesichtspunkte, die das Denken der westdeutschen maritimen Planer bereits vor Gründung der Bundesmarine bestimmten, waren auch 4 5
Ebd., S. 23. Ebd.
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Gerlachs Ausführungen zu den Überlegungen über den Umfang und die Zusammensetzung der aufzustellenden Flotte. Neben den bereits aufgezählten Aufgaben und einer Feindlagebetrachtung waren dabei vor allem die verfügbaren Kräfte und Möglichkeiten der Verbündeten von Bedeutung. Problematisch war gerade aus deutscher Sicht, dass wichtige Seegebiete nicht von den verbündeten Marinen hätten verteidigt werden können, die überdies gar nicht über die geeigneten Seekriegsmittel verfügten. So war die nördliche Nordsee ein Seegebiet, das für die deutsche Zufuhr von erheblicher Bedeutung, aber weitgehend schutzlos war: »Es war schon damals sicher, dort haben die Alliierten so gut wie nichts, also müssen wir schon selber etwas tun6.« Im Fall der Ostsee verfügte keine, nicht einmal eine der großen Marinen, über Fahrzeuge, die den vielfach engen und seichten Gewässern wirklich angepasst waren. Bei Fahrzeugen von über 1000 ts, die in solchen Gewässern zum Einsatz kamen, war es beispielsweise in Deutschland selbstverständlich, dass sie in Doppelbodenbauweise gefertigt wurden. Das war bei den (an die Bedingungen des Tiefwassers angepassten) Fahrzeugen der US-Navy nicht der Fall, wie Gerlachs Zuhörer selbst an den gerade in die Bundesmarine neu eingeführten Lenkwaffenzerstörern der »Lütjens«-Klasse feststellen konnten, die auf US-Werften gebaut worden waren. Angesichts dieser Situation seien die Marineplaner zu dem Schluss gekommen, »wir können lange warten, bis jemand eine offensive Verteidigung der Ostseeeingänge übernimmt, wenn wir das nicht selbst tun7.« Einen besonders heiklen Punkt stellten schließlich die Motive der Planer dar, die bei den Ausgangsüberlegungen eine Art »hidden agenda« bildeten8. Jede Marineplanung, so wurden die angehenden Admiralstabsoffiziere nun unterrichtet, sei stets auch eine Planung auf weite Sicht. Das gelte für die Marine mehr als für andere Teilstreitkräfte. Aus dieser Einsicht hatten die westdeutschen Marineplaner zwei Konsequenzen abgeleitet: Erstens, dass die zu schaffende Marine eine Struktur benötigte, die sie in die Lage versetzte, »auch bei einer Änderung der politischen Konstellation« noch sinnvoll eingesetzt zu werden9. Zweitens hätten die Väter der Bundesmarine gewollt, dass dieser jede Möglichkeit offen bleibe, den Anschluss an damalige und künftige technische Entwicklungen zu halten. Der Schlüssel hierzu sei aber, so Gerlach, der Besitz von Zerstörern gewesen10. Auf der Basis der Aufgaben und der dafür als erforderlich angesehenen Kräfte waren, Gerlach zufolge, freilich auch operative Vorstellungen entwickelt 6 7 8
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Ebd., S. 24. Ebd. »Ein weiterer Gesichtspunkt, der eine größere Rolle gespielt hat in den Gesprächen über unseren Kräftebedarf, als das irgendwo aktenkundig ist«. Ebd. »Dazu gehört, dass sie notfalls auch allein kämpfen kann. Inzwischen ist offenkundig geworden, dass es uns durchaus passieren kann, dass wir plötzlich der Zone (und Polen) allein gegenüberstehen.« Ebd. »Dies ist einer der Gründe gewesen, wenn auch nicht ein offen ausgesprochener, dass wir so hartnäckig auf Zerstörern bestanden haben.« Ebd.
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worden, die über das 1955 Mögliche hinausgingen. Diese sah der Admiral auch Ende der 60er Jahre noch als identisch mit den bereits Mitte der 50er entwickelten Ideen an. So gelte generell für die Ostsee, dass hier Fahrzeuge von maximal Zerstörergröße zum Einsatz kommen sollten. Uboote dürften in diesen engen Gewässern nicht größer als 300 bis 400 ts sein und jedes Fahrzeug müsse mit möglichst starker Flugabwehrbewaffnung ausgestattet werden. In der gesamten Ostsee waren zur Aufklärung Flugzeuge und Uboote erforderlich, die sich möglichst lange in Tauchfahrt fortbewegen konnten. Diese beiden Seekriegsmittel sollten zudem in der Lage sein, bis dicht unter die feindliche Küste und bis in den Finnbusen hinein aufzuklären. Um den gegnerischen Seeverkehr in der östlichen Ostsee stören zu können, wurden mit Torpedos und Minen bewaffnete Uboote als geeignete Seekriegsmittel betrachtet, dazu Flugzeuge, die in der Jagdbomber-Rolle feindliche Seeziele angreifen sollten. Der Einsatz von Minen aus Flugzeugen war zwar erwogen, angesichts der technischen Probleme und der sonstigen Anforderungen an die Marineflugzeuge aber wieder verworfen worden. Die in der mittleren Ostsee zu lösende Aufgabe der Erringung einer zumindest zeitweiligen Seeherrschaft im Gebiet von Gedser über den Südausgang des Sunds bis in die Gebiete um Rügen, Bornholm und der südschwedischen Küste wurde den Schnellbooten zugewiesen. Diese sollten dort den gegnerischen Seeverkehr zum Erliegen bringen oder zumindest massiv einschränken. Hierzu waren die Boote mit Torpedos und kombinierten Flugabwehr- und Seezielgeschützen zu bewaffnen und als Rückhalt auf Zerstörer abzustützen, die wiederum die Luftabwehr stärken sollten. Bei Wetterbedingungen, die einen Einsatz der Boote ausschlossen, konnten die Zerstörer zudem die Präsenz von NATOSeestreitkräften in diesen Seegebieten aufrechterhalten. Sowohl Schnellboote als auch Zerstörer sollten zudem Minen werfen können. Verstärkt werden sollten diese Fahrzeuge durch Marinejagdbomber, die außerdem zur Abwehr feindlicher Flugzeuge eine marineeigene Jägerkomponente benötigten. Das Erringen und Halten der Seeherrschaft in der westlichen Ostsee war aber auch Aufgabe der Schnellboote. Damit dabei die eigene Bewegungsfreiheit bei feindlichem Mineneinsatz erhalten blieb, sollten zusätzlich Räumboote zum Einsatz kommen, die wegen der hier als hoch eingeschätzten Luftbedrohung ebenfalls über starke Flugabwehrbewaffnung verfügen mussten. Auch gegen diese Bedrohung benötigte man marineeigene Jäger. Für den Fall eines Misserfolges der eigenen Operationen in der mittleren Ostsee sollten im westlichen Teil schnell ausgedehnte Minensperren geworfen werden können. Hierzu sollten entsprechende Fähigkeiten der Schnell- und Räumboote genutzt werden und überdies eigens hierfür ausgelegte Minenschiffe zum Einsatz kommen. Die geplanten amphibischen Fähigkeiten der Marine waren dafür ausgelegt, in der westlichen oder mittleren Ostsee Heerestruppen von Bataillons- bis Brigadestärke anlanden zu können. Sowohl Kattegat als auch Skagerrak waren für den Kriegsfall als Gebiete zur Stationierung der Trossflotte vorgesehen, weswegen ihre möglichst starke FlaBewaffnung als oberstes Gebot angesehen wurde, zumal der Einsatz von Marine-
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jägern hier aus kommandotechnischen Gründen nicht möglich war. Die Trossschiffe sollten die Flotte befähigen, bei Kriegsbeginn ihre schleswig-holsteinischen Stützpunkte zu verlassen und solange versorgt zu bleiben, bis Nachschub aus noch in Norwegen zu errichtenden Depots und später aus den USA herangeführt werden konnte. Für die Nordsee hatten die westdeutschen Marineplaner im nördlichen Teil die Sicherung der eigenen Nachschubwege durch Zerstörer und Fregatten sowie auf U-Jagd spezialisierte Boote und Flugzeuge vorgesehen. Über die mögliche Entwicklung von Jagd-Ubooten (spezialisierten Ubooten für eine U-JagdRolle) wurden erste Überlegungen angestellt. Die in der südlichen Nordsee hauptsächlich erwarteten Minenräum- und Geleitaufgaben sollten durch Minensucher und für die Luftabwehr besonders eingerichtete Geleitboote erfüllt werden, zu denen noch einige kleine Hilfsfahrzeuge treten sollten. Im Nordatlantik wollte man schließlich in der Lage sein, sich mit zwei bis drei Fregatten oder Zerstörern an der Sicherung des dortigen Seeverkehrs zu beteiligen. Abgerundet werden sollte der Schiffsbestand schließlich noch durch ein großes Schulschiff und ein Segelschulschiff, denen mit Schwerpunkt die Kombination aus Repräsentation und Ausbildungsauftrag obliegen würde. Dies also waren die Aufgaben und Fähigkeiten, die den Vätern der Bundesmarine 1954/55 vor Augen standen und deren Erfüllung sie von einer »ausgewogenen«, d.h. zur Erfüllung all dieser verschiedenen Aufgaben befähigten Flotte erwarteten. Fähigkeiten und Aufgaben fanden dabei ohne Zweifel einen Schwerpunkt im »braunen« Wasser der Ostsee, beschränkten sich aber keineswegs darauf. Vielmehr wollten die westdeutschen maritimen Planer ihre Marine auch als Mitspieler im »blauen« Wasser der nördlichen Nordsee und darüber hinaus - wenngleich nur in kleinem Maßstab - auf dem Atlantik sehen. Eine besonders auffällige Besonderheit war jedoch, dass man sogar noch vor und kurz nach dem NATO-Beitritt auch an eine, eher realitätsferne, »bündnislose« Situation dachte und sich für den Raum der westlichen und mittleren Ostsee eine lokale Vormachtstellung sichern wollte11.
2. Organisation und Aufwuchs der Marinekomponenten Alle konzeptionellen Vorstellungen hingen jedoch in der Luft, solange keine Basis für ihre Realisierung existierte. Erst mit dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik und der Abstimmung mit SHAPE hatte die Marine eine Grundlage »[...] die Einteilung in Streitkräfte für den Ostseekrieg und für die anderen Gewässer und ihre Stationierung im Frieden war so gedacht, dass wir auf alle Fälle ständig ein erhebliches Übergewicht gegen die Seestreitkräfte der Zone plus derjenigen Polens haben und halten wollten.« Ebd., S. 28.
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gewonnen, auf der sie die Aufstellung der beabsichtigten Flotte in Angriff nehmen konnte. Hierzu war es gemäß den WEU-Vereinbarungen indessen erforderlich, dass vom Bündnis Empfehlungen zu ihrer Zusammensetzung und ihren Aufgaben ausgesprochen wurden. Auf der Grundlage der bereits dargestellten Planungen vom Herbst 1954 führte Zenker daher im Frühling 1955 informelle Gespräche bei SHAPE, um dort den notwendigen Konsens mit den Verbündeten zu erreichen12. Das Ergebnis waren schließlich im Juli 1955 von SHAPE ausgesprochene Empfehlungen zu Aufgaben und Zusammensetzung der deutschen Marinestreitkräfte. In einem Brief an General Dr. Hans Speidel beschrieb der Chief of Staff von SHAPE, General Cortlandt van Rensselaer Schuyler, vier Aufgaben der künftigen Bundesmarine: »a. To assist in preventing enemy naval forces from penetrating into the North Sea through the Baltic Exits and the Kiel Canal. b. To interdict to the maximum extent Soviet sea LOCs in the Baltic. c. To participate in the Allied defenses of the North German Baltic coast and the Danish islands. d. To assist in maintaining Allied sea LOCs in the German coastal and adjacent waters13.« Schuyler sah hierfür 18 schnelle kleine Zerstörer, 10 Geleitfahrzeuge, 54 Minensuchfahrzeuge, 12 Küsten-Uboote, 40 Schnellboote, 2 Minenleger, 58 »maritime aircraft and helicopters«, 36 Landungsfahrzeuge, 10 Hafenschutzboote und ein Küstenartillerieregiment als erforderlich an14. Vergleicht man diese Aufgaben und Kräfte mit den Vorstellungen der deutschen Seite15, so kann festgestellt werden, dass SHAPE den deutschen Vorschlägen weitgehend gefolgt war. Diese Aufgabenzuweisung schloss die von deutscher Seite vertretene Idee einer beweglichen, auch begrenzt offensiven Verteidigung ein und ließ Raum für eine Beteiligung an Nordseeaufgaben. Die gewünschte Mitwirkung bei den Geleitaufgaben im Nordatlantik wurde zwar 12
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Nach Gerlach wurde der entscheidende Durchbruch zur schriftlichen Fixierung der deutschen Vorstellungen schließlich dadurch erzielt, dass der die Verhandlungen führende Zenker einfach die Pläne in einem der Büros bei SHAPE liegen ließ. Das Ergebnis sei der Brief Schuylers an Speidel gewesen. Vgl. BA-MA, N379/v.ll6, Aus den Anfängen der Bundesmarine, Vortrag vom 6.3.1969, S. 29. BA-MA, BM 1/1098, SHAPE AG 0940 CS, Subject: German Naval Forces, 6.7.1955. Ebd. Vgl. hierzu die von Gerlach genannten, oben bereits erwähnten sechs Aufgaben: 1. Sicherung der Ostseeeingänge, 2. Unterbindung feindlichen Schiffsverkehrs in der Ostsee, 3. Unterstützung des Heeres, 4. Sicherung eigener Seeverbindungen, 5. beschränkte Beteiligung an den Sicherungsaufgaben im Nordatlantik und 6. angemessene Repräsentation der Bundesrepublik in Übersee und Ausbildungsfahrten im Frieden. BA-MA, Ν 379/ v.116, Aus den Anfängen der Bundesmarine. Vortrag vor dem 9. und 10. Admiralstabsoffizierlehrgang am 6.3.1969 von Vizeadmiral a.D. Heinrich Gerlach. Die bundesdeutsche Flotte war, wie bereits dargelegt, nach Fortfall der EVG-Einschränkungen mit 12 Zerstörern, 18 Geleitschiffen, 52 Minensuchern, 12 Ubooten, 10 Hafenschutzboote, 36 Schnellbooten, 30 Landungsfahrzeugen, 54 Marineflugzeugen und 1 Küstenartillerieregiment von den Planern des Amtes Blank geplant worden. BA-MA, BW 9/105, Planungsweisung P-22/54, 23.11.1954.
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nicht erwähnt, die Formulierung der letzten Aufgabe mit der Erwähnung der »German coastal and adjacent waters« ließ jedoch auf lange Sicht eine »Hintertür« offen. Gleichwohl war der fehlenden Erwähnung des Atlantik zu entnehmen, dass eine deutsche Mitwirkung hier zunächst nicht erwünscht war. Bei den befürworteten Kräften war gegenüber der Gesamtzahl der deutschen Pläne von November 1954 (172 Schiffe und Boote, 54 Luftfahrzeuge und ein Küstenartillerieregiment) eine Erhöhung von zwölf Booten und zwei Flugzeugen zu verzeichnen. Dieser standen jedoch Verschiebungen bei den einzelnen Fahrzeugkategorien gegenüber, die zeigten, wo SHAPE die deutschen Fähigkeiten zu begrenzen wünschte: Dies war bei den hochseefähigen Einheiten der Fall, der »Blue Water Capability« also. Die von den Deutschen vorgeschlagenen 30 Zerstörer und Geleitboote wurden um zwei verringert, dabei allerdings die Zahl der Zerstörer, mithin des größten Fahrzeugtyps, den die neue Marine besitzen würde, auf 18 angehoben, wofür im Gegenzug nur noch 10 Geleitboote zugestanden wurden. Die kleineren »Brown Water«-Einheiten (Schnellboote, Minensucher und Landungsboote) wurden dagegen um je vier bis sechs erhöht und außerdem zwei Flugzeuge mehr zugestanden. Insgesamt war das für die deutschen Planer ein wichtiger Durchbruch, denn mit diesen Empfehlungen waren sowohl ihre konzeptionellen Vorstellungen als auch die hierfür benötigten Kräfte, und zwar einschließlich der »Blue Water Capability« und wichtigen Kernen der Feuerkraft, die in der EVG-Phase noch nicht durchsetzbar gewesen waren, nunmehr von der NATO anerkannt. Zwar regte sich anlässlich der Durchführung des Annual Review der NATO 1955 von französischer Seite nochmals Widerstand gegen die Anzahl der größeren Fahrzeuge und im Rahmen der Prüfung der Höchststärken durch die WEUMitglieder im Ständigen NATO-Rat wurden als Folge dessen die insgesamt 28 Zerstörer und Geleitboote auf 18 »größere Schiffe« zusammengestrichen 16 . Aber auch diese spürbare Reduzierung änderte nichts mehr daran, dass es nunmehr einen Konsens im Bündnis gab, der die von den Marineplanern des Amtes Blank gewünschten konzeptionellen Elemente beinhaltete und eine zu deren Umsetzung geeignete Flotte, Uboote, Flugzeuge und Zerstörer Inbegriffen, einschloss. Damit war es geglückt, sich auf NATO-Ebene konzeptionell an wichtigen Punkten durchzusetzen. Die wesentlichen Hindernisse für den Aufbau dieser Seestreitkräfte sollten künftig auf innenpolitischem Gebiet liegen.
Vgl. die entsprechenden Angaben aus dem Annex II des Annual Review 55. Abgedruckt in der Ubersicht in AWS, Bd 3, S. 840 (Beitrag Greiner). Die hier vom Brief Schuylers abweichende Angabe von 56 Minensuchern scheint ein Rechenfehler zu sein.
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3. Das 6000er- und das 20 OOOer-Programm, die Schiffbauprogramme 1 - 3 Bevor jedoch die Flotte, deren geplante Zusammensetzung sich bis zum Dezember 1955 herauskristallisiert hatte, in Dienst gestellt werden konnte, mussten die Grundlagen hierfür gelegt werden. Dafür war die Struktur der neuen Marine insgesamt zu planen, damit die zum Betrieb der schwimmenden und fliegenden Einheiten notwendigen Dienstleistungen erbracht sowie Besatzungen und Unterstützungspersonal angemessen ausgebildet werden konnten. Außerdem galt es, Kauf oder Neubau der vorgesehenen Fahrzeuge zu organisieren und die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Schließlich mussten, zumindest auf mittlere Sicht, auch die Details der Integration ins Bündnis, also beispielsweise Fragen der Kooperation mit Marinen der Alliierten bei der Auftragserfüllung, der Kommandostruktur und der Repräsentation der Marine in den integrierten Stäben ins Auge gefasst werden. Auf dem Weg zur Lösung dieser Aufgaben benötigte die Marine zuallererst Personal. Den ersten Schritt dahin stellte das Inkrafttreten des »Freiwilligengesetzes« am 23. Juli 1955 dar. Fast zeitgleich mit der Zuweisung von Aufgaben und der Billigung der Zusammensetzung der vorgesehenen westdeutschen Marine durch SHAPE hatte der Bundestag damit eine Rechtsgrundlage verabschiedet, die es Verteidigungsminister Blank ermöglichte, personelle Vorbereitungen für den Aufbau des bundesdeutschen Verteidigungsbeitrages zu treffen. Das Gesetz trug alle Anzeichen der großen Hast, die Adenauer nach dem erfolgten NATO-Beitritt hinsichtlich der Aufstellung von Streitkräften an den Tag legte. Der Bundeskanzler wünschte ursprünglich ein nur drei Paragraphen umfassendes Gesetz, das die Einstellung von Freiwilligen ermöglichen, ihre Besoldung und Rechtsstellung bis zum Zustandekommen der hierfür notwendigen endgültigen Gesetzgebung festlegen und eine Vereidigung vorsehen sollte. Blank hatte in seinen Planungen Zeiträume von sechs Monaten für die Beratungen der jeweiligen Gesetzesvorhaben der Wehrgesetzgebung einkalkuliert, schickte sich aber nun loyal an, das von Adenauer noch während dessen Urlaubs Ende Mai 1955 angestoßene Vorhaben auf den Weg zu bringen. Der Bundeskanzler hatte jedoch nicht das Gewicht berücksichtigt, das der Bundestag und seine Organe, der Bundesrat und selbst die Gremien seiner eigenen Partei der Wehrgesetzgebung beimaßen. Zwar gelang es, das Freiwilligengesetz im Juli zu verabschieden, jedoch zeigte das Parlament keine Neigung, sich einfach zur Hilfstruppe des Bundeskanzlers bei der Verabschiedung unzureichend ausgereifter Gesetzesvorhaben auf diesem sensiblen Gebiet machen zu lassen. Die Folge war einerseits, dass der ursprüngliche Gesetzentwurf stark eingeschränkt wurde und er nun statt eines generellen Freibriefes eine Einstellung von Freiwilligen nur bis Ende März 1956 ermöglichte, wobei die Gesamtzahl der Stellen auf je 1500 Mannschaften und Unteroffiziere sowie 3000 Offiziere begrenzt wurde. Dieses »6000er-Programm« sollte zudem nur zur Besetzung
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von Stellen in integrierten Stäben, in Lehrgängen, im Ministerium, in bodenständigen militärischen Einrichtungen und zur Übernahme von Militärhilfen dienen. Eine Zusammenfassung von mehreren Einheiten zu Verbänden war nicht zulässig. Zusätzlich löste der Adenauersche Vorstoß insofern eine Lawine aus, als das Parlament nunmehr in weitaus stärkerem Maße als bisher in Fragen der Wehrgesetzgebung die Initiative ergriff und sich bis hin zu Personal- und Organisationsfragen in die Aufstellung einschaltete17. Die Folge waren gewichtige Verzögerungen im Aufstellungsprozess der Bundeswehr. Die ursprüngliche, im Amt Blank unter Kapitän zur See a.D. Wolfgang Kahler durchgeführte Personalplanung der Marine hatte als wesentlichen Orientierungspunkt ein Verhältnis von 6:3:1 zwischen Heer, Luftwaffe und Marine zugrunde gelegt, was bei einer Gesamtzahl von einer halben Million Mann um die 50 000 Soldaten für die Marine bedeuten musste. Kähler und seine Mitarbeiter gingen davon aus, dass die Marine aus etwa 12 % Offizieren, 45 bis 48 % Unteroffizieren und 40 bis 43 % Mannschaftsdienstgraden bestehen sollte. Für die erste Phase des Aufbaus, also die Zeit bis die ersten in die Marine eingestellten Offizieranwärter ihre Leutnantspatente erhielten, glaubte Kähler, mit etwa 1800 Offizieren rechnen zu können, die bereits in Kriegsmarine oder Bundesgrenzschutz/See gedient hatten. Das waren nach seiner Ansicht etwa 30 % zu wenig, er meinte jedoch, aufgrund der erst nach und nach zu besetzenden Stellen beispielsweise in integrierten Stäben, dieses Fehl in der Anfangszeit hinnehmen zu können. Bis 1960 sollte eine Stärke von 25 000 Soldaten erreicht werden, darüber hinaus aber war auch schon ein weiterer Aufwuchs von 2000 pro Jahr bis auf 45 000 Soldaten im Jahr 1970 angedacht18. Diese Zahlen gingen allerdings nicht in die Meldungen über die beabsichtigten Stärken im Rahmen des Annual Review 1955 ein, als die Bundesrepublik erstmals an diesem Verfahren teilnahm. Hier wurde vielmehr die aus der EVG-Phase stammende Zahl von 17 000 Mann für die Seestreitkräfte zugrunde gelegt, die auch in die revidierten Planungen der Marinespezialisten nach dem Scheitern des EVG-Planes Eingang gefunden hatte19. Jedoch interpretierten die deutschen Planer diese Zahl nun als den reinen Personalbedarf der schwimmenden und fliegenden Verbände. Die bodenständigen Marineeinrichtungen wurden jetzt als territoriale Einrichtungen deklariert, die im Annual Review getrennt von der Flotte angegeben wurden, wodurch eine Gesamtstärke von 35 000 Mann, einschließlich 5000 zivilen Mitarbeitern, zustande kam20. Im erläuternden Memorandum zum Annual Review Questionnaire (ARQ) wurde ab August 1955 dargelegt, wie der Aufbau der Flotte und der boden17 18
19 20
Siehe hierzu AWS, Bd 3, S. 2 3 5 - 5 6 0 (Beitrag Ehlert). Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen Gerlachs in seinem Vortrag vor Teilnehmern von Admiralstabslehrgängen an der Führungsakademie 1969. BA-MA, Ν 3 7 9 / v . l l 6 , Aus den Anfängen der Bundesmarine, 6.3.1969, S. 19 f. des Vortrage. BA-MA, BW 9/105, Planungsweisung P-22/54, 23.11.1954. Gerlach kommentierte dies später mit einem trockenen »Widerspruch ist nicht erfolgt.« BA-MA, Ν 379/V.116, Aus den Anfängen der Bundesmarine, 6.3.1969, S. 29.
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ständigen Marineeinrichtungen ablaufen sollte21. Insgesamt waren 36 Monate vom als Zeitpunkt »A« bezeichneten Beginn bis zur vollständigen Aufstellung vorgesehen. Für den Aufbau waren fünf Schritte vorgesehen: Am Anfang würden Lehrgänge für das Lehr- und Stammpersonal stehen, das die Kader für die eigentliche Aufstellung bilden sollte. Danach wollte man umgehend mit der Grund- und Fachausbildung von Freiwilligen für die künftigen Besatzungen der Fahrzeuge der Flotte beginnen. Ab dem neunten Monat nach »A« sollten die Indienststellungen der aus der Außenhilfe der Verbündeten zur Verfügung gestellten schwimmenden Einheiten beginnen, ab dem 15. Monat die Marineflieger-Verbände entstehen und ab dem 18. Monat der Zulauf von Booten und Schiffen aus dem Neubauprogramm einsetzen. Parallel zur Aufstellung der Flotteneinheiten würde der Aufbau der bodenständigen Einrichtungen stattfinden. Die der NATO im ARQ gemeldeten Aufstellungsabsichten gehen aus den folgenden Übersichten hervor. Tabelle 1: ARQ 1955 Datum 1.1.1956 (1.4.1956) 31.12.1956 31.12.1957 31.12.1958
Aufstellungsbeginn
Gesamt
Streitkräfte
Bodenst.Org.
Zivil
2100
abA+ 4 A + 7 A + 10
150 700 6000 10000
800
9200
ab A + 13 A + 16 A + 19
14000 20000 26000
9200
16800
4300
ab A + 25 Ende A + 36
30000 35000
13200 *17000
16800 18000
4500 5000
* = vorbehaltl. Fertigstellung Schiffe Quelle: BA-MA, BM 1/1627, Ergänzung zum NATO-Fragebogen, 1955, 97/55,19.10.1955.
©MGFA 05089-03
Der NATO wurde mitgeteilt, dass ihr jeweils zum Ende der folgenden drei Jahre Seestreitkräfte assigniert werden würden, wie der Tabelle 3 zu entnehmen ist. Hierbei war auffällig, dass auch am Ende des geplanten Aufstellungszeitraumes noch nicht voll aufgefüllte Verbände assigniert werden sollten. Dies war ein Anzeichen dafür, dass im Oktober 1955 bei den Marineplanern selbst Zweifel an der Durchführbarkeit der gemeldeten Absichten bestanden. Tatsächlich war längst erkannt worden, dass bis zu einem Jahr mehr benötigt werden würde - der Konsens des Bundeskanzlers war hierzu eingeholt worden. Zwei Monate vor Beginn der Aufstellung hielt man sogar diesen Termin für nicht haltbar. Zenker selbst brachte dies in seinem internen Kommentar zur Meldung der Assignierungsabsichten zum Ausdruck: »Diese Aufstellung geht davon aus, dass der in unserer ARQ-Meldung genannte Α-Tag der 1.1.56 ist. Da 21
BA-MA, BMI/1627, Militärisches Memorandum zum ARQ 1955, strg. geh., 70/55, 20.8.1955. Anlage 3: Marine.
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Tabelle 2: Zeitplan für die Aufstellung der Marinestreitkräfte (SHAPE zu Verfügung stellen) Monat nach Aufstellung
Stärke
Geschwader
Fahrzeuge
9.-14. Monat
800
1 HM Geschw. 1 SM-Geschw.
6 10
15.-17. Monat
3500
1 Z-Geschw. 1 Mar.Flg.Grp.
6 29
18.-20. Monat
5800
1 Z-Geschw. 1 L-Geschw.
6 12
21.-23. Monat
7300
1 KM-Geschw. 1 SM-Geschw. 1 S-Geschw. 1 L-Geschw.
6 10 10 12
24.-26. Monat
9200
1 S-Geschw. 1 L-Geschw. 1 Mar.Flg.Grp.
10 12 29
27.-29. Monat
11500
1 G-Geschw. 1 KM-Geschw. 1 SM-Geschw. 1 S-Geschw.
5 6 10 10
30.-32. Monat
13500
1 G-Geschw. 1 U-Geschw. 1 Minenschiff
5 12
1 S-Geschw. 1 Minenschiff
10
1 Z-Geschw. 1 KM-Geschw.
6 6
33.-35. Monat 36. Monat
14500 17000
Quelle: BA-MA, BM 1/1627, Ergänzung zum NATO-Fragebogen 1955, 97/55, streng geheim, 19.10.1955.
-
-
©MGFA 05090-03
der tatsächliche Α-Tag später liegen wird, muss bei der Marine mit Verzögerungen gerechnet werden (Schiffbau); nur mit echtem Α-Tag lässt sich bei der Marine der Dreijahresplan durchziehen. [...] Der Rest käme dann in dem vom Kanzler der Marine zugestandenen 4. Aufstellungsjahr22.« Tatsächlich zeigten sich schon hier strukturelle Schwächen des Planungsprozesses auf Ministeriums- und Kabinettsebene. Bereits seit Januar 1955 hatte nämlich das Finanzministerium die Haltung eingenommen, dass die auf drei Jahre ausgelegten Aufstellungspläne nicht finanzierbar seien, weshalb man zur Uberbrückung auf weitere Finanz- und Militärhilfen der USA hoffte. Demgegenüber drängten das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium aus Gründen der Bündnistreue und politischen Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik auf die Einhaltung der Dreijahresplanung. Am liebsten hätte die deutsche Seite es in diesem Jahr noch vermieden, am Annual Review teilzunehmen, je22
BA-MA, BM 1/1627, Ergänzung z u m ARQ 55, 96/55, strg. geh., 5.10.1955, Zusatz Zenkers für II/3/Grp. 2.
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Tabelle 3: Geplante Assignierungen Datum
zum 31.12.1956
zum 31.12.1957
zum 31.12.1958
NATO-assignierte Einheiten
Stärke
1 HM-Gesohwader 1 SM-Geschwader Gesamt
450 350 800
2 Stäbe 2 Z-Geschwader 1 HM-Geschwader 1 KM-Geschwader 2 SM-Geschwader 2 S-Geschwader 3 L-Geschwader 2 Mar.Flg.Gr. Gesamt
100 3600 600 300 900 700 1300 1700 9200
2 Stäbe 2 Z-Geschwader 2 G-Geschwader 1 HM-Geschwader 2 KM-Geschwader 3 SM-Geschwader 3 S-Geschwader 1 U-Geschwader 3 L-Geschwader 1 Minenschiff 2 Mar.Flg.Gr. Gesamt
100 3600 1800 600 600 1350 1350 200 1650 250 1700 13200
Quelle: BA-MA, B M 1/1627, Ergänzung zum A R Q 55, 96/55, streng geheim, 5.10.1955.
Bemerkungen noch nicht voll aufgefüllt noch nicht voll aufgefüllt
noch nicht voll aufgefüllt noch nicht voll aufgefüllt
noch nicht voll aufgefüllt
noch nicht voll aufgefüllt noch nicht voll aufgefüllt
05091-02
doch hatte das NATO-Generalsekretariat dies nicht akzeptiert 23 . Obwohl das Problem auf mehreren Kabinettssitzungen erörtert wurde, gelang es nicht, bis zur Prüfungssitzung eine schlüssige Planung darüber vorzulegen, wie denn der offiziell eisern verteidigte Dreijahresplan finanziert werden sollte. Immerhin wurde schließlich nolens volens in Abweichung von der offiziellen Antwort bezüglich Luftwaffe und Marine von deutscher Seite nur noch ein Vierjahreszeitraum genannt 24 . Doch auch hier fehlte eine schlüssige Planung und die USVerbündeten zeigten sich dem nur wenig verhüllten Verlangen nach zusätzlicher Hilfe gegenüber nicht aufgeschlossen. Ihrer Ansicht nach konnte die prosperierende Bundesrepublik sich die notwendigen Opfer durchaus leisten, eine Ansicht, die auch von den anderen Verbündeten geteilt wurde: Der Bundesrepublik wurde zum Abschluss des Review eine Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben empfohlen. Ansonsten endeten die Prüfungen der Höchststärken der Teilstreitkräfte für die Marine mit einer Verringerung der insgesamt 28 Zerstörer und Geleitschiffe auf 18 größere Schiffe25. Obgleich Letzteres aus Marinesicht einen Verlust darstellte, war doch das ungelöste Finanzproblem die in dem Moment für die Marine wichtigere Frage. Die Verbündeten hatten nämlich ihr prinzipielles Einverständnis mit den Vorschlägen der deutschen Marineplaner 23
24 25
Vgl. Α WS, Bd 3, S. 643 (Beitrag Greiner). Ebd., S. 650 f. Ebd., S. 655.
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gegeben. Die Finanzierung dieser Vorschläge war jedoch offensichtlich unsicher, da Finanzminister Fritz Schäffer sich nicht in der Lage sah, für den Aufstellungsplan der Bundeswehr die erforderlichen Mittel in den Haushalt einzustellen. Nachdem es der Marine nun also im Bündnis gelungen war, Konzeption und Zusammensetzung der Flotte weitgehend in ihrem Sinne durchzusetzen, musste sie nun die innenpolitischen Voraussetzungen schaffen, um die notwendigen Mittel für deren Bau zu bekommen. Die entscheidenden Weichen hierfür wurden bei den Beratungen des Schiffbauprogrammes im Haushalts- und Verteidigungsausschuss des Bundestages im Februar 1956 gestellt. Im ersten Schiffbauplan hatten Zenker, Gerlach und ihre Mitarbeiter zunächst die Masse der ihnen schließlich von der NATO zugestandenen hochseefähigen Schiffe untergebracht, nämlich acht Zerstörer und sechs Geleitboote sowie mit 30 Schnell- und 54 Minensuchbooten auch die Masse der kleineren neu zu bauenden Fahrzeuge. Außerdem waren zwei Küstenwachboote, als Begleitschiffe der Bootsverbände 11 Tender sowie - wichtig für die Ausbildung - ein Schulschiff und ein Segelschulschiff vorgesehen26. Die Flugzeuge für die Marineflieger waren in das Beschaffungsprogramm der Luftwaffe integriert worden. Bei der entscheidenden Sitzung des Verteidigungsausschusses, bei der auch Minister Blank und Angehörige des Haushaltsausschusses zugegen waren, stellte Zenker zunächst das Bauprogramm vor, zu dem Gerlach anschließend die Fragen der Abgeordneten beantwortete27. Mit Bedauern kommentierte Zenker die auf Intervention Frankreichs zustande gekommene Reduzierung der Zahl der Zerstörer und Geleitboote, brachte aber die Hoffnung zum Ausdruck, dass dies durch Verhandlungen mit der WEU wieder revidiert werden könne28. Zugleich wurde deutlich, wo er offensichtlich einen wesentlichen potentiellen Engpass auf dem Weg zur Aufstellung der beantragten Schiffe und Boote befürchtete, nämlich bei der Kapazität der deutschen Werften. Diese seien gegenwärtig überbeschäftigt, deshalb sei es wichtig, alsbald bindende Aufträge an sie zu erteilen, damit der Bau der benötigten Einheiten auch in absehbarer Zeit tatsächlich stattfinden könne. Außerdem sei es nötig, schon bald die ersten Raten der Baukosten an die Werften zahlen zu können, wofür eine Vorwegbewilligung zum Haushaltsplan beantragt wurde. Mit diesem Verfahren hatten die Ausschussmitglieder kein Problem. Im Zentrum ihres Interesses standen vielmehr die Zerstörer. Von Oppositionsabgeordneten wurde zunächst auf ihre Gefährdung aus der Luft abgehoben und daraus folgernd für eine geringere Tonnage (maximal 2000 ts) und eine geringere Anzahl plädiert. Flottillenadmiral Gerlach hielt dem entgegen, dass die geplante Größe durch die erforderliche starke Flugabwehrbewaffnung bedingt sei. Er hob auf den Einsatz der geplan26
27
28
BA-MA, BM 1/1084, Gesamtübersicht Schiffbauplanung, 1507/59, geh., 7.9.1959. Das Dokument diente eigentlich als Vorbereitung zum 3. Schiffbauplan, führt jedoch auch die Zahlen des 1. und 2. Planes auf. Gelistet sind hier die jeweils bewilligten Fahrzeuge. BA-MA, BW 2/2382, Kurzprotokoll der 78. Sitzung des Ausschusses für Verteidigung, 15.2.1956. Ebd., S. 2 des Protokolls.
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ten Zerstörer in der Ostsee ab, wo sie in der Lage sein müssten, einen Rückhalt für die Schnellboote zu bilden und auch bei schlechtem Wetter in den Einsatz zu gehen. Die weitgehendsten Einwände aber kamen von Abgeordneten des Regierungslagers. Unter Hinweis auf ihre Gefährdung im Falle eines überraschenden Angriffs, vor allem auch in ihren Stützpunkten, wurde hier grundsätzlich bezweifelt, dass der Bau von Zerstörern überhaupt sinnvoll sei, und statt dessen eine Erhöhung der Schnellbootzahlen befürwortet. Dies wurde jedoch durch den Hinweis entschärft, dass dergleichen Fragen ja schon von der NATO geprüft und die Zerstörer gebilligt seien. Unter Hinweis auf technische Weiterentwicklungen der nächsten Jahre, wie z.B. den Atomantrieb, wurde des Weiteren erwogen, statt der beantragten 12 zunächst nur sechs Zerstörer zu bauen, um die gewonnenen Erfahrungen und neueste Entwicklungen in den später zu bewilligenden zu berücksichtigen. Hierauf antwortete Zenker, dass der Zerstörer als Plattform gesehen werden könne, die 15 bis 20 Jahre verwendbar sei und deren Bestückung in dieser Zeit geändert werden könne. Raketenwaffen könnten ohnehin nur auf Zerstörern untergebracht werden. Ganz nebenbei zeigte diese Bemerkung, dass man durchaus bereits über Flugkörperbewaffnungen nachdachte, wenngleich die Bestückung der beantragten Fahrzeuge noch rein artilleristisch war. Schließlich wies der eigentliche Marinefachmann des Ausschusses, Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, in Anknüpfung an die Rolle, die die Kriegsmarine in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges beim Transport der Flüchtlinge über die Ostsee gespielt hatte, darauf hin, dass Zerstörer auch als Versorgungs- und Transportfahrzeuge »für die Bevölkerung von Küstengegenden von großer Bedeutung« seien. Nach der Sitzung des folgenden Tages (16.2.1956) konnten die Marineplaner zufrieden sein. Zwar waren ihnen zunächst nur Mittel für acht der beantragten 12 Zerstörer bewilligt und von den 10 Hafenschutzbooten acht gestrichen worden, aber nun standen die Mittel bereit, einen Anfang zu machen, auch wenn der Haushaltsauschuss die Gelder für die als zweites Los zu bauenden vier Zerstörer bis zur Klärung von Detailfragen gesperrt hatte29. Der Rest konnte in späteren Anträgen nachgereicht werden 30 . Für wie wichtig die Marineführung das Thema der Zerstörer ansah, wurde im Sommer 1956 deutlich, als einige Abgeordnete sich anschickten, sich durch Reisen in die einzelnen Wehrbereiche ein Bild vom Aufbau der Bundeswehr zu machen. Wagner übersandte zur Vorbereitung dieser Besuche eigens einen kurz zuvor gemachten Vermerk, in dem er die gegen die Zerstörer laut gewordenen Argumente aufgriff und sich mit ihnen auseinander setzte. Die oberen Kom29 30
Vgl. BA-MA, BMI/3156, Vermerk betreffend Zerstörerbau-Absichten, 1079/56, geh., 29.6.1956. Das Haushaltsgesetz sah für dringend benötigte Ausgaben vor, dass diese im Rahmen einer Vorwegbewilligung abschließend durch die Ausschüsse bewilligt werden konnten. Damit brauchte nach der Bewilligung im Verteidigungs- und Haushaltsausschuss keine eigene Abstimmung im Bundestag mehr zu erfolgen. Vgl. BA-MA, BW 9/2527-127, fol. 19, Berichterstattungen in der Frankfurter Allgemeinen, der Saarbrücker Zeitung und der Frankfurter Rundschau vom 17.2.1956.
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mandobehörden, an die er den Vermerk geschickt hatte, sollten diesen zur Information bis auf die Einheitsführerebenen nutzen31. Die vorgebrachten Einwände gegen den Zerstörer wandten sich entweder prinzipiell gegen diesen Typ oder zumindest gegen die geforderte Anzahl der Fahrzeuge. Als zentrales Gegenargument ging Wagner zunächst auf die Stärke der sowjetischen Seestreitkräfte in der Ostsee ein32. Ihnen gegenüber könnten die westdeutschen Seestreitkräfte, mit Ausnahme der zahlenmäßig schwachen dänischen Marine, im Kriegsfalle nicht auf die schnelle Hilfe der Verbündeten zählen. Sie stünden diesen gegnerischen Kräften also nahezu allein gegenüber. Angesichts des beengten Seeraumes der Ostsee habe die bundesdeutsche Marineplanung völlig auf große Einheiten verzichtet. Vielmehr seien hier spezialisierte kleine, moderne und bewegliche Einheiten angebracht. Nicht zuletzt wegen ihrer Spezialisierung wiesen sie aber auch Schwächen auf. So seien die Schnellboote bei schwerer See nicht einsetzbar und Kleinkampfmittel (KleinstUboote, Sprengboote und Kampfschwimmer) aufgrund ihrer geringen Seeausdauer und eingeschränkten Navigationsmöglichkeiten nur in eng begrenzten Teilgebieten einsetzbar. Die deutschen Uboote in der Ostsee seien angesichts der starken sowjetischen U-Abwehr und ihres begrenzten Torpedo- und Minenvorrates auf »spezielle Aufgaben« abgestellt und hätten gegen schnelle, im freien Seeraum operierende gegnerische Seestreitkräfte nur vergleichsweise geringe Erfolgsaussichten. Minenschiffe und Landungsfahrzeuge seien wegen ihrer empfindlichen Ladung ohnehin auf den Schutz kampfstärkerer Einheiten angewiesen und der Einsatz von Flugzeugen werde durch das Wetter und ihre begrenzte Reichweite eingeschränkt. Daher sei es nötig, den kleineren Einheiten in der Ostsee Schiffe zur Seite zu stellen, die über einige Kampfkraft verfügten. Kreuzer seien für die Ostsee zu groß und die beantragten Geleitboote zu schwach bewaffnet, weswegen der Zerstörer als Rückhalt für die kleineren Seekriegsmittel in der Ostsee der zweckmäßigste Schiffstyp sei. Aufgrund seiner Größe könne er sowohl mit einer ausreichenden Mittelartillerie als auch mit hinreichender Flakbewaffnung ausgestattet und zudem mit einer U-Jagdausrüstung und Torpedos versehen werden. So sei er in der Lage, eigene Minenunternehmungen gegen Angriffe des Gegners zu sichern, könne aber auch selbständig Minen werfen. Er sei für Deckungsaufgaben bei Schnellbootuntemehmungen, eigenen Minensuchoperationen und Landungsunternehmungen geeignet, wobei er überdies Feuerunterstützung geben könne. Zudem könne er sowohl eigene Transporte geleiten als auch gegen den gegneri31
32
BA-MA, BM 1/3156, Schreiben Wagners an die oberen Kommandobehörden, 5938/56, 14.7.1956. Außer dem Vermerk waren noch ein Organigramm und Argumente für die Segelschulschiffausbildung, ein weiterer Punkt, an dem die Marineführung Überzeugungsarbeit für erforderlich hielt, beigefügt. Diese bezifferte er mit 9 Kreuzern, 45 Zerstörern, ca. 110 U-Jägern, ca. 105 Schnellbooten, ca. 150 Minensuchern, etwa 100 Ubooten und 70 Hilfsschiffen. BA-MA, BM 1/3156, Vermerk betreffend Zerstörerbau-Absichten, Anlage zu VII 5156V/56, 29.6.1956. Auch seine folgenden Argumente stammen aus diesem Dokument.
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sehen Seeverkehr vorgehen, vor allem gegen solche Fahrzeuge, die mit den Waffen der Schnellboote nur schwer zu fassen seien33. Schließlich könne der Zerstörer Uboote bekämpfen und sei aufgrund seiner Feuerkraft befähigt, sowohl gegnerische Fahrzeuge abzuwehren, die die Heeresflanke von See her beschießen wollten, als auch gegnerische Landungen zu bekämpfen. Als nächstes setzte sich Wagner mit dem Argument auseinander, dass Zerstörer aufgrund ihrer Größe in der Ostsee bei der dort anzunehmenden hohen Luftbedrohung nicht erfolgreich einsetzbar seien. Ihre Größe sei durch die erforderliche Bewaffnung und Geschwindigkeit bedingt. Damit war offenbar gemeint, dass diese beiden Faktoren die Bedrohung des Zerstörers aus der Luft vermindern würden. Grundsätzlich solle er aber ohnehin so klein wie möglich gebaut werden. Zudem meinte er recht zweckoptimistisch, sei eine sowjetische Luftherrschaft in der Ostsee keineswegs ein unveränderliches Faktum, sondern könne sich »bei entsprechendem NATO-Einsatz bzw. Abzug von (sowj.) Luftstreitkräften zwecks Konzentration an anderer Stelle in wenigen Wochen, wenn nicht Tagen ändern«. Bezugnehmend auf die sowjetischen Uberwasserstreitkräfte meinte Wagner sodann, dass der Aufbau eigener Kampfkraft, die der sowjetischen »auch nur einigermaßen gewachsen« sei, nicht kurzfristig möglich sei, sondern Jahre benötige. Daher sei es erforderlich, den Bau entsprechender Schiffe und die Ausbildung ihrer Besatzungen möglichst frühzeitig zu beginnen. Hier klangen durchaus Zweifel an, ob in der Ostsee der Einsatz der Zerstörer gegen eine massive gegnerische Luft- und Überwasserbedrohung wirklich immer eine realistische Option war. Die Konsequenz, die Wagner aus seiner Argumentation zog, verdeutlichte dies und machte zugleich die Entschlossenheit der deutschen Marineführung deutlich, das Seekriegsmittel Zerstörer schnellstmöglichst zur Verfügung zu haben: »Zerstörer müssen jetzt gebaut, gut bewaffnet und ausgebildet werden und in Spannungszeiten evtl. zunächst aus westlicher Ostsee zurückgezogen werden, um je nach See- und Luftlage aus den Ostsee-Zugängen operieren zu können.« Hier deutete sich an, dass der Zerstörer also auch in anderen Seegebieten einsetzbar, ja in der Ostsee selbst sogar erhöhter Gefährdung ausgesetzt sein könnte. Dies hatten offensichtlich auch Kritiker klar erkannt, denn Wagner setzte sich nun mit dem Argument auseinander, dass bundesdeutsche Zerstörer aus genau diesen Gründen im Kriegsfall ohnehin von der NATO aus dem Ostseeraum abgezogen und in der Geleitsicherung im Atlantik eingesetzt würden. Zunächst hielt er dem entgegen, dass die neu zu bauenden deutschen Zerstörer speziell auf die Ostseeverwendung ausgelegt seien. Ihr Fahrbereich betrage nur 40 % der NATO-Zerstörer, wodurch sie für den Einsatz im Atlantik schlecht nutzbar seien. Dafür seien sie aber kleiner und wendiger, mithin besser für Ostund Nordseeeinsätze geeignet. Das war nun freilich keineswegs ein Bestreiten der prinzipiellen Möglichkeit, die Zerstörer dennoch auch im ozeanischen Ge33
Hier scheint vor allem die größere Reichweite der Mittelartillerie des Zerstörers gemeint gewesen zu sein.
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leitdienst einzusetzen. Genau dies hatten die deutschen Marineplaner ja auch mit im Blick gehabt, was Wagner an dieser Stelle zwar nicht expressis verbis aussprechen mochte, was aber durchaus anklang: »Abgesehen hiervon wäre eine Beteiligung der BR Deutschland an der Geleitsicherung im Atlantik keine unbillige Forderung, da Deutschland vom überseeischen Nachschub abhängig ist und davon lebt.« Als weiteres Argument gegen den Bau von Zerstörern hatten Kritiker die rasche Entwicklung der Technik genannt und die Befürchtung geäußert, dass die Zerstörer so leicht zu Fehlinvestitionen werden könnten, da sie schon zum Zeitpunkt ihrer Indienststellungen veraltet sein könnten. Wagners Argumentation an diesem Punkt wirft in aufschlussreicher Weise Licht auf die Erwartungen, die man in der Marineführung hinsichtlich der neuesten technologischen Tendenzen, insbesondere auf dem Gebiet des Antriebs und der Bewaffnung, hegte. Die damals gerade erfolgte Nutzung der Kernenergie für den Schiffsantrieb hatte für das betreffende Fahrzeug im Vergleich zur Ölbefeuerung den Vorteil, riesige Strecken ohne Brennstoffergänzung zurücklegen zu können. Dies, so Wagner, sei aber für die begrenzten Einsatzgebiete der deutschen Marine eher zweitrangig. Außerdem stünden dem Vorteil des Nuklearantriebs Nachteile gegenüber, die ihn für Fahrzeuge von Zerstörergröße uninteressant machten. Wegen der erforderlichen Abschirmung gegen die Strahlung und des mit dem Nuklearantrieb verbundenen Rückgriffes auf Nassdampfanlagen sei bei dieser Antriebsart eine Steigerung bei Größe und Gewicht der so ausgerüsteten Fahrzeuge zu beobachten, der keine Geschwindigkeits- oder Leistungssteigerungen gegenüberstünden34. Ihn mit einem konventionellen Antrieb zu planen, wie das bei den späteren Fahrzeugen der »Hamburg«-Klasse, von denen hier im Prinzip die Rede war, auch geschah, sei aus diesen Gründen unproblematisch. Etwas anders schätzte Wagner die Aussichten bei der Bewaffnung der zu bauenden Zerstörer mit Flugkörpern ein. Hier sah er durchaus eine gewisse Möglichkeit, dass die jetzt geplante Artillerie als Hauptbewaffnung durch Raketen abgelöst werden könnte, stellte diese Perspektive jedoch als sehr unsicher dar. Gegenwärtig seien Flugkörper nur zu Luftabwehrzwecken verwendbar und hierfür seien mindestens Schiffe von Kreuzergröße erforderlich und über die Seezielbekämpfung meinte der Admiral: »Raketenentwicklung vielleicht in fernerer Zukunft möglich, vorerst ungelöst. Falls Raketen für Schiffe dieser Größenordnung überhaupt verwendbar werden, könnte später Umrüstung von Mittelartillerie auf Rakete erfolgen.« Dies konnte natürlich auch für die Luftzielbekämpfung vermutet werden, weswegen Wagner folgerte: »Absehbare Entwicklungstendenz nächster Jahre spricht nicht gegen Zerstörer.« Schließlich ging Wagner noch auf die These ein, dass für die Kosten, die der Bau von Zerstörern erfordere, eine ungleich höhere Zahl von Schnellbooten, Kleinkampfmitteln oder Flugzeugen beschafft werden könne, der Zerstörerbau In der Tat sind Nuklearantriebe bis heute vor allem für größere Fahrzeuge, Kreuzer, Träger und große Uboote, in Gebrauch.
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mithin eine ineffiziente Investition sei. Aus seiner Sicht konnten die kleineren Seekriegsmittel aufgrund ihrer stärkeren Wetterabhängigkeit und geringeren Kampfkraft jedoch keineswegs die Aufgaben der Zerstörer erfüllen. Vielmehr seien sie selbst auf Deckung durch kampfstärkere Fahrzeuge, eben Zerstörer, angewiesen, um ihre eigenen Vorzüge voll zur Geltung bringen zu können. Nur diese kleineren Seekriegsmittel in größerer Zahl zu bauen sei selbst eine Fehlinvestition, da dann ihre Einsetzbarkeit infolge mangelnder Sicherungsmöglichkeiten Einschränkungen unterläge. Gegen einen Neubau von Zerstörern richtete sich das Argument, dass vielleicht die von den USA erbetenen Leihzerstörer preisgünstig angekauft werden könnten und damit die Notwendigkeit von Neubauten entfiele. Dem hielt Wagner entgegen, dass die aus der Reserveflotte der US-Navy stammenden Schiffe nur als zeitweilige Uberbrückungsmaßnahme in der Bundesmarine Dienst tun sollten, da die NATO eine spürbare Vermehrung von Kampfkraft durch Neubauten gefordert habe. Die Leihzerstörer seien veraltet und für den Einsatz auf den Ozeanen gebaut worden, sie seien mithin für die Ostsee zu groß und unhandlich, böten ein zu großes Ziel und seien für die dortigen Einsatzverhältnisse unzureichend bewaffnet. Aus diesen Gründen seien sie nur ein zeitweiliger Ersatz für die geplanten, den dortigen Verhältnissen besser angepassten Neubauten. Der Wert der Leihzerstörer liege darin, dass mit ihnen die Ausbildung beginnen und rasch wenigstens eine gewisse Kampfkraft aufgestellt werden könne. Im Übrigen liege die Zahl an Neubauten auch mit 12 Schiffen keineswegs zu hoch. Vielmehr seien von der NATO selbst 18 für erforderlich gehalten worden. Nur mit Rücksicht auf die noch aus dem EVG-Vertrag stammende Klausel über die Höchstgrenzen deutscher Kampfkraft sei diese Zahl nochmals auf 12 reduziert worden, von denen die Bundestagsausschüsse zunächst nur acht bewilligt hätten. Damit könne die Marine für den Moment leben, weil ein gleichzeitiger Bau von 12 Fahrzeugen auf deutschen Werften angesichts ihrer massiven Auslastung gegenwärtig nicht möglich sei35. Die restlichen vier Fahrzeuge müssten aber ebenso wie die an der ursprünglichen Zahl von 18 fehlenden weiteren sechs später nachgefordert werden, da sowohl nach deutscher wie auch nach NATO-Ansicht 12 Zerstörer nicht ausreichten. Dies gelte insbesondere auch angesichts der Anzahl von 45 in der Ostsee operierenden sowjetischen Zerstörern. Einer Beschränkung der Neubauten auf zunächst vier Einheiten mit späterem Nachbau weiterer vier der von den Bundestagsausschüssen zunächst bewilligten acht Fahrzeuge trat Wagner mit dem Argument entgegen, dass dies unrationell sei. Die Werften müssten, bevor mit dem Bau begonnen werden könne, erst bauliche Voraussetzungen schaffen (Liegeplätze und Hellingen). Dies sei von Einfluss auf die Preisgestaltung, welche bei einer höheren Zahl in
Auf ausländische, besonders britische Werften wollte die deutsche Seite jedoch keinesfalls zurückgreifen. Vgl. BA-MA, BM 1/3156, Zusammenstellung von Gründen gegen Vergabe von Kriegsschiffneubauten (Zerstörer, Schulschiffe, Geleitboote) nach England, 16.3.56.
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Auftrag gegebener Schiffe günstiger ausfalle. Bei einer Stückelung der Aufträge seien zudem Probleme bei der Lieferung spezieller Ausrüstung wie der Maschinen und elektrischen Anlagen, aber auch bei aus dem Ausland bezogenen Gütern wie der Bewaffnung und den Feuerleitanlagen sowie sonstigen elektronischen Geräten zu gewärtigen. Diese hätten jahrelange Lieferzeiten und es bestünde das Risiko, dass bei der Erteilung mehrerer kleiner statt eines großen Auftrages Lieferverzögerungen entstünden, die wiederum die Fertigstellung des Schiffes erheblich verzögern würden. Dazu seien bei größeren Stückzahlen bessere Rabatte erzielbar. Um jedoch überhaupt in der Lage zu sein, ihre schwimmenden und fliegenden Einheiten samt der erforderlichen Stäbe in Betrieb nehmen zu können, musste die Marine rechtzeitig die personellen Weichen hierfür stellen. Sie erhielt 486 der bereitgestellten allerersten Dienstposten, wovon 126 auf die Ausstattung der seit November 1955 als »Abteilung VII« firmierenden Marineabteilung im Ministerium entfielen. Außerhalb des Ministeriums wurde mit den jetzt verfügbaren Stellen ab Anfang November 1955 das Stammpersonal der Marine-Lehrkompanie eingestellt, die bereits Anfang Januar 1956 die Ausbildung der Offizier- und Unteroffizieranwärter sowie der ungedienten Mannschaften aufnahm. Die Kompanie wurde damit die erste Einheit der Marine und mit einem Umfang von gut 160 Mann zunächst auch die größte Marinedienststelle überhaupt. Im gleichen Monat wurden in Kiel und Wilhelmshaven die ersten Offiziere der dortigen Vorbereitungsstellen für die militärische Infrastruktur eingestellt, um damit die Voraussetzungen für die Ansiedlung weiterer Marinedienststellen in beiden Standorten zu schaffen. Ebenso wurde in diesem und dem folgenden Monat begonnen, die Vorbereitungsstellen für bodenständige Aufgaben der Marine in beiden Standorten zu besetzen und außerdem Vorauspersonal für die Planung von Schiffsneubauten, die Schulen und die Vorbereitungsstelle für die Personalbearbeitung der Unteroffiziere und Mannschaften einzustellen. Anfang Februar 1956 begann die Einstellung der für die Ausbildung bei alliierten Marinen vorgesehenen Offiziere und ab Anfang März die des Vorauspersonals für die Materialübernahme und Ausbildung. Bei diesem Personal handelte es sich um kleinste Grüppchen in Stärken zwischen zwei und 15 Mann, die ab Anfang April noch durch Zivilpersonal unterstützt wurden36. Die im Rahmen des 6000er-Programms eingestellten Offiziere erhielten von den Mitarbeitern der Abteilung VII in kleinen Gruppen sowohl in Fragen der Gesamtstreitkräfte als auch zu den marinespezifischen Aufgaben von November 1955 bis März 1956 Einweisungen von zweieinhalb Wochen Dauer. Dabei warf es ein bezeichnendes Licht auf die Situation der Mitarbeiter des Ministeriums, dass der für die Planung der Einweisungen zuständige Korvettenkapitän a.D. Gert Jeschonnek besonders darauf hinwies, dass hierfür zusätzliche Räume bereitzustellen seien. »Dies ist insbesondere auch zur Erhaltung 36
Vgl. BA-MA, BMI/1190, Militärisches 6000er-Programm, II/3 2500/55, 23.9.1955 und VII/B/1 3827/55,17.11.1955.
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der Arbeitsfähigkeit der im Hause tätigen Bearbeiter erforderlich, da eine weitere Überbelegung der vorhandenen Arbeitszimmer nicht mehr tragbar ist.« Um außerdem die sonstige Arbeit der Abteilung nicht durch die Einweisung zum Erliegen zu bringen, fand sie halbtags statt37. Da das 6000er-Programm des Freiwilligengesetzes zum 31. März 1956 auslief, war es notwendig, rechtzeitig die Grundlage für die Weiterführung des Aufbaus zu schaffen. Dies erfolgte mit der 2. Ergänzungsvorlage zum 1. Nachtrag des Haushaltsplans 1955, die zunächst 20 000 Planstellen für den Zeitraum bis zur im Laufe des Sommers erwarteten Verabschiedung des Gesamt-Haushaltsplans 1956/57 bereitstellte (20 OOOer-Programm). Damit wurde es möglich, mit der eigentlichen Aufstellung zu beginnen, da jetzt die Beschränkungen des 6000erProgramms wegfielen. Der Beginn der eigentlichen Aufstellung war damit der 1. April 1956. Aus dem durch das 20 OOOer-Programm bereitgestellten Planstellenpool erhielt die Marine knapp 4500 Soldatenstellen. Geplant war nun, im Juli 1956 etwa eine Stärke von 5500 zu erreichen und bis Ende März 1957, ein Jahr nach Beginn der Aufstellung, etwa 9500 Soldaten im aktiven Dienst zu haben38. Diese Ressourcen galt es nun auch organisatorisch sinnvoll aufzugliedern39. Unterhalb des Ministeriums war die Marine in drei obere Kommandobehörden gegliedert: das Kommando der Seestreitkräfte, der Flottenbasis und der MarineAusbildung. Ebenfalls dem Ministerium direkt unterstehen sollte das Schiffserprobungskommando. Das Kommando der Seestreitkräfte untergliederte sich in die jeweiligen Kommandos der Zerstörer, Marineflieger, Schnellboote, Uboote, Minenschiffe, Landungsboote, Geleitboote und Minensuchboote, welche die Stammverbände für die einzelnen Geschwader bildeten. Für den Einsatz waren die Geschwader auf die ebenfalls dem Kommando der Seestreitkräfte nachgeordneten Dienststellen des Befehlshabers der Seestreitkräfte der Nordsee und der Ostsee aufgeteilt. Beide waren für den Kriegsfall der NATO unterstellt, wobei Ersterer zu AFCENT, Letzterer dagegen zu AFNORTH treten sollte. Das Kommando der Flottenbasis war für die rückwärtigen und die Unterstützungsdienste der schwimmenden und fliegenden Verbände verantwortlich. Auf die beiden nachgeordneten Marine-Abschnitts-Kommandos Nord- und Ostsee aufgeteilt waren die im jeweiligen Bereich liegenden Stützpunktkommandos, Fliegerhorste, Arsenale und Versorgungseinrichtungen, die Fernmelde- und Ortungsabteilungen sowie die beiden Musikkorps. Außerdem gehörte die Verbindungsstelle See zum Bundesverkehrsministerium und als eigene Dienststelle zum Kommando der Flottenbasis. Dem Kommando der Marine-Ausbildung unterstanden als nachgeordnete Kommandos die Fernmelde-, Waffen- und Schiffsmaschinen-Kommandos mit
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BA-MA, BM 1/1190, Einweisungskurse, II/7/21, 2.11.1955. BA-MA, BW 2/828, Aufstellungsvorhaben der Marine im 20 OOOer-Programm, VIIΒ 1 863/56,10.3.1956. Für detaillierte Informationen zur Organisation und ihren Veränderungen siehe den entsprechenden Anhang dieses Bandes.
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